Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis: Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428538065, 9783428138067

Der Eichstätter Neuzeithistoriker Karsten Ruppert ist ein besonderer Vertreter seines Faches: Er gehört zu den immer wen

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German Pages 788 Year 2013

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Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis: Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428538065, 9783428138067

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 175

Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Markus Raasch und Tobias Hirschmüller

Duncker & Humblot · Berlin

MARKUS RAASCH/TOBIAS HIRSCHMÜLLER (Hg.)

Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 175

Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Markus Raasch und Tobias Hirschmüller

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13806-7 (Print) ISBN 978-3-428-53806-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83806-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Karsten Ruppert beging im Dezember 2011 seinen 65. Geburtstag und wird nunmehr nach 17 Jahren als Eichstätter Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte seinen wohlverdienten Ruhestand antreten. Aus diesem Anlass erscheint diese Festschrift. Es ist uns ein besonderes Anliegen, Dank zu sagen. Zugleich möchten wir unsere Verbundenheit und unseren Respekt zum Ausdruck bringen. Bei der Konzeption der Festschrift, die auf einem Geburtstagskolloquium vom 15.–17. Dezember 2011 gründet, versuchten wir vor allem zwei Gesichtspunkten Rechnung zu tragen: 1. Karsten Ruppert ist ein akribischer Historiker im besten Sinne. Seine Arbeiten setzen wider den Zeitgeist nicht auf leichte Konsumierbarkeit, sondern bestechen durch Quellennähe, präzise Argumentation, theoretisch-methodische Schärfe und inhaltliche Tiefe. Konsequenterweise konnte er sich wiederholt durch wichtige Editionsprojekte profilieren. Zuletzt gelang es ihm, ein DFGProjekt zur Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49 nach Eichstätt zu holen. Sein notorisches Bemühen um Substanz hat Karsten Ruppert freilich nicht davon abgehalten, seine Interessen breit zu fächern. Er gehört beispielsweise zu den immer weniger werdenden Historikern, die durch Forschungen von der Frühen Neuzeit bis zur Zeitgeschichte ausgewiesen sind. Lange bevor der Mainstream der Forschung es zum Credo erhoben hat, ging sein Blick über die deutschen Grenzen – insbesondere in Richtung USA – hinaus. Ohne seine Verpflichtung gegenüber der klassischen historisch-kritischen Methode zu verleugnen, hat er sich zudem immer wieder offen für neuere Trends der Geschichtswissenschaft gezeigt. 2. Karsten Ruppert ist – vermutlich weit mehr, als er es selbst wahrhaben mag – ein hochanerkannter Kollege, Vorgesetzter und Lehrer. Dies manifestiert sich etwa in seinen Kontakten, die von der Görres-Gesellschaft bis nach Kalifornien reichen. Die Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wird, beruht auf verschiedenen Komponenten: Zweifelsohne haben die Studierenden die in seinen Seminaren obligatorisch ausführliche Quellenlektüre ebenso gefürchtet wie seine (vermeintliche) Strenge. Sie wussten aber Vorbereitung, Klarheit und Weitsicht seiner Veranstaltungen genauso zu schätzen wie seine Empathie für studentische Belange. Die Förderung von Talenten lag ihm immer besonders am Herzen. Sicherlich irritierte es manchen Kollegen mitunter, dass es bessere Vermarkter ihrer selbst gibt als Karsten Ruppert und dass er Universitätspolitik nicht als derart essentiell ansah wie andere. Doch wer wollte, er-

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Vorwort

lebte ihn gerade im Bereich der akademischen Selbstverwaltung als stets zielorientiert, kompromissbreit, beruhigend und vermittelnd. Darüber hinaus zeigte er sich immer wieder als vielseitig interessierter, weitgereister, kulturbeflissener und zugleich leutseliger Mensch, der sich dankenswerterweise selbst zu relativieren weiß und dem wirklich jeder Standesdünkel fern liegt. Vor diesem Hintergrund haben wir diese Festschrift mit „Freiheit, Solidarität und Subsidiarität“ überschrieben. Wir halten dies im doppelten Sinne für einen adäquaten Titel: Er verweist zum einen auf wesentliche Forschungsgebiete des Jubilars, mithin die Ideen- und Parteiengeschichte der Neuzeit sowie insbesondere die Geschichte des politischen und sozialen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zum anderen umschreibt er prägnant Karsten Rupperts Haltung gegenüber seinen Mitarbeitern, die er nicht mit Lob überhäuft, denen er aber stets großes Vertrauen entgegengebracht, mannigfaltige Freiräume gegeben und – bei Bedarf – tatkräftige Unterstützung gewährt hat. Die Festschrift versammelt Lehrer, Kollegen und Schüler von Karsten Ruppert aus Deutschland und den USA. Sinnfälligerweise liegt die Altersspanne zwischen dem ältesten und dem jüngsten Beiträger bei über 60 Jahren. Renommierteste Wissenschaftler stehen neben einer beträchtlichen Anzahl von Nachwuchskräften. Historiker treffen auf Politikwissenschaftler und Germanisten. Der Band ist in vier Teile gegliedert (I. Identität und kulturelle Praxis; II. Außenpolitik in internationaler Perspektive; III. Verfassungs- und Geistesgeschichte der Moderne; IV. Politisch-soziale Bewegungen und Parteiengeschichte). Er sucht auf diese Weise sowohl die sachlichen Schwerpunkte in Karsten Rupperts Werk als auch sein Interesse für unterschiedliche Perspektiven aus Politik-, Wirtschafts-, Sozialund Kommunikationsgeschichte weitgehend abzudecken. Mehrere Institutionen und Personen haben sich um das Zustandekommen dieser Festschrift verdient gemacht: Das ihr zugrunde liegende Geburtstagskolloquium konnte lediglich dank der finanziellen Unterstützung der Eichstätter Hochschulleitung, der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, der hiesigen Geschichtsstudierenden sowie der Eichstätter Universitätsgesellschaft e.V. stattfinden. Ihnen sei ebenso herzlich gedankt wie dem Verlag Duncker & Humblot, der sich ohne Umschweife bereit erklärt hat, eine Festschrift für Karsten Ruppert herauszubringen. Letzthin gebühren Matthias Hirsch und Karin Schleibinger höchste Anerkennung. Denn ohne ihre redaktionelle Arbeit wäre dieser Band nie erschienen. Dem Jubilar wünschen wir von Herzen auch im Ruhestand wissenschaftliche Produktivität und privates Glück. Wir ziehen den Hut und sagen Danke. Eichstätt, im Sommer 2012

Markus Raasch und Tobias Hirschmüller

Inhaltsverzeichnis Sektion I Identität und kulturelle Praxis

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Waltraud Schreiber Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen). Das Beispiel Gedenkstätte Berliner Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Margaret Lavinia Anderson Anatomy of an Election. Anti-Catholicism, Antisemitism, and Social Conflict in the Era of Reichsgründung and Kulturkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Thomas Pittrof Theatergeschichte in der Weimarer Republik, davor und danach: Der Fall Wilhelm Carl Gerst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Stephanie von Göwels und Markus Raasch Betriebliche Identität und Ausländerbeschäftigung. Das Beispiel der Firma Bayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Mathias Pfaffel Möglichkeiten und Grenzen politischer Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungen. Das Beispiel der Fusion der NSU Motorenwerke AG und der Auto Union GmbH im Jahr 1969 mit ihren Auswirkungen auf die Anliegergemeinde Neckarsulm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Florian Basel Zum Problem von Traditionserzählung und Moderne im deutschen Fußball. Ein allgemeiner Blick unter besonderer Berücksichtigung der Rhein-Neckar-Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Sektion II Außenpolitik in internationaler Perspektive

207

Sabine Thielitz Großbritannien in der Außenpolitik Otto von Bismarcks nach der Reichsgründung bis zum Berliner Kongress 1871–1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Thomas Fischer Brasilien und der Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Hans-Christof Kraus Friedrich Thimme. Ein Historiker und Akteneditor im „Krieg der Dokumente“ 1920–1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

8

Inhaltsverzeichnis

Marc Christian Theurer Kontinuität und Diskontinuität. Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel Jugoslawiens 1957–1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301

Gert Krell Der Nahost-Konflikt zwischen Geschichte und nationalen Narrativen . . . . . . .

317

Sektion III Verfassungs- und Geistesgeschichte der Moderne

329

Hans Fenske „Die Freyheit ist der Menschen Eigenthum“. Zur Frühgeschichte des deutschen Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Markus Raasch Die politische Ideenwelt des Adels. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Leonid Luks Die Auseinandersetzung Sergej Bulgakovs mit den totalitären Versuchungen von links und rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

Gerhard Wenzl „Das Reich und Europa“. Der Reichsgedanke der Schutzstaffel . . . . . . . . . . . .

403

Stefan Gerber Vom Barnabasbrief zum „Mythus des 20. Jahrhunderts“. Philipp Haeuser (1876–1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

Tobias Hirschmüller Nicht die „volkstümlich vereinfachte Rolandsfigur“. Die Bismarckidee bei Theodor Heuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

Winfried Becker Die Abendlandidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

499

Klaus Stüwe Staatszweck Sicherheit: Reichweite und Grenzen. Risiken, Gefahren und der Wunsch nach Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

531

Sektion IV Politisch-soziale Bewegungen und Parteiengeschichte

547

Larry Eugene Jones Adolf Hitler and the 1932 Presidential Elections. A Study in Nazi Strategy and Tactics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

549

Rudolf Morsey War Fritz Gerlich für seinen „Geraden Weg“ 1932/33 auf Informationen des Nachrichtenhändlers Georg Bell angewiesen? Ein Beitrag zur GerlichForschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

575

Inhaltsverzeichnis

9

Markus Herbert Schmid Paradigmenwechsel oder Ausdruck nationalsozialistischer Polykratie? „ZIEL UND WEG“ der Protagonisten des NSDÄB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

625

Michael F. Feldkamp Der Zwischenruf „Der Bundeskanzler der Alliierten!“ und die parlamentarische Beilegung des Konfliktes zwischen Konrad Adenauer und Kurt Schumacher im Herbst 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

665

Michael Kitzing Der „Manager der Heusteigstrasse“. Der Beitrag Alex Möllers zur Entstehung und Konsolidierung des Südweststaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

709

Wilfried Loth Der Katholizismus und die Durchsetzung der modernen Demokratie . . . . . . . .

737

Heinz Hürten 50 Jahre Kommission für Zeitgeschichte. Überlegungen zu Problemen der Katholizismusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

753

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

761

Lebenslauf Prof. Dr. Karsten Ruppert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

763

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Prof. Dr. Karsten Ruppert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

765

Von Prof. Dr. Karsten Ruppert als Erst- und Zweitprüfer am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Eichstätt betreute wissenschaftliche Legitimationsarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sektion I: Identität und kulturelle Praxis

Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen) Das Beispiel Gedenkstätte Berliner Mauer Waltraud Schreiber I. Zur Einordnung: Warum diese Fragestellung, warum das Beispiel „Berliner Mauer“? Gedenkstätten sind geschichtspolitische Orte der Erinnerungskultur, die durch Erinnerung an die Vergangenheit Orientierung für Gegenwart und Zukunft geben sollen. Gedenkstätten in Demokratien tun das mit der Absicht, die Besucher auf eine reflektierte und (selbst-)reflexive Weise zu historischer Orientierung zu befähigen. ,Historische Orientierung‘ steht dafür, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Beziehung zu setzen, ,reflektiert‘ bedeutet, dabei die sachlich-fachliche Korrektheit als Bezugspunkt ernst zu nehmen und ,(selbst-)reflexiv‘ meint, nach der Bedeutung für sich selbst als Individuum zu fragen. Ausstellungen spielen an Gedenkstätten eine wichtige Rolle. Bei Ausstellungen handelt es sich um historische Narrationen, die leitenden Fragestellungen folgen. Sie ,erzählen‘ Geschichte mit (ausstellungs-)spezifischen Mitteln und wenden sich dabei, die Intentionen der jeweiligen Institution berücksichtigend, an die Besucher. An den meisten Gedenkstätten werden den Besuchern Außen- und Innenausstellungen angeboten. In der Regel bemühen sich Innenausstellungen verstärkt um Einordnung, indem sie weiter greifende historische Kontexte darstellen, während die Außenausstellungen unmittelbar den historischen Ort zu erschließen trachten. Neben den Ausstellungen nutzen Gedenkstätten weitere Möglichkeiten, um ihre Besucher zu historischer Orientierung anzuregen. Sie reichen von Denkmälern, die an gezielt gewählten Stellen die Aussage auf einen Punkt zu bringen versuchen, über Filmangebote, die eine eigene Dramaturgie mit (bewegten) Bildern, Ton und Sprache schaffen, Homepages, die das world wide web nutzen wollen, um auf die Anliegen der Gedenkstätte aufmerksam zu machen, zu Rahmenprogrammen, die immer neue Impulse zur Auseinandersetzung mit dem der Gedenkstätte zugrunde liegenden Thema geben. Gemeinsam ist all diesen Möglichkeiten, dass den Besuchern dabei konkrete Orientierungsangebote gemacht werden. Der nachfolgende Beitrag ist ein Plädoyer dafür, dass Besucher durch gezielte Bildungsarbeit in die Lage versetzt werden sollten, die Orientierungsangebote an

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Waltraud Schreiber

den Gedenkstätten (und darüber hinaus) mündig und individuell zu nutzen. Das heißt u. a., dass Besucher lernen sollten, eine Gedenkstätte, insbesondere auch deren Ausstellungen, möglichst eigenständig zu lesen und dass sie fähig werden sollten, das Angebot in eigenen Denkprozessen zu verarbeiten. Den Weg zu einem mündigen, selbständigen Besucher zu begleiten, der letztlich aktiv an der Zivilgesellschaft teilnimmt und sie mitgestaltet, ist eine Herausforderung für die Bildungsinstitutionen, nicht zuletzt für die Gedenkstätten selbst. Die These ist, dass dabei klare Konzepte hilfreich sind. Diese müssen zuerst entwickelt und zur Diskussion gestellt werden (zum Beispiel in Publikationen wie der vorliegenden). Sodann können sie in der Vermittlungsarbeit in Schulen, Universitäten aufgegriffen und vor Ort, in der Gedenkstätten- und Museumsarbeit, genutzt werden. Im Folgenden werden zwei Konzepte kurz skizziert: Zum einen das Konzept Gedenkstätte (Kapitel 1, die Dimensionen des ,Infomierens‘, des ,Ermöglichens von Sich-Erinnern‘ sowie des ,Gedenkens/Mahnens‘), zum anderen das Konzept der Kompetenzorientierung1 (Kapitel 2, Kompetenzstrukturmodell der FUERGruppe). Kapitel 3 zeigt, wie diese Ansätze dafür genutzt werden können, um das Lesen-Lernen von Gedenkstätten zu fördern. Das Ziel, das dabei langfristig verfolgt wird ist, dass der Besucher den Gedenkstättenbesuch dazu nutzt, sich die Welt und den eigenen Platz in dieser Welt besser zu erschließen. Die Auseinandersetzung mit einer Diktatur und ihrer Überwindung kann dazu beitragen. Deshalb habe ich als Beispiel die Gedenkstätte Berliner Mauer gewählt. II. Zum Konzept historischer Gedenkstätten und zur Rolle von Ausstellungen in diesem Konzept 2 Egal, ob es sich um Gedenkstätten handelt, die an Leid und Unrecht erinnern wollen (wie zum Beispiel Holocaustgedenkstätten, Gedenkstätten an kommu1 Teile des Beitrags lehnen sich an einen Aufsatz an, der demnächst unter dem Titel „Kraft der Freiheit – Geist der Diktatur“. Über die Herausforderung, Besucherinnen und Besucher an Gedenkstätten in der Entwicklung ihrer historischen Kompetenz zu fördern, erscheint. (Brovelli, Dorothee/Fuchs, Karin/Niederhäusern, Raffael von/Rempfler, Armin (Hrsg.): Kompetenzentwicklung an Ausserschulischen Lernorten. Tagungsband zur 2. Tagung Ausserschulische Lernorte der PHZ Luzern vom 24. September 2011, Münster, Wien u. Zürich 2012). 2 Hierzu die breit anerkannte Kompetenzdefinition Weinerts Franz: Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Weinert, Franz E.: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Weinert, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen, Weinheim u. Basel 2001, S. 17–31, hier S. 2 f.

Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen)

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nistische beziehungsweise sozialistische Gewaltherrschaft, Gedenkstätte an den 11. September) oder um ,positive‘ Gedenkstätten, die Persönlichkeiten ins Zentrum rücken und an deren eine Gesellschaft prägendes Lebenswerk erinnern wollen, immer gilt: Gedenkstätten sind geschichtspolitische Orte der Erinnerungskultur, die durch Erinnerung an die Vergangenheit Orientierung für Gegenwart und Zukunft geben sollen.3 ,Erinnerung‘ hat dabei drei Dimensionen:

Abbildung 1: Gedenkstätten als Erinnerungsorte: Dimensionen des Erinnerns an Gedenkstätten.

3 Hierzu auch die Anmerkung von Michael Zimmermann bereits aus dem Jahre 1997: „Eine auf das Forschen und Lernen und die offene Diskussion zielende Auseinandersetzung sowie wissenschaftlich und gestalterisch überzeugende, hohen musealen Standards entsprechende Ausstellungen gewinnen deshalb in den Gedenkstätten an Bedeutung. (. . .) Der unzeitgemäße Begriff der ,Gedenkstätte‘ wäre dann vielleicht durch ,Gedächtnisort‘ oder ,Ort des Erinnerns‘ zu ersetzen.“ Zimmermann, Michael: „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“ in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bergmann, Klaus/Assmann, Aleida (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 19975, S. 752–757, hier S. 757. Zusammen mit der Anmerkung von Andreas Körber/Oliver Baeck aus dem Jahr 2006 ergibt sich eine Definition des Begriffs „Gedenkstätten“: „Sie alle haben gemeinsam [gemeint sind Gedenkstätten und Gedenktage, Anm. W. S.], dass sie historischen Charakter besitzen, also die Struktur von Narrationen annehmen, insofern sie mindestens die beiden Zeitpunkte (des erinnerten Geschehens und der erinnernden Gegenwart) in einer Form der Sinnbildung zueinander in Beziehung setzen – oftmals auch weitere davor – oder dazwischenliegende Zeitpunkte miteinbeziehen.“ Körber, Andreas/Baeck, Oliver: Vorwort, in: Körber, Andreas/Baeck, Oliver (Hrsg.): Der Umgang mit Geschichte an Gedenkstätten. Anregungen zur DeKonstruktion, Neuried 2006, S. 4–10, hier S. 6.

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Waltraud Schreiber

1. Informieren als Aufgabe jeder Gedenkstätte Jede Gedenkstätte setzt sich zum Ziel, über die zu erinnernde Vergangenheit zu informieren. Als klassisches Informationsmedium innerhalb einer Gedenkstätte hat sich die Ausstellung herauskristallisiert. Die Innenausstellungen sind dabei häufig in Gebäuden untergebracht, die ihrerseits Quellencharakter haben. An der Bernauer Straße ist der Ausstellungsort das Gemeindehaus (mit Notkirche) der evangelischen Versöhnungsgemeinde, das nach dem Mauerbau im Westen neu errichtet werden musste, weil Kirche und Gemeindehaus plötzlich nicht mehr zugänglich waren. – Die Innenausstellung wird derzeit neu entwickelt; die Eröffnung ist am 9. November 2014 vorgesehen, am 25. Jahrestag des Mauerfalls. Informiert wird regelmäßig auch im Gelände. Im Falle der Bernauer Straße haben wir es hierbei mit einer weitläufigen Außenausstellung zu tun, bei der am originalen Ort erzählt wird. An dieser Ausstellung wird in Kapitel 3 das Lesen von Ausstellungen verdeutlicht. In der Regel haben Gedenkstätten auch Besucherzentren, die die vorrangige Aufgabe haben, die Besucherströme zu koordinieren. Gedenkstätten-Macher haben zu entscheiden, ob sie an diesen Orten des Erstkontakts auch Informationen geben wollen und wenn ja, in welcher Art und Weise. Oft werden grundlegende Informationen über den Ort und seine Gestaltung als Gedenkstätte gegeben und zugleich über einen Buchshop vertiefende Informationen bereitgehalten. Im Besucherzentrum der Bernauer Straße werden zum Beispiel eine visualisierte Chronologie der Gedenkstätte und Schlaglichter zur Geschichte der Mauer angeboten (an den Glasfenstern im Eingangsbereich und an anderen architektonischen Elementen wie Säulen), im Obergeschoss wird der Film „Eingemauert“ 4 gezeigt und in einer Wechselausstellung zu einer ästhetisch-emotionalen Auseinandersetzungen mit der Mauer angeregt. – Damit begegnet den Besuchern der Gedenkstätte also ein dritter Typus von Ausstellung. Eine zunehmend bedeutsamere Rolle für die Information spielt auch die Homepage der Gedenkstätte. Neben der immer professioneller gestalteten Erstinformation (jetzt für die virtuellen Besucher des world wide web) erlaubt ihre Digitalität eine Mehrebeneninformation (u. a. Verlinkungen mit Filmangeboten und weiteren Medien; Verweis auf laufende Aktivitäten und auf Highlights der Vergangenheit). Der Internetnutzer soll informiert, aber auch motiviert werden, die Gedenkstätte tatsächlich zu besuchen. Die Gedenkstättenmacher sollten sich bewusst halten, dass jede der gewählten Informationsmöglichkeiten ihre eigene Wirkung hat und Vielfalt deshalb durchaus System haben kann: Sowohl die Informationen, die weitergegeben, als auch 4 Es handelt sich um einen Fernsehfilm der „Deutschen Welle“; http://www.you tube.com/watch?v=jlbAUFvh04k [Zugriff am 25. Juli 2012].

Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen)

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die Adressaten, die erreicht werden sollen, sind zu unterschiedlichen Informationsträgern affin. 2. Sich-Erinnern: Gedenkstätten als Orte für Zeitzeugen Gedenkstätten wenden sich an Zeitzeugen und eröffnen ihnen Möglichkeiten, „sich zu erinnern“. In einigen Gedenkstätten ist die Gruppe der Opfer-Zeitzeugen sogar der wichtigste Adressat. Weil es ohne Täter keine Opfer gibt, werden zwar auch diese thematisiert; in eigenen Informationsblöcken ins Zentrum gerückt werden Täter aber eher selten. Noch seltener geschieht dies aber mit der großen Zahl der Mitlebenden, die weder zu Opfern, noch zu Tätern wurden, aber dennoch als Zeitgenossen mit-betroffen waren. Bei allen Materialien, die ein Sich-Erinnern unterstützen sollen, ist zu bedenken, dass die Mehrzahl der Besucher keine Zeitzeugen sind. Was Zeitzeugen hilft, sich zu erinnern, kann der Kreis der nicht- oder nur am Rande Betroffenen „nur“ als Informationsquellen benutzen. Für die Gestalter der Gedenkstätte ist diese Doppel-Belegung von ein und demselben Material eine beträchtliche Herausforderung. Für den, der die U-Bahn Bernauer Straße vor dem Mauerbau täglich benutzt hat, ist eine Fotografie wie die nachfolgende Teil seines Lebens. Sie löst Asso-

Abbildung 2: U-Bahnhof Bernauer Straße, vom Westen aus fotografiert, 1961; © Michael R. Ernst/GDS Berliner Mauer.

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Waltraud Schreiber

ziationen, Erinnerungen, Emotionen aus. Demgegenüber steht die erst einmal unbeteiligte Distanz dessen, für den das Bild lediglich Informationsquelle ist. Es kann sein, dass es ihn in den Bann zieht, dass er sich ,fest-schaut‘; genauso ist es aber auch möglich, dass er achtlos daran vorbei geht oder Bildelemente missversteht. Es kann aber auch sein, dass der Besucher zur kleinen Gruppe der Experten zählt und die Bildquelle mit den Augen eines Historikers, Geschichtsdidaktikers, Ausstellungsmachers betrachtet. Die Herausforderung für die Verantwortlichen besteht also in der Heterogenität der Besucher, die unterschiedlich intensive Erfahrungen, Vorinformationen und Interessen mitbringen. Eine besondere Kategorie bilden Relikte (insbesondere bildliche und filmische), die zu Ikonen der Erinnerung auch für eigentlich Außenstehende geworden sind. Solche „Ikonen“ werden in der Regel zusammen mit a) vergangenheitsbezogenen Deutungen und/oder b) Orientierung gebenden Sinnbildungen erinnert. Quellencharakter, Interpretation und (Um-)Nutzung können kaum mehr getrennt werden. Kritische Distanz und Reflexion werden zumindest erschwert, sind vielleicht sogar unmöglich. Selbst für Zeitzeugen ist es nicht mehr allein das Sich-Erinnern an die damalige Situation. Ikonen der Erinnerung werden ,entzeitlicht‘. Zu unterschiedlichen Zeiten werden sie genutzt, um erwartete ,Erinnerungen‘ wachzurufen. Nicht selten werden gerade Ikonenbilder quellenunkritisch verwendet.5 Im Falle des berühmten Sprungs in die Freiheit von Conrad Schumann zum Beispiel in einem Ausschnitt, auf dem der Kameramann, auf den Schumann zugestürmt ist, nicht zu sehen ist. In der Außenausstellung der Bernauer Straße werden ausgewählte Ikonenbilder in überdimensionaler Größe zum Beispiel an Brandmauern der anliegenden Gebäude projiziert. Ihre mehrfache Wirkung ist intendiert: Sie sollen ein individuelles Sich-Erinnern von Zeitzeugen ebenso auslösen wie sie ein Andocken an kollektiv gewollte Erinnerungen ermöglichen. Als Resümee soll festgehalten werden, dass Medien auf Besucher treffen, die Zeitzeuge sind oder nicht und dass die Wirkung von dieser Nähe zum Ereignis abhängt. Sich-Erinnern können nur die, die dabei gewesen sind.

5 Hierzu zum Beispiel Flacke, Monika (Deutsches Historisches Museum) (Hrsg.): Mythen der Nationen: 1545 – Arena der Erinnerungen. Begleitbände zur Ausstellung 2. Oktober 2004 bis 27. Februar 2005, Mainz 2004, oder Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Bilder, die lügen. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 27. November 1998 bis 28. Februar 1999, Bonn 2000.

Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen)

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Abbildung 3: Brandmauer in der Ackerstraße. © NatascHektar Gillenberg

3. Gedenken/Mahnen: Gedenkstätten als Orte für die Gegenwart Alle Gedenkstätten geben dem „Gedenken/Mahnen“ Raum. Wieder sind sehr grundsätzliche Unterschiede zu bedenken. Formen des individuellen Trauerns müssen ebenso Platz haben wie Formen des öffentlichen Gedenkens und Mahnens. In der Regel befinden sich auf dem Areal von Gedenkstätten auch Denkmäler: „Gedenken“ wird dabei in an die Entstehungszeit gebundenen und ästhetisierten Formen „festgefroren“.6 Notwendig kommt in den Denkmälern die normative, auf die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogene Ausrichtung der Gedenkstätte zum Ausdruck. Die vergangenheitsbezogenen Auswahlentscheidun6 Hierzu Hartwig, Wolfgang: Denkmal, in: Bergmann/Assmann: Handbuch der Geschichtsdidaktik (wie Anm. 3), S. 747–752. Zum Thema Denkmäler und die damit verbundene Förderung historischer Kompetenzen auch Borries, Bodo von: Denkmäler als Angebote historischer Orientierung und ihre Erkundung als Erwerb historischer Kompetenz. Am Beispiel eines Spaziergangs in Hamburg, in: Körber/Baeck: Der Umgang mit Geschichte an Gedenkstätten, (wie Anm. 3), S. 79–113.

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Abbildung 4: Kohlhoff & Kohlhoff 1998; Denkmal Berliner Mauer. Durch die beiden Cortenstahl-Platten wird ein Stück Mauerstreifen ,konserviert‘. Das Denkmal als Ganzes ist nur von einer erhöhten Plattform aus, zum Beispiel von dem gegenüberliegenden Aussichtsturm der Gedenkstätte, einsehbar. Ebenerdig steht der Besucher vor nicht zu ,durchblickenden‘ Mauern. © Jürgen Hohmuth, GDS Berliner Mauer

gen, der Fokus, unter dem Vergangenes betrachtet wird, und die Botschaft für die Gegenwart werden u. a. in der ästhetischen Gestaltung deutlich. Im Falle der Gedenkstätte Berliner Mauer existierte das Kohlhoff & KohlhoffDenkmal bereits vor der Gedenkstätte. Es musste integriert werden (u. a. wurde das Material des Denkmals, der edel rostende Cortenstahl auch als Grundmaterial der Gedenkstätte aufgegriffen). Folgendes lässt sich am Beispiel des Kohlhoff & Kohlhoff-Denkmals zeigen: Durch die Integration in die Gedenkstätte hat das Denkmal seinen Charakter verändert (vgl. Abbildung 3 mit Abbildung 4). In der neuen Gedenkstätte ist dem Kohlhoff & Kohlhoff-Denkmal Konkurrenz erwachsen: Über-Jahre hinweg war es unstrittig der Ort öffentlicher Erinnerung. Hier erfolgt das medienwirksame öffentliche Gedenken, hier werden Kränze niedergelegt, hier werden die Mahnungen für Gegenwart und Zukunft ausgesprochen (vgl. Gedenken an 50 Jahre Mauerbau am 13. August 2011). Läuft ihm das „Fenster des Gedenkens“ (s. unten Abbildung 12) diesen Rang ab? Beobachtet man die Besucher, so wird klar: Das ,Fenster‘ versteht sich besser auf die Sprache der Gegenwart. Das dort ermöglichte, personifizierte Gedenken bringt nicht

Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen)

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Abbildung 5: Das Kohlhoff & Kohlhoff-Denkmal als Teil des 2010 eröffneten ersten Abschnitts der Gedenkstätte Berliner Mauer (Bereich A: Die Mauer und der Todesstreifen). Im Vordergrund der Aussichtsturm und das darin anschließende Gebäude der Innenausstellung. Die weiteren Abschnitte befinden sich links vom Denkmal. Bereich B (Die Zerstörung der Stadt) wurden 2011 eröffnet. Insgesamt werden sich vier Abschnitte über 1,4 km erstrecken; geplanter Abschluss 2014. © Jürgen Hohmuth, GDS Berliner Mauer

nur die Vergangenheit näher, sondern mahnt auch die Verantwortung für die Zukunft an. Man darf gespannt sein, wo Kranzniederlegungen in Zukunft stattfinden werden. Ein Ergebnis dieser Überlegungen ist: Rituale (wie Kranzniederlegungen an Gedenktagen) haben ihren Wert; allein genügen sie aber nicht, um für die nächste Generation Mahnung zu sein und das Gedenken lebendig zu halten. Wenn Gedenken/Mahnen die aktuellen Besucher tatsächlich erreichen und in ihrem zukünftigen Handeln beeinflussen will, muß in besonderem Maße auf Nähe und Verstehbarkeit des Denkmals geachtet werden. 4. Gedenkstätten haben Initiatoren und Träger Die Errichtung einer Gedenkstätte an einem bestimmten Ort erfolgt nicht „einfach so“. Hinter jeder Gedenkstätte gibt es Initiatoren. Im Falle der Bernauer Straße ist dies in besonderem Maße der Pfarrer der Versöhnungsgemeinde Man-

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fred Fischer, dessen im Todesstreifen liegende Kirche 1985 gesprengt worden war. Er wohnte mit seiner Familie im neuen Gemeindehaus und musste von dort täglich in den Todesstreifen hineinblicken. 1990 sorgte Pfarrer Fischer dafür, dass die Mauer an der Bernauer Straße nicht vollständig eingerissen wurde. Ohne ihn gäbe es heute das längste erhaltene Mauerstück Berlins nicht. U. a. mit Hilfe der Veräußerung von Ziegelsteinen und anderen Überresten der gesprengten Kirche beteiligte er sich mit seiner Gemeinde an der Finanzierung der am Ort der gesprengten Kirche entstandenen Versöhnungskapelle, in der seine Pfarrgemeinde jeden Tag um 12.00 Uhr eine Gedenkfeier für einen der Mauertoten ausrichtet. Fischer gründete zusammen mit der Historikerin Gabriele Camphausen einen Verein, der u. a. im Gemeindehaus in der durch den Bau der Versöhnungskapelle nicht mehr benötigten Notkirche das Doku-Zentrum Berliner Mauer einrichtete und dort eine erste Ausstellung schuf. Er wirkte maßgeblich daran mit, dass die Gedenkstätte institutionalisiert wurde. Heute ist der Träger der Gedenkstätte eine Stiftung des Landes Berlin und der Bundesrepublik Deutschland („Stiftung Berliner Mauer“). Im Stiftungsgesetz unter „§ 2 Zweck der Stiftung“ heißt es: „Zweck der Stiftung ist es, die Geschichte der Berliner Mauer und der Fluchtbewegungen aus der Deutschen Demokratischen Republik als Teil und Auswirkung der deutschen Teilung und des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert zu dokumentieren und zu vermitteln, sowie deren historische Orte und authentische Spuren zu bewahren und ein würdiges Gedenken der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft zu ermöglichen (http://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/stif tung-8.html)“. Gedenkstätten, das macht das Stiftungsgesetz deutlich, sind immer normative Orte. Dieser „Norm“ müssen sich die Verantwortlichen und die Besucher bewusst sein. Sie müssen sich auch zu ihr positionieren (können). Dies verlangt von den Gestaltern eine Re-Konstruktion, die Vergangenes nicht zurichtet auf die Zwecke der Gegenwart. Dies fordert von den Besuchern, die Gedenkstätte „lesen“ zu können, das heißt die Geschichte, die dort erzählt wird, de-konstruieren zu können. Beides verlangt „historische Kompetenz“. III. Kompetenzmodell als Grundlage für das Lesen von Ausstellungen Die internationale FUER-Gruppe hat ein Kompetenzstrukturmodell erarbeitet, das die Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bereitschaften historischen Denkens in vier auf einander bezogenen Kompetenzbereichen erfasst.7 7 Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 20102.

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1. Kurzdarstellung zum Kompetenzstrukturmodell nach FUER Die Grundlage bildet ein konstruktivistisch-narratives Verständnis von Geschichte, das zwischen Vergangenheit (vgl. auch ,res gestae‘) und der re-konstruierten Geschichte über Vergangenes (vgl. auch ,historia rerum gestarum‘) unterscheidet. Geschichte ist einerseits immer an die Gegenwart des sich mit Vergangenem Beschäftigenden und an seine Fragestellungen gebunden (,Selektivität‘/ ,Perspektivität auf der Ebene der Narration‘), andererseits an die Überlieferungsintentionen der Urheber von Quellen (,Perspektivität auf Quellenebene‘) und die Überlieferungslage (,Partialität der Überlieferung‘). Vergangene Erfahrungen können immer auch zur Orientierung von Gegenwart und zur Planung von Zukunft herangezogen werden. Was anthropologisch, in der Möglichkeit des Menschen sich zu erinnern, angelegt ist, kann für Beeinflussung, Selbsttäuschung, Manipulation missbraucht werden. Grundsätzlich besteht damit eine weitere Abhängigkeit, die beim Umgang mit Geschichte beachtet werden muss, die ,Perspektivität des Rezipienten‘. Aus diesen Einsichten über den Konstruktcharakter von Geschichte folgt, dass eine objektive, eindeutige Re-Konstruktion von Vergangenheit weder möglich noch gewollt ist. Jede historische Narration umfasst neben den durch Quellen verbürgten/nahe gelegten ,Vergangenheitspartikeln‘ notwendig immer auch deren Interpretation, wobei ,vergangenheitsbezogene Deutungen‘ und ,gegenwarts- beziehungsweise zukunftsbezogene Sinnbildungen‘ zu unterscheiden sind.8 Mehr als ein Streben nach Objektivität und Wahrheit ist also nicht möglich. Zugleich gilt: Mit weniger darf niemand sich zufrieden geben, der einen reflektierten und (selbst-)reflexiven, also orientierenden Umgang mit Vergangenheit/Geschichte anstrebt. Dem dient insbesondere die methodische Regulierung des Umgangs mit Vergangenem und mit Geschichte. Die FUER-Gruppe bezeichnet den Umgang mit Vergangenem als Basisoperation der Re-Konstruktion und den Umgang mit Geschichte als Basisoperation der De-Konstruktion. De-Konstruktion steht für die Erschließung vorliegender historischer Narrationen. Dass es sich dabei nicht nur um geschriebene Texte handelt, kann man sich am Beispiel der Gedenkstätten bewusst machen: Auch Gedenkstätten erzählen Geschichten, eben indem sie über Vergangenes informieren, das Sich-Erinnern anstoßen, Räume für Gedenken und Mahnen schaffen. 8 Dieser in der Geschichtsdidaktik grundsätzlich unumstrittene Sachverhalt wird von Karl-Ernst Jeismann als Analyse, Sachurteil und Wertung bezeichnet (u. a. Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Schneider, Gerhard (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988, S. 1–24.), von Jörn Rüsen als Wahrnehmung, Deutung, Orientierung, Motivation (u. a. Rüsen, Jörn: Auf dem Weg zu einer Pragmatik der Geschichtskultur, in: Baumgärtner, Ulrich/Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, S. 81–97.

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Abbildung 6: Die Kompetenzbereiche nach dem FUER-Modell

Drei der Kompetenzbereiche des FUER-Modells sind prozedural ausgerichtet; sie sind im Regelkreis historischen Denkens nach Jörn Rüsen9 fundiert: Historische Fragekompetenz10 meint die Fähigkeit, einerseits historische Fragestellungen, die hinter Darstellungen stecken, zu erkennen, andererseits eigene Fragen an die Vergangenheit zu stellen – Fragen, die Orientierung in der Zeit ermöglichen. Historische Methodenkompetenz11 meint die Fähigkeit, über Methoden der Re-Konstruktion und über Methoden der De-Konstruktion zu verfügen. Die ReKonstrukion setzt immer an Quellen (und an auf Quellen beruhenden Darstellun9 Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge der Historik I. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 26. Der Regelkreis wurde von der FUERGruppe weiter ausdifferenziert, Hasberg, Wolfgang/Körber, Andreas: Geschichtsbewusstsein dynamisch, in: Körber, Andreas (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag, Schwalbach am Taunus 2003, S. 179–203. 10 Schreiber, Waltraud: Kompetenzbereich historische Fragekompetenzen, in: Körber/Schreiber/Schöner: Kompetenzen historischen Denkens (wie Anm. 7), S. 155–193. 11 Schreiber, Waltraud: Kompetenzbereich historische Methodenkompetenzen, in: Körber/Schreiber/Schöner: Kompetenzen historischen Denkens (wie Anm. 7), S. 194– 235.

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gen) an und führt zu historischen Narrationen. Die De-Konstruktion geht von „fertigen Geschichten“ aus, erschließt schrittweise deren Struktur und beurteilt schließlich die Triftigkeit der dort getroffenen Aussagen. Die historische Orientierungskompetenz12 umfasst Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bereitschaften, die Zeitdimensionen zu verknüpfen und somit die Welt, ihre Menschen und sich selbst auch aus dem Gewordensein heraus zu verstehen. Dies schließt die Notwendigkeit ein, das eigene Geschichtsbewusstsein bei Bedarf zu re-organisieren und auszudifferenzieren. Historische Orientierung ermöglicht, historisch fundierte Handlungsdispositionen aufzubauen, die auch die Bereitschaft umfassen, sich für historisch erworbene Errungenschaften einzusetzen und Weiterentwicklungen voranzutreiben. Der vierte Kompetenzbereich, die historische Sachkompetenz13, umfasst die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, durch Strukturierung und systematische begriffliche Erfassung Entwicklungen und Veränderungen auf den Begriff zu bringen. Sachkompetenz geht in Wissen nicht auf, sondern meint vielmehr das kategorisierende Verfügen-Können über Wissensbestände, deren situationsspezifische Nutzung und Erweiterung. Sachkompetenz ist mit den prozeduralen Kompetenzbereichen verbunden und vernetzt. Die Kompetenzbereiche werden durch „Kernkompetenzen“ operationalisiert. Den Kompetenzbereichen und ihren Kernkompetenzen lassen sich die zahllosen weiteren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften zuordnen, über die historisch Denkende verfügen können (müssen). Sie müssen deshalb nicht gesondert in das Strukturmodell aufgenommen werden. Die Kernkompetenzen des FUERModells stellt die folgende Abbildung 7 noch einmal auf einen Blick zusammen. Mit Hilfe des FUER-Modells lässt sich historisches Denken von Schülern wie von Erwachsenen erfassen, von Laien wie von Experten, von Geschichtsbesessenen wie von historisch nicht Interessierten. Eine Graduierungslogik erlaubt, Unterschiede und Ziele für die Förderung zu bestimmen.14 Geschichtsunterricht und die außerschulische Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung haben mit der Entwicklung historischer Kompetenzen einen gemeinsamen Bezugspunkt für lebensbegleitendes Lernen. Das Ziel ist, den Menschen 12 Schreiber, Waltraud: Kompetenzbereich historische Orientierungskompetenzen, in: Körber/Schreiber/Schöner: Kompetenzen historischen Denkens (wie Anm. 7), S. 236– 264. 13 Schöner, Alexander: Kompetenzbereich historische Sachkompetenzen in: Körber/ Schreiber/Schöner: Kompetenzen historischen Denkens (wie Anm. 7), S. 265–314. 14 Körber, Andreas: Graduierung: Die Unterscheidung von Niveaus der Kompetenzen historischen Denkens in: Körber/Schreiber/Schöner: Kompetenzen historischen Denkens (wie Anm. 7), S. 415–472. Kurzfassungen: Schreiber, Waltraud: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. Neuried 2006; Schreiber, Waltraud: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht, in: Ventzke, M./Mebus, Sylvia/Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Geschichte denken statt pauken in der Sekundarstufe II, Meißen 2010.

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Abbildung 7: Die Kernkompetenzen der Kompetenzbereiche nach dem FUER-Modell

als historisches Wesen dabei zu unterstützen, sich in einer Welt, die immer komplexer, vernetzter, interkultureller wird, zu orientieren und seine Identität zu finden. IV. Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen lernen, um seine eigene Orientierungsfähigkeit zu verbessern Das Ziel des folgenden Kapitels ist, Ansatzpunkte für eine De-Konstruktion von Ausstellungen zu geben und dabei zu verdeutlichen, dass das Verständnis des Konzepts Gedenkstätte und der Einblick in ein Kompetenzmodell das Lesen von Ausstellungen erleichtern. Deshalb werden in Kapitel 3.1 bis 3.4 auch die Kompetenzbereiche zur Strukturierung des Kapitels genutzt. Wie es der Methode der De-Konstruktion15 entspricht, werden Hinweise auf die Erschließung der Oberflächen- und Tiefenstruktur gegeben; auch ,Triftigkeitskriterien‘16 finden Berücksichtigung. 15 Eine stärker theoretische Fundierung bietet der bereits angesprochene Beitrag Schreiber: Kompetenzbereich historische Methodenkompetenzen (wie Anm. 11), S. 194–235. Stärker praxisbezogen ist der Band Schreiber, Waltraud/Gruner, Carola: Geschichte durchdenken. Schüler vergleichen internationale Schulbücher. Das Beispiel: 1989/1990 – Mauerfall, Neuried 2010. 16 Dieser Terminus geht auf Jörn Rüsen zurück (Rüsen, Jörn: Historische Vernunft: Grundzüge der Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 85–116) und meint die Plausibilität der Darstellung in drei Hinsichten: die fachlichempirische Triftigkeit (1) fokussiert die fachliche Stimmigkeit der getroffenen Aussagen, die narrative Triftigkeit (2) betrifft die Erzählweise; sie wird sichtbar zum Beispiel

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Abgesetzt von diesen grundlegenden Hinweisen werden in jedem Unterkapitel Überlegungen angestellt, wie Einzelbesucher ihre eigene Kompetenzentwicklung vorantreiben können. 1. Fragestellungen einer Ausstellung erschließen (! Fragekompetenz) Die zentralen Fragestellungen, die die Macher einer Gedenkstätte verfolgen, kommen bereits in der Strukturierung der Gedenkstätte zum Ausdruck. Die Außenausstellung an der Bernauer Straße zum Beispiel ist nach vier Bereichen geordnet.

Abbildung 8: Übersichtsplan der 1,4 km langen Außenausstellung mit den 4 Bereichen

in der Abstimmung der Elemente, mit denen in der Gedenkstätte (im Folgenden in ihrer Außenausstellung) Geschichte dargestellt wird, in den Argumentationsmustern, mit denen über Vergangenes informiert wird und historische Sinnbildungen (entsprechend des Stiftungszwecks) zum Tragen kommen. Im Zentrum der normativen Triftigkeit (3) steht die Plausibilität der aus der Beschäftigung mit Vergangenem gewonnenen historischen Orientierung. Beurteilungskriterien sind zum Beispiel, inwiefern sowohl die Werte und Normen der dargestellten Zeit berücksichtigt werden als auch Werte und Normen der Gegenwart und (nahen) Zukunft, für die Gedenkstätten Orientierung geben wollen. Inwiefern die Heterogenität der Besucher mit deren unterschiedlichen kulturellen Prägungen berücksichigt wird und auf Ethik, Moral und rechtliche Rahmenbedingung Bezug genommen wird. Eine prägnante Darstellung der Triftigkeitskriterien erfolgt in Schreiber, Waltraud: Geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Grundlagen, in: Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander/Sochatzy, F.: Kategoriale Inhalts- und Strukturanalysen – Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, abgeleitet aus der Analyse von Schulbüchern, Stuttgart 2012.

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Wie bei Kapiteln eines Buches lohnt es sich, auch bei Ausstellungen nach der Topic-Comment-Struktur17 zu fragen: Was Abteilungstitel versprechen, sollte die Realisierung der Ausstellung halten: Gibt es einen klar erkennbaren „rote Faden“, bei dem die „Topics“ des Titels aufgegriffen werden. ,Topic‘ steht für das ,Worüber‘, für die Fragestellung; ,Comment‘ meint hingegen, das, was über das Thema gesagt wird (= Antworten). Für eine stringente Struktur der (Außen-) Ausstellung müssen die zentralen Fragestellungen der Bereiche konsequent kleingearbeitet werden. Dem dient die Untergliederung in Unterabteilungen, die ihrerseits ebenfalls einer klaren Fragestellung folgen müssen. Grundlage dafür, eine Ausstellung (hier einer Gedenkstätte) lesen zu können, ist also, sich bewusst zu machen, dass eine Geschichte erzählt wird – nicht als geschriebener Text wie in einem Buch, sondern mit den spezifischen Mitteln einer Gedenkstättenausstellung. Zugleich muss man sich bewusst sein, dass die Ausstellungen dennoch wie ein Buch einen Titel und eine Strukturierung nach Kapiteln haben. ,Titel‘ wie ,Kapitel‘ der unterschiedlichen Ebenen folgen einer Fragestellung, die Besucher sich erschließen können. Wie schlechte Historiographie können auch Ausstellungen Brüche enthalten: Fragen werden nicht hinreichend beantwortet, wichtige Teilaspekte bleiben unberücksichtigt, andere werden überbetont. Jenseits solcher sachlich-fachlicher Mängel gilt generell, dass geprüft werden muss, inwiefern die vorliegende historische Narration auch die Fragestellungen verfolgt, die auch für mich als individueller Besucher von Bedeutung sind. Eventuell ist es notwendig, eigenen Fragen selbst nachzugehen beziehungsweise sie sich mit Hilfe anderer Medien zu beantworten. Solche Leerstellen sind im Wesen von Ausstellungen begründet: Diese können nie so weit ins Detail gehen, wie zum Beispiel Historiographie. Mut zur Konzentration ist eines der Prinzpien guter Ausstellungen. Damit müssen aber auch Fragen offen bleiben. Besucher müssen lernen, das einzukalkulieren; Buchshops bieten regelmäßig die Chance für die Auseinandersetzng mit weiteren Fragestellungen. 2. Methodenkompetenz, hier die eigene De-Konstruktionskompetenz weiterentwickeln Re- und De-Konstruktion hängen zusammen: Es ist Ausdruck der Re-Konstruktionskompetenz der Macher, in der Ausstellung auf stimmige Art und Weise die Antworten auf die gewählten Fragestellungen zu geben. Sie müssen zudem in einer Form dargestellt werden (,Narrativieren‘), die dem Medium Gedenkstätte entspricht und die Besucher als Adressaten ernst nimmt. 17 Schöner, Alexander: Die „Sprache der Geschichte“– Skizze einer „Histo-Linguistik“, in: Schreiber/Schöner/Sochatzy: Kategoriale Inhalts- und Strukturanalysen (wie Anm. 16).

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Je besser eine auf das Konzept Gedenkstätte abgestimmte Re-Konstruktion gelungen ist, desto leichter ist es für den Besucher, die Ausstellung zu lesen und sie in ihrer Struktur zu de-konstruieren. In einer guten Gedenkstättenausstellung müssen also die drei, das Konzept Gedenkstätte ausmachenden Dimensionen (informieren, ein Sich-Erinnern ermöglichen, dem Gedenken/Mahnen Raum geben) Beachtung finden. Um den zentralen Fragestellungen nachzugehen, kommen in der Bernauer Straße Informationsstationen zum Einsatz. Weil diese für die Besucher auch formal sofort erkennbar sein müssen, wurde eine Formensprache für Informationen entwickelt. Als Material wird konsequent Cortenstahl verwendet. Zudem erfolgt eine Hierarchisierung der Information: Informationsstationen, Einzelstelen, durchnummerierte, in den Boden eingelassene Ereignismarken.18

Abbildung 9: Informationsstation, hier: Die Mauer und der Todesstreifen. (© Jürgen Hohmuth/GDS Berliner Mauer). Formal sind die Informationsstationen als Inseln gestaltet, die Stelen sind aus dem Leitmaterial Cortenstahl, der vom Kohlhoff & KohlhoffDenkmal aufgegriffen wurde. Neben strukturierten Texten, Bildquellen und Grafiken finden dort auch Ton- und Filmdokumente Einsatz. Mehrperspektivische Darstellungen sind ein Prinzip, wobei u. a. Ost- und Westsichten dargestellt werden. 18 Die Ereignismarken erinnern an die „Stolpersteine“ der Holocausterinnerung. Es handelt sich um durchnummerierte Kreise aus Cortenstahl, versehen mit Schlagworten, die festhalten, welche Ereignisse an dieser Stelle der Bernauer Straße belegt sind. Durch Zusatzmaterial (außerhalb der Ausstellung) werden den Besuchern die Ereignisse erschlossen.

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Nicht nur die von den Machern geschriebenen Informationstexte und die von ihnen ausgewählten Bild- und Filmmaterialien sollen Antworten auf die Fragstellungen geben, sondern in zentraler Weise auch die Exponate des Außengeländes, also die Überreste des Mauerstreifens (,Gegebenheiten‘) und der Ereignisse, die hier stattgefunden haben (,Begebenheiten‘). Hier sind Originale und Nachzeichnungen zu unterscheiden. Die Exponate unterstützen nicht nur das ,Informieren‘, sondern vor allem auch das ,Sich-Erinnern‘. In diesem Sinne fungieren der original erhaltene Postenweg und die Lichttrasse als ,roter Faden‘. Auf ihm durchschreiten die Besucher 1,4 km des Außengeländes.

Abbildung 10: Erzählen am originalen Ort: Relikte als Leitexponate. Auf dem Postenweg und unter den Beleuchtungskörpern, die den ,Todesstreifen‘ taghell ausleuchteten (Lichttrasse) durchschreiten die Besucher die Außenausstellung. Links das Original der Vorderlandmauer zum Westen, vorne das Kohlhoff & Kohlhoff-Denkmal, das innerhalb der beiden Cortenstahlwände ein Stück des ,Todesstreifen‘ im Zustand von 1990 konserviert. In der Mitte das Fenster des Gedenken, an der Lichttrasse Informationsstationen.

Weil originale Überreste und Spurensuche ein Prinzip der Außenausstellung der Gedenkstätte sind, wird nicht nur mit Hilfe der erhalten gebliebenen, sondern auch mit Hilfe archäologisch erschlossener Relikte erzählt.19 In den sogenannten

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Sondagen werden archäologische Befunde präsentiert, wie zum Beispiel das im Boden verbliebene Kellergeschoss eines abgerissenen Hauses auf der Ostseite der Bernauer Straße. Die Kellerfenster der Souterrain-Wohnung wurden 1961 zugemauert und waren so Teil der Mauer der ersten Generation. Die ,Narrativierung‘ erfolgt durch das freigelegte Exponat und die Informationstexte beziehungsweise Medienstationen. Ein weiteres Prinzip der Gedenkstätte ist, dass nichts nachgebaut wird, was nicht mehr vorhanden ist. Von den aus denkmalpflegerischen und gestalterischen Gründen abgelehnten Imitationen sind die ,Nachzeichnungen‘ zu unterscheiden, die notwendig sind, um den Besuchern die Ergebnisse der Re-Konstruktionen der Vergangenheit zu präsentieren. Nachzeichnungen müssen in einem inhaltlichen und einem material-bezogenen Zusammenhang zum Original stehen, sie imitieren es aber nicht als Ganzes. Dies lässt sich am Beispiel der Vorderlandmauer, der Grenzmauer gegenüber dem Westen, anschaulich verdeutlichen. Die Armierung der Mauer, die die ,Mauerspechte‘ freigelegt haben, als sie 1989/1990 mit kleinen Hämmern Erinnerungsstücke abschlugen, wird in den Cortenstahlstäben aufgegriffen, mit denen der Verlauf der Mauer nachgezeichnet wird. ,Mauer‘ und das ,glückliche Ende des Mauerfalls‘ werden in dieser Nachzeichnung zugleich symbolisiert: An jeder Stelle kann der heutige Besucher die ,Mauer‘ durchschreiten.

Abbildung 11: Grenzmauer und ihre Nachzeichnung. Das Original (rechtes Bild) ist am hinteren Ende des linken Bildes zu sehen. Durch die Nachzeichnung hindurch ist schemenhaft das Kohlhoff & Kohlhoff-Denkmal zu erkennen. Auf dem Gehsteig steht eine Informationsstele, in diesem Fall zu einem der Mauertoten.

19 Eine ausführliche archäologische Bestandaufnahme hatten Leo Schmidt und Axel Klausmeier durchgeführt. Schmidt, Leo/Klausmeier, Axel: Mauerreste – Mauerspuren. Der umfassende Führer zur Berliner Mauer, Berlin 2004.

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Ähnliche Nachzeichnungsprinzipien wurden auch für die Hinterlandmauer, die den Todesstreifen nach Osten abschloss, und die Wachtürme gefunden. Abstrahierter wird der Signalzaun (als beschriftetes Cortenstahl-Band auf dem Boden) markiert, ebenso die Fluchttunnel (als Cortenstahl-Platten in der Originalbreite der Tunnel). Auch die Einheiten zu „Gedenken und Mahnen“ sind so gestaltet, dass sie Antworten auf die leitenden Fragestellungen geben. Das ,Fenster des Gedenkens‘ beispielsweise befindet sich im Bereich A der Außenausstellung (,Die Mauer und der Todesstreifen‘). Die eindrückliche Gestaltung des Denkmals mit den bewusst reduzierten Informationen wird durch eine Informationsstation ergänzt, welche die ums Leben gekommenen Mauersoldaten thematisiert. Die Wunden der Erinnerung ließen es 2010 nicht zu, dass diese Opfer der Mauer, weil sie zugleich Täter waren, in das Fenster aufgenommen wurden.

Abbildung 12: Fenster des Gedenkens, mit einer Großaufnahme von Chris Gueffroy, der im Febraur 1989 ermordet wurde. © GDS Berliner Mauer, 2010

Die eigene De-Konstruktionskompetenz lässt sich dadurch fördern, dass man als Besucher zum Beispiel versucht, • die Dimensionen Informieren – Anstoßen eines sich-Erinnerns – Mahnen/Gedenken zu unterscheiden (vgl. Kapitel 1), • die Ebenen, auf denen Informationen gegeben werden, zu erkennen (Informationsstationen, einzelne Informationsstelen, Ereignispunkte),

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• den Zusammenhang zwischen den für die Ausstellung verfassten Texten, den für sie ausgewählten Materialen und den Orten, an denen sie gegeben werden, zu erschließen, • eine Verbindung zwischen den ausgewählten Materialien und den gewählten Präsentationsformen herzustellen, • den Zusammenhang zwischen den Exponaten des Geländes und den Informationseinheiten zu eruieren. Die Auseinandersetzung mit der ,Machart‘, also der Gestaltung ist ein spannender und nachhaltiger Weg der Kompetenzförderung, nicht zuletzt deshalb, weil sich daran immer auch inhaltliche Vertiefungen anschließen. Lehrer, Universitätsdozenten, Museums- und Gedenkstättenpädagogen können diesen Zugang gleichermaßen nutzen. Die Diskussion, ob Grenzsoldaten, die den Schießbefehl akzeptierten und vielleicht sogar selbst geschossen haben, auch Opfer der Diktatur DDR sind, ist ein Beispiel für eine inhaltliche Ausweitung, die durch die Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Denkmals für die Opfer ausgelöst werden kann. Je nachdem, welche Gruppe diese Diskussion führt, ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen. Für Schüler oder erwachsene Laien bietet sich zum Beispiel die Lektüre der Biographien der Mauertoten an20 und die Auseinandersetzung mit Biographien von Soldaten. Studierende und historisch Interessierte können sich zum Beispiel vertieft mit Rechtsquellen oder historiographischen Beurteilungen befassen. Es hängt vom Besucher ab, welchen Fokus er wählt. Denkbar sind auch Orientierungsfragen, die Verantwortung und Schuld in autokratischen Gesellschaften thematisieren oder auf die aktive Mitwirkung an der Zivilgesellschaft zielen. 3. Analysekriterium: Förderung der historischen Sachkompetenz in Gedenkstätten Wie bereits gesagt: Sachkompetent ist, wer über ein systematisches, strukturiertes Wissen verfügen und dieses situationsbezogen ausbauen und zur Strukturierung von Zeitverläufen verwenden kann. Der historisch Denkende ist in der Lage, in neuen Situationen auf bereits angeeignetes Wissen zurückzugreifen und dieses zur Problemlösung und zur eigenen Orientierung zu nutzen. Wenn an Gedenkstätten die Entwicklung von historischer Sachkompetenz gefördert werden soll, reicht es demzufolge nicht, „nur“ Inputs mit Wissen anzubieten und sich dann nicht weiter um die Besucher zu kümmern. Bei der Förderung der Kompetenzentwicklung steht nämlich der Outcome im Zentrum, also das, was die Besucher aus dem Gedenkstättenbesuch an neuen Einsichten mitnehmen, einschließlich der Vernetzung mit dem, was sie schon mitgebracht haben. 20 Hertle, Hans-Hermann/Nooke, Maria: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ein biografisches Handbuch, Berlin 20092.

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Die Herausforderung für die Verantwortlichen der Gedenkstätte besteht in der Heterogenität der Besucher: Neben den zahlenmäßig eher wenigen Zeitzeugen und wissenschaftlich ausgewiesenen Experten zur deutschen und/oder europäischen Geschichte steht die wesentlich größere Gruppe an interessierten Laien, darunter viele Menschen, die in ganz anderen Kulturen groß geworden sind und demzufolge über sehr unterschiedliche Erfahrungen verfügen. Angesichts dieser Heterogenität ist die Entscheidung für die leitende(n) Fragestellung(en) von besonderer Bedeutung (wodurch im Übrigen auch die Vernetzung zur Fragekompetenz deutlich wird): Kann es eine gemeinsame Fragestellung geben, die alle umtreibt und damit einen gemeinsamen Bezugspunkt für die Wissensentwicklung bietet? Vielleicht ist es im Falle der Bernauer Straße die Botschaft der Hoffnung, für die der Mauerfall am Ende des 20. Jahrhunderts Symbol geworden ist. Ein Teil dieser Botschaft ist auch die Tatsache, dass die Mauer ganz offensichtlich weg ist und deshalb rekonstruiert („nachgezeichnet“) werden muss, um sich mit ihr auseinander setzen zu können. – Die Verbindung zu Methodenkompetenz (s. oben 3.2) liegt hier auf der Hand. Den Besuchern muss durch die Gedenkstätte bewusst gemacht werden, dass der intensive und systematisierte Blick in die Vergangenheit nötig ist, um zu verstehen, was ,Mauer‘ und ,Mauerfall‘ für die Betroffenen bedeutet hat, in welchem historischen Kontext beides stattfand und möglich war. (Informieren und das Ermöglichen der Sich-Erinnerns stehen im Zentrum.) Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrer Alterität muss den Besuchern zugleich als Grundlage dafür bewusst gemacht werden, historische Orientierung für Gegenwart und Zukunft zu ermöglichen (Gedenken und Mahnen). Die Universalien Zeit – Raum – Mensch sind geeignete Leitlinien für die Gestaltung: Niemand sollte die Gedenkstätte verlassen, ohne die Epochensignatur des 20. Jahrhunderts besser verstanden zu haben, die besondere Raumkonstellation, die eine Mauer schafft, die durch eine Stadt/ein Land läuft, erkannt zu haben, ohne exemplarisch zu erfassen, was ,Mauer‘ und ,Eisener Vorhang‘ für Menschen aus Ost und West bedeutet haben. Die Verbindung zu Gegenwart und Zukunft wäre dann zum Beispiel ein Bewusstsein für die Verantwortung, die ein Leben in Freiheit jedem Einzelnen auferlegt. Wenn die Macher die einer Gedenkstätte eigenen Ziele berücksichtigen, ist es hilfreich, sich hierbei einer Hierarchisierung21 zu bedienen: Mensch-Raum-Zeit sind die Universalien, die in Bezug gesetzt werden müssen, und zwar unter der leitenden Fragestellung der Gedenkstätte (Kraft der Freiheit – Geist der Diktatur). 21 Die Grundlagen hierfür sind expliziert in Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander/ Sochatzy, F.: Kategoriale Inhalts- und Strukturanalysen – Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, erarbeitet an der Analyse von Schulbüchern, Stuttgart 2012. In diesem Band wird ein Analyseraster zur Erschließung historischer Narrationen vorgestellt, das u. a. für die empirische Untersuchung historischer Kompetenzen genutzt werden kann.

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Welche zentralen Kategorien (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Mentalität, Kultur, Kommunikation, Performanz . . .) notwendig sind, um die Geschichte der Berliner Mauer zu verstehen, muss von den Verantwortlichen ebenso reflektiert werden wie die Frage, welche Begriffskonzepte ins Zentrum gerückt werden sollen (Freiheit, Demokratie, Revolution, Protest, Diktatur, Ideologie, Macht und Machtmissbrauch, Partei, Kirche . . .). Die Besucher sollten an vielen Stellen der Gedenkstätte dabei unterstützt werden, über diese strukturierenden Konzepte verfügen zu lernen. Nicht nur die Gestalter, sondern auch Gedenkstättenpädagogen oder auch die Homepage sollten darauf ein besonderes Augenmerk legen. Selbstverständlich werden die Macher der Gedenkstätte weitere historische Fachbegriffe verwenden müssen, um Phasen auszuweisen oder konkrete Ereignisse zu beschreiben. Diese haben aber untergeordnete Bedeutung im Vergeich zu den Struktur bestimmenden Kategorien und Konzepten. Indem diese detaillierenden Fachtermini den Konzepten explizit und implizit zugeordnet werden, wird es nicht nur Laien erleichtert, ihre Sachkompetenz zu erweitern. Für Besucher ist es am leichtesten, wenn sie, um die eigene Sachkompetenz weiterzuentwickeln, solche Aspekte auswählen, die auch im Fokus der Gedenkstätte stehen. In diesem Fall kann man ,mit dem Konzept‘ der Gedenkstättenmacher gehen und muss nicht ,quer dazu‘ Elemente heraussuchen, die einem von Bedeutung erscheinen und diese begrifflich zu erfassen versuchen. Je bewusster Gedenkstättenmacher ihre Besucher fördern wollen, desto leichter sind auch die gewählten kategorialen Zugriffe und die sich daraus ergebenden Leitbegriffe zu erkennen. Als Besucher fördert man die eigene Kompetenzentwicklung, indem man das vorhandene Begriffsverständnis zum einen prototypisch schärft und zum anderen bezogen auf den in Rede stehenden Raum, die entsprechende Zeit und die betroffenen Menschen ausdifferenziert. Selbstverständlich ist aber auch das Vorgehen möglich, eine in der Gedenkstätte weniger verfolgte Kategorie (wie zum Beispiel „Kommunikation“) in den Mittelpunkt zu stellen. In diesem Falle müsste man für sich vorab klären, welche Begriffskonzepte dafür von Bedeutung erscheinen (Konflikt, Medien, Diplomatie, „Kalter Krieg“ oder Überwachung). Sodann wäre herauszufinden, wo in der Ausstellung diese Konzepte eine Rolle spielen. Erst dann ist man als Besucher in der Lage, sein mitgebrachtes Begriffs- und Strukturierungsverständnis bezogen auf die Berliner Mauer weiterzuentwickeln. Grundsätzlich gilt, dass die auf konkrete Ereignisse und Gegebenheiten in der „Bernauer Straße“ bezogenen „Wissenspartikel“ (Mauer der ersten, zweiten, dritten Generation; Äußerungen Ulbrichts oder Brandts, Sprengung der Versöhnungskirche, Tunnelfluchten, die Ikone des fliehenden Conrad Schumann, Namen der Opfer der Bernauer Straße, . . .), abhängig von der leitenden Kategorie, unter die sie gestellt sind, ein je anderes Gewicht und Gesicht bekommen.

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4. Analysekriterium: Fördern der historischen Orientierungskompetenz So leicht es einem über die Lippen geht und so richtig es auf der Metaebene ist, dass der Mensch als historisches Wesen schon aus anthropologischen Gründen Orientierung durch die Beschäftigung mit Geschichte finden kann und muss: Es ist keine Selbstverständlichkeit zum Beispiel für Jugendliche, die – scheinbar – in einer ,Welt ohne Grenzen‘ aufwachsen, das eigene Leben durch die Beschäftigung mit der Berliner Mauer historisch orientieren zu können.

Abbildung 13: „Die Zeit“, 9.11.2004. Medienberichte zu den Gedenktagen (hier 25 Jahre Mauerfall) sind eine Fundgrube für die Auseinandersetzung mit historischer Orientierung.

Ihre Gegenwartserfahrungen in einer offenen Welt erschweren Jugendlichen den Zugang zu einer Vergangenheit, in der sich Ost und West in starren Blöcken entgegenstanden. Die Konsequenzen, die das für das Leben der damaligen Menschen hatte, sind für sie schwer nachvollziehbar. Dies gilt durchaus auch für das Eintreten der Bürgerrechtler und ihrer Mitstreiter für die Freiheit und deren Mut zu revolutionären Umbrüchen. Wenn es Jugendlichen nicht – wie uns erwachsenen Zeitgenossen der Umbruchszeit – sofort verständlich ist, wo die große Leistung der „friedlichen Revolutionen“ für heute lag, dann kann die Auseinandersetzung mit Vergangenem auch nicht ohne Weiteres Orientierung für die Gegenwart geben. Wie es scheint, erleichtert das Zusammenspiel von Emotion und Kognition die Orientierung. Weil Gedenkstätten, schon wegen ihrer Aufgabe, ein Sich-Erinnern und Gedenken/Mahnen zu ermöglichen, nicht ohne Emotion auskommen können

Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen)

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und ihre Aufgabe aber immer zugleich auch ist, zu informieren, bieten sie gute Voraussetzungen für historische Orientierung. Dennoch bleibt es eine Herausforderung für Lehrer wie für das Personal der Gedenkstätten, historische Orientierung bezogen auf die Schüler und ihre Welt zu denken und über die Rolle, die die Vergangenheit der Berliner Mauer und ihres Falls dabei spielen können, nachzudenken. Einen Ansatzpunkt bietet die politische Erinnerungskultur, so wie sie zum Beispiel anlässlich von Gedenktagen an der Gedenkstätte selbst stattfindet. Die zentrale Frage kann sein: Was sagt mir als Schüler, als junger Deutscher, als Migrant, als Gast aus Italien, Amerika oder Japaner das, was Politiker, die Medien, Zeitzeugen an dieser Stelle verlautbaren? Warum hat es Bedeutung/keine Bedeutung für mich? Einen geeigneten Bezugspunkt stellt zum Beispiel die Homepage der Gedenkstätte dar, auf der u. a. Auszüge aus Gedenkreden, Fotos und Film zu Jahrestagen und Einweihungen enthalten sind (vgl. 50 Jahre Mauerbau; vgl. die geplante Eröffnung der Innenausstellung am 9. November 2014). Gerade an der Gegenüberstellung der Kernsätze von Gedenkreden wird erkennbar, welch große Bedeutung einerseits diesem Gedenkort zugemessen wird. Andererseits liegt es aber auch auf der Hand, dass die Sonntagsreden nicht ausreichen, um alltagstaugliche Handlungsdispositionen grundzulegen.

Abbildung 14: Collage, zusammengestellt aus rechtefreien Internetabbildungen.

Vielversprechend erscheint es mir in dieser Hinsicht, wenn Lehrer oder Gedenkstättenpädagogen mit ihren Rezipienten Konzepte wie „Revolution“, „Freiheit“ oder „Protest“ an aktuellen Beispielen erschließen und im Vergleich mit

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dem historischen Beispiel (bei dem der Ausgang bekannt ist) kategorial durchdringen. Bei diesem Zugang wird nicht nur Orientierungs-, sondern zugleich auch Sachkompetenz gefördert, weil Begriffskonzepte erarbeitet und in ihrer Zeitabhängigkeit erfasst werden. Besucher, die sich zum Beispiel an den Stellen, die dem Mahnen und Gedenken dienen sollen, auf die Gedenkstätte und deren Absicht, Erinnerungsort zu sein, einlassen können, lernen, sich explizit zu den Orientierungsangeboten zu verhalten, die die Gedenkstätte macht. Gedenkfeiern ergänzen das um die Aussagen der Gedenkredner und die Stimmung der Gäste. Ansatzpunkte für die eigene historische Orientierung bietet die Gedenkstätte aber auch da, wo sie dazu beiträgt, Alterität bewusst zu machen, über kategoriale Zugriffe Bögen ins Heute zu schlagen oder Menschen und ihre Emotionen ins Zentrum zu rücken. Einlassen auf einen (selbst-)reflexiven „outcome“ muss sich aber jeder Besucher für sich allein.

Anatomy of an Election Anti-Catholicism, Antisemitism, and Social Conflict in the Era of Reichsgründung and Kulturkampf Margaret Lavinia Anderson “Nowhere outside of Ireland, and Spain in its day, has the Catholic clergy accomplished a more absolute subjugation of the people than here; the clergy is the unconstrained master of the people, who like a troop of serfs stand ready to do its bidding.” Rudolf Virchow, on Upper Silesia, 1848 “The Upper Silesian Pole is indeed used to following blindly his pastor’s advice in many things, but as soon as his material interest comes into play, the limits of his docility are only too often revealed.” Hugo Solger, 1860, Landrat, County Beuthen1

I. The Problem In Spring 1871, a “Beanstandungs-Manie” broke out in the first Reichstag of a united Germany, as liberals, but also conservatives of various kinds, examining the validity of the members’ elections, voiced the conviction that the surprising victories of the new Center Party were owed to the machinations of the Catholic clergy.2 Their indignation reached a climax when Eduard Lasker turned away from the topic at hand – an investigation into charges of fraud, violence, and government intimidation in the election of a Free Conservative aristocrat in Upper Silesia’s Kreuzburg-Rosenberg district (1. Oppeln) – to launch a bitter attack on the Center’s victory in a neighboring constituency: Pleß-Rybnik (7. Oppeln). Lasker’s remarks created a sensation and put Pleß-Rybnik on the front pages of newspapers across the country. Six times over the course of the year the Reichstag would return to this contest, devoting more attention to it than to any 1 Both quoted in Franzke, Karl: Die Oberschlesischen Industriearbeiter von 1740– 1886, Breslau 1936, S. 91 f. 2 Quoted: A. Reichensperger, in Pastor, Ludwig: August Reichensperger 1808–1895. Sein Leben und sein Wirken auf dem Gebiet der Politik, der Kunst und der Wissenschaft. Mit Benutzung seines ungedruckten Nachlasses, Band 2, Freiburg im Breisgau 1899, S. 24.

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other election in the history of the Kaiserreich.3 And indeed, nearly a hundred years later, Helmut Neubach would pronounce the duel between Pleß-Rybnik’s “two unequal candidates [. . .] without exaggeration one of the most interesting chapters in the history of German parliamentism in the Bismarck era.” 4 In the following essay, I will offer an anatomy of this duel and its re-match, examining the political assumptions and practices it revealed and the changes in both that were triggered by the introduction of universal male suffrage.5 But I also hope to use the fallout over this contest, and particularly over its controversial victor, to lay bare some of the subterranean currents within Germany’s popular culture – class conflict and antisemitism – currents that, although undoubtedly known to voters, Deputy Lasker and the rest of Germany’s political class seemed curiously loath to acknowledge. A third current, however, was on all-too-open display: animus toward the Catholic Church, whose critics were becoming increasingly venomous. The attacks on Catholicism – soon to be dubbed “Kulturkampf” – although rooted in long-standing stereotypes, were animated by a concern for the new German unity that the Church’s singular practices and institutions were perceived to undermine. A similar perception – reinforced by his own anxieties about whether the new empire could withstand its divisions – would within a year bring the Chancellor himself over to the liberals’ cause. But of the three cleavages that haunted liberal Germany, the evils occasioned by Catholicism proved imaginary. The other two – class conflict and antisemitism – presented threats that were real and would persist. Yet it is hard to avoid the suspicion that the anti-Catholicism so popular during the Reichsgrundungsära served liberals and their allies as a surrogate for a more candid confrontation with the 3 E. g., Germania, 6. April 1871; Hallische Zeitung, 4. Beilage, 3. Mai 1871; Görlitzer Anzeiger [hereafter: GA], 3. Mai 1871. The case produced depositions of participants, debates among deputies, commentaries in newspapers, and extended reflections from important contemporaries: e. g., the National Liberal Ludwig Bamberger, in his report on “Die erste Sitzungsperiode des ersten deutschen Reichstags” in: Holtzendorffs Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des deutschen Reiches, 1, 1871, S. 159–199; Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler in the longest section of “Reichstagswahlen und Wahlprüfungen” in Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Die Centrums-Fraction auf dem ersten Deutschen Reichstage, Mainz 1872, reprinted in Iserloh, Erwin/Stoll, Christoph (Hrsg.): Ketteler’s Sämmtliche Werke und Briefe, Band 4: Schriften, Aufsätze und Reden, 1871–1877, Mainz 1977. 4 Neubach, Helmut: Parteien und Politiker in Oberschlesien zur Bismarckzeit, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, XIII, 1968, S. 193–231, hier S. 218. 5 I have written about this election in earlier publications, most extensively in Anderson, Margaret L.: The Kulturkampf and the Course of German History, in: Central European History, 10, 1986, Heft 1, S. 82–115; anthologized in 2007 in Mergel, Thomas/Ziemann, Benjamin (Hrsg.): European Political History 1870–1913, Aldershot 2007, S. 115–145; and I referred to it briefly in Anderson, Margaret L.: Lehrjahre der Demokratie: Wahlen und Politische Kultur im deutschen Kaiserreich, [English: 2000] Stuttgart 2009. But I then knew little of Eduard Müller’s biography, nor was I aware of the role anxiety about antisemitism may have played in the ensuing controversy.

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gap between rich and poor and with the hostility felt towards this smallest of Germany’s minorities; nor that their unblushing anti-Catholicism played its own role in fueling these dangerous antagonisms. The Reichstag’s debate over the Center’s victory in Pleß-Rybnik revolved around the conventional pictures of the Upper Silesian population expressed in the contrasting epigrams, above, of Dr. Virchow and Landrat Solger. For liberals like Lasker, and their Free Conservative allies, the election of an obscure priest from outside the election district suggested that Catholics, in thrall to their clergy, were incapable of the independence required of voting citizens. For the Center and their Polish and Welf allies, the fact that their party had succeeded only in Pleß-Rybnik, out of the eleven districts in a regency more than 90 procent Catholic, demonstrated that exigent material interests – the need to please a demanding Brotherrschaft – could almost always trump vital spiritual concerns. Both pictures cast doubt, for opposite reasons, on whether Germany’s new democratic franchise, this “leap in the dark,” could have any reality in Upper Silesia, and whether regions such as these could be entrusted with the selection of men with the heavy responsibility of legislating for the new Germany.6 Yet neither picture can explain what happened in Pleß-Rybnik. The problem with the first, as we shall see, is that only three pastors supported the winning candidate, in a district whose population topped 170.000. The overwhelming majority of the clergy had endorsed the loser, and the rest had kept their mouths shut. The problem with the second picture, as we shall also see, is that many of those who cast their ballot for the Center’s candidate had put their economic livelihoods at risk, voting against their material interests. The Center’s startling victory, this essay will argue, was most immediately the result of a unique conjuncture: dual crises in the Silesian Catholic church and in European financial markets, both short-lived but spectacular. These crises played out, however, against the background of developments over the last half-decade that were bound to make Catholics anxious: a liberal domestic agenda eager to claim for the state absolute sovereignty over matters that had long been shared with the Church, and a Bismarckian foreign policy that had redefined, in ways perceived as detrimental to Catholic standing within state and society, what it meant to be “German.” Catholic opposition to these changes was met with vilification. In the first year of German unity, Catholics heard their hierarchy denounced from the floor of parliament for its “lust for power” and “anti-national endeavors;” were told that their clergy had “openly preached treason” in the days before the Franco-Prussian war; and that “today’s Germany came into existence against your efforts, you impeded it with every means at your disposal, you are today the defeated ones”– a matter on which “public opinion in 6 Quote: Hammerstein-Löxten and G. Frh. v. Rheinbaben. Minutes of the SM, 17. Januar 1903, Bundesarchiv Berlin – L R1501/14455, Bl. 211.

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Germany, and the great majority here in the House” were agreed. Lest there be any doubt, vigorous applause from both sides of the chamber confirmed the assessment.7 “I shall never forget the painful impression of this discussion,” wrote Freiherr Wilhelm Emmanuel Ketteler, Bishop of Mainz. The deputies “seemed in many cases not even to perceive how deeply they hurt all Catholic feeling or else they considered it their self-evident right to give offense to Catholic priests and the Catholic people just as they pleased.” 8 II. The Upset The opening salvo in the Reichstag battle that brought far-away Pleß-Rybnik to national attention was Lasker’s shock – shared, he said, by the entire House – at learning that Pleß-Rybnik’s distinguished incumbent, who only recently headed a Catholic delegation to the Vatican, “had suddenly been pushed out, in the name of the Catholic religion, by a man completely unknown in the election district.” Lasker’s philippic was greeted with bravos from the floor and with such applause from the gallery that the President had to call the visitors to order.9 His outrage was echoed inside and outside the chamber, and in remarkably similar language. Always there was the injustice to the loser, “pushed out of the election district he had always held” – and indeed, “in the name of the Catholic religion,” although that loser was himself a Catholic.10 Always there was the mendacity of the winning party’s claim that the Church was in danger – “as if it were a question of repealing Article 15 of the Prussian constitution. Meine Herren, where is there any kind of talk of this? whoever wants to abolish Article 15 in Prussia?” Moritz Blanckenburg wanted to know – words that must have come back to haunt this pious gentleman.11 Always there was the charge that support for the winner did not come from within the district: “that it was brought in from outside, we know

7 Johannes Miquel (NL), first speaking in the Prussian Landtag, 16. Januar 1871 (quoted by Peter Reichensperger, Stenographische Berichte des Reichstages (SBDR), 4. April 1871), S. 148, next in the Reichstag: SBDR, 4. April 1871, S. 131. Bamberger echoed this triumphalist anti-Catholicism, and extended it to pious Protestants: “1866 und 1870 waren zwei der romanischen Welt verhängnißvolle Jahre. Beide Kriege waren in letzter Instanz, wenn auch vielleicht ohne Willen und Wissen der siegreichen Lenker, gegen die ultramontaner Herrschaft gerichtet. Drum mit Recht erhebt sie sich mit der ganzen Macht der Verzweiflung gegen das neue deutsche Reich; und darum, wenn diesem die Jugendkraft einwohnt, die wir glauben, wird jene fallen über kurz oder lang, und mit ihr auch der lutherische Papismus.” “Die erste Sitzungsperiode des ersten deutschen Reichstags,” in: Holtzendorffs Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des deutschen Reiches, 1, 1871, S. 159–199, hier S. 179 f. 8 Ketteler: Reichstagswahlen und Wahlprüfungen (wie Anm. 3), S. 111. 9 SBDR, 5. April 1871, S. 174. Lasker twice emphasized the incumbent’s being “verdrängt” from “his” district. 10 Graf Fred von Frankenberg (Reichspartei), SBDR 22. November 1871, S. 438. 11 Moritz von Blanckenburg (K), SBDR 3. April 1871, S. 127.

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very well.” 12 And always there was the illegitimacy of the winner: “a man completely unknown in the district,” a description expanded by another deputy (“in political life a complete unknown [. . .]),” 13 and elaborated even further outside parliament (“a complete unknown throughout the entire election district as well as in political life generally, [. . .] someone who has as close a relationship to the district as to a parish on the other side of the ocean”).14 The impact of the surprise defeat of Pleß-Rybnik’s incumbent was so powerful that more than a year later Bismarck would allude to it, in precisely these terms – complaining that “unquestionable supporters of the government” were being “pushed out of their seats,” and replaced with “completely unknown people who have never been seen in the district.” But the sinister power from outside that accomplished this feat Bismarck found less in the Catholic clergy per se than in the “contentious corps” representing them: the Center Party.15 It is worth noting the very abstract terms in which the contest for Pleß-Rybnik’s mandate was being depicted. To hear its critics tell it, Pleß-Rybnik’s election was illegitimate because local values had been subverted by alien ones; instead of representing the community, the election had usurped it. (We shall return to the matter of “community” later on.) Perhaps because to use personal names on the house floor was bad form, the defeated incumbent was identified by name only once; his unprepossessing challenger, not at all. And yet the Pleß-Rybnik election was one in which, at least at first, the candidates themselves, much more than the parties they represented, were the heart of the matter. The loser was Viktor Moritz Karl, Duke of Ratibor [Racibörz] and Fürst of Corvey, Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst, honorary general of the cavalry à la suite, and a hereditary member of the Prussian House of Lords. In 1866, together with a small but powerful set of fellow bluebloods, he had put together the Free Conservative Union to rally aristocratic support behind Bismarck and his controversial policies. As an important symbolic counterweight, especially in court circles, to the still-obstreperous Old Conservatives, the Free Conservatives (in 1871 re-named the Reichspartei) could presume on the Chancellor’s solicitude. Not that the duke needed help from above. With holdings encompassing over 82.000

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Frankenberg (wie Anm. 10). Ebd. My emphasis. A Berlin paper (fortschrittlich) also described Müller in a lead article as a “ganz unbekannte Persönlichkeit” when he picked up votes in each of Berlin’s Wahlkreise in the 1870 Landtag election. Volkszeitung, 1. Juli 1870, quoted in “Das Ei des Kulturkampfes”, in: Berliner St. Bonifacius-Kalender [hereafter: BBK] 1883, S. 109. 14 Fürst von Pleß [Pszczyna], in a letter to a priest who held one of his livings, quoted in: Rust, Hermann: Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder, Düsseldorf 1897, S. 615. 15 Stenographische Berichte des Hauses der Abgeordneten (SBHA), 30. Januar 1872, S. 534–537. 13

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acres, he was the third largest landowner in all of Upper Silesia.16 All the more astounding that he had been defeated by someone named Müller, a man who had spent the entire election campaign in Berlin. Upper Silesia was a region that would seem to defy challenges from outside.17 An infrastructure around which to base a political campaign did not exist. Although in 1867 a Catholic Volksverein, founded in Breslau for election purposes, had bravely announced that every Silesian pastor would receive fifty copies of its program, two years later it had managed to sign up only 500 members – this, in the most populous diocese in Germany. Catholic associational life, which gave so many advantages to Center Party candidates elsewhere, was indiscernible. In 1867 the liberal Schlesische Zeitung had noted that “in all of Upper Silesia there is not a single local or provincial political paper, nowhere does a political association exist, no political assemblies are held [. . .].” Among the eighty-odd election precincts that made up the Pleß-Rybnik district, only five could boast even a Catholic journeyman’s association and none had a Catholic casino, as political clubs for the better sort were called.18 In March 1871 even a skeletal Center Party structure, such as was emerging in northwestern Germany, was lacking. Pleß-Rybnik, at the southeastern tip of the province, had an additional peculiarity that made it especially stony soil for new political growth. It was Germany’s most populous election district, the only one to exceed 150.000 people. Yet it had few roads and even fewer towns – none with as many as 6.000 residents. How could so many voters be reached? How could they even hear of a candidate from Berlin? Who would hand out his ballots? Who else but the Catholic clergy, all powerful (in the eyes of its critics) in this priest-ridden land. III. The Victor: Portrait of an Activist Priest The man who had defeated the Duke of Ratibor was himself a priest, Geistlicher Rat Eduard Müller (1818–1895), Missionsvikar in Berlin since 1852 and 16 Mazura, Paul: Entwicklung des politischen Katholizismus in Schlesien. Von seinen Anfängen bis zum Jahre 1880, Diss. Breslau, 1925, S. 54 u. 59 ff. A map of the holdings of Silesia’s magnates: Partsch, Joseph: Schlesien. Eine Landeskunde für das deutsche Volk, Breslau 1911, S. 8. On the duke: Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), passim; Hirth, George (Hrsg.): Deutscher Parlaments-Almanach, Leipzig 187712, S. 214; Haunfelder, Bernd/Pollmann, Klaus Erich: Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867–1870. Historische Photographien und biographisches Handbuch, Düsseldorf 1989, S. 452. 17 Niederschlesien (Regierungsbezirk Liegnitz) lay in the north, Mittelschlesien (Regierungsbezirk Breslau) in the center of the province. 18 Schlesische Zeitung quoted in Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 61; see also, 56, 58, 67, 83 u. 87. Karol Miarka did found a casino in Königshütte (5. Oppeln) in 1867, and Lech Trzeciakowski puts one in Pleß [Pszczyna] “soon” after. Trzeciakowski, Lech: The Kulturkampf in Prussian Poland, New York 1990, S. 28.

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one of fourteen Catholic clerics elected to the first Imperial Reichstag. It will be necessary to look at this man rather closely because, although his value to his constituents was largely symbolic, Müller was far from being “completely unknown” in the district, nor were his achievements so few or so unsung as his opponents’ outcry implied. Among the Catholic diaspora in Berlin Eduard Müller had already made a considerable name for himself, and in three spheres: the pastoral, the publicistic, and, most recently and in the broadest sense, the political. The mission vicar was first of all a “Wandervikar,” one who traversed the entire apostolic delegature of Brandenburg-Pomerania, on into Mecklenburg, as far as Hamburg and Altona, his rucksack stuffed with missal and chalice, wine and altar cloth, to bring the sacraments to the Catholic faithful scattered across these staunchly Protestant regions.19 Sacristan, acolyte, and celebrant all in one, the resourceful Müller was said to have tied a bell to his foot to ring at appropriate points in the consecration. In Rathaus and Gasthaus, wherever two or three Catholics could be gathered together, he christened babies, heard confessions (for which he had a gift), celebrated communion – and set up Piusvereine. Diaspora work, lacking regular financial support from either the diocese or the government, was dependent on the contributions of missionary societies. Thus Müller also regularly made “Bettelreise” among established Catholic communities – especially those in Silesia, where he had been born and raised, and (at the University of Breslau) had taken his degree. It was not long, however, before he, and others like him, attracted unwelcome attention. Diaspora missions were aimed not at converting Protestants, but at animating the devotional life of diaspora Catholics, some of whom had not seen a priest in twenty years, and at reintegrating them into the broader Catholic community. Nevertheless, the appearance of “missionaries” (and perhaps especially of Piusvereine) in districts previously untouched by any signs of popery alarmed some Protestants, and in 1852 19 The most satisfactory treatment of Müller is Thrasolt, Ernst [pseudonym for the poet and priest, Joseph Matthias Tressel, 1878–1945]: Eduard Müller. Der Berliner Missionsvikar. Ein Beitrag zur Geschichte des Katholizismus in Berlin, der Mark Brandenburg und Pommern, Berlin 1953), based on Müller’s diaries, letters, and interviews with contemporaries. It was initially published in 1936–1938 in installments in the Berliner Kirchenblatt. Kreusch, Edmund: Eduard Müller, der priesterliche Volksfreund. Ein Lebensbild, Berlin 1898, with long excerpts from Müller’s diaries and sermons is valuable for 19th century piety, but has little on politics. In 1905 a personal friend, Emil Kolbe, published a series on Müller in the Märkische Kirchenblatt (hereafter: MK), expanded as Kolbe, Emil: Missionsvikar Eduard Müller, Berlin 1906 to encourage the building a St. Eduard’s Church in Berlin. The only scholarly treatment is Michael Dillmann’s brief entry for Müller in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XXXI, Nordhausen 2010, Sp. 902–910. “Wandervikar:” Wick, Joseph: Aus meinem Leben. Aufzeichnungen von meinem fünfzigjährigen Priester-Jubiläum für den mir stets wohlgesinnt gewesenen schlesischen katholischen Clerus und das katholische Volk, Breslau 1895, S. 28.

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Prussia’s Kultusminister Karl Otto von Raumer instructed communal authorities to keep them out. The “Raumer Erlaße” soon became a dead letter, but not before stimulating Prussian Catholics to found the progenitor of the later Center Party.20 Müller’s Pius Associations were only the beginning of social initiatives that, back in Berlin, brought him to the edges of political life. As founder and spiritus rector of one organization after another – for journeymen, for apprentices, for masters, for servant girls and students, twenty-six in all – Müller became a familiar presence among the capital’s Catholic minority, most of them immigrants, of whom Silesians made up the greatest number. A third of the founding members of Müller’s first journeyman’s association were transplanted Silesians, some undoubtedly from Pleß and Rybnik, whose out-migration rates, owing to their deeper poverty, were greater than those of any other counties.21 Müller’s social work took on such dimensions that he had to buy a large building in the Niederwallstraße to house them all. Not simply a Vereinshaus, it boasted a lecture hall, press and club rooms, rooms for theatricals and dancing, overnight housing for visiting Catholic members of parliament, and eventually offices for the Center’s Berlin daily, the Germania. It also housed an apartment for Gray Sisters, a nursing order whose mother superior was Müller’s niece, most of whose residents were Silesians, and whose mother house was in Neiße, “the Silesian Rome.” Niederwallstraße Eleven also contained for awhile a boarding school run by Müller’s brother. Among its 200-odd pupils were the sons of many Silesian noblemen, including a Radowitz, a Beckedorff, a Strachwitz – and a Ratibor.22 By the early sixties, Mission Vicar Müller had spun a dense associational web, in which devotion and edification, sociability and mutual help, were part of a single weave, linking together Catholics of many ranks, and making his name synonymous for the “Social Question” in Catholic Berlin. This curriculum vitae was indeed unusual for a parliamentary deputy in 1871. Soon, however, it would become typical of a whole new class of middle-level political leaders: the political clerisy of the Center Party. Although his peripatetic ministry made Müller something of a legend in his own time, earning him the title “the second Boniface” from admirers;23 and his

20 Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 85, 88 u. 97, writes as if the Erlaß were aimed at Müller personally, but in 1852 he had only begun his work. 21 “Wie Oberschlesien das Licht bekommt”, in: BBK 1879, S. 80; Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 77, 94, 103–109 u. 125. 22 Migration: Schofer, Lawrence: The Formation of a Modern Labor Force, Upper Silesia, 1865–1914, Berkeley and Los Angeles 1975, S. 21 u. 35. On Niederwallstraße Elf: Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 95, 108, 129–134, 174 u. 209; Leugers-Scherzberg, August H.: Felix Porsch. 1853–1930. Politik für Katholische Interessen in Kaiserreich und Republik, Mainz 1990, S. 16. 23 Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 7.

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Vereinszuchterei had brought him in contact with high and low in the Catholic world, perhaps more important in establishing him as a potential Reichstag candidate was his journalism. After previous efforts to maintain a Catholic newspaper in Berlin had collapsed, Müller succeeded in 1858 in establishing the Märkisches Kirchenblatt, a paper that went beyond the news of marriages and burials, announcement of meetings, and edifying tidbits on local church history and the liturgical year that were the staples of the diocesan press of both confessions. Intent on proving both to detractors and to Catholics themselves that their Church was no interloper on “Brandenburg sand,” that Christianity had been brought to the Mark by the very religious orders now increasingly under attack, the scrappy Müller never let an opportunity pass to rebut the sneers and slurs of the liberal press. From the outset his paper exhibited an adversarial drift and an in-your-face tone that made it, in the eyes of liberals, “everything but a Kirchenblatt.” 24 Nevertheless, although Müller claimed that he had readers “from remote parts of Prussia,” the Kirchenblatt’s circulation in the capital itself was probably under 2.000 – not much to brag about for a Catholic population that now numbered more than 51.000.25 More important for Müller’s political prospects was his pocket-sized annual, the Berliner St. Bonifacius-Kalender. The Kalender’s first issue, in 1863, sold out, as did a second printing by the end of the year. Opening with some thirty pages of small print that listed every fair and market in Prussia, the Kalender aimed at a readership not only beyond the rectory, but beyond the Mark. It offered an almanac whose weather reports, lists of feast and fast days, and genealogies of the world’s royal families jostled uplifting stories of victories over alcoholism, news of miracles and prominent conversions, “historical research” on the Reformation – and, after the Kulturkampf began, regular reports on the history, rituals, and current whereabouts of the hated “Lodge.” 26 Eventually the Boni24 GA, 14 Juli 1871. “Brandenburger Sande:” quoting Cardinal Wiseman in “Dann laß ich fünf Fuß tiefer graben!”, in: BBK 1883, S. 15. One of Müller’s articles was entitled “Darf der Seelsorger Politik treiben?” – to which the unsurprising answer was “ja.” MK, 16. u. 23. Januar 1869. 25 BBK 1871, S. 125. By 1881 it appears to have dropped to 1,500. Population: Hohorst, Gerd/Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A. (Hrsg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Band II, München 1978, S. 53. Das schwarze Blatt, a Catholic weekly, reached more than 20,000 during the Kulturkampf. Schulz, Jürgen Michael: Katholische Kirchenpresse in Berlin, in: Elm, Kaspar/Loock, Hans-Dietrich (Hrsg.): Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin u. New York 1990, S. 427–449, hier S. 447. Müller had also published, anonymously, a catechism for adults, the so-called Beharrlichkeitskatechismus, in 1855 and a two-volume Laienbrevier. Betrachtungen für jeden Tag des Jahres, in 1861. 26 E. g. the BBK for 1870 contained a poem, a biography of Pius IX, “Warum schenkte Gott uns keine Kinder?” (a couple’s good works with orphans), rehabilitations of Johannes Tetzel and a comparison of Voltaire with the Curé d’Ars, an up-date on the Grünhof cloister, on journeymen’s Vereine, and on two Saxon noblemen who converted

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facius-Kalender was translated into French and Polish, reaching readers on the Western and Eastern borders of the Empire. The Center deputy Theodor Schröder, a young attorney with a practice in Beuthen [Bytom], who took it upon himself to conduct his own investigation in Pleß-Rybnik on the controversial election, reported seeing the Bonificius-Kalender “in many parts of the country there.” 27 And perhaps he had – although as only 6.000 copies were printed, it is unlikely that he saw it very often. As with his ministry to the diaspora, Müller’s journalism was very much a oneman show, the cleric acting as his own reporter, editor, publisher, and distributor. But journalism provided him a means of networking among the politically interested clergy. Müller used his pages to recommend the publications of confreres, giving a long description (size, price, and contents) of the Mainzer Journal and suggesting that Catholics living in Heiligenstadt subscribe to the Eichsfelder Volksblätter.28 The faithful in Silesia, Posen, and West and East Prussia were urged to patronize Josef Wick’s new Breslauer Hausblätter (soon to become the Schlesische Volkszeitung) with their advertisements as well as their subscriptions.29 The clerical entrepreneurs who published these journals were the indispensable stringers in an emerging inter-regional network of Catholic publications. By supplying each other not only with praise, but also with “Korrespondenz” from their own bailiwicks, they were able to fill their columns and connect parish and diocese with a larger Catholic world. Wick had already endorsed Müller as a candidate for Silesia to the North German Reichstag in 1867, saying he was “just the man.” 30 Wick, as well as Franz Lorinser, who had published the Schlesisches Kirchenblatt from 1848 to 1863, had been Müller’s classmates at the university, and they may have been allies in his 1871 quest for a Reichstag mandate. Admittedly, subscribers of the Silesian Catholic press were few. As late as 1879, the only Catholic daily, the Schlesische Volkszeitung, had a circulation of just 5.000, after eight years of Kulturkampf and intense political campaigning. In 1871 its subscriptions could have been only a fraction of that figure. One might to Catholicism. In other numbers, Müller reported on Maria von Mörl’s miracles in the Tyrol (1869), an issue that immediately sold out; and Marian apparitions in Phillipsdorf (1869, 1871); Dittrichswald (1879); Marpingen (1881); and Alsace (1893). 27 Schröder, SBDR 22. November 1871, S. 435. 28 MK, 4. Februar 1871; 23. Dezember 1871. 29 MK, 9. Januar 1869; 16. Januar 1869; 27. März 1869. Müller was aware of the criticism of the Breslauer Hausblätter, whose style he described as “humorous,” but was in fact scurrilous, its tone abhorrent to many. The paper was soon bought by the Schlesische Volkszeitung, although some of the same personnel – e. g., Dr. Rosenthal – remained. 30 BHB 6. Februar 1867, quoted in Hogg, Robert F. ‘In the good vote – Our deliverance’: Political Catholicism in Silesia from the eighteen-sixties to the eighteen-nineties, Diss. University of Chicago 2009, S. 82.

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also question whether even a friendly newspaper could make a difference in an election district whose population was more than 85 procent Polish-speaking and whose high levels of illiteracy were acknowledged by both friend and foe. But like its predecessor, the Schlesische Volkszeitung (in spite of its name) seems to have been aimed at the parsonage more than the cottage. From there, since most of even the “German” clergy in the region were bi-lingual, news could spread outward by word-of-mouth. Müller was also “in touch,” Schröder discovered, with Zwiastun Górnos´la˛zki and Katolik, where his name appeared “a lot.” 31 Although at first it appeared only weekly, the support of Katolik, produced by the teacher-turned-publisher, Karol Miarka, was especially valuable. Repeated prosecutions would soon make the paper notorious, giving it the third largest circulation in the province. In early 1871 it had a print run of only 2.180,32 but its true circulation reached far beyond subscribers, beyond even those who could read. So popular was Katolik that groups of men would gather on Sundays after mass in a village pub or in one of the larger farm houses to hear a comrade read its articles aloud. In discussions that might last well into the evening – usually over Prussia’s increasingly hostile Kirchenpolitik – the men were proud to follow Miarka’s indignant lead. Had Lasker, Bismarck, and other members of Berlin’s political class paid more attention to Katolik, Eduard Müller’s victory might have appeared less miraculous.33 At the very least, they would have had a more plausible explanation than the endorsement of three pastors. But they did not read Polish, and in any case the little sheet, in which jeremiads rather than news was the stock in trade, was easy to overlook.34 But if the politicians did not notice Miarka, he noticed them. The Duke of Ratibor’s smallest moves were subjected to the closest scrutiny. And it was 31 Schröder, SBDR 22. November 1871, S. 435. For Wick: Aus meinem Leben (wie Anm. 19); Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 68–69, and esp. Hogg, Robert F.: Fighting the Religious War of 1866. Silesian Clerics and Anti-Catholic Smear Campaign in Prussia, in: Geyer, Michael/Lehmann, Hartmut (Hrsg.): Religion und Nation, Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004, S. 49–75. For Lorinser (1821–1891): Lorinser, Franz: Aus meinem Leben, 2 Bände, Regensburg 1881. Even after their departure as editors the two exerted some financial influence on the Catholic press: Müller, Leonhard: Der Kampf zwischen politischen Katholizismus und Bismarcks Politik im Spiegel der Schlesischen Volkszeitung, Breslau 1929, S. 253. 32 Trzeciakowski: Kulturkampf, S. 27; slighly lower: Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 81. Also Czaplin´ski, Marek: Die polnische Presse in Oberschlesien um die Jahrhundertwende (1889–1914), in: Zeitschrift für Ostforschung, 39, 1990, Heft 1, S. 20–37, hier S. 23 f. 33 Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 80 f. Knowledgable on Silesian press: Hogg: ‘In the good vote – Our deliverance’ (wie Anm. 30). 34 This was a mistake Bismarck would not repeat. Beginning in 1871, the Oppeln regency was required to submit a copy of every number of Katolik in German translation, to Prussia’a Staatsministerium and the Beuthen Prosecutor’s Offices. Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 81.

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Miarka, a native son of County Pleß, who apparently encouraged prominent citizens in its largest town – Nicolai: population 5.775 – to demand that the duke commit himself to supporting “guarantees” of the autonomy of the Church in the new imperial constitution, presumably by incorporating the Prussian constitution’s Article 15. The Nicolai committee, headed by a physician, Dr. Pisarski, agreed. Its example was followed in at least one other little town, Sohrau in Kreis Rybnik.35 The duke’s response was unsatisfactory, as we shall see, and word went out that the Nicolai committee had decided to support Geistlichen Rat Müller of Berlin, whom they expected to join the new Center delegation. IV. 1869: “Klostersturm” and Klosterversammlungen The news that a Pleß-Rybnik election committee had nominated Eduard Müller for the Reichstag was greeted with consternation, and not only in Silesia’s stately homes. In Berlin, influential circles – some probably including members of the government, but others connected with the fledgling Center delegation – discovered a common interest in keeping the mission vicar out.36 Evidence for these maneuvers is scanty, but we can guess at reasons. From the standpoint of the jurists and civil servants who made up the prospective leadership of the new Center delegation, and who needed first of all to be taken seriously by Reichstag colleagues, a less impressive representative of the clerical Stand would have been difficult to imagine. However exemplary his piety, Müller’s “all-too-humble appearance,” as Helmut Neubach delicately put it, was “not exactly made” for higher office.37 Committed to a life of poverty, he wore his clothes until they were so shabby (and, one suspects, so filthy) that friends would steal them in order to force the priest into something more presentable. Revered by the humbler Catholic population of Berlin, who were already whispering of his sanctity, Müller was not seldom mistaken for a drunk. Müller had not excelled at the university, and as rookie chaplain in Löwenberg, his term had ended with an unidentified “failure [. . .] and a deep wound.” Then, after six years as gymnasial instructor in Sagen, he had been denied permanent appointment. His position as mission vicar in Berlin, the result of answering a help-wanted ad in a church newspaper, had been a real come-down, a Verlegenheitslösung. Having no parish of his own, merely assisting the Probst of St. Hedwig’s, Müller had to accept a conspicuous drop in status, independence, and respect.38 35 Trzeciakowski: Kulturkampf (wie Anm. 18), 30, claims that Miarka was “decisive” in Müller’s victory; Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 432. 36 Reporting such “Einmischung” and “Pourparlers,” but denying Center participation: Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 433. 37 Neubach: Parteien und Politiker in Oberschlesien (wie Anm. 4), S. 219. 38 Quoted: Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 60.

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Müller’s sermons were “always highly stimulating,” friends said, sometimes carrying his audiences away – but listeners had difficulty catching the thread. They would leave church impressed, but often unable to say what he meant.39 “Gifted with a lively imagination,” he was also at times moved to prophesy.40 Not surprisingly, the Probst confined Müller’s preaching to the parish’s hospital; at St. Hedwig’s, he preached only when the other clergy were ill. August Reichensperger referred to Müller as chaplain; though technically incorrect, the title indicated that he was never appointed pastor: that is, never entrusted with a parish.41 Even after he had become the most senior priest in the city, he continued to be passed over for promotion. Most important, however, for those circles who looked askance at the prospect of a Müller Reichstag candidacy, was what an admirer termed his “especially pronounced combativeness” in defense of the faith. A foe of all “half-measures,” the mission vicar sometimes found himself in trouble with the law.42 In the late fifties he had been arrested while leading a Corpus Christi procession, for carrying the church’s banners horizontally rather than vertically, as police ordinance prescribed. The resulting trial dragged out over two years and three Instanzen. Five years later, he was arrested again, for failing to get police permission for a similar procession. In 1865 he spent two weeks in jail for lèse majesté after his Märkisches Kirchenblatt criticized Russia’s treatment of the Polish church in the wake of the 1863 Polish uprising. He also championed the rights of Prussia’s Poles, arguing that complaints in West Prussia could easily be quieted if the government would only abide by Hardenberg’s note of 30 January 1815. In August 1866, a time when popular suspicion of Catholics was high, the police, acting on tip, confiscated the Bonifacius-Kalender, although the issue had passed the censor.43 In 1871 the mission vicar would be hauled into court on charges of

39 The same was true of his writing: “Mehr als einmal geradezu peinlich und unerträglich – und dazu unverständlich.” Both are the judgements of Thrasolt, based on interviews. Thrasolt: Müller, S. 137. After reading the MK and the BBK this writer can testify to the frequent impossibility of untangling the chronology of events Müller describes. 40 Quoted, here and in the previous sentence: Lorinser: Aus meinem Leben II (wie Anm. 31), S. 285. Not many Berlin clergymen could author a three-part article entitled “Wie nahe die Zeit des Antichrists?” MK, 29. Juli 1871, 5. u. 12. August 1871. 41 SBDR 1. Mai 1871. Haunfelder, Bernd: Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871–1933. Biographisches Handbuch und historische Photographien, Düsseldorf 1999, who lists him, S. 219, as a “Pfarrer a.d. Hedwigskirche,” must be corrected. The title Geistliche Rat, bestowed by the bishop on the 25th anniversary of Müller’s ordination, was honorary only, and probably the minimum recognition possible for a man who had become a folk hero. Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 202. 42 Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 149 u. 155; quote: 39. “Halbheit:” “Wie Oberschlesien Licht bekommt!”, in: BKK 1879, S. 89. 43 Ebd., S. 138 f., 160 u. 170; MK, 20. April 1871; “Das Klosterstürmen von 1869”, in: BBK 1871, S. 63 u. 79.

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lèse majesté again, this time for insulting lines in the Kirchenblatt about Prussia’s envoy to Italy, Harry von Arnim. The prosecutor wanted him banished from Berlin for three months, “to give Herr Müller time to reflect on how the style of a Kirchenblattes should be constituted.” 44 Not all of Müller’s advocacy flouted law or convention: in early 1869 he collected signatures in support of confessional schools, which liberals hoped to abolish.45 But he did have a penchant for making himself conspicuous. In summer 1869, Müller’s fame had spread beyond Catholics and probably beyond the capital, as a result of mob attacks, over several weeks, on a little Catholic orphanage in Moabit, a working-class district of Berlin. The violence against the Moabit “cloister,” coupled with the weak response of the police and what looked like support for the rioters from the garrison, from Berlin’s Progressive city fathers, and even from members of the Prussian parliament, was a shocking demonstration to Catholics of how they were hated. The “Klostersturm” became a major impulse behind the founding the Center Party delegation and, one suspects, behind Müller’s own election. For the mission vicar was in the thick of these events. It was his triumphalist sermon celebrating the return of Catholic religious orders to Prussia’s capital at the consecration of the orphanage’s modest prayer room on August 4, that was taken, at least by some, as a provocation for the mayhem that followed.46 Over the past decade the Catholic orders had been the object of increasing opprobrium in liberal and Protestant publications, animosity that had reached a climax nine days earlier, when newspapers across Austria and Germany reported the discovery in a Krakow convent of a nun who had been immured twenty-one years – for “erotomania.” 47 Almost immediately rioters in Krakow and public assemblies in cities across Austria began demanding the dissolution of the monasteries and the immediate expulsion of the Catholic religious orders.48 The story snowballed, 44

GA, 14. Juli 1871. This time Müller was acquitted. MK, 16. Januar 1869. 46 As reprinted in the MK, 21. August 1869, the sermon – given at 8 a. m. – seems harmless, although it may have been heavily edited. Even the description in the Die Post, 5. August 1869, gives no hint of offense. The real “provocation” was the presence of any monastic settlement in the capital of Protestant Prussia. In May, the Kreuzzeitung had anxiously described Moabit as “wo die Römische (!) Kirche Wurzel zu schlagen sucht und [. . .] in die evangelische Bevölkerung sich eindrängt.” Quoted in MK, 22. Mai 1869 – the exclamation point and italics are Müller’s. 47 Gross, Michael D.: The Strange Case of the Nun in the Dungeon, or German Liberalism as a Convent Atrocity Story, in: German Studies Review, 23, 2000, Heft 1, S. 169–184 and Gross, Michael D.: The War Against Catholicism: Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth Century Germany, Ann Arbor, MI. 2004. 48 Hermann von Mallinckrodt (Z) complained that the liberal press never reported that the criminal trial of the Cracow nuns resulted in their complete acquittal. SBDR 5. April 1871, S. 176 f. But Die Post (and probably others) had already predicted an acquittal on technicalities, Die Post, 28. Oktober 1869. 45

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as press, stage, cartoonists, even organ grinders gathered and purveyed “news” of these and other alleged convent horrors: murders, suicides, torture chambers, and salacious goings-on behind the grille. By my count, between July 26 and the end of September, Der Post, a generally liberal paper owned by the “Railroad King” Henry Bethel Strousberg, published more than 42 articles on the scandal or related items, and several more in the year’s remaining months. Berlin’s Progressives joined the cry. The result was a spotlight on the new “cloister” in Moabit. By the second week in August, noisy crowds had begun to gather there nightly. The authorities were aware of the danger. After violence broke out on August 11 and again on August 14, arrests were made, and a worried King Wilhelm had his Geheime Civil-Cabinet interrogate the Polizei-Präsident about Moabit’s “Exzessen.” By August 16, more than 100 policemen were posted inside the building, and others fanned out – undercover – around the vicinity. But they proved no match for the mob of perhaps 8–10.000 (including soldiers from a nearby Uhlan barracks) that appeared that evening – some from the Borsig factory, armed with crowbars. They pulled up cobblestones, tore up the fence, smashed windows and broke down doors, as the four patres and their forty-one orphans fled for their lives. Although some of the rioters were wounded and even more arrested, the crowds, while quieter, continued to appear for some time, night after night.49 The riots were the talk of the town. An enterprising businessman struck a commemorative medallion depicting the mayhem, with the inscription “The Storming of the Dominican Cloister in Moabit 1869.” His entire supply immediately sold out. A Protestant pastor proposed a more peaceful way to drive out the Dominicans: thousands should assemble before the cloister singing the “old Protestant battle song, A Mighty Fortress Is Our God.” 50 That same day, the Polizei-Präsident urged the patres to leave the city, saying that he could no longer be responsible for their safety – whereupon Mission Vicar Müller offered to recruit Catholics to take on the task.51 The head of the order thereupon required his patres to don secular garb. Thus, as Manuel Borutta points out, “even before the onset of 49 Die Post, 15., 18., 19. (Nr. 423 u. 425) u. 20. August 1869. Proud of its eyewitness accounts, reprinted in the Nationalzeitung and Vossische Zeitung, Die Post mocked Die Vossin’s referring to the events as “‘angeblichen’ Exzesse[n].” Still good: Bachem, Karl: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Band III, Köln 1927, S. 39–41. 50 Die Post, 24. u. 26. August 1869. 51 We don’t know the patres response, but a reporter arriving at the cloister on 1. September was let in by Müller and was startled to see “als der geistlicher Rat Müller das Kloster verlassen, sämmtliche Schützleute” – at least 30 – “in ziemlich ehrerbietiger Weise ihre Honneurs gemacht hätten.” Die Post Nr. 448, 2. Sept. 1869; “Das Ei des Kulturkampfes”, in: BBK 1883, S. 106 f. By 9. September crowds were huge again, forcing the police to bare their weapons.

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the Kulturkampf proper, one important liberal objective, namely the exclusion of religious symbols from public space, had been achieved [. . .].” 52 Nonetheless, the patres continued to be subjected to threats, insults, spitting – while so-called “people’s assemblies,” supported by the city council, were organized to collect signatures on a petition to expel all such congregations and turn their property over to the state. The sponsors did not mince words: “The emergence of cloisters in great numbers” in Prussia, “in particular, the opening of a cloister in Moabit,” with all the dangers, especially for women and children, of allowing an order (the Dominicans) that “is distinguished above all others for its cruelty, greed, and persecutory zeal,” had necessitated these assemblies “in order to expose these doings and protest against them.” If the government continued to tolerate such developments, they foresaw, in twenty years’ time, a German fatherland “soaked in blood.” 53 The mission vicar could not prevent the indignities, but he was able to give a black eye to the petition’s sponsors. For if the press’s bru-ha-ha over the Krakow scandal demonstrated the power of the claim to speak for “public opinion,” it also showed how the impression of the public’s opinion could be manipulated.54 To Müller, the lesson was clear: “Go thou and do likewise.” After the first “people’s assembly,” in which Progressives had things their own way, Müller adopted the tactic employed by liberals in Baden against the Katholische Volkspartei there.55 Calling out his Vereine, the mission vicar packed the subsequent assemblies – each with close to two thousand people in attendance – with his own men. The result, Der Post testified after one such meeting, was “one of the most stormy that this reporter has experienced since 1848,” next to which “even the most painful birthpangs of the Lassallean Arbeiterpartei in 1862 are mere child’s 52 See Borutta’s illuminating Borutta, Manuel: Enemies at the gate: the Moabit Klostersturm and the Kulturkampf, in: Clark, Christopher/Kaiser, Wolfram (Hrsg.): Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, S. 227–254, hier S. 241. The Klostersturm events resemble the Konitz riots of 1900, when an unsolved homicide and rumors of ritual murder led to riots against the town’s handful of Jews, and the stationing of an army brigade for six months. Nonn, Christoph: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002; Smith, Helmut Walser: The Butcher’s Tale. Murder and Anti-Semitism in a German Town, New York u. London 2002. 53 The conveners’ reassurance “daß es ihr nicht in den Sinne gekommen ist, gegen irgend welche Religion zu agitiren, sondern nur gegen Verdummungsanstalten und Stätten des Lasters” (Das Kloster in Moabit, in: Stadtbuch, S. 272 ff., quoted in: “Das Ei des Kulturkampfes”, in: BBK 1883, S. 89–92) has all the specious credibility of the antisemites’ distinction between the good “gläubige Juden” and the bad “Reformjuden”. 54 “Dann laß ich fünf Fuß tiefer graben!” and “Das Ei des Culturakampfes,” in: BBK 1883, S. 15 u. 41 f., respectively. 55 “Es ist endlich so weit gekommen, das die Schwarzen [in Baden] fast keine Versammlung mehr halten können, ohne von den Liberalen majorisiert zu werden.” “Süddeutschland”, in: Die Post, 20. August 1869.

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play.” Using their overwhelming numbers, the newcomers “with stamping and shouting” elected a member of Müller’s Bonifacius Verein to chair the meeting. But the sponsors’ reluctance to relinquish the gavel produced such a “furious outburst” that the police were forced to shut the gathering down – with nary a petition signed.56 At the third assembly, on October 3, even more crowded and rowdy, the mission vicar’s forces were able to outvote the conveners 10 to 1 – at which point someone in the gallery yelled down “You’re just stooges of Geistlichen Rates Müller!” and such a brawl ensued that again the police, this time with considerable difficulty, cleared the hall, the victors offering cheers for Geistlichen Rat Müller – now dubbed, by the humor magazine Wespen, “Kriegsrat Müller.” 57 Thus were occasions intended as demonstrations against the religious orders turned into rallies in their support: a remarkable achievement in a city in which Catholics made up only about 6 procent of the population.58 A month later, when Berlin’s Progressives arranged a “Disarmament Convention” with the Lassalleans, only to be routed when the latter employed Müller’s tactics, the reporter for Der Post was convinced that he saw “many a familiar cloister face grinning from the ranks of the ‘worker battalions’ [. . .].” 59 Kriegsrat Müller, already “much remarked on recently,” opined Der Post, for his “famous consecration address at the opening of the Dominican cloister in Moabit,” was thus clearly known to Berlin’s political class. Indeed, Der Post named him “the soul of today’s Catholic associations and societies here,” and their spokesman in dealing with the authorities. But he was also, it was sure, no stranger to the secular social movement.60 Such celebrity exposes the characteri56 On the “ungeheuerer Tumult,” “fürchterlichen Scandal,” and “nicht einzelne Gewalttätigkeiten im Saale und vor demselben auf der Straße”: “Locales”, in: Die Post, 13. September 1869. The convening committee’s suspicion that the Catholics were supported by Pietist Protestants (14. September 1869) seems unlikely. Though Die Post (21. September 1869) believed the charge, citing the most recent issue of the MK, Müller considered J. H. Wichern hostile to the cloister. “Das Ei des Culturkampfes”, in: BBK 1883, S. 37. 57 Die Post, 5. Oktober 1869; “Hoch”: “Das Ei des Culturkampfes”, in: BBK 1883, S. 85 u. 102. Müller denied any Prugelei. Ebd. S. 37. Wespen quoted in Michael Dillmann, “Eduard Müller”, in: Kirchenlexikon, Bd. XXXI (wie Anm. 19), Sp. 902–910. 58 Hohorst/Kocka/Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch (wie Anm. 25), S. 54. 59 Die Zukunft believed that the Progressive Party’s Arbeiterverein, which convened the meeting, had tried to forestall Müller by inviting him to send a deputation, but (reported Die Post) the Socialist Party “hat dem geistlichen Rath Müller glücklich abgeguckt ‘wie’s gemacht wird’ [. . .].” Die Post perceived an “augenfälligen Zusammengehen der katholischen Gesellenvereine mit den Socialdemokraten” and concluded that the Socialists “auch bei Verhandlung der Klosterfrage ihre Hand im Spiele gehabt.” Die Post, 27. Oktober, 3., 8. u. 10. November 1869). Emphasis theirs. Minimizing cooperation: Müller: “Das Klosterstürmen von 1869”, in: BBK 1871, S. 109; “Das Ei des Kulturkampfes”, in: BBK 1883, S. 88 u. 98. 60 Zitaten, in order: 21. u. 15. August 1869.

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zation of Müller as “completely unknown” – by Bismarck, Frankenberg, and especially Lasker, whose law practice was in Berlin and whose closest associates were among the organizers of the anti-cloister “people’s assemblies” – as not a little disingenuous. In fact, Lasker gave the game away when he described the victor in Pleß-Rybnik, whom he did not deign to name, as one of “the most militant members of the Catholic Vereine.” 61 Although Lasker, a Kulturkampfer avant la lettre, participated forcefully in the “Beanstandungs-manie” aimed at cashiering Center Party victories, in no other debate over a disputed election did he evince personal animus against the candidate. But his biting sarcasm in describing the Nobody who had carried the day in Pleß-Rybnik suggests that the pugnacious Kriegsrat had touched a very personal nerve. How? As someone whose gymnasium and university years had been spent in Breslau, increasingly a battleground between the regnant Protestant Bürgertum (into which Jews were becoming ever more integrated) and an emerging Catholic movement demanding parity in public offices and public goods, Lasker may have felt he knew what the Duke of Ratibor was up against.62 Müller’s take-over of the anticloister “people’s assemblies” may also have reminded Lasker uncomfortably of the tactics his own supporters (according to the Vossische Zeitung) had used in Berlin I to capture the National Liberal nomination for him four years earlier. Though party elders had planned to nominate someone else, the steering committee consisted “almost entirely of [Lasker’s] co-religionists [. . .], and, together with those of his tribe [Stammesgenossen] who poured in from all of Berlin, wanted to hear of no other.” The Vossin, whose rabid anti-Catholicism seems not to have immunized it from antisemitism, had pronounced the meeting of voters who nominated Lasker a “new synagogue.” 63 But more directly, Lasker must have been offended by the ugly behavior, especially the catcalls, of the Kriegsrat’s rowdy troops at the second and third anticloister “people’s assemblies.” Catholics had been provoked when the liberal sponsors’ opening speaker, “an Israelite,” began to describe the previous assembly (in which a Catholic who had tried to rebut liberal arguments had been driven 61 SBDR 5. April 1871, S. 174. Twenty members of parliament including Rudolf Virchow, Dr. Wilhelm Löwe, and Hermann Schulz-Delitzch were present at the “Entwaffnungsversammlung.” “Das Ei des Kulturkampfes”, in: BBK 1883, S. 89. 62 The integration of Jews into the Breslau elite: Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer Juden und andere Breslauer: Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000. Catholic demands for parity in the 1850s and 1860s: Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 20–24 u. 62. Good on struggle for a Catholic gymnasium, blocked by the Protestants and Jews who, thanks to the three-class Wahlrecht dominated the city council: Hogg: “‘In the good vote – Our deliverance’ (wie Anm. 30), S. 95–110. 63 Vossische Zeitung Nr. 32, quoted by Müller, “Das Ei des Kulturkampfes”, in: BBK 1883, S. 71 ff.

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from the room) as “worthy of Berlin’s intelligentsia.” 64 Voicing “oho!”s of disapproval, the Catholics, now in the majority, retorted with “the wish” (we should probably read that as: shouted), “that in matters of Christian religious practices only Christians should have a say, just as every Christian would be guilty of impudence and lack of decency if he tried to interfere and dared advise Jews in their various religious disputes.” Or so Müller reported. When the speaker’s liberal supporters tried to drown out these objections with foot-stamping and applause, Müller’s men responded loudly with “Jude ’runter!” But the “Israelite” refused to give up the platform. The newly-elected Catholic chairman tried to maintain order, but with no success. He ended up having to declare the meeting over. The people left quietly, Müller averred – “in so far as they didn’t encounter insults [. . .].” The third “people’s assembly” was even more raucous, and when the Progressives’ Franz Duncker tried to control the noise by imposing a rule that no one be allowed to speak without having first collected signatures from fifty others, someone yelled out “No Jews!” 65 Though Müller would certainly have countered critics of such antisemitism by arguing that the very existence of these “people’s assemblies” were demonstrations of vicious anti-Catholicism, whose aim was to destroy an institution central to the Church, it is very likely that Progressive and Liberal Berliners would have now seen reason to start reading the Markische Kirchenblatt or the Bonifacius-Kalender. If so, they would not have liked what they read. But the antisemitism on display by Müller’s forces was never alluded to in Der Post, nor by anyone in the Reichstag. For all the insults flung daily at the “ultramontanes” and their practices in press and parliament, some insults could still not be mentioned in polite society. Not surprisingly, Müller believed that it was his “popular self help” that was the “mobilization” of which Bismarck would so passionately complain; that it was he and his “Müller’schen” and not the usual suspects – the Reichenspergers, Mallinckrodt, Karl Friedrich von Savigny – who were the real founders of the Center.66 The mission vicar had indeed been present at Savigny’s dinner on 13 December 1870, the usual date for the founding of the Center delegation; but his suggestion of the much-too-confessional sounding name, “Katholische Volkspartei,” had met with instant disapproval from the jurists and Beamten – most vocally Peter Reichensperger and Ludwig Windthorst – who were to become the Center’s future leaders.

64 Die Post conceded that the disruptions were revenge for the “allerdings nicht zu rechtfertigende schroffe Behandlung des einzigen katholischen Redners” at the first Volksversammlung. “Locales”, in: Die Post, 13. September 1869. 65 “Das Ei des Kulturkampfes” , in: BBK 1883, S. 72–76. 66 “Aus der Selbsthilfe des Volkes erst ging die Fraktion hervor.” “Das Ei des Kulturkampfes”, in: BBK 1883, S. 110.

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And this takes us back to those unnamed circles in “Berlin” who had tried to quash Müller’s Reichstag bid. No German notable, whatever his confession or politics, could be entirely happy at the prospect of clerical candidacies; and the more politically sophisticated members of the new party must certainly have had misgivings about encouraging the political aspirations of this particular loose cannon. Perhaps too, future antagonists on both sides, government and Center, still hoped as late as December 1870 to avoid the collision course on which Church and State seemed to be set – a course of which Müller, bent on asserting Catholic self-respect, was already a conspicuous embodiment. For all of these reasons, a compromise with the incumbent Duke of Ratibor was urged on Dr. Pisarski’s committee in Nicolai. When that was resisted, the committee was admonished, now desperately, at least to switch its support from the mission vicar to Prinz Radziwill. Radziwill was impeccably Polish, impeccably ultramontane. But Dr. Pisarski’s committee said no. The “farmers in the electoral district,” it was announced, wanted no one but Müller.67 V. Silesia: 1870–71 This was not the first Silesian election won by a priest. The province’s clergymen were familiar figures in the Prussian Landtag, and three Oppeln election districts were currently represented by clerics, among them Erzpriester Schumann of Alt-Berun, elected Landtag deputy for Pleß-Rybnik in fall 1870. If he had not known of the mission vicar before, Schumann would certainly have made his acquaintance after arriving in the capital. A signer of the Center’s first election proclamation in January 1871, Schumann would soon become one of the three priests accused of improperly using his office to influence the Pleß-Rybnik Reichstag election.68 Yet whatever the extent of its influence in normal times, in 1871 the times were anything but normal for Silesia’s Catholic clergy. The Vatican Council’s decision the previous July to define Papal Infallibility as a dogma, which bred alarm and controversy throughout Germany, brought the diocese of Breslau, where the hierarchy’s hostility to the dogma was intense, to the very brink of

67 Which of many possible Raziwills was meant, even Schröder claimed not to know. SBDR 22. November 1871, S. 433. Prinz Edmund Radziwill, a priest and Center deputy, 1874–1884, from the Upper Silesian district of Beuthen-Tarnowitz? Fürst Boguslaw Raziwill (1829–1873), prominent in Berlin as Stadtverordneter and patron of Catholic philanthropies? In 1867 he had collected 15.4 procent of the vote against the Prince of Pleß in the first election to the ND Reichstag. Fürst Ferdinand Radziwill, deputy for the Polish Fraction, 1874–1918? 68 My count, calculated from Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 26–28, 30 f. u. 83 f.

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schism – beginning with its bishop.69 In the initial polling at the council, PrinceBishop Heinrich Förster had voted, with eighty-seven other prelates, against the new definition. When it became clear that the document was going to pass, he had left Rome rather than associate himself with the majority. Once the doctrinal Gleichschaltung had begun, however, the hapless Förster was faced with the unenviable task of enforcing the new orthodoxy against any theologian or teacher who publicly asserted what had been his own position only weeks before. So great was his inner turmoil that he asked to be relieved of his office, saying that he had lost the confidence of his diocese and his clergy. Only urgent appeals to Catholic unity had prevailed upon him to stay. Soon Papal Infallibility would produce a tangle of conflicts within the church – over schools, over university posts, over ecclesiastical appointments, to name just a few – that would inevitably involve the Prussian state, and end in Förster’s exile. But even before the onset of political problems, Infallibility had split Silesia’s priests.70 The result: the laity, already anxious about their Church and its place in society, became more open than usual to taking decisions on their own. As a Catholic layman in good standing, the Duke of Ratibor had no need to involve himself in these broils.71 But the high profile of his younger brothers – one a Roman cardinal, the other, a controversial Minister-President of Bavaria between 1866–70 (and later Reich Chancellor) – in trying to rally political opposition against the new dogma did him no good. Given the atmosphere of suspicion pervading Church circles, the hierarchy, which in the past had usually made its preference for “governmental” candidates clear, was now keeping its own counsel, while the parish clergy, normally the foot soldiers of election campaigns, had to think twice before making themselves conspicuous on the duke’s – or anyone’s – behalf. Throughout the ranks of the Silesian Catholic Church, the region’s customary leaders, on both sides of the Infallibility issue, waited to see

69 The fracas over the dogma’s most famous opponent, Ignaz von Döllinger, professor in Munich, preoccupied the GA (Fortschritt) much of the year. Many in the future Center Party, including Windthorst, opposed the definition. See Anderson, Margaret Lavinia: Windthorst: Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks [American: 1980] Düsseldorf 1988, S. 120–129. 70 Overath, Joseph: Die Katholisch-Theologische Fakultät Breslau und das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870), in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte, 35, 1977, S. 227–237; Gatz, Erwin: Die Auseinandersetzungen um das Erste Vatikanische Konzil im Bistum Breslau, in: Römische Quartalschrift, 79, 1984, Heft 3, S. 189–254; Seppel, Franz Xaver: Geschichte des Bistums Breslau, Breslau 1929, S. 114–119; Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 65 f.; Siepolt, Johannes: Erinnerungen an die Schlesische Volkszeitung, 1869–1944, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte, 36, 1978, S. 205–232. 71 Catholics had nominated the duke, who held the Grand Cross of the Pius Order, in Kreis Ratibor in 1867, when they felt that the incumbent, Fürst Carl Maria Lichnowsky, also a Catholic, did not sufficiently represent their religious interests. Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 52.

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which way the winds of power might blow. This uncertainty, more than anything else, may explain why, when Dr. Pisarski organized supporters of the new Center Party in Nicolai, they took their candidate from outside. But if controversy had embroiled the Church for much of the previous year, putting its authority momentarily under a shadow, in the weeks leading up to the balloting, it was a financial scandal that captured headlines: the collapse of a mammoth project to build railways in Romania. The enterprise was the brainchild of the “railway king” Bethel Henry Strousberg (1823–1884), the “most remarkable and spectacular figure of the German financial world in the second half of the 19th century.” 72 Born in East Prussia, as a child Strousberg had emigrated with his parents to England, where his given name, already Germanized from Baruch Hirsch to Bartel Heinrich, was now anglicized to Bethel Henry. Strousberg converted to Anglicanism and, self-taught, rose quickly, first through journalism, then publishing, insurance, and finance – only to be imprisoned for three months on charges that he had misappropriated monies from a building society of which he was treasurer. Upon his release in the mid-1850s, Strousberg decamped to Berlin to begin anew, and after a brief pause, rose just as quickly again, amassing a fortune based on building railway lines in Silesia and points east. Strousberg then began producing his own locomotives, and soon he was acquiring the timber and mines – iron, coal, steel – necessary for further expansion, becoming Germany’s largest employer. Conspicuous not only for his entrepreneurial genius and personal charisma, but also for his palatial mansion on the Wilhelmstrasse, his progressive policies towards his workforce, his munificence on behalf of Berlin’s poor, his Doktortitel from Jena, his political ambitions (he was elected to the Prussian House of Deputies, the Zollparlament, and the Reichstag of the North German Confederation), he also kept a hand in journalism – with his own newspaper, Der Post, to publicize both his economic ventures and his “liberalish” Free Conservative politics – a paper that devoted much attention, as we have seen, to the cloister scandals of 1869 and ensuing “people’s assemblies.” By then even Karl Marx was impressed: “The biggest man in Germany is, without question, Strousberg. Next thing you know, the fellow will become German Kaiser. Everywhere you go, all they talk about is Strousberg.” 73 It could not last. The same summer that brought the Vaticanum that had so unsettled the Church also brought war with France. Almost immediately the sup72 Redlich, Fritz: Two Nineteenth-Century Financiers and Autobiographers. A Comparative Study in Creative Destructiveness and Business Failure, in: Economy and History, 10, 1967, S. 37–128, hier S. 37 ff., quoted in Roth, Ralf: Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg: Ein jüdische Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 10, 2001, S. 86–212, hier S. 88. 73 Excellent on Strousberg: Roth: Der Sturz des Eisenbahnkönigs (wie Anm. 72), S. 88 ff.; quote on S. 92.

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plies, material and financial, needed to complete Strousberg’s most ambitious project – railroads for Romania – were cut off. Construction ground to a halt, wages could not be paid, confidence plummeted, and credit dried up. When interest on its coupons came due, just weeks before the elections, he was unable to pay it. The ensuing crash was described as “this greatest financial calamity, this greatest bankruptcy [. . .] of the modern age,” and Strousberg now became “the number one topic of conversation in Europe.” 74 As shareholders’ losses ran into hundreds of millions of thalers, the economic repercussions reverberated from Russia and the Ottoman Empire to England, Austria, and Prussia – especially Silesia, which had supplied half of the project’s German investors.75 Contrary to what one might have expected, given the association in popular fiction between the evils of unregulated capitalism and specifically Jewish entrepreneurs, the Strousberg scandal did not trigger, according to our best study of the affair, any antisemitic reaction; at least not the petitions, pamphlets, and organizations of the sort that Treitschke brought to national attention at the end of the decade.76 But the best research in the world cannot prove, definitively, the nonexistence of something. And while at the national level the political culture was spared an antisemitic fallout from Strousberg’s collapse, there are indications that, in particularly vulnerable milieux, traditional prejudices, lying just below the surface, might still be awakened. And these may have played a role in the mission vicar’s popularity that, while accounting for the unusual anger of Lasker and the alarm of Reichstag and Reichskanzler, was not something any deputy was in 1871 willing to mention. For the Duke of Ratibor, the crash of the Railway King could not have come at a worse time. The Romanian railroads had been vigorously promoted by a consortium consisting of Strousberg and three aristocrats, all of them MdR – and two from Upper Silesia: Ratibor and his Free Conservative colleague, the Duke of Ujest. “What the name of Dr. Strousberg alone could not have accomplished . . .” in attracting Silesian capital, the Vossische Zeitung proclaimed, “the luster of two dukes and a count helped him to.” 77 If Strousberg suddenly began to look like a crook, the noble lords were clearly his shills. Müller may have had a premonition of trouble, as a year before the crash his Märkische Kirchenblatt had noted skeptically that one read “almost every day of the string of blueblood 74 Quotes, in order: Schröder, SBDR 22. November 1871, S. 433; Roth: Der Sturz des Eisenbahnkönigs (wie Anm. 72), S. 92. 75 Stern, Fritz: Gold and Iron. Bismarck, Bleichroder, and the Building of the German Empire, New York 1977, Ch. 14, esp. S. 363 f. u. 384 f. 76 Roth: Der Sturz des Eisenbahnkönigs (wie Anm. 72). Strousberg’s conversion to Christianity, Roth suggests, may have deflected specifically antisemitic criticism. 77 Hoppe, J.: Dr. Strousberg und Consorten, die rumänische Regierung und die Besitzer rumänischer Eisenbahn Obligationen. Separatabdruck of the Vossischen Zeitung, Berlin 1871, S. 35 – a publication recommended by the GA.

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endorsements of the Romanian ‘industry’s’ [Book of] Revelations.” 78 Neither Lasker nor Bismarck alluded to the scandal in their peroration against the Duke of Ratibor’s being “pushed out” of “his” district, but every newspaper reader in the country was aware of the duke’s role in promoting the Romanian speculation. It was common knowledge, even in the circle of the Russian tsar; when someone defending Ratibor’s support for the Kulturkampf had added that doch, the duke was a good Catholic, he was met with the arch response: “Catholique Romain ou Catholique Roumain?”79 The fortunes of the two dukes were eventually rescued, thanks to the exertions of Bismarck and his banker, Gerson Bleichröder, but nothing was done to recover the savings of the hundreds of small investors – many of them, the dukes’ constituents, who had trusted in the good name of their “own” magnates to guarantee the soundness of the promotion. And now their Graces were claiming, as Standesherren, immunity against any legal redress.80 Nothing could have been better designed than the railway scandal to shake the duke’s claim to natural leadership among the region’s teachers, master artisans, and small businessmen. His own party must have recognized Viktor Hohenlohe’s vulnerability, for word went out that it had decided to nominate his neighbor, young Hans Heinrich XI, Fürst von Pleß (1833–1907), instead. But the prince preferred to continue representing Waldenburg (10. Breslau), and so the Free Conservatives, with what misgivings may be imagined, again gave the duke the nod. It was not a wise decision. The Center’s Theodor Schröder, as we have seen, had journeyed through the district on his own investigation of the election and reported the complaints: “Why should we elect a duke who used his name and his wealth to advocate building railroads in Romania? Why should we elect the duke, on the strength of whose name some of us bought into this enterprise and who now doesn’t even pay us our interest?” 81 Schröder (later a defense attorney for Breslau Social Democrats caught in the meshes of the Socialist Law) noted that especially in little towns like Nicolai, anger at the Romanian crash was strong. The March elections had thus caught Silesia’s two elites – aristocratic and clerical – so used to arranging elections among themselves, off balance. Embarrassed and distracted by events in Romania and decisions in Rome, they allowed the reins of their authority to loosen. Men who until now had played only subaltern roles suddenly perceived their chance. The boards of the election committees 78 79

MK, 2 Januar 1869. Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 622; quote on

654. 80

GA, 23 September 1871. Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 432, quote on 433. Repercussions as late as the 1874 campaign: Müller: Schlesische Volkszeitung (wie Anm. 31), S. 186 f. 81

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in both the Nicolai and Sohrau included neither a priest nor an aristocrat; their members were entirely “bürgerlich.”82 Viktor Hohenlohe might still have salvaged his position among “decided” Catholics had he been willing to commit himself to the Center’s proposal to incorporate Article 15 of Prussia’s constitution, guaranteeing the Churches’ autonomy in their own affairs, into the constitution of the new empire. Article 15 was at the head of the Center’s agenda and was considered a litmus test for confessional reliability. But the duke, who thought a strong dose of state supervision was healthy for any church, and particularly his own, would make no such commitment. And in the manner of his refusing, he fatally misjudged the temper of his constituency and the changing basis of politics. When Dr. Pisarski’s committee requested information about His Grace’s stance on issues affecting the Church, the duke did not condescend to reply. “I won’t have peasants sticking a pistol to my chest,” he said.83 The committee, which “didn’t see why,” Schröder would explain to the Reichstag, “they doch didn’t receive any kind of response to such a query,” felt insulted.84 Thus was the district launched on its insurgent course. Many improprieties were discovered during the investigation of the election, none unique to Pleß-Rybnik. Testimony revealed the same casual disregard for the privacy of the voting act as in most of rural Germany, where voters made their choices under the watchful eyes of neighbors and employers.85 But it was the activities of the Catholic clergy that impressed the Reichstag and determined its decision. Three pastors, the Landtag deputy Schumann of Alt-Berun (Kr. Pleß), Carl Wrazidlo of Lendzin, and Johann Nepomok Marx of Loslau and Markowitz (both Kr. Rybnik), were proved to have campaigned actively on behalf of the Center’s candidate. International disasters were on their mind – the pope’s loss of Rome, the commune in Paris. They inveighed against the zeitgeist, against modern infidelity that aimed at “the violation and repression of every right.” They worried especially that the protections guaranteed by Article 15 of Prussia’s constitution would be left out of the imperial constitution – as they were. And that the same article would be removed even from the Prussian constitution – as it was.86 They warned of liberal agendas to “dechristianize” marriage 82 Social composition of ZP supporters deduced from Prinz Handjery, SBDR, 1. Mai 1871, S. 510 f. and Bericht der III. Abt. [hereafter Abt.], 12 November 1871, AnlDR (1871, 1/II, Band II) DS 69, S. 164. 83 Quoted in Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 621. The Duke of Ujest’s son-in-law, Count Fred von Frankenberg, who claimed to have seen Pisarski’s letter, alleged that it demanded that he support “die Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papstes, und zwar ohne jede Bedingung [. . .].” SBDR, 22. November 1871, S. 438. 84 SBDR, 22. November 1871, S. 432 f. 85 Bericht der III. Abt., S. 162 f.; Gneist, for III. Abt., SBDR, 5. April 1871, S. 181. 86 Gneist, SBDR, 18. April 1871, S. 252.

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and separate the school from the church; all statements, the Reichstag majority concluded, of a sort to rouse religious (that is, political) passions. How much the clergy’s anxieties made sense to their parishioners, however, is open to question. According to Freeholder Pudelko, a county and local sheriff in Urbanowitz, Erzpriester Schumann had simply announced the date of the elections from the pulpit, and said “I have never yet deceived you or said anything false, listen to me and all of you vote for a Catholic [. . .].” “If I’m not mistaken,” Pudelko added, “the pastor also said something about an article or a § 15 and that’s what it was mostly about now.” Bürgerstellenbesitzer Franz Kulski corroborated this testimony. “He also alluded to § 15 of some sort of law and said regarding it: ‘let’s do our utmost to see that this paragraph remains, otherwise we’ll be sorry.’” 87 On the whole, the testimony revealed a clergy considerably less confident of their powers than opponents so readily imagined. Pastor Wrazidlo admitted that he had been planning to say something in church about Müller’s candidacy. But vigorous campaigning from the palace, as well as reports that the men of his parish had already decided to support the duke, had shaken his sense of authority. Wrazidlo’s inner war between caution and conviction had resulted in the lame announcement, the Sunday before the election: “I had intended, admittedly, to bring some things to your attention with regard to the Reichstag election, but today I’m like a hunter whose powder has gotten wet. I myself am voting for Councilor Müller, and you vote for whom you want.” Wrazidlo had not relinquished his leadership role gladly. An earlier Sunday he had told the men of the congregation to meet him after mass under the bell tower. But his parishioners (perhaps wary of compromising themselves with the Schloß or perhaps simply because it was snowing hard) “showed no great desire to wait around there any longer,” he confessed. By the time the priest had divested, they were disappearing fast. Wrazidlo was reduced to calling out to his rapidly departing flock, “I hear you want to vote for the duke;” and “We’re supposed to vote for the Duke of Ratibor, but since he didn’t want to give the guarantees asked of him, we clergy are voting for Geistlichen Rat Müller, and you vote for whom you want.” 88 From the outset the pro-Müller pastors seem to have been nervous about provoking the duke and his allies. Even as he reminded his parish that the duke had never answered inquiries as about “guarantees,” Wrazidlo was careful to add: “The Herr Duke is also Catholic.” Fear of being criticized for endorsing Müller on consecrated ground may explain why, in spite of the inclement weather, he 87 Bericht der III. Abt., S. 163. Schumann denied having spoken of the constitution that day, although he had on other occasions. 88 Ebd. 164.

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asked parishioners to meet him outside the church.89 Even Erzpriester Schumann, who did address his congregation from the pulpit, took care to mention no names. Maneuvers such as these indicate the clergy’s emerging sense of what propriety, in this new, more democratic regime, now required. Self-protection can also be seen in the clergy’s reiteration that the election was free. Witnesses from both sides testified that the Wrazidlo had said they should vote for whom they wanted.90 Schumann insisted that he had done the same. And although in Markowitz Erzpriester Marx was alleged to have said “Don’t vote for anyone else than the Rat Müller in Berlin!”, in the more circumstantial testimony from his Loslau parish, he emerges as more circumspect. After saying that it was the duty of every Catholic both to vote and to vote well, when asked what it meant to vote well, he had refused a direct answer: “If you ask me, however, whom one should elect, I will simply say, I’m voting for Geistlichen Rat Müller and whoever is of my mind will also vote for him.” 91 Müllers’ opponents could be forgiven for interpreting the repeated assertions that the villagers could now vote as they wished as less an encouragement to independence than as a reminder that, since the vote was now free, they had no excuse not to vote for the pastor’s candidate. It is at least as likely, however, that the pastors, aware of the real power relationships in the district, were preparing for the inevitable postelection denunciations, should their candidate win. But for all their caution, at least some of what these pastors’ said, or what their parishioners thought they said, was bound to raise hackles in the Reichstag. Thus though Kulski may have been uncertain about “§ 15 of some sort of law,” he had no trouble remembering what he assumed was his pastor’s real message: “Elect only a Catholic and guard yourselves against those of other religions [Andersgläubige].” 92 The Duke of Ratibor, of course, was no Andersgläubiger. Although his views on schools, zeitgeist, and Article 15 proved contrary to the Center’s, there is no evidence that the three priests tried to convey them, except sometimes to note that the duke would not give guarantees or join the Center Party. But there were people in the election district whom voters probably did associate with “Andersgläubige” – and these were neither duke nor even – as would have been the case in most districts throughout Germany – Protestants. In two of County Pleß’s 89

Ebd. 165 ff. The one dissenting voice was Johann Blotko, but he may have been paying less attention to what the pastor so cautiously said than to what he so clearly wanted. “Bericht der Abt. III,” S. 165. Similar testimony about Pastor Siekiera, who just as clearly wanted them to vote for the duke: Ebd. S. 168. 91 Ebd. S. 164 u. 166. 92 Bericht der III. Abt., S. 163. Schumann denied having spoken of the constitution that particular day. 90

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three Stadtgemeinde, Berun and Nicolai, Jews actually outnumbered Protestants – in Berun (where Schumann was pastor) by more than 3 to 1. In County Rybnik, which also had only three Stadtgemeinde, Jews outnumbered Protestants in all of them; slightly in Rybnik proper, but by more than 2 to 1 in Sohrau and by almost 4 to 1 in Loslau. Indeed Pastor Wrazidlo’s strictures against Andersgläubige were explicit. He was said to have warned: “We have now entered such an age that other religious societies are going into battle against the Catholic religion, and soon a law will be issued that Jewish teachers can instruct your children.” 93 Three other witnesses reported variants on Wrazidlo’s caution about a future with Jews teaching Christian children; the Reichstag responded to the testimony with laughter.94 With each repetition, the instruction gained in drama: thus the left liberal Görlitzer Anzeiger had the priest warning against voting for the duke “because otherwise the Jews will gain the upper hand. [Grosse Heiterkeit.]” 95 These Andersgläubige were not faceless specters. Many of the district’s tiny towns, even those with only a couple thousand residents, had synagogues. These included Marx’s Loslau and Schumann’s Berun, although not Wrazidlo’s Lendzin. None of these pastoral interventions, however, was the stuff of which election invalidations are usually made. Although the spokesman for the Reichstag’s investigating committee insisted that “even a gentle hint by the pastor” would suffice to produce a Müller vote among Catholics wanting to avoid a “serious sin,” the duke himself, as we shall see, solicited the clergy’s support, and the committee would have seen evidence aplenty that he got it.96 The real offense in the Pleß-Rybnik election was not clerical influence, but the clerical candidate himself. Müller’s exploits against Berlin’s liberal anticlericals were not mentioned in the Reichstag. Nor do they appear in the reports coming from Pleß-Rybnik. Yet they were surely known to the deputies as they were to the three priests who were Müller’s local champions: to Schumann, doubtless informed by his colleagues in the Center’s Landtag delegation of the “people’s assemblies” that had only recently been the talk of Berlin; to Marx, acquainted with Müller since their university days; and to Wrazidlo, a reader of the mission vicar’s publications, works in which the Klostersturm and what followed constituted an epiphany to which the author returned again and again.97 We can only imagine how these Silesian 93

Bericht der III. Abt., S. 164. Gneist, SBDR, 18. April 1871, S. 252. Greeted by the Reichstag’s “Heiterkeit”, the exact wording, as well as tone, timing, and intention of this statement attributed to Wrazidlo was disputed. Bericht der III. Abt., S. 164 f. 95 GA, 20. April 1871. Emphasis theirs. 96 Leopold v. Winter (NL), SBDR, 22. November 1871, S. 429. 97 E. g., “Das Klosterstürmen von 1869”, in: BBK 1871, S. 55–124; “Auch Moabitisches”, in: BKK 1871; “Das Ei des Kulturkampfes” , in: BBK 1883; MK, 14. u. 28. 94

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priests translated deeds that had made Müller a folk hero among Catholics in the German metropolis into an election appeal for a Polish-speaking peasantry. But enough testimony exists to assure us that their message was an emancipatory one. Müller was a man “who fears no one,” Wrazidlo emphasized; indeed he was “like a wall” in the Catholic faith, while “the Duke of Ratibor seems to me like a sieve; if you pour water in, it runs right out again” 98 – a fair description, if not of Viktor Hohenlohe’s religious orthodoxy, then at least of his relationship to his investors’ money. Although among knowledgeable Catholic circles in Berlin the fact that Müller had been repeatedly passed over for promotion, that he held the lowliest of positions – “master neither of his time nor table” – was a matter of both embarrassment and relief, in about equal parts, in Pleß-Rybnik these signs of official disapproval were taken as proofs of integrity.99 Eduard Müller, Erzpriester Marx proclaimed, “neither held offices nor sought them, and this vouches for his independence and disinterestedness.” 100 Even his continual troubles with the police could seem inspiring to people whose own relationship to the law left them, as some testified, feeling embittered and cheated.101 “I will vote for Geistlichen Rat Müller,” Pastor Wrazidlo proclaimed, “although he has already been convicted three times [. . .].” 102 Thus were villagers encouraged to see in Müller a symbol of a kind of personal autonomy to which they could barely hope to aspire. But if the deputies avoided mentioning the derailing of the anti-cloister rallies that, as residents of Berlin, they would have most associated with the Center candidate, they singled out other qualities – such as testimony that Marx had made an issue of their candidate’s asceticism – that illuminated the underlying cultural offense embodied his victory. As Prinz Handjery instructed a tittering Reichstag, Marx had touted Müller as “a man sent by God [Hort! Heiterkeit rechts].” Müller, Marx had said, “lies in the greatest poverty in a dark little room, in the great cold has no clothes to put on; and when someone takes pity on him and gives him an old fur as a present, he gives it to the poor. He has no bed, no stove in the

August 1869, 11. September 1969, 16., 20., 23., 29. u. 30. Oktober 1869, 27. November 1969, 4. Dezember 1869, 15. Juli 1871 u. 10. Februar 1872. Wrazidlo’s and Marx’s testimony: Bericht der III. Abt., S. 164 u. 167. 98 Bericht der III. Abt., S. 164 f. 99 “sozusagen ohne eigenen Willen und Tisch:” Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 16 u. 202 ff. Given Müller’s constitutional (one might almost say pathological) disorderliness, manifested not only in an appearance that was hardly salonfähig and certainly not pfarreifähig, but also in worse problems, as we shall see, the hierarchy’s repeated passing over of this folk hero was undoubtedly a sign of wisdom. 100 Bericht der III. Abt., S. 164 u. 165; independence S. 167. 101 Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 435. Not a member of Abt. III, Schröder felt such a stake in the case that he sat in on all its deliberations. 102 Bericht der III. Abt., S. 165.

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room, goes hungry, and denies himself every human necessity. Already now he is half a saint.” 103 A very great deal was made of this appeal, in parliament and in the press. The Center ridiculed the testimony. “A myth cycle,” August Reichensperger complained, seemed to be forming around Chaplain Müller.104 Two voters charged the witness with wanting to make “the Herr Archpriest and the parish here ridiculous.” Marx himself described the testimony as “pure idiocy;” the accuser must have had too much to drink. He had simply endorsed Müller as someone who “devotes his life to the social question from the Christian standpoint.” 105 In fact, “pure idiocy” the testimony was not. Whatever the pastor’s actual words, the Center certainly knew, as did all of Catholic Berlin, that the missions vicar’s way of life was so similar to Handjery’s disparaging characterization – an “anchorite’s simplicity” – as to make no difference at all. “Dear Papa Müller’s” charity was indeed the stuff of myth cycles; people said that he gave his bed to a man caught stealing it, so that the miscreant should not be guilty of theft. The first of the many clubs he founded in Berlin had been an abstinence association, and he practiced what he preached. Müller lived in a tiny attic room, four or five stories up in St. Hedwig’s Pfarrhaus. Though it did have a stove, he would not allow it to be lit, using it instead to store his books. He had long ago discarded the gold-rimmed spectacles in his youth as a needless vanity. Though the jovial priest was a master of pastoral conviviality, of what a confrere called “VereinsSpätabend- und Nacht- und Wirtshaus- und Biertisch-Seelsorge,” he never touched alcohol himself and ate only sparingly.106 Should self-denial prove insufficient mortification of the flesh, Müller kept a whip under his bed that he did not hesitate to bloody on his own body. His biographer likened him to St. Philip Neri, and certainly the mission vicar’s jocular references to the “Bußtierchen” that shared his attic do remind one of Neri’s famous refusal to kill his flees – but also of the general disorder for which Müller’s quarters were also well-known. Such corroborating details, savory or unsavory according to taste, went unmentioned in the Reichstag. Certainly the Center’s delegation had no interest in giving them wider currency. If other deputies knew of them, then probably only through rumor. But what they did know was offensive enough to men who assumed that only deepest ignorance could still venerate asceticism in this en103 Nikolaus Handjery, SBDR, 1. Mai 1871, S. 511 f.; Kaufmann Reich’s testimony: Bericht der III. Abt., S. 166; Winter, SBDR, 22. November 1871, S. 428 f. 104 Pastor: Reichensperger, II, (wie Anm. 2) S. 26. Slightly different: SBDR, 1. Mai 1871, S. 512. Newspapers reported various versions: Pastor’s is also in the Hallische Zeitung, 4. Beilage, 3. Mai 1871. The most ludicrous: GA, 3. Mai 1871. 105 Quoted, in order: Note of 10. Juni 1871, in Bericht der III. Abt., S. 167; Marx to Landrat, 8. Juni 1871, ebd., S. 166; Winter, reporting for the III. Abt.: SBDR, 22. November 1871, S. 428 f. 106 Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 67.

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lightened century and who denied that saintliness, however defined, was a qualification for public office. Although deputies on all sides talked as if the legitimacy of the election depended on discovering precisely what Marx and his two colleagues had said about Müller, the nub, politically, was not what the pastor had said, but what his congregation had heard. And here their testimony, repeated by witnesses on both sides of the political divide, was unanimous. They heard that Müller was cold. They heard that he went hungry. And they heard that he was generous. They took the pastor’s description and translated it into terms in which not Müller’s sanctity, but his poverty, formed the burden of the message. And more revealing than the jokes Müller’s Reichstag challengers cracked about this poverty were the things they did not say about. First of all, they did not say that voters must have heard Marx’s description as an invitation to see themselves reflected in the Center’s candidate. For nowhere in Germany were the poor so numerous, or their poverty so dire, as in Upper Silesia – a result of the Prussian Reform era whose “Biblical” results were noted by Johannes Ziekursch a century ago: “Wer da hatte, dem wurde gegeben.” Here the terms of peasant emancipation, even more than elsewhere in East Elbia, had been adjusted and re-adjusted to meet the desires of the powerful. Population pressure had done the rest, as repeated subdivisions left smallholders increasingly exposed to engrossment by their noble neighbors, whose own fortunes grew greater and greater. The result was a regency where 45 procent of the arable was held by fifty-four owners; 26 procent of it, by seven men who possessed nearly 50.000 acres a piece. The land remaining was so poor that it needed continual supplies of Waldstreu to produce any crop at all. But whatever rights to Waldstreu the little people may once have enjoyed had ceased with the secularization of church lands. Access to this essential resource now depended on the grace of the new lords of the forest.107 And of all the election districts in Upper Silesia, Pleß-Rybnik was the poorest.108 With dwarf holdings in County Rybnik and tenancies held in return for work in the mines and metalworks in County Pleß, these voters were no strangers to cold and hunger. A candidate who shared these afflictions was no stranger either, even if he was a priest and a Berliner. 107 Matt. 13:12, quoted in: Ziekursch, Johannes: Hundert Jahre Schlesische Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluss der Bauernbefreiung, Leipzig 1925, S. 390. Also: Weber, Paul: Die Polen in Oberschlesien. Eine statistische Untersuchung, Diss. Berlin 1913, S. 20–24; Partsch: Schlesien (wie Anm. 16), S. 9 f. Millionaires (as of 1911): Martin, Rudolf: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen, Berlin 1912, S. 1. 108 Schofer: Formation (wie Anm. 22), S. 105; Schofer, Lawrence: Modernization, Bureaucratization, and the Study of Labor History: Lessons from Upper Silesia, 1865– 1914, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.): Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Gottingen 1974, S. 467–478, hier S. 473.

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The disparity in status and wealth between the Duke of Ratibor and Mission Vicar Müller reflected, in fact, the great social distances within the election district itself. Yet – like the antisemitism that surfaced when Müller’s men disrupted the anti-cloister rallies, the tremendous gap between Pleß-Rybnik’s rich and poor and its reflection in the competing candidates went unmentioned by the Center’s critics. Were they were oblivious to it, embarrassed by it – or frightened by its implications: that Reichstag elections might become surrogates for class struggle? I cannot say. But when Müller’s champions in Pleß-Rybnik stressed that he rejected “all comfort and display,” 109 the contrast with the noble incumbent could not have been more plain. When told how the three pro-Center pastors had invoked the duke’s rank as an argument against him (“Why do you want to vote for the duke? What does he know of the interests of the people? Even the name of a man like ‘Müller’ offers a greater guarantee”), the Reichstag had sniggered.110 But the deputies must have sensed that by emphasizing Müller’s poverty and lowliness – and his defiance of the powers that be, the errant pastors were holding a mirror up to the poor of Pleß-Rybnik, one in which, if they could not see their faces, they could see their desires. To encourage a voter to give his support to someone with whom he can identify may be demagogic. It is also an inevitable feature of democratic politics. Though liberals considered it axiomatic that – as Ludwig Bamberger confidently affirmed – “the individual casts his ballot not for the one most his like, but for the one he considers most qualified,” Reichstag elections would soon give the lie to liberal theory.111 However “clerical” its manifestations, the appearance in 1871 of a politics of identification was a Menetekel to Germany’s elites. What “representation” of the people meant was shifting, with Pleß-Rybnik leading the way. But liberal assumptions were not the only ones jolted by Eduard Müller’s victory. In opting for a democratic franchise Bismarck had reckoned on the common man’s natural allegiance to the Crown and its ministers. By ending the property requirement, he had hoped to empower these humble royalists; by instituting direct balloting, he had intended to cut out the middleman – the local (often liberal) notables whom Landtag voters had all-too-often selected as their Wahlmänner. The Pleß-Rybnik election was the first indication that Bismarck’s wager on the weak might be fundamentally mistaken. In fact it proved to be the worst speculation of the Gründerjahre. But the significance of the Duke of Ratibor’s defeat by the lowliest of priests is not exhausted by referring to the onset of a new kind of politics and the tarnished reputation of a duke who had promoted illusory Romanian railroads. The defeat 109 110 111

Testimony of Teachers Parczyk and Plassek, Bericht der III. Abt., S. 167. Quoted by Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 433. His emphasis. Bamberger: Die erste Sitzungsperiode (wie Anm. 3), S. 160.

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encompassed a third dimension, on a plane less universal than the first, less particular than the second: a genuine social struggle between the powerful and the powerless. For Viktor Hohenlohe, mighty though he was, had not been standing alone. He had been the personal candidate of his neighbor, the Prince of Pleß. With sixty estates covering nearly 99.000 acres in his own county and large holdings in the Breslau regency as well, the prince was the greatest landowner in the entire province. And unlike the duke, the prince’s wealth above the soil was matched by riches below it. His underground privileges covered more than 168.000 acres and the largest coal deposits of any magnate in Silesia. They had made him one of Germany’s greatest industrialists, and the fourth richest man in Prussia.112 Since the prince also controlled the police power on his Pleß domains, they were considered “in many respects a quasi-autonomous principality.” 113 As bread lord to most of the working population of County Pleß, the prince commanded an infrastructure suited to political influence in an election district so short on clubs, pubs, papers, and even roads. Summoning to Pleß Palace all the constables of the county, the prince had mobilized his entire domanial interest – his pit-foremen, his gendarmerie, and some hundred forest wardens – on his neighbor’s behalf. With a confident mixture of prospects (of a chausée, a railline, contributions to the widows’ fund) and threats (of a ban on wood- and Waldstreu-gathering, a five Thaler police fine, dismissal of all the carpenters at the palace shop), His Highness’s staff – with the support, some said, of the local Jewish community – had “worked” the constituency. On election eve, his constables had ridden from village to village, beating their drums. Their message was, mutatis mutandis, the same as the one attributed to the pro-Müller pastors: “Vote for the Duke of Ratibor, for he is a good Catholic!” 114 Local officialdom in both counties weighed in. The Landrat and the director of the district court put announcements in the county gazette on the duke’s behalf. The mayor and police chief of Berun (the latter was also chairman of the election panel) campaigned for him, and Sohrau’s mayor passed out ballots. (A tax collector confiscated ballots for Müller.) Though the war had kept the duke in Ver112 As of 1902: Martin: Jahrbuch des Vormögens II (wie Anm. 107), S. 26–33. Elsewhere Martin puts Pleß second only to Krupp. Rudolf, Martin: Deutsche Machthaber, Berlin u. Leipzig 1910, S. 226. Also: Perlick, Alfons: Oberschlesische Berg- und Hüttenleute, Kitzingen am Main 1953, S. 55 ff.; Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 433. 113 Schofer: Formation (wie Anm. 22), S. 78; see also 40 u. 139. 114 Counter-protest by Valentin Kotzurek (Kocurek): Bericht der III. Abt., S. 169. Quoted: Schröder, who reported that some of these police officials expressed disappointment at their meagre reimbursement for coming to Schloß Pleß: SBDR, 22. November 1871, S. 435. The GA described the drum-beating as almost unbelievable. GA, 28. März 1871, S. 626.

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sailles during the early weeks of 1871, eventually he made personal appearances in the towns, asking their mayors, headmen, and other influential persons – including the pastors – for their votes and their influence.115 He also requested (as did Prince Lichnowski and the Duke of Ujest, Free Conservatives campaigning in adjacent election districts) the Bishop of Breslau to use his influence on behalf of the Free Conservative party.116 The bishop endorsed no candidate, but it did not take an episcopal recommendation for the Catholic clergy, in twenty-seven of Pleß-Rybnik’s thirty parishes, to come out for the duke.117 Viktor Hohenlohe’s connections with anti-infalliblist circles may have caused their hosannas to be more restrained than in the past, when he received 12.061 out of 12.383 votes.118 Even so, when the phalanx of pro-duke clergy are added to other officials and persons of influence in the district, the array of power and authority was formidable. Yet when the votes were counted, Müller had 9.117, Viktor Hohenlohe only 7.537. The times they were a-changin’. Those like young Schröder who chose to notice the stark power arrangements within the district and force them upon the attention of the Reichstag arrived at a strikingly different picture of the Pleß-Rybnik contest from the liberal story of enlightened anticlericals in a struggle against pious fanatics. Thus his colleague, Hermann von Mallinckrodt (whose sister, a nun, would soon be expelled, along with the rest of her order, from Germany), summed up the Center Party’s interpretation in a single sentence. “[T]he main conflict,” he argued, “was between a small number of influential magnates in Upper Silesia, on one side, who, supported by their own administrative organs and patronized by government organs, have until now been used to treating even election matters as largely their own domain, and, on the other side, the great mass of the population, especially the peasantry, who are striving to emancipate themselves from the more or less repressive, or at least oppressive, influence of these powers.” 119

Eduard Müller’s role, simple as it sounds, was to provide these people the opportunity to engage in such a struggle. In every other contest in Upper Silesia, regardless of party labels, insiders ran against insiders, nobles and notables against other nobles and notables. Only here were ordinary citizens, pronounced equal for the first time by virtue of the new franchise, actually given a chance to express (however silently) their discontent. That they conceived of their votes as such a chance can be inferred from a letter a group of farmers wrote to the 115 Counter-protest of Karl Frehs, Bericht der III. Abt., S. 169; Rust: HohenloheSchillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 616. 116 Reported in the Breslauer Hausblatt, 1871, S. 281, and cited by Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 87. 117 Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 431 u. 433. 118 Phillips, A.: Die Reichstags-Wahlen von 1867 bis 1883, Berlin 1883, S. 52. 119 SBDR, 22. November 1871, S. 437.

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Prince of Pleß shortly after the election, justifying their decision to vote for Müller by complaining of his administration’s litigiousness [Prozeßkrämerei] – taking them to court over matters that were “quite clear” (probably disputes over commons rights, which were never clear), and forcing them to appeal to the regency, where they were always swindled [chikanirt].120 It seems not to have occurred to Lasker and his colleagues that it had taken considerable fortitude for Pleß-Rybnik’s voters to beard their magnates’ machine. Where had such gumption come from? We cannot know for sure. The procedures of the new voting code may have impressed some, especially those used to Landtag elections, where the third – poorest – class of voters were required to vote first, orally, under the eyes of their betters. Reichstag ballots, or so they had been told, were secret. Anger about the nomination process may also have given voters in County Pleß an extra push. They had been ready, they said, to vote for their prince. But the last minute “Becherspiel,” in which they were first told that the prince was their man and then given the duke, made a bad impression. The Prince of Pleß might own his county. But its constituents did not like to feel that he owned their votes as well, and could dispose of them as he pleased.121 Particularly not to a man so closely associated with the disappearance of millions into chimerical Romanian railroads. Particularly not in 1871, when some of them were hearing from their pastors, over and over again, and probably for the first time, that this was a “free election.” 122 VI. Judgment and Retribution In the Pleß-Rybnik, the powerful did not wait for the Reichstag’s judgment on their election. In County Rybnik, which had supported the duke by three to one, the reaction was comparatively mild. The Landrat immediately got up a group of respected citizens, headed by the Stadtpfarrer, to sign an address to the duke expressing their deep regret at the outcome. In County Pleß, however, which gave Müller his victory, the prince vented his fury in the newspapers with a “declaration of war” against the pastors and voters – and cut off poor relief.123 When 120 Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 435. Frequent disputes between villages and estates over Auenrechte after 1850: Ziekursch: Agrargeschichte (wie Anm. 107), S. 377. 121 “Becherspiel”: Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 432. Confirmation that magnates in Oppeln regency were powerful enough to be able to “give” a mandate to a friend: Schlesische Zeitung, quoted in Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 54. 122 Marx, Wrazidlo, and Schumann gave them such assurances, as did Pfarrer Siekiera (Kr. Rybnik), on behalf of the duke. The bishop had discouraged clerical activity. Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 52–55. And in Posnan, Prince-Bishop Ledochowski assured Kultusminister Mühler that only 23 of his 800 priests had taken part in the campaign. Trzeciakowski: Kulturkampf (wie Anm. 18), S. 32. 123 “Kriegserklärung:” Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 435.

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Franz Ottawa got together some friends and wrote to the prince asking for the fund’s re-instatement, he was informed that “[. . . the prince [. . .] has no cause to prove his beneficence to the members of the Berun township. The prince has so far harvested only vile slanders and base calumny for his good deeds. Members of the Berun township have proved recently that they have no confidence in the prince. These same may therefore turn to their confidants, that is, the local clergy and Geistlichen Rat Müller in Berlin. These gentlemen will surely be as happy to provide their assistance as they have their advice.”

Similar letters, written according to a common formula, were sent to all the offending villages in the county.124 What were the villagers to do? Taking his cue from the palace’s own interpretation of the balloting, one citizen hit upon the bright idea of blaming the clergy. Hiring a local scribbler who could pen him a “pater peccavi” in German, he attempted to excuse his errant vote by arguing that his pastor had made him do it – and suggested ways the prince might prove it. But advice from his own villagers was just one more affront to a princely amour propre still smarting from the unexpected defiance. His Highness’s administration rebuked the supplicants by reminding them that “the prince did not even seek a mandate in this district. Therefore there can be no talk of any competition with the prince through the election of Geistlichen Rat Müller – whom probably no voter from this county even knows.” 125 The Center publicized the palace’s pressure on Müller voters and submitted copies to the Reichstag of the prince’s letters cutting off poor relief – to no effect. The refusal of palace functionaries to credit the alibi of clerical pressure locally did not prevent them from recognizing in it both a basis for challenging the election in parliament and a gratifying means of saving face. They immediately set out to collect evidence of clerical wrong-doing. One of the prince’s police superintendents summoned Freeholder Pudelko to his office, where he “squeezed out” everything his pastor, Archpriest Schumann, had said regarding the election – a veritable “Fürstliche Plessische Geheim Wahlpolizei-Inquisition,” as a shaken Pudelko described it.126 While the district’s pro-Center pastors may have anticipated trouble from their support for Müller, they could hardly have foreseen the year-long attention of the Reichstag. Pastor Wrazidlo read aloud on the church steps the scrutinizing committee’s allegations and could not contain his indignation. It was not lost on him 124 Princely letter, dated 26 Mar. 1871, read by Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 434. 125 Letter of 1. April 1871 from the Pleß Central Administration (Schloß Pleß), read by Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 434 f. 126 Quoted by Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 434. As sheriff of his county and village, Pudelko may have felt especially vulnerable.

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that the reporter for the committee was Rudolf Gneist – the very man who had been the reporter on the motion in the Prussian Landtag to abolish Catholic cloisters in 1869, who had charged the congregations with disturbing religious peace – as proved by the “crude Exzessen” that had resulted from the cloister in Moabit.127 Wrazidlo succeeded in getting thirty-three signatures on a counter-protest asserting that the charges that he had recommended a candidate from the pulpit “a malicious libel” and “pure fabrication.” Under stern questioning from the regency’s investigator, however, the pastor’s defense evaporated. A schoolmaster admitted that he had signed Wrazidlo’s counter-protest “only [. . .] to increase the number of signatures;” actually he hadn’t been in church on that Sunday. Another witness claimed that Wrazidlo had summoned him to the rectory where the schoolteacher presented him with “a page of writing” and “had to hold the pen and make three crosses” without knowing what he had signed. Another declared that he was “so hard of hearing” that he had never even heard of the election controversy and likewise knew nothing of the content of the document to which he had put his crosses.128 Still another confessed to signing in a “drunken state.” These statements, made under oath, destroyed the credibility of the counter-protest and, as far as the committee was concerned, the moral authority of Pastor Wrazidlo. The historian, on the other hand, may feel that, given the enormous pressure from the palace, the pastor’s retreating defenders – deaf, drunk, and truant on Sunday as they claim to have been – protested too much. A witness from County Rybnik, where the duke resided, was probably closest to the mark in attributing not the vote for Müller, but the low turnout in his village – only 38.5 procent of the 387 eligible voters – to his pastor’s efforts.129 In hamlets of this size – and few in Pleß-Rybnik were much larger – staying home might seem the safest response to the pull of rival authorities. In reality, the effect of pastoral campaigning (if we can call it that) proved no easier to assess than that of any other propaganda, as Center deputies kept insisting. The voters of Pleß-Rybnik had more than one reason for voting as they did. Was it anger at the duke’s consortium with Strousberg, or fear for a vulnerable Church? the new politics of identity, or the old politics of influence? a conscious

127 Fünfter Bericht der Kommission für Petitionen, betr. die Aufhebung der Klöster in Preußen, SBHA 1869/70, Anlagen II, Aktenstück Nr. 221, S. 990–1007, hier S. 991. Gneist has also worked for abolition in his role as president of Berlin’s city council. “Das Ei des Culturkampfes”, in: BK 1883, S. 88. 128 Winter, SBDR, 22. November 1871, S. 429; Bericht der III. Abt., AnlDR (1871, 1/II, Bd. II) DS 69, S. 165 f. Reichstag investigators had analogous problems finding witnesses to support the palace’s charges against the clergy. Ketteler argued that Wrazidlo’s defenders, even in withdrawing their signatures, confirmed the essential point, which was that the pastor had said “Wählet, wen ihr wollt!” “Die Centrums-Fraktion”, S. 115. 129 Miaka, Bericht der III. Abt., S. 164.

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desire for autonomy, or an ignorant population’s obedience to their pastors? The Committee on Election Scrutiny (chaired by the duke’s brother) thought it knew, and had no trouble convincing the Reichstag’s majority. Because of the remarks of three pastors in four villages, they threw out the election of the most populous election district in Germany. “See how our adversaries’ clear sight has dimmed,” Eduard Müller would exult; all it would take to produce Center victories now, even in regions “that are now still complacently voting in their old ways,” would be to distribute the Reichstag’s speeches on election scrutinies.130 In this prophecy, if in little else, the mission vicar proved a shrewd analyst. Nevertheless, even deputies who had been most determined to cashier the Pleß-Rybnik election realized that a year of debate had failed to untangle “clerical influence,” illegitimate in the eyes of the majority, from freedom of speech, the civic right of every German. More and more, frustrated liberals demanded that this knot be cut by special legislation. Before the year was out, the Reichstag had passed the “Pulpit Paragraph,” providing up to two years’ prison for abuse of the clerical office by improper speech, both in places designated for ecclesiastical purposes and in public. The normally so voluble Lasker was conspicuous for not speaking during the entire debate. Silently, however, he voted against it.131 It was, of course, an exceptional law [Ausnahmegesetz]: legislation that discarded any pretense to universality.132 It was also the first piece of national legislation in Germany’s emerging Kulturkampf. VII. Rematch In Pleß-Rybnik, where a repeat election to fill the seat was announced for February 1872, a priest now risked not only the establishment’s displeasure, but prison if he were not careful. The altered legal and political circumstances produced a very different campaign, and one that more nearly conformed to emerging conventions of what was properly “political.” Rallies were held, newspapers published appeals. Support for the Center’s candidate was no longer a hole-inthe-corner affair, at least not for the more substantial farmers, who harnessed their four-in-hands and, waving banners painted with the name of the Center’s provincial chairman, paraded through Oppeln, the regency’s capital, before going 130

MK, 1. April 1871. As did the publisher, Leopold Sonnemann, who did speak. The Reichstag’s other two Jewish members, Ludwig Bamberger and Dr. Wilhelm Loewe, voted for it. 132 Daring the Reichstag to reveal its illiberal colors by enacting exceptional legislation: P. Reichensperger, SBDR, 5. April 1871, S. 173, and August Schels (Z) 17. April 1871, S. 234; Ludwig Fischer (LRP) took the dare: ebd. S. 242. The GA had predicted such a bill: GA, 26. April 1871. The MK mocked the idea: 22. April 1871. 131

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to the polls.133 Pleß-Rybnik, a year ago scarcely worth the attention of even its own candidates, now became the cynosure of all eyes. The mobilization of public opinion nationally raised the stakes within the district. As each side made full use of the press to inform the public of its opponents’ moves, no private influence, however discreet, could expect to go unnoticed – and so immediately lost much of its attractiveness. As a consequence, persuasion through public channels – print – became much more important. Whereas in the last election, constables had beat drums and pastors had run after parishioners, in this one, proclamation followed proclamation. The fight no longer looked like a choice between two persons, but between two political parties. On this terrain the duke was at a distinct disadvantage. For a peculiarity of the Free Conservatives was that, while in parliament they were indeed a Fraktion, in the country at large they were hardly a party – an organization or even an ideology – so much as a collection of weighty families: German Whigs, as one historian, rather too flatteringly, has described them.134 Given all the other venues for political influence open to these men – contacts at court, careers in the top reaches of the bureaucracy – they had few incentives to develop an infrastructure.135 Not surprisingly, therefore, the duke’s agents wavered between the newer politics of propaganda and the older politics of pressure. They began with pressure – but this time on the Center candidate himself. On 11 December 1871 an intermediary for the duke, probably Eduard Bolik, Militärund Civilpfarrer of the town of Rybnik, wrote to his “beloved old friend,” his “amicus carissmus” Eduard Müller, with expressions of the “most intense love,” appealing “himmelhoch” to his “warm heart and better nature” – to do the right thing. “The duke is in Berlin until the end of the week. Make a bold decision, go up to him, and most graciously deliver the frank declaration that you are relinquishing any opposing candidacy. What a stupendous impression that will make on him and everyone, what a revolution that will bring in people’s assessment of the political issues of the day!” 133

MK, 30. März 1872. Gollwitzer, Heinz: Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten. 1815–1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, Göttingen 19642, S. 163–209; Gründer, Horst: Nation und Katholizismus im Kaiserreich, in: Langner, Albrecht: Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985, S. 65–87, hier S. 80. Except for dutifully supporting Bismarck, the duke’s activity was devoted largely to producing Ergebenheitsadressen and Ehrengaben not easy to distinguish from attempts to curry favor with chancellor and crown, and difficult to imagine from a Melbourne, a Palmerston, or a Lord John Russell. 135 It is revealing that the article series “Zur Geschichte der freikonservativen und Reichspartei” in the 1914 Schlesische Freikonservative “Partei-Korrespondenz” by its editor, Leonhard Müller, is not a history of the FKV at all, but of the Center. 134

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Müller’s reply was serene. Now as before, he said, his comportment would be entirely passive. The result of the election he would leave to the voice of the people – a voice that he had to acknowledge was the voice of God.136 Nothing daunted, the duke’s forces took a leaf from their opponent’s book – the first of many. Precisely the religious anxieties that Müller allies were charged with inciting in the first election were now fueled by the duke’s in the second. They reminded voters that the fruit of Müller’s first election had been the Pulpit Paragraph that threatened their priests with prison. If the mission vicar won again, worse could be expected. Prussia’s constitutional articles protecting the autonomy of the Church would not only not be inscribed in the Empire’s constitution, they might well be annulled even for Prussia. Everyone knew that the duke was close to the king and a favorite of Bismarck’s. The mission vicar, on the other hand, was seen “in the highest governing circles” as a “disreputable and odious Jesuit.” “On the person of Müller,” the duke’s partisans warned, “the freedom of the Church in Prussia and Germany is being crushed.” 137 In the chorus of regard for the Church, however, rang an unmistakable indignation at the insult to rank, the overturning of hierarchy, the democracy expressed in Müller’s victory: “And for the sake of this Müller, with his principle, ‘Vox populi, vox Dei,’ you want to sacrifice the Duke of Ratibor and put the Church and school in danger? [. . .] It is unparalleled [. . .] that the most influential, most trustworthy, most esteemed magnate in Prussia and Germany, the most faithful son of the Church, who has founded churches and institutions, the devotee of the clergy, the envoy to the Holy Father, could be so treated! The Duke, whose word has more weight than the Reichstag’s entire Center Party! – At a minimum!” 138

Yet even as these appeals to fealty and hierarchy were being published, the duke had to recognize that the rules were changing. In a circular to the district’s clergy he announced that he would pass over the reasons that had prevented his re-election the preceding year and simply request “most respectfully Your Reverences [. . .] to kindly support my candidacy.” 139 Indeed, the very election appeal that referred to the vulgarity of “vox populi” closed with a concession to popular opinion, assuring the “reverend confratres and the voters of Pleß-Rybnik” that “His Grace wants personally to deliver a completely reassuring and satisfying 136 Letter of 11. Dezember 1871 and Müller’s reply quoted in: Rust: HohenloheSchillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 619; description of the election campaign: 616–620. Bolik had supported the duke in 1871, but had once been on close terms with Müller, having been in 1852 Vice-Chairman of his first Gesellenverein in Berlin. It was to Bolik that Müller conveyed his decision in 1892 to retire from the Reichstag. Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 108 u. 209. 137 Unidentified proclamation, ebd. S. 619 f. Emphasis in original. 138 Ebd. 139 Circular to Clergy, 17. Januar 1872, in: Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst (wie Anm. 14), S. 623.

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declaration and to meet expectations, in so far as they can be brought into harmony with his personal honor.” 140 The Center’s press delighted in comparing this condescension with the duke’s earlier hauteur. It was indeed a far cry from “I won’t have peasants sticking a pistol to my chest.” There is no record, however, that the duke ever did commit himself to any specific point of policy. It seemed he had other ways to appeal to the new democracy more compatible with his “personal honor.” The proclamations issued on his behalf assured the voters that the duke knew “how to help us;” that he understood “the situation of the agriculturalist as well as the worker.” 141 And though the duke could hardly expect his constituents to identify with him, he went to considerable lengths to insist that he identified with them. This time he did not leave it to Lasker, Count Frankenberg, or Bismarck to sound the theme of Insider versus Outsider, nor to remind Pleß-Rybnik that he was one of theirs: “Belonging to the district for more than thirty years, I have shared thick and thin with my voters and have the same interests they do,” announced a campaign proclamation.142 The priest Müller, another circular assured them, had never lived here and (alluding to one of the duke’s own accomplishments) spoke “not a word of Polish.” 143 In another, dropping the third person and addressing voters directly in the second person familiar, the duke went so far as to claim: “I was born among ye” (in fact he was born in Langenburg in Schwäbisch-Hall), and “like ye,” he was a faithful son of the Church. Thus, “I speak to ye as brother to brother, in order to provide ye the counsel ye need, in order to tell ye the truth. The curse of God on the brother who betrays his brother!” 144 The mixture of tones, styles, and kinds of argumentation in the duke’s propaganda betray his uncertainty as to the appropriate form in which to conduct the new politics. At times he appealed to sweet reason, attempting to explain the issues in sufficient detail to educate the voter. The Centrum, for example, had warned that the schools would be “de-christianized,” that their children would no longer be raised as Christians but as heathens should Bismarck’s new bill withdrawing school supervision from the clergy pass; indeed, that they were already appointing non-Catholic school inspectors.145 The duke tried to bring light into this darkness: 140

Unidentified circular ebd. S. 620. Emphasis in original. Unidentified circular ebd. S. 626. 142 Victor Herzog von Ratibor, An die Wähler des Wahlkreises Pleß-Rybnik, Rauden, 18. Januar 1872, in ebd. S. 623. 143 Unidentified circular ebd. S. 626. The duke’s Polish: Trzeciakowski: Kulturkampf (wie Anm. 18), S. 29. 144 Circular for the duke: Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 625. The duke’s birthplace: ebd. S. 609. 145 Das katholische Wahl-Comité für Schlesien, read by Bismarck to the Prussian Abgeordnetenhaus, 31. Januar 1872 quoted in: Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 624. 141

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Margaret Lavinia Anderson “The matter is as follows: Article 21 of the [Prussian] constitution [. . .] reads: all public and private schools and instructional institutions stand under the supervision of the state authorities or of boards set up by the government. Therefore, it is a question here not of a new right, but simply of following through on a law in existence for the last twenty-two years. [. . .] . . . How this law can endanger our faith – that is something no honest human can guess. Will it damage our faith if deserving, conscientious, and respected men from the community are given supervision of the schools?”

But the duke was not the first to prove unable to give instruction without insulting those he instructed: “I want to tell you what will happen when you yourselves become the supervisors of your schools. The children will learn more, for the parents will hold them to it; and when they grow up [. . .], they will not run after every ranter, every street demagogue who leads them around by the nose. Naturally the ranters don’t want that, because they know that then they will no longer be able to live off the sweat of the people. That’s what this is all about. That’s what is at stake.” 146

It may be doubted whether in the end his readers recognized themselves as the duke’s “beloved brethern” rather than those who had run after “ranters” and allowed demagogues to lead them around by the nose. That these demagogues were their pastors was also not difficult to figure out. That it was the clergy who lived off their sweat rather than the Duke of Ratibor himself, however, may have been harder for them to swallow. The combination of reason and flattery proved even more difficult to sustain when Ratibor came to explain the now notorious Pulpit Paragraph, which the Center had shrewdly seized as the issue for Müller’s second campaign. The duke’s hectoring tone betrayed not only his genuine anger at the clergy (the same clergy he solicited for support), but the impossibility of discarding the habits of a lifetime, even when appealing to his inferiors in the guise of supplicant: “. . . They say to ye that in the Reichstag a law passed that would shut the mouths of all the Catholic clergy in the pulpits. This is a downright lie. . . . What the law says is that the clergy are not allowed to stand in the pulpit and sow hatred in the hearts of the people. Is the clergy there in order to criticize the Kaiser or the ministers or the Reichstag from the pulpit; to defame and slander them? Does a dignified priest do that? No. Do ye go to church in order to hear vilification? Ye know very well what Jesus Christ said. He didn’t say to the apostles, ‘Go and teach hatred and contempt;’ no, he said: ‘Love thy neighbor as thyself.’. . . [He said] “Thou shallt be obedient to the authority that has power over thee.” 147

One can almost hear, underneath the plea to his “beloved brethern,” the teeth clench. 146 147

Quoted ebd. S. 626. Quoted ebd. S. 625 f. Emphasis in the original.

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Just as the Duke of Ratibor was appealing to fraternity, the Center’s supporters began to fortify themselves with aristocracy. A hastily-formed “Catholic Election Comité for Silesia,” led by three counts, with the millionaire industrialist Franz von Ballestrem at the head, leant their prestige to Müller’s campaign. All men in their thirties, these magnates had been socialized into a different, and more ultramontane, brand of Catholicism than the fifty-four year old Viktor Hohenlohe. Though like the duke, the counts appealed to their “Catholic brethern,” and addressed them in Polish and in the second person familiar, they explicitly emphasized, as previous advocates on both sides had not, the question of which Reichstag delegation the winner would join upon taking his seat. The voters should not be misled, they warned, “by promises, by threats, or whatever else might be used in order to win ye for the Duke of Ratibor. He will not join those warriors for your rights and our Catholic Church’s [i. e., the Center delegation], and even if he wanted to, he wouldn’t be allowed.” 148 Led by these ultramontane aristocrats, the Center Party, whose presence had been indiscernible in the previous election, began to organize in Silesia. In the three months between the annulment of Müller’s victory in November 1871 and new elections scheduled for February 1872, chapters of a Katholische Volksverein, formed in Breslau in 1867 for the “discussion and protection of the rights and interests of the Catholic population in state and community,” appeared in villages and small towns throughout the province. Twenty-seven were founded in the Oppeln Regency alone, two in Pleß-Rybnik.149 These were, for all practical purposes, filiales of the Center Party, though a formal, province-wide “parent” party organization would not be established until the following October.150 The Catholic press, now unambiguously a pro-Center press, acquired a justified reputation for scurrility. The Schlesische Volkszeitung attacked not only the Church’s liberal enemies, but also “Tauf-Katholiken” (those whose only visible connection to their church had ceased at the font) and “Yes-But Catholics” (Auch-Katholiken: those who began a criticism of Jesuits, or monks, or pope, or Center, etc., with “I’m also Catholic, but . . .”). As self-appointed truth squad, deflating the claims of the party’s opponents, the Catholic press derided the duke’s sudden – and still vague – condescension to his constituency. It informed its readers that officials on the duke’s estates in two other Silesian election districts had muscled in the election of Free Conservative anti-clericals over staunch (ultramontane) Catholics. It gleefully reported a telegram from the duke instructing his steward that there be no “illuminations or any kind of festivity whatso148 Quoted: Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 92 f. Müller: Schlesische Volkszeitung (wie Anm. 31), S. 174 f. The signers (see n. 145) were indicted for offenses against § 131a of the R.-St.G. [Kanzelparagraph], especially for suggesting that the school would be de-christianized. 149 Mazura’s figures, ebd. S. 62 ff. 150 Ebd. S. 92 f.

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ever” at his residence, Rauden Manor, on Pope Pius IX’s 25th jubilee. The implication – that His Grace had deliberately slighted His Holiness – was hardly fair to the duke who, since he was away at Versailles, had ordered his men to deliver the fuel to illuminate the local church and rectory instead.151 But the story of the “no illuminations” telegram made a terrible impression on the electorate. At least four priests, including a member of the Center’s Landtag delegation, felt called upon to protest against the Catholic press’s misleading charges. Though the Schlesische Volkszeitung insisted that its attacks on the duke were not unfair, its campaign excited indignation far beyond the borders of the province.152 If the supporters of the duke mimicked the arguments of the Müllerites by stressing the disadvantages to the Church if their own candidate were not returned, the press supporting the Center took a leaf from the duke’s book not only in repeatedly calling their opponents’ arguments “lies,” but in demanding that the Catholic laity “do their part,” and that the clergy, which had overwhelmingly supported the duke last time, “now do their duty.” 153 Although those priests directly dependent on Rauden Manor probably did not change their own votes – in County Rybnik, the duke continued to poll well – they were crippled in their ability publicly to champion his cause. In a diocese still unsettled over infallibility, pastors were already nervously watching each other.154 During the past election a paper went so far as to instruct readers in an adjacent district to report the names of “traitors” to its editorial offices, promising to “requite each, without mercy, with what he deserves.” 155 The intense publicity given by the press of all parties to confessional issues left even quietists nowhere to hide. Of all the journalism in the region, Karl Miarka’s was the most crude and the most popular. Upper Silesia was now a witches’ brew of confessional and ethnic animosities suspended in a thick soup of economic grievance; Katolik, a funnel, gathering every disparaging scrap of fact or rumor that might augment the pot.156 151 Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 621, citing a Catholic paper, probably the Schlesische Volkszeitung. 152 Conceding that the duke “certainly” was far from intending damage in church matters: Schlesische Volkszeitung 1871, S. 195, 221, 230 u. 390, quoted in Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 79 u. 90. See also Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 621 f. Hermann Schaffer, Stadtpfarrer of Ratibor and former house tutor in the duke’s family, also registered dismay – although apparently not convincingly enough, for Schaffer, who was also a Center Landtag deputy, soon ceased to be Stadtpfarrer. Müller: Schlesische Volkszeitung (wie Anm. 31), S. 249 f. 153 Unidentified newspaper, quoted in: Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 620. 154 Gatz: Die Auseinandersetzungen (wie Anm. 70), S. 189–254; Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 7, 42, u. 65–66. 155 Quoted from Katolik on the election to 4. Oppeln (Lublinitz-Tost-Gleiwitz). Siegfried Albrecht (NL), SBDR, 5. April 1871, S. 184. 156 Mazura: Schlesien (wie Anm. 16), S. 90.

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All it took was an election to precipitate the elements of this stew into solid, indeed personified form: Free Conservative versus Center man, Ratibor versus Müller. Miarka reduced them even further: Them versus Us. The political Inserat, the earliest form of campaigning in Germany, in which local worthies would put their names to a brief newspaper endorsement of a candidate, became in his hands an apocalyptic proclamation, half litany, half tocsin. This one appeared in January 1872: “Brothers, Co-Religionists! Call the women and children, summon all the household together, and fall down on your knees, crying to heaven: Jesus, Mary, and Joseph, save us from the hands of the enemy, for we are perishing! O God, why do you permit such frightful persecutions? Why do you allow the enemy of your people to taunt us? Have mercy on us [. . .].” The word of the Antichrist is spreading; Jews, other religions, the eternal enemies of the people, are growing rich on the sweat and blood of your hands; and ye believe such swindlers and let yourselves be confused.”

Miarka warned the faint-hearted against the treats – a glass of brandy, a cigar – that opponents might offer in return for their votes, calling anyone who made such bargains a Judas selling out his brothers for thirty pieces of silver. Like the duke, he didn’t shrink from the ultimate weapon, the curse, declaring that the descendents of such traitors would curse their graves for delivering the nation and the rights of God into the hands of the enemy. Those Upper Silesian aristocrats elected last time – and Miarka named names – had all betrayed the cause by joining the Free Conservatives; Müller alone had faithfully defended their rights. “If they begrudge us one faithful deputy in the Reichstag, are we supposed then to cast him away as the Freemasons, Jews, and Liberals want, and elect instead the Duke of Ratibor, who will join the aforementioned counts who have burnt us?” This got Bismarck’s attention. Not Müller’s initial election, but Miarka’s appeal during the rematch – which received nationwide publicity when the furious chancellor read it aloud in the House of Deputies in February 1872 – provided the catalyst for Bismarck’s entry into the growing Kulturkampf.157 The chancellor could not fail to hear the note of Polish nationalism beneath the dominant chord of confessional solidarity, nor the antisemitism that was for Miarka a matter of course. Perhaps worse: here was the same mobilization of poor against rich that the Reichstag majority had not deigned to notice at the time of the first PleßRybnik election. It was not hard to blame all of these divisions – national, confessional, ethnic, social – on the Catholic entry into politics; liberals, also uneasy about any signs of division in the new Germany (except, of course, the main one, which they were doing their best to solidify) were already doing so. Always 157 His reading was repeatedly interrupted by laughter. SBHA, 9. Februar 1872, S. 700.

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aware of the fragility of his creation, hypersensitive to any threat, however imaginary, Bismarck lashed out, denouncing the Center as a “mobilization against the state.” 158 Thus Miarka, like Müller, was emblematic of the Center’s real offense, of what we might call (borrowing from Emil Brunner) the “scandal of particularity,” the insistence on protecting difference: in the Center’s case, of the Church and its doctrines, liturgies, institutions; but also of Poles, Welfs, Alsatians. In Miarka’s case, we should add: and differences based on language, historical loyalties, and local commitments. In a Reichstag giddy and astonished to find itself in charge of legislating for a new empire, congratulating itself on its “beautiful spirit of unanimity” now that centuries of division had at last been overcome, the very existence of a party, a church, or a region determined to remain, to whatever degree, apart was cause for exasperation, even alarm: a potential, if not an actual, crime against the nation. Professor Treitschke put his finger on the offense during the poisonous debates of spring 1871, when he charged the Center with taking up “a Sonderstellung here in the house.” 159 In fact, the alarm the Reichstag felt about the Center’s putative “particularity” helps explain its prudery in ignoring the social dimension of the Pleß-Rybnik contest as well as the signs of Müller’s antisemitism. For to confront the reality of class difference might suggest that one should do something about it, while to acknowledge the persistence of antisemitism would call attention to the existence of Jews themselves, another particularity, although one, most hoped, that was willing to cease being particular. The torrent of anti-Catholic/anti-Center discourse from all sides cannot have failed to impress the chancellor. While initially Bismarck may not have shared every part of the indictment against the Center, recent suggestions by Center deputies that Catholic representation in the administration should be more in line with the size of their population raised, for Bismarck, nightmare visions of a state cut “into confessional pieces.” 160 In early 1872, in a series of sensational speeches branding Poles, Welf legitimists, the Center, and much of the Catholic 158

SBHA, 30. Januar 1872, S. 534–37. Heinrich von Treitschke, SBDR, 1. April 1871, S. 107. Ostensibly over the Center’s policies (its alternative to the Reichstag’s Reply to the Throne Address, its motion to include six Fundamental Rights of Prussia’s constitution in the new imperial one – initiatives against which Windthorst had warned), as well as over the alleged “clerical” influence that had won the party’s seats, in reality these debates were over the Center’s right to exist. Anderson: Windthorst (wie Anm. 69), S. 147–154. 160 Bismarck, SBHA, 31. Januar 1872: 565. He ended the sentence by speculating that such confessionalization of the state would mean that Jews, with their special gifts, would be especially represented in the administration – an attempt to demonstrate the silliness of the demand for parity that, judging from the laughter that followed, succeeded. Graf Ludwig von Rittberg (K) reinforced the charge of divisiveness by opening a debate on election challenges with an attack on the Center for allegedly introducing religion as a qualification for office. SBDR, 5. Mai 1871, S. 557. 159

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clergy as dangerous “Reichsfeinde,” Bismarck explicitly linked Eduard Müller’s election to a general spirit of rebelliousness he saw sweeping the country. Strikes were on his mind. Berlin had not been spared, but more conspicuous were the disorders in Königshütte, Upper Silesia, the previous June, the most significant industrial disturbance before the great miners’ strike of 1889 and one with confessional dimensions, according to observers who connected it with the casino founded by Miarka. As the mayor fled and administrators cowered, rioters stormed mining offices, broke windows, destroyed furniture, vandalized the municipal prison, and gutted stores after attempting to set them on fire – ignoring the clergy’s attempts to mediate. Residences were also plundered, “especially those of the Jews.” Even after order was restored, the town had remained under martial law for two months. Damages were estimated at c. 3.000 thalers. “The bitterness,” after it was over, “was directed, especially by the miners, against the local Jews, as if the robbed should not now report those who had inflicted the damages on them.” 161 Followed by smaller strikes in Beuthen and Glogau, Königshütte made a tremendous impression on contemporaries.162 The Görlitzer Anzeiger immediately knew whom to blame: “All reports coming out of Königshütte indicate that the Exzesse of the local worker population are a result of the rabble-rousing that the clerical party, especially since the last election, has systematically conducted there. So much, however, seems to us certain: that we would not have experienced these sad things, if we had worked with more energy and decisiveness against the clerical party’s promotion, for years, of obscurantism.” 163

Bismarck shared this assessment. It was not lost on him that the main targets of violence – mining officers, municipal officials, and storekeepers – were Protestants and Jews respectively, the very “Andersgläubige” against whom pro-Müller pastors in Pleß-Rybnik had warned. In a stinging attack on Miarka and his clerical comrades, he linked the January election Inserat in Katolik with events in Königshütte the previous June to prove the dangers the clergy posed to civil peace.164 But by distinguishing so sharply between the clerical party, with its 161 GA, 5. Juli 1871. Miarka’s casino and mediating clergy: Bjork, James: Neither German nor Pole: Catholicism and National Indifference in a Central European Borderland, Ann Arbor 2008, S. 24 f. 162 GA, 29. u. 30. Juni, 1., 2., 5., 11., 14., 15., 21. u. 25.–27. Juli u. 15. August 1871. It was even reported in the foreign press. GA, 11. Juli 1871. 163 Emphasis theirs. GA, 6. Juli 1871. In fact Königshütte’s Catholic pastor had joined Landrat Solger in (vainly) trying to calm the workers, as the GA itself reported, 30. Juni. But the Provinzial Correspondenz kept the pot boiling, charging that miners “of the Catholic confession were filing grievances to explain or even extenuate violent rebellion against the social order and the state.” PK quoted in the GA, 1. September 1871. 164 SBHA, 9. Februar 1872, S. 700 f. Bismarck’s first attack was on 31. Januar, when he had read from another pro-Müller appeal. He referred to Katolik and the Müller election a third time on 10. Februar 1872, S. 722.

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manipulative priests, and the workers and peasants who were their supposed gulls, Bismarck and his allies made it harder for themselves to understand what was going on. Contrary to what the chancellor seemed to believe, Miarka was no priest and the offending election proclamation had been signed by five local laymen. The list was headed by Anton Nitsche, a Tichau freeholder who, as communal tax assessor for the last fifteen years, was a man of respect. In the next Prussian election Nitsche would throw his own hat in the ring and be rewarded with a seat in the House of Deputies. VIII. Insiders and Outsiders The February re-match was closer than the first contest, but the victor was the same: Eduard Müller bested the Duke of Ratibor, 9.146 to 8.385.165 This time penalties for supporting the mission vicar fell not only on the lowly. Count Ballestrem was sentenced by a military court to seven weeks fortress confinement for having signed an intemperate election proclamation – in the Polish language. Other members of Müller’s new campaign committee, Count Lazy Henckel von Donnersmark, the publisher Guido Porsch, and the Breslau physician and convert, Dr. David Rosenthal, co-founder with Porsch of the Schlesische Volkszeitung, were imprisoned a number of months for the same seditious [staatsfeindlichen] document. And Karol Miarka was continually hounded by the government, receiving jail sentences totally more than nine months in 1872 alone.166 The reward for all of these men (except Rosenthal, who became ill after several month’s prison and died shortly after his release) was enormous political influence in Silesia; for some it lasted two decades or more.167 What can we conclude from these struggles in Pleß-Rybnik? Insofar as the Müller victories was owed to the clergy, its powers were very different from what those haunted by visions of dark confessionals and threats of damnation imagined. One of the most important was its ability to define the voters’ sense of belonging in ways more plausible than those given to its rivals: in 1871–72, more plausible than the duke, the prince, and their agents; but also, as James Bjork has shown for later decades, more plausible even than those of Social Democrats and Polish nationalists.168 Those residents of Pleß-Rybnik who risked their liveli165 Participation rose from 52.1 procent to 64.8 procent. Phillips: Reichstags-Wahlen (wie Anm. 118), S. 52. 166 Müller: Schlesische Volkszeitung (wie Anm. 31), 174 ff.; Trzeciakowski: Kulturkampf (wie Anm. 18), S. 147–148; Leugers-Scherzberg: Porsch (wie Anm. 22), S. 103. “Organ der Aktionspartei”, in: MK 1883. S. 82 f. confuses the legal consequences of the 1871 campaign with those of the rematch in January 1872. 167 Rosenthal was the intellectual force behind the Breslauer Hausblätter and its successor, the Schlesische Volkszeitung. Echo der Gegenwart (Aachen), 2. April 1875; Müller: Schlesische Volkszeitung (wie Anm. 31), S. 252 f. 168 Bjork, James: Neither German nor Pole, conclusion.

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hoods by voting for Müller were, not least, rejecting other people’s definitions of what constituted their community.169 In the end “identity” and “community” were the deciding issues in this contest, although the meanings of both shifted under the pressure of the campaign. Who was the insider in this district? Proximity proved to be an elastic notion, one that might have little to do with geography. The duke resided in his manor in Rauden, County Rybnik, and here he bested the Center’s candidate by more than 2.000 votes. But only a few miles away, a citizen in County Pleß asked “why should we vote for a man who does not even live here? It would be different if it were our own prince, the Prince of Pleß [. . .].” 170 “The fine gentleman,” local women sniffed, “only ever concerns himself with us during the 4 election weeks [. . .].” 171 Identity based on confession, on the other hand, might be understood, or misunderstood, in ways undercut by other affiliations. When Church Warden Kotzurek, Pastor Schumann’s helper in Alt-Berun, handed out Müller ballots, he was said to have claimed, “In our county there are more Protestants than Catholics, and the Protestants want to overwhelm us.” 172 In fact Catholics outnumbered Protestants in Pleß by more than 9 to 1. But though statistically false, the argument was psychologically true. For as everyone knew, there was one Protestant in Pleß so weighty as to indeed overwhelm them all: the prince himself. Time proved no more stable than space or confession in defining the boundaries of community. The duke’s Reichstag supporters had asserted over and over again that Pleß-Rybnik was “his” district, the one he had “always held.” 173 But even in the short life of the Reichstag, Viktor Hohenlohe had represented PleßRybnik in only one of the body’s two previous legislative periods. And as far as territory was concerned, lord he was, but not time out of mind. The Hohenlohe family, whose dynastic base was in Württemberg, had taken possession of the title, Rauden Manor, and the ducal estates only in 1834, after a complicated lawsuit extending over many years.174 Viktor Hohenlohe had personally assumed the inheritance only in 1841. The local claims of the Prince of Pleß were even more 169 Ketteler’s sarcasm about the readiness of men in Berlin to tell Pleß-Rybnik to whom it belonged. “Die Centrums-Fraction,” 110. Müller mocked the “Welt” that described him as a “wild fremder Mensch” to Upper Silesians. MK, 19. Februar 1872. 170 Quoted by Schröder, SBDR, 22. November 1871, S. 433. In Pleß, Müller nearly doubled the duke’s count: 6,507 to 3, 604, with 67.5 procent participation. In County Rybnik, lower participation (62.2 procent) suggests that the duke’s victory there owed more to pressures from above than to communal feeling. Phillips: Reichstags-Wahlen (wie Anm. 118), S. 52. 171 Or so claimed Müller: MK, 2. Dezember 1871, S. 382. 172 Testimony of Franz Kulsky, Bericht der III. Abt., S. 164. 173 Franckenberg: SBDR, 22. November 1871, S. 438. 174 The property had been awarded the Landgrave of Hesse-Rothenberg in 1822 as compensation for lands of his own that had fallen to Prussia in 1815. After he died without issue, it went to the Hohenlohes.

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recent, his father having inherited property in the county only in 1847.175 In the life of a rural estate, these tenures were “new.” Such loyalty as the grandees might command would inevitably be based more on interest than on tradition. And this interest the duke, and most of his peers throughout the province, had done conspicuously little to develop. Observers worried about the indifference of Silesia’s grandees to patriarchal responsibilities and their contemptuous treatment of dependents. As late as 1892, the young Max Weber was told by a knowledgeable local that, among aristocratic Silesians “a noble owner . . . can scarcely bring the word ‘Mister’ across his lips . . ., and addresses his coachman, servant, etc., even when they are married . . . with ‘du’ – while insisting on ‘milord’ [gnädige Herr] for himself.” 176 To his constituents, the duke’s use of the familiar form in his election appeals probably sounded not the intended note of fraternal mateyness, much less of communal solidarity, but more like the everyday contempt with which they were already all too familiar. IX. Epilogue: What one dares and dares not say The Prince of Pleß, unlike the duke still a young man at the time of the first elections, took steps in later decades to develop a genuinely patriarchal relationship with his dependents, at least with his miners. The man known for his coldness toward workers and famous mainly for the extravagance of his hunting parties – once procuring one of the last specimens of a nearly extent breed of bison from the Russian tsar and shipping it all the way to Pleß Palace in order that his guest, King William, might have the pleasure of shooting it – later took an interest in social reform, establishing a miners’ brotherhood as well as the first and only owner-initiated work’s council in Upper Silesia.177 Avoiding incorporation in order to keep control solely in his own hands, he ultimately acquired the reputation of the single progressive and paternal employer in the region.178 But if, for his pains, he had expected correspondingly deferential election results, he was disappointed. For Eduard Müller’s victory in Pleß-Rybnik was a straw in the Upper Silesian wind. In that first national election, ten of the regency’s twelve districts had returned bluebloods: seven counts, two princes, and one Landrat (and future cabi175

Perlick: Oberschlesische Berg- und Hüttenleute (wie Anm. 112), S. 55. Weber, Max: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Leipzig 1892, S. 633; the absence of patriarchal relations: 495 u. 631. 177 When a strike broke out in Waldenburg mines, Die Post reported (20. Dezember 1869) that Dr. Max Hirsch of Berlin had tried in vain to enlist the prince’s help in mediating it. Hunting story: Die Post, 1. Dezember 1869 u. 10. Oktober 1869. 178 Schofer: Formation (wie Anm. 22), S. 100, 80 u. 162. Martin: Jahrbuch des Vermögens II (wie Anm. 107), S. 26–33, presents a rather different picture, saying the prince did not concern himself more than necessary with business activity, either agricultural or financial. 176

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net minister) – who all joined one of the two conservative delegations. But before the year was out voters had demanded of one that he join the Center (he resigned instead), and had delivered votes of no-confidence against two more. In the next election, the Center was able to seize eight, and by 1877, all but one of the seats in the Oppeln regency. The emerging Kulturkampf bitterly divided the province’s Catholic nobility, but the majority rallied to the Center and moved quickly to make the party theirs. The “Christian-Conservative Electoral Association,” 179 founded by Count Ballestrem in autumn 1872, enacted statutes placing the nomination of the Center’s candidates for the entire province in the hands of a single board. Thus did the region’s nobles and notables move to re-capture the political initiative from local and populist elements. The surprise victory of an Eduard Müller was to be exploited – and never allowed to happen again.180 But if this was indeed the fine gentlemen’s aim, they enjoyed at best a short-term success. In 1893, when the Silesian nobility defied the national Center Party by supporting increased military appropriations, all of the party’s seats in the regency were captured by commoners. As for the Duke of Ratibor, in the years following his loss to Müller he considered it a point of honor to continue to contest “his” district, either personally or through his son and heir. The number of his supporters steadily fell, however, and the contest became increasingly unreal. The duke did not need the seat; immediately after his second defeat in “his” district, Liberals and Conservatives in Breslau-Neumarkt, in a signal act of bi-partisanship, had obligingly offered the embarrassed Free Conservative their own mandate.181 From this perch, the duke continued to serve his Fraktion loyally – not a difficult feat, since with five other Hohenlohes as leading members, the delegation was closer to an extended family than a political organization. If the duke distinguished himself in parliament, it was by the reliability of his voting record rather than his eloquence in debate. His Catholicism did not prevent his unswerving support for every significant piece of Bismarck’s Kulturkampf legislation. He never took a stand different from the government’s – unlike the Prince of Pleß, who in 1899 voted against the Canal Bill. Nothing in the duke’s parliamentary career controverts the picture of the Free Conservatives as the “Bismarck-Partei sans phrase.” Outside parliament, he continued to be prominent through good works. Thus in 1879, when 179

Its name conformed to the Center’s avowed non-confessionalism. Silesia was early, but not exceptional. Provincial Center committees for Landtag elections were institutionalized throughout Prussia by 1876. Kühne, Thomas: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen. 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, S. 333. 181 Breslau-Neumarkt had become available when its incumbent was conveniently promoted to Regierungs-Präsident. Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 627–629 u. 758. 180

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floods covered great areas of Upper Silesia, the Knights of Malta, which he headed, provided 3.000 Marks to relief efforts. But normally the duke’s charitable giving was directed upward: 820.000 Marks to the crown prince in 1883 on his silver wedding anniversary; 2.700.000 Marks for the Bismarck-Ehrengabe in 1885.182 As for Moabit: the ravaged prayer room of Dominican “cloister” had by 1871 become a pilgrimage site for a hundred thousand visitors, apparently without regard to confession reported the Görlitzer Anzeiger. Its prior, Pater Robiano, continued to be harassed, hauled into the office of the executor of the Berlin city council and told to pay income taxes. When Robiano countered that they had no income, however, the matter was allowed to drop.183 Mission-Vicar Müller was returned to parliament for the next two decades, with greater and greater majorities each time. At no point did he find it necessary to appear in his district in person. Like Viktor Hohenlohe, however, Müller served his party in silence. During his entire twenty years in the Reichstag he spoke only once, when he read aloud the Center’s previously published declaration on the industrial code [Gewerbe-Ordnung].184 Such unwonted reticence on the part of the ebullient preacher did not go unnoticed, and probably sparked the liberal quip that the Center’s leaders lived in fear that their clerical colleagues might actually take the floor. Without mentioning specifics, his biographer, the priest Ernst Thrasolt, concedes: “they let him continue, but they weren’t happy about it, and they weren’t happy about him. [. . .]. The people remained as staunchly and devotedly attached as ever; but that could not disguise the official situation.” 185 Karl Bachem’s deadpan one-liner on Müller in his official party history – “exceptionally zealous in the care of souls and as organizer of Berlin Catholics, but no political head and without parliamentary experience” – barely conceals the fact that, even after the priest had acquired two decades of such “experience,” the front bench was determined to keep their hero at arm’s length.186 182

Rust: Hohenlohe-Schillingsfürst und seine Brüder (wie Anm. 14), S. 765 u. 767. GA, 20. August 1871. 184 Müller “empfielt zur Beseitigung der vorhandenen Übelstände, an denen übrigens nach seiner Ansicht die Arbeitgeber hauptsächlich die Schuld tragen, die Einführung von Arbeitsbüchern.” GA, 22. Februar 1874. The only other press reference to him after his re-election that I’ve discovered is “Das welfisch-polnisch-ultramontan-pietistische Komplott. Ein Nachspuk,” a cabaret-like sketch in Kladderadatsch of 1872, in which his role is that of a rabble-rouser. Dohm, Ernst/Scholz, Wilhelm: Zentrums-Album des Kladderadatsch 1870–1910, Berlin 1912, S. 15. 185 Thrasolt: Müller (wie Anm. 19), S. 291 f. 186 Bachem: Zentrumspartei III (wie Anm. 49): 126. Ludwig von Pastor insisted that Peter Reichensperger “had repeatedly assured me that neither von Ketteler nor Müller exercised influence of any kind” on the party. Pastor: Reichensperger II (wie Anm. 2), S. 9 f. 183

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And certainly as one turns the pages of Müller’s Bonifacius-Kalender and his Märkische Kirchenblatt, one can understand why. In January 1869 Müller was still able to pronounce, as the first principle of a truly Catholic politics, “honor to everyone! [. . .] The other guy can also be right. . . . they too can come up with something good [. . .]. Thus one should give honor to all.” 187 But as the Kulturkampf escalated and his own vision darkened, the pages of his publications became dominated by obsessive, apocalyptic diatribes, which blamed all of Germany’s confessional afflictions on secret societies, Freemasons, and Jews – who together formed a single nefarious network. Although all-too-many Catholic journalists – including Müller’s fellow Silesians, Paul Majunke, from 1874–78 editor of Germania, and Arthur Hager and Konstantin Novak, editors beginning in 1873 of the Schlesische Volkszeitung – shared the same enemies list, uncomfortably for the Center’s leadership, the mission vicar’s writings went beyond even these polemics in a way that could only have been deeply embarrassing to its members of parliament, eager to establish a reputation for tolerance, reason, and sobriety.188 Pressure from the Center’s leaders may have been behind Müller’s sudden announcement in 1882, at the height of imperial Germany’s antisemitic agitation, that the Bonifacius Kalender had done its job and was folding. The announcement was just as mysteriously withdrawn, however, the following year.

187 Quote: “Katholische Grundsätze der Politik; welche zugleich evangelisch sind,” MK, 2. Januar 1869. Although Müller credulously reprinted allegations against Jews from other papers, and even in the 2. Januar 1869 issue references to the “reformjüdische Egoist” and “reformjüdische Frechheit” betray antisemitic ressentiment, antisemitism does not seem initially to have been a leitmotif in his writing. But his report on the jubilation of Roman Jews at the Piedmontese army’s liberation of the papal state (MK, 8. April 1871) marked an early stage in what would become an obsession. As the Kulturkampf worsened, Müller pointed sarcastically to the double standard of Jewish liberals in seeking intervention on behalf of co-religionists in Romania and attacking Catholics for the same efforts on behalf of their pope. “Nichtintervention und Judenverfolgung,” MK, 8. u. 15. Juli 1872. In “Logenverzeichniß” BBK 1876, he devoted several pages of small print to listing towns with synagogues and the names of their rabbis in order to prove the connection between Freemasonry and “Israel.” His antisemitism was not racist – as we see from Müller’s glowing obituary of the Carmelite Herrmann Cohen, a convert, MK, 28. Januar 1871 – but it was hardly less odious for that. 188 The Catholic press was never under party authority and individual editors – often priests – were local political powers in their own right. During the debates of 1871 the Vaterland, Volksbote, Postzeitung, and the Süddeutsche Presse were explicitly disavowed by various Center deputies, including priests, and Ketteler dissociated himself from the imputation that he had anything to do with Germania and denied even reading it. SBDR, 4. April 1871, S. 150. On Windthorst’s vexation with the Catholic press: Anderson: Windthorst (wie Anm. 69), S. 252 f. u. 316 f.; and his difficulties with Chaplain G. F. Dasbach, publisher of the Trierische Landeszeitung: Bistumsarchiv Trier 105, File 1512: II: W. to Alexander Reuß, 28. April 1883, 16. Mai 1883; File 1522: Hermann Mosler to Reuss, 4. Februar 1884; Reuß to Mosler, 7. Februar 1884; File 1523: W. to Reuß, 18. November 1884. He succeeded in getting rid of Majunke, but was powerless against Dasbach.

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In 1891 Müller, now an old man, was quietly removed from all his political, publicistic, and seelsorgerisch offices when it was discovered that he had kept no record of the savings funds of the various Vereine entrusted to his care, disbursing monies recklessly to any plausibly needy artisan who asked for them and leaving the accounts nearly one million marks in debt. Thus our story of Eduard Müller’s political career ends – in the bankruptcy of numerous small savers – more or less where his contest with the Duke of Ratibor began.189 Embarrassed colleagues hustled the disgraced priest off to a cloister in Silesia Among the “little people,” however, the mission vicar’s popularity continued undimmed. Part of this adulation was surely spontaneous: thus, though the priest eluded frequent attempts to take his picture, photographers soon developed a brisk trade in photos of Müller look-alikes. But it also seems clear that the very Catholic establishment that had covered up the mission vicar’s increasingly crazed antisemitism cultivated among the faithful the belief that Father Müller was a saint. A St. Eduard’s Church was built to honor him, his bones were moved there after his death, and for a long time annual memorials were held at his grave. Nearly a half century after his death Müller’s confrere and not-uncritical admirer, his biographer Ernst Thrasolt, declared that every Berlin Catholic should make an annual pilgrimage to Müller’s grave at St. Hedwig’s and every Catholic, at least once in his lifetime. For “Whoever really enters into the life of this man will sense that he is treading [at the grave] on sacred ground and will remove his shoes from his feet. Truly, here is a saint – a saint in the sense in which das Volk, who earlier were the ones who did the canonizing, spontaneously, before and beyond any ecclesiastical canonization, used this word.” 190

As late as spring 1990 the mission vicar’s portrait held pride of place in the gallery of diocesan greats in the entrance hall of St. Hedwig’s Cathedral in (thenEast) Berlin. The howling paranoid of Müller’s own publications had clearly become lost to institutional memory. Eduard Müller had once been amused to note that the Berlin press did not realize that “Vicar Müller,” the social activist to whom their pages were “fairly friendly,” was the very same Geistlicher Rat Müller whom they so disliked. 189 Mishandled funds were a constant problem for friendly societies: eg., Strousberg’s building society was one of many examples in England. In Germany, Wilhelm Hänsler (SPD) founded a medicine co-op for workers, then used the money to found a tobaccoworker co-op – resulting in scandal, jail, exile. Keil, Wilhelm: Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Stuttgart 1947, S. 96. Chaplain F. E. Cronenberg, whose [Catholic] Christian Social Party ran against the Center in Aachen, misrepresented the balances of his Bauverein to attract new members, ending in bankruptcy, the loss of 148,020,96 marks, and two years’ jail. Lepper, Herbert: Kaplan Franz Eduard Cronenberg und die christlich-soziale Bewegung in Aachen 1868–1878, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, 79, 1968, S. 57–148, esp. 100 u. 145. 190 Thrasolt: Müller, S. 12 u. 80.

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“They obviously had two different personalities [. . .] in mind,” he smirked.191 (Müller may have been stretching it. Die Zukunft (Socialist) was on to him, calling him a bird of the same “celibacy-feather” as those other “amiable forefathers out of the crows’ nest,” Sebastian Brunner, Alban Stolz, and Abraham a Sancta Clara – three widely-read stalwarts of Catholic popular literature in the German language of the nineteenth century. And also antisemitic.192) Like most of the press, however, the historian meets what appear to be two different figures, depending on where she looks. The hagiographies by Müller’s admirers are silent about his maniac antisemitism. The chroniclers from the turn of the (nineteenth) century may have regarded that aspect of their hero as unimportant, or at least ephemeral. The most recent one, however, cannot have been unaware of the implications of such journalism. Thrasolt was an anti-Nazi priest, who hid Jews during the war, yet his biography, appearing serially in Berlin between 1936–38, went out of its way to convey the impression that this scrappy defender of the humble was on friendly terms with Jews – a picture that can have done its author no good.193 What can only be called the cover-up of Müller’s antisemitism, an antisemitism that, at least as early as 1871, formed an appreciable portion of nearly every issue of his publications, demonstrates how little such views were thought – even during the Third Reich – to become a man whom people were mentioning for possible canonization. What, if anything, was the relationship between this steady drumbeat of enmity and the veneration Müller received from the Catholics people in Berlin? The historical literature, so vocal on the “Berliner Bewegung” of the Protestant pastor, Adolf Stöcker, is silent on the antisemitism of this other, Catholic, “social” clergyman.194 And what, if anything, connects this same animus with the 191

“Das Ei des Kulturkampfes”, in: MK 1883, S. 31. In March 1871 Die Zukunft claimed sarcastically that it valued Müller’s “derbe und drastisch-plastische Schreibweise,” but noted that “das von ihm redigirte Märkische Kirchenblatt so oft, auf politischem wie auf socialem Gebiete, Fühlung mit dem Radikalismus gefunden hat.” Quoted in the Vossische Zeitung, quoted in turn by MK, 25. März 1871. 193 As a consequence, I long had the impression that Müller was especially friendly to Jews. Kolbe: Missionsvikar Eduard Müller (wie Anm. 19), S. 21, and Thrasolt: Müller, S. 33 both mention a Jewish friend at the gymnasium named Cohen, and the latter’s kindness to him, both in his youth (when Cohn read to Müller during the latter’s eye ailment, so that he might pass his exams), and again in the 1870s, when as a physician he treated the members of the Krankenkasse of Müller’s Gesellenverein free of charge. Thrasolt’s picture of an irenic Müller is fortified by claims that he was friends with Protestants: Thrasolt: Müller, S. 89 f., a claim repeated in Webersinn, Gerhard: Prälat Karl Ulitzka. Politiker im Priester, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Breslau, 15, 1970, S. 146–205, hier S. 154. On Thrasolt: Johannes Günther in Knauft, Wolfgang (Hrsg.): Miterbauer des Bistums Berlin. 50 Jahre Geschichte in Charakterbildern, Berlin [East] 1979, S. 55–66. 194 Thus Müller’s antisemitism goes unmentioned among historians: e. g., in Aschoff, Hans-Georg: Berlin als katholische Diaspora, in: Elm/Loock: Seelsorge und Diakonie 192

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mission vicar’s election success in Upper Silesia – where the synagogue was a common sight in many villages; where Andersgläubige were normally not Protestants but Jews; where Jewish shops in times of labor unrest became almost inevitable targets of popular violence; and where (however unfair, perhaps, to the people of the nineteenth century, the historian cannot forget) just a stone’s throw over the always-porous eastern border of Pleß lay the town of Os´wie˛cim – better known now by its German name, Auschwitz?195 Contemporary sources, even Müller’s political opponents who were themselves Jews, such as Lasker and Bamberger, tell us nothing. If Müller’s antisemitism was the explanation for Lasker’s unusual hostility, he was too proud to allude to it. The only witnesses against Eduard Müller are his own writings. The distance between the discourse of this “people’s” journalist and that of the spokesmen for the Center Party in the Reichstag points to the great difficulty of assessing an age’s “political culture,” when the spoken culture of its rural villages and urban alehouses might have no reflection in the culture of its parliaments, which had their own speech rules.196 Parliamentary culture in the Reichsgründungsära, as evidenced by its silence on the matter, had no place for Eduard in Berlin (wie Anm. 25), S. 223–232, hier S. 230; Schulz: Katholische Kirchenpresse in Berlin (wie Anm. 25), S. 436 ff. u. 442; Escher, Felix: Pfarrgemeinden und Gemeindeorganisation in Berlin bis zur Gründung des Bistums Berlin, in: ebd. S. 265–292, hier S. 273 u. 282; Rosal, Heribert: Geschichte und Bedeutung der Märkischen Katholikentage für den Berliner Katholizismus, in: ebd. S. 499–511, hier S. 501; Weichert, Friedrich: Die evangelische Kirchenpresse Berlins. Ein Rückblick auf ihre Geschichte, in: ebd. S. 413–426, esp. S. 419 (on E. W. Hengstenberg’s Evangelischen Kirchen-Zeitung). Neubach hinted at Müller’s unattractive features, quoting Bachem (“kein politischer Kopf”), and later adding “ein völlig unpolitischer Kopf” on his own. Neubach, Helmut: Schlesische Geistliche als Reichstagsabgeordnete. 1867–1918. Ein Beitrag zur Geschichte der Zentrumspartei und zur Nationalitätenfrage in Oberschlesien, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte, 26, 1968, S. 251–278, hier S. 252 u. 262. Elsewhere Neubach notes that “he was completely lacking the qualities necessary for a politician.” Nevertheless he follows the traditional line in explaining Müller’s failure to be promoted as resulting from his “sheer boundless Gutgläubigkeit, bordering on Weltfremdheit. Neubach: Parteien und Politiker in Oberschlesien (wie Anm. 4), S. 216 u. 219. Sole exceptions: Borutta: Enemies (wie Anm. 52), S. 242 and Ernst Heinen, who mentions in a footnote Müller’s Inserat in the Germania in 1880 recommending the BBK for those interested in the “the Jewish question now on the agenda.” Heinen, Ernst: Antisemitische Strömungen im politischen Katholizismus während des Kulturkampfes, in: Heinen, Ernst/Schoeps, Julius (Hrsg.): Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen zu seinem 60. Geburtstag, Paderborn 1972, S. 259–299; hier S. 295 f. 195 In 1874 Jewish graves were desecrated in Ratibor. GA, 22. Februar 1874. Generally, however, violence between “ultramontanes” and “Old” Catholics and “Staatskatholiken” was more common and more serious than violence against Jews. 196 While I reject Daniel Goldhagen’s picture of the culture of imperial Germany as obsessed with “eliminationist” antisemitism (Goldhagen, Daniel: Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996, ch. 2), historians, myself included, have not yet discovered a way to assess the views of ordinary people in this very orderly, law-abiding, and well-policed state, where defamation that referred to religious affiliation was strictly punished (except when referring to Catholics).

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Müller’s deranged antisemitism. But the popular culture seems to have been by no means offended by it.197 By the end of the decade, parliament’s speech rules had changed. Another charismatic Berlin preacher with a commitment to ordinary people and a belief that Jews were inimical to their interests would win a seat in parliament, attracting even more attention than Mission Vicar Müller. His rise too would be accompanied by a petition movement in Berlin, although its targets, unlike Catholic religious, were to be expelled only from high office, not from the country. Professor Treitschke, who had taken umbrage at Catholics for allegedly insisting on a “Sonderstellung” within a united Germany, offered a similar critique of Jews, demanding” from our fellow citizens of an israelite persuasion,” that “you should become German, should feel yourselves schlicht und recht to be Germans [. . .].” 198 But a change had taken place since 1871 in German parliamentary culture. Perhaps because the environment seemed sturdier, and a united Germany, no longer a fragile novelty, what was once unmentionable – antisemitism – was now the subject of discussion. Was this good news, reflecting realism about existing conflicts and a willingness to confront them, or bad news, a sign that another Ausgrenzung was about to begin?

197 The Centrum’s leadership was officially, and increasingly after 1890 sincerely, opposed to antisemitism. The rural Catholic electorate, and probably much of its clergy, were a different matter. On the other hand, Derek Hastings has shown, in Hastings, Derek: Catholicism and the Roots of Nazism: Religious Identity and National Socialism, New York 2010, that Munich Catholics who were early supporters of Hitler were offshoots of the Reform- or Staatskatholiken milieu that opposed the ultramontanism they associated with the Center and the Bavarian Volkspartei – which poses a serious challenge to Olaf Blaschke’s argument in Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997 and elsewhere. 198 “Unsere Aussichten”, in Preußische Jahrbücher, 15. November 1879, quoted in Roth: Der Sturz des Eisenbahnkönigs (wie Anm. 72), S. 86.

Theatergeschichte in der Weimarer Republik, davor und danach: Der Fall Wilhelm Carl Gerst Thomas Pittrof Wilhelm Carl Gerst1 (1887–1968) gehört zu den Gestalten der Zeitgeschichte, über die man, auch wenn sie letztlich in ihrer Bedeutung zweit- oder gar drittrangig bleiben, gerne mehr wissen möchte: ein unermüdlicher Kämpfer, Antreiber und Organisator, der vieles anstieß, auch einiges bewegte, aber kaum Bleibendes hinterlassen hat. Für die Theatergeschichte der Weimarer Republik nicht unwichtig, geriet er nach 1945 politisch ins Abseits, kandidierte erfolglos für die KPD im Wahlkreis IX (Fulda-Lauterbach-Schlüchtern) und arbeitete als Korrespondent für die Ostberliner Nachrichtenagentur ADN: der Lebensweg eines Linkskatholiken in Adenauers Nachkriegsrepublik, der sich in ihr falsch beheimatete, mit großer Verve an den politischen Realitäten vorbei agierte und damit scheiterte. Dass er im „Dritten Reich“ zeitweise eine der treibenden Kräfte der Thingbewegung war, tritt dahinter fast zurück; man wundert sich eher, dass Gerst ernsthaft glauben konnte, die Anliegen der katholischen Volks- und Laientheaterbewegung im nationalsozialistischen „Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele“ vertreten zu können, aber das zeigt andererseits auch, wie sehr es auch auf diesem Gebiet der Theaterreformbewegung lange vor 1933 ein fluktuierendes Diskursfeld von Konzepten und Begriffen gab, das nach der „Machtergreifung“ von den Nationalsozialisten politisch wie semantisch monopolisiert und vereindeutigt wurde. Im Folgenden werden kurz die wichtigsten Lebensstationen Gersts vergegenwärtigt sowie seine theaterkulturpolitischen Aktivitäten schon während des Ers1 Neben dem anlautenden ,C‘ im zweiten Vornamen findet sich spätestens seit 1928 in Publikationen Gersts auch die Schreibweise mit anlautendem ,K‘. – Der folgende Beitrag stellt im Wesentlichen aus unterschiedlichen Kontexten bereits Bekanntes zu einem Tätigkeitsprofil Gersts zusammen in der Absicht, diese Gestalt einmal für sich ins Auge zu fassen. Ich benutze dabei u. a. dankbar einer von mir angeregte Magisterarbeit von Bachmaier, Julia J.: Wilhelm Karl Gerst (1887–1968): Leben und Werk, die im WS 2010/11 an der KU Eichstätt-Ingolstadt eingereicht wurde, setze jedoch teilweise die Akzente anders. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass im Weismantel-Archiv im Literaturarchiv der Berliner Akademie der Künste nach Auskunft von Frau Bettina Raabe, der ich für diesen Hinweis ebenfalls danke, im Bestand der Korrespondenz mehrere Fundstellen auf Gerst verweisen. Auch in Weismantels zahlreich dort aufbewahrten unveröffentlichten autobiographischen Texten, darunter dem „Abschied von Deutschland. Aus der Geschichte meines Lebens“, dürfte einiges über Gerst zu finden sein. Aus Zeitgründen habe ich diese Quellen jedoch nicht auswerten können.

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ten Weltkriegs und dann in der Weimarer Republik sowie in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ skizziert, also seine Tätigkeit für Theaterkulturverband (TKV) und Bühnenvolksbund (BVB) sowie für den erwähnten „Reichsbund“. Eine kurze Einordnung seines Wirkens schließt die Darstellung ab. I. Der Wille zum Bauen und Gestalten ist Gerst in die Wiege gelegt worden; er wurde in Frankfurt am Main am 28. März 1887 als Sohn eines Maurermeisters geboren. Nach dem Besuch der katholischen Volks- und Mittelschule absolvierte er wie sein Vater eine dreijährige Maurerlehre, studierte an der Bauabteilung der städtischen Gewerbeschule und fand seine erste Anstellung 1907 in Celle, wo er in den folgenden drei Jahren im Büro des Architekten Otto Haesler arbeitete. (Dieser Haesler, vor 1924 noch „ein eher unbedeutender Provinzbaumeister“,2 stieg in der Weimarer Republik zu einem der wichtigsten Vertreter des sozialen Wohnungsbaus auf, löste, wegen seiner neuartig modern-funktionalen Bauweise von den Nazis heftig attackiert,3 1934 sein Büro in Celle auf und ließ sich mit seiner Familie in Eutin nieder, war jedoch zwischen 1941 und 1944 stellvertretender Leiter des Stadtbauamts beziehungsweise Stadtbaurat in Litzmannstadt [Lodz]4 [!] und siedelte nach dem Krieg in die DDR über, wo er 1950 zum Professor für sozialen Wohnungsbau berufen und seit 1951 an der Deutschen Bauakademie die Abteilung Mechanisierung und Industrialisierung leitete, Haesler starb 1962 in Wilhelmshorst bei Potsdam.) Obwohl Gerst an „zahlreiche[n] Bau-

2 So das Urteil von Schumacher, Angela: Otto Haesler und der Wohnungsbau in der Weimarer Republik, Marburg 1982 (Kulturwissenschaftliche Reihe; 1), Text auf dem Rückendeckel. Weder hier noch in anderen Darstellungen zu Haesler habe ich Hinweise auf Spuren der Arbeit Gersts bei Haesler finden können, so etwa bei Oelker, Simone: Otto Haesler. Eine Architektenkarriere in der Weimarer Republik. Hamburg u. München 2002, obwohl sie auf den Seiten 17 ff. auch die Jahre 1906–1914 behandelt. Die Selbstdarstellung von Haesler, Otto: Mein Lebenswerk als Architekt, [Ost-]Berlin 1957 resümiert auf S. 1 die Jahre 1880–1914 nur ganz summarisch und gibt für Gerst nichts her. So ganz übel baute Haesler übrigens nicht, wie die Beispiele bei Oelker für die „Erste Celler Schaffensphase“ (1906–1914) zeigen; er pflegte einen relativ stilreinen Eklektizismus und lieferte Häuser im Jugendstil, „bürgerlichen Barock“, Neoklassizismus sowie dem von Hermann Muthesius propagierten englischen Landhausstil (vgl. dazu auch Klatt, Dietrich: Die Wohnbauten des Otto Haesler in Celle 1906–1930, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 60, 1988, S. 187–212 u. Abbildung 1–19.) Zu einer regional ungebundenen und antitraditionalistisch modernen Architektursprache mit Flachdach, Stahlskelett- und Zeilenbauweise fand er dann mit zwei Siedlungen der zwanziger-Jahre in Celle, dem Italienischen Garten (1924) und dem Georgsgarten (1926). Haesler unterhielt im Übrigen enge Verbindungen zu dem in Hannover lebenden Kurt Schwitters, der im Jahr 1931 eine markante Kohlezeichnung von ihm anfertigte (als Abbildung 1 bei Klatt). 3 Beispiel dazu bei Oelker: Otto Haesler (wie Anm. 2), S. 232. 4 Genaueres dazu ebd. S. 247 f.

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ten“ 5 beteiligt gewesen sein soll, orientierte er sich (möglicherweise unter dem Eindruck einer Begegnung mit Carl Sonnenschein) 1910 beruflich neu, zog nach Hannover und übernahm die Geschäftsführung der dort ansässigen Freien Vereinigung für Caritashilfe,6 die er bis 1914 ausübte. Neben der Verwaltungstätigkeit entfaltete Gerst politische und publizistische Aktivitäten; er wurde 1912 Politischer Redakteur, später Chefredakteur der „Kornackerschen Zeitung“ in Hildesheim, Provinzialsekretär der Zentrumspartei und Mitglied ihrer Jugendorganisation, des Windthorstbundes.7 Die auf diesen Tätigkeitsfeldern gesammelten organisatorischen Erfahrungen und personellen Kontakte brachte Gerst in die Gründungen des Theaterkulturverbands 1916 und des Bühnenvolksbunds 1919 ein, den er von Berlin aus als Generalsekretär und von 1924 bis 1928 als Generaldirektor führte; Keiters „Katholischer Literaturkalender“ umreißt 1926 Position und Profil des umtriebigen Mannes mit folgendem Eintrag: Gerst, Wilh. C., GenDir. des Bühnenvolksbundes, Geschäftsführer d. preuß. Landesbühne, Schriftl. der „Reichsblätter des Bühnenvolksbundes“, Berlin SW 68, Kochstr. 59 (28.3.87), Frankfurt a. M.) Theater, Pol., Jugendbeweg., Caritas. – Materialien z. Caritashilfe i. d. Großstadtseelsorge 10; Was tut unsern kath. Jugendvereinen not 10; Caritashilfe in der Seelsorge 11; Kirchl. Handbuch für Hannover 12/13; Die Grundlagen der Theaterkulturbewegung 17; Die dtsch. Katholiken u. der Theaterkulturverband 18; Das Theater d. Kulturgemeinschaft 20; Gemeinschaftsbühne u. Jugendbewegung 24. – Hrsg.: Schriften z. Kunsterziehung u. Theaterpflege (mit W. E. Thormann) 24/26; Spiele dtsch. Jugend 24/26.8

Dass Gerst in Berlin Kontakte zu Carl Sonnenschein hatte, ist durch Ernst Thrasolts Sonnenschein-Biographie belegt;9 vielleicht ist Gerst ihm aber schon am Ende seiner Hildesheimer Zeit begegnet, als Sonnenschein nämlich, wie Thrasolt schreibt, „1910 schon sich der kathol. Filminteressen [i. Orig. gesperrt] annimmt – in den Jahren bestand in M.-Gladbach eine Filmprüfungsstelle und erschien dort schon eine Filmzeitschrift – und [. . .] sich um dieselbe Zeit schon für die kathol. Theaterbewegung [i. Orig. gesp.] einsetzt.“ 10 1928 wechselte Gerst 5 So der biographische Abriss bei Stolzenberg, Peter: Ernst Leopold Stahl und der „Verband zur Förderung deutscher Theaterkultur“, Berlin 1958, S. 37, zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 5. Das Werkverzeichnis bei Oelker: Otto Haesler (wie Anm. 2), S. 252 ff., weist für die Jahre zwischen 1907 und 1910 rund 20 Projekte aus. 6 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 6 nach Stolzenberg: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 38. 7 Ebd. 8 Katholischer Literaturkalender, 15, 1926, Freiburg im Breisgau, S. 100. 9 Thrasolt, Ernst: Dr. Carl Sonnenschein. Der Mensch und sein Werk, München 1932, S. 356 („Anekdoten“). Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Gebauer, Emanuel: Fritz Schaller. Der Architekt und sein Beitrag zum Sakralbau im 20. Jahrhundert (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 28), Köln 2000, S. 84 Fn. 175. Gebauer erwähnt auch Gersts Herkunft aus der katholischen Jugendbewegung, ebd. S. 85 Fn. 191. 10 Thrasolt: Dr. Carl Sonnenschein (wie Anm. 9), S. 357.

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aus der Verbandstätigkeit auf die vermutlich lukrativere Stelle eines Direktors im Polyphon-Grammophon-Konzern, die er bis 1933 innehatte, fand daneben aber noch Zeit, 1931/32 den „Reichsausschuss für deutsche Volksschauspiele“ zu gründen. Von 1933 an amtierte er noch einmal als Geschäftsführer des „Reichsbunds zur Förderung der Freilichtspiele“, in dem der ehemalige Reichsausschuss inzwischen aufgegangen war, und als Reichsgeschäftsführer der Spielgemeinschaften für nationale Festgestaltung. Gerst bereiste in dieser Funktion mit eigenem Dienstwagen und Chauffeur das gesamte Reichsgebiet, um Bauplätze für die neu zu errichtenden Thingstätten zu begutachten und Verkaufsverhandlungen mit den Kommunen zu führen, wurde aber 1935 entlassen. Bereits 1933 hatte er zusammen mit Leo Weismantel,11 den er aus der Theaterbewegung kannte, den Volkschaft-Verlag für Buch, Bühne und Film G.m.b.H. mit Sitz in Berlin-Schöneberg gegründet, in dem Gerst beispielsweise für die Herausgabe brauner Petitessen wie die „Feierliche Übergabe der Thingstätte durch den Arbeitsdienst. Werksprüche und Lieder von Max Barthel“ (1934) verantwortlich zeichnete; von 1934/35 sind Publikationen bei einem neugegründeten St. Georgs-Verlag in Frankfurt am Main nachweisbar, möglicherweise ein Ein-Mann-Unternehmen Gersts selbst, dass zum Beispiel Hausbücher für das christliche Familienleben publizierte.12 Das deutet darauf hin, dass Gerst im „Dritten Reich“ sich eine Überlebensnische suchte, doch ist Genaueres bisher nicht ermittelt, auch nicht, warum er im Gefängnis in Bensheim einsaß, aus dem ihn bei Kriegsende amerikanische Truppen befreiten. 1945 wurde Gerst zusammen mit Emil Carlebach und fünf weiteren Personen Lizenzinhaber der „Frankfurter Rundschau“ und kurzfristig Vorsitzender des Verbandes hessischer Zeitungsverleger, aber schon 1946 wurde ihm diese Lizenz wieder entzogen, obwohl ein vor der Spruchkammer Frankfurt gegen ihn eingeleitetes Verfahren wegen des Vorwurfs, aktiver Nationalsozialist gewesen zu sein, im Dezember mit der Entlastung Gersts endete.13 11 Über ihn vgl. Vf.: [Art.] Weismantel, Leo, in: Kühlmann, Wilhelm/Aurnhammer, Achim (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums, Band 12. Berlin 20112, S. 245–248. 12 Mir liegt vor: Gerst, Wilhelm Karl (Hrsg.): Hausbuch, Frankfurt am Main [o. J.] (Kirchliche Druckerlaubnis Limburg, 31. Oktober 1935.) Enthält: Weihespruch des Hausherrn (und Raum für Unterschriften darunter), Weihespruch der Brautleute, Leerseiten für das Einkleben von Fotografien, Hauschronik. „So ist uns das Hausbuch die ständige Erinnerung an die Weihe unseres Hauses und an die Gotteskindschaft, die wir in ihm zubringen. Es soll helfen, den religiösen Geist und die Verbundenheit der Hausgemeinschaft zu pflegen, zu fördern und durch alle Zeiten sichtbar werden zu lassen.“ Ferner: Gerst, Wilhelm Karl (Hrsg.): Blätter zur Ausgestaltung der Tauffeier in Kirche und Familie, Frankfurt am Main, 1937. 13 Zu diesen Vorgängen Hurwitz, Harold: Die Stunde Null der deutschen Presse. Die amerikanische Pressepolitik in Deutschland 1945–1949, Köln 1972, S. 133 f. u. 314– 320, sowie Liedtke, Rüdiger: Die verschenkte Presse. Die Geschichte der Lizensierung von Zeitungen nach 1945, Berlin 1982, S. 31 f. u. 137–155. Der für die Pressepolitik in der amerikanischen Besatzungszone zuständige Offizier Cedric Belfrage, ein englischer Kommunist, führte Gerst in das siebenköpfige Gremium der Lizenzträger als „progres-

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In den folgenden Jahren arbeitete er als Bonner Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN und Mitarbeiter für ostzonale Zeitungen, was ihm 1951 die sives Mitglied der Zentrumspartei“ ein. Hurwitz: Die Stunde Null (wie Anm. 13), S. 314. „Der Schein trog jedoch; Gerst wurde zum energischsten Verfechter der kommunistischen Linie an der Frankfurter Rundschau.“ (ebd.). Dass Belfrage indes auch bewusst neben anderen Verfolgten des Nazi-Regimes kommunistische Vertreter als Lizenzträger der neuen Frankfurter Zeitung vorschlug, „stimmte mit einem Prinzip der US-Militärregierung überein, das die Kooperation aller Anti-Nazi-Gruppen nicht nur bei den Informationsmedien, sondern auch bei den Koalitionen in Gemeinden und Länderregierungen befürwortete“ (ebd. S. 313). „Zusammenarbeit mit Kommunisten war im Sommer 1945 nicht nur für den Kommunisten Belfrage, sondern für die amerikanische Militärregierung überhaupt eine Selbstverständlichkeit.“ (ebd. S. 135). Dafür, „daß in allen Bereichen des öffentlichen Lebens eine gemeinsame Front aller Anti-NaziKräfte notwendig sei“ (ebd. S. 316), sprach sich in einer Leitartikelserie der „Frankfurter Rundschau“ mit dem Titel „Unser Wille zur Zusammenarbeit“ auch Gerst aus in einem Artikel unter der Überschrift „Ich spreche als Katholik“, der diese Serie in der vierten Ausgabe der Zeitung eröffnete. Seine Stellungnahme führte zu Protesten katholischer Kreise und der CDU bei der Militärregierung und rief den Wunsch nach einer zweiten, bürgerlichen Zeitung in Frankfurt wach (ebd.). Zu diesem Artikel sowie Gersts Wirken bei der „Frankfurter Rundschau“ insgesamt auch Carlebach, Emil: Zensur ohne Schere. Die Gründerjahre der „Frankfurter Rundschau“ 1945/47. Ein unbekanntes Kapitel Nachkriegsgeschichte, Frankfurt am Main 1985, S. 40–42, sowie bes. S. 17 (wo Gerst als „zeitweise Direktor der Tobis-Film-AG“ erscheint), ebd. S. 18 (Gerst in der Charakterisierung Belfrages: „[. . .] ein energischer kleiner Mann von 57 Jahren, mit intelligentem Gesicht, einer Brille, die ständig nach vorn rutscht, und einem Schopf weißer Haare, die er vergeblich im Nacken zu bändigen sucht. Redegewandt, begabt und gebildet, hat Humor . . . Seine Fähigkeiten für die Geschäftsleitung sind kaum zu ersetzen. Er ist der einzige in der Gruppe, der früher hoch bezahlt war und erfolgreich im Geschäftsleben . . . Ein gewitzter Geschäftsmann, der sein Jesuitentum von A bis Z beherrscht“,), ebd. S. 23, 52, 97 u. 102 (vier Fotos von Gerst), 66, 73, 76, 81, 84 f., 100, 112–117 u. 120–122. Auf dem S. 112–117 abgedruckten Artikel „Um den ,Ehrenplatz in der Geschichte der nationalen Revolution‘“ vom 20. August 1946 setzte sich Gerst anhand des Buches „Wächter der Kirche. Ein Buch vom deutschen Episkopat“ von Karl Speckner (München 1934) kritisch mit der Haltung der katholischen Bischöfe 1933/34 zum Nationalsozialismus auseinander – das Thema, das dann Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem „Hochland“-Aufsatz von 1961 „Der deutsche Katholizismus im Jahr 1933“ mit der bekannten Wirkung behandelte. – Schließlich Eser, Ruprecht: Die Lizenzpresse in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands von 1945–1949. Magisterarbeit am Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin 1967. Eser teilt im Anhang seiner Arbeit die Antworten auf einen Fragebogen mit, den er an noch lebende Akteure der in der amerikanischen Besatzungszone lizenzierten Zeitungen versandt hatte. Auf die Frage, ob es eine kommunistische Kontrolle bei der „Frankfurter Rundschau“ gegeben habe, antwortete Friedrich Karl Müller, der von Anfang an (1946) zum Redaktionskollegium der „Frankfurter Neuen Presse“ gehört hatte: „Es gab eine Kontrolle der Rundschau durch Carlebach, es gab aber in viel höherem Masse [sic] eine Kontrolle der Rundschau durch Herrn Gerst, der heute als ADN-Vertreter in Bonn sitzt. Er war die treibende Kraft in der Rundschau. Er schuf die sogenannte Lex Gerst, die besagte, dass kein Mann [. . .], der während des 3. Reiches etwas mit der Zeitung zu tun hatte, Lizenzträger werden konnte. [Absatz.] Der sogenannte Linkskatholik Gerst war der beweglichste, intriganteste [! das scheint Belfrages überraschende Charakterisierung seines „Jesuitentums“ zu bestätigen], fleissigste und erfahrenste Mann im Kreis der Lizenziaten. [. . .] Gemessen daran war das Wirken des eisernen Kommunisten Carlebach nicht übermässig gross.“ (Seite 5 der schriftlichen Aus-

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diffamierende Charakterisierung des Ministers für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, als „Kreuzung zwischen Berichterstatter und Spion“ eintrug; 1954 entzog ihm Bundestagspräsident Ehlers die Akkreditierung beim Bundestag und damit die Teilnahme an der Bundespressekonferenz. Mit seinen in den fünfziger und Anfang der sechziger-Jahre erschienenen Büchern14 und Artikeln15 rechnete Gerst kritisch mit dem antikommunistischen Kurs der jungen Bundesrepublik ab, in der er die alten, friedensfeindlichen reaktionären Politiker und Kapitalisten am Werk sah. Sein Einsatz 1962 für die Seligsprechung Nils Stensens und seine Arbeit für „Pax Vobis“, dessen Informationsdienst er von 1964 bis 1968 herausgab,16 sind letzte öffentliche Wegmarken des am 27. März 1968 verstorbenen Mannes. II. Gerst wollte schon seit seinen frühen Berufsjahren das deutsche Theaterwesen grundlegend reformieren, und dieser Aufgabe hat er sich zeitweise mit einem kunft von F. K. Müller; der Anhang ist nicht durchgehend paginiert.) Heinrich Kierzek, Lizenzträger der „Fuldaer Volkszeitung“, teilte zur Entlassung Gersts mit: „Als einer der Gründe wurde mir gegenüber damals geäussert, Gerst sei sehr herrschsüchtig in seinem Verlag gewesen und habe die Verlagsangestellten schlecht behandelt, ja schikaniert. Dadurch habe ein schlechtes Betriebsklima in der ,Frankfurter Rundschau‘ geherrscht, was ICD nicht verborgen bleiben konnte. Natürlich ist es auch möglich, dass politische Gründe beim Lizenzentzug mitsprachen. Mir ist davon aber nichts bekannt.“ (S. 11 seines Antwortschreibens.) Auch andernorts ist überliefert, dass Gerst in der Erregung Entlassungen aussprach, die dann wieder zurückgenommen wurden. Man muss ihn sich wohl als ziemlich cholerischen Typ vorstellen, der viel Porzellan zerschlagen konnte (und häufig vor Gericht gezogen ist); wenn er dann auch noch intrigant war, dürfte der Umgang mit ihm schwierig gewesen sein. – Sachlich gewichtiger ist die bei Kierzeck (S. 10 f.) ausführlich dargestellte Idee Gersts, „alle Lizenzträger sollten ihre Verlage zu gemeinnützigen Stiftungen machen, und der [1946] neu zu gründende Verband [Hessischer Zeitungsverleger] sollte entsprechende Satzungen haben, wonach also nur Zeitungsverlage Mitglieder sein konnten, die den Status einer gemeinnützigen Stiftung hatten. Der Vorschlag löste eine heftige, langandauernde Diskussion aus. In der Abstimmung, in der jede Zeitung (nicht jeder Lizenzträger) eine Stimme hatte, siegten die Gegner der Stiftungsidee, aber nur recht knapp, nach meiner Erinnerung entschied eine einzige Stimme. So etwas ist heute schwer verständlich. [. . .] Es bestand kein Zweifel darüber, dass Gerst, der auf der Verbandstagung der Sprecher des FR-Lizenzträgerkollegiums war, zum ersten Vorsitzenden des neugegründeten Verbands gewählt worden wäre. Nach meiner Erinnerung ist er es auch kurze Zeit gewesen, wenigstens hat mindestens eine Tagung unter seinem Vorsitz stattgefunden. Nachdem die Stiftungsidee verworfen worden war, wurde D. Stenzel von der ,Frankfurter Neuen Presse‘ zum ersten und ich zum zweiten Vorsitzenden des Verbandes gewählt.“ (S. 10 f.) 14 Bundesrepublik Deutschland unter Adenauer. Berlin 1957; Bundesrepublik Deutschland. Weg und Wirklichkeit. Berlin 1957. Eine Abrechnung. 50 Beiträge zur Charakteristik der Adenauer-Partei. Berlin 1960. 15 Z. B. Gerst, Wilhelm Karl: Erlebte Geschichte der Spaltung Deutschlands, in: Dokumentation der Zeit. Gesamtdeutsches Informations-Archiv. Deutsches Institut für Zeitgeschichte Berlin, Heft 38, 15. Januar 1953, Sp. 1754–1761. 16 Stankowski, Martin: Linkskatholizismus nach 1945, Köln [o. J.] [1976], S. 17.

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Idealitätsüberschuss und einer Opferbereitschaft17 gewidmet, die ihn sowohl hinausheben über das bloß Funktionärshafte, wie sie die „bizarre Persönlichkeit“ 18 in den Hintergrund treten lassen, die er anscheinend auch gewesen ist. Sein Engagement ist vor dem Hintergrund der noch aus der Zeit der Reichsgründung ererbten Theaterverhältnisse zu sehen. Mitte der 1880er-Jahre existierten in Deutschland rund 600 Theater, die ganz überwiegend, etwa zu 80 Prozent, als Geschäftstheater19 betrieben wurden. Aus dieser Kommerzialisierung resultierte ein starker Niveauverfall des Spielangebots. Schon in der Vorkriegszeit hatte es Versuche gegeben, durch weltanschaulich geleitete Interessenorganisationen Einfluss auf die Verbesserung der Spielpläne zu nehmen sowie bisher theaterfremde Schichten an das Theater heranzuführen. Als Alternative zum herkömmlichen Theater wurde auch zunehmend das Volks- und Laienspiel propagiert. Dabei ging es (a) um Stoffe und Stücke, deren Spiel zu einem Gemeinschaftserlebnis von Spielenden und Zuschauern werden sollte, (b) um Aufführungsstätten unter freiem Himmel, womit sich diese Freilufttheaterbewegung in das Vorfeld der Thingbewegung einordnet, und (c) drittens um Spielscharen, die als fahrende Trupps über Land zogen. Hier traf sich die Theaterreform- mit der Jugendbewegung. Nachdem der Ausbruch des Ersten Weltkrieges solche Bestrebungen zunächst zum Erliegen gebracht hatte, wurden sie unter Beteiligung Gersts wieder aufgenommen und in der Gründung des Theaterkulturverbandes zusammengeführt, die auf einer Versammlung am 26. und 27. August 1916 in Hildesheim erfolgte. Gerst hat vor den Versammelten die Vorgeschichte dieser Tage in einem Vortrag rekapituliert, der ein Jahr später im führenden Verlag der Lebensreformbewegungen, bei Eugen Diederichs, veröffentlicht wurde20 und der darum lesenswert ist, weil er zeigt, wie dieses Unternehmen ,aufgezogen‘ wurde, wie eine Idee in das Anliegen einer Bewegung überführt und diese zu einem Interessenverband ge-

17 Folgende Begebenheit aus den Anfangsjahren des BVB darf wohl auf Gerst bezogen werden: „Ein bekannter Theaterfachmann, Leiter eines sehr vornehmen Privattheaters, besuchte die Geschäftsstelle des BVB. Sie war ärmlich genug. Auf zwei Holzböcken lag eine riesige Tischplatte, um diese standen ein paar Stühle. Dazu eine Schreibmaschine. Weit und breit kein Klubsessel, so daß er mit einem der einfachen Holzstühle vorlieb nehmen mußte. Er schüttelte nur fortwährend den Kopf. Später äußerte er zu einem gemeinsamen Bekannten: ,Ich verstehe das nicht, da opfert der Mann seine ganzen Ersparnisse, fährt vierter Klasse in Deutschland herum und will einen Verein gründen, wo er doch bei seinen Fähigkeiten sofort eine gute Stellung bekommen könnte. Was will der Mann eigentlich?‘ “ Arbeitsgemeinschaft in der Reichsgeschäftsstelle des Bühnenvolksbundes unter Leitung von Wilhelm Karl Gerst (Hrsg.): Wille und Werk. Ein Handbuch des Bühnenvolksbundes, Berlin 1928, S. 4. 18 So Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 49. 19 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 12, nach Stolzenberg: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 33. 20 Gerst, Wilhelm Carl: Die Grundlagen der Theaterkultur-Bewegung, in: Beiträge zur Theaterkulturbewegung. 3 Vorträge, Jena 1917, S. 1–28.

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formt wurde, nämlich, im vorliegenden Fall, durch die Organisation einer Organisationskaskade. Ausgelöst wurde sie in den letzten Junitagen des Jahres 1916 mit dem Versand mehrerer tausend Exemplare eines „Aufrufs zum Beitritt“ 21 in die Länder Deutschlands und der Donaumonarchie, den rund 100 angesehene Hildesheimer Persönlichkeiten und ein 75 Mitglieder zählender „vorläufiger Gesamtausschuss“ unterzeichnet hatten. Wichtig für Gerst war dabei: „Der ,Aufruf zum Beitritt‘ sollte ein erster Versuch sein, von außen her“ (also nicht aus dem Zentrum Berlin) „allen Kreisen, allen Parteien das Bewußtsein der Gemeinsamkeit des Wollens auch in der Theaterfrage nahezubringen.“ 22 Die Provinz als Impulsgeber, die Verschiebung des Aktionszentrums von der Hauptstadt an die Peripherie: das lässt sich zuordnen Stichworten wie der „Los von Berlin“-Bewegung,23 der „Entdeckung der Provinz“ 24 und der Heimatkunst,25 in denen sich das Unbehagen an einer ungeliebten Moderne artikulierte. Aber: Vertrieben und propagiert wurde dieses Kulturkonzept einer antimodernistischen Protestbewegung mit modernen Zirkulationsstrategien. Nachdem nämlich der Aufruf rund 700 Unterschriften eingesammelt hatte, erfolgte seine Bekanntmachung in einer breiten Öffentlichkeit und, nachdem weitere 400, also insgesamt 1.100 Persönlichkeiten unterzeichnet hatten,26 der Beschluss, zur Gründungsversammlung in die katholische Bischofsstadt Hildesheim einzuladen. „In einer seltenen und gerade auf dem Theatergebiete für unmöglich gehaltenen Einmütigkeit“, resümierte Gerst vor den dort Versammelten, hätten sich „Vertreter und Vertreterinnen aus allen Kreisen und Ständen, aus allen Kunstrichtungen, politischen und konfessionellen Gruppen zusammengefunden.“ 27 Den quantitativen wie qualitativen Ertrag seiner Bemühungen schlüsselte Gerst in einer Statistik auf: Unter den etwa 1.100 Anmeldungen zur Mitgliedschaft bis zum 26. August befanden sich:

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Abdruck ebd. S. 6–10. Gerst: Die Grundlagen der Theaterkultur-Bewegung (wie Anm. 20), S. 5. 23 Haß, Ulrike: Vom „Aufstand der Landschaft gegen Berlin“, in: Weyergraf, Bernhard von: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 8: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933, München 1995, S. 340–370. 24 Die Formulierung geht über Bahr, Hermann: Die Entdeckung der Provinz (Erstdruck 1899, Wiederabdruck, in: Bahr, Hermann: Bildung. Essays, Leipzig 1906) zurück auf einen Vortrag von Rosegger, Peter: Kunst und Provinz, in: Rosegger, Peter: Volksreden über Fragen und Klagen, Zagen und Wagen der Zeit, Berlin 1908, S. 150–157, hier S. 157. 25 Zur Bedeutung dieses Konzepts für den Kulturkatholizismus im hier behandelten Zeitraum Giacomin, Maria Cristina: Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im „Hochland“ (1903–1918) (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 29), Paderborn, München, Wien u. Zürich 2009, S. 84–135. 26 Gerst: Die Grundlagen der Theaterkultur-Bewegung (wie Anm. 20), S. 10. 27 Ebd. S. 21. 22

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30 Bühnenleiter und Dramaturgen, zahlreiche Schauspieler, 23 dramatische Schriftsteller, 105 sonstige Schriftsteller, 76 Redakteure an Tageszeitungen, 23 Herausgeber und Schriftleiter an Zeitungen, 18 Buch- und Zeitungsverleger [. . .] 34 deutsche Hochschullehrer, zahlreiche Oberlehrer, darunter 26 Direktoren höherer Lehranstalten [. . .] 17 Mitglieder des Deutschen Reichstages, 19 Mitglieder der Einzellandtage [. . .] 12 Bürgermeister und Magistratsmitglieder, 32 Mitglieder städtischer Parlamente (unterdessen sind diese Zahlen natürlich bedeutend gestiegen). Nicht minder groß ist das Interesse bei den Inhabern hoher Offiziersstellen, hoher Regierungsstellen und überhaupt bei den höheren Beamten. Auch aus diesen Kreisen haben sich zahlreiche Persönlichkeiten angeschlossen, ebenso aus den Bank-, Handels- und industriellen Kreisen, aus dem Adel, dem Mittel- und dem Arbeiterstand. Besonders müssen hervorgehoben werden die Männer und Frauen, die nicht nur für ihre eigene Person beigetreten sind, sondern durch ihren Beitritt die Verbindung herstellen wollen zwischen den großen und machtvollen Organisationen, denen sie in leitender Stellung angehören, und der Theaterkulturbewegung.“28

Bereits in dem Hildesheimer „Aufruf zum Beitritt“ war bestimmt worden, dass die konkrete Hauptarbeit des Verbandes von den – zahlreich zu gründenden – Ortsausschüssen geleistet werden sollte, die „im Sinne unseres Verbandes die Beteiligung ihrer Mitbürger am Theater organisieren, sei es durch Veranstaltung eigener Theaterabende an den örtlichen Bühnen, sei es durch feste Abschlüsse auf bestimmte Wochentage, also Schaffung von eigenen Abonnements für die Anhänger der Theaterkulturbewegung, sei es in kleineren Städten ohne eigenes Theater durch Veranlassung guter Gesamtgastspiele, sei es durch Finanzierung von Uraufführungen wertvoller Neuschöpfungen. Gerade der letzteren Aufgabe soll in den größeren Städten eine besondere Sorgfalt gewidmet werden.“ 29 Nicht aber nur den Ortsausschüssen: auch dem Theaterkulturverband insgesamt wurde eine recht erhebliche Aufgabenlast aufgebürdet, wie die ersten drei Paragraphen der auf der Gründungsversammlung beschlossenen Vereinssatzung erkennen lassen: „1. Der Verein führt den Namen „Verband zur Förderung deutscher Theaterkultur und hat seinen Sitz in Hildesheim. Er soll in das Vereinsregister eingetragen werden. 2. Der Verein bezweckt den Zusammenschluss aller Deutschen zur Hebung und Förderung des deutschen Theaters als Pflegestätte der Kunst im Geiste deutscher Bil28 29

Gerst: Die Grundlagen der Theaterkultur-Bewegung (wie Anm. 20), S. 21–23. Ebd. S. 10.

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Thomas Pittrof dung und Gesittung. Er will vor allem das Theater allen Schichten des deutschen Volkes zugänglich machen, das Verständnis für die nationale Bühnenkunst und ihre Bedeutung wecken und Mißstände im Theaterwesen bekämpfen.

3. Diesen Zweck sucht der Verein insbesondere zu erreichen a) durch Sammlung und Bereitstellung von Mitteln, b) durch Förderung des staatlichen und städtischen Eigenbetriebs (Stadttheater, Städtebund-Theater, städtische Orchester), Einrichtung und Förderung von Volksbühnen, Verbands- und Landschaftstheater, c) durch Förderung einer umfassenden Theatergesetzgebung, d) durch Veranstaltung von Vereinsvorstellungen, Vereinsvorträgen und Vorlesungen, Einrichtung von Bibliotheken und Bücherumlauf, Verbreitung von Schriften,

e) durch Erzielung verschärfter Maßnahmen gegen die rein geschäftlichen Unterhaltungsbühnen ohne höheres Kunstinteresse.“ 30 Hatte der Theaterkulturverband mit diesem Programm Erfolg, und hatte er die Mittel dazu? Vielleicht war es zu früh, auf diese Frage schon von der ein Jahr später abgehaltenen Hauptversammlung eine Antwort zu erwarten, die vom 28.– 30. September 1917 in Mannheim stattfand. Zwar glänzte der zum Schriftführer des TKV gewählte Gerst in seinem Rechenschaftsbericht mit eindrucksvollen Zahlen. Er rechnete vor, dass der Verband zu diesem Zeitpunkt 10.000 persönliche und etwa 3 Millionen korporative Mitglieder (aus Behörden, Schulen, Vereinen, Firmen usw.) habe.31 Die Berichte über konkrete Aktivitäten ,vor Ort‘ fielen aber wohl wesentlich bescheidener aus. Als Erfolg des TKV wurde die Spielzeit 1916/17 in Trier unter der Intendanz von Karl Heinz Tietjen gewürdigt, an deren insgesamt 238 Aufführungen die Klassiker mit 35 Aufführungen beteiligt waren. „Dieser Spielplan einer kleinen Provinzbühne widerlegte einerseits sämtliche Schlagworte vom angeblichen Willen des Publikums zum Kitsch, die immer wieder von den Geschäftstheaterdirektoren vorgebracht wurden, andererseits aber widerlegte er auch die Behauptungen der Gegner des Theaterkulturverbandes, daß dieser eine einseitige und konfessionell gebundene Theaterkunst erstrebe.“ 32 Auch der von Gerst betriebenen Gründung künstlerisch hochstehender Wanderbühnen, die der „Degradierung des Theaters zum patriotistischen Reklameins-

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Abdruck in: Beiträge zur Theaterkulturbewegung (wie Anm. 20), nach S. 96. Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1) S. 24 nach Stolzenberg: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 62. – Die Zahl von 3 Millionen korporativen Mitgliedern ist allerdings eine rein rechnerische Größe. Sie ist die Summe der in den einzelnen Personenvereinigungen, die dem TKV beitraten, zusammengeschlossenen Mitglieder. Das tatsächliche Interessenpotential und damit die Schlagkraft des Verbandes dürfte damit weit überhöht dargestellt sein. 32 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 26, unter Zitat Stolzenbergs: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 78. 31

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trument ohne Rücksicht auf künstlerisches Niveau“ Einhalt gebieten sollte,33 scheint in Einzelfällen ein gewisser Erfolg beschieden gewesen zu sein.34 Insgesamt litt aber der TKV als Dachverband unter chronischer Finanzknappheit. „Zwar schrieb die Satzung vor, dass die Ortsvereine zwei Drittel ihrer Einnahmen dem Dachverband zuführen sollten, die wenigsten hielten sich allerdings an diese Vorgabe. [. . .] Am Ende des Krieges brach der Verband dann aus finanziellen Gründen zusammen.“ 35 Neben den konkreten Ergebnissen der Theaterkulturverbandsarbeit sind die publizistischen Aktivitäten Gersts ins Auge zu fassen, von denen eine rund fünfzigseitige Schrift über „Die deutschen Katholiken und der Theaterkulturverband“ 36 hervorzuheben ist. Mit ihr versuchte Gerst 1918 nicht nur, gezielt Katholiken für den Verband anzusprechen; er wollte ihnen offensichtlich auch deutlich machen, warum es in ihrem eigenen Interesse sei, sich stärker ins Boot nehmen zu lassen. Dabei verhehlte er nicht, dass ein nur christliche Stücke spielendes Theater keine Chance haben werde, und holte etwas weiter aus: Für jede der im TKV vertretenen weltanschaulichen Gruppen gelte, dass die „Veredelung des deutschen Theaters“ nicht mit dem „Verlangen nach Herrschaft der eigenen Ideenwelt auf den Brettern“ 37 einhergehen könne – Pluralismus als Geschäftsgrundlage auch für Katholiken also. Dass jedoch im Kampf gegen Schmutz und Schund auf der Bühne und in Erfüllung der „Kunstsehnsucht“ 38 des deutschen Volkes „bei Festlegung dieser Spielpläne in den weitaus meisten Fällen die Wünsche aller die gleichen sind, daß alle Korporationen als Mitglieder des TKV wertvolle Kunstwerke, ernste und heitere, und keine minderwertigen Darstellungen, keinen Schmutz, keinen Schund, keine Laszivitäten und Frivolitäten, keine französischen Ehebruchschwänke u. dgl. sehen wollen, das steht außer allem Zweifel.“ 39 Ausschließlich den Katholiken wandte sich Gerst auf den letzten zwölf Seiten seiner Schrift zu. Sie sollten sich nicht in eine „einseitige Kampfesstellung gegen das Theater“ 40 drängen lassen, sondern vielmehr im TKV darauf hinwirken, dass die „katholische dramatische Literatur den ihnen zustehenden Anteil [!]

33 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 29, unter Zitat Stolzenbergs: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 93. 34 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 28. 35 Ebd. S. 27 f. 36 Gerst, Wilhelm Carl: Die deutschen Katholiken und der Theaterkulturverband, Mönchengladbach 1918. 37 Ebd. S. 18 f., besonders S. 33. 38 Ebd. S. 25. 39 Ebd. S. 33 f. 40 Zu den sowohl weltanschaulich wie historisch bedingten Gründen dieser „Abwehrhaltung der Katholiken“ Clemens, Gabriele: „Erziehung zu anständiger Unterhaltung“. Das Theaterspiel in den katholischen Gesellen- und Arbeitervereinen im deutschen Kaiserreich. Eine Dokumentation, Paderborn u. a. 2000, S. 28.

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[. . .] erringen“ 41 könne. Eine exklusiv katholische Theaterorganisation lehnte Gerst in seiner Zielansprache klar ab. Diese werde, „selbst bei der Verfolgung unanfechtbarer Ziele und wenn sie auf Angriffstendenzen möglichst verzichtet, fortdauernd den größten Schwierigkeiten ausgesetzt sein.“ 42 Überdies sei durch den TKV ein solcher Zusammenschluss überflüssig geworden. „Durch ihre Mitarbeit in ihm können es die Katholiken erreichen, daß die katholischen Volksgenossen zu einer angemessenen Beteiligung am Theaterkunstleben kommen.“ 43 Gerst setzte sich also sehr wohl für die aktive Partizipation der kulturinteressierten Katholiken am Theaterwesen ein, aber er widerstand dabei energisch allen Tendenzen ihrer Selbstghettoisierung. Der Rückzug ins Milieu war für ihn keine Lösung. Insofern gehört er mit seiner Verbandsarbeit zu denjenigen Katholiken, die schon am Ende der Wilhelminischen Epoche, vor Ausbruch ihres Weimarer Kulturfrühlings, den „Weg des deutschen Katholizismus aus dem Ghetto“ 44 beschritten. III. Warum diese Sätze jedoch schon bald, nämlich durch die Gründung des Bühnenvolksbunds als christlich-nationaler Theaterbesuchsorganisation am 9. April 1919 in Frankfurt am Main, Makulatur wurden, so dass der TKV trotz allen organisatorischen und ideellen Aufwands ein ziemlich kurzlebiges Unternehmen blieb, und weshalb Gerst bei dieser Aktion „entschlossen“ selbst zur Tat schritt, hat der Landessekretär des Bühnenvolksbunds Düsseldorf Theodor Hüpgens später wie folgt erläutert: „In Hildesheim gründeten organisatorisch begabte Theaterfreunde während des Krieges den Verband zur Förderung deutscher Theaterkultur. Er wollte arme und reiche, katholische, evangelische und jüdische Männer und Frauen, kurz: das ganze Volk zu einer großen, durch Ortsgruppen in allen Städten des Reiches lebendig wirkenden Vereine zusammenschließen und so der Bühne, die ihre Macht mißbrauchte, den gesunden, deutsche Bildung und Gesittung verlangenden Willen der öffentlichen Meinung entgegenstellen. Und er hat viel erreicht. Erreicht zunächst, daß sich die Geister schieden. Die guten Willen[s] waren, schlossen sich dem Hildesheimer Verbande an; Politiker – die sich sonst um künstlerische Dinge nicht gern kümmern, große Verbände wie der Katholische Frauenbund, Arbeiterorganisationen, dann 41 Gerst: Die deutschen Katholiken und der Theaterkulturverband (wie Anm. 36), S. 43. 42 Ebd. S. 47 f. 43 Ebd. 44 Grosche, Robert: Der geschichtliche Weg des deutschen Katholizismus aus dem Ghetto, in: Der Weg aus dem Ghetto. Vier Beiträge von Robert Grosche, Friedrich Heer, Werner Becker und Karlheinz Schmidthüs, Köln 1955, S. 9–34. – Grosche wurde für Gerst eine wichtige Figur; beide gaben 1924 gemeinsam die Schrift „Gemeinschaftsbühne und Jugendbewegung“ heraus. Vgl. das Referat der Ausführungen Grosches über „Gemeinschaftserlebnis und Spiel“ bei Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 70 f.

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Schriftsteller, Geistliche, Theaterdirektoren und die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. [. . .] Dann kam die Revolution und änderte mit einem Schlage die ganze Sachlage. Hatten bisher die christlichen Volkskreise im Hildesheimer Verbande, trotz mancher Kämpfe, eine bestimmende Stellung behaupten können, so trat mit dem plötzlichen Sturz aller bisherigen Ordnung die Gefahr auf, nun vielleicht gebotene Rücksichten beiseite schiebende Schichten würden jene [. . .] verdrängen und die hinter ihnen stehenden christlichen Massen, ihrer Führer beraubt, auf Wege führen, die sie bewusst nicht betreten könnten. Der Gedanke eines allgemeinen deutschen Theaterrates tauchte auf [. . .] Auf der anderen Seite aber war im Zeitalter der Gleichberechtigung aller Überzeugungen zu erwarten, daß wir auch in diesem Theaterrate unseren Stärkeverhältnissen entsprechendes Mitwirkungsrecht uns würden sichern können, sobald wir mit einer fertigen, geschlossenen, zielklaren Organisation uns zur Mitwirkung meldeten. Aus diesen Erwägungen heraus schritt der katholische Generalsekretär des Hildesheimer Verbandes entschlossen zur Tat und gründete unter Beteiligung führender Köpfe des katholischen und evangelischen Deutschlands den Bühnenvolksbund, Vereinigung zur Theaterpflege im christlich-deutschen Volksgeist.“ 45

Was war geschehen? Es ist ja nicht ohne Pikanterie, dass Gerst noch in seinem Amt als Generalsekretär des Theaterkulturverbands sich an die Spitze einer Sezessionsbewegung gesetzt hatte, die gezielt die katholischen und evangelischen Mitglieder aus dem TKV heraus- und in die neue Organisation überführte. Dieser Vorgang lässt sich außer aus der Darstellung von Hüpgens auch aus dem Gründungs-„Aufruf des Bühnenvolksbundes“ erschließen, in dem es heißt: „Die christlich gerichteten Mitglieder des Theaterkulturverbandes haben beschlossen, den ,Christlichen Volksbund für Bühnenkunst und Lichtspiele‘ zu gründen. [. . .] Die christlichen Grundlagen unserer Kultur werden durch die Mächte, die jetzt das politische und öffentliche Leben beherrschen, auf das äußerste bedroht. Seither waren es die Geschäftemacher, die durch Schmutz und Schund unser Volksleben verseuchten, jetzt versuchen freigeistige Elemente, die seither schon einen großen Einfluß ausübten, alle religiös-sittlichen Werte von der Bühne zu verbannen und die Theater ganz in ihrem Geist zu leiten. Die Bühne muß für unser christliches Volk wieder eine Schwester der Kanzel werden.“ 46

Wie ist dieser Kurswechsel zu erklären? Offenbar hatten die mit Gerst verbundenen Akteure aus dem TKV mit dem Ende des Kaiserreichs auch ein Bündnismodell der Vorkriegszeit an sein Ende kommen sehen, das Grundlage für den Zusammenschluss und vor allem auch für das (im einzelnen immer konfliktträchtige) Zusammenwirken verschiedener politischer und weltanschaulicher Gruppen im TKV gewesen war. In diesem Bündnismodell hatte das Nationale – Gerst: das Interesse aller deutscher Kräfte an der Hebung der deutschen Bühne – eine Klammer für den vereinsinternen Pluralismus verschiedener politischer und kon45 Hüpgens, Theodor: Die Bühne nach der Revolution, Innsbruck, Wien, München [o. J.] [1920], (BVB Bundesschriften, 2. Heft der Serie: Bühne und Volk, S. 10 f.). 46 Zitiert nach Stolzenberg: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 105 f., bei Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (Anm. 1), S. 39.

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fessioneller Kräfte gebildet, die diesen Pluralismus sowohl einhegte als auch ermöglichte. Mit den veränderten politischen Verhältnissen gestaltete sich das Verhältnis zwischen Nation, Idee und Verbandsarbeit aber neu: Der revolutionäre Eintritt in das „Zeitalter der Gleichberechtigung aller Überzeugungen“ (Hüpgens) machte den pluralistischen Diskurs zur Basisbedingung, unter der Verbandsarbeit nicht mehr als nationale Sammlungsbewegung der verschiedensten Strömungen unter einer Idee, sondern als Exklusivvertretung einer durch Sezession homogenisierten Gruppe reorganisiert und an das Nationale als Zielrichtung in einem neuen Duopol starr fixiert wurde. Gerade die Umstellung auf das neue Pluralismusmodell hatte eine Fragmentierung, Polarisierung und Politisierung47 der Verbandsarbeit zur Folge; Gegner der christlich-nationalen Theaterkultur waren nicht mehr wie in der Vorkriegszeit nur die „Geschäftemacher“, sondern nun auch die „freigeistigen“ Elemente. Auf die Frage „Was will der Bühnenvolksbund?“ lautete die Antwort jetzt: „Zusammenschluß der christlichen Theaterbesucher, Förderung der schöpferischen Kräfte unserer Weltanschauung. Veredelung des Geschmacks im Kinowesen. Bekämpfung des Schmutzes und Schundes im Theater und Kino. Hebung der Vereinsbühne, Pflege des religiösen Fest- und Heimatspiels. Sein Ziel ist die Bildung der christlichen Theaterkulturgemeinschaft.“ 48

Gerade dieses zuletzt genannte Ziel der Bildung einer „christlichen Theaterkulturgemeinschaft“ erneuerte nun auch die Aufmerksamkeit für das religiöse ,Spiel‘ als theatraler Alternative für diejenigen, die christlich, aber nicht gebildet waren. Ziemlich ungeschminkt legte Gerst in einem Aufsatz aus dem Jahr 1924 nämlich dar, warum das herkömmliche stehende Theater als bildungsbürgerliche Anstalt seiner Ansicht nach niemals ein ,Theater für alle‘ werden könne. „Eine Popularisierung des heutigen Theaters im Sinne der Volksbildungsbestrebungen und der Volksbühnenbewegung der letzten Jahrzehnte gibt es nicht. Die Voraussetzungen des gegenwärtigen Kunstbetriebs sind gelehrt-gebildeter Art und alle Versuche, das Volk in seiner Gesamtheit an diesem Kunstleben und an diesen literarisch und artistisch individuellen Höchstleistungen deutschen Geistes zu beteiligen, scheitern. [. . .] Genau wie die Universität aus materiellen und geistigen Gründen sich nur einer kleinen Schicht unseres Volkes erschließen kann, genau so ist es mit dem, was man seither unter Kulturtheater verstanden wissen wollte. Die Erfahrung aller, doch wahrhaftig mit großem Ernste arbeitender kultureller Besucherorganisationen bestätigt das täglich aufs Neue.“ 49 Das Heraufziehen des Neuen erblickte Gerst aus anderer Richtung. Er sah die „Zeit der wandernden 47 Stolzenberg: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 107; Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 40. 48 Gerst, Wilhelm C.: Das Theater der Kulturgemeinschaft, Innsbruck, Wien, München, Bozen [o. J.] [1920] (BVB Bundesschriften, 3. Heft der Serie: Bühne und Volk), Rückumschlag.

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Schauspieltruppen wieder kommen“, von denen er erwartete, dass sich einige von ihnen „ausschließlich der Pflege unseres zeitgenössischen christlichen Schaffens widmen“ 50 würden, und rief dazu auf, „die wahre Form des deutschen volkstümlichen Kunstlebens zu finden. Sie wird und kann nur aus dem Laienspiel, dem Spiel aus unmittelbarer Volkserlebniskraft geboren werden. [. . .] Laienspiel leitet seine innere Berechtigung und Notwendigkeit her aus dem Erlebnis in der Gemeinschaft, aus dem Bestreben ein allen innewohnendes Verlangen, einer Sehnsucht, einer freudigen oder traurigen Stimmung Ausdruck zu verleihen. [. . .] Es kann seinem Wesen nach gar nicht erlebt und dargestellt werden von dem Berufsschauspieler [. . .], es braucht die absolute Gläubigkeit des dem Stoff sich hingebenden und aus ihm schaffenden Jüngers.“ 51 Dieses neue Theater der „absolute[n] Gläubigkeit“ unterstellte Gerst dem „Apostolat der Jugend“. Die Veränderungsenergien, die für die Beseitigung der soziologischen Schranken zwischen Gebildeten und Ungebildeten zu mobilisieren er für aussichtslos erklärt hatte, entdeckte er als schöpferisch-vitale Fremdressource in dem von innen aufbrechenden, ihr eingeborenen Bewegungsimpuls einer ,Jugend‘, die selbst Bewegung als Gestalt war: bewegte Jugend/Jugendbewegung. „Aus ihrer Mitte und geweckt durch diese Stunde künstlerischer Empfängnis werden unserem Volke geistliche Führer und Priester erstehen, die das Erlebte leben und das Volk zum Leben in Gott zu führen vermögen. [. . .] Aus ihrer Mitte werden die Führer der Nation erwachen, die Not und Gefahr zu trotzen verstehen, die aus dem vaterländischen Spiel innerlich bewegter Jugendzeit den Weg zum nationalen Leben für sich und ihr Volk finden. Ach, ihr Zweifler und Kleingläubigen, die [. . .] ihr nur das Theater der Gegenwart kennt, und es mit Recht als eine gesellschaftliche oder nur unterhaltende Angelegenheit empfindet, während das neue Spiel der Jugend völkische Angelegenheit sein wird.“ 52 Auch von Beispielen dieses neuen Spiels wusste Gerst bereits zu berichten. „Interessant war“, so zitierte er die Berichterstattung der „Kölnischen Zeitung“ über die Aufführung von Franz Johannes Weinrichs „Tänzer unserer lieben Frau“ im Kreuzgang des Bonner Münsters, „daß am Schluß der ersten Aufführung eine gewisse Ekstase sich des Publikums bemächtigte und sich in dem spontanen Gesang von Marienliedern auflöste. Wir dürfen also hier wohl den Wiederbeginn einer volkstümlichen religiösen Schauspielkunst begrüßen.“ 53 Ekstase statt Katharsis (oder Katharsis durch Ekstase?) – das war die performative Alternative zu dem als bürgerlich-individualistisch gescholtenen herkömmlichen Theater, die den Zuschauer aus seiner Vereinzelung 49 Gerst, Wilhelm Carl: Warum wir der Jugend vertrauen, in: Gerst, Wilhelm Carl (Hrsg.): Gemeinschafts-Bühne und Jugend-Bewegung. Sammelband 1924. Zeitschrift des Bühnen-Volksbundes, Frankfurt am Main, S. 3–8, hier S. 5. 50 Ebd. S. 5 f. 51 Gerst: Warum wir der Jugend vertrauen (wie Anm. 49), S. 6. 52 Gerst: Warum wir der Jugend vertrauen (wie Anm. 49), S. 6 f. 53 Ebd. S. 7.

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reißen und in einen Teilnehmer kollektivistischen Erlebens verwandeln sollte. „Und ein nationales Erlebnis war es, als Anfang August 1923 neudeutsche Jugend zu Füßen des Schlosses Hirschberg vor 1500 deutschen Jünglingen in Weinrichs ,Tellspiel der Schweizer Bauern‘ das Hohelied der Befreiung aus der Knechtschaft aufsteigen ließ. Eine solche Stunde schmiedet Männer und schafft Werte für das ganze Leben, ist unmittelbar fortreißend.“ 54 „Das sind keine Ansätze mehr. Das ist Beginn, ist Anfangstat“,55 kommentierte Gerst. Wendet man sich mit diesem Stimmungsbild einer charismatischen Aufbruchsund Erneuerungsbewegung von 1924 der offiziellen Selbstdarstellung des Bühnenvolksbunds von 1928 zu, die mit dem von einer Arbeitsgemeinschaft der Berliner Reichsgeschäftsstelle des BVB unter der Leitung Gersts herausgegebenen Handbuch „Wille und Werk“ vorgelegt wurde, so vermittelt sich indes ein sehr verändertes Bild von der Arbeit des BVB. Der charismatische Impuls hat durch die Zentrale seine Festigung, Verstetigung, Veralltäglichung erfahren, seine Bürokratisierung zur und Organisation als ,Betriebsamkeit‘. Die 16 Kapitel des Handbuchs stellen vor: Sekretariat (Abteilung I), Organisation (Abteilung II), Buchhaltung und Kasse (Abteilung III), Personalreferat und Rechtsabteilung (Abteilung IV), Jugendspielpflege (Abteilung V), Heimatspielpflege (Abteilung VI), Puppenspielpflege (Abteilung VII), Theaterbetriebe (Abteilung VIII), Grenz- und Auslandsdeutschtum (Abteilung IX), Dramaturgie (Abteilung X), Erwachsenenbildung (Abteilung XI), Schriftleitung und Pressestelle (Abteilung XII), Bibliothek (Abteilung (XIII) Ausstellungen (Abteilung XIV), Fundusverwaltung (Abteilung XV), Rundfunk (Abteilung XVI), Bühnenvolksbundverlag. Die Kapiteleinteilung bildet also genau den Zuschnitt der Referate ab – das Inhaltsverzeichnis ist ein Organigramm. Und als Führung durch ein organisatorisches Gefüge will das im übrigen mit buchkünstlerischen Ausstattungselementen wie Originalillustrationen auf dem Frontispiz und im Text, Einband- und Textzeichnungen von Rudolf Wirth56 sorgfältig gestaltete Werk sich auch verstanden wissen. Unter der Überschrift „Ein Vorwort zum Empfang“ heißt es: Wer der Reichsgeschäftsstelle des Bühnenvolksbundes einen Besuch abstatten will, oder in einer dienstlichen Angelegenheit zu ihr kommt, muß zunächst im Sekretariat vorsprechen. Von hier wird er zu der Abteilung geleitet, die er zu sprechen wünscht. So ergeht es auch dem geneigten Leser dieses Handbuches. Das Vorzimmer muß durchschritten werden. Hier wird Auskunft erteilt über die Fragen des Bundes und

54

Ebd. Ebd. S. 8. 56 Zu diesem „vielseitigen Münchener Maler, Graphiker und Buchillustrator“, Architekten und Hochbauingenieur Murken, Axel Hinrich: Der Buchkünstler und Kinderbuchillustrator Rudolf Wirth (1900–1980), in: Die Schiefertafel. Zeitschrift für Kinderund Jugendbuchforschung, 4, Heft 2, 1983, S. 85–94, Zitat S. 85. Für den freundlichen Hinweis auf diesen Aufsatz danke ich Hermann-Josef Reudenbach (Aachen). 55

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hingewiesen zu den einzelnen Fachgebieten, die in den späteren Abschnitten ausführlich behandelt werden.57

Die Ablösung der expressionistischen Epoche durch Geist und Stil der Neuen Sachlichkeit scheint vernehmbar zu werden: „Hier schlagen keine brennenden Lohen zum Himmel und werfen imposante Schatten. Glut und Kraft strömt, durch Arbeitsdiziplin gebändigt, in tausend Gliedern mit unermüdlichem Kreislauf, sie trägt das Werk, verbreitet, vertieft, formt und vollendet. Die Begeisterung junger Individuen hat sich umgeformt in einen komplizierten Schaffensprozeß, in den Tausende in freudiger Werkhingabe sich eingegliedert haben. Sie haben sich eingegliedert als lebendige, geistige Menschen. Daher kommen auch die gewaltigen Spannungen, die unsere Arbeit fortgesetzt erzeugt. Mancher ist davon erschreckt (mancher ist auch schon vor Schrecken weggelaufen), aber diese Spannungen sind doch allein das Kennzeichen einer Bewegung, in der Persönlichkeiten um die Erfüllung einer großen kulturellen Aufgabe ringen mit dem Einsatz aller Kräfte und Leidenschaften. [. . .] Folgen Sie nun auf dem Wege durch die einzelnen Abteilungen, in denen Ihnen die geistigen Räume unserer Arbeit gezeigt werden sollen.“ 58

Der Durchgang beginnt im Privatsekretariat des Ersten Bundesvorsitzenden, zu dem 1926 der frühere preußische Kultusminister Dr. Boelitz gewählt worden war. Betont wird der Umfang der Geschäfte: Durch das Vorzimmer, das zugleich Postempfangsstelle ist, liefen im Jahr 1927 über 50.000 Postsendungen ein, das sind auf den Arbeitstag über 200. Diesen stehen 220.000 Postausgänge ohne Zeitschriftenwesen gegenüber. Jeder wichtige Vorgang muß in gemeinsamen Überlegungen behandelt und, wenn er bundeswichtig ist, dem Ersten Vorsitzenden vorgelegt werden. Das geht natürlich nicht ohne das berüchtigte Berliner „Tempo“. Knapp, klar und erschöpfend sind die Anforderungen, die an die Behandlung der Fülle sich täglich andrängender Fragen zu stellen sind. Die Empfänge auswärtiger Besucher, die in wichtigen Bundesangelegenheiten den Herrn Ersten Vorsitzenden sprechen wollen, drängen sich. Was diese Arbeitsbelastung für einen führenden Parlamentarier bedeutet, vermag nur zu ermessen, wer selbst einmal in solcher nervenanspannender Arbeit gestanden hat. Hier ist der geistige Mittelpunkt der ganzen Bewegung. Hier waltet die überragende Führerpersönlichkeit, die das Vertrauen des ganzen Bundes an diesen Platz gestellt hat, der alle Tätigen im Bunde freudige Gefolgschaft leisten und die sich darin von keiner Seite beirren lassen.59

Was diese Beschreibung vor allem vermittelt, ist zunächst: Die Leute haben viel zu tun – jährlich 50.0000 Posteingänge, 220.000 Ausgänge –, sie arbeiten 57 Wille und Werk (wie Anm. 17), S. 3. – Das Impressum nennt als Mitarbeiter: Dr. Richard Beitl; Dr. Thias Brünker; Dr. Ignaz Gentges; Franz Graetzer; Dr. Hildegard Lange; Alois Joh. Lippl; Hans Oeser; Gustav Christian Rassy; Rudolf Rößler; Wolfgang Rüttenauer; Bruno Sasowski. 58 Wille und Werk (wie Anm. 17), S. 5. 59 Ebd. S. 7.

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unter hohem Zeit- und Entscheidungsdruck, der nur mit dem Berliner Tempo zu bewältigen ist – das ist szs. die Borussifizierung katholischer60 Verbandsarbeit; woran sich Carl Sonnenschein bis zur völligen Erschöpfung an Leib und Seele als dauermobile61 Ein-Mann-Zentrale aufrieb, hat hier eine Institution verinnerlicht und als Stil ihres Verwaltungshandelns erfolgreich, so der Eindruck, auf Dauer gestellt. „Knapp, klar und erschöpfend“, darin bündelt sich die Trias von Dynamik, Präzision und Entscheidungsfreude. Versachlichung aller Aktivitäten bei hohem Tempo also – und dann plötzlich die ganz andere Diktion des Schlussabschnitts, der in den „geistige[n] Mittelpunkt der ganzen Bewegung“ führt, dorthin, wo Zentrum und Spitze zusammenfallen: in der Person der „überragende[n] Führerpersönlichkeit“, „die das Vertrauen des ganzen Bundes an diesen Platz gestellt hat“, „der alle Tätigen im Bund freudige Gefolgschaft“ leisten und wo sich keiner „von keiner Seite beirren“ lässt. Das ist nicht nur eine andere Sprache als die der Neuen Sachlichkeit, sondern auch ein ganz anderes Modell: das eines Kampfbundes von Führer und Gefolgschaft, in dem sich die begeisterte Hingabe an die Sache mit absoluter Unterordnung unter den Führer zu einer lückenlos geschlossenen Abwehrfront nach außen zusammenschließen; ein Führermodell. Die organisationssoziologische Selbstdurchdringung der Verbandsarbeit ist also nur die eine Seite dieses Betriebshandbuchs, seine andere die Sprache der Mobilmachung und kämpferischen Formierung im kompromisslosen Abwehrkampf der Weltanschauungen. „Wille und Werk“ ist ein Handbuch der Moderne, aber einer antiliberalen Moderne. Dass es in „nüchternen Zeilen“ spricht, hat deshalb seinen „besondere[n] Sinn“.62 ,Nüchtern‘ heißt: „Es bringt keine Geschichte und keine Geschichten.“ ,Nüchtern‘ heißt aber auch: „Unser Handbuch ist nüchtern wie ein militärischer Befehlszettel. Es soll es sein.“ 63 Welcher Erfolg entspricht diesem Selbstbild? Befragen wir wieder die Zahlen. Eine Eigenwerbung anfangs der zwanziger-Jahre nennt mehr als 30 Ortsgruppen und 500 dem BVB beigetretene Verbände und Vereine mit über 2 Millionen Mitgliedern. Allein im Jahr 1927 hatten nach Angaben von „Wille und Werk“ 120 60 Die Formulierung verzeichnet ein bisschen. Als Ganzes war der BVB auch, aber nicht nur katholisch. Vgl. die Richtigstellung bei Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 70 f. in Auseinandersetzung mit Stommer, Rainer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing“-Bewegung im Dritten Reich, Marburg 1985. 61 Bei Thrasolt: Dr. Carl Sonnenschein (wie Anm. 9) den Abschnitt über Sonnenschein als „Nachtschwärmer“: „Hat er irgendwo eine Zusammenkunft anberaumt, so erscheint er bisweilen erst nach 12 Uhr nachts; seine erste Frage ist die nach der letzten Verkehrsgelegenheit oder der Möglichkeit, in der Nähe zu übernachten; oder er hat bei einer andern Gelegenheit vorher schon einem ganz vertraulich mitgeteilt, daß er nicht vor 3 Uhr aufbrechen wolle [. . .]. Wie ein Mensch das so ohne Schlaf aushält? Ja, er baut oder schläft vor. Kaum sitzt er in der Straßenbahn oder Stadtbahn, so heißt es, wenn er nicht gerade Notizen macht: ,Am Nollendorfplatz steigen wir aus; geben Sie acht, daß wir nicht zu weit fahren‘, und schon schläft er.“ Usw. (S. 358.) 62 Wille und Werk (wie Anm. 17), S. 5. 63 Ebd.

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Stadtverwaltungen und Kommunalverbände die korporative Mitgliedschaft des Bühnenvolksbunds erworben.64 1928 waren 3.000 ehrenamtliche Mitarbeiter und 180 Angestellte, die Mehrzahl von ihnen unter 40 Jahren, für den Bund tätig.65 „Draußen im Reich“, schrieb die „Germania“ im Oktober 1924 über den BVB, ist er in wenigen Jahren zu einer großen Kulturorganisation angewachsen, die in fast allen deutschen Stätten die positiv christlichen Kreise zu Theatergemeinden zusammengeführt hat und durch gemeinsamen Theaterbesuch, Vorträge, Schriftenvertrieb, Vermittlung von Aufführungen christlicher Autoren, Pflege des Jugend- und Heimatspiels usw. eine segensreiche Tätigkeit entfaltet.66 Auch scheint der Verband erfolgreich Lobbyarbeit betrieben zu haben. Die „parlamentarischen Führer des katholischen Volkes“ würden die Organisation bei jeder Gelegenheit unterstützten und „die hochwürdigen Herren Bischöfe der einzelnen Diözesen“ ihrer Arbeit „nachdrückliche Unterstützung und Anerkennung“ zollen, teilte die „Germania“ mit.67 Dennoch waren die Schwierigkeiten, die sich dem BVB in den Weg stellten, erheblich. Gregor Kannberg, der die bisher gründlichste Untersuchung über den BVB vorgelegt hat, stellte fest, „daß der BVB ab 1926 von einer Krise in die nächste schlitterte. Fünfmal 1926, 1927/28, 1930, 1931 und 1933 wurde versucht, die Leitung des Bundes durch z. T. spektakuläre Aktionen zu entmachten.“ 68 Vor allem gab es finanzielle Misserfolge. Das Dramatische Theater in Berlin, das Gerst für den BVB übernommen hatte, um „die Bahn frei [zu] machen zum Aufbau eines Berliner Theaters, das dem Kulturwillen der christlichen und nationalen Kreise dient“,69 wurde unter seiner Geschäftsführung insolvent und musste im November 1924 seine Pforten schließen; das gleiche Schicksal ereilte die vom BVB ebenfalls übernommene „Schlesische Bühne E.V., Künstlertheater des BVB“ in Glatz. Das hatte bittere Folgen für das betroffene Ensemble70 und schwächte auch den BVB, „der sich im Wesentlichen aus Subventionen des Landes Preussen sowie seinen Mitgliedsbeiträgen finan64

Ebd. S. 36. Ebd. S. 47. 66 Der Bühnenvolksbund in Berlin. Die Vorgänge im Dramatischen Theater. Artikel in der „Germania“ vom 22. Oktober 1924; zitiert nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 55. 67 Ebd. 68 Kannberg, Gregor: Der Bühnenvolksbund. Aufbau und Krise des Christlich-Deutschen Bühnenvolksbundes 1919–1933, Köln 1997, S. 14. 69 Aus einem Verteidigungsartikel von Wilhelm Karl Gerst [ohne Titel] in der „Germania“ vom 21. Oktober 1924, zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 63. 70 „Man hat das Bühnenvolksbundtheater einfach zum Spielen zugelassen, ohne daß ein Pfennig Kaution vorhanden war, und hat damit erreicht, daß nunmehr ein ganzes Ensemble im Winter brotlos auf der Straße sitzt und den beschwerlichen Prozeßweg beschreiten muß, um vielleicht zu seinem Gelde zu kommen.“ Zit. aus einer Publikation der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger vom November 1924 bei Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 59. 65

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zierte, seit 1925/26 jedoch aus seinen finanziellen Schwierigkeiten nicht mehr restlos heraus[kam]“.71 Dass Gerst sofort nach der Übernahme des Dramatischen Theaters den verantwortlichen Spielleiter entlassen hatte, trug ihm überdies den Vorwurf ein, in unzulässiger Weise in künstlerische Fragen einzugreifen. Von dem „politisch und künstlerisch reaktionäre[n] Bühnen-Volksbund des Herrn Generalsekretärs Gerst“ sprach die „Berliner Zeitung“,72 und ebenfalls mit Bezug auf die Berliner Vorgänge äußerte im November 1924 eine von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger herausgegebene Publikation: „Das Wirken des Herrn Gerst im Dramatischen Theater darf als bekannt vorausgesetzt werden. Fristlose Entlassung eines Spielleiters, der genug künstlerisches Gewissen und Verantwortungsgefühl besaß, um sich dem Dilettantismus des Herrn Gerst zu widersetzen, Absetzung von Stücken, die angeblich die Weltanschauung der Mitglieder des BVB zu verletzen geeignet waren. Dagegen Repertoiregestaltung mit Werken von Schriftstellern, die dem BVB nahe stehen. Nicht Kunst sondern Tendenz ist die Losung.“ 73

Dass das Vorgehen des BVB beziehungsweise seines Geschäftsführers die Autonomie der in der Verantwortung des Theaterintendanten stehenden Spielplangestaltung verletze, war ein nicht unberechtigter Vorwurf – Gerst hatte damit die Aufführung von Yvan Golls „Methusalem oder der ewige Bürger“ sanktioniert, nach seinen Worten ein Stück voll „Unflätigkeiten und Gemeinheiten, wie sie noch nie über eine deutsche Bühne gegangen“ 74 waren. Er berührte damit ein grundsätzliches Problem der Verbandsarbeit des BVB, der über den Ankauf von Kartenkontingenten ja in der Tat Einfluss auf die Spielpläne sowohl in einem nationalen wie christlichen Sinn nehmen wollte. Andererseits scheint aber ein Misserfolg der Theaterarbeit des BVB genau darin bestanden zu haben, dass es so viele geeignete Stücke gar nicht gab. „Rudolf Roeßler konstatierte im Dezember 1928, ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt als Leiter der BVB-Kulturabteilung, daß sich 4/5 der Spielpläne nicht von denen der Volksbühne unterscheiden“,75 so dass „unklar“ blieb, „worin sich der weltanschauliche Anspruch des BVB widerspiegeln soll, wenn ein christliches Theater nicht möglich ist und das gewünschte Programm wie ein, an einigen Stellen, gestutzter Spielplan der Volksbühne aussieht.“ 76 „Die Verwirklichung eines eigenen Profils war für den BVB am ehesten in seinem Verlag und den Wanderbühnen möglich [. . .]“,77 aber auch für diese gab es kaum spielbare christliche Stücke, „und es bestand kein 71

Kannberg: Der Bühnenvolksbund (wie Anm. 68), S. 24 f. Zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 56. 73 Ebd. S. 58. 74 So Gerst in seiner Darstellung (wie Anm. 69), zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 62. 75 Kannberg: Der Bühnenvolksbund (wie Anm. 68), S. 32 f. 76 Ebd. S. 29. 77 Ebd. 72

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Bedürfnis nach einem christlichen Theater beim Publikum“.78 Insgesamt fungierte damit nach dem Urteil Kannbergs der „BVB in erster Linie nicht als geistiges, sondern als wirtschaftliches Konkurrenzunternehmen zur Volksbühne“.79 Dass er anders als die Volksbühne Anfang der dreißiger-Jahre noch Mitglieder gewinnen konnte, führt Kannberg auf die zunehmende Rechtstendenz zurück, der sich auch der BVB angeschlossen habe, „ein Verein der Angestellten, Beamten und Kaufleute [. . .].“ 80 Zu diesem Zeitpunkt hatte Gerst den BVB aber bereits verlassen (1928) – ein Schritt, bei dem verbandsinterne Querelen und persönliche Rivalitäten, aber auch dubiose Anschuldigungen wegen seiner homosexuellen Neigung, zu der Gerst sich bekannte, eine größere Rolle gespielt haben dürften als die tatsächlichen Misserfolge seiner Geschäftsführertätigkeit. IV. Was danach geschah, hat in manchem den Charakter eines Nachspiels. Wir treffen Gerst in den nun brisanteren ideologischen Kontexten wieder, aber er agiert eigentlich nicht anders als zuvor, auf neuen Positionen und Funktionen zwar, aber in den bekannten Rollen- und Verhaltensmustern. Nachdem er bereits 1926 aus dem BVB heraus einen in dessen Umfeld angesiedelten „Reichsausschuß deutscher Heimatspiele“ begründet hatte, der sich um die Förderung des Laienspiels bemühen sollte, erfolgte am 22.12.1932 die Gründung des „Reichsausschusses für deutsche Volksschauspiele“, der am 23.1.1933 ins Vereinsregister eingetragen wurde. „Der Reichsbund sah seine Aufgabe darin, das deutsche Freilichtspiel und Volksschauspiel zu pflegen, als Volksbildungsmittel zu nutzen und damit die kunstfernen Schichten zu erreichen. Um das zu leisten, sollten die Schauspieler und Regisseure aktiv mit dem Bund zusammenarbeiten, der eine beratende Funktion einnehmen wollte in Bezug auf die Textauswahl, Besetzung und Inszenierung; gleichzeitig versprach er finanzielle Unterstützung.“ 81 Als geschäftsführender Vorsitzende beabsichtigte Gerst ähnlich wie in den Anfängen des TKV, eine möglichst große Vielzahl von Unterstützergruppen für den Reichsbund zu gewinnen, so dass sich der Reichsbund in seiner Satzung als „politisch und weltanschaulich neutral“ bezeichnete. 82 Als sich jedoch am 30. Januar 1933 die Nachricht von der Berufung Hitlers zum Reichskanzler verbreitete, wurde die soeben stattfindende Tagung des Reichsbundes und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger abgebrochen und der anwesende 78

Ebd. S. 34. Ebd. S. 35. 80 Kannberg: Der Bühnenvolksbund (wie Anm. 68), S. 21. 81 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 64 f., mit Bezug auf Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft (wie Anm. 60), S. 24. 82 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 65. 79

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Schauspieler Otto Laubinger, seit 1932 Mitglied der NSDAP und Leiter der Fachgruppe Theater im Kampfbund für deutsche Kultur, bestürmt, „bei der zu erwartenden wichtigen Rolle, die er in der Theaterpolitik spielen werde, fördernd für den Reichsbund einzutreten.“ 83 Tatsächlich wurde unter dem Protektorat Laubingers, der im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Karriere machte und Präsident der neugegründeten Reichstheaterkammer wurde, bereits auf der vom 1.–4. Juni 1933 stattfindenden „Doppeltagung deutscher Dramatiker und Naturbühnenleiter“ der Reichsbund neu gegründet als „Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele eV.“ „Außer Gerst tauchten in den satzungsmäßigen Organen des neuen Reichbundes so gut wie keine Person des Vorgängerverbandes mehr auf“;84 Gerst als Geschäftsführer und Laubinger als Präsident bildeten den Vorstand. Vom 6.–9. August 1933 fand in Frankfurt eine von Gerst einberufene Tagung der „Arbeitsgemeinschaft katholischer Schriftsteller und Jugendführer“ statt. Auf dieser Tagung hielt Gerst eine Rede, „in der er die Arbeit des Reichsbundes als konsequente Weiterverfolgung der Intentionen des BVB darstellte. Ziel der Tagung war die Initiierung liturgischer Spiele, die man als katholische Konkretisierung des chorischen Dramas ansprechen kann. Diese Tagung ist Indiz dafür, daß Gerst mit seinem Reichsbund ursprünglich mehr christlich-nationale Vorstellungen verband, was Anfang 1935 auch mit zu seiner Entlassung als Geschäftsführer des Reichsbundes führte.“ 85

In der Folge drängte aber die konsequent nationalsozialistische Ausrichtung der Freilichtspiele diese christlich-liturgischen Zielsetzungen völlig in den Hintergrund. Dafür wurde Gerst für die Thingstättenbewegung aktiv. Auf der Suche nach geeigneten Grundstücken für die Errichtung von Thingplätzen bereiste er mit dem bereits erwähnten Dienstwagen samt Chauffeur bis Mitte 1934 ganz Deutschland. Über dieses neue Engagement schrieb Gerst als Geschäftsführer des Reichsbundes: „Der Thingplatz ist deutschem Wesen, deutschem Denken und Fühlen entsprungen. Bei der Gestaltung der Thingplätze wird auf die deutsche Vorgeschichte zurückgegriffen. Der Thing, die Volksversammlung der Germanen in vorchristlicher Zeit, ist der geistige Ausgangspunkt für diese Bewegung. In diesem Zurückgreifen auf die letzten völkischen Urgründe eines echten deutschen Kults kommt der Wille zum Ausdruck, das deutsche Volk auf einer gemeinsamen geistigen Basis zu vereinigen. Hier soll die Einigung im Kulturellen vollzogen werden. Über alle konfessionellen Gegensätze hinweg wollen wir zu einem arteigenen Kult kommen, der nicht im Gegensatz zu einer Konfession steht. [. . .] Der deutsche Thinggedanke ist nicht die Frucht einer literatenhaften Experimentiersucht.“ 86

83 Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft (wie Anm. 60), S. 25, zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 65. 84 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 66. 85 Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft (wie Anm. 60), S. 35, zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 69.

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Noch einmal kehren hier im Zeichen eines gegen die „Experimentiersucht“ der avantgardistischen Moderne gerichteten Literatur- und Kunstkonzepts die bekannten Grundmuster und Strebensrichtungen Gersts wieder. „Wie so oft argumentiert Gerst damit, dass eine Bewegung oder eine Sehnsucht direkt aus dem deutschen Volk kommt [. . .], hier sogar einem Bedürfnis entspringt, das bereits bei den Germanen seinen Ausdruck in kultischen Weihespielen fand. Des Weiteren soll durch diese gemeinsame geschichtliche Basis das deutsche Volk geeint werden, über alle konfessionellen Unterschiede hinaus.“ 87 Wie sehr er sich damit irrte, zeigt der Umstand, dass der von ihm aus „letzten völkischen Urgründe[n]“ heraufbeschworene „deutsche Thinggedanke“ von den Nazis selbst liquidiert, die Bezeichnung ,Thing‘ „schon seit 1933 als ,undeutscher Name‘ und ,sprachlicher Fremdling‘ kritisiert und schließlich ganz verboten wurde“.88 Als „Schlüsselfigur auf dem Weg zum nationalsozialistischen Freilichttheater“ 89 hatte Gerst nur kurze Zeit Erfolg. Bereits 1934 wurde er von seinen organisatorischen Tätigkeiten freigestellt. „Wenig später musste Gerst ebenso die Geschäftsführung des ,Volksschaftsverlags‘ [. . .] abgeben, dessen Tätigkeit ,zu sehr‘ auf die ,Förderung des katholischen Laienspiels ausgerichtet‘ gewesen sei. Ein denunzierter Briefwechsel mit Leo Weismantel führte schließlich endgültig am 8. Februar 1935 zur Entbindung Gersts von allen Aufgaben, gefolgt von der aller ,aus den katholischen Laienspielkreisen hervorgegangenen Dichter.‘“ 90 V. Was ist theatergeschichtlich aus dem Fall Gerst zu lernen? Erstens erinnert er an die desolate Lage vieler sowohl kommunaler als auch kommerziell betriebener Spielstätten in Kaiserreich und Weimarer Republik; aus dem Überangebot der Bühnen resultierte die Boulevardisierung der Spielpläne. Zweitens wird deutlich, wie stark die weltanschaulichen Fraktionierungen in die Verbandsarbeit hineinwirkten, und wie schwierig es unter diesen Umständen nicht nur war, größere Mitgliederzahlen zu gewinnen und kontinuierlich zu halten, sondern auch, eine solche Organisation zielgerichtet zu führen; verbandsinterne Streitereien und ständige Richtungskämpfe waren an der Tagesordnung und behinderten eine effektive Arbeit. Drittens erfährt man am Rande etwas von der Bedeutung der Kartelle in der Weimarer Republik auch im Bereich der Kultur und Kulturpolitik; so 86 Aus einem Aufsatz Gersts im Januar 1934. Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft (wie Anm. 60), S. 88, zit. nach Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 75. 87 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 75. 88 Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 50. 89 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 64. 90 Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 54, unter Zitat von Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft (wie Anm. 60), S. 79 u. 99.

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bestand etwa ein Kartellvertrag zwischen den deutschen Bühnen und den Organisationen der Bühnenverleger beziehungsweise -autoren, demzufolge nur Stücke aufgeführt werden durften, wenn sie von den Mitgliedern dieser Organisationen stammten, was dazu führte, dass der Bühnenvolksbund einen eigenen Verlag gründete, um dem Kartell beitreten zu können.91 Viertens zeichnet sich ab, wie konfliktträchtig die Grundidee war, auf den Spielplan Einfluss nehmen zu wollen von außen durch Personen oder Organisationen, die nicht immer vom Fach waren und damit den Widerstand selbstbewusster Dramaturgen und Intendanten herausfordern mussten. Und fünftens, aber das wurde ja bereits eingangs notiert, ist bemerkenswert, wie sehr auf diesem Feld der Theaterreformarbeit vor 1933 insbesondere die Idee des Freilichtspiels von den verschiedensten weltanschaulichen Strömungen propagiert wurde, so dass auch „die Entstehung des ,Things‘ nicht nur mit der liturgischen Bewegung eng verflochten war, sondern auch in der Wechselwirkung mit späteren Protagonisten der kirchlichen liturgischen Erneuerung entstand“.92 Betont man die Differenz zwischen den „ernsten philosophischtheologischen Bemühungen Grosches und Guardinis“ auf diesem Feld und „der totalitaristischen Vermischung der Begriffsfamilien von Religion und Politik in der Gemeinschaftsutopie Gersts“,93 kann man in dem Wirken des Katholiken Gerst für den Reichsbund und in seiner Behauptung, er habe damit auch nach 1933 ausschließlich die „Initiierung liturgischer Spiele“ anstreben wollen,94 einen skandalisierenden ,Fall‘ sehen; im Hinblick auf die Interferenz dieser Diskurse vor 1933 ist er aber vielleicht auch nur ein exemplarischer gewesen.95

91 Bachmaier: Wilhelm Karl Gerst (wie Anm. 1), S. 43, nach Stolzenberg: Ernst Leopold Stahl (wie Anm. 5), S. 50 f. 92 Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 73. 93 Ebd. 94 Ebd., unter Zitat Stommers: Die inszenierte Volksgemeinschaft (wie Anm. 60), S. 35. 95 Das legen die von Gebauer: Fritz Schaller (wie Anm. 9), S. 54 wiedergegebenen Einschätzungen des Architekten Fritz Schaller nahe, der Gerst aus dieser Zeit persönlich kannte. Demnach hatte Gerst „mit den Nationalsozialisten im Grunde überhaupt nichts am Hut. Sie waren nur für ihn das Pferd, auf das er sich setzen wollte.“

Betriebliche Identität und Ausländerbeschäftigung Das Beispiel der Firma Bayer Stephanie von Göwels und Markus Raasch Der Sonderweg ist zurück. Ein überwunden geglaubtes Interpretament der Bielefelder Schule wird von einigen Historikern adaptiert und gereicht der neueren Forschung zu intensiven Diskussionen über die Kontinuitäten der deutschen Geschichte. Der Fokus liegt unverändert auf der NS-Zeit, wobei der Blickwinkel auch auf die Zeit nach 1945 erweitert wird. Dies manifestiert sich etwa in den Auseinandersetzungen über den Zusammenhang zwischen europäischer Kolonialgewalt und nationalsozialistischem Vernichtungskrieg1 oder in den von Götz Aly angestoßenen Debatten über die Gemeinsamkeiten zwischen der 33er- und der 68er-Generation2 sowie über die materialistische Dimension des Holocaust. In seinem neuesten Buch macht Aly zum Beispiel eine signifikante, 1945 nicht endende Tradition deutschen Inferioritäts- und Neidgefühls als entscheidende Triebfeder der Judenvernichtung aus3. Auch in diesem Aufsatz soll die Kontinuitätsfrage gestellt werden – freilich mit innerer Distanz zu Großtheorien. Es soll um das Problem von betrieblicher Identität und Ausländerbeschäftigung im historischen Wandel gehen, eine Fragestellung, die bisher weitgehend vernachlässigt worden ist. Der „Cultural Turn“ hat das geschichtswissenschaftliche Interesse an der spezifischen Kultur von Unternehmen durchaus befördert.4 Nicht ansatzweise konnte jedoch die Distanz geschlossen werden zu den unzähligen unternehmenskulturellen Studien betriebswirtschaftlicher, soziologischer oder ethnologischer Ausrichtung, die zumeist an der Historizität menschlichen Daseins wenig Interesse zeigen. In besonderer Weise unterbelichtet bleibt die Frage, wie zumal deutsche Unternehmen damit 1 Grundlegend Gerwarth, Robert/Malinowski, Stephan: Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft, 33, Heft 3, 2007, S. 439–466. 2 Aly, Götz: Unser Kampf. 1968. Ein irritierter Blick zurück, Bonn 2008. 3 Aly, Götz: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, Frankfurt am Main 20112; wichtig auch Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 20052. 4 Als instruktiv kann immer noch gelten Nieberding, Anne: Unternehmenskultur im Kaiserreich. J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, München 2003.

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umgingen, wenn sie in größerer Zahl ausländische Beschäftigte zur Einstellung bringen mussten: Welche unternehmenskulturellen Werte und Ziele wurden grundsätzlich verfolgt, wie sah die betriebliche Politik gegenüber den Ausländern aus? Inwiefern waren Ausländer Teil der Unternehmenskultur, inwiefern Fremdkörper? Welche Kontinuitäten, welche Diskontinuitäten ergeben sich im Verlauf der deutschen Geschichte? Kultur wird dabei im Assmannschen Sinne als „symbolische vermittelte Gemeinsamkeit“ 5 und die betriebliche Sozialpolitik als ihr wichtigstes Medium verstanden6. Dieser Aufsatz beschreibt eine Mikrostudie: Untersuchungsgegenstand ist die Firma Bayer als eines der traditionsreichsten deutschen Unternehmen, wobei sich die Ausführungen auf ZeitzeugenGespräche und Zeitungsüberlieferung sowie vor allem diverse Materialien aus den Stadtarchiven Leverkusen, Dormagen und dem Bayer-Unternehmensarchiv begründen. Vorgegangen werden soll aus diachroner Perspektive in vier Schritten: Erstens wird der Blick auf das Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg gerichtet sein. Zweitens stehen NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg im Mittelpunkt. Anschließend soll in zwei Kapiteln die Bundesrepublik Deutschland Gegenstand der Betrachtung sein. I. Kaiserreich und Erster Weltkrieg Substantielle Bemühungen, eine spezifische Unternehmenskultur auszubilden, entwickelte die 1863 ins Leben gerufene Chemiefirma Bayer an der Wende zum 20. Jahrhundert.7 Den äußeren Anlass bot der Aufbau eines voll integrierten Großwerks im niederrheinischen Bauerndorf Leverkusen-Wiesdorf. Die eklatante, oft beklagte „Wiesdorfer Einöde“ paarte sich mit Antipathien der Ortsbevölkerung sowie einem verhältnismäßig hohen Arbeits- und Gesundheitsrisiko, so dass sich die Unternehmensleitung zu kompensatorischen Maßnahmen veranlasst sah. Unter Federführung von Carl Duisberg wurden sodann zum Beispiel spezielle Zulagen und Prämien eingeführt, Wohnungen, Kaufhäuser und eine Badeanstalt er-

5 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 20055, S. 139. 6 In Anlehnung an Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich. (wie Anm. 4), S. 11 ff. und in Verpflichtung einer politischen Kulturgeschichte, dazu Frevert, Ute: Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main, S. 7–26. 7 Zu den Anfängen der Firma Bayer zum Beispiel Erker, Paul: Die Bayer AG. Entwicklungsphasen eines Chemiekonzerns im Überblick, in: Tenfelde, Klaus/Czikowsky, Karl-Otto/Mittag, Jürgen/Moitra, Stefan/Nietzard, Rolf (Hrsg.): Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns, Essen 2007, S. 35–56, hier S. 35 ff.; Verg, Erik: Meilensteine. 125 Jahre Bayer 1863–1988, Köln 1988, S. 24 ff.; Pohlenz, Michael u. a. (Hrsg.): Bayer kommt an den Rhein. Wiesdorf und das Werk 1891–1912, Leverkusen 1991.

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richtet sowie etliche Vereine ins Leben gerufen.8 Im Jahre 1912 gab die Firma Bayer bezeichnenderweise knapp 270.000 Mark für gesetzlich festgelegte Sozialmaßnahmen und über 2,2 Millionen Mark für betriebliche Sozialleistungen aus.9 Über alle Maßnahmen wölbte „Papa Duisberg“ 10 dabei die Sicherheit in einer unsicheren Welt versprechende Idee der Familie Bayer. Sie sollte den narrativen Kern der Bayer-Unternehmenskultur bilden und wurde entsprechend offensiv in der neu gegründeten Werkszeitung und in allen offiziellen Verlautbarungen propagiert. Die Werte und Ziele, die unter dem Rubrum der Familie Bayer hervortraten, waren dabei eindeutig bürgerlich-konservativ: Sparsamkeit, Zuverlässigkeit, Treue und Standesbewusstsein wurden befördert. Das Entlohnungssystem etwa war konsequent leistungs- und dienstalterbezogen. Jeder Beschäftigte bekam u. a. eine Jahresgratifikation in Höhe eines durchschnittlichen Jahreseinkommens, die aus einem Grundbetrag, einer dividendenabhängigen Gewinnbeteiligung und nicht zuletzt einer Treueprämie – gestaffelt nach Dienstjahren – bestand.11 Auch die Urlaubsgewährung richtete sich nach der Beschäftigungszeit.12 Massiv bewarb die Unternehmensleitung die neue Werkssparkasse, wobei sorgsam unterschieden wurde zwischen einer Arbeiter- und einer höher bezuschussten Angestellten- oder Beamtenkasse. Die Jugendsparkasse der Firma präfigurierte in ihrem sittlich begründeten Impetus eine staatliche Kontrollmaßnahme des Weltkriegs13. Sie war mithin eine Zwangseinrichtung für alle minderjährigen Arbeiter und Arbeiterinnen, die zur „Beschaffung einer Aussteuer bei Eheschließungen oder für die Militärzeit“ gedacht war.14 Zur Förderung ständisch-patriarchalischer Strukturen erhielten die den Angestellten vorbehaltenen Elitevereine wie der Tennis- oder der Ruderklub von Werksseite die größte Unterstützung.15 Ziel war bei allem Bemühen um ein soziales Sicherheitsversprechen die Etablierung von Belegschaftsgruppen mit jeweils eigenem, auch materiell deutlich werdendem Selbstverständnis. Seinen wichtigsten Inszenierungs- und Erinnerungsraum 8

Zur betrieblichen Sozialpolitik der Firma Bayer und deren Sinnstiftungsabsichten ausführlich Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 111 ff. 9 Gausing, Sybille: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg. Zum Spannungsfeld von Kriegswirtschaft, Firmeninteresse und Arbeitnehmerbelangen bei den Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co in Leverkusen (unveröffentlichte Magisterarbeit im Bayer-Archiv), Münster 2001, S. 11 f. 10 Zit. nach Verg: Meilensteine (wie Anm. 7), S. 115. 11 Zu Löhnen und Prämien Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 216 ff. 12 Gausing: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 9), S. 13. 13 Zur Verordnung über den Sparzwang vom 18. März 1916 und seinen Folgemaßnahmen zum Beispiel Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989, S. 163 ff. 14 Jahresbericht 1912, in: BAL 220/1.1, S. 22 f. Zu den Sparkassen Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 205 ff. 15 Zum Vereinswesen ebd. S. 229 ff.

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fand die Erzählung der Familie Bayer in den schon bald fest etablierten, sorgsam mit Hilfe der Werksvereine choreografierten Betriebsfesten.16 Als „Familienfest[e] im wahrsten Sinne des Wortes“ 17 führten sie eindrucksvoll die bürgerlichständische, aber auch die deutschnationale Codierung der Unternehmenskultur vor Augen: Man saß für gewöhnlich an langen, den ganzen Raum durchmessenden Tischen, der Werksleiter am gleichen Tisch wie der Arbeiter. Allerdings waren die Belegschaftsgruppen streng separiert positioniert, der Werksleiter stets an der Bühne, die Arbeiter im hinteren Teil des Raumes. Es gab zwei große Arten von Betriebsfesten: Die Jubilar- und die Nationalfeste. Beide indizierten, dass sich Treue und Zuverlässigkeit lohnen. Denn wurden bei ersteren die langjährig Beschäftigten in Anwesenheit ihrer Ehefrauen und ausgesuchter Arbeitskollegen besonders geehrt, so waren bei letzteren ausschließlich diejenigen Werksangehörigen zugelassen, die ihre Bereitschaft zur Betriebstreue durch eine Mitgliedschaft in einem Werksverein bereits unter Beweis gestellt hatten. Sogenannte politisch Unzuverlässige, zumal Sozialdemokraten, waren bei den Festivitäten nicht zugelassen, während zum Beispiel Arbeiter, die dem Werk noch keine 25 Jahre angehörten, wegen ihrer besonderen königstreuen Gesinnung an den Festen der Silberjubilare teilnehmen durften. Die Sinnstiftungsbemühungen im Zeichen einer nationalkonservativ-ständisch konturierten Familie Bayer erhoben unverkennbar ganzheitlichen Anspruch, eine Trennung von Berufs- und Privatsphäre wurde kaum vorgenommen. So sollte der Sozialsekretär der Farbenfabriken auch „in allen persönlichen Angelegenheiten“ als Ratgeber fungieren, Rechtsauskünfte erteilen und „Unterstützung in allen staatsbürgerlichen Angelegenheiten“ gewähren.18 Die Fabrikpflegerin beriet die weiblichen Betriebsangehörigen „in geschäftlichen und privaten Angelegenheiten“, das heißt in Sachen Wohnungsangelegenheiten, „Gesundheitspflege, Ernährung, zweckmäßige Kleidung, empfehlenswerte Lektüre“.19 An der unternehmenskulturellen Ausrichtung der Firma Bayer änderte sich trotz der Belastungen im Ersten Weltkrieg nichts, als sie zu einem der wichtigsten kriegswirtschaftlichen Unternehmen in Deutschland avancierte und u. a. in großem Umfang Munition sowie Sprengstoff produzierte.20 Zwar kam das Ver16 Dazu ausführlich Raasch, Markus: Heilige Zeit. Deutsche Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel von Betriebsfesten, in: Schreiber, Waltraud/Gruner, Carola (Hrsg.): Raum und Zeit. Orientierung durch Geschichte, Neuried 2009, S. 297– 336, hier S. 300 ff.; Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 245 ff. 17 Die Erholung 7 (1910), S. 47. 18 Jahresbericht 1912, S. 31 f., in: BAL 220/1.1. 19 Ebd. 20 Zur Unternehmensentwicklung im Ersten Weltkrieg zum Beispiel Plumpe, Gottfried: Die I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin 1990, S. 63 ff.; Portz, Thomas: Großindustrie, Kriegszielbewegung und OHL, Siegfrie-

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einsleben weitgehend zum Erliegen und auf größere Feste wurde verzichtet, fast alle bei Kriegsbeginn gefällten sozialpolitischen Sparbeschlüsse (Kriegszeit sollte nicht auf Dienstaltersprämien angerechnet werden, Wegfall von Wohnungsprämien etc.)21 wurden jedoch bald zurückgenommen22. Sinnfälligerweise schuf das Unternehmen während des Krieges vermehrt Wohnraum und führte großzügige Teuerungszulagen ein. Wiederholt nahm es zwecks Besserstellung seiner mehr als 10.000 Beschäftigten in Kauf, gegen die Absprache mit anderen Sprengstoffunternehmen über versprochene Lohnhöhen zu verstoßen.23 Die Farbenfabriken unternahmen für ihre Belegschaft in zunehmendem Maße Lebensmittelgroßkäufe auf dem Schwarzmarkt und unterhielten eine eigene Bäckerei sowie Schweinemästerei mit Metzgerei, wobei diese bei der Ausgabe gehalten waren, den Gesichtspunkten politische Zuverlässigkeit und Status im Unternehmen besondere Berücksichtigung zukommen zu lassen.24 Spezielle Aufmerksamkeit wurde den eingezogenen Belegschaftsangehörigen und kriegsgeschädigten Familien zuteil. Der Frauenverein der Farbenfabriken versandte beispielsweise Hilfspäckchen für Frontsoldaten.25 Frauen der Soldaten und Kriegsmütter erhielten eine bevorzugte Behandlung bei der Verteilung von Kohle.26 Bei sämtlichen Unterstützungsleistungen für Kriegerfamilien wurden diejenigen mit höherem Dienstalter bevorzugt.27 Die ausländischen Beschäftigten, die während des Ersten Weltkriegs erstmals in größerem Maße bei Bayer zum Einsatz kamen, hielt die betriebliche Sozialpolitik geflissentlich auf Distanz. Sie waren das Fremde der Familie Bayer: Die zu Beginn des Krieges von der Unternehmensleitung ausgegebene Parole, die feindlichen Nationen angehörenden Beschäftigten sofort zu entlassen und die den und Kanzlersturz. Carl Duisberg und die deutsche Außenpolitik im Ersten Weltkrieg, Lauf 2000, S. 41 ff.; Gausing: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 9), S. 15 ff. Im Ganzen wird der Erste Weltkrieg in der Bayer-Historiografie fast ausschließlich aus Perspektive der IG Farben-Gründung betrachtet, so dass wesentliche Aspekte der betrieblichen Entwicklung merkwürdig unterbelichtet bleiben. Bezeichnenderweise spart Erker in einem neueren Überblick zur Konzerngeschichte die Zeit zwischen 1914 und 1918 aus: Erker: Die Bayer AG (wie Anm. 7). 21 Gausing: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 9), S. 53. 22 Ebd. S. 68. 23 Sitzung des Ausschusses für Arbeiter-Angelegenheiten (AfAA), 15. Februar 1917, in: BAL 214/4. 24 Aus den ersten Anfängen des Werkes Dormagen, in: BAL 325/83; Bericht über die am 22. Februar 1918 im Gastzimmer der Wirtschaft Meisen stattgefundene Versammlung, in: BAL 8/3. 25 Gausing: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 9), S. 44. 26 Sitzung des Elberfelder Ausschusses für die Abgabe von Brennmaterialien, 4. Juli 1917, in: BAL 201/23. 27 Gausing: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 9), S. 70 ff.

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neutralen zur freiwilligen Kündigung zu bewegen,28 wurde in Anbetracht der kriegswirtschaftlichen Begehrlichkeiten schnell revidiert. Der Arbeitskräftebedarf wuchs ob der „immer größer werdenden Anforderungen der Heeresverwaltung an die Deutsche Wehrkraft“ 29 fortwährend. Ausländische Beschäftigte sollten nunmehr mit aller Macht an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert werden. Im Mai 1915 übernahm Bayer zudem erstmals Kriegsgefangene30 und „die [. . .] gemachten Erfahrungen [. . .] ermutig[t]en zu weiteren Versuchen“ 31. Bei allen größeren Fabrikerweiterungen – 1917 wurde aufgrund der Anforderungen des Hindenburg-Programmes auf der anderen Rheinseite in Dormagen gleich ein neues Werk errichtet32 – kamen massenhaft Ausländer zum Einsatz. Vorzugsweise handelte es sich dabei um Kriegsgefangene33. Über tausend russische Kriegsgefangene dürften zum Beispiel bei der Errichtung der neuen Sprengstofffabrik in Dormagen zum Einsatz gekommen sein, eine neue Kautschukanlage wurde durch ca. 900 Soldaten, vor allem französische Kriegsgefangene, gebaut. Überdies kamen bei Bayer ausländische Zivilarbeiter vor allem aus den beiden deutschen Generalgouvernements zum Einsatz, darunter zum Teil „freiwillig“ Geworbene, die der bewussten Erhöhung der Lebensmittelpreise und der Lohnherabsetzung durch die deutsche Besatzung Tribut gezollt hatten, zum Teil aufgrund der „Verordnung zur Bekämpfung der Arbeitsscheu“ zwangsweise Deportierte34. Das Werk Dormagen etwa beschäftigte 200 zivile Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus Belgien und in Leverkusen kamen über tausend Ausländer aus Russland-Polen zum Einsatz, darunter auch 200 Zwangsarbeiterinnen

28 Sitzung AfAA, 5. August 1914, in: BAL 214/4. Am 11. August 1914 waren bei den Farbenfabriken in Leverkusen beschäftigt: 47 Österreicher, 40 Holländer, 5 Belgier, 1 Däne, 4 Italiener, 3 Schweizer sowie 3 Russen: Sitzung AfAA, 11. August 1914, in: BAL 214/4. 29 Plakat, 2. Juli 1915, in: BAL 201/1–2. 30 Protokoll der Direktoriumskonferenz, 21. Mai 1915, in: BAL 12/4. 31 Sitzung AfAA mit Vertretern der Arbeitersparkasse, 10. August 1915, in: BAL 214/4. 32 Zur Entstehungsgeschichte des Werkes Dormagen zum Beispiel Raasch, Markus: „Wir sind Bayer“. Eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen (1917–1997), Essen 2007, S. 35 ff.; Raasch, Markus: Wie Bayer nach Dormagen kam, in: Jahrbuch für den Rhein-Kreis Neuss (2007), S. 94–101. 33 Allgemein zu Kriegsgefangenschaft in Deutschland zwischen 1914 und 1918 Hinz, Uta: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgegenschaft in Deutschland 1914–1921, Essen 2006. 34 Zu zivilen „Zwangsarbeitern“ während des Ersten Weltkrieges zum Beispiel Hinz, Uta: Zwangsarbeit, in: Hirschfeld, Gerhard u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u. a. 20042, S. 978–980; Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin u. Bonn 1985, S. 28 ff.; speziell zu den belgischen Zwangsarbeitern Thiel, Jens: „Menschenbassin Belgien“. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007.

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aus Lodz35. In eigentlichen „Sprengstoffbetrieben“ wurden Ausländer allerdings nicht eingesetzt.36 Es obwalteten die sozialpolitischen Prinzipien der äußeren Separation und der weitgehenden materiellen Gleichbehandlung mit den ebenfalls durch den Krieg erheblich getroffenen deutschen Beschäftigten. Der Sonderstatus der Ausländer besaß dies- und jenseits der gesetzlichen Vorgaben partiellen Charakter. Für die militärischen und zivilen Zwangsbeschäftigten wurden teilweise bewachte Wohnbaracken aufgestellt, teilweise brachte man sie in Wirtshäusern der Umgebung unter.37 „Um das Interesse der Gefangenen an der Arbeit zu steigern“, wurde ihnen „innerhalb der Fabrik erhöhte Freiheit gelassen“.38 Die Verpflegungssituation der Ausländer unterschied sich prinzipiell nicht von der der deutschen Beschäftigten wie auch an sämtliche Ausländer die einschlägigen Leistungszulagen gezahlt wurden. Ausländer sollten „ihren Leistungen entsprechend, wenn von ihnen dieselbe Arbeit verlangt wird wie von deutschen Arbeitern, den deutschen Arbeitern allmählich gleichgestellt werden“.39 Selbst Kriegsgefangene konnten eine Wochenprämie oder einen Zuschuss beim Nahrungsmittelbezug erhalten.40 Für russisch-polnische Zivilarbeiter nahm die Firma Bayer sogar die Gewährung von Dienstaltersprämien in Aussicht – jedoch lediglich auf Antrag des Betriebsführers und mit der Maßgabe, sie entweder an ihre Familien in der Heimat zu schicken oder in der Bayer-Sparkasse anzulegen.41 Das betriebliche Strafregime bewegte sich im Regelfall im Rahmen der Gesetzestexte, wobei diese Haltung auch aus der Erfahrung schöpfte, dass „eine unsachliche Behandlung [. . .] nur zu offener oder stiller Widersetzlichkeit anreizt[e].“ 42 Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben durfte kein Kontakt mit deutschen Beschäftigten stattfinden. Diesen war der Zutritt zu den Gefangenenlagern verboten, ebenso das Stehenbleiben an der Umzäunung [. . .] und auf den umliegenden Fabrikstraßen [. . .]. „Jeder Verkehr mit den Gefangenen während und außerhalb der Arbeitszeit, abgesehen von rein dienstlichen Anweisungen“, hatte zu unterbleiben. Insbesondere galten „die Darreichung oder Besorgung von Lebensmitteln, Getränken und Tabak in jeder Form, die mündliche und schriftliche Übermittlung irgendwelcher 35

Sitzung AFAA, 25. Januar 1917, in: BAL 214/4. Gausing: Unternehmerische Sozialpolitik im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 9), S. 52. Im Mai 1917 waren in Leverkusen 12.783 Menschen beschäftigt, davon 284 Kriegsgefangene u. 836 Russen/Polen: [Belegschaftszahlen] Farbenfabriken Bayer, in: BAL 211/1. 37 Sitzung AfAA, 20. Dezember 1917, in: BAL 214/4. 38 Sitzung AfAA, 2. Dezember 1915, in: BAL 214/4. 39 Besprechung, 8. November 1917, in: BAL 214/11; vgl. Sitzung AfAA, 7. Februar 1918, in: BAL 214/4; Sitzung AfAA, 14. Februar 1918, in: BAL 214/4. 40 Sitzung AfAA, 2. Dezember 1915, in: BAL 214/4. Im Mai 1917 erhielten zum Beispiel in Leverkusen von 142 russischen Kriegsgefangenen 74 besondere Prämien, alle 134 serbischen Kriegsgefangenen bekamen sämtliche Prämien für gute Arbeitsleistungen: Brief Gefangenenlager an das Direktorium, 10. Mai 1917, in: BAL 211/4. 41 Sitzung AfAA, 11. Januar 1917, in: BAL 214/4. 42 Sitzung AfAA, 27. September 1917, in: BAL 214/4. 36

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Nachrichten und Aufträge an und von den Gefangenen, die Besorgung jeder Korrespondenz, die Beihilfe bei etwaigen Fluchtversuchen als Landesverrat und w[u]rden nach den [. . .] geltenden Kriegsgesetzen bestraft“.43 Der Zugang zu den sozialen Einrichtungen, vom Schwimmbad bis zum Werksverein, war dem Gros der ausländischen Bayer-Beschäftigten versperrt. Ebenso Relativierung wie Manifestation findet das Fremde der ausländischen Beschäftigten gegenüber der Familie Bayer letzthin in dem Umstand, dass ein Großteil der auf dem Bayer-Gelände tätigen Ausländer gar kein sozialpolitisches Ziel sein konnte. Denn viele Ausländer waren bei externen Baufirmen angestellt. II. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Im Nationalsozialismus erfuhr die Unternehmenskultur der Firma Bayer, die 1925 im IG-Farben-Konzern aufgegangen war,44 durchaus signifikante Akzentverschiebungen. Der nationalsozialistische Geist der Betriebsgemeinschaft hielt Einzug in die weiterhin extensive Sozialpolitik des Unternehmens45. „In voller Selbstverantwortung“ bekannten sich die Firmenverantwortlichen dazu, ihre Betriebe „mit dem Gemeinschaftsgeist des Nationalsozialismus zu durchdringen“.46 So wie durch das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934 die Belegschaft zur „Gefolgschaft“ wurde, so firmierten Betriebsfeiern nunmehr als „Kameradschaftsfeiern“, bei denen das Anstimmen des Horst-Wessel-Liedes gleichsam obligatorisch war und zwischen den Programmpunkten das 43

Plakat, 2. Juli 1915, in: BAL 201/1–2. Die Werke in Leverkusen, Dormagen, Uerdingen und Elberfeld bildeten die Betriebsgruppe Niederrhein der IG Farben. Die Betriebsgruppe Niederrhein umfasste im Jahre 1933 12.518 Beschäftigte, davon 9.568 in Leverkusen. 1939 hatte sich die Belegschaftsstärke auf 21.774 erhöht, davon 14.786 in Leverkusen. Anfang 1945 lag das Quantum der Betriebsgruppe inklusive der Eingezogenen bei 29.563 Beschäftigten, davon 14.938 in Leverkusen. In Dormagen arbeiteten zu diesem Zeitpunkt nominell 5.380 Menschen: Nach BAL 265/1.2, Stand 1. Januar. Zur Geschichte der IG Farben im Nationalsozialismus zum Beispiel Hayes, Peter: Industry and ideology. IG Farben in the Nazi Era, Cambridge u. a. 1987; Jeffreys, Diarmuid: Weltkonzern und Kriegskartell. Das zerstörerische Werk der IG Farben, München 2011; Borkin, Joseph: Die unheilige Allianz der I.G. Farben. Eine Interessengemeinschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main u. New York 19813; Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945, München 2000; Plumpe: Die I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 20), S. 546 ff. Eine Geschichte Bayers in der IG Farben-Zeit ist bisher nicht geschrieben worden, anders als zum Beispiel für Hoechst: Lindner, Stephan H.: Hoechst. Ein I.G. Farben-Werk im Dritten Reich, München 20052. 45 Die außertariflichen Leistungen der IG Farben betrugen im Jahre 1936 367,0 Prozent ihrer gesetzlichen Sozialaufwendungen, 89,5 Prozent des Gewinns und 21,3 Prozent der gesamten Lohn- und Gehaltssumme: Zollitsch, Wolfgang: Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Jahre 1928 bis 1936, Göttingen 1990, S. 117. 46 Betriebsordnung des Werkes Dormagen der I.G. Farben, in: BAL 8/3; Ausführungen zur Frage 13 des Fragebogens der DAF, 11. September 1937, in: BAL 61/6. 44

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„Sieg Heil“ auf den Führer stand.47 Die Werksbibliotheken wurden mit NS-Literatur befüllt.48 Regelmäßig zeigte das Werk Propagandafilme. Das Antreten zum Appell wurde für die Lehrlinge mindestens einmal in der Woche und für die Gesamtbelegschaft eines Werkes einmal im Quartal verpflichtend, wobei Werksleitung sowie hochrangige SA- und SS-Mitglieder ostentativ in der ersten Reihe positioniert waren. Auch an den Feiern zum 1. Mai49 partizipierte ein Werk als Ganzes, dem „Arbeiter der Faust und Stirn“ 50 huldigend, im Regelfall in Sechser-Reihen marschierend, die uniformierten Parteigranden in vorderster Reihe. Zweifelsohne war die Familie Bayer ein Stück weit zur soldatischen Marschgemeinschaft geworden, zur hierarchisch verfassten Unterstellungsgemeinschaft im „Zeichen des Hakenkreuzes“ 51. Allerdings blieben zentrale unternehmenskulturelle Elemente auch im Nationalsozialismus erhalten. Leistung, Treue und selbst ständische Befindlichkeiten figurierten unverändert als Leitwerte. Die Leistungsentlohnung wurde ebenso weiter ausgebaut wie das Akkordprämiensystem. Die Wohnungspolitik stärkte ständische Hierarchien: das freistehende Einzelhaus war dem Werksleiter vorbehalten, der Betriebsvorstand erhielt die Doppelhaushälfte, der Abteilungsleiter in jedem Fall einen eigenen Garten, in größeren Wohnungen lebten die Meister, für das Gros der Beschäftigten wurden 2–3 Zimmerwohnungen mit Küche und Nebenräumen errichtet.52 Langjährige Beschäftigte, zumal Jubilare, fanden ungeachtet ihrer Parteimitgliedschaft weiterhin einen vorderen Platz an den langen Tischen bei größeren Betriebsfeiern und sie marschierten am 1. Mai ebenfalls in exponierter Position. Die unternehmenskulturellen Bestrebungen zielten nicht auf die klassenlose Gesellschaft ab und bezeichnenderweise verdrängte der Begriff der Betriebsgemeinschaft auch in der Sprache der Unternehmensführung den Terminus der Familie nicht. Unverändert wurde „das untrennbare Band einer großen Familie“ beschworen.53 So stark sich die unternehmenskulturellen Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus ausnahmen, so fatal speziell war der Umgang des Unternehmens mit seinen ausländischen Beschäftigten zwischen 1939 und 1945. In den Bayer-Werken in Leverkusen und Dormagen lag der Anteil der Ausländer an der Effektivbelegschaft bei etwa 35–40 Prozent, das heißt über dem Schnitt in der deutschen Wirtschaft. Im Jahre 1944 arbeiteten am ehemaligen Bayer-Fir47 Zu Bayer-Festivitäten während der NS-Zeit ausführlich Raasch: Heilige Zeit (wie Anm. 16), S. 311 ff. 48 Zum Beispiel Werkkonferenz Dormagen, 19. Mai 1933, in: BAL 8/12.1; „Unsere neue Werkbücherei Dormagen“, in: Von Werk zu Werk, November 1937. 49 Raasch: Heilige Zeit (wie Anm. 16), S. 315 f. 50 Zit. nach 50 Jahre Bayer-Schwimmbad, in: Rheinischer Anzeiger, 24. Juli 1987. 51 Weihnachtsfeier bei der I.G. Farben Dormagen, in: Neuß-Grevenbroicher Zeitung, 30. Dezember 1933. 52 Bekanntmachung der Werksleitung Dormagen, 7. Juli 1938, in: BAL 325/58; Zeitzeugengespräch mit Werner K. vom 1. Juni 2004. 53 „Weihnachten in der Fabrik“, in: Rheinischer Anzeiger, 29. Dezember 1933.

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mensitz knapp 4.00054 und am linken Niederrhein etwa 1.70055 ausländische Arbeiter, annähernd 90–95 Prozent von ihnen waren zwangsweise beschäftigt. Die meisten waren Polen und sog. Ostarbeiter aus der Sowjetunion, die über Konskriptionslisten oder gewaltsame Razzien an den Rhein gekommen waren.56 Die betriebliche Sozialpolitik beschäftigte sich intensiv mit ihnen und suchte sie nachdrücklich als das komplementäre Gegenstück der Werksfamilie zu entmenschlichen: Die formale Separierung war das eine. Die Vereine waren ihnen versperrt, die Ausländer hatten eigene Besuchszeiten bei Betriebsärzten oder in der Sozialabteilung,57 das Werk veranstaltete für sie eigene Filmvorführungen und Betriebsfeste, in ostentativer Abgrenzung zu den deutschen Feiern nicht im Festsaal, sondern im Barackenlager, ohne Musik, Alkoholausgabe und Beteiligung der Werksleitung.58 Das andere war die Interdependenz von Gefälligkeitspolitik und Ausbeute. Die Sozialleistungen für die deutschen Beschäftigten wurden im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg auch nach 1939 weiter ausgebaut. Bezeichnenderweise zahlte das Unternehmen noch 1944 eine Jahresprämie aus,59 Belegschaftsmitglieder an der Front erhielten fortwährend ein sog. LiebesgabePäckchen samt Zigaretten und Geld,60 ihre Familien wurden vom Unternehmen ebenso betreut und finanziell unterstützt wie Bombengeschädigte. Bis fast zum Kriegsende schickte die Firma ihre Beschäftigten kostengünstig auf Erholungsfahrten,61 es gab noch mehr Gefahren- und Sozialzulagen als vor dem Krieg. Speziell für Fliegergeschädigte verausgabte das Unternehmen abends ein kostenloses Essen samt Bier.62 Diese extensive Sozialpolitik war nur möglich, weil das

54 Zur Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in Leverkusen während des Zweiten Weltkrieges Stefanski, Valentina Maria: Zwangsarbeit in Leverkusen. Polnische Jugendliche im I.G. Farbenwerk, Osnabrück 2000, S. 59 ff. 55 Zur Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in Dormagen während des Zweiten Weltkrieges Raasch: „Wir sind Bayer“ (wie Anm. 32), S. 250 ff. 56 Allgemein zu Anwerbung und Zwangsrekrutierung ausländischer Arbeiter während des Zweiten Weltkrieges Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart u. München 2001, S. 35 ff. Zu den Wegen speziell an den Rhein: Stefanski: Zwangsarbeit in Leverkusen (wie Anm. 54), S. 71 ff. 57 Zum Beispiel Rundschreiben der Werksleitung Dormagen, 12. Februar 1941, in: BAL 325/39; Rundschreiben der Werksleitung Dormagen, 17. Februar 1942, in: BAL 325/41; Bekanntmachung der Werksleitung Dormagen, 8. November 1941, in: BAL 325/85. 58 Zum Beispiel Freizeitveranstaltung der polnischen Zivilarbeiter, 16. Mai 1943, in: BAL 311/3.7. 59 Rundschreiben, 7. Dezember 1944, in: BAL 325/43. 60 Zum Beispiel Rundschreiben, 21. Oktober 1938, in: BAL 325/39; „Werkskamerad-Frontkamerad“, in: Von Werk zu Werk, Januar 1941. 61 Zum Beispiel Rundschreiben, 26. Januar 1943, in: BAL 325/43; Gamerdinger an Hofmann, 12. Juni 1947, in: BAL 325/73. 62 Der Amtsbürgermeister von Dormagen an die IG Farben, 4. Oktober 1943, in: Stadtarchiv Dormagen 3233/37.

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Unternehmen in zunehmendem Maße polnische und Ostarbeiter anforderte, da diese im Wesentlichen lediglich nach tatsächlich geleisteter Arbeit bezahlt wurden.63 Das Versorgungsniveau konnte zumal im Verhältnis zum Ersten Weltkrieg auf hohem Niveau gehalten werden (bis 1942 gab es zum Beispiel im Werk Dormagen viermal die Woche Fleisch, bis Anfang 1945 zweimal)64, weil polnische und Ostarbeiter schon aufgrund von staatlichen Vorgaben schlechter ernährt werden sollten und das Unternehmen diese bei Bedarf noch mal unterlief.65 Die ausländischen Beschäftigten mussten nicht nur die niedrigste und gefährlichste Arbeit verrichten, das heißt zum Beispiel weitgehend ohne Schutzkleidung mit giftigen Stoffen hantieren, sie hatten zum Schutz der deutschen Beschäftigten bei Bombenangriffen auch gefährliche Wach- und Aufräumarbeiten zu verrichten, während ihre Barackenlager einen „Selbstschutz-Betrieb“ bildeten.66 Forderte das Unternehmen wegen Einstellung einer größeren Ausländergruppe von den Behörden neue Kleidung an, dann erhielten diese die deutschen Beschäftigten. Die Ausländer bekamen die alte Kleidung der Deutschen oder mussten diejenigen anbehalten, mit der sie zu Bayer gekommen waren.67 Dass das betriebliche Festleben nicht einschränkt werden musste,68 hatte wesentlich damit zu tun, dass ausländische Beschäftigte zusätzlich zu ihrer Arbeit Tischdecken nähen oder Dekorationen basteln mussten.69 Hinzu kam schließlich, dass selbst ungelernte deutsche Arbeiter durch die diskriminierten Ausländer zu sozialem Aufstieg kamen. Sie waren das notwendige Andere der Werksfamilie. III. Rahmendaten für die bundesrepublikanische Zeit Zur Orientierung einige Rahmendaten in Sachen Ausländerbeschäftigung bei der Bayer AG nach 1945:70 Knapp acht Jahre nach Kriegsende waren es von Ar63 Zur Bezahlung der Bayer-Zwangsarbeiter/innen Raasch: „Wir sind Bayer“ (wie Anm. 32), S. 259 ff. 64 Zum Beispiel Speisezettel für Monat Juli 1940, in: BAL 325/73; Bekanntmachung der Werksleitung Dormagen, 30. März 1942, in: BAL 325/59; Speisezettel der Wirtschaftsküche vom 6. Juni 1943 bis 12. Juni 1943, in: BAL 211/3.6.2. 65 Zur Verpflegungssituation in Leverkusen Stefanski: Zwangsarbeit in Leverkusen (wie Anm. 54), S. 172 ff., in Dormagen Raasch: „Wir sind Bayer“ (wie Anm. 32), S. 257 ff. 66 Rundschreiben Werksluftschutz, 5. Juni 1942, in: BAL 325/84. 67 Rundschreiben der Werksleitung Dormagen, 17. Oktober 1942, in: BAL 325/85; Rundschreiben der Werksleitung Dormagen, 7. April 1943, in: BAL 325/84; Rundschreiben der Werksleitung Dormagen, 28. Februar 1942, in: BAL 325/41. 68 Zum Freizeit- und Festgeschehen während des Krieges Raasch: „Wir sind Bayer“ (wie Anm. 32), S. 238 ff. 69 Brief von Halina P. an die Verfasser vom 1. Juni 2004. 70 Für das Folgende zum Beispiel Andersen, Uwe/Schwiderowski, Peter: Vom umworbenen „Gastarbeiter“ zum lästigen Ausländer? Probleme von und mit Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1986; Berg, Aloys: Polen und Türken im Ruhrkohlenbergbau. Ein Vergleich zweier Wanderungsvorgänge mit einer Fallstudie

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beitskräftemangel geplagte südwestdeutsche Landwirte, die den Anstoß gaben, in Deutschland abermals über die gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte nachzudenken. Trotz erheblichen Protests, beispielsweise aus dem Arbeits- und Vertriebenenministerium sowie von Gewerkschaftsseite, goutierte Wirtschaftsminister Erhard dieses Anliegen. Er sah die Anwerbung von Ausländern in naher Zukunft als unumgänglich an. Er wies zum Beispiel auf den beginnenden Aufbau der Bundeswehr und die Problematik der geburtenschwachen Kriegsjahrgänge hin. So kam es vor allem auf sein Betreiben am 20. Dezember 1955 in Rom zur Unterzeichnung des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens. Das Abkommen regelte das Anwerbeverfahren von der Auswahl bis zur Gesundheitsprüfung und beinhaltete einen Musterarbeitsvertrag, der die sozialpolitische Gleichstellung der Ausländer mit vergleichbaren deutschen Arbeitern enthielt. Nachdem die deutschen Arbeitgeber mit den Italienern relativ gute Erfahrungen gemacht hatten, forcierte die Regierung mit Beginn der 1960er-Jahre ihre Anwerbebemühungen. Inzwischen war in Deutschland „Vollbeschäftigung“ erreicht, das Renteneintrittsalter gesenkt worden, die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge kamen in die Erwerbstätigkeit und 1961 ließ der Mauerbau den Strom arbeitssuchender Ostflüchtlinge abreißen. Alsdann kam es im März 1960 zum Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland. Anschließend wurde jeweils ein Abkommen mit der Türkei (1961), mit Portugal (1964) und mit Jugoslawien (1968) unterzeichnet. Bereits am 10. September 1964 begrüßte man feierlich den Portugiesen Armando Sa Rodrigues als millionsten Gastarbeiter in Deutschland.71 Die Gastarbeiterbeschäftigung wurde immer weiter vorangetrieben, denn die Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft waren der Meinung, so wie es auch „Die Welt“ 1964 schrieb, dass ausländische Arbeiter für „Volkswirtschaften, die sich entfalten und wachsen wollen, [. . .] wichtig – fast möchte man sagen: unentbehrlich“ seien.72 Die Ausländer erschienen als ideale „industrielle Reservearmee“ 73, die Steuern zahlten, durch ihre Lohnsendungen in die Heimat eine inflationsdämpfende Wirkung ausübten, bei wirtschaftlich schlechterer Lage wieder nach Hause geschickt werden konnten, dazu nicht an der betrieblichen Altersvorsorge teilnahmen und für die keine betrieblichen Sonderzahlungen zum Beispiel für Arbeitsjubiläen oder Erholungskuren aufgebracht werden mussten. In Zahlen lässt sich über „Türken im Ruhrgebiet“, Bochum 1990; Herbert, Ulrich/Hunn, Karin: Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen Anwerbung bis zum Anwerbestopp (1955–1973), in: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 1960er-Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 272–310; McRae, Verena: Die Gastarbeiter: Daten, Fakten, Probleme. München 1980; Reimann, Horst/Reimann, Helga (Hrsg.): Gastarbeiter. Analysen und Perspektiven eines sozialen Problems, Opladen 1987. 71 http://www.stern.de/politik/geschichte/50-jahre-anwerbeabkommen-niemand-dach te-an-integration-551831.html [Zugriff am 12. Dezember 2011]. 72 „Arbeitskräfte müssen wandern“, in: Die Welt, 19. September 1964. 73 Herbert/Hunn: Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik (wie Anm. 70), S. 276 f.

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die Entwicklung wie folgt ausdrücken: Der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen stieg von 1,3 Prozent (279.000) im Jahr 1960 auf 12 Prozent im Jahre 1973 (2.595.000). Die größte Gruppe waren die Türken mit ca. 600.000 Beschäftigten. Zugleich stieg entgegen allen idealen Vorstellungen die Aufenthaltsdauer der ausländischen Beschäftigten ebenso stetig wie der Nachzug ihrer Familien und die Zahl der nicht erwerbstätigen Ausländer (1967: 815.000, 1973: 1,37 Mio.). Zugleich sank die Rückwanderer-Quote (1960er Jahre: 30 Prozent, 1971/72: 16,1 Prozent). Diese Tendenzen ließen in der Bundesrepublik Zweifel über die Rentabilität der Gastarbeiterbeschäftigung aufkommen und die SPD-geführte Bundesregierung zog am 23. November 1973 mit dem Beschluss zum „Anwerbestopp“ die Notbremse. Daraufhin sank zwar bis 1984 die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen um über 800.000, die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung stieg jedoch weiter an und lag 1984 etwa doppelt so hoch wie 1973. Deutschland war Einwanderungsland geworden. Die Firma Bayer war nach der Zerschlagung der IG Farben 1951/52 wiedergegründet worden74 und schwang sich mit ihrer zusehends diversifizierten Produktpalette, die von der Perlonfaser über den Pflanzenschutz bis zur Erdölchemie reichte, bald wieder zum deutschen Global Player auf. Entsprechend groß war der Arbeitskräftebedarf. Seit 1960 stieg die Zahl der ausländischen Beschäftigten zusehends. 1973 beschäftigte Bayer schließlich 6.278 Ausländer in Deutschland, was annähernd 10 Prozent der Gesamtbelegschaft ausmachte. Am höchsten fiel die Quote im Werk Dormagen mit 15,1 Prozent aus. In manchen Betrieben setzte sich die Belegschaft bereits zu über 50 Prozent aus ausländischen Mitarbeitern zusammen.75 Wie auf gesamtdeutscher Ebene bildeten auch bei Bayer die Türken mit 1.539 Beschäftigten die größte nationale Gruppe der Gastarbeiter. Es lässt sich feststellen, dass 1973 90,3 Prozent der Ausländer als Arbeiter beschäftigt waren und nur 9,7 Prozent sich im Angestelltenverhältnis befanden. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Ausländer stark von ihren deutschen Kollegen, die relativ ausgeglichen zu 55,4 Prozent als Arbeiter und zu 44,6 Prozent als Angestellte tätig waren.76 Die Altersstruktur der ausländischen und deutschen Arbeiter differierte ebenfalls. So machte die Altersgruppe der 25- bis 40-Jährigen 61 Prozent bei den Ausländern aus, bei den Deutschen hingegen lediglich 74 Zur Geschichte der Firma Bayer nach 1945 zum Beispiel Erker: Die Bayer AG (wie Anm. 7), S. 45 ff.; Verg: Meilensteine (wie Anm. 7), S. 300 ff.; Bartmann, Wilhelm: Zwischen Tradition und Fortschritt. Aus der Geschichte der Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering von 1935 bis 1975, Stuttgart 2003; für das Werk Dormagen Raasch: „Wir sind Bayer“ (wie Anm. 32), S. 94 ff. Insgesamt ist die Erforschung der neueren Bayer-Geschichte als dürftig zu bezeichnen. Eine Ausnahme bildet lediglich der Bereich der betrieblichen Sozialpolitik, dazu Tenfelde: Stimmt die Chemie? (wie Anm. 7). 75 Jahresbericht 1971, 1972 und 1973 des Zentralbereichs Personalwesen, in: BAL 342/36. Jahresbericht 1970 Personalbüro, in: BAL 342/37. 76 Jahresbericht 1973 des Zentralbereichs Personalwesen, S. 26, in: BAL 342/36.

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37 Prozent.77 Dies waren äußere Indikatoren für den Umstand, dass die Ausländer bei Bayer überwiegend körperlich schwere, schmutzige, gefährliche, lärmintensive, extremen Temperaturen ausgesetzte, monotone und bei den Deutschen eher unbeliebte Tätigkeiten verrichteten. Im Einzelnen hieß das „Einfüllen, Absacken, Herstellen von Schlauchverbindungen, Stapeln, Anflanschen, Proben ziehen und wegbringen, Einsatzstoffe zerkleinern, brechen, auftauen; Apparate, Werkzeuge, Räume reinigen.“ 78 Eine Besonderheit der Bayer AG war, dass sie die ausländischen Arbeitskräfte nach anfänglichen Schwierigkeiten nicht direkt aus dem Ausland bezog. Das Unternehmen warb sie vielmehr, nachdem sie schon industrielle Arbeitsabläufe kennen gelernt hatten, vom inländischen Arbeitsmarkt.79 Folglich wirkte sich der Anwerbestopp 1973 nicht auf Bayer aus.

IV. Die betriebliche Sozialpolitik und die „Gastarbeiter“ Die betriebliche Sozialpolitik der Firma Bayer stand durch die wachsende Zahl von ausländischen „Gastarbeitern“ vor einer großen Herausforderung. Denn die überkommenen unternehmenskulturellen Werte waren mit der Existenz eines Konjunkturpuffers, eines industriellen Reservearmisten, nicht kompatibel: Nach 1945 gab es eine Wiederbelebung des Ideen- und Handlungskonzepts der Familie Bayer. Dieses trug wieder bürgerlich-konservative Züge (die Vergabe von Werkswohnungen an Ledige stellte zum Beispiel ein großes Problem dar)80 und suchte Standesdenken ausdrücklich zu befördern (zum Beispiel durch Umzugshilfen für Angestellte)81. Wer zur Familie Bayer gehören wollte, musste pflichtbewusst, fleißig, treu und faktisch deutsch sein. Es gab ein ausgeklügeltes leistungs- und zugleich dienstalterbezogenes Zulagen- und Prämiensystem. Das seit 1953 gültige Angebot, sich mittels Aktienkauf am Unternehmen zu beteiligen, wurde bezeichnenderweise finanziert aus einem Teil der an der Dienstdauer orientierten Jahresprämie und einer Geldsumme, welche die Beschäftigten anlässlich ihrer

77 „Die ausländischen Mitarbeiter: Sie sind nicht besser und nicht schlechter als die Deutschen“, in: Unser Werk, 12, 1973, S. 30. 78 Knapp, Hans-Georg: Erfahrungen und Einsichten aus der Chemieindustrie, in: Papalekas, Johannes Chr. (Hrsg.): Die Ausländerfrage. Gastarbeiter im Spannungsfeld von Integration und Reintegration, Herford 1983, S. 91–98, hier S. 92 f. 79 Knapp: Erfahrungen und Einsichten aus der Chemieindustrie (wie Anm. 78), S. 94. 80 Zum Werkswohnungsbau der Nachkriegszeit zum Beispiel Pogarell, Hans-Hermann/Pohlenz, Michael: Betriebliche Sozialpolitik in der Nachkriegszeit. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum hundertjährigen Firmenjubiläum 1963, in: Tenfelde: Stimmt die Chemie? (wie Anm. 7), S. 147–176, hier S. 162 ff.; Raasch, Markus: „Der (Traum-)Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Die „Bayer-Stadt“ Dormagen und das Projekt „Città 2000“, in: Geschichte im Westen, 22, 2007, S. 155–176, hier S. 162 ff. 81 Paul an Hofmann, 21. Juni 1955, in: BAL 325/72; Zeitzeugen-Gespräch mit Robert D. vom 9. Juli 2004.

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25-jährigen Unternehmenszugehörigkeit erhielten.82 Überhaupt wurde den altgedienten Kräften, den Jubilaren, besondere Wertschätzung zuteil. Sie wurden als Betriebsaristokratie konstruiert, als lebender Beweis dafür, dass „Größe und Festigkeit eines Werkes nicht so sehr von den materiellen Dingen abhingen als von dem guten Geist innerhalb der Werkfamilie“.83 So erhielten sie beispielsweise Zusatzurlaub und Sonderprämien; 1965 gaben die Farbenfabriken Bayer allein für 60 Dormagener Jubilare Geschenke im Gesamtwert von über 82.000 DM aus, wobei die Überreichung im Regelfall demonstrativ im Beisein ausgewählter, besonders verdienter Arbeitskollegen im Büro des betreffenden Abteilungsvorstandes erfolgte.84 Wichtigstes Inszenierungsmedium der Familie Bayer waren wieder die Feste der Jubilare.85 Bei diesen sprang freilich die spezielle nationale Codierung ins Auge: Es standen für gewöhnlich deutsche Volkslieder, seltener Schlager auf dem Programm, Festredner hoben immer wieder auf das Leid ab, das die Firma Bayer und seine Beschäftigten während und nicht zuletzt auch nach dem Ende des Krieges erlitten hatten. Auf die Herausforderung der „Gastarbeiter“ reagierte die Firma Bayer keineswegs mit Gleichgültigkeit oder gar Ignoranz. Eher im Gegenteil mit großer Aktivität: Um eine schnelle Eingliederung der Gastarbeiter in den Betrieb zu ermöglichen, wurden kostenlose Sprachkurse eingerichtet. Zudem bot das Unternehmen „Spezialkurse“ für ausländische Mitarbeiter an, um diese „sprachlich und technologisch zu schulen und an qualifiziertere Tätigkeiten heranzuführen“.86 Sicherheitsregeln und betriebliche Bekanntmachungen wurden auch in den Sprachen der „Gastarbeiter“ herausgegeben. Bezüglich der Urlaubsplanung ging Bayer auf die speziellen Bedürfnisse der ausländischen Beschäftigten ein, indem man ihnen ermöglichte den Jahresurlaub am Stück zu nehmen, was aufgrund ihrer langen Heimreise vorteilhaft war.87 Außerdem erweiterte das Unternehmen den Bestand der Werksbibliotheken um fremdsprachige Bücher.88 Für die türkischen Mitarbeiter richtete das Unternehmen in einem Keller des Dormagener Bayer-Werks eine Moschee ein, in bestimmten Großbetrieben gab es eigene Gebetsräume.89 Aus82 Pogarell/Pohlenz: Betriebliche Sozialpolitik in der Nachkriegszeit (wie Anm. 80), S. 175 f. 83 „Für die Treusten der Bayer-Werkfamilie“, in: Rheinischer Anzeiger, 25. Oktober 1963. 84 Sozialbericht 1965, in: BAL 221/3. 85 Dazu ausführlich: Raasch: Heilige Zeit (wie Anm. 16), S. 320 ff. 86 Jahresbericht 1970 Personalbüro, S. 18, in: BAL 342/37. 87 Zum Beispiel Protokoll zur Werksausschuss-Besprechung Dormagen vom 24. Januar 1962 o. 28. Januar 1963, beide in: BAL 8/12.2. 88 Protokoll zur Werksausschuss-Besprechung Dormagen vom 25. Oktober 1962, in: BAL 8/12.2. 89 „Ramadan ist kein Hungerstreik“, in: Unser Werk, 11, 1974, S. 15; Zeitzeugengespräche mit Heinz J. vom 2. April 2004 sowie Ali A. u. Salih D. vom 21. September 2005.

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ländische Vertrauensleute sollten den „Neuankömmlingen“ Hilfestellungen leisten, bei Streitigkeiten vermitteln, als Dolmetscher agieren und die Verbindung zwischen den Gastarbeitern und dem Betriebsrat sowie der Personalabteilung darstellen. Sie begleiteten ausländische Beschäftigte bei Behördengängen und fungierten als Ansprechpartner bei persönlichen Problemen. Das Unternehmen brachte die ausländischen Beschäftigten in verhältnismäßig kostengünstigen Werkswohnheimen unter und half später, als die Familien der „Gastarbeiter“ nachzogen, nicht nur in Sachen Logistik der Familienzusammenführungen, sondern auch bei der Suche geeigneter Unterkünfte, insbesondere von Werkswohnungen. Das Unternehmen übernahm teilweise Umzugskosten.90 Die Werkszeitung versuchte immer wieder die Belange der ausländischen Beschäftigten zu thematisieren, informierte zum Beispiel über moslemische Sitten und Gebräuche und stellte ebenso direkt wie naiv den Vorteil von „Mustafa, Akyurek und Jupp“ 91 für den Betrieb heraus: „Temperament und Fröhlichkeit der ausländischen Mitarbeiter haben ein wenig auf die deutschen Kollegen abgefärbt, die nicht mehr ständig mit ernstem und gesammeltem Blick ihrer Arbeit nachgehen. Erfreulicherweise ist jetzt manchmal ein etwas lebhafterer Ton, gelegentlich sogar ein geträllertes Liedchen zu hören.“ 92 Auffallend ist allerdings, dass die betriebliche Sozialpolitik die ausländischen Arbeiter als separierte Sondergruppe innerhalb der Belegschaft konstruierte. Alle Maßnahmen zielten darauf ab, ihnen eine Eigenidentität zu geben. Sie waren nicht das Fremde oder gar das Andere der Familie Bayer, aber eine Art Anhängsel. So gab es in der Sozialabteilung einen eigenen Fachbereich „Ausländische Mitarbeiter“. Ausländische Beschäftigte wurden stets getrennt von deutschen Beschäftigten in Wohnheimen untergebracht. Es wurden von Werksseite türkische oder italienische Abende veranstaltet, zu denen ausschließlich Ausländer geladen waren oder die als Veranstaltung für Ausländer deklariert waren und deshalb kaum von Deutschen besucht wurden.93 Die Werksvereine, die zu den wichtigsten unternehmenskulturellen Kommunikatoren gehörten, warben bezeichnenderweise lange Zeit nicht aktiv um ausländische Beschäftigte. Vielmehr betonte die Sozialabteilung: „Die ausländischen Mitarbeiter dürfen nicht den Eindruck gewinnen, als wollte man ihnen deutsche Freizeit ,verkaufen‘“ 94 oder wie es der 90 Labrianidis, Dimitrios/Sandri, Alessandro: Die Interessenvertretung der ausländischen Arbeitnehmer in der Bayer AG, in: Tenfelde: Stimmt die Chemie? (wie Anm. 7), S. 365–372, hier S. 368. „Die ausländischen Mitarbeiter: Sie sind nicht besser und nicht schlechter als die Deutschen“, in: Unser Werk, 12, 1973, S. 33. 91 „Wenn Knoblauchdüfte sich verbreiten. Ein Besuch bei Ausländern im BayerWohnheim“, in: Unser Werk 4 (1977), S. 28 f. 92 „Unsere ausländischen Mitarbeiter“, in: Unser Werk 11 (1962), S. 250. 93 Jahresbericht 1965, 1966 u. 1967 der Personal- und Sozialabteilung Leverkusen, Elberfeld, Dormagen und Uerdingen. Jahresbericht 1970 der Personal- und Sozialabteilung, alle in: BAL 221/3. 94 „Sie sollen sich bei uns wohlfühlen“, in: Unser Werk 3 (1977), S. 8.

Betriebliche Identität und Ausländerbeschäftigung

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zuständige Fachbereichsleiter auf allgemeinerer Ebene herausstellte: „Die Ausländer sind nicht besser und nicht schlechter als Deutsche, sie sind aber anders.“ 95 Zur in diesem Aufsatz vernachlässigten Wirkungsebene zum Schluss nur so viel: Die hohen Fluktuationszahlen unter den ausländischen Beschäftigten sanken erst dann, als die nationale Codierung der Familie Bayer in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre verblasste und das Unternehmen im Laufe der 1980er-Jahre eine Abkehr von ihrer Separationspolitik vornahm. Dies begann mit der Gewährung des aktiven Betriebsratswahlrechts für ausländische Beschäftigte,96 setzte sich fort mit intensiven Werbemaßnahmen der Werksvereine und endete beim „Türkischen Abend“ oder „Spanischen Abend“, die – mitunter unter dem Motto „Unser Verschiedensein sollte zu einer gegenseitigen Bereicherung führen“ 97 – für alle Beschäftigten, von Deutschen und Ausländern organisiert wurden. Und obwohl sich nicht wenige ausländische Beschäftigte weiterhin schwer taten, mit der Kultur der Familie Bayer zurecht zu kommen, bedeutete doch mindestens genauso vielen die in den 1990er-Jahren im Zeichen der Globalisierung vollzogene Abkehr von diesem Ideen- und Handlungskonzept einen fundamentalen, beklagenswerten Einschnitt.98 Aktuelle und ehemalige ausländische Beschäftigte kritisierten Ende des 20. Jahrhunderts nicht weniger emotional als ihre deutschen Kollegen, dass Sie „den Bayer nicht mehr verstehen“, dass „der Bayer nicht mehr der Bayer“ ist, dass „der Bayer nicht mehr existiert“.99 V. Zusammenfassung Die Kontinuität in der Bayer-Unternehmenskultur nimmt sich frappierend aus. Das Konzept der Familie Bayer wurde mit zeitgemäßen Codierungen knapp ein Jahrhundert aufrechterhalten. Erst die 1990er-Jahre bedeuteten einen grundlegenden Wandel. Auch beim Umgang mit ausländischen Beschäftigten ergeben sich Traditionen, vor allem aber auch Diskontinuitäten. Im Kaiserreich suchte die Betriebspolitik die Ausländer als das zu separierende, freilich materiell gleichstellte

95 „Die ausländischen Mitarbeiter: Sie sind nicht besser und nicht schlechter als die Deutschen“, in: Unser Werk, 12, 1973, S. 34. 96 Zur Interessenvertretung der ausländischen Arbeitnehmer in der Bayer AG: Labrianidis u. Sandri: Die Interessenvertretung der ausländischen Arbeitnehmer in der Bayer AG (wie Anm. 90). 97 Jahresbericht der Werksverwaltung 1985, in: BAL 342/52. 98 Zu den Auswirkungen der gravierenden unternehmenspolitischen Veränderungen der 1990er-Jahre auf mentale Strukturen der Beschäftigten Raasch: „Wir sind Bayer“ (wie Anm. 32), S. 354 ff. 99 Zeitzeugen-Gespräch mit Norbert W. vom 6. Juli 2004, Dorothea D. vom 27. Januar 2004, Werner M. vom 9. August 2004, Ali A. vom 29. September 2005, Salih D. vom 29. September 2005.

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Fremde zu konstruieren. Im Nationalsozialismus gab es eine Korrelation zwischen Gefälligkeitspolitik und der rücksichtslosen Ausbeute des ausländischen Anderen. In der BRD gingen die Bemühungen lange Zeit dahin, die ausländischen Beschäftigten mit großer Fürsorge als ein kulturelles Anhängsel zu konturieren.

Möglichkeiten und Grenzen politischer Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungen Das Beispiel der Fusion der NSU Motorenwerke AG und der Auto Union GmbH im Jahr 1969 mit ihren Auswirkungen auf die Anliegergemeinde Neckarsulm Mathias Pfaffel „Die doch ziemlich vollständige Auflösung der Verwaltung in Neckarsulm und die erkennbare Umstrukturierung im technischen Bereich erfüllen die Stadt mit großer Sorge, denn die Verbindung zwischen Werk und Stadt ist so stark, daß man ohne Übertreibung von einer Lebenseinheit sprechen kann.“ 1

Mit diesen drastischen Worten reagierte der Neckarsulmer Bürgermeister Dr. Erhard Klotz auf die negativen Konsequenzen der Unternehmensfusion der NSU Motorenwerke AG und der Auto Union GmbH unter dem Dach der Volkswagenwerk AG für seine Gemeinde gut eineinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des Verschmelzungsvertrags gegenüber dem VW-Vorstandsvorsitzenden Kurt Lotz. Die Aussage führt eindrucksvoll vor Augen, wie eng die Beziehungen zwischen Unternehmen und Stadt zum einen waren und wie begrenzt zum anderen der politische Handlungsspielraum hinsichtlich unternehmerischer Entscheidungen gleichzeitig schien. Im Folgenden soll deshalb dargestellt und analysiert werden, wie sich ein Unternehmenszusammenschluss dieser Größenordnung mit einer Belegschaft von 11.504 Beschäftigten allein am Standort Neckarsulm (insgesamt 26.595 Mitarbeiter)2 auf eine Kleinstadt mit 18.707 Einwohnern3 als Anliegerkommune auswirkte und welche Möglichkeiten zur Einflussnahme und zur aktiven Mitgestaltung der Rahmenbedingungen sich dabei den (kommunal-)politischen Instanzen, in erster Linie Bürgermeister und Gemeinderat sowie Landesregierung boten.4 1

StAN, A2/1–12/1 L, Schreiben Klotz an Lotz vom 25.11.1970. UAAN, unverz. Best., Geschäftsbericht der AUDI NSU AUTO UNION AG 1969. 3 Heyler, Anton: Chronik der Stadt Neckarsulm 1951–1976, Neckarsulm 1989, S. 187. 4 Zum theoretisch-methodischen Hintergrund das Konzept von Hartmut Berghoff zur „Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ in Berghoff, Hartmut: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857–1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn, München 20062, S. 13–22 und Berghoff, Hartmut: Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: Hesse, Jan-Otmar/Kleinschmidt, Christian/Lauschke, Karl (Hrsg.): Kulturalismus, neue Institutionen2

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Die Quellengrundlage dafür bilden die Bestände aus dem Unternehmensarchiv der AUDI AG und der Volkswagen AG sowie dem Stadtarchiv Neckarsulm und dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Punktuell ergänzt werden sie durch Dokumente aus dem Historischen Archiv der Dresdner Bank, dem Kreis- beziehungsweise Stadtarchiv Heilbronn und dem Zeitungsarchiv der Heilbronner Stimme.5 In inhaltlicher Hinsicht wird zunächst ein kurzer Überblick über die Unternehmensgeschichte der NSU Motorenwerke AG gegeben und die Fusion mit der Auto Union GmbH im Jahr 1969 skizziert, um eine Einordnung der folgenden Ereignisse zu ermöglichen. Im Anschluss werden die Auswirkungen des Unternehmenszusammenschlusses auf die Stadt Neckarsulm und die Bemühungen von Gemeindeverwaltung und Landesregierung um den Bedeutungserhalt des Industriestandorts erörtert. Abschließend werden die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammengefasst, um die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflussnahme auf diese Vorgänge auszuloten. I. Die Fusion zur AUDI NSU AUTO UNION AG Das schwäbische Traditionsunternehmen NSU konnte seit seiner Gründung im Jahr 1873 und der Übersiedlung nach Neckarsulm 1880 auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurückblicken, die als größter Arbeitgeber der Region und wichtigster Steuerzahler für die Kommune eng mit der Orts- und Regionalentwicklung verbunden war.6 Ursprünglich zur Herstellung von Strickmaschinen ins Leben gerufen, ging der Betrieb schon bald zur zukunftsträchtigeren Fabrikation von Fahr- und Motorrädern sowie zum Bau von Automobilen über. In den 1920er-Jahren geriet das Unternehmen mehrmals in finanzielle Schwierigkeiten und musste im Zuge der Weltwirtschaftskrise die Automobilproduktion einstellen.7 Während des Zweiten Weltkriegs war der Betrieb vollständig in die Rüsökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 243–251. 5 Im Fußnotenapparat verwendete Abkürzungen: HADrB = Historisches Archiv der Dresdner Bank, HSt = Heilbronner Stimme (Lokalzeitung), HStAS = Hauptstaatsarchiv Stuttgart, KrAH = Kreisarchiv Heilbronn, StAH = Stadtarchiv Heilbronn, StAN = Stadtarchiv Neckarsulm, UAAI = Unternehmensarchiv der AUDI AG (Standort Ingolstadt), UAAN = Unternehmensarchiv der AUDI AG (Standort Neckarsulm), UAVW = Unternehmensarchiv der Volkswagen AG, unverz. Best. = unverzeichnete Bestände. 6 Boelcke, Willi A.: Von der Weinstadt zur Industriestadt, in: Angerbauer, Wolfram/ Griesinger, Barbara (Hrsg.): Neckarsulm. Die Geschichte einer Stadt, Stuttgart 1992, S. 265–300, hier S. 269–287. 7 Zur frühen, bisher noch nicht geschichtswissenschaftlich bearbeiteten Unternehmensgeschichte von NSU u. a. UAAN, Präsenzbibliothek, Herzog, Fr.: Zum 50-jährigen Bestehen der Neckarsulmer Fahrzeugwerke Aktiengesellschaft Neckarsulm, Neckarsulm 1923 und AUDI NSU AUTO UNION AG (Hrsg.): Chronik des Personalwesens der AUDI NSU AUTO UNION AG und ihrer Vorgängerfirmen, Neckarsulm 1979, sowie Howe, Karl: Die Neckarsulmer Fahrzeugwerke, Diss. Würzburg 1922; dazu auch überblicksmäßig Erdmann, Thomas/Friese, Ralf/Kirchberg, Peter/Plagmann, Ralph: Vier

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tungsproduktion eingebunden. Als Folge davon wurde die Bausubstanz der Stadt Neckarsulm bei einem Luftangriff im März 1945 und durch mehrtägigen Artilleriebeschuss im April 1945 schwer in Mitleidenschaft gezogen.8 Obwohl dabei auch die Werksanlagen beschädigt worden waren, konnte die Fertigung von Fahrund Motorrädern nach Kriegsende aber relativ schnell wieder anlaufen, da die wichtigsten Produktionsmittel rechtzeitig verlagert worden waren. Trotz einer schwierigen Anfangsphase gelang es NSU dank der rasant wachsenden Bedeutung des Fahrzeugbaus für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Bundesrepublik Deutschland, erster Exporterfolge und der zunehmenden, im Zweiradbereich beginnenden Individualmotorisierung der Gesellschaft, rasch in die Erfolgsspur zurückzukehren.9 Die prosperierende Symbiose zwischen Werk und Gemeinde erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt im Jahr 1955, als die damalige NSU Werke AG zu den weltweit führenden Zweiradherstellern zählte.10 Umso härter traf die folgende Zweiradkrise Unternehmen und Stadt. Sie demonstrierte wirkungsvoll, dass sich die zunehmende Abhängigkeit der Gemeinde von der Fahrzeugindustrie auch negativ auswirken konnte. Der Umsatz von NSU brach von 200,7 Millionen DM (1955) um 26,3 Prozent auf 148,0 Millionen DM (1957) ein, während sich die Verkaufszahlen der Zweiräder bis 1958 auf 171.077 Stück halbierten. Infolge der Krisenerscheinungen wurde die Belegschaft trotz mehrerer Kurzarbeitsphasen von 6.626 (1955) um 14,5 Prozent auf 5.663 (1957) Beschäftigte reduziert.11 Die Gewerbesteuereinnahmen sanken deutlich, so dass sich die aufgrund der zahlreichen Bauprojekte ohnehin angespannte finanzielle Situation der Kommune weiter verschlechterte und einige der ambitionierten städtischen Bauvorhaben zurückgestellt werden mussten.12 Mit der seit 1954 intern geplanten und im Herbst 1957 eingeleiteten Wiederaufnahme der Automobilproduktion bei NSU waren deshalb nicht nur die Zukunft des Unternehmens, sondern auch die Hoffnungen der ganzen Stadt verknüpft.13 Tatsächlich konnten die schlimmsten Befürchtungen durch die Markteinführung des Kleinwagens NSU Prinz im Frühjahr 1958 abgefedert werden und die Unternehmensentwicklung erholte sich in den folgenden Jahren. Angesichts der weiterhin abnehmenRinge. Die Audi Geschichte, Bielefeld 2009, S. 172–187; Schneider, Peter: Die NSUStory. Die Chronik einer Weltmarke, Stuttgart 19992, S. 9–96. 8 Heyler, Anton: Wiederaufbau, in: Angerbauer/Griesinger: Neckarsulm (wie Anm. 6), S. 355–372. 9 Boelcke, Willi A.: Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs. Von den Römern bis heute, Stuttgart 1987, S. 476–485. 10 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 56–64 und Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 292–296. 11 UAAN, unverz. Best., Geschäftsberichte der NSU Werke AG 1955–1958. 12 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 68–70 und Heyler: Wiederaufbau (wie Anm. 8), S. 371 sowie HSt vom 10. August 1956. 13 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 67 und Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 294–295.

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den Bedeutung des Zweiradgeschäfts wandelte sich NSU nach und nach in eine reine Automobilfabrik mit Zweigwerken in den Nachbarorten Heilbronn und Neuenstein. Aufgrund mangelnder Rentabilität wurde die Fahrradherstellung 1963 und die Produktion motorisierter Zweiräder 1967 endgültig eingestellt, wobei die Automobilfertigung schon ab 1961 den klar dominierenden Faktor darstellte. Bis 1968 konnte der Jahresumsatz der 1960 in NSU Motorenwerke AG umbenannten Firma auf 566,2 Millionen DM nahezu vervierfacht werden (siehe Abbildung 1), wovon 53,3 Prozent auf das Exportgeschäft entfielen. Die Absatzzahlen im Pkw-Bereich erhöhten sich auf insgesamt 128.117 Fahrzeuge; davon wurden 45.554 in der Bundesrepublik zugelassen, was einem Marktanteil von 3,2 Prozent entsprach.14 600.000.000

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Automobile

Ersatzteile & Sonstiges

Abbildung 1: Umsatzentwicklung der NSU Werke AG bzw. NSU Motorenwerke AG 1950–1968 in DM (Quelle: UAAN, unverz. Best., Geschäftsberichte der NSU Werke AG bzw. NSU Motorenwerke AG 1950–1968).

Für eine dauerhafte eigenständige Behauptung des Unternehmens am stark expandierenden Automobilmarkt, der gekennzeichnet war durch den Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt einerseits und eine aufgrund der explodierenden Kosten immer stärker um sich greifende relative Konzentration in der Automo14 UAAN, unverz. Best., Geschäftsberichte der NSU Werke AG bzw. NSU Motorenwerke AG 1958–1968 und Statistische Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes, Heft 12, 1977, S. 3, dazu auch Erdmann/Friese/Kirchberg/Plagmann: Vier Ringe (wie Anm. 7), S. 189–207.

Möglichkeiten und Grenzen

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bilindustrie andererseits,15 lagen diese Zahlen aber trotz der beachtlichen Steigerungsraten insgesamt zu niedrig. Mit einer durchschnittlichen Tagesproduktion von rund 600 Fahrzeugen im Jahr 1968 wurde der damals für eine rationelle Fertigung als notwendig erachtete Wert von etwa 1.000 Einheiten trotz aller Anstrengungen deutlich unterschritten, so dass die erforderlichen Kostendegressionsvorteile nicht zufriedenstellend genutzt werden konnten.16 Das überwiegend im Kleinwagensektor angesiedelte Modellprogramm konnte infolge der wachsenden ausländischen Konkurrenz weder die nötige Versorgung der Händlerorganisation mit einem vollständigen Typenprogramm noch ausreichende Erträge für die weitere Unternehmensentwicklung gewährleisten. Hinzu kamen die Belastungen durch das werksseitig 1951 in Form einer Kooperation mit dem Erfinder Felix Wankel begonnene Engagement in der Entwicklung des Dreh- beziehungsweise Kreiskolbenmotors.17 Es eröffnete nach der medienwirksamen Bekanntgabe im November 1959 zwar einerseits durch eine regelrechte Wankel-Euphorie der Anleger und Investoren neue Möglichkeiten bei der Kapitalbeschaffung, belastete andererseits aber das Forschungs- und Investitionsbudget des Unternehmens stark, ohne – trotz der seit 1960 abgeschlossenen weltweiten Lizenzverträge mit namhaften Unternehmen – eine angemessene Amortisation zu erbringen, da der erhoffte Durchbruch des neuen Motorenkonzepts ausblieb. Zur selbstständigen Fortsetzung des eingeschlagenen Expansionskurses fehlten deshalb trotz mehrerer Kapitalerhöhungen und der Aufnahme von Krediten letztlich die finanziellen Mittel, wie eine lediglich zwischen 0,5 Prozent und 1,0 Prozent liegende Umsatzrendite nach Steuern für die Jahre von 1965 bis 1968 belegt.18 Diese Zahlen verdeutlichen die anhaltende Ertragsschwäche von NSU, die 15 Tilly, Stephanie/Ziegler, Dieter: Einleitung, in: Tilly, Stephanie/Ziegler, Dieter (Hrsg.): Automobilwirtschaft nach 1945: Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2010/1), Berlin 2010, S. 11–17 und Köhler, Ingo: „Small Car Blues“. Die Produktpolitik US-amerikanischer und deutscher Automobilhersteller unter dem Einfluss umweltpolitischer Vorgaben 1960–1980, in: Tilly/Ziegler: Automobilwirtschaft nach 1945 (wie Anm. 15), S. 107–135, sowie Beckmann, Nils: Käfer, Goggos, Heckflossen. Eine retrospektive Studie über die westdeutschen Automobilmärkte in den Jahren der beginnenden Massenmotorisierung, Stuttgart 2006, S. 223–242 u. 299–333. 16 UAAN, unverz. Best., Interview mit Dr. Günter Henn vom 5. Juli 1982. 17 Dazu u. a. UAAN, Präsenzbibliothek, AUDI NSU AUTO UNION AG (Hrsg.): Chronik der Entwicklung des Kreiskolbenmotors in Neckarsulm, Neckarsulm 1979, S. 3–103, sowie Korp, Dieter: Protokoll einer Erfindung. Der Wankelmotor, Stuttgart 1975, S. 32–202; Knie, Andreas: Wankel-Mut in der Autoindustrie. Anfang und Ende einer Antriebsalternative, Berlin 20022, S. 71–144; Knapp, Ulrich Christoph: Wankel auf dem Prüfstand. Ursprung, Entwicklung und Niedergang eines innovativen Motorenkonzeptes, Münster u. a. 2006, S. 55–106; Popplow, Marcus: Felix Wankel. Mehr als ein Erfinderleben, Erfurt 2011, S. 77–134. 18 UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1968, Prüfungsbericht der Treuhand-Vereinigung AG zum Jahresabschluß der NSU Motorenwerke AG zum 31. Dezember 1968 und StAN, A2/10 781.32 I, Ausführungen des Vorstandsvorsitzenden Dr. Gerd Stieler von Heydekampf auf der 79. ordentlichen Hauptversammlung der NSU Motorenwerke AG am 23. August 1968.

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sich negativ auf die Eigenfinanzierungsfähigkeit und somit auf die längerfristigen Ausdehnungs- und Modernisierungsmöglichkeiten des Unternehmens auswirkte. Im Zuge der Umstellung auf die Automobilproduktion und der angestrebten Verbreiterung der Produktpalette hatten sich die eingetragenen Grundpfandschulden zwischen 1956 und 1968 auf 51,4 Millionen DM mehr als verfünffacht, während sich das Investitionsvolumen allein von 1963 bis 1964 auf 63,8 Millionen DM mehr als verdreifachte.19 Mit der Produktionsaufnahme des NSU Ro 80, einer Reiselimousine der gehobenen Mittelklasse mit Kreiskolbenmotor, im Herbst 1967 und der für 1969 geplanten Markteinführung des NSU K 70 zur Etablierung der Marke in der Mittelklasse erhöhte sich der Kapitalbedarf nochmal beträchtlich.20 Das Insolvenzrisiko stieg so aufgrund der mangelnden finanziellen Absicherung permanent an. Einen weiteren wichtigen Faktor bildete der Arbeitskräftemangel in der Region,21 der mit dem Wachstum von NSU immer stärker zutage trat und ab 1961 zur gezielten Anwerbung von „Gastarbeitern“ in größerem Ausmaß führte. Da in Baden-Württemberg 1962 mit einer Arbeitslosenquote von 0,1 Prozent Vollbeschäftigung herrschte,22 konnte der wachsende Bedarf nicht mehr aus dem lokalen Arbeitsmarkt gedeckt werden, obwohl alle Möglichkeiten zur Beschaffung von zusätzlichen Arbeitern ausgeschöpft wurden und sich die regionalen Handwerksbetriebe in zunehmendem Maße über die Abwerbung ihrer Beschäftigten beklagten.23 In der 1968 erreichten Belegschaftsgröße von 10.938 Personen war bereits ein Anteil ausländischer Mitarbeiter von 24,7 Prozent enthalten.24 Insbesondere die Unterbringung und die soziale Integration der Arbeitsmigranten stellten die Stadt Neckarsulm vor erhebliche Schwierigkeiten, die in der Folgezeit

19 UAAN, unverz. Best., Geschäftsberichte der NSU Werke AG bzw. NSU Motorenwerke AG 1956–1968. 20 UAAN, unverz. Best., Protokoll zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 23. Oktober 1967, Protokoll Nr. 40/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 9. Dezember 1968 und Protokoll Nr. 41/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 16. Dezember 1968. 21 UAAN, unverz. Best., Protokoll Nr. 25/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 22. August 1968. 22 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Struktur- und Regionaldatenbank, Landesdaten, Erwerbstätigkeit, Arbeitslose, gemeldete Stellen und Kurzarbeiter, online unter http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/ArbeitsmErwerb/Landesdaten/LRt05 14.asp [Zugriff am 30. April 2012] und Der Spiegel 34/1959, 19. August 1959, S. 26. 23 Griesinger, Barbara/Heyler, Anton/Ehehalt, Theobald: 125 Jahre Gewerbeverein Neckarsulm 1864–1989. Zwei Jahrhunderte Wirtschaftsgeschichte in Neckarsulm, Neckarsulm 1990, S. 131. 24 UAAN, unverz. Best., Geschäftsbericht der NSU Motorenwerke AG 1968 und AUDI NSU AUTO UNION AG (Hg.): Chronik des Personalwesens der AUDI NSU AUTO UNION AG und ihrer Vorgängerfirmen (wie Anm. 7), S. 37–38; Kolb, Arnd: Autos, Arbeit, Ausländer. Die Geschichte der Arbeitsmigration des Audi Werks Neckarsulm, Bielefeld 2011, S. 32–119.

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einen der zentralen Berührungspunkte zwischen Werk und Gemeinde bildeten. Bis 1968 erhöhte sich der Ausländeranteil an der Stadtbevölkerung, vor allem bedingt durch den Zuzug der „Gastarbeiter“ und sukzessive auch ihrer Familien, auf 14,4 Prozent.25 Aus diesen Gründen – im Wesentlichen Kapital- und Arbeitskräftemangel für die erforderliche weitere Expansion – entschloss sich die NSU-Führung schließlich, gezielt nach einem potentiellen Kooperationspartner Ausschau zu halten.26 „Seit 1965 war es klar, daß wir uns an einen stärkeren Partner anlehnen mußten“, so der damalige NSU-Vorstandsvorsitzende Dr. Gerd Stieler von Heydekampf, denn andernfalls „wären wir den langsamen Tod gestorben.“ 27 Die negativen Auswirkungen der unerwarteten Rezession von 1966/67 hatten für ein wachsendes Krisenbewusstsein gesorgt und in der Unternehmensleitung endgültig die Erkenntnis reifen lassen, dass NSU künftig ohne starken Rückhalt in Krisenzeiten finanziell nicht überlebensfähig sein würde.28 Das wichtigste Ziel im Hinblick auf eine eventuelle Unternehmensfusion bestand deshalb in der langfristigen Existenzsicherung:29 „Im Vordergrund für das ,kleine NSU‘ stand die Sicherung der Unternehmung durch Anlehnung an einen starken Partner und damit Risikominimierung. NSU war nicht weiter zu einem ,ständigen Modellerfolg verurteilt‘.“ 30 Neben anderen Interessenten kristallisierte sich bald die Volkswagenwerk AG in Wolfsburg als aussichtsreichster Aspirant heraus. Erste konkrete Verhandlungen wurden zu Jahresbeginn 1967 aufgenommen, scheiterten jedoch an der ab25 HSt vom 28. November 1964 und Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 178. 26 UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler, Joachim: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG, unveröffentlichte Diplomarbeit Heilbronn 1983, S. 36–90. 27 UAAN, unverz. Best., Interview mit Dr. Gerd Stieler von Heydekampf vom 5. April 1982, dazu auch auto motor und sport, Heft 6, 11. März 1980. 28 UAAN, unverz. Best., Protokoll Nr. 19/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 18. Juni 1968, Protokoll Nr. 27/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 16. September 1968 und Aktennoten betr. Zielplanung 1969–1973 vom 10. September 1968 und 12. September 1968; außerdem Protokoll Nr. 33/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 28. Oktober 1968, Investitionsplanung 1969 vom 6. November 1968 als Anlage zum Protokoll Nr. 35/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 7. November 1968 und vom 22. November 1969 als Anlage zum Protokoll Nr. 38/68 zur Vorstandssitzung der NSU Motorenwerke AG am 25. November 1968 sowie Protokoll Nr. 3/68 der Aufsichtsratssitzung der NSU Motorenwerke AG am 19. November 1968. Dazu auch StAN, A2/10 781.32 I, Ausführungen des Vorstandsvorsitzenden Dr. Gerd Stieler von Heydekampf auf der 79. ordentlichen Hauptversammlung der NSU Motorenwerke AG am 23. August 1968. 29 UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG (wie Anm. 26), S. 125. 30 UAAN, unverz. Best., Interview mit Dr. Gerd Stieler von Heydekampf vom 5. April 1982, dazu: Der Spiegel, 17. März 1969.

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lehnenden Haltung des damaligen VW-Generaldirektors Heinrich Nordhoff.31 Erst mit dem Führungswechsel zu seinem Nachfolger Kurt Lotz wurde der Weg frei für eine institutionalisierte Zusammenarbeit,32 die in Form einer Verschmelzung mit der 1965 von der Daimler-Benz AG übernommenen VW-Tochtergesellschaft Auto Union GmbH in Ingolstadt unter dem Dach der Volkswagenwerk AG verwirklicht werden sollte.33 Eine wichtige Rolle dabei spielte die Dresdner Bank,34 obgleich sie ihre bis April 1958 gehaltene Mehrheitsbeteiligung an NSU von gut 51 Prozent im Zuge des Booms der NSU-Aktie nach Bekanntgabe des Wankel-Engagements sukzessive auf etwa 10 Prozent vermindert hatte und der Großteil der Papiere sich seitdem in Streubesitz befand.35 Da ihr Eigenbestand über Bezugsrechtsausübungen bei Kapitalerhöhungen und Käufe an der Börse bis Ende 1968 wieder auf etwa 19,5 Prozent angewachsen und sie ein wichtiger Partner für NSU bei der Kreditvermittlung war,36 verfügte sie weiterhin über gro-

31 UAVW, 610/662/1, Schreiben von Heydekampf/Baumann an Nordhoff vom 20.01. 1967 und Schreiben von Heydekampf an Nordhoff vom 30. Januar 1967, UAVW, 69/ 721/1, Protokoll 6/1967 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 15. Februar 1967 und UAAN, unverz. Best., Absichtserklärung zur geplanten Zusammenarbeit der Auto Union GmbH, Ingolstadt mit der NSU Motorenwerke AG, Neckarsulm vom 18. September 1967. 32 Lotz, Kurt: Lebenserfahrungen. Worüber man in Wirtschaft und Politik auch sprechen sollte, Düsseldorf 1978, S. 120–121, Hahn, Carl H.: Meine Jahre mit Volkswagen, München 20052, S. 112; Edelmann, Heidrun: Heinz Nordhoff und Volkswagen. Ein deutscher Unternehmer im amerikanischen Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 258–314. 33 UAVW, 373/455/2/1, Protokoll 12/1964 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 22. Oktober 1964, UAVW, 373/455/1/6, Protokoll 5/1965 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 18. Mai 1965, UAAI, unverz. Best., Protokoll der Geschäftsführerbesprechung der Auto Union GmbH am 5. Februar 1968, UAAI, unverz. Best., Aktennotiz Höhne zum Produktionsprogramm der Auto Union GmbH 1969 vom 20. Februar 1969, UAVW, 373/452/2, Protokoll 5/1969 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 24. Februar 1969, UAVW, 373/454/1, Schreiben Lotz/Prinz an die Mitglieder der Vorstände und Geschäftsführungen der Tochtergesellschaften der Volkswagenwerk AG betr. Verhältnis der VW AG zu ihren Tochtergesellschaften vom 23. Januar1969 sowie UAAI, unverz. Best., Protokoll der Geschäftsführerbesprechung der Auto Union GmbH am 7. Februar 1969 und Aktenvermerk Dekkers betr. Produktvorschläge und Absatzzahlen für das Geschäftsjahr 1969 und 1970 vom 4. Juli 1968. Dazu auch Erdmann/Friese/Kirchberg/Plagmann: Vier Ringe (wie Anm. 7), S. 208–223, Mirsching, Gerhard: Audi. Vier Jahrzehnte Ingolstädter Automobilbau. Der Weg von DKW und Audi nach 1945, Gerlingen 1988, S. 54–60 u. 162–165, Etzold, Hans-Rüdiger/Rother, Ewald/Erdmann, Thomas: Im Zeichen der vier Ringe, Band 2: 1945–1968, Bielefeld u. Ingolstadt 1995, S. 285–357; UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG (wie Anm. 26), S. 97–111. 34 Ebd. S. 62 und 121. 35 HADrB, 109812, Aktenvermerk Vierhub betr. NSU Werke AG vom 29. August 1958 und Aktenvermerk betr. Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft, Erläuterungen zu den Beteiligungsgesellschaften vom 30. November 1962 sowie HADrB, 17596-2000, Bd. 1, Aktenvermerk betr. Unsere Beteiligung an NSU/AUDI NSU vom 17. September 1971.

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ßen Einfluss auf die Geschäftspolitik und hatte Interesse daran, das Unternehmen längerfristig zu stabilisieren und seine Rentabilität zu erhöhen. Dr. Hermann Richter, Aufsichtsratsvorsitzender von NSU, avancierte als ehemaliger Vertreter der Dresdner Bank und Mitglied im Aufsichtsrat von VW zur Schlüsselfigur für die folgenden Verhandlungen.37 Im Interesse der Volkswagenwerk AG lag es dabei, die Übernahme des Händlernetzes und der Produktionsanlagen von NSU durch ein ausländisches Konkurrenzunternehmen zu verhindern und gleichzeitig das Eindringen in den für VW bisher schwierigen Markt Italien über die dort gut ausgebauten NSU-Vertriebsstrukturen zu ermöglichen. Außerdem erhielt man vollen Zugriff auf die WankelTechnik – obgleich sie in Wolfsburg insgesamt sehr skeptisch beurteilt wurde – als Absicherung für den Erfolgsfall der neuen Antriebsmethode. In produktpolitischer Hinsicht war der Erwerb des NSU K 70 als fertig entwickeltes, eventuell anderweitig im VW-Konzern verwertbares Mittelklassemodell mit dem zugehörigen technischen Know-How im Bereich wassergekühlter Frontmotoren mit Vorderradantrieb von Bedeutung.38 Angesichts des hohen unternehmerischen Risikos bei VW ohne weitere Diversifikation mit nur einem maßgeblichen Produkt – dem VW Käfer, dessen technisches Konzept des luftgekühlten Heckmotors überholt war – sollte dieses Modell dienen als „Vorläufer einer neuen technischen Konzeption für VW. [. . .] NSU war in dieser Technik VW weiter voraus.“ 39 Hinzu kam als zentrales strategisches Ziel der Ausbau der angeschlagenen Auto Union zu einer vollwertigen zweiten Division des VW-Konzerns mithilfe einer raschen Erhöhung der Produktionskapazitäten durch das Werk in Neckarsulm mit seiner gut ausgebildeten Stammbelegschaft, einer sofortigen Abrundung des Typenprogramms durch die NSU-Modelle und einer Verbreiterung der Absatzbasis für den Aufbau einer schlagkräftigen exklusiven Vertriebsorganisation. Dadurch 36 HADrB, 109812, Schreiben Nebelung/Heubeck an Henzel betr. NSU Motorenwerke AG vom 6. November 1968. 37 Erbe, Cornelia: „Richter, Hermann“, in: Neue Deutsche Biographie, Band 21, Berlin 2003, S. 532. Onlinefassung unter http://www.deutsche-biographie.de/pnd139139 265.html [Zugriff am 30. April 2012] und UAAN, unverz. Best., Interview mit Kurt Lotz am 15. April 1982. 38 UAAI, unverz. Best., Aktenvermerk Prinz/Backsmann zur Eingliederung der NSU AG in den VW-Konzern vom 11. Februar 1969. 39 UAAN, unverz. Best., Interview mit Kurt Lotz am 15. April 1982; dazu auch UAVW, 373/453/2/1, Protokoll 22/1968 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 9. Dezember 1968 und UAVW, 373/453/2/1, Protokoll 23/1968 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 17. Dezember 1968; Grieger, Manfred: Der neue Geist im Volkswagenwerk. Produktinnovation, Kapazitätsabbau und Mitbestimmungsmodernisierung 1968–1976, in: Reitmayer, Morten/Rosenberger, Ruth (Hrsg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er-Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 31–66, hier S. 33–44; Lotz: Lebenserfahrungen (wie Anm. 32), S. 91–109 und UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG (wie Anm. 26), S. 116–120.

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sollte die Verteidigung der Marktanteile des VW-Konzerns gegen die wachsende ausländische Konkurrenz auf dem Wege einer Zweimarkenstrategie erreicht werden.40 Dennoch war die Geschäftsführung der Auto Union „nicht bei allen vertraulichen Gesprächen eingeschaltet“ 41 und wurde erst relativ spät über die Ergebnisse informiert. Dies dokumentiert den abhängigen Status des Betriebs innerhalb des VW-Konzerns und verweist auf seine untergeordnete Rolle bei den Verhandlungen, zumal lange Zeit auch eine völlige Eingliederung des defizitär arbeitenden Ingolstädter Standorts als „Werk Nr. 7“ der Volkswagenwerk AG erwogen worden war.42 Hauptziel für VW war es, möglichst schnell eine möglichst große Mehrheit an NSU zu erwerben, durch die Verbindung mit der Auto Union eine rasche und vollständige Integration in den VW-Konzern zu erwirken und den dafür erforderlichen finanziellen Aufwand aufgrund der bereits angespannten ökonomischen Lage so gering wie möglich zu halten. Als Sitz des fusionierten Unternehmens war seitens VW von Anfang an Ingolstadt favorisiert, um die dort bereits getätigten Investitionen voll nutzen und größeren Einfluss auf die Unternehmensführung der Tochterfirma ausüben zu können.43 Nach mehreren Vorgesprächen wurden die konkreten Fusionsbedingungen bei zwei geheim gehaltenen Konferenzen in Düsseldorf am 25. Januar 1969 und am 18. Februar 1969 festgelegt.44 Am 10. März 1969 konnte nach Zustimmung der Aufsichtsräte von VW, NSU und der Auto Union der Verschmelzungsvertrag unterzeichnet werden.45 Er sah vor, dass die Auto Union GmbH durch den alleini40 UAAI, unverz. Best., Protokoll der 54. Aufsichtsratssitzung der Auto Union GmbH am 28. Februar 1969 und UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG (wie Anm. 26), S. 108–111 u. 122–126, dazu auch Interview mit Kurt Lotz in der Stuttgarter Zeitung, 9. November 1974; Hahn: Meine Jahre mit Volkswagen (wie Anm. 32), S. 73 u. 103–104. 41 UAAN, unverz. Best., Interview mit Kurt Lotz am 15. April 1982; dazu UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG (wie Anm. 26), S. 97. 42 UAVW, 373/455/1/3, Protokoll 6/1966 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 24. Mai 1966, Protokoll 7/1966 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 20. Juli 1966, Protokoll 9/1966 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 13. September 1966, Protokoll 12/1966 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 26. Oktober 1966 und Protokoll 13/1966 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 8. November 1966. 43 UAVW, 780/124/1, Ansprache von Dr. Kurt Lotz an die Vorstandsmitglieder über die Übernahme der NSU Motorenwerke AG vom 27. Januar 1969 (AV-Medium). 44 UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1969, Aktennotiz Richter zur Besprechung in Düsseldorf am 25. Januar 1969 und Vereinbarung nach einem Gespräch in Düsseldorf am 18. Februar 1969, dazu UAVW, 780/124/1, Ansprache von Dr. Kurt Lotz an die Vorstandsmitglieder über die Übernahme der NSU Motorenwerke AG vom 27. Januar 1969 (AV-Medium) und UAVW, 373/452/2, Protokoll 4/1969 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 17. Februar 1969. 45 UAAI, unverz. Best., Protokoll der 54. Aufsichtsratssitzung der Auto Union GmbH am 28. Februar 1969, UAVW, 373/925/1, Protokoll der 42. Sitzung des Auf-

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gen Gesellschafter VW als Ganzes auf die NSU Motorenwerke AG übertragen wurde. Im Gegenzug erhielt die Volkswagenwerk AG nach einer Kapitalerhöhung auf 215 Millionen DM einen Anteil von 59,5 Prozent am neuen, durch die Fusion entstandenen Unternehmen namens AUDI NSU AUTO UNION AG und wurde damit zum Mehrheitseigentümer.46 Nach langwierigen Verhandlungen mit oppositionellen Aktionärsgruppen konnten mithilfe weitreichender Zugeständnisse der Unternehmensleitung hinsichtlich der weiteren Ausgestaltung der Wankel-Aktivitäten des Unternehmens und der Beteiligung der Anteilseigner an den Lizenzeinnahmen sowie einer öffentlichen Garantieerklärung zur Erhaltung der geschäftspolitischen Selbstständigkeit von AUDI NSU seitens VW die letzten Hindernisse beseitigt werden.47 Durch die Zustimmung der außerordentlichen Hauptversammlung der NSU Motorenwerke AG am 26. April 1969 mit der erforderlichen Dreiviertelmehrheit nach mehr als zwölfstündigen kontroversen Diskussionen der Kleinaktionäre48 sowie durch die Eintragung der Verschmelzung ins Handelsregister am 21. August 196949 wurde der Zusammenschluss rückwirkend zum 1. Januar 1969 rechtsgültig. Unternehmenssitz blieb – zunächst – Neckarsulm.

sichtsrats der Volkswagenwerk AG am 3. März 1969 und UAAN, unverz. Best., Protokoll 1/69 der Aufsichtsratssitzung der NSU Motorenwerke AG am 5. März 1969. 46 UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1969, Bezirksnotariat Neckarsulm, Auszug aus dem Notariatsregister 1969 Nr. 89 und UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1968, Gemeinsames Gutachten der Deutschen Revisions- und Treuhand AG Treuarbeit und der Treuhand-Vereinigung AG über die Wertrelation am 31. Dezember 1968 der NSU Motorenwerke AG, Neckarsulm und der Auto Union GmbH, Ingolstadt vom 20. Februar 1969. 47 UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1969, Rundschreiben der NSU Motorenwerke AG vom März 1969 betr. Stellungnahme der Verwaltung zu den Gegenanträgen und Ausführungen von Dr. Gerd Stieler von Heydekampf auf der außerordentlichen Hauptversammlung der NSU Motorenwerke AG am 26. April 1969. 48 UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1969, Niederschrift des Bezirksnotariats Neckarsulm über die außerordentliche Hauptversammlung der NSU Motorenwerke AG am 26. April 1969 sowie UAVW, 373/925/1, Protokoll der 44. Sitzung des Aufsichtsrats der Volkswagenwerk AG am 2. Juli 1969 und UAAN, Präsenzbibliothek, Ziegler: Betriebswirtschaftliche Aspekte der Entstehung und der Entwicklung der AUDI NSU AUTO UNION AG (wie Anm. 26), S. 144–145, dazu auch HSt vom 28. April 1969 und 29. April 1969 sowie Stuttgarter Zeitung vom 28. April 1969. 49 Amtsgericht Heilbronn, Handelsregister, Abt. B, HRB 180, Blatt 4, Eintrag vom 21. August 1969 und UAVW, 373/452/2, Protokoll 17/1969 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 25. August 1969 sowie UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1969, Satzung der AUDI NSU AUTO UNION AG vom 19. August 1969, UAAN, unverz. Best., Protokoll der vorbereitenden Sitzung des Aufsichtsrats der AUDI NSU AUTO UNION AG am 19. August 1969, Protokoll 5/69 der Aufsichtsratssitzung der AUDI NSU AUTO UNION AG am 26. August 1969 und Protokoll 6/69 der Aufsichtsratssitzung der AUDI NSU AUTO UNION AG am 23. September 1969; außerdem dazu Der Volkswirt 33/1969 vom 15. August 1969 und HSt vom 29. August 1969.

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II. Die Auswirkungen auf die Stadt Neckarsulm und die politischen Bemühungen um den Bedeutungserhalt des Standorts Nachdem die Verhandlungen zwischen NSU und VW zunächst im Geheimen geführt worden waren, seit Mitte Februar 1969 aber bereits Meldungen in der Presse kursierten, wurden Stadtverwaltung und Gemeinderat Neckarsulms ebenso wie der Landrat und die baden-württembergische Landesregierung vom Vorstand am 6. März 1969 offiziell über die geplante Fusion von NSU und Auto Union informiert.50 In die vorhergehenden Gespräche waren sie nicht miteinbezogen worden. Schon früh wurden in den Medien Spekulationen um den künftigen Unternehmens- und Verwaltungssitz der neuen Gesellschaft sowie über die verschiedenen Verschmelzungsvarianten und die daraus entstehenden Konsequenzen für die Standortgemeinden angestellt. Mit der Entscheidung für Neckarsulm als künftigen Gesellschaftssitz gingen Befürchtungen der Stadt Ingolstadt bezüglich des Verlusts von Steuereinnahmen in Höhe von 5 bis 8 Millionen DM jährlich einher.51 Ein erstes Treffen von Bürgermeister Dr. Erhard Klotz (SPD) mit seinem Ingolstädter Amtskollegen im April 1969 diente dementsprechend der Erörterung von „gleichgelagerte[n] Probleme[n] und Interessen“ und „finanziellen Auswirkungen“ 52 infolge der Fusion. Während die Stadtverwaltung von Ingolstadt dem geplanten Unternehmenszusammenschluss folglich mit gemischten Gefühlen entgegenblickte, wurde das Vorhaben durch die Gemeinde Neckarsulm aus Erleichterung über die Festlegung des Firmensitzes grundsätzlich begrüßt in der Hoffnung auf eine Erhöhung der künftigen Einnahmen aus der Gewerbesteuer und auf eine bessere Absicherung der Arbeitsplätze. Außerdem erhoffte man sich mehr Sicherheit für die Finanzplanung durch den größeren Unternehmensverbund, da bis dahin zahlreiche Auf- und Abwärtsbewegungen des stark an der NSU-Erfolgskurve orientierten Stadthaushalts zu verzeichnen waren.53 Auch seitens der Landesregierung Baden-Württembergs wurde in Freude über die Beibehaltung des Unternehmenssitzes in Neckarsulm die künftige Zusammenarbeit von NSU und VW aus Sicht der Wirtschafts- und Strukturpolitik positiv eingeschätzt angesichts des immer härter werdenden internationalen Wettbewerbs in der Automobilindustrie.54 Allerdings wurden nach der Teilnahme eines 50 StAN, A2/10 781.32 I, Schreiben von Heydekampf an Klotz vom 6. März 1969 und StAN, A1 B214, Protokoll der nicht-öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 6. März 1969, § 127 sowie KrAH, 4922, Schreiben von Heydekampf/ Wesp an Widmaier vom 6. März 1969 und HStAS, EA 9/102 Bü 18, Schreiben von Heydekampf/Frankenberger an Seifritz vom 6. März 1969. 51 Donaukurier, 26. Februar 1969. 52 StAN, A2/10 781.32 I, Schreiben Klotz an den Oberbürgermeister von Ingolstadt vom 20. März 1969. 53 HSt vom 29. April 1969. 54 HSt vom 12. März 1969.

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Vertreters der Landesregierung an der außerordentlichen Hauptversammlung von NSU am 26.04.1969 zur Informationsbeschaffung früh erste Befürchtungen bezüglich einer potentiellen Schwerpunktverlagerung des Unternehmens nach Ingolstadt, vor allem aufgrund der besseren Verfügbarkeit von Arbeitskräften dort, angemeldet.55 Zunächst verlief die Koexistenz von Unternehmen und Stadt aber weiter wie gewohnt, da NSU bis zur Rechtswirksamkeit der Verschmelzung mit der Eintragung ins Handelsregister am 21. August 1969 weitgehend unabhängig operieren konnte. So wurde beispielsweise die Fahrt einer Delegation des Gemeinderats und der Stadtverwaltung in die italienische Partnerstadt Bordighera im Juni mit drei kostenlos zur Verfügung gestellten NSU Ro 80 unterstützt.56 Die seit längerem gemeinsam angestellten Überlegungen von Stadt und Firma zur Verdolung des Flusses Sulm und zum Hochwasserschutz für das Industriegebiet unter finanzieller Beteiligung des Unternehmens wurden im März zusammen mit der Planung zur Erneuerung wesentlicher Teile der Stadtentwässerung im Gemeinderat verabschiedet.57 Auch die jährlich im Dezember stattfindenden Jubilarsehrungen für eine langjährige Betriebszugehörigkeit, die in der Vergangenheit ein wichtiges Element der lokalen Unternehmenskultur und ein Zeichen der Verbundenheit zwischen Unternehmen und Mitarbeitern sowie der Traditionspflege unter Einbeziehung der Stadt dargestellt hatten, wurden fortgesetzt.58 Mit der Ankündigung einer Belegschaftsaufstockung um rund 1.000 Mitarbeiter im August 1969,59 die aufgrund der regionalen Arbeitsmarktsituation nur durch die Anwerbung weiterer Gastarbeiter zu verwirklichen war, stellte sich für die Stadt Neckarsulm das Problem der Unterbringung der ausländischen Arbeitskräfte in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Da Baracken als Unterkünfte keine dauerhafte Lösung waren und allgemein die Bildung eines separaten „Ausländerviertels“ aus sozialen Gründen abgelehnt wurde, war die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum eine der wichtigsten Schnittstellen von Unternehmen und Stadt in der Folgezeit. Zugleich schien sich ein Wettstreit zwischen den Standorten Neckarsulm und Ingolstadt um die künftige Schwerpunktbildung der neu gegründeten AUDI NSU AUTO UNION AG anzubahnen, bei dem die güns-

55 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk Nr. 5000-N27/NSU betr. NSU Motorenwerke AG Neckarsulm vom 30. April 1969. 56 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 183. 57 UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Schreiben Wesp/Wingerter an das Stadtbauamt Neckarsulm betr. Sulmverdolung vom 4. Juli 1968; Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 182. 58 Ebd. S. 186–187. 59 HSt vom 14. August 1969; Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 123– 125.

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tigere Arbeitsmarktlage in Bayern mit mehr verfügbaren ortsansässigen Arbeitskräften einen wichtigen Faktor darstellte.60 Gleichzeitig ergaben sich durch neue Überlegungen von AUDI NSU zur langfristigen Erweiterung des Werks in Neckarsulm im Zuge der Fusion erhebliche Auswirkungen auf die Stadtplanung, nachdem die Unternehmensleitung im August 1969 eine Studie für die Jahre 1970 bis 1979 vorgelegt hatte, die Investitionen von rund 500 Millionen DM in Aussicht stellte. Das zentrale kommunalpolitische Aktionsfeld dabei war die Hochwasserfreimachung des Industriegebiets, das im Überschwemmungsraum der Flüsse Neckar und Sulm lag, um das vorhandene Terrain gegen Überflutungen abzusichern und neue Nutzflächen zu gewinnen. Damit in Zusammenhang stand eine nötige Umplanung der bereits baureifen Sulm-Verdolung und der Stadtentwässerung sowie die Verlegung der Kläranlage und der städtischen Trinkwasserquellen.61 Dies war für die Stadt mit beträchtlichen Planungsänderungen und Mehrkosten verbunden, so dass Verhandlungen über einen Interessenausgleich eingeleitet wurden. In Berücksichtigung der Absichten von AUDI NSU wurde die Beschlussfassung durch den Gemeinderat dafür zurückgestellt.62 Für die beabsichtigte Erweiterung des Betriebsgeländes von AUDI NSU war außerdem ein zusätzlicher Grunderwerb mit einer Gesamtfläche von ca. 6,3 Hektar sowie der Bau eines Regenrückhaltebeckens und eines Staudammes erforderlich. Ferner mussten mittelfristig Verkehrsbaumaßnahmen infolge des mit der Werkserweiterung verbundenen erhöhten Verkehrsaufkommens durchgeführt werden. Mit dem Wegfall der städtischen Trinkwasserquellen mussten weitere Bezugsrechte bei der Fernwasserversorgung angemeldet werden, was prognostizierte Investitionskosten von ca. 1 Million DM und und eine Anhebung des allgemeinen Wasserpreises nach sich zog. Darüber hinaus wirkte sich das Expansionsvorhaben von AUDI NSU auch auf die Stadterweiterung aus, da die Verlegung von Gastarbeiterunterkünften aus dem Werksgelände und die Bereitstellung von geeignetem Baugelände durch die Stadt für die Schaffung zusätzlicher Wohngebäude schwierig war. Hinzu kamen Überlegungen von AUDI NSU bezüglich eines neuen Industriegleisanschlusses zur Nachbargemeinde Kochendorf zur Auslieferung der Produktion, wodurch das bisherige Industriestammgleis der Stadt Neckarsulm wirtschaftlich entwertet worden wäre.63 Im Hinblick auf diese 60

Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 120–122. UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Aktenvermerk Klotz betr. Sulmverdolung und Hauptsammler vom 21. Juli 1969. 62 StAN, A1 B213, Protokoll der öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 22. Juli 1969, § 96 und StAN, A2/1 90/9, Schreiben Klotz an Schwarz vom 25. November 1969. 63 StAN, A2/10 781.32 I, Studie „Zusammenhänge und Folgen der geplanten Baumaßnahmen der Stadt Neckarsulm und der Erweiterung der Firma AUDI NSU AUTO UNION AG“ vom 10. September 1969. 61

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Implikationen forderten Stadtverwaltung und Gemeinderat eine Beteiligung von AUDI NSU an den Planungskosten. Unter Berücksichtigung der Unternehmensinteressen wurde ein neuer Standort für die Kläranlage ausgewählt. Da sich die Kosten der Hochwasserfreimachung für das Industriegebiet deutlich erhöhten, wurden in der Folgezeit Verhandlungen im Landtag, mit dem Regierungspräsidium und mit Wirtschaftsminister Dr. Hans-Georg Schwarz (SPD) geführt, um Fördermittel des Landes Baden-Württemberg zu erhalten.64 Zudem wurden Gespräche auf Verwaltungsebene mit den ebenfalls betroffenen Nachbargemeinden angeregt. Im Antrag an die Landesregierung zur Bereitstellung von Beihilfen wurden die Verschärfung der Hochwassergefahr durch den Autobahnbau und die Interessen des Landes an einer Erweiterung des Werks Neckarsulm von AUDI NSU zur Stärkung gegenüber dem Standort Ingolstadt betont.65 Da nach Meinung von Dr. Klotz in den Bundesländern Bayern und Niedersachsen erheblich mehr Anstrengungen zur Industrieförderung unternommen wurden, übte er immer wieder Kritik an der zögerlichen Haltung der Landesregierung Baden-Württembergs, zumal die Erhaltung des Firmensitzes in Neckarsulm aufgrund des Gewerbe- und Körperschaftsteueraufkommens im gemeinsamen Interesse von Kommune und Land lag. Eine fraktionsübergreifende Landtagsinitiative der örtlichen Abgeordneten zur Unterstützung der Hochwassersicherung des unteren Sulmtals mit Landesfördermitteln lehnte das Innenministerium dennoch ab mit der Begründung, die Verdolung der Sulm diene lediglich den städtebaulichen Interessen der Gemeinde Neckarsulm.66 Daraufhin wandte sich Dr. Klotz an Innenminister Walter Krause (SPD), um für eine finanzielle Beihilfe in Sachen der umfangreichen Bauvorhaben als „überörtliche Maßnahmen“ zu werben. In deutlichen Worten brachte er die gesamtwirtschaftliche Bedeutung von AUDI NSU für die Region und das ganze Land Baden-Württemberg zum Ausdruck: „Bei den Anstrengungen, die der bayerische Staat für die Entwicklung des Ingolstädter Werksteils von AUDI NSU macht, muß das Land Baden-Württemberg die Initiative und die Vorhaben der Stadt Neckarsulm und der Firma AUDI NSU für das Werk Neckarsulm unterstützen, wenn es sich nicht in kürzester Zeit den Vorwurf machen lassen will, den für die Wirtschaft des Landes bedeutsamen Betrieb mehr oder weni64 StAN, A1 B215, Protokoll der nicht-öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 16. September 1969, § 472. 65 UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Antrag an die Landesregierung betr. Landtagsinitiative für die Hochwasserfreimachung des Neckarsulmer Industriegebiets vom 4. September 1969. 66 StAN, A1 B215, Protokoll der nicht-öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 18. September 1969, § 477 und HSt vom 18. September 1969 sowie UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Antrag der Abgeordneten Doll, Erlewein (SPD), Klenert (CDU) und Feucht (FDP/DVP) betr. Hochwassersicherung des Unteren Sulmtales vom 19. September 1969 und Schreiben Geiger an den Landtagspräsidenten betr. Antrag der Abgeordneten Doll u. a. betr. Hochwassersicherung des unteren Sulmtales vom 4. November 1969.

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ger nach Ingolstadt abgedrängt zu haben. Ich weise mit Nachdruck auf diese Gefahr hin. Die Stadt Neckarsulm ist unter großen finanziellen Opfern bereit, dieser Gefahr zu begegnen, kann aber das Vorhaben Sulmverdolung, das nur eines von mehreren ist, um Erweiterungsmöglichkeiten zu schaffen, nur mit Hilfe des Landes und mit der bereits zugesagten Unterstützung der Firma AUDI NSU durchführen.“ 67

Die Hochwassersicherung des Industriegebiets wurde so als unabdingbare Voraussetzung für ein weiteres Engagement von AUDI NSU in Neckarsulm und als wirksames Mittel, der Gefahr einer drohenden Schwerpunktverschiebung nach Ingolstadt zu begegnen, dargestellt. Darüber hinaus erfuhr das Unternehmen seitens der Stadtverwaltung auch beim Geländeerwerb konkrete Hilfe durch die Vermittlung von Grundstücken zu günstigen Konditionen.68 Nach Auffassung von AUDI NSU sollte die Gemeinde als Käufer für die Flurstücke zur Erweiterung des Werksgeländes auftreten, um Preisspekulationen zu vermeiden, und diese anschließend günstig an das Unternehmen weiterveräußern.69 Dadurch sollte ein Stufenplan zur Expansion mithilfe der Ausgleichsbereitschaft der Stadt Schritt für Schritt eingeleitet werden.70 Die Nachricht über umfangreiche Ausbaumaßnahmen in Ingolstadt bei einer zeitgleichen vorläufigen Zurückstellung der ambitionierten Erweiterungs- und Modernisierungskonzeptionen für den Standort Neckarsulm diente als Auslöser für neuerliche öffentliche Diskussionen und politische Aktivitäten.71 So wandte sich nun auch der Betriebsratsvorsitzende Karl Walz an Wirtschaftsminister Dr. Schwarz, um die mangelnde Unterstützung der Landesregierung für das Neckarsulmer Werk im Vergleich zur umfangreichen Förderung der Industrie durch den bayerischen Staat zu beklagen. Er wies dabei eindringlich auf die Gefahr der Verschiebung des Unternehmensschwerpunkts nach Ingolstadt mit weitreichenden Konsequenzen wie dem unternehmenspolitischen Bedeutungsverlust des Standorts Neckarsulm oder einem längerfristig zu befürchtenden Arbeitsplatzabbau hin.72 In die gleiche Richtung zielte eine Initiative des Landrats Otto Widmaier (CDU), indem er die Bedeutung der Automobilindustrie für die ganze Re67 UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Schreiben Klotz an Krause betr. Antrag der Abgeordneten Doll u. a. zur Hochwassersicherung des unteren Sulmtales vom 13. November 1969. 68 UAAN, unverz. Best., Ordner „31/13 Grundstückskaufverträge“, Schreiben Klotz an AUDI NSU AUTO UNION AG betr. Grunderwerbsangelegenheiten vom 21. November 1969. 69 StAN, A2/1–12/1 W, Aktenvermerke über Besprechungen zwischen Vertretern der Stadt Neckarsulm und des Vorstands von NSU bzw. AUDI NSU am 13. August 1968, 14. August 1968, 21. August 1968 und 17. September 1968, Aktenvermerk Klotz betr. Grundstückserwerb der Firma NSU entlang der K 353 vom 12. Juni 1969 sowie Rundschreiben Klotz vom 18. Juli 1969. 70 UAAN, unverz. Best., Ordner „31/13 Grundstückskaufverträge“, Aktenvermerk Wesp betr. Geländeerwerb vom 18. November 1969. 71 HSt vom 5. November 1969. 72 HStAS, EA 6/102 Nr. 35, Schreiben Walz an Schwarz vom 10. November 1969.

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gion hervorhob und eine Verbesserung der verkehrstechnischen Erschließung des Umlandes zur Gewinnung zusätzlicher Arbeitskräfte anmahnte.73 Anlässlich eines Besuchs des bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel im Werk Ingolstadt im Dezember 1969, der als Symbol für die Bedeutung des Standorts für die bayerische Industriepolitik galt,74 schlug der Vorstandsvorsitzende Dr. von Heydekampf äußerst kritische Töne an: „Wir in Neckarsulm haben eine ähnliche Unterstützung des Landes Baden-Württemberg in der Vergangenheit schmerzlich vermißt. Um so nachhaltiger wirkt der Beitrag des Freistaats Bayern zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen in Ingolstadt. Der Erfolg rechtfertigt diese Maßnahmen und das Gewicht, das die Auto Union in der neuen Audi NSU AG einnimmt. [. . .] Ob dieser Sitz in Ingolstadt oder in Neckarsulm ist, bleibt für die Produktion ohne Bedeutung. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen und müssen deshalb nach wirtschaftlichen, nicht aber nach politischen oder kommunalen Gesichtspunkten arbeiten.“ 75

Obwohl die Aussage über den Firmensitz umgehend dementiert und die Äußerung zur Haltung der Landesregierung Baden-Württembergs auf die Zeit während der Umstellung von der Motorrad- auf die Automobilfertigung bei NSU hin relativiert wurde,76 sorgte dieses Statement für erhebliche Unruhe in Neckarsulm. Das Bekanntwerden einer Reduzierung der für 1970 geplanten Investitionen leistete Gerüchten über „Bestrebungen der bayerischen Landesregierung [. . .], Geschäftsleitung und Verwaltung des Automobilwerkes nach Ingolstadt abzuziehen“ 77 weiter Vorschub. Befürchtungen eines drohenden Schadens für das Land Baden-Württemberg und für den wirtschaftlich ohnehin schwachen Raum Unterland/Hohenlohe durch die „Verlegung des Verwaltungsschwerpunktes nach Ingolstadt, die nahezu das gesamte Management des Unternehmens abziehen wird“,78 stießen auf ein breites Medienecho.79 Nach einem Gespräch mit dem Neckarsulmer Betriebsratsvorsitzenden Walz und Bürgermeister Dr. Klotz gelangte Wirtschaftsminister Dr. Schwarz deshalb zu dem Schluss, 73 HSt vom 26. November 1969; Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 120–122. 74 Schlemmer, Thomas: Industriemoderne in der Provinz. Die Region Ingolstadt zwischen Neubeginn, Boom und Krise 1945 bis 1975, München 2009, S. 269–291. 75 HSt vom 9. Dezember 1969. 76 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Fernscheiben von Heydekampf an Schwarz vom 8. Dezember 1969 und Aktenvermerk betr. Anruf bei Dr. von Heydekampf am 8. Dezember 1969. 77 HSt vom 6. Dezember 1969, dazu auch u. a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Dezember 1969 und Stuttgarter Zeitung, 8. Dezember 1969. 78 HStAS EA, 6/303 Bü 35/16, Schreiben Schöck an Schwarz vom 4. Dezember 1969. 79 HSt vom 10. Dezember 1969 und 16. Dezember 1969; Stuttgarter Zeitung, 10. Dezember 1969.

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„dass das Land alle Anstrengungen unternehmen muss, um der offenbar vom Bayerischen Staat unterstützten Tendenz, den Schwerpunkt der Firma ganz nach Ingolstadt zu verlegen, entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Antrag der Stadt Neckarsulm wegen einer Finanzhilfe zur Verdolung der Sulm neues Gewicht. Die räumlichen Erweiterungsmöglichkeiten der Firma AUDI NSU in Neckarsulm hängen entscheidend davon ab, dass die Probleme der Verdolung der Sulm und damit der Hochwassersicherung des Industriegebiets möglichst bald zufriedenstellend geregelt werden.“ 80

In einem unter diesem Eindruck verfassten Schreiben an den VW-Vorstandsvorsitzenden Kurt Lotz griff Dr. Schwarz die Befürchtungen des Betriebsrats und der Stadtverwaltung Neckarsulm auf, „dass die Planungen der Firma AUDI NSU sich dahin auswirken werden, dass sich der Schwerpunkt der Entwicklung und Fertigung in den bayerischen Raum verlagert und dass die Werke in Baden-Württemberg nicht mehr weiter ausgebaut, sondern zunehmend an Bedeutung verlieren werden.“ 81 Unter Bezugnahme auf die regional- und wirtschaftspolitische Bedeutung des AUDI-NSU-Werks und die Möglichkeit einer Erschließung potentieller Arbeitskräftereserven in den noch überwiegend ländlich geprägten Gebieten nördlich und östlich von Neckarsulm mithilfe staatlicher Fördermittel appellierte er eindringlich an Lotz: „Nachdem die NSU-Werke nach längeren sorgenreichen Jahren nunmehr den Anschluss an die moderne Automobiltechnik gefunden haben, ist das Land Baden-Württemberg schon aus sektoralen Gründen an der Erhaltung dieses Entwicklungs- und Fertigungszentrums ausserordentlich interessiert, zumal von einem solchen Schwerpunkt technischer Entwicklung auch vielseitige Impulse auf Unternehmen anderer Art ausstrahlen. Auch regionalpolitisch muss das Land Wert auf die Erhaltung qualifizierter Arbeitsplätze und auf den weiteren Ausbau der Werke in diesem Raum legen. [. . .] Im Namen der Landesregierung möchte ich Sie daher bitten, bei den weiteren Planungen für die Firma AUDI NSU AG das Werk Neckarsulm mit seinen angeschlossenen Fertigungsbetrieben neben Ingolstadt als gleichwertigen, mit allen Teilfunktionen ausgestatteten Werkskomplex beizubehalten und damit den dort arbeitenden Menschen auch in den technischen und Entwicklungsabteilungen ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Das Wirtschaftsministerium ist gerne bereit, Sie dabei durch sachliche und finanzielle Hilfen soweit als möglich zu unterstützen.“ 82

Zentrale Aspekte bei einem Gipfelgespräch über die künftige Werksplanung zwischen der baden-württembergischen Landesregierung und dem Vorstand von AUDI NSU am 15. Dezember 1969 waren die Sulm-Verdolung und die Hochwasserfreimachung des Industriegebiets sowie der Geländeerwerb für die beabsichtigte Ausdehnung des Unternehmens. Außerdem wurden die ungünstige Ver80 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Schreiben Schwarz an Krause vom 27. November 1969. 81 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Schreiben Schwarz an Lotz betr. Weitere Entwicklung der Firma AUDI NSU Auto-Union AG in Baden-Württemberg vom 27. November 1969. 82 Ebd.

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kehrslage im Nahbereich Neckarsulm und damit zusammenhängend die Probleme bei der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem regionalen Einzugsbereich sowie die Frage der Wohnraumbeschaffung für Betriebsangehörige und noch zu akquirierende Mitarbeiter diskutiert.83 Unter Berufung auf das Beispiel Ingolstadt und die dortige Baulandbeschaffungs GmbH wurde durch die Unternehmensleitung als mögliche Vorgehensweise beim Grunderwerb der Ankauf durch die Stadtverwaltung und die anschließende Abgabe an AUDI NSU zu vorher vereinbarten Preisen vorgeschlagen, um günstige Expansionsbedingungen für das Unternehmen zu schaffen. Die Verkehrserschließung sollte durch den Ausbau des Straßennetzes und die Prüfung der Möglichkeit eines Bahnanschlusses nach Norden mit staatlicher und kommunaler Unterstützung verbessert werden. Zudem wurden staatliche Fördermittel für den Wohnungsbau in Aussicht gestellt. Im Einklang mit der Konzernspitze in Wolfsburg betonte Dr. von Heydekampf, dass die zukünftigen Expansionspläne des Unternehmens von rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt werden würden. Deshalb lag bisher der Schwerpunkt in Ingolstadt dank der besseren Standortbedingungen mit größeren und moderneren Produktionsstätten, dem bereits begonnenen Bau eines neuen Entwicklungszentrums, einer günstigeren Arbeitsmarktlage und einfacheren Ausdehnungsmöglichkeiten für das Werk, zumal die damit zusammenhängenden Investitionen bereits vor der Fusion beschlossen worden waren.84 Auf diese Weise wurde mithilfe der unterschwelligen Drohung einer Verlagerung des Unternehmensschwerpunkts nach Ingolstadt der Druck auf die Landesregierung erhöht, den weiteren Ausbau des Werks Neckarsulm mit staatlichen Mitteln zu fördern. Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger (CDU) bekräftigte daraufhin: „Das Land werde bestrebt sein, den Anliegen der Firma nach Möglichkeit zu entsprechen. Es sei sehr daran interessiert, dass Neckarsulm Sitz des Unternehmens bleibe und dass die im Land gelegenen Produktionsstätten des Unternehmens beim Ausbau angemessen berücksichtigt würden.“ 85 Die Stadt Neckarsulm bemühte sich ebenfalls beharrlich um die Unterstützung des Landes für die städtebaulichen Maßnahmen der Sulm-Verdolung und der damit zusammenhängenden Errichtung einer neuen Kläranlage.86 Die fortgesetzten 83 StAN, A2/1–12/1 W, Aktennotiz Wesp über das Gespräch am 15. Dezember 1969 in Stuttgart vom 15. Januar 1970; HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk betr. Besprechung des Herrn Ministerpräsidenten mit Vorstandsmitgliedern der Firma Audi NSU Auto Union AG am 15. Dezember 1969 im Staatsministerium. 84 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Schreiben Lotz an Schwarz betr. Weitere Entwicklung der Firma AUDI NSU AUTO UNION AG in Baden-Württemberg vom 18. Dezember 1969. 85 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk betr. Besprechung des Herrn Ministerpräsidenten mit Vorstandsmitgliedern der Firma Audi NSU Auto Union AG am 15. Dezember 1969 im Staatsministerium. 86 StAN, A2/1 90/9, Schreiben Klotz an Filbinger vom 22. Januar 1970 und Schreiben Feuchte an Klotz vom 30. Januar 1970.

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Anstrengungen der Stadtverwaltung für die Beschaffung von Gelände zu günstigen Konditionen sollten beim Kauf von Privateigentümern bei Bedarf mittels einer Subventionierung durch das Land unterstützt werden.87 Flankierend erteilte das Gewerbeaufsichtsamt Heilbronn mehrfach Sondergenehmigungen für AUDI NSU zur Verlängerung der Arbeitszeit für weibliche Arbeiterinnen in der Nachtschicht, da aufgrund begrenzter Kapazitäten in der Lackiererei und der mechanischen Fertigung Mehrarbeit zur Erfüllung der Lieferverpflichtungen notwendig war und die Arbeitszeit einiger Frauen an die ihrer Ehemänner angepasst werden musste, um eine gemeinsame Heimfahrt zu ermöglichen.88 Die seit längerem zwischen NSU und der Stadt Heilbronn geführten Gespräche bezüglich des Kaufs eines Fabrikanwesens zur Erweiterung und Verlagerung der Produktionskapazitäten wurden hingegen eingestellt,89 da eine weitere räumliche Aufsplitterung der Fertigungskapazitäten nicht gewünscht war. Der Anfang November 1969 vom Neckarsulmer Gemeinderat verabschiedete Nachtragshaushalt mit höheren Gewerbesteuereinnahmen von rund 3,2 Millionen DM war allerdings noch nicht als Effekt der Fusion von NSU und Auto Union zu werten, sondern beruhte lediglich auf Nachzahlungen aus dem gesamtwirtschaftlich erfolgreichen Vorjahr.90 Durch die im Frühjahr 1970 bekannt gegebene Erhöhung der Beteiligung der Volkswagenwerk AG an AUDI NSU auf über 75 Prozent schienen sich indes neue finanzielle Möglichkeiten für die Kommune zu eröffnen, da nach dem angestrebten Abschluss eines Beherrschungsvertrags durch den daraus resultierenden Steuerverbund mit VW eine deutliche Einnahmensteigerung erwartet wurde.91 Die Verhandlungen über die Landesbeihilfen zogen sich in die Länge, da das Wirtschaftsministerium, in dessen Zuständigkeit Maßnahmen zur Gewinnung von Industriegelände fielen, nochmals überprüfen wollte, „ob die Stadt, die über eine 87 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk Nr. 5000-N27/125 vom 7. Januar 1970. 88 HStAS, EA 8/301 Bü 665, Ausnahmegenehmigungen des Gewerbeaufsichtsamts Heilbronn für die AUDI NSU AUTO UNION AG vom 12. Januar 1970, 23. Februar 1970, 24. Februar 1970, 15. Februar 1971 und 4. Mai 1971. 89 StAH, B 33–55, Aktenvermerk betr. Werksplanung NSU vom 21. August 1969, Aktenvermerk betr. Verkauf der Lederfabrik an Audi-NSU vom 29. Dezember 1969 und Aktenvermerk betr. Mietverhältnis Stadt Heilbronn – AUDI/NSU über Fabrikationsräume im Lederfabrik-Anwesen vom 13. November 1970 bzw. 19. November 1970 sowie Schreiben Krüger an AUDI NSU AUTO UNION AG betr. Fortsetzung des Mietverhältnisses über die frühere Lederfabrik Heilbronn vom 19. November 1970, außerdem StAH, A 43–1246, Baugenehmigungsakten der Stadt Heilbronn vom 14. November 1969 und Bauantrag der NSU Motorenwerke AG vom 5. März 1969. 90 StAN, A1 B213, Protokoll der öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 6. November 1969, § 132 und StAN, A1 B216, Protokoll der öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 13. Januar 1970, Anlage zu § 1. 91 HSt vom 30. April 1970; Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 192.

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überdurchschnittliche Realsteuerkraft bei unterdurchschnittlichem Schuldenstand verfügt, diese Belastung tragen kann, oder ob zusätzliche Hilfen notwendig sind.“ 92 Die Kosten wurden schließlich mit insgesamt rund 30,3 Millionen DM angesetzt, wobei allein der Aufwand für die Sulm-Dole durch die von AUDI NSU gewünschten Planungsänderungen auf 8,7 Millionen DM gestiegen war. Zugleich bestätigte die Unternehmensleitung die Zusage der früheren NSU Motorenwerke AG zu einem Kostenbeitrag. Mit dem Hinweis auf die Stimmung im Aufsichtsrat von AUDI NSU unterstrich der Vorstand allerdings die Bedeutung eines Zeichens, „daß das Land Baden-Württemberg und die Stadt [. . .] Außerordentliches tun, um den Sitz der Firma zu erhalten und die künftigen Ausbaupläne des Konzerns zu unterstützen.“ 93 Der Vorschlag einer Drittelung der Aufwendungen für die Verdolung zwischen Land, Stadt und Unternehmen fand schließlich die Zustimmung aller beteiligten Parteien, so dass auf dieser Grundlage die Konkretisierung der Planungen beginnen konnte. Parallel dazu wurden die Bemühungen der Stadt um eine höhere finanzielle Förderung beim Bau des Rückhaltebeckens und der geplanten Gruppenkläranlage durch das für wasserwirtschaftliche Maßnahmen zuständige Innenministerium fortgesetzt. Dabei wurde ebenfalls auf die wirtschaftliche Bedeutung von AUDI NSU für die Stadt und das Umland verwiesen.94 Eine unerwartete Beschleunigung erfuhren die langwierigen Verhandlungen infolge von zwei Hochwasserkatastrophen an der Sulm in bis dahin ungekannten Ausmaßen. Im Februar 1970 wurde das Werksgelände von AUDI NSU massiv überflutet; es entstanden materielle Schäden in Höhe von 400.000 DM.95 Ministerpräsident Dr. Filbinger stattete der Stadt Neckarsulm umgehend einen Krisenbesuch ab und versprach unbürokratische und schnelle Hilfe. Einen Tag später wurde die Angelegenheit erstmals im Ministerrat besprochen.96 Einerseits wurde der Hochwasserschutz des Industriegebiets bei einem sogenannten Gewässer zweiter Ordnung aus rechtlicher Perspektive zwar als Sache von Stadt und Unternehmen eingeordnet, andererseits aber angesichts der hohen Kosten die Notwendigkeit der Landeshilfe grundsätzlich anerkannt. Dabei spielten auch der wach92 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk Nr. 5239.40/6 betr. Anträge der Stadt Neckarsulm auf staatliche Finanzhilfe für Investitionen im Zusammenhang mit den Erweiterungsplänen der Firma AUDI-NSU vom 12. Februar 1970, dazu auch HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Schreiben Klotz an Filbinger betr. Weiterentwicklung von AUDI NSU in Neckarsulm vom 22. Januar 1970. 93 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk vom 16. Februar 1970. 94 StAN, A2/1 90/9, Schreiben Klotz an Krause vom 17. Februar 1970. 95 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 191; UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Vorstandsvorlage für die Sitzung am 20. Juli 1970 vom 14. Juli 1970 und Schreiben von Heydekampf/Wesp an Schwarz betr. Hochwasserfreimachung der Sulm vom 21. Juli 1970. 96 HStAS, EA 1/105, Bd. 22, Protokoll der 7. Sitzung des Ministerrats am 24. Februar 1970, TOP 10D, S. 115–116.

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sende Druck der Unternehmensleitung mit der klaren Stellungnahme, „dass die Sicherung und der Fortbestand des Werkes von der baldigen Lösung der Regulierung der Sulm abhänge“,97 und die zugleich signalisierte Bereitschaft zur Beteiligung an den Kosten mit 3 bis 4 Millionen DM eine wichtige Rolle. Nochmal verschärft wurde die Lage, als im Mai 1970 ein erneutes Hochwasser mit noch extremeren Dimensionen das Neckarsulmer Industriegebiet und die Werksanlagen von AUDI NSU verwüstete.98 Die Schäden allein bei AUDI NSU beliefen sich auf rund 8 Millionen DM, davon 5 Millionen DM nicht durch Versicherungen gedeckt; hinzu kamen Produktionsausfälle von mehreren Tagen aufgrund der umfangreichen Aufräumarbeiten.99 Auch der zweite große Industriebetrieb der Stadt, die Karl Schmidt GmbH, hatte erhebliche ungedeckte Schäden zu verkraften.100 Nach eindringlichen Hilfegesuchen des Neckarsulmer Bürgermeisters Dr. Klotz und des Heilbronner Landrats Otto Widmaier101 bekräftigte Ministerpräsident Dr. Filbinger seine Zusage zur Beteiligung des Landes an den Kosten mit der klaren öffentlichen Stellungnahme: „Unser landespolitisches Interesse geht dahin, Audi NSU in Neckarsulm zu halten.“ 102 Diese Entwicklungen mündeten schließlich in eine gemeinsame Kabinettsvorlage des Innen-, Wirtschafts- und Finanzministeriums Baden-Württembergs. Die Bitte der Stadt um finanzielle Unterstützung an die Landesregierung erschien darin „verständlich, denn die Erhaltung und der Ausbau des Werkes liegen nicht nur im Interesse der Stadt, sondern auch im Interesse des Landkreises Heilbronn und des Landes.“ 103 Da sich das Hauptaugenmerk der Firma AUDI NSU wegen der höheren Fertigungskapazitäten sowie der günstigeren Möglichkeiten zur Produktionsausweitung und einer besseren Arbeitsmarktlage ohnehin bereits in Ingolstadt befand, erkannte man das Risiko, hinter dem bayerischen Standort zurückzubleiben. Aufgrund der großen regionalen Bedeutung des Betriebs wurde 97

Ebd. S. 116. Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 193. 99 UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Vorstandsvorlage für die Sitzung am 20. Juli 1970 vom 14. Juli 1970 und Schreiben von Heydekampf/Wesp an Schwarz betr. Hochwasserfreimachung der Sulm vom 21. Juli 1970. 100 HStAS, EA 1/924 Bü 1228, Schreiben Karl Schmidt GmbH an Filbinger betr. Hochwasserschaden im Industriegebiet der Stadt Neckarsulm am 12. Mai 1970 vom 15. Dezember 1971. 101 HStAS, EA 1/924 Bü 1228, Fernschreiben Klotz an Filbinger betr. Hochwasser in Neckarsulm vom 12. Mai 1970 und Fernschreiben Widmaier an Filbinger vom 12. Mai 1970. 102 HSt vom 14. Mai 1970. 103 HStAS, EA 1/924 Bü 1228, Gemeinsame Kabinettsvorlage des Innen-, Wirtschafts- und Finanzministeriums betr. Überschwemmung im Gebiet der Sulmmündung, insbesondere bei der Audi NSU Auto-Union AG in Neckarsulm, Lkrs. Heilbronn vom 20. Mai 1970; dazu auch HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Aktenvermerk Nr. VIII 7001 Sulm/1,2,3,4,5 betr. Erweiterungspläne der Firma Audi-NSU Autounion AG in Neckarsulm, Lkrs. Heilbronn vom 12. Februar 1970. 98

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die Notwendigkeit der finanziellen Landeshilfe für die Durchführung der überwiegend wasserwirtschaftlichen Maßnahmen eingeräumt, um die Hochwasserfreimachung des Industriegebiets sicherzustellen und das für eine weitere Ausdehnung benötigte Gelände, das ebenfalls im Überflutungsgebiet lag, bereithalten zu können. Da die Sulm wegen der Durchquerung des Industriegebiets und des Werksgeländes von AUDI NSU als „Hemmnis für eine moderne Industrieplanung“ 104 betrachtet wurde, sollten sowohl die geplante Verdolung und Umlegung als auch der Bau eines Rückhaltebeckens finanziell gefördert werden. Außerdem sollte die mit der Werkserweiterung zusammenhängende Verlegung der Kläranlage und der städtischen Trinkwasserbrunnen bezuschusst werden. Die Kosten wurden nunmehr auf insgesamt 33,6 Millionen DM veranschlagt. Nach einem gemeinsamen Finanzierungsplan sollte AUDI NSU 4 Millionen DM, die Stadt Neckarsulm 13,9 Millionen DM und das Land Baden-Württemberg 12,5 Millionen DM des finanziellen Aufwands übernehmen; der Rest wurde auf die an der Abwasserbeseitigung ebenfalls beteiligten Nachbargemeinden aufgeteilt. Der Ministerrat billigte die Kabinettsvorlage in seiner Sitzung am 26. Mai 1970, auch aufgrund der durch den Wirtschaftsminister nochmals ausdrücklich artikulierten Gefahr, „dass die Firma NSU ihre künftigen Ausbaupläne vermehrt in Ingolstadt durchführe, wenn nicht von Seiten des Landes Baden-Württemberg tatkräftig die Hochwasserfreimachung des Werkgeländes in Neckarsulm vorangetrieben werde.“ Ministerpräsident Dr. Filbinger merkte diesbezüglich aber skeptisch an, „dass die maßgebenden Entscheidungen über den weiteren Ausbau von NSU von den Aufsichtsräten erfolge, die mit dem Land nicht besonders eng verbunden seien.“ 105 Trotz des Bewusstseins des nur begrenzten Einflusses der Landesregierung auf die noch anstehenden unternehmenspolitischen Entscheidungen und unter Betonung der Mitverantwortung der Bundesregierung beschloss der Ministerrat die Einplanung von Sondermitteln bis zu 12,5 Millionen DM in den Haushalten 1971 bis 1975 für den Hochwasserschutz des Neckarsulmer Industriegebiets. Voraussetzung dafür war eine Beteiligung der Firma AUDI NSU entsprechend den bisherigen Verhandlungen mit 4 Millionen DM und die Aufnahme zusätzlicher Gespräche über eine angemessene finanzielle Beteiligung des Landkreises Heilbronn. Gleichzeitig wurde die Frage eines Gebührenerlasses für AUDI NSU im Zusammenhang mit den Registereintragungen der Fusion positiv beschieden. Dies geschah ebenfalls aus landes- und wirtschaftspolitischen Erwägungen als Zeichen des guten Willens aufgrund der „Gefahr, dass die Firma Audi 104 HStAS, EA 1/924 Bü 1228, Gemeinsame Kabinettsvorlage des Innen-, Wirtschafts- und Finanzministeriums betr. Überschwemmung im Gebiet der Sulmmündung, insbesondere bei der Audi NSU Auto-Union AG in Neckarsulm, Lkrs. Heilbronn vom 20. Mai 1970. 105 HStAS, EA 1/105, Bd. 22, Protokoll der 18. Sitzung des Ministerrats am 26. Mai 1970, TOP 6, S. 292. Die demonstrative Benutzung des früheren Firmenkürzels NSU durch den Ministerrat verweist auf den immer noch vorhandenen Glauben an die Führungsrolle des Neckarsulmer Unternehmensteils.

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NSU Auto-Union AG im Hinblick auf die in Ingolstadt bessere Arbeitsmarktlage Kapazitäten nach dorthin verlagere, wenn das Land gegenüber der Niederlassung in Neckarsulm nicht im Rahmen des Möglichen entgegenkomme.“ 106 Im Nachhinein wurde der Beihilfesatz für die Verdolung der Sulm sogar nochmal von 50 Prozent auf 60 Prozent erhöht.107 Angesichts dieses Entgegenkommens seitens der Landes- und Kommunalpolitik verzichtete die Unternehmensleitung von AUDI NSU auf die gerichtliche Geltendmachung der zunächst angekündigten Schadensersatzforderungen gegen die Stadt Neckarsulm für die Hochwasserschäden und benutzte sie lediglich als Druckmittel zur Beschleunigung der Baumaßnamen und zur Erhöhung der Landesförderung.108 Dennoch verzögerte sich die Umsetzung der Entscheidungen aufgrund der komplexen Beschlussfassung auf kommunaler, Kreis- und Landesebene unter Einbeziehung von Regierungspräsidium und Ministerrat erheblich, obwohl die Stadtverwaltung immer wieder auf einen raschen Baubeginn drängte, der Gemeinderat dem Projekt umgehend seine Zustimmung erteilte und AUDI NSU die bereits im Oktober 1969 gegebene Zusage einer Kostenbeteiligung in Höhe von 4 Millionen DM in verbindlicher Form wiederholte.109 Neben den Anstrengungen zur räumlichen Ausdehnung des Werksbereichs Neckarsulm vergab AUDI NSU außerdem weiterhin Darlehen und Zuschüsse für Gastarbeiterwohnheime und Belegschaftswohnungen als Beitrag zur Beseitigung des Wohnungsmangels.110 Darüber hinaus stellte das Unternehmen als Zeichen der Verbundenheit nach wie vor seine Räumlichkeiten für städtische Veranstaltungen zur Verfügung, etwa für die Abhaltung von Bürgerversammlungen.111 Im Zuge der sich zum Jahresende 1970 trotz aller politischen Maßnahmen beschleunigenden Verlagerung der Verwaltung von AUDI NSU nach Ingolstadt zu 106 HStAS, EA 1/105, Bd. 22, Protokoll der 18. Sitzung des Ministerrats am 26. Mai 1970, S. 293; dazu auch HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Schnellbrief Justizministerium an Staatsministerium betr. Gesuch der Firma Audi NSU Auto Union AG um Erlaß von Gerichtskosten vom 20. Mai 1970. 107 HStAS, EA 1/105, Bd. 31, Protokoll der 9. Sitzung des Ministerrats am 5. März 1974, TOP 5, S. 214. 108 HStAS, EA 1/924 Bü 1228, Schreiben Wesp/Henn an Klotz und Filbinger betr. Hochwasserschäden vom 4. Juni 1970 und Schreiben Innenministerium Nr. VIII 7001 Sulm/21 betr. Hochwasserschäden in Neckarsulm vom 26. Februar 1971. 109 StAN, A1 B216, Protokoll der öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 04. Juni 1970, § 68 sowie UAAN, unverz. Best., Ordner „35/20 Sulmverdolung I, Hochwasser“, Vorstandsvorlage für die Sitzung am 20. Juli 1970 vom 14. Juli 1970 und Schreiben von Heydekampf/Wesp an Schwarz betr. Hochwasserfreimachung der Sulm vom 21. Juli 1970. 110 UAAN, unverz. Best., Ordner „NSU AR-Sitz.-Protokolle 1966–1971“, Protokoll 2/70 der Aufsichtsratssitzung der AUDI NSU AUTO UNION AG am 13. April 1970 und dazu UAAN, Präsenzbibliothek, AUDI NSU AUTO UNION AG: Chronik des Personalwesens, S. 87–88. 111 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 192.

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Rationalisierungs- und Kosteneinsparungszwecken flammte die Diskussion über den schleichenden Bedeutungsverlust des Standorts Neckarsulm und die Gefahr einer endgültigen Verlegung des Firmensitzes erneut auf.112 Damit verbunden war neben der Furcht vor einem nachhaltigen Imageverlust eine wachsende Unruhe in der Belegschaft und die Sorge über einen potentiellen Arbeitsplatzabbau. „Entgegen ursprünglicher Zusicherungen – so geht die Rede – sei, quasi über Nacht, die Entscheidung pro Ingolstadt gefallen.“,113 so eine wenig optimistische Zeitungsmeldung aus der Lokalpresse. Trotzdem sollten die Arbeitsplätze in der Produktion und der juristische Firmensitz erhalten bleiben, was im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation der Stadt die wichtigsten Gesichtspunkte darstellte. Auch wenn der Verbleib des Wankel-Entwicklungszentrums in Neckarsulm unter Verdopplung der personellen Kapazität sichergestellt war, zeigte sich Bürgermeister Dr. Klotz allerdings „weniger glücklich“ 114 über die Abwanderung wichtiger Abteilungen und der damit verbundenen Kompetenzen. Insbesondere die Umsiedlung von Teilen der Technischen Entwicklung in das neu errichtete Entwicklungszentrum in Ingolstadt und der daraus resultierende Verlust von hochqualifizierten Arbeitsplätzen in Neckarsulm sorgten für Unruhe. Durch den sich anbahnenden Beherrschungsvertrag zwischen VW und AUDI NSU wurden gleichzeitig aber Vorteile für die Stadt in Form von höheren Steuereinnahmen durch einen direkten Steuerverbund mit Wolfsburg erwartet – solange zumindest der rechtliche Sitz der Gesellschaft in Neckarsulm blieb. Für das Geschäftsjahr 1970 hatte AUDI NSU etwa 12,5 Millionen DM an Steuern abzuführen, davon 5,7 Millionen DM Gewerbe- und Grundsteuer an die Standortgemeinden, aufgrund der unzureichenden Ertragslage allerdings nur 2,3 Millionen DM ergebnisabhängige Ertragsteuern.115 Dennoch waren die Prognosen für die Entwicklung der finanziellen Situation der Stadt Neckarsulm für 1971 nur vorsichtig optimistisch, da eine deutliche Ausgabensteigerung im außerordentlichen Haushalt aufgrund der anstehenden Infrastrukturmaßnahmen zu verzeichnen war.116 Zugleich ließ die schlechte Ertragslage der örtlichen Großindustrie, namentlich von AUDI NSU, künftig sinkende Gewerbesteuereinnahmen erwarten. In Anbetracht der negativen Konsequenzen der zunehmenden Schwerpunktverlagerung von AUDI NSU nach Ingolstadt und der für die Zukunft zu befürchtenden Verlegung des Firmensitzes, der 112

Stuttgarter Zeitung, 4. November 1970. HSt vom 8. Dezember 1970; dazu Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 197. 114 HSt vom 8. Dezember 1970. 115 UAAN, unverz. Best, Hängeregister 1970, Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand AG Treuarbeit und der Treuhand-Vereinigung AG über die Prüfung des Jahresabschlusses der AUDI NSU AUTO UNION AG zum 31. Dezember 1970 und UAAN, unverz. Best., Hängeregister 1971, Aktennotiz AUDI NSU betr. Aufteilung des Steueraufkommens für das Geschäftsjahr 1970, ohne Datum. 116 StAN, A1 B216, Protokoll der öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 17. Dezember 1970, Anlage zu § 147. 113

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in Wolfsburg hinter verschlossenen Türen immer wieder diskutiert wurde,117 wandte sich Bürgermeister Dr. Klotz im Rahmen einer groß angelegten Briefaktion u. a. an den VW-Vorstandsvorsitzenden Kurt Lotz, um auf die angespannte Situation in Neckarsulm aufmerksam zu machen. Obwohl er zu Anfang die Fusion auch aus Sicht der Stadt begrüßt hatte mit der „Hoffnung, daß eine breitere Basis für die Wirtschaftskraft des Unternehmens mehr Sicherheit und mehr Erfolg bedeuten“ und „daß der Werksteil Neckarsulm nicht zur ,verlängerten Werkbank‘ von VW degradiert werde“ sowie in der Erwartung, „daß nicht nur organisatorisch abtrennbare Teile der Verwaltung in Neckarsulm bleiben, sondern vor allem der technische Bereich erhalten und sogar ausgebaut wird“,118 musste er nun enttäuscht konstatieren: „Dieser Fusionseffekt, wie er sich jetzt abzeichnet, war in Neckarsulm weder bekannt, noch konnte er gewünscht werden. Die Stadt hat gerade im Hinblick auf neue Entwicklungen umfangreiche Strukturmaßnahmen eingeleitet, die die Stadt trotz der Unterstützung des Landes finanziell aufs äußerste anspannen. Auch wenn man davon ausgeht, daß die Stadt letztlich kaum Gewerbesteuer einbüßt und viele hochqualifizierte Arbeitskräfte bei Fiat, Mercedes oder anderen Firmen unterkommen, wenn sie den Umzug nach Ingolstadt nicht mitmachen wollen oder können, wird hier doch ein Team und damit Wirtschafts- und Lebenskraft für die Stadt zerschlagen, die weder für die Stadt, noch für die Wirtschaft nur nach Gehalt und Erfolg berechnet werden dürfen. Die Stadt Neckarsulm hat wie gesagt bisher im Vertrauen auf Ihre und Herrn von Heydekampfs Aussagen der fusionsbedingten Umstrukturierung mit einem ,weinenden Auge‘, aber doch in der Hoffnung auf neue Entwicklungen ruhig gegenübergestanden. Wenn aber die alte NSU tatsächlich zu einem bloßen Produktionsstandort herabgemindert wird, steht dies nicht nur im Gegensatz zu Ihren Zusagen, sondern es bedeutet auch für künftige Konzentrationen und Fusionen in der Autoindustrie eine erhebliche Belastung.“ 119

In Bezug auf die 1971 einzuleitenden Bauvorhaben, vor allem auf die Hochwasserfreimachung der Sulm, betonte er: „Für Sie ist das eine Forderung an die Industriestadt Neckarsulm, für uns ist dies eine unverhältnismäßig starke Strapazierung des von allen Steuerzahlern getragenen Haushalts der Stadt, die nur zu rechtfertigen ist, wenn die Wirtschaftskraft des Werkes Neckarsulm nicht nur erhalten, sondern gestärkt wird.“ 120 Gegenüber dem AUDI-NSU-Vorstandsvorsitzenden Dr. von Heydekampf kritisierte er – bei allem Verständnis dafür, „daß sich durch die Fusion gewisse Um117 UAAI, unverz. Best., Aktenvermerk Prinz/Backsmann zur Eingliederung der NSU AG in den VW-Konzern vom 11. Februar 1969, UAVW, 780/124/1, Ansprache von Dr. Kurt Lotz an die Vorstandsmitglieder über die Übernahme der NSU Motorenwerke AG vom 27. Januar 1969 (AV-Medium) und UAVW, 373/163/3, Protokoll 33/ 1971 der Vorstandssitzung der Volkswagenwerk AG am 7. Dezember 1971. 118 StAN, A2/1–12/1 L, Schreiben Klotz an Lotz betr. Werk Neckarsulm der Firma AUDI NSU Auto Union AG vom 25. November 1970. 119 Ebd. 120 Ebd.

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strukturierungen zu ungunsten von Neckarsulm ergaben“ – ebenfalls die Schäden für die Stadt durch den Verlust von hochqualifizierten Arbeitsplätzen und deutlich verringerte Gewerbesteuereinnahmen im Fall einer endgültigen Verlegung des Firmensitzes. Eindringlich appellierte er deshalb an die Führungsspitze des Unternehmens, im gemeinsamen Interesse nach einem „Mittelweg zwischen der früheren existenziellen Lebenseinheit von NSU und Stadt und einem vom VWKonzern geschalteten und dirigierten Produktionsband“ 121 zu suchen. Gleichzeitig kontaktierte er Bundesfinanzminister Dr. Alex Möller (SPD), der früher als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat von NSU tätig gewesen war, mit der dringenden Bitte um Einflussnahme auf Lotz über die Bundesvertreter im VW-Aufsichtsrat hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Automobilwerks in Neckarsulm.122 In ähnlicher Weise bekräftigte er unter Hinweis auf die steuerlichen Konsequenzen gegenüber dem baden-württembergischen Wirtschaftsminister seine Auffassung, „daß auch das Land sich mit allen Mittel bemühen muß, daß das Werk Neckarsulm der Firma AUDI NSU Auto Union AG. nicht zu einem reinen Produktionsband herabgestuft wird“, und berief sich auf das „vom Wirtschaftsministerium zugesagte Darlehen zur Finanzierung der umfangreichen Maßnahmen.“ 123 Dr. Schwarz sagte daraufhin die weitere Unterstützung der Landesregierung zu, äußerte sich aber in Bezug auf die staatlichen Einflussmöglichkeiten auf die Unternehmenspolitik des VW-Konzerns eher pessimistisch: „Nach meinen Informationen ist kaum damit zu rechnen, daß die Firma sich durch den Hinweis auf die landes- und kommunalpolitischen Belange von Dispositionen abbringen läßt, die sie im Interesse einer innerbetrieblichen Rationalisierung und Straffung für erforderlich hält. Ich bin aber mit Ihnen der Meinung, daß die vorgesehenen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Hochwasserfreimachung des Geländes trotzdem mit der gebotenen Beschleunigung durchgeführt werden sollten, und werde mich dafür einsetzen, daß die hierfür in Aussicht genommenen Landeshilfen in der vorgesehenen Höhe gewährt werden.“ 124

Bei einem Besuch in Neckarsulm Mitte Januar 1971 und einem Gespräch mit der Spitze der Stadtverwaltung glättete Kurt Lotz die Wogen mit der Zusicherung „Neckarsulm bleibt Automobilstadt und Sitz eines weltweit wirkenden WankelZentrums.“,125 ohne damit aber alle Zweifel ausräumen zu können. Durch die Pläne von VW, einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit AUDI NSU abzuschließen und das Tochterunternehmen so stärker in den Konzernver121 StAN, A2/1–12/1 H, Schreiben Klotz an von Heydekampf betr. Werk Neckarsulm der Firma AUDI NSU Auto Union AG vom 25. November 1970. 122 StAN, A2/1–12/1 M, Schreiben Klotz an Möller vom 25. November 1970. 123 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Scheiben Klotz an Schwarz vom 25. November 1970. 124 HStAS, EA 6/303 Bü 35/16, Schreiben Schwarz an Klotz betr. Firma Audi-NSU Autounion AG vom 8. Dezember 1970. 125 HSt vom 15. Januar 1971; dazu auch Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 202.

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bund zu integrieren, war der Standort Neckarsulm künftig noch mehr von den zentral gesteuerten Weisungen aus Wolfsburg abhängig, die auf lokale Interessen naturgemäß weniger Rücksicht nehmen konnten. Dennoch wurde seitens der Unternehmensleitung von AUDI NSU bestätigt, dass in absehbarer Zeit keine Verlegung des Gesellschaftssitzes beabsichtigt war, obgleich die Verwaltung aus wirtschaftlichen Gründen bis auf die Bereiche Personal- und Sozialwesen sowie Rechts-, Vertrags- und Lizenzwesen bereits in Ingolstadt konzentriert war. Außerdem signalisierte die Landesregierung ihre weiterhin bestehende Bereitschaft zur Unterstützung des Ausbaus des Unternehmens in Neckarsulm und der Erweiterung des Werksgeländes. In Anbetracht der Standortvorzüge in Ingolstadt und unter Berücksichtigung der zunehmend mit Verlusten behafteten Produktion der NSU-Modelle musste aber eingeräumt werden: „Der Landesregierung ist bewußt, daß diese innerbetrieblichen Gründe auch für die künftigen Dispositionen des Unternehmens großes Gewicht haben werden. Sie wird aber weiter darauf hinwirken, daß der rechtliche Sitz des Unternehmens und ein angemessener Teil der Verwaltung in Neckarsulm verbleiben.“ 126 Die Zukunftshoffnungen galten künftig vor allem der Entwicklung des Wankel-Motors, die in Neckarsulm zentral für den ganzen VW-Konzern durchgeführt werden sollte und so ein Alleinstellungsmerkmal für den Standort darstellte, sowie der Erhaltung der Arbeitsplätze in der Fertigung dank der positiven konjunkturellen Entwicklung. Allerdings verlor die Stadt mit dem Ausscheiden von Dr. Gerd Stieler von Heydekampf aus dem Vorstand von AUDI NSU Ende März 1971 einen wichtigen Verbündeten, der die Geschicke des Unternehmens durch einige Krisenzeiten hindurch eng mit der Entwicklung der Gemeinde verwoben hatte.127 In kultureller Hinsicht blieb die traditionsreiche Verbindung zur Motorrad- und Automobilindustrie nach wie vor ein wichtiger Faktor für die Stadt. Im Rahmen der im Mai 1971 begangenen Feierlichkeiten „1200 Jahre Neckarsulm“ wurde beispielsweise im Deutschen Zweirad-Museum anlässlich seines 15-jährigen Bestehens eine Sonderausstellung mit NSU-Rennmaschinen eröffnet; zudem wurde die schon traditionelle Neckarsulmer Veteranen-Rallye fortgeführt. Auch die zahlreichen Gastarbeiter – zum Jahresende 1971 betrug der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung Neckarsulms etwa 18 Prozent128 – wurden in das Festprogramm miteinbezogen.129 Mit der Fertigstellung eines neuen Gastarbeiterhauses in der Neckarsulmer Altstadt durch die Heimstättengenossenschaft in Zusammenarbeit mit AUDI 126 HStAS, EA 6/306 Bü 253, Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Steeb betr. „Künftiger Hauptsitz der Audi NSU Auto Union AG“ vom 11. März 1971 vom 22. April 1971. 127 HSt vom 31. März 1971; Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 203. 128 Ebd. S. 211. 129 Ebd. S. 204–205.

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NSU wurde als Pilotprojekt Wohnraum für 65 Personen geschaffen, um der immer noch herrschenden Wohnungsknappheit und dem Arbeitskräftemangel im Bereich der unqualifizierten Tätigkeiten zu begegnen.130 Obwohl rund 60 Prozent der Arbeitsmigranten in Privatwohnungen lebten,131 blieb das Problem virulent, da die Anwerbung durch AUDI NSU zur Erhöhung des Produktionsvolumens fortgesetzt wurde. Die Zahl der ausländischen Beschäftigten im Werksbereich Neckarsulm nahm zwischen 1969 und 1973 von 3.329 auf 5.511 zu.132 Bereits im Juli 1970 war das Unternehmen mit der Bitte um Unterstützung bei der Unterbringung weiterer Gastarbeiter, die für einen Ausbau der Fertigungskapazitäten in Neckarsulm gebraucht wurden, an die Landesregierung herangetreten und hatte den Druck merklich erhöht: „Sollte es nicht gelingen, das Personalproblem für die Produktionssteigerung zu lösen, so wird die gesamte Steigerung in Ingolstadt durchgeführt werden und der Bereich Neckarsulm im VW-Konzern eine immer schwächere Position haben.“ 133 Nachdem das Innenministerium eine Nutzung des ehemaligen Flüchtlingslagers im nahe gelegenen Weinsberg als Gastarbeiterunterkunft abgelehnt hatte, erklärte sich das Wirtschaftsministerium mit der Bezuschussung der Erschließung eines geeigneten Geländes in Neckarsulm für den Bau von Wohnungen einverstanden,134 „damit nicht erneut der Vorwurf erhoben werden kann, das Land sei nicht bereit, sich der besonderen Schwierigkeiten dieses Unternehmens anzunehmen.“ 135 Eine langfristige Lösung des Problems wurde schließlich durch die Bereitstellung von stadteigenem Grund für die Errichtung von zwei Hochhäusern und durch die Übernahme von Unterkünften im nahe gelegenen Heilbronn-Sontheim erreicht.136 130

Ebd. S. 206; Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 131–135. HSt vom 28. August 1970. 132 Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 185. 133 HStAS, EA 6/306 Bü 253, Schreiben Frankenberger an Schwarz betr. Landesdurchgangslager Weinsberg für Gastarbeiter vom 27. Juli 1970. 134 HStAS, EA 6/306 Bü 253, Aktenvermerk Nr. 5000-N27/131 betr. Unterbringung von Gastarbeitern der Firma AUDI NSU Auto-Union, Neckarsulm vom 27. August 1971. 135 HStAS, EA 6/306 Bü 253, Aktenvermerk Nr. 5000-N27/131 betr. Unterbringung von Gastarbeitern der Firma AUDI NSU AUTO-UNION, Neckarsulm, im Durchgangslager Weinsberg vom 23. August 1971. 136 HStAS, EA 6/306 Bü 253, Schreiben Frankenberger an Schwarz betr. Landesdurchgangslager Weinsberg für Gastarbeiter vom 9. September 1971 und StAN, A1 B221, Protokoll der nicht-öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 16. Dezember 1971, § 535 sowie UAAN, unverz. Best., Ordner „35/2 Wohnheime Am Wildacker, Hohenloherstr.“, Schreiben Plagmann/Auerbach an die Stadt Neckarsulm betr. Hochhäuser für Gastarbeiter vom 22. September 1971, Schreiben Klotz an die AUDI NSU Auto Union AG betr. Unterbringung von Gastarbeitern vom 22. September 1972, Schreiben Klotz an die AUDI NSU Auto Union AG betr. Grunderwerb für Hohe Häuser in der Südstadt vom 26. Oktober 1972, Aktenvermerk von Knobelsdorff betr. Bau von zwei Hochhäusern in Neckarsulm-Südstadt (Gastarbeiterunterkünfte) vom 13. Februar 1973 und Aktennotiz über das Telefongespräch mit Herrn Oberbürgermeister Dr. Klotz am 23. Februar 1973. 131

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Nach dem lange geplanten Abschluss des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zwischen AUDI NSU und VW im April 1971 erfüllten sich die damit verknüpften finanziellen Erwartungen der Stadtverwaltung zunächst allerdings nicht,137 da die steuerliche Organschaft infolge gerichtlicher Maßnahmen der Aktionärsopposition nicht in Kraft treten konnte. Mit der Ernennung des AUDI-NSU-Chefs Rudolf Leiding zum Vorstandsvorsitzenden der Volkswagenwerk AG im Oktober 1971 verband sich aber die Hoffnung auf eine Konzernpolitik mit mehr Rücksichtnahme auf die Belange der Tochtergesellschaft und ihrer Standorte.138 Dem entsprach die Zusicherung Leidings, „daß bei all unseren Plänen Neckarsulm sicher nicht zu kurz kommen wird. Dazu liegt mir das Wohlergehen der nun fusionierten Firma Audi NSU viel zu sehr am Herzen.“ 139 Nach dem Erwerb einer Mehrheit von 98,6 Prozent am Aktienkapital von AUDI NSU durch VW und dem dadurch ermöglichten Wirksamwerden des Unternehmensvertrags am 19. November 1971 begann somit auch eine neue Phase der Beziehungen zwischen Unternehmen und Stadt. Zum einen war fortan der VW-Vorstand die alleine bestimmende Instanz für die Unternehmenspolitik von AUDI NSU, zum anderen konnte Neckarsulm durch den Steuerverbund mit dem Konzern an den Gewerbesteuerzahlungen von VW partizipieren, was eine Erhöhung und Verstetigung der städtischen Einnahmen versprach. Die vollständige Übernahme der Kontrolle bei AUDI NSU durch VW wurde deshalb bei Stadtverwaltung und Öffentlichkeit Neckarsulms mehrheitlich positiv aufgenommen.140 Die finanzielle Lage der Kommune war dennoch geprägt durch eine weitere Steigerung von Aufgaben und Kosten überproportional zur Vermehrung der Einnahmen. Erstmals seit 19 Jahren wurde deshalb der Hebesatz der Gewerbesteuer, die im Jahr 1971 mit etwa 7,1 Millionen DM die Haupteinnahmequelle der Stadt dargestellt hatte,141 für 1972 von 300 Prozent auf 320 Prozent erhöht und lag damit im Vergleich zu anderen Standorten im VW-Konzern im oberen Mittelfeld. Ausgeglichen wurde diese aus fiskalpolitischen Erwägungen in Kauf genommene Verschlechterung der wirtschaftlichen Standortbedingungen nach längeren Diskussionen im Gemeinderat durch den bewussten Verzicht auf die Erhebung einer Lohnsummensteuer, wie sie in den norddeutschen Werksanliegergemeinden üblich war. Allerdings war die Gewerbesteuer in Abhängigkeit von der konjunkturellen Entwicklung der Unternehmen starken Schwankungen unterworfen und im Gegensatz zu den Kosten nicht wachstumsorientiert, so dass sich die Folgen der Finanzreform mit der Abführung einer Gewerbesteuerumlage von 2,6 Millio137 StAN, A2/1–12/1 G, Schreiben Klotz an Lotz betr. Gewerbesteuer vom 25. März 1971, Schreiben Thomee an Klotz betr. Gewerbesteuer vom 7. April 1971 und Aktenvermerk Klotz vom 16. Juli 1971 sowie HSt vom 30. April 1971 und 24. August 1971. 138 HSt vom 1. Oktober 1971. 139 UAVW, 610/473/2, Schreiben Leiding an Klotz vom 5. Oktober 1971. 140 HSt vom 5. November 1971. 141 StAN, A1 R285, Jahresrechnung der Stadt Neckarsulm 1971.

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nen DM an den Bund und dem Erhalt von 3,7 Millionen DM aus der Einkommensteuerumlage im Saldo für Neckarsulm positiv auswirkten.142 Diese bildete seitdem das zweite wichtige Standbein der kommunalen Finanzen und diente der Verstetigung des Mittelzuflusses, auch dank der relativ stabilen Einkommenssituation der Beschäftigten in der Automobilindustrie. Trotz des seit November 1971 geltenden Steuerverbunds mit der Volkswagenwerk AG waren die Gewerbesteuereinnahmen aber angesichts der schlechten Ertragslage des VW-Konzerns zunächst sogar rückläufig und stagnierten in den folgenden Jahren (siehe Abbildung 2), so dass die darauf gesetzten finanziellen Hoffnungen der Stadt vorerst enttäuscht wurden und die Verschuldung vor allem infolge der großen Bauprojekte deutlich anstieg.

Verwaltungshaushalt

Vermögenshaushalt

Einkommensteuerbeteiligung

Gesamtverschuldung (ohne Stadtwerke)

Gewerbesteuer

Abbildung 2: Entwicklung des Verwaltungs- und Vermögenshaushalts sowie der Gewerbesteuereinnahmen, der Einkommensteuerbeteiligung und der Verschuldung der Stadt Neckarsulm 1965–1985 in DM (Quelle: StAN, A1 R275-286 und A2/20 R294-304, Jahresrechnungen der Stadt Neckarsulm 1965–1975). 142 StAN, A1 B222, Protokoll der öffentlichen Gemeinderatssitzung der Stadt Neckarsulm vom 13. Januar 1972, Anlage zu § 1 und HSt vom 5. Januar 1972.

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Insgesamt erhöhte sich das Haushaltsvolumen der Gemeinde von 25,5 Millionen DM im Jahr 1969 bis 1971 auf 34,9 Millionen DM, wobei der Anteil des Vermögenshaushalts von 21,3 Prozent auf 30,4 Prozent zunahm.143 Aufgrund der einseitigen Wirtschaftsstruktur bestand eine starke finanzielle Abhängigkeit von der Automobilbranche und besonders von der Gesamtsituation des VW-Konzerns, so dass sich die kommende Krise der Volkswagenwerk AG äußerst negativ auf die Stadtfinanzen auswirkte. Gleichzeitig schränkte dies auch den politischen Handlungsspielraum der Gemeindeverwaltung gegenüber dem dominierenden Wirtschaftsunternehmen erheblich ein. Mit der Bereitstellung von neuem Industriegelände sollten deshalb Möglichkeiten für eine Durchbrechung der wirtschaftlichen Monostruktur und der einseitigen Dependenz von der Fahrzeugindustrie gefunden werden,144 die sich allerdings selbst im Erfolgsfall erst längerfristig auswirken konnten. III. Zusammenfassung und Ausblick Im Allgemeinen zeichnete sich seit Ende der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ein Strukturwandel ab, der gekennzeichnet war durch einen an Geschwindigkeit zulegenden Bedeutungsgewinn des Dienstleistungssektors bei zunächst weiterer Expansion der Industrie und gleichzeitiger Abnahme des Stellenwerts der Landwirtschaft.145 Dieser Trend war auch in Neckarsulm nicht zu übersehen; allerdings gehörte die traditionsreiche Weinstadt zu den Gemeinden, in denen im Unterschied zu zahlreichen anderen Industriestandorten die dominierende Stellung der Investitionsgüter- und Fahrzeugbauindustrie auch nach der Rezession von 1966/67 erhalten blieb.146 Der Fahrzeugbau war zum industriellen Führungssektor mit zahlreichen Multiplikator- und Akzeleratoreffekten geworden, der neben den direkten Zulieferbetrieben außerdem Nachfrage in anderen Bereichen wie Bauwirtschaft und Handwerk induzierte. Insgesamt gewann die Automobilindustrie so noch mehr an volkswirtschaftlicher Bedeutung als „Schrittmacher des wirtschaftlichen, Beschäftigung mehrenden Wachstums mit doppelt so hohen Wachstumsraten wie die des Bruttoinlandsprodukts“,147 was geradezu beispielhaft auch für Neckarsulm Gültigkeit besaß. Trotz einer sich seit Mitte 1970 etwas abschwächenden Konjunktur offenbarte eine Volks-, Berufs- und Arbeitsstättenzählung eine dementsprechend geprägte 143 StAN, A1 R275–286, Jahresrechnungen der Stadt Neckarsulm 1969–1972 und eigene Berechnungen. Der Sprung im Jahr 1973 ist vor allem auf die Erweiterung des Einzugsgebiets durch Eingemeindungen und die Erhebung Neckarsulms zur Großen Kreisstadt zurückzuführen. 144 Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 296–298. 145 Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 302–209. 146 Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 290–292 u. 300. 147 Boelcke: Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs (wie Anm. 9), S. 485.

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wirtschaftliche Struktur der Kommune. Von 9.426 Erwerbstätigen waren 72,2 Prozent im produzierenden Gewerbe beschäftigt. An 574 Arbeitsstätten standen insgesamt 16.966 Arbeitsplätze, davon 9.694 direkt bei AUDI NSU, zur Verfügung, wobei 9.697 Berufseinpendler und 2.087 Berufsauspendler zu verzeichnen waren.148 Diese Zahlen verdeutlichen einerseits die Wichtigkeit des sekundären Sektors für die Gemeinde Neckarsulm, andererseits die Bedeutung der Stadt als industrielles Zentrum mit ihrem Arbeitsplatzangebot für das Umland.149 Da die Automobilindustrie an der Spitze der relativ stabilen Lohnhierarchie in BadenWürttemberg stand,150 profitierten die umliegenden Kommunen zudem in nicht unerheblichem Ausmaß von der seit der Steuerreform 1969 geltenden Einkommensteuerumlage. Mit der Ansiedlung der Lebensmittelgroßhandlung Lidl & Schwarz oder der Eisen- und Eisenwarenhandlung C. Schrade gelang es der Stadt erst spät, Schritte in Richtung der seit langem angestrebten Diversifizierung zu unternehmen, um der frappierenden Abhängigkeit vom Fahrzeugbau entgegenzuwirken.151 Allerdings blieb AUDI NSU der mit Abstand wichtigste Arbeitgeber und der dominierende, auch kulturell und gesellschaftlich tief in der Stadt verwurzelte Wirtschaftsfaktor. Dies sollte im Kontext der Ende 1973 einsetzenden Ölkrise und in Verbindung mit den wachsenden finanziellen Schwierigkeiten von VW zu einschneidenden Konsequenzen für die ganze Region führen. In Bezug auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen politischer Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das Verhältnis der Stadt Neckarsulm zum Unternehmen AUDI NSU nach der Fusion wesentlich davon bestimmt war, eine drohende Schwerpunktverschiebung nach Ingolstadt zu verhindern, wo bessere Standortvoraussetzungen hinsichtlich der Beschaffung von Arbeitskräften und der räumlichen Erweiterung des Werksgeländes gegeben waren. Aus Furcht vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen wurden in Zusammenarbeit mit der badenwürttembergischen Landesregierung verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die unternehmenspolitische Bedeutung des Standorts Neckarsulm mit dem juristischen Gesellschaftssitz trotz der sukzessive erfolgenden Verlegung der Verwaltung und der technischen Entwicklungsbereiche aufrechtzuerhalten und über 148 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 199–200; Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Statistik von Baden-Württemberg. Volks-, Berufs-, Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung 1987, Band 402, Heft 10, Teil A, Stuttgart 1987, S. 352–353 sowie UAAN, unverz. Best., Geschäftsbericht der AUDI NSU AUTO UNION AG 1970. 149 Landesarchivdirektion Baden-Württemberg: Das Land Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach Kreisen und Gemeinden, Band 4: Regierungsbezirk Stuttgart, Regionalverbände Franken und Ostwürttemberg, Stuttgart 1980, S. 115–120. 150 Boelcke, Willy A.: Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800–1989. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart, Berlin u. Köln 1989 S. 447–451. 151 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 197; Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 296–298.

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finanzielle Beihilfen die Attraktivität für einen Ausbau zu erhöhen. Im Zentrum stand dabei die Hochwasserfreimachung des Neckarsulmer Industriegebiets mit staatlicher Unterstützung und die Bereitstellung von Erweiterungsflächen zu günstigen Preisen mittels kommunaler Hilfe sowie eine gemeinsame Lösung des Problems der Beschaffung von Arbeitskräften und ihrer Unterbringung im Stadtgebiet. Auf diese Weise wirkte sich die Entwicklung des größten Industrieunternehmens am Ort über die Gewerbesteuer und die Einkommensteuerumlage nicht nur auf die Einnahmenseite der Stadtfinanzen, sondern über die Versuche zur Verbesserung der Standortbedingungen auch massiv auf die Ausgabenpolitik der Kommune aus.152 Im Rahmen der nach der Verschmelzung zunächst angekündigten, dann aber deutlich reduzierten Erweiterungspläne des Unternehmens mussten die städtischen Bau- und Flächenplanungen in erheblichem Umfang angepasst werden, was mit beträchtlichen Kosten verbunden war. Trotz aller Anstrengungen blieben den Möglichkeiten einer politischen Beeinflussung der zentralen betrieblichen Entscheidungen und Dispositionen aber enge Grenzen gesetzt, da ökonomischen und strategischen Überlegungen in der Firmen- beziehungsweise Konzernleitung stets größere Bedeutung beigemessen wurde. Mit der seit Jahresende 1969 einsetzenden und ab Dezember 1970 forcierten Verlagerung des Unternehmensschwerpunkts nach Ingolstadt zeichnete sich außerdem ein grundlegender Wandel in der inneren Struktur des Werks mit nachteiligen Auswirkungen auf die qualitative Zusammensetzung des örtlichen Arbeitsplatzangebots ab. So sank die Zahl der Angestellten von 1.927 (1969) auf 1.523 (1972), anteilsmäßig von 20,9 Prozent auf 15,3 Prozent, obgleich die Belegschaft im Stammwerk Neckarsulm zwischen 1969 und 1972 rein quantitativ von 9.237 auf 9.940 Personen sogar leicht zunahm. Die seitens der Stadtverwaltung geäußerten Erwartungen bezüglich einer erhöhten Arbeitsplatzsicherheit für die Beschäftigten im Verbund mit dem VW-Konzern schienen sich damit zumindest zahlenmäßig für den Produktionsbereich durchaus zu erfüllen, obwohl sich der Fokus der Investitionstätigkeit von AUDI NSU aus wirtschaftlichen und konzernpolitischen Gründen in Ingolstadt befand. Die ökonomische Grundlage für diese insgesamt positive Entwicklung bildete – nach der Überwindung einiger Startschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Fusion – das Wachstum des Gesamtumsatzes des Unternehmens von 1.653,3 Millionen DM (1969) auf 3.686,8 Millionen DM (1973) durch die Steigerung des Automobilabsatzes von 264.714 auf 398.842 Fahrzeuge.153 Dies konnte den schleichenden Verlust von hochqualifizierten Arbeitsplätzen am schwäbischen Standort mittelfristig jedoch nur unzureichend kompensieren.

152 Klotz, Erhard: Die Entwicklung zur Großen Kreisstadt, in: Angerbauer/Griesinger: Neckarsulm (wie Anm. 6), S. 373–382. 153 UAAN, unverz. Best., Geschäftsberichte der AUDI NSU AUTO UNION AG 1969–1973.

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Da der regionale Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschöpft war und in BadenWürttemberg in den Jahren von 1969 bis 1973 Vollbeschäftigung herrschte,154 war die gewünschte Beschäftigungsausweitung im unqualifizierten Bereich zur schnellen Steigerung der Fertigungskapazitäten in Neckarsulm nur durch die verstärkte Anwerbung von „Gastarbeitern“ möglich. Während ihr Anteil an der Gesamtbelegschaft von AUDI NSU von 16,1 Prozent (1969) auf 29,9 Prozent (1973) und im Werksbereich Neckarsulm von 28,9 Prozent auf 43,1 Prozent zunahm,155 erhöhte sich parallel dazu bei einem Bevölkerungswachstum von 18.707 auf 22.415 Einwohner der Ausländeranteil von 16,8 Prozent auf 20,7 Prozent. Dieser lag weit über den damaligen Werten für die benachbarte Großstadt Heilbronn mit 12,9 Prozent oder die Landeshauptstadt Stuttgart mit 16,0 Prozent156 und stellte die Gemeinde vor erhebliche strukturelle und organisatorische Schwierigkeiten bei der Beschaffung des nötigen Wohnraums und der sozialen Integration der Arbeitsmigranten.157 Die fiskalischen Konsequenzen der Fusion waren hingegen – zumindest in längerfristiger Perspektive – überwiegend positiver Natur, auch wenn die nach Inkrafttreten des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags mit der Volkswagenwerk AG erhoffte Steigerung der Einnahmen aus der Gewerbesteuer infolge der sich drastisch verschlechternden Ertragslage des VW-Konzerns zunächst ausblieb. Zugleich ging mit der zunehmenden Integration von AUDI NSU in den Konzernverbund allerdings eine unternehmenspolitische Bedeutungsabnahme der Beziehungen zur Anliegerkommune Neckarsulm und damit ein fortgesetzter Einflussverlust der Stadtverwaltung einher, da die Entscheidungsbefugnisse in immer stärkerem Maße in Wolfsburg konzentriert und dadurch kommunalpolitischen Interessen und Interventionsversuchen entzogen wurden. Entscheidungen der Konzernleitung legten den Fokus naturgemäß stärker auf die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamtkonzerns und nicht auf die Prosperität einzelner Standorte. Auch dafür hatte der von der Stadtverwaltung aus finanziellen Erwägungen

154 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Landesdaten, Arbeitslose, gemeldete Stellen und Kurzarbeiter auf dem Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg seit 1950 unter http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/ArbeitsmErwerb/Landesdaten/LRt05 14.asp [Zugriff am 30. April 2012]. 155 UAAN, unverz. Best., Geschäftsberichte der AUDI NSU AUTO UNION AG 1969–1973; Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 185. 156 Heyler: Chronik der Stadt Neckarsulm (wie Anm. 3), S. 187 u. 236; Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Regionaldaten, Bevölkerungsstand 1964–1976 der Stadt Heilbronn unter http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/SRDB/Tabelle.asp? H=BevoelkGebiet&U=02&T=01035011&E=GE&K=121&R=GE121000 [Zugriff am 30. April 2012] und Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Regionaldaten, Bevölkerungsstand 1964–1976 der Landeshauptstadt Stuttgart unter http://www.statistik. baden-wuerttemberg.de/SRDB/Tabelle.asp ?H=BevoelkGebiet&U=02&T=01035011& E=GE&K=111&R=GE111000 [Zugriff am 30. April 2012]. 157 Kolb: Autos, Arbeit, Ausländer (wie Anm. 24), S. 131–135.

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durchaus erwünschte Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag die nötigen rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen. Alles in allem entwickelte sich Neckarsulm auf diese Weise aus der „Enge und Begrenztheit einer Kleinstadt mit noch dörflichem Ambiente [. . .] zu einer vieldimensionalen, lebensorientierten, funktionstüchtigen modernen Industriestadt“ mit „seit 1950 ständig gestiegenen Realeinkommen“.158 Gleichzeitig trat jedoch auch die Abhängigkeit von der Automobilindustrie immer stärker in den Vordergrund und wurde zum bestimmenden Merkmal für die Beziehungen zwischen Stadt und AUDI NSU, die gekennzeichnet waren durch eine daraus resultierende Asymmetrie im lokalen ökonomisch-politischen Machtgefüge: „Als Industriestandort, dessen gewerbliche Arbeitsstätten ganz überwiegend auf das Automobil ausgerichtet waren und sind, gehörte Neckarsulm zu den wenigen Städten Baden-Württembergs, deren Entwicklung, Aufstieg und gegenwärtiger Wohlstandsglanz fast schicksalhaft von Entfaltung und Verlauf des Automobilabsatzes und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der ortsansässigen Automobilindustrie abhingen. Die Wechselbeziehungen zwischen der Stadt und ihrer expandierenden Maschinen- und Fahrzeugindustrie waren vielfältig, vollzogen sich auf verschiedenen Ebenen, betrafen, beeinflußten eigentlich alle Bereiche des städtischen Lebens und erforderten Offenheit gegenüber anstehenden Problemlösungen. [. . .] Seine Großindustrie machte Neckarsulm zu einer Schnittstelle von Staat und Wirtschaft.“ 159

Der verhältnismäßig kleine Ort Neckarsulm blieb nach der Fusion entgegen vieler Befürchtungen zumindest juristischer Unternehmenssitz der AUDI NSU AUTO UNION AG – auch dank der staatlichen und kommunalpolitischen Interventionen und Zugeständnisse zur Verbesserung der Standortbedingungen. Die Stadt galt deshalb als Beispiel für eine erfolgreiche Regional- und Strukturpolitik der Landesregierung Baden-Württembergs, da die Zuschüsse für die Hochwasserfreimachung des Industriegebiets zusammen mit den umfangreichen Anstrengungen der Gemeinde einen Beitrag zur Erhaltung der örtlichen Industrie mit ihren Arbeitsplätzen leisteten.160 Eine genaue Quantifizierung des Anteils der politischen Maßnahmen daran ist allerdings nur bedingt möglich, da zahlreiche andere Faktoren wie die konjunkturelle Lage oder die Situation der Muttergesellschaft Volkswagen und Stakeholder wie die freien Aktionärsvertreter oder die Großbanken ebenfalls eine wichtige Rolle spielten im vielschichtigen Beziehungsgeflecht des Unternehmens zu seinem Umfeld. Generell konnten alle politischen Bemühungen den schleichenden Bedeutungsverlust des Standorts Neckarsulm innerhalb des VW-Konzerngefüges lediglich verlangsamen und abschwächen, nicht jedoch vollständig aufhalten oder – wie ursprünglich als Ziel angestrebt – sogar umkehren. Die Grenzen einer politischen Einflussnahme auf die 158

Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 291. Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 298–299. 160 Boelcke, Willi A.: „Glück für das Land“. Die Erfolgsgeschichte der Wirtschaftsförderung von Steinbeis bis heute, Stuttgart 1992, S. 301. 159

Möglichkeiten und Grenzen

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unternehmerischen Entscheidungen waren demnach relativ eng gesteckt; die Möglichkeiten wurden zusätzlich eingeschränkt durch das vergleichsweise einseitige Abhängigkeitsverhältnis aufgrund der dominierenden wirtschaftlichen Stellung von AUDI NSU in der Region. Aber auch wenn das Unternehmen zum 1. Januar 1985 schließlich aus konzernpolitischen und markenstrategischen Überlegungen umbenannt wurde in AUDI AG und der Gesellschaftssitz endgültig nach Ingolstadt verlegt, also die in der Praxis bereits erfolgte Entwicklung auch formal nachvollzogen wurde, ist für die Entwicklung der Stadt als Ganzes nach wie vor festzustellen: „In der Geschichte hat Neckarsulm als gutes Beispiel dafür zu gelten, wie der Innovationszyklus der Industrie zum Lebenszyklus einer Stadt werden konnte.“ 161

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Boelcke: Von der Weinstadt zur Industriestadt (wie Anm. 6), S. 300.

Zum Problem von Traditionserzählung und Moderne im deutschen Fußball Ein allgemeiner Blick unter besonderer Berücksichtigung der Rhein-Neckar-Region Florian Basel I. Einleitung: Der 18. Mai 2008 und die „Fußball-Revolution von oben“ Wer sich, wie der durch diesen Beitrag zu ehrende Karsten Ruppert, mit der wechselvollen und an Brüchen und Umstürzen reichen Geschichte Deutschlands im 19., 20. und 21. Jahrhundert auseinandersetzt, kommt über kurz oder lang an der „(Metropol-)Region Rhein-Neckar“ 1 nicht vorbei. Denn als am 18. Mai 1848 die gewählten Abgeordneten in die Frankfurter Paulskirche als dem ersten deutschen Parlament einzogen – dieser Vergangenheitspartikel2 bildet zusammen mit den entsprechenden bildlichen Darstellungen einen zentralen Bestandteil des schulischen Geschichtsunterrichts und damit auch aller historischen Narrationen in den entsprechenden Schulbüchern aller Schularten3 –, stellte dies den vorläufigen Höhepunkt einer häufig als Revolution „von unten“ bezeichneten Entwicklung dar. Diese hatte auch und vor allem in eben demjenigen Landstrich ihre Wurzeln, der gegenwärtig als Metropolregion Rhein-Neckar bekannt ist. Exakt auf den Tag genau 160 Jahre später, am 18. Mai 2008, fand nun wiederum in der Rhein-Neckar Region eine Art Umsturz statt, die in Anlehnung an die Ereignisse der „Deutschen Revolutionen“ als eine Bewegung „von oben“ tituliert werden kann und den Ausgangspunkt für diesen Beitrag darstellt: Denn an diesem Tag stieg die von Milliardär und SAP AG-Mitbegründer Dietmar Hopp finanziell unterstützte TSG 1899 Hoffenheim in die 1. Fußball-Bundesliga auf. Es war dies der Höhepunkt einer sportlichen Entwicklung, die erst im Jahr 1990, ironischer1 So bezeichnet auf der Homepage der „Metropolregion Rhein Neckar“: http:// www.m-r-n.com/start/regionalplanung-entwicklung/regionalplanung/einheitlicher-regio nalplan.html [Zugriff am 24 Juli 2012]. 2 Zum Begriff der „Vergangenheitspartikel“ und ihrer Bedeutung für die „Basisoperationen des Geschichtsbewusstseins“ Schreiber, Waltraud/Mebus, Sylvia (Hrsg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern, Eichstätt 2005, S. 14–16. 3 Beispielsweise die Lithografie „Verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt a. M.“ von C. A. Lill, 1848, in: Brückner, Dieter/ Lachner, Hannelore (Hrsg.): Geschichte erleben. Band 3 für die 8. Jahrgangsstufe der Realschulen, Bamberg 2002, S. 152.

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weise nach einem Abstieg, begonnen4 und den Verein von der damaligen AKlasse – also der dritt-niedrigsten von insgesamt zehn Ligen – in 18 Jahren hinauf bis in die Beletage des deutschen Profi-Fußballs geführt hatte. Neben dieser bis dahin in der Geschichte des deutschen Profi-Fußballs unbekannten Rasanz des sportlichen Erfolges war es vor allem der spezielle Standort (und der damit verbundene infrastrukturelle Rahmen) des Vereins, der national und international Aufsehen erregte. Denn Hoffenheim stellt zwar rein verwaltungstechnisch einen „Stadtteil“ der großen Kreisstadt Sinsheim im badischen Kraichgau dar5, aufgrund der geografischen Distanz zwischen beiden Orten wird erstgenannter jedoch nicht nur von Fußballfans als eigenständiges Dorf mit nur rund 3000 Einwohnern wahrgenommen6. Es handelt sich hierbei also um den Inbegriff eines kleinen „Dorfvereins“ 7, dessen Aufstieg folglich auch leicht, weil unmittelbar mit dem massiven finanziellen Einsatz des Milliardärs Dietmar Hopp zusammenhängend, erklärbar erscheint8. Und genau dieser für jedermann so offensichtliche Zusammenhang von Geld und Erfolg provozierte sofort einen nachhaltigen Widerhall auf Seiten der Fußballfans: Denn wo immer auch die Mannschaft der TSG 1899 Hoffenheim nach ihren Aufstiegen in die 2. beziehungsweise 1. Fußball-Bundesliga antrat, schlug ihr landesweit in den deutschen Stadien zunehmend eine Welle massiver Antipathie entgegen. Mit anderen Worten: Im Gegensatz zur erstgenannten „Revolution von unten“ im Jahre 1848, bei der sich 4 http://www.achtzehn99.de/historie/[Zugriff am 25. Juni 2012]: „Der bittere Abstieg in die Kreisklasse A ist besiegelt. Im Relegationsspiel in Elsenz unterliegt Hoffenheim dem 1. FC Stebbach mit 2:3 und muss den Gang in die A-Klasse antreten. Auch Dietmar Hopp wohnt dem Spiel als Zuschauer bei und fällt nach der Partie eine wegweisende Entscheidung. Er will seinen Heimatverein aus den Niederungen des Fußballs führen und der TSG Hoffenheim unter die Arme greifen. Der Beginn eines märchenhaften Aufstieges.“ 5 http://www.sinsheim.de/servlet/PB/menu/1876929_l1/index.html [Zugriff am 25. Juni 2012]: „Der Stadtteil Hoffenheim ist mittlerweile der berühmteste Stadtteil von Sinsheim bedingt durch den Aufstieg von 1899 Hoffenheim in die Bundesliga.“ 6 Vgl. den Bericht „Tagesausflug ins Reagenzglas“ vom 24. Juni 2008 auf der Homepage des BVB-Fan-Magazins www.schwatzgelb.de [Zugriff am 29. Juni 2012] über eine Fan-Fahrt nach Hoffenheim (zum Finale der U17-Bundesligasaison 2007/08 zwischen der TSG 1899 Hoffenheim und Borussia Dortmund am 21. Juni 2008, also kurz nach dem Aufstieg der 1. Mannschaft der TSG in die 1. Fußball-Bundesliga): „Als wir das Ortsschild und sofort darauf auch die Geschäftsstelle der TSG passierten, herrschte im Wagen bereits lähmendes Entsetzen: Hier soll Bundesliga-Fußball gespielt werden? Abgesehen davon, dass das kleine beschauliche Dorf über die Infrastruktur eines Vorvorvorortes verfügt (also quasi eine einzige Straße), waren schon zu einem B-Jugend-Spiel sämtliche Seitensträßchen abgesperrt.“ 7 Diesen Begriff und das damit verbundene Image versuchte der Verein selbst bereits unmittelbar nach dem erreichten Aufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga zu kultivieren, indem an die Spieler, Verantwortlichen und Fans des Clubs T-Shirts verteilt wurden, auf dessen Rückseite der Slogan „Hurra, das ganze Dorf ist da“ abgedruckt war. 8 Wie Anm. 4 und den darin erwähnten emotionalen Bezug des späteren Mäzens Dietmar Hopp zur TSG 1899 Hoffenheim, der sich darauf begründet, dass der Unternehmer dort selbst sportlich aktiv war.

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die Obrigkeit – bestehend aus den deutschen Fürsten – zunächst zurückhielt, rief die durch Dietmar Hopp initiierte „Fußball-Revolution von oben“ bei der Basis – also bei den Fans der nun mit der TSG konkurrierenden Profi-Vereine – sofort heftige Reaktionen hervor, die insgesamt betrachtet zwar sehr heterogen ausfielen, jedoch mittels einer Einteilung in drei Kategorien zusammengefasst werden können: a) Einige Fangruppierungen äußerten ihre Abneigung gegen den „Emporkömmling Hoffenheim“ mittels ihres historischen Bewusstseins, indem sie das in den Vereinsnamen integrierte Gründungsdatum 1899 kritisch hinterfragten9: So organisierte beispielsweise die Ultra-Gruppierung „Chosen Few Hamburg“ (CFHH) zum Gastspiel der TSG Hoffenheim am 4. April 2009 beim Hamburger SV eine Choreografie, die durch ein in den eigenen Vereinsfarben blauweiß-schwarz eingefärbtes Spruchband mit der Aufschrift „1887: Uns trennen mehr als nur 12 Jahre“ unterstützt wurde; zu einem späteren Zeitpunkt entrollte dieselbe Fan-Gruppierung an einer anderen Stelle des Stadions zusätzlich noch eine Banderole mit dem Slogan „1899 since 2008“ 10. Beide Spruchbänder zeigen somit ein bestimmtes Verfügen dieser Ultras über die so genannten „epistemologischen Prinzipien“ 11 der „Retrospektivität“ 12 sowie der „Konstruktivität“ 13 auf, welche beim Umgang mit Vergangenheit und Geschichte 9 Ein Blick in die Vereinsgeschichte zeigt zwar, dass diese Kritik nicht ganz unberechtigt ist, da das Jahr 1899 lediglich das Gründungsdatum des Turnvereins Hoffenheim darstellt, die Fußballmannschaft dagegen erst seit 1945 unter dem Namen TSG Hoffenheim existiert. Diese Praxis der „Rückdatierung“ der eigenen Gründung findet sich allerdings auch bei anderen Fußballvereinen, wie zum Beispiel dem TSV 1860 München (Gründung der Fußballabteilung im Jahre 1899 unter den Farben weiß-blau („die Blauen“), während die Farben des Stammvereins eigentlich grün-gold sind) oder dem VfL Bochum 1848, der in seiner jetzigen Form eigentlich erst seit 1938 existiert. 10 Homepage der Ultra-Gruppierung: http://cfhh.net/?page_id=188&album=10&gal lery=56 [Zugriff am 25. Juni 2012]. 11 Schöner, Alexander: Kompetenzbereich historische Sachkompetenzen, in: Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S. 265–314, hier speziell S. 281 ff. („Zu den epistemologischen Prinzipien des Umgangs mit Vergangenheit/Geschichte“): „Vergangenheit und Geschichte sind nicht gleichzusetzen: Die Vergangenheit (res gestae) ist unwiederbringlich vorbei. Sie kann nur in Form von Geschichte(n) re-konstruiert werden. (. . .) Aus dieser grundlegenden Einsicht der narrativen Struktur von Geschichte folgen notwendig einige strukturelle Bedingungen, welche die Möglichkeiten der Re-Konstruktion ,der Vergangenheit‘ in Geschichte(n) a priori und damit prinzipiell einschränken. Wegen ihrer Gültigkeit für jeden konkreten Fall und ihrer fundamentalen Auswirkungen auf die erkenntnistheoretischen Rahmenbedingungen geschichtlichen Denkens werden diese im Folgenden als ,epistemologische Prinzipien‘ bezeichnet.“ 12 Ebd. S. 281 f.: „Retrospektivität bedeutet, dass die Zuwendung zur Vergangenheit notwendig ex post (retrospektiv) von der Gegenwart des Fragenden aus erfolgt . . .“ 13 Ebd. S. 283: „Konstruktivität der Geschichte schließlich bezeichnet den Synthesecharakter jeglicher historischen Narration. Das Medium der geschichtlichen Konstruktion ist das historische Erzählen. Darin entstehen Geschichten durch einen konstruk-

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immer zum Tragen kommen (unabhängig davon, ob der sich mit der Vergangenheit Beschäftigende darüber auch im Klaren ist oder nicht). b) Darüber hinaus waren auch Reaktionen in den Stadien zu sehen, die zwar weniger historisch aufgeladen waren, jedoch von einer gewissen Gewandtheit der Fans im Umgang mit Sprache zeugten: Slogans wie „Jetzt aber ,Hopp, Hopp‘ zurück ins Reagenzglas“ 14 oder „Hopp, geh’ Trecker fahren“ 15 verwiesen auf die Tatsache, dass es den Aufstieg Hoffenheims ohne seinen Mäzen Dietmar Hopp nie gegeben hätte, beziehungsweise auf die infrastrukturellen Gegebenheiten des Sinsheimer Vorortes, der im Vergleich zu vielen anderen Bundesliga-Standorten (etwa zu den Metropolen München, Hamburg, Köln etc.) diesbezüglich tatsächlich aus dem Rahmen zu fallen schien. c) Problematischer waren allerdings schon die zahlreichen persönlichen Beleidigungen gegenüber dem Verein und ihrem Mäzen (zum Beispiel auf zahlreichen Transparenten mit der Aufschrift „Wer Fußball liebt, hasst Hopp“ in diversen Stadien), in denen teilweise unverhohlene Gewaltbereitschaft artikuliert wurde, die dann auch ihren Niederschlag in übelsten Beschimpfungen in Stadien und auf diversen Fanforen fand. Am meisten Aufsehen erregte hier wohl das Transparent eines Fan, das ein Fadenkreuz auf dem Konterfei Dietmar Hopps zeigte und mit der Aufschrift „Im Fadenkreuz. Hasta la vista, Hopp“ 16 versehen war. All diese Formen der Kritik an der TSG 1899 Hoffenheim lassen sich inhaltlich wohl in einem offenen Brief zusammenfassen, der von der Fanszene des 1. FC Kaiserslautern – also einem Verein aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Rhein-Neckar-Region – an Dietmar Hopp gerichtet wurde. Darin heißt es: „Ihr Verein, Herr Hopp, hat alle Evolutionsstufen eines Traditionsvereins ausgelassen, kann keine Wurzeln im Fußballsport vorweisen und tritt alle Werte, die Millionen Fußballanhänger im tiefsten Herzen tragen, mit Füßen. Nicht harte Arbeit hat ihren Verein nach oben gebracht. Nein, einzig und allein das Geld“ 17. Ausgehend von der beschriebenen (Fan-)Kontroverse18, die in dem im FanBrief angedeuteten Dualismus zwischen den „guten Fußballvereinen“ einerseits, tiven Reflexionsakt: Durch selektive Synthese werden retrospektiv (lebensbedeutsame) Sinnzusammenhänge über Zeiterfahrung konstruiert“. 14 Entrollt am 21. Juni 2008 von Fans des Vereins Borussia Dortmund im DietmarHopp-Stadion in Hoffenheim (wie Anm. 6). 15 Entrollt am 4. April 2009 von Fans des Vereins Hamburger SV (wie Anm. 6). 16 Am 21. September 2008 beim Spiel TSG 1899 Hoffenheim – Borussia Dortmund im Mannheimer Carl-Benz-Stadion. 17 Aus: http://www.fraktion-rot-weiss.de/start/seiten/aktion/briefhopp.html [Zugriff am 27. Juni 2012]: „Offener Brief der FCK-Fanszene an Dietmar Hopp“. 18 Diese Kontroverse wurde nicht nur auf der Ebene der Fans geführt, auch Vereinsvertreter wie etwa der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München, Karl-Heinz Rummenigge (auf der Jahreshauptversammlung des FC Bayern München am 7. November

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die auf historische „Wurzeln“ zurückblicken können und die im Sinne eines „Evolutionsprozesses“ sowohl „Werte“ als auch eine „Tradition“ entwickelt haben, und dem „Geld“-Verein Hoffenheim andererseits, der als Konkurrent quasi über Nacht vom Himmel gefallen ist, kulminiert, soll dieser Beitrag zunächst auf deduktivem (= geschichtstheoretischem) und induktivem Wege (durch die Analyse einiger konkreter Diskussionen von Fußballfans zu diesem Thema) erfassen, welche Kriterien es denn überhaupt sind, die einen Fußballklub als einen „Traditionsverein“ kennzeichnen. Danach wird am Beispiel DES Traditionsvereins der Region Rhein-Neckar schlechthin – dem SV Waldhof Mannheim 07 – untersucht, inwieweit die zuvor theoretisch abgeleiteten Traditions-Kriterien in diversen Selbstversicherungsstrategien und historischen Narrationen dieses Vereins erfasst werden können. Auf die gleiche Weise sollen anschließend die Identifikationsstrategien der TSG Hoffenheim analysiert sowie der Kontext ihres Aufstiegs beleuchtet werden, der wohl am besten mit dem Begriff der „Geschichte des modernen Fußballs“ überschrieben werden kann. Am Schluss des Beitrags wird diese Kontroverse zwischen „Tradition und Moderne“ im Fußball auf seine Triftigkeit hin kritisch unter die Lupe genommen. II. Zum Begriff der „Tradition“ 1. Begriffs-Definition und ihre Anwendung auf „Fußballvereine“ Aleida Assmann schreibt in ihrem Buch „Zeit und Tradition“ über den Begriff der „Tradition“: „Bei einem so sonoren Wort fragt man nicht nach seinem Sinn, das Wort gehört zu den unentbehrlichen Beständen der Alltags- und vor allem Sonntagssprache und keiner, der es in den Mund nimmt, riskiert, es definieren zu müssen“ 19. Dabei versteht sie Tradition nicht im Sinne eines „retrospektiven Traditionsbegriffs“, bei dem der Blick des Betrachters aus der Gegenwart auf die Vergangenheit fällt, ohne dass irgendein normativer Bezug zur Zukunft hergestellt werden würde. Es geht ihr vielmehr um einen „empathischen Traditionsbegriff“, also um „Formen aktiver Herstellung von Kontinuität aus der Perspektive der Tradenten“ 20. Der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen spricht an dieser Stelle 2008: „Vor uns steht eine Mannschaft mit dem Namen 1899 Hoffenheim. Wo haben die sich eigentlich vor hundert Jahren versteckt, weil die hat keiner registriert“), der Geschäftsführer von Borussia Dortmund, Hans-Joachim Watzke (auf der Aktionärsversammlung des BVB am 24. November 2009: „Es darf nicht sein, dass die großen Klubs wie Schalke, der HSV und wir die Folklore abliefern, und Klubs aus Hoffenheim und Wolfsburg die Sahne aus dem Thema lutschen“) oder der Manager des FSV Mainz 05, Christian Heidel (http://www.spiegel.de/sport/fussball/streit-mit-mainzer-manager-hof fenheim-hopp-schaltet-dfb-praesident-ein-a-509507.html [Zugriff am 4. Juli 2012)]: „Schade, dass so eine Mannschaft [gemeint ist Hoffenheim] einen der 36 Plätze im Profi-Fußball wegnimmt“), beteiligten sich an ihr. 19 Assmann, Aleida: Zeit und Tradition, Köln 1999, S. 63. 20 Ebd.

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von „Sinnbildungsleistungen“, „durch die Zeiterfahrungen der Gegenwart im erinnernden Rekurs auf die Erfahrung zeitlicher Veränderungen des Menschen und seiner Welt in der Vergangenheit gedeutet und dabei Zukunftsperspektiven für die aktuelle Lebenspraxis eröffnet werden“ 21. Bei dieser Sinnbildung geht es jedoch nicht darum, Vergangenheit als Normquelle ohne kritischen Bezug für die Gegenwart zu nutzen22 (= „vormoderner Traditionsbegriff“ 23). Im Zentrum steht vielmehr ein „nachmoderner Traditionsbegriff“ im Sinne der Identitätssicherung, also der Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft, der seinen Ausgangspunkt in der Gegenwart des Betrachters hat24: Es geht also um die Identität als eine „Affirmation des Eigenen“, die eventuelle Brüche in der eigenen Geschichte bewusst wahrnimmt und diese nicht ausklammert, sondern stattdessen reflektiert und sich dadurch mit einer Selbstdistanz verbindet. Dies hat jedoch zur Folge, dass „Tradition“ als eine kulturelle „Konstruktion von Identität“ definiert werden kann, deren Dauer der Zeit permanent neu abgerungen werden muss25. Die Aussagen von Fans und Verantwortlichen der Vereine, die in diesem Beitrag vorgestellt wurden und werden, sollen verdeutlichen, dass genau dieses Bedürfnis derzeit im Kontext des Profi-Fußballs vorherrscht. Die Annäherung an den Begriff „Tradition“ mithilfe von Aleida Assmann und Jörn Rüsen hat gezeigt, dass es für eine Definition dieses „sonoren Wortes“ einiger (geschichts-)theoretischer Überlegungen bedarf. Wirft man nun diesbezüglich einen Blick in die diversen Internetforen, in denen Fußballfans unterschiedlichster Vereine miteinander in Kontakt treten, kann man dort neben den zu erwartenden Debatten über den Ausgang des letzten Spiels der eigenen Mannschaft, die meist mit einigen szene-üblichen Beschimpfungen der gegnerischen Anhängerschaft einhergehen, häufig dieselbe Diskussion um eine sozusagen (fußball-) theoretische Definition des Begriffs der „Tradition“ beziehungsweise eines „Traditionsvereins“ nachverfolgen. Die Fans ringen förmlich darum, diesen Begriff irgendwie zu fassen, der ihnen grundsätzlich als „nicht Greifbares“ erscheint, vielmehr als „ein Gefühl“, das „auch anders nicht beschreibbar“ sei26, um damit all diejenigen Kriterien benennen zu können, die einen „Traditionsverein“ von dessen Gegenstück, einem sogenannten „Retortenverein“ oder „Plastikclub“, unterscheiden würden:

21 Rüsen, Jörn: Historisches Erzählen, in: Bergmann, Klaus u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997, S. 58. 22 Rüsen, Jörn: Kann gestern besser werden? Berlin 2003, S. 127–129 zu den „Typen historischer Sinnbildung“, hier besonders zum „traditionalen Typ“. 23 Assmann: Zeit und Tradition (wie Anm. 19), S. 89. 24 Ebd. S. 89. Rüsen: Historisches Erzählen (wie Anm. 22), S. 129, spricht an dieser Stelle vom „genetischen Typ“ der historischen Sinnbildung. 25 Assmann: Zeit und Tradition (wie Anm. 19), S. 90. 26 Vgl. einen Diskussionsbeitrag vom 27. April 2010 auf http://forum.the-west.de [Zugriff am 27. Juni 2012].

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Das erste wichtige und scheinbar offensichtlichste Kriterium ist zunächst ein möglichst weit in die Vergangenheit zurückweisendes Gründungsdatum. Doch genau hierbei taucht bereits das erste Problem auf, wie ein Fan an einem konkreten Beispiel reflektiert: „Nehmen wir doch mal Bayer Leverkusen und den 1. FC Köln. Leverkusen ist, soviel ich weiß, 1904 durch die Bitten der Werksarbeiter gegründet worden. Dort jedoch spricht kein Mensch von Tradition, sondern nur von dem Verein aus der Retorte. Der 1. FC Köln ist nach dem Krieg aus der Fusion zweier totgewirtschafteter Vorstadtvereine entstanden27, aber hier spricht man von dem großen Traditionsverein, und nicht von der Nachkriegsretorte“ 28. Das „Gründungsdatum“ alleine reicht also bei weitem nicht aus, um einen Klub zu einem „Traditionsverein“ zu machen. Dieses müsse sich zumindest mit der eigenen Erfolgsgeschichte als einem zweiten Kriterium verbinden: „Ein Traditionsverein ist ein Verein, der bereits in der Vergangenheit Erfolge oder gute Leistungen zu verbuchen hatte . . .“ 29. Allerdings kauft man sich mit diesem Definitionsansatz das Problem ein, den Begriff „Erfolg“, der subjektiv unterschiedlich wahrgenommen werden kann, ausdifferenzieren zu müssen. Aus diesem Grund versucht ein weiterer Diskussions-Teilnehmer, einen Traditionsverein mittels der Verbindung mehrerer Kriterien zu bestimmen: „Traditionsvereine sind für mich solche, deren ursprüngliche Philosophie mit samt ihren Werten über lange Zeit Bestand hat, deren Fankultur ein erheblicher Bestandteil der Gesellschaft ist, und die aus der Sicht selbst jener Fußballfans, die den Verein nicht unterstützen, zu einem (fast) unverzichtbaren Teil ihrer jeweiligen Liga/Region geworden sind“ 30. Mit anderen Worten: Ein „Traditionsverein“ zeichnet sich aus durch seine überregionale Akzeptanz (was die Frage nach der mindestens zu erlangenden Reichweite aufwirft), seine Werte, die er repräsentiert (welche das auch immer sein mögen) und seine Anziehungskraft auf Fans, „die auch kommen, wenn’s mal nicht so läuft“ 31. Als Fazit der genannten Beiträge bleibt festzuhalten, dass es für viele Fußballfans ein Bedürfnis darstellt, sich jenseits des aktuellen sportlichen Geschehens über den Traditionsbegriff und die für einen Traditionsverein notwendigen, wenn auch in den meisten Fällen nicht hinreichenden Kriterien, auszutauschen. Dabei 27 Gemeint ist der Zusammenschluss des Kölner BC 01 und der SpVgg Sülz 07 zum 1. FC Köln am 13. Februar 1948, http://www.fc-koeln.de/club/historie/ [Zugriff am 04.07.2012]). 28 Diskussionsbeitrag vom 21. Mai 2004 auf http://www.11freunde.de/forum/1/ 1084883802/1 [Zugriff am 27. Juni 2012]. 29 Diskussionsbeitrag vom 5. November 2009 auf www.weltfussball.de [Zugriff am 27. Juni 2012]. 30 Diskussionsbeitrag vom 16. September 2009 auf www.weltfussball.de [Zugriff am 27. Juni 2012]. 31 Diskussionsbeitrag vom 7. Dezember 2009 auf www.weltfussball.de [Zugriff am 27. Juni 2012]. Bezeichnenderweise steht das hier genannte Element der „Fankultur“ dem erstgenannten Element des „Erfolgs“ entgegen.

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stehen sie zusätzlich vor dem Problem, den Begriff nicht zu exklusiv oder integrativ anlegen zu dürfen: Schließlich soll einerseits der eigene Klub der Definition eines Traditionsvereins noch entsprechen, ohne andererseits allzu vielen Konkurrenten, die man durch die diskutierten Kriterien ausschließen wollte, diesen Status ebenfalls zugestehen zu müssen32. Für diesen Beitrag soll entsprechend des Traditionsbegriffs nach Assmann und Rüsen und der Analyse zahlreicher Diskussionen aus den unterschiedlichsten Internetforen folgende Definition eines Traditionsvereins gelten: Der idealtypische Traditionsverein ist ein (ehemals) professioneller Fußballklub, a) der spätestens seit der Einführung der 1. Fußball-Bundesliga (also 1963/64) b) über die Dauer eines längeren Zeitraums c) die charakteristischen Eigenschaften einer regional und sozial klar bestimmbaren Gruppe d) sportlich erfolgreich in der obersten Spielklasse auf eine entsprechende Art und Weise repräsentiert (hat), e) sodass er auch gegenwärtig noch von Fans jeglicher Couleur als dieser Repräsentant anerkannt wird. Während die Kriterien a), b) und d) leicht in den diversen Vereinschroniken nachzuprüfen sind, bezieht sich das Kriterium c) auf die SelbstinszenierungsStrategien des entsprechenden Klubs (auf der eigenen Homepage, in Jahrbüchern, Chroniken oder auch Vereinsliedern), also auf die Art und Weise, wie dieser die Erfolge der älteren und jüngeren Vergangenheit mit der regionalen und sozialen Herkunft der ihn hauptsächlich tragenden Gruppe verbindet33. Kriterium e) ist demgegenüber in den dazu gehörenden Rezeptionen der eigenen Fans (wie auch der Anhänger anderer Vereine) nachweisbar.

32 Vgl. folgenden Dialog vom 10. März 2010 zur Frage „Was definiert einen Traditionsverein“ auf http://www.95erforum.de [Zugriff am 27. Juni 2012] (einem Diskussionsforum, an dem sich hauptsächlich Fans des im Jahre 1895 gegründeten Vereins Fortuna Düsseldorf beteiligten): Fan 1: „Tradition hat für mich nichts mit Erfolg, Bundesligazugehörigkeit oder Gründungsdatum zu tun. Es ist einfach schwer zu definieren. Fortuna gehört für mich selbstverständlich dazu. Aber warum? Übermäßig erfolgreich waren wir bisher nicht, die Bundesligazugehörigkeitszeit ist mittelmäßig. Nur das Gründungsdatum reißt es dann natürlich heraus“. Antwort Fan 2: „Nun schlagt mich nicht gleich, aber das kann Pillekusen [gemeint ist der rheinische Nachbar und Konkurrent Bayer Leverkusen] doch auch fast bieten, oder?“. 33 Diese sozial und regional klar bestimmbare Gruppe kann den Verein dabei auf allen möglichen Ebenen (der Fans, der Spieler sowie der Verwaltungs- und politischen Gremien) prägen.

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2. Der SV Waldhof Mannheim 07 – ein Traditionsverein Der SV Waldhof Mannheim 07 gilt landläufig als DER Traditionsverein schlechthin in der Region Rhein-Neckar, obwohl der Klub nach siebenjähriger Erstliga-Zugehörigkeit zwischen den Jahren 1983 und 1990 inzwischen nur noch in der vierthöchsten Liga (Regionalliga Süd/Südwest) spielt. Eine Überprüfung dieser These anhand der oben genannten Kriterien wie auch umgekehrt der Gültigkeit derselben am konkreten Beispiel des Vereins geschah zum einen durch eine Analyse der Homepage des SVWM34 anhand der Fragestellung, wie dort von offizieller Vereinsseite her mit der eigenen Geschichte umgegangen wird35. Darüber hinaus wurde ein Interview mit dem Fanbeauftragten von Waldhof Mannheim, Sören Runke, sowie mit drei Verantwortlichen des „Fanprojektes Mannheim-Ludwigshafen“, Martin Willig, Thomas Balbach und Daniel Gamer, anhand folgender Frageblöcke geführt: a) Wie sieht die persönliche Einstellung der Interviewten zum Verein SV Waldhof Mannheim 07 aus? b) Welche historischen Identifikationsangebote macht der Verein an seine Fans? c) Wie reagiert der Verein auf die aktuellen Herausforderungen des „modernen Fußballs“ im Allgemeinen beziehungsweise auf den Aufstieg des unmittelbaren Nachbarn TSG 1899 Hoffenheim im Besonderen? Die Interviewpartner wurden so ausgewählt, dass sie aufgrund ihrer offiziellen Institutionalisierung als „Fanbeauftragter“ beziehungsweise als „Verantwortliche des Fanprojektes“ zu den genannten Frageblöcken jeweils eine Perspektive zwischen Vereinsseite und Fanseite einnehmen konnten und dadurch sowohl das Identifikations-Angebot des Klubs samt den darin enthaltenen historischen Narrationen als auch deren Rezeption bei der Anhängerschaft wiedergeben konnten36. 34

http://www.svw07.de/verein/geschichte [Zugriff am 27. Juni 2012]. Die konkrete Frage, nach der die Narration auf der Homepage analysiert wurde, lautete: Welche Schwerpunktsetzungen werden in der historischen Darstellung der eigenen Vereinsgeschichte vorgenommen (v. a. bzgl. der Kategorien „sportliche Erfolge“, „regionale Bezüge“, soziale „Charakteristika“)? 36 Zusätzlich zum Interview beantwortete Daniel Gamer vom „Fanprojekt Mannheim-Ludwigshafen“ die folgenden konkreten Einzel-Fragen aus dem Fragenblock b) „Identifikationsangebote“ in schriftlicher Form: 1. Welche Zeiträume aus der eigenen Vereinsgeschichte sind für die Fans des SV Waldhof Mannheim 07 heute noch von Bedeutung? 2. Spielt die große Anzahl an Nationalspielern, die der Verein im Laufe seiner Geschichte hervorgebracht hat, heute ebenfalls noch eine Rolle? 3. Wie kam es überhaupt zu dem Bezug auf das Gründungsdatum 1907 auf der Homepage? 4. Zu welchen anderen Vereinen aus der Region bestehen die größten Rivalitäten? Seit wann gibt es diese Rivalitäten und was waren die Auslöser dafür? 5. Wie geht der Verein mit der Tatsache um, dass mit dem Aufstieg der TSG Hoffenheim der „kommerzialisierte Fußball“ quasi vor der eigenen Haustür stattfindet? 35

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Wirft man zunächst einen ersten Blick auf die offizielle Homepage des Vereins, fällt einem der Bezug auf das von den Fans in den diversen Internet-Foren diskutierte Kriterium „Gründungsdatum“, das für die Klassifikation als „Traditionsverein“ von einer gewissen Bedeutung sein könnte, sofort auf, wobei sich in diesem Fall jedoch das Gründungsdatum mit dem Slogan „Working class football since 1907“ verbindet37. Daniel Gamer, Mitarbeiter des „Fanprojektes Mannheim-Ludwigshafen“, erläutert in seiner Antwort auf die Frage, wie und warum es denn überhaupt zu diesem Bezug auf das eigene Gründungsdatum gekommen sei: „Der Slogan ,Working class football since 1907‘ erklärt sich ganz einfach aus der Herkunft des SV Waldhof Mannheim. Der Verein wurde im Arbeiterstadtteil Mannheim-Waldhof gegründet und auch heute noch liegt das Vereinsgelände in diesem Stadtteil. Lediglich die erste Fußball-Mannschaft des SVW trägt ihre Spiele im städtischen Carl-Benz-Stadion im Stadtteil Oststadt aus. Alle anderen Fußballmannschaften, die anderen Abteilungen des Vereins und die Geschäftsstelle befinden sich auf der Sepp-Herberger-Sportanlage am Alsenweg. Der Verein ist also auch heute noch fest in seinem Heimatstadtteil verwurzelt und somit identifizieren sich auch große Teile der Mitglieder und Anhängerschaft mit diesem. (. . .) Man kann also sagen, dass der SVW heute nicht mehr ausschließlich ein ,Arbeiterverein im eigentlichen Sinne ist, jedoch die Fanszene des SV Waldhof verglichen mit anderen Fanszenen immer noch einen relativ hohen Anteil an Fans ,proletarischer Herkunft‘ aufweist“ 38.

Das Gründungsdatum, der Gründungsort und vor allem die den Verein tragende soziale Schicht der „Arbeiter“ spielen folglich sowohl für die Identifikation der Fans mit ihrem Klub als auch umgekehrt für die Selbstinszenierung des Vereins gegenwärtig noch eine wichtige Rolle. Dies gilt ungeachtet des vorhandenen Bewusstseins darüber, dass sowohl der Begriff des „Arbeiters“ als auch die soziale Herkunft der Fans im Verlauf der 105 Jahre Vereinsgeschichte einem Wandel unterworfen waren (Wandel vom „Arbeiterverein“ zum Verein mit einem „relativ hohen Anteil an Fans ,proletarischer‘ Herkunft“). Dem Definitionskriterium c) für einen Traditionsverein, also der Repräsentation von charakteristischen Eigenschaften einer regional (= Stadtteil MannheimWaldhof) und sozial klar bestimmbaren Gruppe (= „Arbeiter“ beziehungsweise „proletarische“ im Sinne von „einfacher Herkunft“), wird an dieser Stelle somit

Dieser Beitrag nimmt an der Stelle hauptsächlich Bezug auf die Aussagen in den Interviews, da diese inhaltlich mit der Darstellung auf der Homepage weitgehend übereinstimmen, aufgrund des konkreten Fragekatalogs jedoch stärker auf die eigene Fragestellung ausgelegt sind. An dieser Stelle soll außerdem ein ganz herzlicher Dank an alle vier Interviewpartner für die große Kooperationsbereitschaft ausgesprochen werden. 37 http://www.svw07.de/Home [Zugriff am 3. Juli 2012]. 38 Aus: Antwortschreiben Gamer, Daniel, bzgl. der fünf in schriftlicher Form eingereichten Fragen (vgl. Anm. 36), S. 2 f. (kursiv gedruckte Kennzeichnungen wurden vom Autor dieses Beitrags vorgenommen).

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entsprochen39. Aber auch in Bezug auf die Kriterien b) und d), den sportlichen Erfolg des Vereins in der obersten Spielklasse über einen längeren Zeitraum, liefert die Geschichte des SV Waldhof Mannheim 07 drei entsprechende Anknüpfungspunkte: die 20er-Jahre mit dem so genannten „Drei-H-Sturm“ 40, die Saison 1939/40 mit Platz 4 in den Endspielen um die Deutsche Fußball-Meisterschaft und Platz 2 im Tschammer-Pokal (Vorläufer des DFB-Pokals) sowie das Aufkommen des Begriffs der „Waldhof-Buben“ 41 und das „Wunder Waldhof“ der 1980er-Jahre mit der bereits erwähnten Zugehörigkeit zur 1. Fußball-Bundesliga42. Gleichzeitig zeigt sich, dass die angesprochenen Erfolgsepochen des Vereins zum Teil nicht nur weit vor der Einführung der Fußball-Bundesliga im Jahre 1963 zu finden sind (Kriterium a)), sondern auch allesamt überregionale Beachtung und Würdigung im Sinne des Kriteriums e) bis in die Gegenwart hinein erfahren (wobei es keine Rolle spielt, dass sich die Erinnerung teilweise auf konkrete Personen bezieht, da diese untrennbar mit dem Verein Waldhof Mannheim verbunden sind). Völlig aus dem Rahmen der eigenen Erfolgsgeschichte fällt dabei vordergründig der nach Angaben der Interview-Partner vierte Identität stiftende Zeitraum von 2003 (Insolvenz des Vereins sowie anschließender Abstieg 39 Was die Repräsentation einer regional klar zu bestimmenden Gruppe betrifft, erfüllt der SV Waldhof Mannheim 07 sogar in doppelter Hinsicht das Kriterium eines Traditionsvereins: Der während der 105jährigen Vereinsgeschichte ungebrochene Bezug zum Arbeiter-Stadtteil Waldhof wird durch die historisch eingefärbte Selbstbezeichnung der Fans als „Kurpfälzer“ flankiert (in bewusster Abgrenzung zum heutigen Land Baden-Württemberg, dem die Stadt Mannheim angehört). In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass ein und derselbe Standort (Mannheim) unterschiedliche historisch bedingte Identitätsmuster hervorbringen kann: Denn während sich die Fußballfans über die alte kurpfälzische Residenzstadt definieren, sehen sich die Fans des ebenfalls in Mannheim ansässigen Handballvereins Rhein-Neckar Löwen als „Badenser“ (mit Bezug auf die Region Baden innerhalb des heutigen Landes Baden-Württemberg). Dies ist dadurch zu erklären, dass die Rhein-Neckar Löwen im Jahre 2002 (zunächst als SG Kronau/Östringen) durch den Zusammenschluss der beiden badischen Handballvereine TV Baden Östringen und DJK Kronau gegründet wurden und die Fans ihren Bezug zur badischen Herkunft somit nie aufgegeben haben. 40 Antwortschreiben Gamer (wie Anm. 38), S. 1: „Auch wenn nur noch sehr wenige Zeitzeugen dieser Epoche leben, schwärmen vor allem die alten Waldhöfer auch heute noch von diesem Sturm, bestehend aus Karl Höger, Willi Hutter und dem späteren Trainer der deutschen Nationalmannschaft, Joseph ,Seppl‘ Herberger. Legendär deshalb, weil der SV Waldhof mit diesem Sturmtrio nicht nur erfolgreich spielte, sondern häufig auch mit sehr hohen Siegen glänzen konnte“ (kursiv gedruckte Kennzeichnungen vom Autor des Beitrags vorgenommen). 41 Antwortschreiben Gamer (wie Anm. 38), S. 1: „Berliner Journalisten schwärmten von den Waldhof-Buben und schufen damit einen Begriff, der bis in die Gegenwart als Markenzeichen für die Spieler des Vereins steht und häufig sowohl von den Fans als auch von den Medien als Synonym für die Mannschaft des SVW genutzt wird“ (kursiv gedruckte Kennzeichnungen vom Autor des Beitrags vorgenommen). 42 Ebd.: „Neben dem Begriff ,Wunder Waldhof‘ verbindet man deutschlandweit vor allem den damaligen Erfolgstrainer Klaus Schlappner auch heute noch mit diesem Aufstieg. In der Folgezeit konnte sich der SV Waldhof sieben Jahre lang in der 1. Liga halten“ (kursiv gedruckte Kennzeichnungen vom Autor des Beitrags vorgenommen).

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bis in die 5. Liga) bis in die aktuelle Gegenwart (und die damit verbundene Viertklassigkeit)43. Dies ist jedoch wohl dadurch zu erklären, dass die Identifikation der Fans mit ihrem Verein, die mittels der fünf zuvor genannten Kriterien zu einem großen Teil als auf historischem Denken im Sinne des „traditionalen Typs“ (Rüsen) beruhend bezeichnet werden kann, bereits so ausgeprägt war, dass sie auch in einer aktuell andauernden Phase des Misserfolgs weiterhin Bestand hat (Kriterium e). Inwiefern diese „Leidensfähigkeit“ als nur indirekt mit dem Verein verknüpfte „Geschichte der Fan-Gruppe“ selbst wiederum im überregionalen Kontext als Alleinstellungs-Merkmal anerkannt wird44 und ob sich auch kommende Fan-Generationen angesichts des immer größer werdenden Angebots im Bereich „Profi-Fußball“ auch zukünftig noch mit dem Verein identifizieren können (etwa in der Form, dass die ältere Erfolgsgeschichte des Klubs mit der jüngeren Misserfolgsgeschichte im Sinne einer „genetischen Sinnbildung“ nach Jörn Rüsen (wie Anm. 22) zusammengebracht wird), bleibt allerdings abzuwarten. Als Fazit gilt es jedoch festzuhalten, dass die v. a. historisch aufgeladenen Identifikationsangebote des ehemaligen Bundesligisten SV Waldhof Mannheim 07 (soweit sie im Rahmen dieses Beitrags auf der Homepage beziehungsweise über die Interviews ermittelt wurden), die sich ganz bewusst nicht nur auf die Erfolge der Vergangenheit, sondern auch auf die eigene regionale und soziale Herkunft beziehen, von einer nach wie vor beachtlich großen Anzahl an Fans angenommen werden45, obwohl die 1. Mannschaft aktuell nur in der 4. Liga spielt. Dies hat zur Folge, dass der Klub gegenwärtig als ein „idealtypischer Traditionsverein“ bezeichnet werden kann. Wie lange diese Identitäts-Konstruktionen allerdings noch rezipiert werden und somit im Sinne Aleida Assmanns „der Zeit permanent neu abgerungen werden“ können (beziehungsweise durch neue ergänzt werden müssen), ist eine Frage, die wohl direkt mit der künftigen sport43 Gamer (wie Anm. 38), S. 2: „In Fankreisen spricht man zum Beispiel davon, dass sich mit der Insolvenz 2003 die Spreu vom Weizen getrennt hat. (. . .) Treue, Loyalität und Zusammenhalt gelten als die höchsten Werte unter den Waldhof-Fans und sind Attribute, die auch von außerhalb oftmals mit ihnen assoziiert werden“ (kursiv gedruckte Kennzeichnungen vom Autor des Beitrags vorgenommen). 44 Dies gilt v. a. angesichts der Tatsache, dass es im gesamten Bundesgebiet eine ganze Reihe ehemaliger Profi-Vereine gibt, die ähnlich wie der SV Waldhof Mannheim 07 ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben (besonders in denjenigen Gegenden, die eine besonders hohe Vereinsdichte und eine entsprechende Konkurrenzsituation aufweisen) und deren Fans nun im Sinne des gleichen „Jetzt erst recht“-Gedankens ihrem Klub die Treue halten. 45 So lag der Zuschauerschnitt des Vereins für die Heimspiele in der abgelaufenen Regionalliga-Saison 2011/12 bei beachtlichen 3.366 Zuschauern (vgl. http://www. fupa.net/liga/regionalliga-sued-616/zuschauer.html [Zugriff am 2. Juli 2012)], was umso beachtlicher ist, da zehn der insgesamt 18 teilnehmenden Mannschaften in dieser Spielzeit von den Nachwuchsteams diverser Erst- und Zweitligisten gestellt wurden, die im Allgemeinen ohne großes Fanaufkommen zu den Heimspielen des SV Waldhof anreisten.

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lichen Entwicklung des SV Waldhof Mannheim 07 einerseits wie auch derjenigen des Profi-Fußballs generell in Deutschland beziehungsweise speziell in der Region andererseits zusammenhängen dürfte46. III. Zum Begriff der „Moderne“ 1. Die TSG 1899 Hoffenheim – ein Verein des „modernen Fußballs“ Die Kriterien zur Definition eines Traditionsvereins, die schon anhand des Umgangs der Verantwortlichen beziehungsweise der Fanbeauftragten/-betreuer beim SV Waldhof Mannheim 07 mit der eigenen Klub-Vergangenheit überprüft wurden, kommen nun auch bei der Analyse der entsprechenden Narrationen seitens der TSG 1899 Hoffenheim zur Anwendung. Auch hier wurde zunächst die Vereinshomepage mittels derselben Fragestellung (siehe Anm. 35) wie beim SVWM untersucht und anschließend ein ähnliches Interview, das lediglich an wenigen Stellen um einige vereinsspezifische Fragen ergänzt/verändert worden war, mit dem entsprechenden Fanbeauftragten, Mike Diehl, geführt. Dabei verrät schon der Blick auf die Homepage einen etwas anderen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, als dies beim SV Waldhof Mannheim 07 der Fall ist: Denn während die Personen, welche beim letztgenannten Klub für die Gestaltung der eigenen historischen Narration im Internet verantwortlich sind, sich zumindest um eine Kategorisierung dieser Historie nach Dekaden bemühen (vgl. Abbildung 1), reihen sich in der entsprechenden Darstellung der TSG 1899 Hoffenheim diejenigen Jahre beziehungsweise Zeiträume mit den aus der Sicht des Vereins wichtigsten Ereignissen ohne vergleichbare Gliederung einfach aneinander (Abbildung 2). Dabei nimmt die Dichte dieser Ereignisse in der Narration stetig zu, je näher man zur Gegenwart „herunter-scrollt“, wogegen manche Zeiträume der Vergangenheit gänzlich unbesetzt, sozusagen ereignisleer bleiben47. 46 Ein Hinweis darauf, dass auch die Interviewpartner ein Gespür für dieses Problem besitzen, lässt sich in folgender Antwort Daniel Gamers (wie Anm. 38), S. 5 auf die Frage nach dem Umgang des Vereins mit der TSG Hoffenheim bzw. den Entwicklungen des immer stärker kommerzialisierten Profi-Fußballs finden: „Interessant ist auch, dass der kometenhafte Aufstieg der TSG 1899 Hoffenheim zeitgleich mit dem Abstieg des SV Waldhof Mannheim einher hing. Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass der SV Waldhof immer mehr in eine „Underdog“-Rolle hineingedrängt wurde. Mittlerweile haben zumindest die Fans diese Rolle aber positiv für sich angenommen und sind stolz, nicht zum „Mainstream-Verein“, sondern zum „Underdog“ aus Mannheim-Waldhof zu halten. Der Verein selbst hat dies bisher leider nicht für sich genutzt. Für das Marketing könnte es in Zukunft eine Idee sein, sich auch nach außen hin als DER Underdog als Abgrenzung zu den vielen Bundesligavereinen in der Region zu positionieren (kursiv gedruckte Kennzeichnungen vom Autor des Beitrags vorgenommen)“. 47 Pandel, Hans Jürgen: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach am Taunus, 2005, S. 10 zum „Temporalbewusstsein“: „Es geht um die Ereignisdichte in den verschiedenen Epochen. Nicht alle Zeitabschnitte sind im Bewusstsein gleich dicht mit Ereignissen besetzt.“

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Abbildung 1: Screenshot von der Homepage des SV Waldhof Mannheim

Abbildung 2: Screenshot von der Homepage der TSG 1899 Hoffenheim

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Mit anderen Worten: Allein die quantitative Zuordnung von Narrations-Anteilen zu Vergangenheitspartikeln auf der „Oberflächenstruktur“ der Homepage48 lässt den Schluss zu, dass die Verantwortlichen der TSG 1899 Hoffenheim der jüngeren Geschichte der letzten sechs Jahre, die vom eigenen rasanten sportlichen und infrastrukturellen Aufstieg geprägt waren49, deutlich mehr Bedeutung zumessen als den vorherigen 105 Jahren. Der von Mäzen Dietmar Hopp auf der offiziellen Aufstiegsfeier am 18. Mai 2008 geprägte Slogan „Unsere Tradition ist die Zukunft“, der auch als eine Reaktion auf die zahlreichen Anfeindungen von Fans und Offiziellen der Konkurrenz gegen den „Plastikklub Hoppenheim“ 50 im Augenblick des Erfolgs zu verstehen ist, findet an dieser Stelle somit seine Entsprechung. Ganz in diesem Sinne gibt der Fanbeauftragte Mike Diehl im Interview auch an51, dass das Gründungsdatum 1899, das auch auf dem Vereinswappen erscheint52, vordergründig nicht den Zweck erfüllen würde, sich selbst mithilfe einer möglichst weit in die Vergangenheit zurückreichenden Vereinsgeschichte gegen den Vorwurf des geschichtslosen Plastikklubs zu legitimieren: „Irgendwann haben wir auch mal gedacht: ,So, jetzt sind wir in der 2. Liga oder in der 1. Liga, irgendwann müssen wir vielleicht auch mal ein paar T-Shirts oder irgendwas Verrücktes verkaufen‘. Du kannst beispielsweise Mützen mit 1899 oder so was super verkaufen, das sieht besser aus als ,TSG‘ vielleicht. Deswegen haben wir das eigentlich nur aus DEM Grund gemacht, also nicht um zu zeigen, dass es uns schon so lange gibt, sondern das war einfach nur eine markentechnische Verbindung, um einfach schönere Mode machen zu können; wobei die Fans diesen Namen gar nicht angenommen haben: ,Wir gehen zur TSG‘, hier auch, der ganze Umkreis. Da sagt keiner: ,Wir gehen zu 1899‘“.

Eine solche Strategie der Selbstlegitimierung seitens des Vereins mittels der eigenen Geschichte würde also auf Seiten der Fans auch gar nicht angenommen

48 Zur Basisoperation der De-Konstruktion beim historischen Denken Schreiber/Mebus: Durchblicken (wie Anm. 2). 49 http://www.achtzehn99.de/historie/[Zugriff am 27. Juni 2012], beispielsweise zur Saison 2007/08: „Der Voraussicht der angestrebten Entwicklung von 1899 Hoffenheim und der verbundenen Expansion geschuldet, legt man besonderes Augenmerk auf die Infrastruktur, zusätzliche Kapazitäten werden geschaffen. Dietmar Hopp entschließt sich an der A6 gegenüber dem Technikmuseum in Sinsheim ein neues Stadion für 30.000 Menschen zu bauen, um der Metropolregion Rhein-Neckar, nach der SAP-Arena in Mannheim, eine weitere sportliche Wettkampfstätte auf internationalem Top-Niveau zu schenken. Zusätzlich bekommt die TSG 1899 Hoffenheim ein neues Trainings- und Geschäftsstellenzentrum in Zuzenhausen.“ 50 Auch diese sprachliche Verballhornung spielt auf durchaus kreative Art und Weise auf die Abhängigkeit des Vereins von seinem Mäzen an ist somit zur Kategorie b) der eingangs erwähnten Reaktionen zu zählen. 51 Auch dem TSG-Fanbeauftragten sei an dieser Stelle für die Kooperation gedankt. 52 Und dies im Gegensatz zur eingangs erwähnten Vermutung der HSV-Fans schon vor dem Bundesliga-Einzug der 1. Mannschaft des Vereins im Jahre 2008.

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werden, wie der letzte Satz verdeutlicht. Stattdessen sehe der Verein seine eigene Identität eher im regionalen Bezug zu der ihn unterstützenden Gruppe: „Der Verein soll das einfach sein, was er ist: ein bodenständiger, professionell geführter Dorfverein. Nie die Wurzeln vergessen, wo man herkommt. Wir haben keine Tradition, in diesem Sinne, was Bundesligafußball betrifft; natürlich haben wir auch Tradition, uns gibt’s ja auch schon ein paar Jahre. Das einzige, was wir gegenüber anderen Vereinen nicht haben, ist eben diese Tradition in der Bundesliga.“

Dieser regionale Bezug solle außerdem über die Zusammensetzung der eigenen Anhängerschaft hinaus immer stärker auch für die Spielerkader aller Mannschaften des Klubs bis hin zum Bundesliga-Team gelten. Genau an dieser Stelle gehen allerdings die Selbstzuschreibungen auf der Homepage des Vereins im Vergleich zur Aussage seines Fanbeauftragten in eine etwas andere Richtung, wie einige Beispiele verdeutlichen sollen: • „Diese neue Kapazitäten, sowie die Einführung des Voll-Profitums legen den Grundstein für die neuen Ziele und Visionen im Kraichgau.“ • „Dietmar Hopp entschließt sich an der A6 gegenüber dem Technikmuseum in Sinsheim ein neues Stadion für 30.000 Menschen zu bauen, um der Metropolregion Rhein-Neckar, nach der SAP-Arena in Mannheim, eine weitere sportliche Wettkampfstätte auf internationalem Top-Niveau zu schenken.“ • „Mit offensivem Fußball begeistert man die Menschen der Metropolregion Rhein-Neckar.“ • „Das Premieren-Spiel in der Arena gewinnt 1899 Hoffenheim gegen eine Auswahl der Metropolregion mit 6:2 und auch die Bundesliga-Premiere in der „Rhein-Neckar-Arena“ gegen Energie Cottbus glückt.“ 53 Von der Selbstzuschreibung als einem „Dorfverein Hoffenheim“ ist hierbei nicht die Rede, stattdessen geht es um eine Verortung in der Region des Kraichgaus beziehungsweise in der „Metropolregion Rhein-Neckar“, als dessen sportliche Speerspitze der Klub sich somit sieht. Das Problem dieser größeren Reichweite des Raumes, dessen sportlicher Repräsentant man sein möchte, ist allerdings, dass das Abgrenzungspotential zu anderen ebenfalls in der Rhein-NeckarRegion beheimateten Vereinen (wie beispielsweise auch dem SV Waldhof Mannheim 07) um ein Vielfaches geringer ist. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die TSG 1899 Hoffenheim (natürlich) keinem der fünf ausgewiesenen Kriterien zur Bestimmung eines Traditionsvereins genügt, was in der Mehrzahl aber durch ihre sehr junge Geschichte, sofern es um die Zugehörigkeit zum Profi-Fußballbereich geht, und ihren besonders kleinen Standort (und der damit verbundenen Schwierigkeit, der entsprechend 53 http://www.achtzehn99.de/historie/[Zugriff am 27. Juni 2012], die aufzählende Form der Zusammenstellung sowie die kursiv gedruckten Hervorhebungen wurden vom Autor dieses Beitrags vorgenommen.

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kleinen Anhängerschaft den Status einer sozial charakteristischen Gruppe zuzugestehen) begründet ist. Demzufolge versucht der Verein auch gar nicht erst, Identifikationsangebote über die eigene Vereinsgeschichte zu machen, auf das Gründungsdatum „1899“ fokussierte man sich dementsprechend lediglich aus marketing-technischen Gründen. Das Problem der Selbstzuschreibung über einen eindeutigen regionalen Bezug ohne historischen Hintergrund erscheint dagegen noch nicht gelöst, da gegenwärtig noch nicht klar ersichtlich ist, ob man sich selbst als „Dorfverein“, „Repräsentant des Kraichgau“ (und, damit verbunden, aus Baden) oder „Klub der Rhein-Neckar-Region“ sieht. Der grundsätzlichen Frage, ob die TSG Hoffenheim als „Verein des modernen Fußballs“ denn überhaupt ein solches, wie auch immer geartetes Identifikationsangebot machen muss, wird im letzten Teil des Beitrags nachgegangen. 2. Das „Modell Hoffenheim“ als Gesicht des „modernen Fußballs“ Um allerdings die massive Ablehnung, die der TSG 1899 Hoffenheim nach ihrem Aufstieg entgegenschlug, und die sich daran entzündende Kontroverse von Fans und Klubverantwortlichen um die „Traditionsvereine“ und ihre Gefährdung durch den „modernen Fußball“ zu verstehen, muss man die Entwicklungen des Profi-Fußballs in Deutschland etwa seit den 1970er-Jahren genauer betrachten. Denn schließlich kam eine ähnlich intensive Grundsatz-Diskussion um einen neuen Bundesliga-Aufsteiger und den damit verbundenen generellen Zustand des Fußballs nicht auf, als etwa die TSV Bayer 04 Leverkusen beziehungsweise der VfL Wolfsburg den Sprung in die 1. Liga schafften, obwohl auch in diesen beiden Fällen der Zusammenhang zwischen sportlichem Erfolg und den dafür nötigen (und auch vorhandenen) finanziellen Mitteln54 an einem relativ kleinen Standort (und demzufolge mit einer überschaubaren Anhängerschaft) offensichtlich war. Darüber hinaus kann noch nicht einmal die Selbstbezeichnung „Dorfverein“ als eine Erfindung aus Hoffenheim gelten, da bereits von 1999 bis 2001 mit der 54 Der Verein Bayer Leverkusen, der im Jahre 1904 als eine echte Firmenmannschaft von Werksarbeitern der Bayer AG gegründet wurde, ist neben „Wacker Burghausen“ und „Carl Zeiss Jena“ der einzige Klub in Deutschland, der das ihn unterstützende Unternehmen direkt im Vereinsnamen führen darf (§ 12, Satz 2 der Satzung der DFL auf http://www.dfb.de/uploads/media/14_Satzung_Liga_DFL.pdf [Zugriff am 2. Juli 2012]: „Änderungen, Ergänzungen oder Neugebungen von Vereinsnamen und Vereinszeichen zum Zwecke der Werbung sind unzulässig“, sowie einen entsprechenden Hinweis bei Ruf, Christoph: Ein rotes Tuch, in: 11 Freunde, Sonderausgabe Saison 2009/10 (Nr. 93), Braunschweig 2009, S. 58–63, hier S. 59). Fans, Spieler und Offizielle werden deshalb auch heute gerne noch abfällig als „Pillekusen“ oder „Werksmannschaft“ bezeichnet (s. o.). Der VfL Wolfsburg wird dagegen hauptsächlich von dem am Ort ansässigen VW-Konzern unterstützt (vgl. u. a. den Hinweis auf der Vereins-Homepage https://www.vfl-wolfsburg.de/info/ueber-uns/geschichte/meilensteine/dekade-des-durch bruchs.html [Zugriff am 4. Juli 2012]: „Unterstützt durch Volkswagen strebten die Wölfe [= Spitzname der Mannschaft] nun nach höheren Zielen . . .“).

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Spielvereinigung Unterhaching ein noch kleinerer Klub in der Bundesliga spielte55. Die Gründe für diese umfassende und z. T. sehr emotional geführte Kontroverse weisen also über den Verein TSG 1899 Hoffenheim hinaus und hängen mit einer Entwicklung zusammen, der dieser Klub quasi ein Gesicht gibt und die mit dem bereits mehrfach verwendeten Begriff des „modernen Fußballs“ überschrieben werden kann. Der Begriff „modern“ ist hier nach Hans Ulrich Gumbrecht im Sinne von „vorübergehend“ zu verstehen: Die Gegenwart wird also als eine derart hektische und sich rasch entwickelnde wahrgenommen, dass sie der Betrachter nur noch als eine bloße „Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart“ wahrnehmen kann56. Es bleibt ihm keine Zeit für ein Verweilen, um sich selbst oder die umgebende Welt zu einem echten „Gegenstand“ werden zu lassen57, weil man sich sofort wieder überholt fühlt von den raschen Entwicklungen der Zeit. Übertragen auf den „modernen Fußball“ bedeutet das, dass dieser aufgrund einer fortlaufenden und immer schneller werdenden Kommerzialisierung als auf einen fernen Zustand in der Zukunft hinsteuernd wahrgenommen wird, der vom Standpunkt der Gegenwart aus aber nicht ersichtlich ist. Ein kurzer Einblick in die Fußballgeschichte soll die Entwicklung dieses Gefühls, das vor allem auf Seiten der Fans immer stärker wahrnehmbar ist58, verdeutlichen: Betrachtet man dabei zunächst die Entwicklung der Zuschauerzahlen in den Stadien nach Einführung der Fußballbundesliga 1963, stellt man fest, dass sich diese ausgehend von durchschnittlich 25.000 pro Spiel relativ schnell (nach einer kurzen anfänglichen Hochphase) bei einem Schnitt von ca. 20.000 Zuschauern und weniger einpendelten. Nach dem kurzen Aufschwung 1974, bedingt durch die WM und den damit verbundenen Stadionneubauten und Modernisierungsmaßnahmen, war in den 1980er Jahren, dem so genannten „grauen Jahrzehnt des Fußballs“ 59, ein erneuter Rückgang unter die Marke von 20.000 Zuschauern zu 55 http://www.spvgg-unterhaching.de/club/chronicle.php3 [Zugriff am 29. Juni 2012]. Auch hierbei gibt es erstaunliche Parallelen zur Geschichte der TSG Hoffenheim: Der Aufstieg des Klubs begann im Jahre 1976 in der drittuntersten Klasse und fand 23 Jahre später seinen Höhepunkt mit dem Aufstieg in die Bundesliga. Das Stadion wurde als Folge davon auf eine Kapazität von 15.053 Zuschauern ausgebaut. Der „Macher“ hinter dieser Erfolgsgeschichte ist Ex-Präsident Engelbert Kupka, ohne den der Verein nicht über die notwendigen finanziellen Mittel hätte verfügen können. 56 Gumbrecht, Hans Ulrich: Modern, Modernität, Moderne, in Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 4, Stuttgart 1978, S. 93–131, in Abgrenzung zu den ebenfalls möglichen Begriffsbedeutungen „gegenwärtig“ und „neu“. 57 Zum Begriff der „Gegenstandsfähigkeit“ des Menschen Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern 1975. 58 Beispielhaft für zahlreiche ähnliche Fanaktionen das seit einigen Jahren vor der Südkurve der Münchener Allianz-Arena (!) aufgehängte Transparent mit der Aufschrift „Gegen den modernen Fußball“. 59 Bremer, Christoph: Fußball ist unser Leben!? Ein Zuschauersport und seine Fans, Marburg 2003, S. 43.

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verzeichnen60. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zum einen musste der Fußball mit einem viel stärkeren Freizeitangebot konkurrieren, als dies noch zum Zeitpunkt der Einführung der Fußballbundesliga oder gar in den Jahren davor der Fall war61. Zum anderen lässt sich aber auch konstatieren, dass in diesen Jahren durch den sich verändernden Status der Spieler eine zunehmende Entfremdung zwischen Vereinen und Fans stattfand: An die Stelle der Vertragsspieler, die meist am Standort des Vereins wohnten und aufgrund der eingeschränkten Verdienstmöglichkeit im Bereich des Fußballs nebenbei auch noch dort einer Arbeit nachgingen (was u. a. mit der langjährigen Aufrechterhaltung des Amateurstatus bis zur Einführung der Bundesliga durch den DFB begründet werden kann62), traten vollbeschäftigte Berufsspieler, die nicht zwangsläufig in Kontakt mit den Fans des Klubs kommen mussten63. Darüber hinaus forcierten die Profi-Vereine in den 1980er-Jahren eine Professionalisierungs- und Kommerzialisierungs-Bewegung, die bereits im Jahrzehnt zuvor langsam begonnen hatte64. Denn während sowohl Werbebanden in den Stadien (seit 30. Januar 1970 erlaubt) als auch Trikotwerbung (seit 27. Oktober 1973 erlaubt) inzwischen zum Standard gehörten, bauten die Vereine nun verstärkt das Merchandising, also den Fanartikelverkauf, aus, während gleichzeitig die Einnahmen aus den Verträgen mit diversen TV-Sendern bzgl. der Übertragungsrechte an den Spielen eine immer größere Rolle in den Etats der Klubs spielten65. All diese Vermarktungsstra60

http://www.dfb.de/index.php?id=82912 [Zugriff am 2. Juli 2012]. Bremer: Fußball ist unser Leben (wie Anm. 59), S. 41: „Der Fußball war also in Konkurrenz zu anderen Freizeitangeboten getreten. Kalte zugige Stehplatzränge, die auch noch eine schlechte Sicht auf das Spielfeld boten, dazu noch die zunehmende Gewaltbereitschaft vieler Zuschauer schreckten nicht nur die neue Mittelschicht von den Besuchen eines Fußballspiels ab, sondern auch die Arbeiter blieben dem Spiel zunehmend fern. Größerer allgemeiner Wohlstand und höhere Mobilität ließen den Zuschauer zwischen vielen verschiedenen Freizeitangeboten wählen. Man war inzwischen nicht mehr bereit, ein Fußballspiel unter primitivsten Bedingungen zu verfolgen“. 62 Schilhaneck, Michael: Vom Fußballverein zum Fußballunternehmen. Medialisierung, Kommerzialisierung, Professionalisierung, Berlin 2006, S. 48 ff. 63 Bremer: Fußball ist unser Leben (wie Anm. 59), S. 37 f. zur Situation des Fußballsports vor und nach dem 2. Weltkrieg: „Der Fußball war vor allem von regionaler Identifikation geprägt. Eine Fußballmannschaft rekrutierte sich in der Regel aus Bewohnern eines bestimmten Stadtteils. Gleiches gilt für die Zuschauer, die gleichzeitig die Sozialstruktur eines Stadtteils repräsentierten. Folglich setzten sich die Zuschauer in ähnlicher Weise zusammen wie die zu unterstützende Mannschaft“. Demgegenüber ebd. S. 44 in Bezug auf die 1980er Jahre: „Fußballspielern warf man vermehrt eine lustlose Angestelltenmentalität vor. Spieler und Zuschauer entfremdeten sich zunehmend voneinander. Klubs, Funktionäre und Spieler auf der einen, Fans auf der anderen Seite wurden zu getrennten Welten“. 64 Schilhaneck: Vom Fußballverein zum Fußballunternehmen (wie Anm. 62), S. 59– 70 („Der Lizenzfußball in den 1970er Jahren“, besonders zur „umfassende[n] Liberalisierung der Werbemöglichkeiten der Fußballprofiklubs“). 65 Schilhaneck: Vom Fußballverein zum Fußballunternehmen (wie Anm. 62), S. 71– 80 („Der Lizenzfußball in den 1980er Jahren: Intensivierung der Vermarktungsformen 61

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tegien und die dadurch akquirierten Gelder zogen jedoch keinerlei Investitionen in die Infrastruktur innerhalb und außerhalb der Stadien nach sich: Diese wiesen infolge dessen immer stärkere Defizite bzgl. des gebotenen Komforts und der Sicherheitsbestimmungen auf, was ein immer größeres Desinteresse auf Seiten der Fans und einen damit verbundenen starken Zuschauerrückgang zur Folge hatte66. Erst mit den drei großen „Fußballkatastrophen“ der Jahre 198567 und 198968 und im Kontext der Fußball-WM 1990 in Italien begann hier eine Veränderung einzusetzen: Die Vereine fingen nun an, Fußball als ein gesamtgesellschaftlich relevantes Phänomen zu entdecken, das durch entsprechende Eventinszenierung in dafür sanierten Stadien für alle Bevölkerungsschichten interessant und zugänglich gemacht werden könnte69. Ziel war es, die Attraktivität des Produkts Fußball zu erhöhen, um (auch außerhalb des Spiels im Stadion) neue Fanschichten für sich erschließen zu können; der Fan wurde in der Folgezeit immer mehr als zahlende Kundschaft wahrgenommen, der für sein Geld aber auch etwas geboten bekommen wollte. Mit anderen Worten: Die nun von England ausgehende „Versitzplatzung“ der Stadien war zwar zunächst eine unmittelbare Reaktion auf die Fußballkatastrophen der 1980er Jahre, bot jedoch zusammen mit den Maßnahmen zur Steigerung des Komforts und des auch damit verbundenen Unterhaltungsfaktors die Möglichkeit, marketingtechnisch ein deutlich breiteres Zielpublikum für den Verein zu erschließen, und dies im doppelten Sinne: Denn auf der einen Seite wurden die Stadionbesucher nun zu Rezipienten der Selbstinszenierungsstrategien des Vereins, die gerade vor dem Anpfiff eines Fußballspiels im Rahmenprogramm zum Ausdruck kommen (beispielsweise durch das Abspielen der eigenen Vereinshymne, die Organisation von Gewinnspielen und anderen Aktionen durch den Verein beziehungsweise seine Sponsoder Profiklubs, Liberalisierung des Rundfunkwesens, Brancheneintritt von Sportrechteagenturen“). 66 Bremer: Fußball ist unser Leben (wie Anm. 59), S. 44: „Auch aus Folge daraus, und vieler weiteren noch zu erwähnenden Faktoren, wurde der immer stärker werdende Hooliganismus ein Ausdruck dieses Entfremdungsprozesses. Ein Teil der Fans, die allein gelassen wurden in einer unkomfortablen, teils sogar verrotteten Umgebung der Stadien, fühlte sich immer weniger für den Verein mitverantwortlich. Je mehr Zuschauer aus der Mittelschicht fern blieben, desto höher wurde der Anteil militanter jugendlicher Fans. Das Fußballstadion wurde zum Schauplatz einer von sozialer Ausgrenzung und chauvinistischer Stimmung gekennzeichneten gesellschaftlichen Grundstimmung“. 67 Feuerkatastrophe im Valley-Parade-Stadion von Bradford am 11. Mai 1985, bei der bei einem Brand der veralteten Holztribüne 56 Menschen ums Leben kamen. Massenpanik im Heysel-Stadion in Brüssel am 29. Mai 1985, bei der 39 Menschen getötet wurden. Hinweise dazu beispielsweise bei Bremer: Fußball ist unser Leben (wie Anm. 59), S. 45 f. 68 Massenpanik aufgrund von Überfüllung im Hillsborough-Stadion in Sheffield mit 96 Toten. Hinweis dazu beispielsweise bei ebd. S. 46 f. 69 Ebd. S. 50: „Den Marketingstrategen kam die Katastrophe von Hillsborough also nicht so ganz ungelegen [. . .] konnten sie den Fußball dadurch doch von Grund auf ,sanieren‘ bzw. den gesellschaftlichen und medialen Erfordernissen anpassen.“

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ren oder auch durch die Selbstdarstellung im eigenen Stadionheft). Auf der anderen Seite wurden sie aber auch in immer stärkerem Maße selbst zu Akteuren, die diese Inszenierungen mittrugen und somit der größer und bedeutsamer werdenden Gruppe von Fernsehzuschauern erst zugänglich machten70. Der Erfolg dieses Bewusstseinswandels ließ nicht lange auf sich warten: Die Zuschauerzahlen stiegen ab der Saison 1990/91 (durchschnittlich 20.508 pro Spiel) bis heute (45.116 in der Saison 2011/12) um mehr als das Doppelte an71. Gleichzeitig setzte aber ein bis in die Gegenwart andauernder Prozess ein, der durch immer stärkere Engagements der Vereine in Geschäftsfeldern bestimmt ist, die mit dem „Kerngeschäft Fußball“ teilweise nur noch am Rande etwas zu tun haben und die die Klubs unabhängiger vom stets unsicheren Faktor des „sportlichen Erfolgs“ machen sollten72: An dieser Stelle seien die wichtigsten Maßnahmen dieser ökonomischen Ausrichtung genannt73: • Umwandlung der Fußballabteilungen zu Kapitalgesellschaften (AG, KGaA, GmbH) und Ausgliederung aus den Gesamtvereinen (e. V.) • Zentrale Vermarktung und Lizenzierung der KGs über die im Jahr 2000 gegründete DFL (Deutsche Fußball Liga) • Zentrale Vermarktung der TV-Senderechte für den deutschen Lizenzfußball • Diversifikationsstrategien: Erschließung neuer Geschäftsfelder (Hotel-/Restaurantanlagen, Reisebüros, Rehabilitationszentren, Sportartikelherstellung, ITDienstleistungen, Internetportale) • Modernisierung der Sportstätten (VIP-Logen, Business-Seats ! Zutrittsrechte-Marketing) • Erschließung der multimedialen Technik • Zusätzliche Flächen für Trikotwerbung • Nutzung von Versicherungen gegen sportlichen Misserfolg • Ausweitung des Marketings auf internationale Kernmärkte: Zusammenarbeit mit spezialisierten Werbeagenturen 70 Gerade die Choreografien der verstärkt ab den 1990er Jahren aufgekommenen „Ultra“-Fanszenen leisten hierzu einen entscheidenden Beitrag (vgl. Anm. 87). 71 http://www.dfb.de/index.php?id=82912 [Zugriff am 27. Juni 2012]. 72 Häntzschel, Ole: BUNDESLIGA GMBH & CO.KG, in: 11 Freunde, Nr. 105, 2010, S. 42 f. zu den verschiedenen Geschäftsmodellen, an denen sich die Vereine aus der 1. und 2. Fußballbundesliga beteiligen. Dieses Schaubild ist mit der entsprechenden Einleitung überschrieben: „Wer noch glaubte, in der Bundesliga träfen sich Fußballvereine zum sportlichen Wettstreit, der blicke einmal ins Handelsregister“. Allein für den FC Schalke 04, also einem DER Traditionsvereine schlechthin, sind beispielsweise nicht weniger als zehn ausgegliederte Kapitalgesellschaften aufgeführt. 73 Hierzu Schilhaneck: Vom Fußballverein zum Fußballunternehmen (wie Anm. 62), S. 81 ff. zu den Entwicklungen des Lizenzfußballs in den 90ern und nach der Jahrtausendwende.

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• Vermarktung der Stadionnamensrechte • Erschließung von Kapitalmarktprodukten („Asset-Backed-Securities“-Transaktionen, emittierte Genussscheine, öffentliche Anleihen zur Liquiditätsbedarfsdeckung, strategische Partnerschaften) Den Schluss- und Höhepunkt dieser Maßnahmen bildeten nun diejenigen Engagements, die gerade umgekehrt von Einzel-Personen oder ganzen Unternehmen aus dem Bereich der Wirtschaft ausgingen und massiven Einfluss auf die Politik beziehungsweise sogar die Existenz ganzer Fußballvereine nahmen74. Der Aufstieg der TSG 1899 Hoffenheim in den bezahlten Fußball bildete somit innerhalb der Geschichte des deutschen Profi-Fußballs den erfolgreichen (vorläufigen) Schlusspunkt einer ganze Reihe von ökonomischen Maßnahmen, die die Klubs in immer größerer Entfernung zum Geschehen auf dem Fußballplatz trafen, mit dem Ziel, sie wirtschaftlich genau davon unabhängiger zu machen75. Diese Maßnahmen bekamen sozusagen durch den Verein Hoffenheim ein für jeden Fan wahrnehmbares und damit auch angreifbares „Gesicht“ 76, das sinnbildlich für die immer größere und sich immer rascher weiterentwickelnde ökonomische Kreativität aller Klubs in den Jahren zuvor (= Epoche des „modernen Fußballs“) 74 Als Beispiele seien in chronologischer Reihenfolge genannt: • der Kauf des FC Chelsea durch den russischen Milliardär Roman Abramowitsch am 1. Juli 2003 (http://www.handelsblatt.com/archiv/oel-manager-roman-abramowitschuebernimmt-die-macht-von-chairman-ken-bates-russischer-milliardaer-kauft-fc-chel sea/2256412.html [Zugriff am 29. Juni 2012]), • die Gründung des FC Ingolstadt 04, der auf Betreiben des heutigen Vorstands-Vorsitzenden Peter Jackwerth am 1. Juli 2004 durch die Ausgliederungen und die Fusion der Fußball-Abteilungen des MTV Ingolstadt und des ESV Ingolstadt entstand (vgl. http://www.unserebroschuere.de/11976146122/WebView/pdf/symbook.pdf, S. 4 [Zugriff am 29. Juni 2012]), • die Unterstützung des VfL Wolfsburg durch VW, dessen am 23. Mai 2001 in die VfL Wolfsburg-Fußball GmbH ausgegliederte Lizenzspieler-Abteilung seit 28. November 2007 zu 100 Prozent in Händen der Volkswagen AG liegt (vgl. http://www.wolfs burger-nachrichten.de/sport/vfl_wolfsburg/vfl-jetzt-zu-100-prozent-in-vw-hand-id494 690.html [Zugriff am 29. Juni 2012]), • der Aufstieg der TSG 1899 Hoffenheim im Jahre 2008, ermöglicht durch das langjährige Engagement von Milliardär Dietmar Hopp. 75 Als Folge davon lässt sich jedoch feststellen, dass diese größere Unabhängigkeit vom sportlichen Erfolg mit einer stärkeren Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Erfolg bzw. von denjenigen Akteuren und Firmen, mit denen die verschiedenen Kooperationsmodelle eingegangen wurden, bezahlt wurde, die bis zum beschriebenen Eingriff dieser Wirtschaftsunternehmen in die Vereinsstrukturen führten (vgl. hierzu auch die Entwicklungen in anderen Ländern, v. a. die hierzulande viel beachteten Proteste gegen eine solche Entwicklung bei den Fans von Manchester United oder die Umwandlung des Vereins Austria Salzburg in Red Bull Salzburg nach dessen Übernahme durch den örtlichen Softdrink-Hersteller). 76 Im Gegensatz zu „Diversifikationsstrategien“ oder „Asset-Backed-Securities“Transaktionen, von denen die meisten Fans im Stadion oder an den Fernsehschirmen wohl auch dann nichts wissen dürften, wenn sie vom eigenen Verein angewendet bzw. durchgeführt werden.

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Abbildung 3: Erfolgsdimensionen und deren Zusammenhänge für Vereine im Profifußball

stand und steht. Dabei ist es in vielen Fällen noch nicht einmal der teilweise sehr abstrakte Prozess der zunehmenden Kommerzialisierung selbst, der für die Anhängerschaft das große Problem darstellt und sie dazu bringt, sich der „Tradition“ des eigenen Vereins als „kulturelle Konstruktion von Identität“ im Sinne Aleida Assmanns in der Gegenwart des „modernen, kommerzialisierten Fußballs“ neu zu vergewissern: Die Fans, die ihre Vereine sozusagen auf „traditionelle Weise“ im Stadion unterstützen, empfinden den Begleitumstand als viel schmerzhafter, dass ihre eigene Bedeutung für den Verein (und demzufolge auch die Identifizierung mit diesem) innerhalb der Dimension gesellschaftlicher Erfolg zugunsten einer wechselnden Zuschauerschaft (sog. „Event-Publikum“) beziehungsweise der Fernsehzuschauer schwindet, die ja gerade durch einen Teil der oben beschriebenen ökonomischen Maßnahmen verstärkt angelockt werden sollten77. Indirekt ist dieser Bedeutungsverlust auch daran abzulesen, dass der früher 77 Abbildung 3 im Vergleich zur Abbildung 4 bzgl. der Verschiebungen innerhalb der „Dimensionen des Erfolgs für Profi-Fußballvereine“. Als ein Indikator für diesen Wandel kann die Tatsache angesehen werden, dass in die Bundesliga-Saison 2012/13 sieben Vereine starten (TSG 1899 Hoffenheim, FSV Mainz 05, VfL Wolfsburg, Bayer 04 Leverkusen, SC Freiburg, FC Augsburg, SpVgg Greuther Fürth), deren Stadien jeweils ein Fassungsvermögen von zum Teil deutlich unter 35.000 Zuschauern aufweisen.

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Abbildung 4: Erfolgsdimensionen und deren Zusammenhänge für Vereine im Profifußball

für die Klubs innerhalb der Dimension wirtschaftlicher Erfolg so wichtige Faktor der zuschauerbezogenen Einnahmen (vor allem über den Ticketverkauf zu den einzelnen Spielen) zu großen Teilen von den oben aufgelisteten Strategien der SelbstVermarktung abgelöst wurde. Aus dem gleichen Grund haben sich die Bedeutungs-Gewichte innerhalb dieses Kreislaufes der sich einander bedingenden Erfolgs-Dimensionen sehr stark zugunsten des wirtschaftlichen Erfolgs verschoben. Für die Funktionäre der übrigen Vereine stellte die TSG hingegen eine neue Dimension an „Konkurrenz“ dar, die zwar aufgrund des persönlichen Engagements ihres Mäzens auf sehr günstige wirtschaftliche Rahmenbedingungen und einen eventuell damit verbundenen Standort-Vorteil verfügen könnte, die letztlich allerdings nichts anders als die logische Konsequenz der eigenen Kommerzialisierungspolitik darstellte. IV. „Tradition“ GEGEN „Moderne“ – „Tradition“ WEGEN „Moderne“ Das zuletzt beschriebene konkrete Gefühl vieler Fußball-Anhänger und Vereins-Verantwortlicher, das sich in der eingangs dargestellten Kontroverse zwischen „Tradition“ und „Moderne“ im deutschen Vereinsfußball manifestiert, kann problemlos wieder an die theoretischen Überlegungen Aleida Assmanns an-

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gebunden werden78: Angesichts der Wahrnehmung einer „Bedrohung durch das Fremde“, konkret also durch die fortschreitende Kommerzialisierung des „modernen Fußballs“ mit dem Aufstieg der TSG 1899 Hoffenheim als (vorläufigen) Höhepunkt und durch den damit verbundenen Bedeutungsverlust, der sowohl auf Seiten der Fans bzgl. ihrer Rolle innerhalb der Vereine als auch auf Seiten der etablierten Vereine bzgl. ihrer weiteren Zugehörigkeit zum professionellen Fußball der 1. und 2. Bundesliga empfunden wird, bedarf es „einer Verdichtung der Struktur der Identitätskonstruktionen“. Traditionsmodelle wirken hier sozusagen als „Formen der Identitätssuche angesichts des drohenden Selbstverlusts“, als Widerspruch „gegen Abbruch und Wandel“ nach dem Motto: „Je fundamentaler die Unsicherheit, desto größer der Aufwand an Versicherung“. Aleida Assmann zieht für diese Identitätssuche ein relativ positives Fazit: Es handele sich hierbei um „kein Scheitern der Selbstvergewisserung durch Traditionen am historischen Wandel, sondern um ein neues Entfachen an ihm“. Demgegenüber stellt allerdings Daniel Gamer fast schon resignierend fest: „Mit der TSG Hoffenheim ist das deutsche Paradebeispiel für den kommerzialisierten, völlig zur Ware verkommenen Fußball direkt in der eigenen Region entstanden (. . .) jedoch muss man gewissermaßen hinnehmen, dass man dem Vormarsch des modernen kommerzialisierten Fußballs als relativ kleine Fanszene kaum etwas entgegenzusetzen hat“ 79.

Die Rolle der TSG Hoffenheim als Spitze einer generellen Entwicklung, die dadurch weit über die des 50. Aufsteigers am kleinsten Standort in die FußballBundesliga seit deren Einführung 1963 hinausweist80, scheint hierbei wieder deutlich durch. Doch muss das nun auch heißen, dass die Lamenti der Vereins- und Fanvertreter berechtigt sind und so genannte „Traditionsvereine“, mithilfe welcher Kriterien man sie auch immer definieren möchte, gegen die Entwicklungen des „modernen Fußballs“ und die eventuell in diesem Kontext in den Profifußball eindringenden Emporkömmlinge geschützt werden müssten, mit welcher Legitimation (etwa einer historischen) auch immer? An dieser Stelle scheint dies zunächst so zu sein, da sich inzwischen neben dem SV Waldhof Mannheim 07 noch eine Vielzahl an weiteren Vereinen, die auf eine lange Vergangenheit mit zahlreichen Erfolgen und Verdiensten (auch für die deutsche Nationalmannschaft, durch die Abstellung ihrer besten und demzufolge auch über die eigenen regionalen Grenzen heute noch bekannten Spieler) zurückblicken können und ein entsprechendes Fanpotential hinter sich wissen, in den Niederungen des Ama-

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Assmann: Zeit und Tradition (wie Anm. 19), S. 158 f. Antwortschreiben Gamer (wie Anm. 38), S. 4 f. 80 http://www.achtzehn99.de/historie/ [Zugriff am 29. Juni 2012] für die Saison 2008/09. 79

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teurfußballs wiederfinden, während gleichzeitig immer mehr bislang unbekannte Vereine ohne entsprechende Vergangenheit oder vergleichbares Fanaufkommen in den Profibereich vorstoßen. Geht es also darum, die von den lange etablierten Vereinen selbst angestoßene Kommerzialisierung des Fußballs, wenn schon nicht wieder einzudämmen, so doch wenigstens zu regulieren und damit zu kontrollieren81, wobei auch der Verweis auf die eigene Geschichte eine wichtige Argumentationshilfe beisteuern könnte? Eine solche Inanspruchnahme der eigenen Tradition zuungunsten moderner Entwicklungen im Profifußball greift schon allein deshalb zu kurz, weil sie die Tatsache aus dem Blick verliert, dass auch an wichtigen Stellen der Geschichte sogenannter „Traditionsvereine“ der Kommerz eine entscheidende Rolle gespielt hat, nur in anderer Gestalt, als man das heute vielleicht gewohnt ist. Demzufolge müsste aus retrospektivem Blickwinkel (vgl. Anm. 12) der Slogan der Kontroverse von „Tradition GEGEN Moderne“ in „Tradition WEGEN Moderne“ umgewandelt werden. Diese These soll durch drei Beispiele untermauert werden: a) Das erste Beispiel für deren Gültigkeit liefert ausgerechnet ein Blick in die Vergangenheit des Vereins Rot-Weiss Essen82, eines Traditionsvereins also, dessen wechselhafte Geschichte derer des SV Waldhof Mannheim durchaus ähnelt. So ist die Wiederbelebung und Etablierung des nach damaligen Maßstäben als professionell zu bezeichnenden Fußballs in Essen nach dem Zweiten Weltkrieg eng mit dem Namen Georg Melches verbunden, nach dem bis in die Gegenwart die Spielstätte der 1. Herrenmannschaft benannt war. Georg Melches ist im heutigen Sinn wohl als ein Großindustrieller zu bezeichnen, der sein Geld in der Bergbau-Branche verdient und dieses in den 1950er-Jahren zum Wohl seines Heimatvereins eingesetzt hat. RWE feierte auch aus diesem Grund 1953 mit dem Deutschen Pokalsieg und 1955 mit der Deutschen Meisterschaft seine größten sportlichen Erfolge. Aus dem damaligen Spielerkader von Rot-Weiss Essen ist vor allem Helmut Rahn, der Siegtorschütze beim Weltmeisterschafts-Finale 1954 in Bern, auch heutigen Fußballfans noch ein Begriff. Allerdings erinnert der Beginn dieser Erfolgsgeschichte, die den Verein dank der ungebrochenen Rezeption bis heute trotz der aktuellen sportlichen Bedeutungslosigkeit alle Kriterien eines Traditionsvereins erfüllen

81 Einen solchen Versuch der Regulierung stellt die in dieser Kontroverse häufig zitierte „50 + 1“-Regel dar, die besagt, dass der Stammverein (e.V.) wenigstens 50 Prozent + 1 Anteil an den in Form von Kapitalgesellschaften aus dem Verein ausgegliederten Fußballabteilungen halten muss. Durch diese Regelung soll im deutschen Vereinsfußball die v. a. bei Vereinen in England (wie zum Beispiel FC Chelsea London, Manchester United etc.) zu beobachtende Entwicklung verhindert werden, dass ausländische Milliardäre den kompletten Verein aufkaufen und unkontrolliert nach ihrem Willen lenken können. 82 Schrepper, Georg/Wick, Uwe: „. . . immer wieder RWE“! Die Geschichte von RotWeiss Essen, Göttingen 2004.

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lässt, und deren enge Bindung an einen finanzstarken Mäzen doch sehr stark an diejenige Phase, in der sich die TSG 1899 Hoffenheim aktuell befindet. b) Ein weiteres Beispiel für die Gültigkeit der These „Tradition WEGEN Moderne“ liefert der SV Waldhof Mannheim 07 selbst: Denn nicht nur am Beginn, sondern auch im weiteren Verlauf der Geschichte eines Traditionsvereins blieb den Verantwortlichen manchmal keine andere Wahl, als durch clevere und innovative Kooperationsmodelle mit Wirtschaftsbetrieben das eigene Fortbestehen beziehungsweise die Lizenz zu sichern. In den Jahren zwischen 1972 und 1978 hatte der Verein den Firmennamen des Lebensmittelherstellers „Chio-Chips“ in den Vereinsnamen integriert83. Auf diese Weise konnte man das damals noch bestehende Verbot der Trikotwerbung umgehen, das allerdings bereits 1973 aufgehoben wurde (s. o.). Trotzdem blieb der Vereinsname noch weitere fünf Jahre (bis 19.09.1975: Chio Waldhof 07, bis 15.09.1978: SV Chio Waldhof 07, danach: SV Waldhof Mannheim 07) mit diesem Zusatz erhalten84. c) Zu guter Letzt muss auch derjenige Teil der Fankultur, der die Kritik am „modernen Fußball“ sehr lautstark artikuliert, also die sogenannte „Ultra“-Bewegung85, nach seiner Abhängigkeit von genau denselben Kommerzialisierungs-Maßnahmen hinterfragt werden, die er so sehr kritisiert: Die „Ultra“83

http://www.svw07.de/verein/geschichte/1970–1980 [Zugriff am 29. Juni 2012]. Schilhaneck: Vom Fußballverein zum Fußballunternehmen (wie Anm. 62), S. 74 (siehe auch dessen Anm. 195 zum Fall „Waldhof Mannheim“) zur Einführung des Verbots, Firmennamen in den Vereinsnamen zu integrieren: „1983 setzte das Unternehmen Jägermeister zu einer weiteren innovativen Werbemaßnahme an. Günther Mast bot dem erneut in finanzielle Bedrängnis geratenen Klub Eintracht Braunschweig umfassende monetäre Unterstützung an. Im Gegenzug sollte der Verein in Jägermeister Braunschweig umbenannt werden. Als sich die zur Entscheidungsfindung einberufene Mitgliederversammlung des Klubs für diesen strategischen Schritt aussprach, erließ der DFB auf die unmittelbar bevorstehende Namensänderung des Vereins im Oktober 1983 nach zuvor erfolgtem Dringlichkeitsantrag das Verbot, Vereinsnamen zum Zweck der Werbung zu ändern“. 85 Bremer: Fußball ist unser Leben (wie Anm. 59), S. 93: „Ultra, das bedeutet für den Verein alles zu geben. Freizeit, Geld, Leidenschaft, alles muss dem Verein geopfert werden.“ Interessant auch der kritische Artikel von Köster, Philipp: Der dressierte Fanblock, in: 11 Freunde, Heft 85, 2008, S. 26–33, hier zunächst S. 28 zu den Gründen für die Entstehung der Ultra-Fanbewegung: „Seit 1997 jedoch haben sich die Verhältnisse radikal geändert. Begünstigt durch den langsamen Niedergang der englischen Fankultur, befeuert aber vor allem durch die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs, entdeckten deutsche Anhänger die italienische ,Curva‘ als neues Vorbild“, sowie ebd. S. 32: „Die Ultras hingegen haben aus der Kommerzialisierung und Entfremdung zwischen Spielern und Anhängern eine weitaus radikalere Konsequenz gezogen. Wenn der Verein nicht dafür sorgt, so die weit verbreitete Auffassung, dann sind wir fortan die Gralshüter von Tradition, Ruhm und Identität des Klubs. Das war zunächst prinzipiell kein verkehrter Ansatz, waren doch viele Vereine in der Vergangenheit bereit dazu, auch noch das letzte Tafelsilber aus den Vereinsvitrinen zu verhökern, wenn es nur genügend Profit versprach. Nichts schien sakrosankt, nicht die Wappen, nicht die Namen, nicht die Vereinsfarben, nicht die Stadien“. 84

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Bewegung selbst war nämlich nicht nur ein unmittelbares Produkt der Entwicklungen im Profifußball nach 199086, sondern ist darüber hinaus durch ihre farbenfrohen Choreografien inzwischen zu einem wichtigen Mit-Träger der „modernen“ Selbstinszenierungen des jeweiligen Vereins geworden, sowohl für die Anhänger innerhalb des Stadions als auch für diejenigen an den Fernsehschirmen87. Das Entstehen von „Tradition“ als „kulturelle Konstruktion von Identität“ ist im Profifußball also stets sehr eng mit Elementen der Kommerzialisierung verbunden, die sich lediglich durch die Gebundenheit an ihre jeweilige Gegenwart voneinander unterscheiden. Dies gilt umgekehrt allerdings genauso: Denn auch „moderne Vereine“ brauchen mittelfristig bestimmte Strategien der Selbstvergewisserung (eventuell auch historische), um ein Identifizierungsangebot für ihre Fans zu schaffen. Denn in Zeiten einer Moderne, die gerade aufgrund der Kommerzialisierung im Bereich des Fußballs von allen Beteiligten als immer schneller „vorübergehend“ empfunden wird, in denen demzufolge jederzeit neue Vereine in den Profibereich eindringen können, für die dies entweder aufgrund der bis vor einigen Jahren fehlenden Infrastruktur lange völlig undenkbar war88 oder die es bis vor wenigen Jahren noch überhaupt nicht gegeben hat89, kann der für 86 Die sich stets wiederholende Kritik am „modernen Fußball“ als zentralem Bestandteil der Ultra-Fankultur (vgl. Anm. 85) ist in dieser Form auch nur vor der Kulisse dieses „modernen Fußballs“, also angesichts der Inszenierungen der Klubs in neuen Fußballstadien vor der sich in Richtung „Event-Publikum“ entwickelt habenden Mehrzahl der Zuschauer denkbar. 87 Köster: Der dressierte Fanblock (wie Anm. 85), S. 30: „Stattdessen aber kultivieren viele Ultras einen merkwürdigen Leistungsgedanken. Das beginnt bei den Choreografien vor dem Spiel, die inzwischen längst zu uninspirierten Materialschlachten verkommen sind. (. . .) Kaum einem Ultra-Aktivisten fällt dabei auf, wie die Jagd nach immer bombastischeren Aufführungen die Kritik am Showbusiness Fußball konterkariert. So wortmächtig man nämlich gegen die klebrige Inszenierung des Profifußballs als bonbonfarbenes Event für zahlungskräftige Mittelstandsfamilien wettert, so leidenschaftlich produziert man selbst die atmosphärischen Bilder für die Anmoderation der PremiereKonferenz.“ 88 Der Rhein-Neckar-Kreis scheint für diesen Typus von kleinen aufstrebenden Vereinen geradezu ein echter Nährboden zu sein: Neben der TSG 1899 Hoffenheim in der 1. Bundesliga nimmt in der Saison 2012/13 mit dem SV Sandhausen ein zweiter Verein am professionellen Fußball in der 2. Bundesliga teil, den noch vor ein paar Jahren nur wenige überhaupt gekannt hatten. 89 An dieser Stelle ist neben dem FC 04 Ingolstadt vor allem RB Leipzig zu nennen, der in der Saison 2009/10 das Spielrecht des SSV Markranstädt in der Oberliga NOFVSüd übernahm, mit dem Ziel, mittelfristig in den Profifußball aufzusteigen (http://red bulls.com/soccer/leipzig/de/neuigkeiten-detail_4.html [Zugriff am 3. Juli 2012]; interessant auf dieser Seite ist auch der Verweis auf den „global player Red Bull“ in Sachen Sport: „Red Bull ergänzt damit sein globales Fußballkonzept. Nach den Vereinen Red Bull Salzburg und Red Bull New York, neben den Red Bull Fußball Akademien in Brasilien und Ghana wird mit RB Leipzig das Engagement nun auch auf Deutschland erweitert“). Das Kürzel des Vereinsnamens, das offiziell für „RasenBallsport“ steht, wurde somit in bewusster Anlehnung an das den Klub besitzende Unternehmen, den

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die weitere Entwicklung eines Vereins nach wie vor notwendige sportliche Erfolg (schlechtesten Falls definiert durch die Zugehörigkeit zum Profibereich) niemals garantiert werden. Mit anderen Worten: Es gilt nicht nur der Slogan „Tradition WEGEN Moderne“, sondern umgekehrt auch „Moderne WEGEN Tradition“. Denn das Ziel eines jeden „modernen Klubs“ (wie im Übrigen auch eines jeden „Traditionsvereins“, vor allem dann, wenn er nicht mehr dem Profibereich zugehörig ist) in diesem Sinne kann es nur sein, eine möglichst große Anhängerschaft (als weithin sicht- und hörbare Mit-Träger der Selbstvergewisserungs-Strategien) an sich zu binden, die auch dann in das Stadion kommt, wenn der sportliche Erfolg für eine gewisse Zeit mal ausbleibt90. Dass die eigene Geschichte, auch wenn sie sich über weite Strecken jenseits des Profibereichs abgespielt haben mag, hierbei wieder eine wichtige Rolle spielen könnte, scheinen auch die Fanbeauftragten in Mannheim (Zitat Daniel Gamer: „Der Verein ist also auch heute noch fest in seinem Heimatstadtteil verwurzelt und somit identifizieren sich auch große Teile der Mitglieder und Anhängerschaft mit ihm“) und Hoffenheim (Zitat Mike Diehl, trotz des Hopp-Slogans „Unsere Tradition ist die Zukunft“: „Nie die Wurzeln vergessen, wo man herkommt“) zu spüren.

Softdrink-Hersteller Red Bull, gewählt. Auf diese Weise konnte der Verein das bereits erwähnte DFB-Verbot umgehen, Firmennamen zu Werbezwecken in den Vereinsnamen zu integrieren. 90 Als Vorbild mag hier mit Borussia Dortmund pikanterweise wieder ein „Traditionsverein“ dienen: Trotz des eher bescheidenen bis ausbleibenden sportlichen Erfolges zwischen den Spielzeiten 2003/04 und 2008/09 schaffte es der Verein gerade in diesem Zeitraum, den Zuspruch bei eigenen Heimspielen weit über die 70.000 Zuschauer-Marke zu heben und diesen auch auf diesem Niveau zu etablieren (http:// www.kicker.de/news/fussball/bundesliga/spieltag/1-bundesliga/2010-11/zuschauer-dersaison.html [Zugriff am 3. Juli 2012]).

Sektion II: Außenpolitik in internationaler Perspektive

Großbritannien in der Außenpolitik Otto von Bismarcks nach der Reichsgründung bis zum Berliner Kongress 1871–1878 Sabine Thielitz I. Einleitung „Keine historische Gestalt – von den Tagen Metternichs bis zu Hitler und Stalin – wirft einen so mächtigen Schatten auf die Kapitel der europäischen und der Weltgeschichte, wie Otto von Bismarck.“ 1

Diese These des renommierten Bismarck-Biografen Otto Pflanze mag manche Relativierung erfahren müssen. Doch ist Otto von Bismarck (1815–1898) zweifellos zu den bedeutenden Gestalten der deutschen Geschichte zu zählen. Sein Einfluss auf die Entwicklungen der europäischen Politik und der Weltpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich kaum leugnen. Die von ihm maßgeblich geförderte Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 führte zu machtpolitischen Veränderungen in Europa, welche den weiteren Verlauf der Geschichte des Kontinents beeinflussten. Dabei erwies sich die außenpolitische Positionierung Deutschlands im Konzert der Großmächte in der Folgezeit als ein entscheidender Faktor der gesamteuropäischen Politik. Aus diesem Grunde entwickelte sich die Außenpolitik des Deutschen Kaiserreiches zu einem bereits von den Zeitgenossen erörterten Diskussionsobjekt.2 Auch in der weiteren wissenschaftlichen Forschung wurde die internationale Politik des Kaiserreiches zum Gegenstand von breiten und bisweilen kontrovers geführten Auseinandersetzungen. Dabei besteht in der Literatur hinsichtlich der Vorgehensweise häufig eine Gemeinsamkeit: die enge personale Bindung der deutschen Außenpolitik der Jahre 1871 bis 1890 an den Reichskanzler Otto von Bismarck. Da die auswärtige Politik dessen „ureigenste Domäne“ 3 war, wird auch in diesem Beitrag der Fokus auf die Einschätzungen und Handlungen des Fürsten Bismarck gelegt. 1 Pflanze, Otto: Bismarcks Realpolitik, in: Gall, Lothar (Hrsg.): Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln 1971, S. 218–238, hier S. 218. 2 Beispielsweise: Robolsky, Hermann: Bismarck. 12 Jahre deutscher Politik 1871–83, Leipzig 1884. 3 Hampe, Karl-Alexander: Das Auswärtige Amt in der Ära Bismarck, Bonn 1999, S. 19; Morsey, Rudolf: Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867–1890, Münster 1957, S. 78.

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Innerhalb der Forschung zur Bismarck’schen Außenpolitik lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte erkennen. Ein erster Fokus liegt auf dem Prozess der Reichsgründung.4 Daneben bilden die allgemeinen Grundzüge der Außenpolitik des Reichskanzlers und der Aufbau des Bündnissystems einen zweiten Forschungsschwerpunkt.5 Als Drittes lässt sich eine thematische Spezialisierung auf die Bedeutung einzelner Großmächte in der auswärtigen Politik Bismarcks feststellen. Insbesondere fanden die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Russland,6 der Donaumonarchie7 und Frankreich8 Berücksichtigung. Im Vergleich dazu wurden die bilateralen Beziehungen des Kaiserreiches zu Großbritannien für die Zeit der Kanzlerschaft Bismarcks eher vernachlässigt. Doch legt die damalige Relevanz Großbritanniens für die auf dem Prinzip der ,balance of power‘ basierende machtpolitische Situation in Europa eine ausführliche Betrachtung der deutsch-britischen Beziehungen für diesen Zeitraum durchaus nahe. Hier lässt sich allerdings nur eine lückenhafte Untersuchung erkennen. Zum einen fokussierte die Forschung auf die bilateralen Beziehungen der beiden Länder im Kontext der in den 1880er-Jahren beginnenden deutschen Kolonialpolitik.9 Zum anderen war die Rolle Großbritanniens in der Bismarck’schen Außenpolitik lediglich Gegenstand im Rahmen anderweitiger Untersuchungen, wie beispielsweise der Orientpolitik des Reichskanzlers10 oder der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 187511. 4 Ein Grundlagenwerk noch immer: Deuerlein, Ernst/Schieder, Thomas (Hrsg.): Die Reichsgründung. Tatsachen, Kontroverse, Interpretationen, Stuttgart 1970. 5 Hierzu: Canis, Konrad: Bismarcks Außenpolitik 1870–1890. Aufstieg und Gefährdung, Paderborn 2004; Hillgruber, Andreas: Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972; Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1890, Friedrichsruh 2003. 6 Hierzu: Groepper, Horst: Bismarcks Sturz und die Preisgabe des Rückversicherungsvertrages, Paderborn 2008; Kestler, Stefan: Betrachtungen zur kaiserlich-deutschen Russlandpolitik. Ihre Bedeutung für die Herausbildung des deutsch-russischen Antagonismus zwischen Reichsgründung und Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1871– 1914), Hamburg 2002; Hildebrand, Klaus: Bismarck und Rußland. Aspekte der deutsch-russischen Beziehungen 1871–1890, Friedrichsruh 2003. 7 Hierzu: Zweybrück, Franz: Bismarck und Österreich, Leipzig 1915; Bagdasarian, Nicholas D.: The Austro-German rapprochement 1870–1879. From the Battle of Sedan to the Dual Alliance, Rutherford 1976; Kretschmann, Carsten: Bismarck und das deutsch-österreichische Problem, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 111, Heft 3–4, 2003, S. 429–444. 8 Hierzu: Mitchell, Allan: Bismarck and the French nation 1848–1890, New York 1971; Lappenküper, Ulrich: Bismarck und Frankreich. Chancen und Grenzen einer schwierigen Beziehung, Friedrichsruh 2006. 9 Hierzu: Riehl, Axel: Der „Tanz um den Äquator“. Bismarcks antienglische Kolonialpolitik und die Erwartung des Thronwechsels in Deutschland 1883–1885, Berlin 1993; Fröhlich, Michael: Von Konfrontation zu Koexistenz: Die deutsch-englischen Kolonialbeziehungen in Afrika zwischen 1884 und 1914, Bochum 1990. 10 Die neueste Untersuchung auf diesem Gebiet mit Fokus auf die späten 1870erJahre und 1880er Jahre: Scherer, Friedrich: Adler und Halbmond. Bismarck und der Orient 1878–1890, Paderborn 2010.

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Hinsichtlich der Bedeutung Großbritanniens für die Außenpolitik Bismarcks stellen demnach besonders die Jahre nach der Reichsgründung 1871 bis zum ,Berliner Kongress‘ 1878 ein Desiderat der Forschung dar. Auf diesen Umstand wiesen sowohl Klaus Hildebrand12 als auch Lothar Gall13 hin. Vor dem Hintergrund dieser Forschungssituation setzt sich der vorliegende Beitrag mit der Bedeutung Großbritanniens in der Außenpolitik Bismarcks in eben jener Konsolidierungsphase des Deutschen Reiches von 1871 bis 1878, in welcher die erreichte Machtposition abgesichert werden musste, auseinander: Wie bezog der deutsche Reichskanzler die britische Großmacht in seine Außenpolitik mit ein? Welche Ereignisse beeinflussten die bilateralen Beziehungen? Welche deutsch-britischen Interaktionen ergaben sich daraus? Bei der Betrachtung werden sowohl deutsch-britische Bündnissondierungen als auch die Zusammenarbeit der beiden Länder in europäischen Angelegenheiten berücksichtigt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die bilateralen Beziehungen der beiden Staaten stets vor dem Hintergrund der gesamteuropäischen Politik zu betrachten. Hinsichtlich des für den zu untersuchenden Zeitraum relevanten diplomatischen Quellenmaterials sind besonders die Akten des Auswärtigen Amtes in der Edition der „Großen Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914“ zu erwähnen. Aus diesem Material lassen sich die deutsch-britischen Interaktionen der Jahre 1871 bis 1878 sukzessive rekonstruieren. Bezüglich der Verhandlungen und Ergebnisse des ,Berliner Kongresses‘ liefert die von Immanuel Geiss erbrachte Edition der Sitzungsprotokolle des Kongresses14 wichtige Erkenntnisse zumindest hinsichtlich der offiziellen Verhandlungen der Teilnehmer. Um die Hintergründe der diplomatischen Aktionen dieses Zeitraumes zu beleuchten, wurden zudem die politisch-literarischen Hinterlassenschaften Bismarcks ausgewertet, welche in den „Gesammelten Werken“ der „Friedrichsruher Ausgabe“ 15 und der 11 Eine Neubetrachtung der Krise unter Berücksichtigung eines umfangreichen Quellenmaterials bei: Janorschke, Johannes: Bismarck, Europa und die „Krieg-in-SichtKrise“ von 1875, Paderborn 2010; Stone, James: The war scare of 1875. Bismarck and Europe in the Mid 1870s, Stuttgart 2010. 12 Hildebrand, Klaus: Von der Reichseinigung zur „Krieg-in-Sicht“-Krise. PreußenDeutschland als Faktor der britischen Außenpolitik 1866–1875, in: Stürmer, Michael (Hrsg.): Das kaiserliche Deutschland, Kronberg 1977, S. 205–234, hier S. 206. Hildebrand selbst fokussierte hier auf die britische Haltung gegenüber dem Deutschen Reich. 13 Gall, Lothar: Bismarck und England, in: Kluke, Paul (Hrsg.): Aspekte der deutschbritischen Beziehungen im Laufe der Jahrhunderte, Stuttgart 1978, S. 46–59, hier S. 46. Gall versucht die Entstehungslinien eines auf Ablehnung und heimlicher Bewunderung basierenden deutsch-englischen Sonderverhältnisses nachzuzeichnen. Da er dessen Beginn in den 1880er Jahren verortet, verzichtet auch er auf eine eingehende Betrachtung der 1870er Jahre. 14 Geiss, Imanuel (Hrsg.): Der Berliner Kongress. Protokolle und Materialien, Boppard am Rhein 1978. (abgekürzt BKPM). 15 Petersdorff, Herman von u. a. (Hrsg.): Die gesammelten Werke (abgekürzt GW), Bände I., V.–VIII., XI., Berlin 1924–1935.

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„Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ 16 vorliegen. Für einen quellenkritischen Abgleich war es erforderlich, punktuell die Korrespondenzen der für die Politik Londons gegenüber dem Deutschen Kaiserreich relevanten britischen Diplomaten und Politiker heranzuziehen.17 II. Europa und die Gründung des Deutschen Reiches 1871 Die Entstehung des deutschen Nationalstaates war wesentlich durch die aus dem Krimkrieg (1853–1856) resultierende europäische Mächtekonstellation begünstigt worden.18 Das relative Desinteresse Russlands und Großbritanniens an der Mitte Europas hatte die preußische Position im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland gestärkt und 1870 die lokale Begrenzung des Krieges auf die deutschen Staaten und Frankreich ermöglicht.19 Vor diesem Hintergrund war unter der Führung Preußens in Zentraleuropa ein politisches Gravitationszentrum entstanden, das die Machtverhältnisse in dem etablierten System der Pentarchie verschob.20 Demnach bestand 1871 für alle europäischen Großmächte die Notwendigkeit, sich im Hinblick auf das neue Machtzentrum in der Mitte Europas zu orientieren.21 Frankreich stand dem Deutschen Reich in Folge des Deutsch-Französischen Krieges ablehnend gegenüber.22 Besonders die deutschen Annexionsforderungen bezüglich Elsass-Lothringen und die provokative deutsche Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles hatten die Spannungen zwischen den beiden Staa16 Canis, Konrad (Hrsg.): Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe, Bde. I–III, Paderborn u. a. 2004–2008. (abgekürzt NFA). 17 Taffs, Winifred (Hrsg.): Ambassador to Bismarck. Lord Odo Russell, London 1938; Fitzmaurice, Edmon (Hrsg.): The Life of George Leveson Gower, Second Earl Granville, Bände I u. II, London 1911; Cecil, Gwendolen (Hrsg.): Life of Robert, Marquis of Salisbury, Bände I u. II, RP, London 1921–1932; Morley, John (Hrsg.): The life of William Ewart Gladstone, Band II, New York 1912; Vincent, John (Hrsg.): Edward Henry Stanley: A selection from the Diaries of Edward Henry Stanley, 15th Earl of Derby (1826–93). Between September 1869 and March 1878, Bd. IV, London 1994; Buckle, George u. a. (Hrsg.): The life of Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield. Band II, New York 1929; Buckle, George (Hrsg.): The letters of Queen Viktoria, Band II, London 1926. 18 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 43. 19 Ulrich, Volker: Die nervöse Großmacht. 1871–1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt am Main, S. 26. 20 Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 129. 21 Geiss, Imanuel: Der lange Weg in die Katastrophe, München 1990, S. 123. 22 Hierzu: Kott, Sandrine: Bismarckbilder und Frankreichs innere Spaltungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hildebrand, Klaus (Hrsg.): Otto von Bismarck im Spiegel Europas, Paderborn u. a. 2006, S. 141–166; Bariéty, Jacques: Das Deutsche Reich im französischen Urteil, 1871–1945, in: Hildebrand, Klaus (Hrsg.): Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischer Nachbarn, München 1995, S. 203–218.

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ten intensiviert und zu einer anhaltenden Verstimmung geführt. In Folge dessen bemühten sich die diplomatischen Kreise Frankreichs, das Deutsche Reich und dessen Kanzler Bismarck den europäischen Großmächten gegenüber weiterhin als Aggressor zu präsentieren.23 Die politische Führung Österreich-Ungarns hatte zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges noch darauf gehofft, eine Restauration der eigenen Machtstellung in Mitteleuropa betreiben zu können.24 Nachdem die Wiener Regierung diese Pläne aus machtpolitischen Erwägungen verworfen hatte, nahm die Habsburgermonarchie bereits im November 1871 verstärkt Fühlung mit der Wilhelmstraße in Berlin auf und versuchte sich somit an der Seite des Deutschen Reiches zu positionieren.25 Die ursprünglich neutrale Haltung Russlands26 und Großbritanniens27 zu ,Preußen-Deutschland‘ hatte sich bereits im Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges partiell verändert. Nach der Schlacht von Sedan und dem Bekanntwerden der deutschen Annexionspläne für Elsass-Lothringen, befürchteten die Staatsführungen in London und St. Petersburg eine zu nachhaltige Schwächung Frankreichs und die damit einhergehende Gefährdung des europäischen Gleichgewichts. Das anfängliche relative Desinteresse wandelte sich in Besorgnis.28 Doch der Wunsch der russischen Staatsführung nach einer Revidierung der ,Pontusklausel‘29 des Pariser Friedens von 185630 bot dem damaligen preußischen Ministerpräsidenten Bismarck noch während des Deutsch-Französischen 23

Pflanze, Otto: Bismarck, Band 1: Der Reichsgründer, München 1997, S. 765. Hierzu: Höbelt, Lothar: Das Bismarckbild in Österreich, in: Hildebrand: Otto von Bismarck im Spiegel Europas (wie Anm. 22), S. 1–24; Rumpler, Helmut: Das Deutsche Reich im österreichischen Urteil, in: Hildebrand: Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte (wie Anm. 22), S. 13–26. 25 Hildebrand: Das vergangene Reich (wie Anm. 5), S. 18 f. 26 Hierzu: Altrichter, Helmut: Auswärtige Politik als Innenpolitik: Das Bild Bismarcks in Russland, in: Hildebrand, Bismarck im Spiegel Europas (wie Anm. 22), S. 115–140; Altrichter, Helmut: „und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant . . .“ Das Deutsche Reich aus russischer und sowjetischer Sicht, in: Hildebrand: Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte (wie Anm. 22), S. 179–202. 27 Hierzu: Urbach, Katharina: Portrait of a Giant: Otto von Bismarck im zeitgenössischen Urteil Großbritanniens, in: Hildebrand: Bismarck im Spiegel Europas (wie Anm. 22), S. 167–182; Alter, Peter: Herausforderer der Weltmacht. Das Deutsche Reich im britischen Urteil, in: Hildebrand: Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte (wie Anm. 22), S. 159–177; Schaarschmidt, Thomas: Außenpolitik und öffentliche Meinung in Großbritannien während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, Frankfurt am Main 1992. 28 Ulrich: Die nervöse Großmacht (wie Anm. 19), S. 26 f. 29 Aufzeichnungen Bismarcks. Versailles, 21. November 1870, in: Lepsius, Johannes u. a. (Hrsg.): Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Die Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Bände I–IV, Berlin 1924 (abgekürzt GP), hier: Bd. II, Nr. 222, S. 13 ff.; Tischgespräch, Versailles, 17. November 1870, in: GW, Bd. VII, Nr. 320, S. 407. 24

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Krieges die Möglichkeit, sich weiterhin die Neutralität St. Petersburgs zu sichern. Damit erwies sich das Zarenreich nahezu als ein ,Protektor‘ der Reichsgründung. Ein weiterer machtpolitischer Zuwachs Deutschlands war für Russland jedoch ausgeschlossen. Zudem betrachtete St. Petersburg das neue Deutsche Reich als ,Juniorpartner‘ und erwartete von diesem weiterhin die Unterstützung der russischen Interessen.31 In Großbritannien hatte sich die Besorgnis in den politischen Kreisen jedoch seit den deutschen Annexionsforderungen sukzessive manifestiert.32 Es wurden sogar diplomatische Interventionsmöglichkeiten erwogen.33 Der britische Außenminister, der Diplomatensohn und engagierte Liberale Lord George LeversonGower Granville (1815–1891), sprach sich jedoch für die Wahrung der strikten diplomatischen Neutralität aus.34 Dennoch verstummten in Großbritannien auch nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Friedensvertrages und der Kaiserproklamation die ,deutschkritischen‘ Stimmen nicht. Dies zeigt die von dem damaligen konservativen Oppositionsführer Benjamin Disraeli (1804–1881) am 9. Februar 1871 im Unterhaus gehaltene Rede: „This war represents the German revolution, a greater political event than the French revolution of last century. [. . .] Not a single principle in the management of our foreign affairs, accepted by all statesmen for guidance up to six month ago, any longer exists. [. . .] The balance of power has been entirely destroyed, and the country which suffers most, and feels the effects of this great change most, is England.35

Disraeli zielte zwar mit diesen Worten auch auf eine Diskreditierung der außenpolitischen Nichtinterventionspolitik der liberalen Regierung unter Premierminister Lord William Ewart Gladstone (1809–1898) ab. Dennoch kann das hier gegen Deutschland artikulierte Misstrauen nicht völlig ignoriert werden, da sich ähnliche Stimmen in den parlamentarischen Kreisen Englands in dieser Zeit häufiger finden.36 Wenn die britische Regierung auch nicht entschieden gegen die Bestrebungen Bismarcks vorgegangen war, so war es für sie dennoch kaum möglich, der mit der Reichsgründung einhergehenden europäischen Machtverschie-

30 Pontusklausel des Friedens von Paris. Paris, 30. März 1856, in: Martens, Geo. Fr. (Hrsg.): Nouveau Recueil général de traités. Series I. Band 15, 1857, Gottingue 1857 (Nachdruck Nendeln 1975), S. 782 ff. 31 Hildebrand: Das vergangene Reich (wie Anm. 5), S. 19. 32 Alter: Herausforderer der Weltmacht (wie Anm. 27), S. 169. 33 Valentin, Veit: Bismarcks Reichsgründung im Urteil englischer Diplomaten, Amsterdam 1937, S. 438. 34 Morley: Gladstone (wie Anm. 17), S. 264; Fitzmaurice, Edmond: The Life of Granville George Leveson Gower Second Earl Granville 1815–1891. Band 2, New York 1905, S. 42 f. 35 Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 473 f. 36 Kennedy, Paul M.: The rise of the anglo-german antagonism 1860–1914, London 1980, S. 25.

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bung mit Gleichgültigkeit zu begegnen.37 Die machtpolitische Entfaltung des Deutschen Kaiserreiches, dessen wirtschaftliches Potential und der zu befürchtende hegemoniale Anspruch konnten auch aus britischer Sicht als ungünstig empfunden werden.38 Großbritannien stand diesen europazentrierten ,Störfaktoren‘ abwartend und mit gespannter Aufmerksamkeit gegenüber. Allerdings ermöglichten die kleindeutsche Lösung sowie der vorläufige Verzicht des Deutschen Reiches auf eine große Flotte und kolonialpolitischen Ehrgeiz in Übersee, eine britische Akzeptanz des neuen Kaiserreiches. Denn unter diesen Voraussetzungen konnte Deutschland der für die britischen Interessen ausschlaggebenden Weltmachtstellung des Empires nicht gefährlich werden.39 Insgesamt ist die britische Haltung gegenüber Deutschland daher als ambivalent zu bezeichnen. Im Hinblick auf die Haltungen der europäischen Großmächte lässt sich feststellen, dass Bismarck den politischen Rahmen, der ihm zu Beginn des DeutschFranzösischen Krieges durch die abwartende Neutralität Russlands, Österreichs und Großbritanniens gesetzt worden war, weitestgehend ausgenutzt hatte. Aufgrund der anderweitig orientierten Interessenlagen der europäischen Regierungen war es auch nach der Niederlage Frankreichs nicht zu einer Intervention gekommen. Allerdings hegten die europäischen Mächte Vorbehalte gegen die neue Großmacht in ihrer Mitte. In der Wahrnehmung der meisten Nachbarländer Deutschlands schien die Reichsgründung 1871 weniger einen Abschluss der dynamischen Entwicklungen seit 1862, sondern einen Umsturz der europäischen Machtverhältnisse voranzukündigen.40 Bismarcks Gestaltung der deutschen auswärtigen Politik wiederum wurde maßgeblich von den außenpolitischen Rahmenbedingungen des Deutschen Kaiserreiches bestimmt. Die mit der Reichsgründung einhergehende Machtzusammenballung in der Mitte Europas führte dazu, dass Deutschland aufgrund seiner territorialen Größe, seiner Wirtschaftskraft und seiner Bevölkerungszahl sowie seines militärischen Potentials und seiner staatsrechtlichen Modernisierungsansätze eine „halbhegemoniale Stellung“ 41 einnehmen konnte:42 Für die Hegemonie in Europa war es zu schwach und für das Gleichgewicht des Kontinents zu stark.43 Aufgrund seiner geographischen Mittellage und der damit verbundenen Gefahr eines Mehrfronten-Krieges stellte sich die machtpolitische Ausgangslage 37 Hildebrand: Von der Reichseinigung zur „Krieg-in-Sicht“-Krise (wie Anm. 12), S. 222. 38 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 59. 39 Hildebrand: Das vergangene Reich (wie Anm. 5), S. 19. 40 Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 129. 41 Dehio, Ludwig: Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1961, S. 13. 42 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 57. 43 Hildebrand: Das vergangene Reich (wie Anm. 5), S. 25.

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des Reiches daher generell als äußerst komplex dar.44 Die in weiten Teilen der politischen Führungen der Großmächte dominierende Skepsis über den Umgang der Reichsleitung in Berlin mit der halbhegemonialen Stellung des Kaiserreiches verschärfte diese Situation.45 Der Kanzler war sich bewusst, dass die Konsolidierung Deutschlands bei den auswärtigen Mächten kaum „mit beifälligen Blicken betrachtet werde“.46 Zudem musste der Leiter der deutschen Außenpolitik die zentralen europäischen Konflikte dieser Zeit berücksichtigen. Hinsichtlich des durch den Krieg von 1870/71 verschärften deutsch-französischen Antagonismus war der Kanzler überzeugt, dass der westliche Nachbar den Verlust seiner Vormachtstellung auf dem westeuropäischen Festland nicht dauerhaft akzeptieren und bald Vergeltung anstreben werde, wie er in einem Gespräch mit dem französischen Botschafter im August 1871 darlegte.47 Zuvor musste Frankreich jedoch seine militärische Schlagkraft und politische Handlungsfreiheit wiedergewinnen, was Bismarck Zeit verschaffte, um die deutsche Machtposition zu festigen.48 Der zweite zentrale Konfliktherd betraf das russisch-österreichische Verhältnis. In Folge der Niederlage gegen Preußen 1866 hatte sich der Interessenschwerpunkt der Donaumonarchie nach Südosteuropa verlagert. Dadurch intensivierten sich die Spannungen mit dem Zarenreich, das auf diesem Gebiet ebenfalls politisches Engagement zeigte. Beide Regierungen waren bemüht, ihren jeweiligen Einflussbereich zu behaupten und nach Möglichkeit auszubauen.49 Des Weiteren entstanden zwischen Russland und Großbritannien aufgrund ihrer Konkurrenzsituation auf dem Balkan sowie in Indien und China Differenzen, wodurch sich das britisch-russische Verhältnis bereits vor 1870 sukzessive zu verschlechtern begann.50 Vor dem Hintergrund dieser machtpolitischen Rahmenbedingungen favorisierte Bismarck aus sicherheitspolitischen Gründen eine Status-quo-orientierte internationale Politik und strebte einen Konsens mit allen europäischen Groß44 Hillgruber, Andreas: Grundzüge der Außenpolitik Bismarcks von der Reichsgründung bis zum Abschluss des Dreibundes 1882, in: Aretin, Karl Otmar Freiherr v. (Hrsg.): Bismarcks Außenpolitik und der Berliner Kongress, Wiesbaden 1978, S. 41– 68, hier S. 41–43. 45 Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 129. 46 Privatschreiben an den Staatsminister Grafen von Itzenplitz, in: GW, Bd. 6b, Nr. 1946, S. 613. 47 M. de Gabriac, chargé d’affaires de France à Berlin, à M. de Rémusat, ministre des affaires étrangères, Berlin, 14. August 1871, in: Charléty, M. S. (Hrsg.): Documents Diplomatiques francais 1871–1914, Band I, Teil 1, Paris 1929 (abgekürzt DDF), Nr. 42, S. 61 ff.; Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 765. 48 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 62; Die hohen Kriegskontributionen sollten Frankreich wirtschaftlich von einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen abhalten: Mommsen, Wolfgang: Großmachtstellung und Weltpolitik Die Außenpolitik des Deutschen Reiches 1870–1914, Frankfurt am Main 1993, S. 21. 49 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 61 f. 50 Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 767.

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mächten, außer Frankreich, an.51 Diesem Konzept entsprechend, erklärte der deutsche Kaiser Wilhelm I. (1797–1888) in der Eröffnungsrede des Reichstages am 21. März 1871, dass das „neue Deutschland [. . .] ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein [wird], weil es stark und selbstbewusst genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als ein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbtheil zu bewahren.“ 52 Durch die so postulierte außenpolitische Saturiertheit des Reiches sollte die Integration Deutschlands in das Konzert der Mächte vorangetrieben werden.53 III. Großbritannien in der Außenpolitik Bismarcks von 1871 bis 1878 1. Die deutsch-britischen Beziehungen von der Reichsgründung bis 1875 Ausgehend von den deutsch-französischen Spannungen war es das wesentliche Ziel des Reichskanzlers, den westlichen Nachbarn zu isolieren und dessen potentielle Bundesgenossen an sich zu binden. Seine Äußerungen in diesem Kontext weisen darauf hin, dass er eine engere Verbindung zwischen dem Deutschen Reich, der Donaumonarchie und Großbritannien in Erwägung zog. So bezeichnete er bereits im November und Dezember 1870 jene beiden Mächte als die „natürlichen Verbündeten“ 54 des im Entstehen begriffenen Deutschen Reiches. Inwiefern diesen Überlegungen nur machtpolitisches Kalkül oder aber eine persönliche Überzeugung zu Grunde lag, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden.55 In jedem Fall war sich Bismarck der realpolitischen Möglichkeiten und Grenzen der deutschen Außenpolitik im Konzert der Mächte bewusst. So bezeichnete der Kanzler ein verbindliches Verhältnis zu der Donaumonarchie und dem Vereinigten Königreich zwar als erstrebenswert, aber solange diese Verbindungen nicht gefestigt waren, orientierte er sich vorerst weiter an St. Petersburg.56 Besonders für eine Realisierung der gewünschten Annäherung an Großbritannien boten sich in der ersten Hälfte der 1870er-Jahre kaum Anknüpfungspunkte. Die britische Regierung unter Gladstone neigte weiterhin zu einer generellen Zurückhaltung in kontinentalen Angelegenheiten.57 51

Mommsen: Großmachtstellung und Weltpolitik (wie Anm. 48), S. 18. Thronrede zur Eröffnung des Deutschen Reichstages, 21. März 1871, in: Kohl, Horst (Hrsg.): Otto von Bismarck: Die politischen Reden (abgekürzt BPR), Band V, Aalen 1969, S. 6. 53 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 62. 54 Odo Russell an Granville, 18. Dezember 1870, in: Fitzmaurice: Granville (wie Anm. 34), S. 74. 55 Langer, William: European alliances and alignments, New York 1931, S. 17. 56 Bismarck an Bernstorff, Versailles, den 28. November 1870, in: GP, Bd. II, Nr. 225, S. 19. 57 Kennedy: The rise of the anglo-german antagonism (wie Anm. 36), S. 28 f. 52

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Tendenziell wandte sich Bismarck daher in der ersten Hälfte der 1870er-Jahre verstärkt Russland und Österreich-Ungarn zu. Trotz des dabei geschlossenen Dreikaiserbündnisses58 strebte er aber weiterhin nach einem „engen Verhältnis“ 59 zu Großbritannien, um einen möglichen englisch-französischen Zusammenschluss und damit eine Revanche Frankreichs zu erschweren. Denn die von ihm angestrebte Isolation des westlichen Nachbarn war für den Kanzler erst dann vollendet, „wenn auch England in eine nähere Beziehung zu Deutschland gebracht worden war“,60 wie bereits Holborn richtig feststellte. Vor diesem Hintergrund betonte Bismarck in seiner Korrespondenz mit britischen Regierungsvertretern die Gemeinsamkeiten, die er zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien zu erkennen behauptete. Zugleich unterstrich er die vermeintlichen Unterschiede beider Nationen zu Frankreich. Eine Allianz zwischen England und Frankreich sei unnatürlich, da es sich um „naturally ,inimical races‘“ 61 handle. In diesem Kontext bemühte sich Bismarck auch, seine Bewunderung für die britischen politischen Institutionen zu betonen. Beispielsweise lobte er das Regierungssystem des Vereinigten Königreichs und behauptete, es zu bedauern, dass der Kaiser sich der Einführung der Parlamentsherrschaft nach britischem Muster widersetze.62 Diese Aussage ist allerdings zu relativieren, da Bismarck sich schon in den 1840er-Jahren in den Sitzungen der preußischen Zweiten Kammer gegen eine Übernahme des englischen Regierungssystems ausgesprochen hatte.63 Auch nach der Reichsgründung erschien ihm die geschriebene deutsche Verfassung, „die ganz klar die Rechte des Königs und des Kaisers definiert“,64 als ein Vorteil im Vergleich zu England. Bismarck ließ sich in seiner Außenpolitik nicht zentral von der Übereinstimmung mit anderen Mächten in verfassungsrechtlichen oder gesellschaftspolitischen Angelegenheiten leiten. Hinsichtlich bündnispolitischer Sondierungen instrumentalisierte er vielmehr die von ihm suggerierten landestypischen Gemein58 Im Mai 1873 unterzeichneten das Deutsche Reich und Russland eine Militärkonvention, gemäß derer sie sich gegenseitige Unterstützung im Falle eines Angriffs durch eine dritte Macht zusicherten: Text der Deutsch-Russischen Militärkonvention. Ratifikationsurkunde, 6. Mai 1873, in: GP, Bd. I, Nr. 127, S. 203 f.; Einen Monat später schlossen Russland und Österreich-Ungarn eine Vereinbarung zur Erhaltung des Friedens, der das Deutsche Reich im Oktober 1873 beitrat: Das Dreikaiserabkommen, in: GP, Bd. I, Nr. 129, S. 206 f. 59 Taube, Alexander von: Bismarck zwischen England und Russland, Stuttgart 1923, S. 2. 60 Holborn, Hajo: Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger-Jahre und die ,Mission Radowitz‘, Berlin 1925, S. 23. 61 Odo Russell an Granville, 8./11. Februar 1873, in: Fitzmaurice: Granville (wie Anm. 34), S. 113. 62 Odo Russell an Granville, 10. Mai 1873, in: ebd. 63 20. Sitzung der 2. Kammer, 24. September 1849, in: BPR, Bd. I, S. 125 f. 64 5. Sitzung des Deutschen Reichstags am 29. November 1881, in: BPR, Bd. IX, S. 147 f.

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samkeiten oder Unterschiede je nach Bedarf als unterstützendes oder abweisendes Argument.65 Im Hinblick auf Großbritannien war diese Taktik 1872/73 nicht erfolgreich. Dem von Berlin nach der Reichsgründung signalisierten Interesse an der britischen ,Freundschaft‘ begegnete die Regierung in London mit Zurückhaltung.66 Unter dem Eindruck dieser beständigen britischen Reserviertheit verstärkten sich im Zusammenhang mit dem Abschluss der deutsch-russischen Militärkonvention 1872 und des Dreikaiserabkommens 1873 Bismarcks Befürchtungen vor einer Annäherung des Vereinigten Königreiches an Frankreich.67 Das Einvernehmen der beiden Länder in den Akkreditierungsfragen des Osmanischen Reiches nach dem Rücktritt des französischen Präsidenten Louis Adolph Thiers (1797– 1877) im Mai 1873 bot dem Kanzler Anlass zur Sorge.68 In diesem Kontext versicherte der Fürst, dass die Dreikaiserpolitik mit einem gleichzeitigen deutschbritischen Einvernehmen kompatibel sei und verlieh seinem Interesse an einer derartigen Verständigung Ausdruck.69 Pflanze berichtet dabei von einem Beitrittsangebot Bismarcks an die Londoner Regierung hinsichtlich des Dreikaiserabkommens. Diese Offerte sei vom britischen Kabinett unter Gladstone jedoch nicht angenommen worden.70 Der liberalen britischen Regierung erschien eine Zusammenarbeit mit dieser konservativen Mächtekoalition kaum möglich. Zudem erschwerten die zunehmenden russisch-britischen Spannungen hinsichtlich des Interessenkonflikts in Asien eine Verwirklichung dieses Angebots.71 Das Bestreben Bismarcks nach einer Annäherung an Großbritannien ohne Verlust der russischen ,Freundschaft‘ war nur realisierbar, wenn es gelang, dem russisch-britischen Gegensatz die Brisanz zu nehmen.72 Daher bemühte sich der Kanzler, in dieser Angelegenheit eine beruhigende und vermittelnde Position einzunehmen. Der deutsche Botschafter in London, Graf George Herbert Münster von Bernstorff (1815–1891), sollte den russischen Gesandten Graf Pjotr Andrejewitsch Schuwalow (1827–1889) bei den diesbezüglichen Klärungsgesprächen in London Anfang 1873 unterstützen.73 Tatsächlich gelangten Russland und Großbritannien im Verlauf des Frühjahres 1873 hinsichtlich ihrer asiatischen Interessen zu einem

65 Baum, Eva Maria: Bismarcks Urteil über England und die Engländer, München 1936, S. 19. 66 Taube: Fürst Bismarck zwischen England und Russland (wie Anm. 59), S. 7. 67 Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 773. 68 Bismarck an Arnim, Berlin, 1. Juni 1873, in: NFA, Bd. I, Nr. 447, S. 537 f. 69 Odo Russell an Granville, 15. März und 21. Juni 1873, in: Fitzmaurice: Granville (wie Anm. 34), S. 113 f. 70 Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 773 f. 71 Rothfels, Hans: Bismarcks englische Bündnispolitik, Berlin 1924, S. 13 f. 72 Holborn: Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger-Jahre (wie Anm. 60), S. 26. 73 Bismarck an Bernstorff, Berlin, 1. Januar 1873, in: NFA, Bd. I, Nr. 374, S. 428.

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– allerdings vorübergehenden – Einvernehmen.74 Pflanze geht hier von einer wesentlichen Einflussnahme Bismarcks aus.75 Vor diesem Hintergrund war die Reichsleitung im Herbst 1873 mit der außenpolitischen Situation Deutschlands insgesamt zufrieden. Denn mit der Übereinkunft der drei Kaiserreiche erschien Bismarck die Position Deutschlands in Europa vorerst als gefestigt.76 Außereuropäischen kolonialen Verwicklungen wiederum sah sich das Reich in den 1870er-Jahren noch nicht gegenüber. Bismarck hegte eine starke Abneigung gegen eine territorial definierte Überseepolitik, welche das Reich juristisch und moralisch für etwaigen Kolonialbesitz haftbar machte.77 Dieser ablehnenden Haltung lagen wirtschaftliche und finanztechnische Erwägungen sowie machpolitische Überlegungen zugrunde. Denn „solche Besitzungen [müssten] bei den uns befreundeten Seemächten Misstrauen gegen die Friedlichkeit unserer Gesinnungen erregen“,78 äußerte er 1873 gegenüber dem Kaiser. Der deutsche Verzicht auf kolonialen Besitz und eine größere Flottenmacht in den ersten Jahren nach der Reichsgründung zielte daher in erster Linie auf die damals mächtigste Seemacht Großbritannien ab.79 Zum Schutz des deutschen Überseehandels und der deutschen Handelsschifffahrt außerhalb der europäischen Gewässer begnügte sich die Reichsleitung vorerst mit dem schrittweisen Aufbau eines weltweiten Netzes von Konsulaten.80 Um einen maritimen Konflikt mit Großbritannien zu vermeiden, unterhielt die deutsche Reichsleitung dabei eine intensive Zusammenarbeit mit London. Die deutschen Schiffe erhielten die Möglichkeit, die Einrichtungen der Royal Navy und die britischen Häfen zu benutzen. Im Gegenzug sollte sich das Deutsche Reich bei etwaigen defensiven maritimen Aktionen an der jeweiligen Einschätzung der britischen Regierung orientieren.81 So gelang es Bismarck in den 1870er-Jahren generell, Konflikte auf dem Gebiet der Übersee- und Marinepolitik mit den anderen Seemächten, besonders mit Großbritannien, weitgehend zu vermeiden.

74 Schulthess, Heinrich (Hrsg.): Europäischer Geschichtskalender, Band 14, 1873, Nördlingen 1874. (Nachdruck Nendlen 1977), S. 281ff. u. 436 ff. 75 Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 773 f. 76 Odo Russell an Granville, 1. November 1873, in: Fitzmaurice: Granville (wie Anm. 34), S. 114. 77 Riehl: Der „Tanz um den Äquator“ (wie Anm. 9), S. 22. 78 Bismarck an Wilhelm I, Berlin, 2. Juni 1873, in: NFA, Bd. I, Nr. 449, S. 540. 79 Stürmer, Michael: Die Deutschen und ihre Nation. Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin 1983, S. 193. 80 Die Reichsleitung schloss Handels-, Konsular- und Freundschaftsverträge mit den wichtigsten Staaten und Handelspartnern, sowie mit Machthabern in den noch nicht von den Kolonialmächten annektierten Ländern und Inselgruppen ab: Nuhn, Walter: Kolonialpolitik und Marine, Bonn 2002, S. 33. 81 Duppler, Jörg: Der Juniorpartner, England und die Entwicklung der Deutschen Marine 1848–1890, Herford 1985, S. 227 ff.

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Ende des Jahres 1873 zeichnete sich für Bismarck jedoch im Hinblick auf Frankreich eine zunehmende Gefährdung der deutschen Position ab. Im Auswärtigen Amt in Berlin nahm die Sorge wegen der raschen finanziellen, militärischen und politischen Erholung des westlichen Nachbarn zu.82 Bismarck versuchte daher, die britische Regierung von den kriegerischen Absichten Frankreichs zu überzeugen. Im Februar 1874 beauftragte er Münster, die britische Regierung an die in Paris seit langem angeblich virulenten Annexionsbestrebungen hinsichtlich Belgiens zu erinnern.83 Derartige Versuche Bismarcks, das Vereinigte Königreich gegen Frankreich zu beeinflussen, waren nicht erfolgreich. Der Grund dafür war das unterschwellige Misstrauen, mit welchem London dem Deutschen Reich und dessen Kanzler begegnete. Auch Jahre nach der Reichsgründung sah der britische Außenminister Granville in Bismarck noch immer eine größere Gefahr für den europäischen Frieden als die Zustände in Frankreich.84 Queen Viktoria (1819–1901) ermahnte 1874 den deutschen Kaiser in einem persönlichen Brief, für die Erhaltung des Friedens einzutreten. Sie betonte, dass die britischen Sympathien bei Interessenkonflikten mit Frankreich nur solange auf der Seite des Reiches sein würden, „unless there was an appearance of a disposition on the part of Germany to avail herself of her greatly superior force to crush and annihilate a beaten foe“.85 Diese Aussagen verweisen auf eine angespannte Aufmerksamkeit der britischen Regierung gegenüber dem Deutschen Reich und der Person Bismarcks. Der Kanzler wiederum, der die Verhältnisse in Großbritannien nur durch zwei kurze Aufenthalte in den Jahren 1842 und 1862 kannte, die beide nicht im Kontext einer diplomatischen Tätigkeit gestanden hatten, war hinsichtlich seiner Vorstellung von der britischen Politik und den Politikern weitgehend auf Gesandtenberichte angewiesen.86 Das Urteil Bismarcks über die außenpolitischen Entscheidungsträger des Vereinigten Königreiches fiel dabei in der ersten Hälfte der 1870er-Jahre kritisch aus. Hinsichtlich Lord Augustus William Loftus (1817– 1904), dem britischen Botschafter in Berlin von 1866 bis 1871, hatte er moniert, dass dessen Persönlichkeit nicht geeignet sei, „zur Besserung unserer Beziehungen zu England beizutragen“ 87 und dessen Ablösung gewünscht.88 Den Nachfolger von Loftus, Lord Odo Russell (1829–1884), schätzte Bismarck hingegen 82 Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 774 f.; Mommsen: Großmachtstellung und Weltpolitik (wie Anm. 48), S. 21. 83 Bismarck an Münster, Berlin, 17. Februar 1874, in: NFA, Bd. II, Nr. 61, S. 95. 84 Granville an Odo Russell, Weihnachten 1873, in: Fitzmaurice: Granville (wie Anm. 34), S. 114. 85 Viktoria an Kaiser Wilhelm I, Osborne, 10. Februar 1874, in: Buckle: Queen Viktoria (wie Anm. 17), S. 314. 86 Baum: Bismarcks Urteil über England und die Engländer (wie Anm. 65), S. 10 f. 87 Bismarck an Bernstorff, Berlin, 17. März 1871, in: NFA, Bd. I, Nr. 12, S. 11. 88 Bismarck an Bernstorff, Berlin, 18. Mai 1871, in: NFA, Bd. I, Nr. 102, S. 109.

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sehr.89 Zu Gladstone besaß der Kanzler aufgrund der liberalen Grundhaltung des Premierministers und dessen „crypto-katholische[r] Anschauungen“ 90 hingegen ein distanziertes Verhältnis. Auch zweifelte er bisweilen sowohl an der Richtigkeit der politischen Einschätzungen des britischen Außenministers Lord Granville, als auch an dessen Aufrichtigkeit.91 Das deutsch-britische Verhältnis war demnach in der ersten Hälfte der 1870erJahre nicht durch Feindseligkeit, aber durch vorsichtige Zurückhaltung und abwartende Skepsis gekennzeichnet. Bismarcks Versuchen, die Beziehungen des Kaiserreiches zum Vereinigten Königreich zu festigen, standen das kontinentale Desinteresse der britischen Regierung sowie deren Misstrauen hinsichtlich des Kanzlers entgegen. Da der Reichskanzler trotz seiner Annäherungsabsichten an London nicht geneigt war, die realpolitischen Gegebenheiten außer Acht zu lassen, konzentrierte er seine Bemühungen in der Folge auf die Donaumonarchie und Russland. Aber auch nach dem Abschluss des Dreikaiserbündnisses blieb Bismarck darauf bedacht, „die englische Freundschaft für Deutschland zu sichern.“ 92 Holborn folgend, versuchte der Kanzler mittels seiner britischen Politik die europäische Lage in einem für das Dreikaiserverhältnis günstigen Sinn zu beeinflussen. Zudem wollte sich Bismarck die britische Option offen halten, um im Falle einer Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen den Anschluss an London zu finden. Die britische Zurückhaltung war für den Reichskanzler dennoch akzeptabel, solange sie auch gegenüber Frankreich galt. In der ersten Hälfte der 1870er-Jahre war er daher vor allem bestrebt, einen britisch-französischen Zusammenschluss zu verhindern, was ihm bis zum Jahr 1875 auch weitgehend gelang.93 2. Die deutsch-britischen Beziehungen im Kontext der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ a) Gesamteuropäische Entwicklungen im Vorfeld der Krise Zu Beginn des Jahres 1875 stellte sich für Bismarck die gesamteuropäische Situation des Reiches zunehmend ungünstig dar. Die unterschwelligen Vorbehalte der Großmächte gegenüber Deutschland und seinem Kanzler erwiesen sich als Belastung. Die Dreikaiserpolitik, die eine Isolation Frankreichs und einen offenen Handlungsspielraum nach allen Seiten gewährleisten sollte, funktionierte nur in begrenztem Umfang.94 89 Gespräch mit Dr. Moritz Busch u. a. am 29. November 1870 in Versailles, in: GW, Bd. VII, Nr. 330, S. 421. 90 Bismarck an Münster, Berlin, 13. Januar 1874, in: NFA, Bd. II, Nr. 8, S. 16. 91 Ebd. S. 15 f.; Bülow an Münster, Berlin, 26. Mai 1874, in: ebd. Nr. 89, S. 142. 92 Taube: Bismarck zwischen England und Russland (wie Anm. 59), S. 7. 93 Holborn: Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger-Jahre (wie Anm. 60), S. 31. 94 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 83.

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Denn das Verhältnis Berlins zu St. Petersburg hatte sich im Verlauf des Jahres 1874 aufgrund der zunehmenden Rivalität um die Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent abgekühlt. Dabei gewannen auch Streitobjekte, die für die deutsch-russischen Beziehungen ursprünglich von untergeordnetem Interesse waren, sukzessive an Bedeutung.95 So nahm für Bismarck auch der russisch-britische Asienkonflikt weiterhin an Relevanz zu. Mit seinen diesbezüglichen Vermittlungsbestrebungen beabsichtigte der Kanzler nicht nur, den europäischen Frieden zu wahren und die Fühlung mit Großbritannien und Russland zu erhalten, sondern auch die Machtverhältnisse innerhalb des Dreikaiserbündnisses zu Gunsten Deutschlands zu verschieben.96 Im Jahr 1875 war die Staatsführung in St. Petersburg jedoch nicht bereit, die von Bismarck angestrebte deutsche Führungs- und Vermittlungsfunktion zu akzeptieren. Dementsprechend ging das Zarenreich gegenüber der deutschen Reichsleitung zunehmend auf Distanz.97 Neben den deutsch-russischen Differenzen, zeichneten sich für Bismarck erneut Schwierigkeiten im Umgang mit Paris ab. Der Versuch des Reichskanzlers, die angestrebte außenpolitische Isolation Frankreichs durch eine Instrumentalisierung des Kulturkampfes gegen den westlichen Nachbarn zu erreichen, scheiterte an der Zurückhaltung der übrigen europäischen Großmächte. Diese waren bemüht, einen Konflikt mit Rom und dem Papst zu vermeiden. Zudem standen sie der Stabilisierung Frankreichs an der Jahreswende 1874/75 wohlwollend gegenüber. Die Haltung des deutschen Kanzlers wiederum verstärkte unter den ausländischen Diplomaten den Eindruck, dieser suche den Krieg mit Frankreich, bevor es wieder erstarke.98 Vor diesem Hintergrund befürchtete der Fürst eine Koalition aller unmittelbaren Nachbarn des Deutschen Reiches. Um eine derartige feindliche Allianz zu verhindern und die Isolationsgefahr für das Kaiserreich zu minimieren, initiierte Bismarck Anfang 1875 eine diplomatische Offensive mit Frankreich als Hauptadressaten. Es ist anzunehmen, dass der Kanzler sich auf diese Weise auch über das Verhältnis der Großmächte zueinander Klarheit verschaffen wollte.99 b) Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ und die Haltung Großbritanniens Den Auftakt zu der diplomatischen Krise stellte die französische Bestellung von 10.000 Kavalleriepferden aus Deutschland zum sofortigen Ankauf dar. Wenn der Kanzler auch nicht an einen Angriff der Franzosen innerhalb des nächsten 95

Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 87. Holborn: Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger-Jahre (wie Anm. 60), S. 33. 97 Hildebrand: Das vergangene Reich (wie Anm. 5), S. 28 f. 98 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 80 ff. 99 Ebd. S. 89 f. 96

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Jahres glaubte, schien ihm der Verlust einer solchen Anzahl von Reitpferden aber „ein Aderlaß“ zu sein, „den wir noch empfinden würden, wenn wir in etwa 3 Jahren mobil zu machen hätten.“ 100 Bei der von Kaiser Wilhelm I. daraufhin erlassenen Notverordnung über ein Ausfuhrverbot von Pferden aus Deutschland handelte es sich um eine Maßnahme, die in der Regel einer Mobilmachung vorausging.101 Die Verabschiedung einer Militärreform durch die französische Nationalversammlung zur Verstärkung der Armee im März 1875102 verschärfte die Situation maßgeblich.103 Die Gerüchte über die Verlegung französischer und deutscher Truppen in Richtung der gemeinsamen Grenze führten im Frühjahr 1875 schließlich in weiten Teilen der diplomatischen Kreise Europas zu Kriegsspekulationen.104 Die britische Diplomatie zeigte sich hinsichtlich der Kriegserwartung zunächst skeptisch. Der englische Botschafter in Paris, Lord Richard B. P. Lyons (1817–1887), und sein Amtskollege in Berlin, Lord Odo Russell, glaubten nicht an einen militärischen Konflikt in absehbarer Zeit. Sie hielten weder Frankreich noch das Deutsche Reich für in der Lage, einen Feldzug zu führen. Beide Staaten waren mit der Reorganisation und Neubewaffnung ihrer Armeen beschäftigt.105 Als im April jedoch in diversen deutschen Zeitungsartikeln offen über die Kriegsgefahr spekuliert wurde, führte dies in der britischen Diplomatie zu Irritationen.106 So erschien in der „Kölnischen Zeitung“ am 5. April 1875 der Artikel „Neue Allianzen“, in dem der Verfasser die Befürchtung äußerte, Österreich-Ungarn wende sich vom Vertrag der drei Kaiser ab. Laut diesem Artikel sei die Bildung einer „katholischen Liga“ 107 mit Italien, Österreich-

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Bismarck an Hohenlohe. Berlin, 26. Februar 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 155, S. 245. Am 28. Februar 1875 hatte der Reichskanzler einen entsprechenden Erlass an sämtliche Bundesregierungen verschicken lassen: Erlass an sämtliche Bundesregierungen ausgenommen Preußen. Berlin, 28. Februar 1875, in: NFA, Bd. II, Nr. 210, S. 307 f.; Schulthess: Europäischer Geschichtskalender, Bd. 16 (wie Anm. 74), S. 69. 102 Das Gesetz sah die Verstärkung jedes Regiments der französischen Armee um ein zusätzliches viertes Bataillon vor. Zudem sollte jedes Bataillon durch eine vierte Kompanie ergänzt werden: Mommsen: Großmachtstellung und Weltpolitik (wie Anm. 48), S. 22. 103 Denn die Berechnungen des deutschen Generalstabs gingen von einer Aufstockung der französischen Armee von 144.000 Mann aus. Kaiser Wilhelm I. gelangte aufgrund dessen zu der Überzeugung, dass die französischen Streitkräfte im Kriegsfall am dreizehnten oder vierzehnten Tag der Mobilmachung über eine erhebliche Übermacht über das deutsche Heer verfügen könnten: Bericht Major Bülows (Militärattaché in Paris). Paris, 11. April 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 159, S. 250–253. 104 Bülow an Radowitz, Berlin, 28. Februar 1875, zitiert nach Janorschke, Johannes: Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875. Eine Neubetrachtung, in: Historische Mitteilungen, 20, 2008, S. 116–139, hier S. 117. 105 Eintrag vom 18. Januar 1875, in: Vincent, John (Hrsg.): Edward Henry Stanley: A selection from the Diaries of Edward Henry Stanley, 15th Earl of Derby (1826–93). Between September 1869 and March 1878, Band IV, London 1994, S. 191. 106 Janorschke: Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875 (wie Anm. 104), S. 117. 107 „Kölnische Zeitung“, 5. April 1875. 101

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Ungarn und Frankreich unter päpstlicher Schirmherrschaft zu befürchten. Frankreich und die Donaumonarchie wurden verdächtigt, eine Revanchekoalition anzustreben, um die Folgen der Kriege von 1866 und 1870/71 zu revidieren.108 Wenige Tage später, am 9. April, erschien in der als halboffiziell einzustufenden Berliner Zeitung „Die Post“ ein Artikel mit dem Titel „Ist der Krieg in Sicht?“, in dem ein deutscher Präventivschlag gegen Frankreich erwogen wurde, falls dieses seine Rüstungsanstrengungen nicht reduziere.109 Aufgrund der Kontakte der Autoren mit dem Auswärtigen Amt110 wurde Bismarck als Initiator dieser Artikel angesehen.111 Der Kanzler, der die Verantwortung für diese Presseaktionen offiziell zurückwies, wollte diese dazu nutzen, die europäischen Mächte von den friedlichen deutschen Absichten zu überzeugen und Frankreich zugleich als Aggressor zu diskreditieren. Daher wies Bismarck Münster an, die Aufmerksamkeit der britischen Regierung auf die französische Rüstung zu lenken.112 Der seit Februar 1874 amtierende britische Außenminister Lord Edward Henry Stanley Derby (1826–1893) glaubte jedoch nicht an einen Revanchekrieg Frankreichs. Die französischen Befürchtungen vor einem deutschen Angriff erschienen Derby hingegen nicht völlig unbegründet.113 Dabei waren die nach Auskunft ausländischer Quellen vermeintlichen Äußerungen deutscher Persönlichkeiten aus Militär, Politik und Diplomatie über die Notwendigkeit eines Präventivschlags114 gegen Frankreich von hoher Brisanz.115 In den Akten des Auswärtigen Amtes existiert 108

„Kölnische Zeitung“, 5. April 1875. „Die Post“, 9. April 1875. 110 Der Autor des Artikels in der „Kölnischen Zeitung“ war der Leiter des Pressebüros des Auswärtigen Amtes, Ludwig Aegidi. Der Artikel in der „Post“ ist auf den Journalisten Konstantin Rößler zurückzuführen, der bisweilen in den Diensten des Pressebüros stand: Janorschke: Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875 (wie Anm. 104), S. 117 f. 111 Janorschke: Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875 (wie Anm. 104), S. 117 f. Die Frage nach der Verantwortung Bismarcks bei der Veröffentlichung der ,Alarmartikel‘ und den zugrundeliegenden Motiven ist in der Forschung zur ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ vielfach diskutiert worden. Bereits für seine Zeitgenossen blieben Bismarcks Motive und Ziele in dieser Angelegenheit ungeklärt. Da bis heute keine Quellen zur Verfügung stehen, die über die konkreten Absichten des deutschen Reichskanzlers Aufschluss geben, stützt sich die Forschung auf Indizien. Einen umfassenden Überblick über die unterschiedlichen Forschungspositionen bieten vor allem neuere Arbeiten, hierzu: Janorschke: Bismarck, Europa und die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875 (wie Anm. 11); Stone: The war scare of 187 (wie Anm. 11). 112 Bülow an Münster, Berlin, 11. April 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 158, S. 249; Münster an Bismarck, London, 13. April 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 165, S. 259 f. 113 Münster an Bismarck, London, 13. April 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 165, S. 259. 114 Hierzu: Jeismann, Karl Ernst: Das Problem des Präventivkriegs im europäischen Staatensystem mit besonderem Blick auf die Bismarckzeit, München 1957. 115 Am 21. April 1875 philosophierte der Staatssekretär Maria Joseph von Radowitz gegenüber dem französischen Botschafter Gontaut-Biron über Krieg und Frieden. Von diesem Gespräch liegen unterschiedliche Berichte vor. Die Version von Radowitz: Pro109

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allerdings kein Hinweis, dass ein Präventivkrieg gegen Frankreich ernsthaft erwogen wurde. Bismarck hegte wohl nicht die Absicht, einen neuen Waffengang gegen Frankreich zu unternehmen. Allerdings hatte er schon früher gewarnt, dass „keine Regierung [. . .] so töricht sein [würde], für den Krieg, sobald sie gegen ihren Wunsch ihn als unvermeidlich betrachten muß, dem Gegner nach Belieben die Wahl von Zeit und Gelegenheit zu überlassen und den Augenblick abzuwarten, der dem Feinde der genehmste ist.“ 116 Vermutlich verfolgte der Fürst das Ziel, Frankreich zum Einlenken hinsichtlich der Rüstungsmaßnahmen zu bewegen. Doch die Regierung in Paris reduzierte ihre militärische Reorganisation nicht und versuchte im Gegenzug, das Deutsche Reich als Bedrohung für den europäischen Frieden zu präsentieren. In Folge dessen nahm das Misstrauen in London und St. Petersburg gegenüber den Absichten der deutschen Reichsleitung zu.117 Anfang Mai verliehen Russell und Derby ihrem Bestreben Ausdruck, „zur Wiederherstellung des gestörten Vertrauens“ 118 und zur „Beschwichtigung der Unruhe“ 119 zwischen dem Deutschen Reich und dessen westlichen Nachbarn beitragen zu wollen. In diesem Sinne beschloss das britische Kabinett unter dem seit Februar 1874 amtierenden konservativen Premierminister Benjamin Disraeli, die Großmächte zu einer gemeinsamen diplomatischen Intervention in Berlin aufzufordern. Dabei konnte erstens der britische Führungsanspruch in strittigen europäischen Angelegenheiten demonstriert werden. Zweitens galt es, das Vormachtstreben des Deutschen Reiches einzudämmen. Drittens bestand durch eine gemeinsame Intervention mit Russland die Möglichkeit, die deutsch-russischen Spannungen zu vermehren.120 Entsprechend dem Kabinettsbeschluss lud die englische Regierung Italien und Österreich-Ungarn ein, sich den Bemühungen

memoria von Radowitz, in: GP, Bd. I, Nr. 177, Berlin, 12. Mai 1875, S. 275 ff.; Gontaut-Biron gibt eine andere, verschärfte Version: Gontaut-Biron, Elie de: Meine Botschafterzeit am Berliner Hofe 1872–1877, Berlin, Erscheinungsjahr 1909, S. 442 ff.; Bismarck erklärte wenige Tage später dem österreichischen Botschafter Karolyi, gemäß dessen Bericht an Odo Russell, dass es Deutschlands Pflicht sei, die Initiative zu ergreifen, wenn Frankreich seine Rüstungsanstrengungen nicht mäßige: Russell an Derby, Berlin, 27. April 1875, in: Taffs: Ambassador to Bismarck (Anm. 17), S. 86 f.; Nach Aussagen Gontaut-Birons, sollen Bismarck und der Generalstabsleiter Helmuth Karl Bernhard, Graf von Moltke Anfang Mai 1875 auch gegenüber dem belgischen Botschafter, Baron Jean Baptiste de Nothomb, über die Möglichkeit eines Präventivkrieges gesprochen haben: Gontaut-Biron: Meine Botschafterzeit am Berliner Hofe 1872–1877 (wie Anm. 115), S. 454 f.; Odo Russell an Derby, Berlin, 1. Mai 1875, in: Newton, Thomas: Lord Lyons. A record of british diplomacy, Band II, London 1913, S. 74. 116 Bismarck an Graf von Arnim, Varzin, 30. Oktober 1873, in: GP, Bd. I, Nr. 137, S. 221. 117 Pflanze: Bismarck (wie Anm. 23), S. 782 f. 118 Aufzeichnung Bülows, Berlin, 9. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 174, S. 272. 119 Bismarck an Münster, Berlin, 9. Mai 1875, in: NFA, Bd. II, Nr. 259, S. 377. 120 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 102 f.

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zur Friedenswahrung anzuschließen. Diese sahen von einer Beteiligung jedoch ab.121 Auch in St. Petersburg bot die britische Regierung durch Odo Russell ihre Dienste zur „Aufrechterhaltung der Ruhe“ 122 an. Die russische Staatsführung begrüßte diese Möglichkeit einer diplomatischen Intervention gegen das Kaiserreich.123 Zar Alexander II. (1818–1881) und der russische Staatskanzler, Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow (1798–1883), waren zuvor übereingekommen, sich in Berlin für die Wahrung des Friedens auszusprechen.124 Disraeli und Derby entschieden sich schließlich, mit dem Zaren und Gortschakow gemeinsam gegen das Deutsche Reich diplomatisch vorzugehen. Odo Russell erhielt dementsprechende Instruktionen für den Besuch des Zaren in Berlin am 10. Mai 1875.125 Auch Queen Viktoria hatte sich in ihrer Korrespondenz mit Alexander II. für ein gemeinsames Vorgehen zur Sicherung des Friedens ausgesprochen.126 Vor diesem Hintergrund lenkte Bismarck schließlich ein und betonte, dass es zwischen den europäischen Regierungen „kein Zerwürfnis, ja nicht einmal eine ernsthafte Beunruhigung“ 127 gebe. Doch war der deutsche Kanzler von dem britischen „Eifer, ein nicht vorhandenes Feuer zu löschen“,128 überrascht. Das Vermittlungsbedürfnis der englischen Regierung galt ihm „als beunruhigendes Symptom für das unbegründete Vertrauen, das man in London französischen Insinuationen schenkt.“ 129 Bismarck zog daraus den Rückschluss, dass England bereit wäre, im Falle eines erneuten deutsch-französischen Krieges Europa zu einer Intervention gegen das Reich aufzurufen.130

121 Aufzeichnung Bülows, Berlin, 12. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 178, S. 277; Schweinitz an Bülow, Wien, 19. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 183, S. 283 f. 122 Bülow an Prinz Heinrich VII. Reuß, Berlin, 14. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 179, S. 279. 123 Bismarck an Münster, Berlin, 12. Mai 1875, in: NFA, Bd. II. Nr. 260, S. 378. 124 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 103. 125 Derby an Russell, 8. Mai 1875, in: Temberly, Harold (Hrsg.): Foundations of british foreign policy. From Pitt (1792) to Salisbury (1902), Cambridge 1928, Document 137, S. 352 f.; Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 762. 126 Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 762; Auszug aus dem Tagebuch der Queen. 13. Mai 1875, in: Buckle: Queen Viktoria (wie Anm. 17), S. 396 u. Brief des Zaren an die Queen. Ems, 18. Mai 1875, in: ebd. S. 398; Der Brief vom 10. Mai 1875 an den Zaren Alexander II. findet auch an anderer Stelle in der Korrespondenz der Königin Viktoria Erwähnung: Königin Viktoria an die Deutsche Kaiserin Augusta. Windsor Castle, 12. Mai 1875, in: Jagow, Kurt (Hrsg.): Queen Viktoria. Ein Frauenleben unter der Krone, Berlin 1936, S. 370 u. Königin Viktoria an die deutsche Kronprinzessin Viktoria, Balmoral, in: ebd. 8. Juni 1875, S. 371 f. 127 Bismarck an Münster, Berlin, 12. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 176, S. 275. 128 Bismarck an Münster, Berlin, 12. Mai 1875, in: NFA, Bd. II, Nr. 260, S. 378. 129 Bismarck an Münster, Berlin, 14. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 180, S. 279 f. 130 Ebd.

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c) Die Folgen der Krise für das deutsch-britische Verhältnis Nachdem die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ diplomatisch beigelegt worden war, sollte die Haltung Großbritanniens vom Frühjahr 1875 noch häufiger Erörterungsgegenstand in Bismarcks Korrespondenz mit dem Grafen Münster sein. Im Auswärtigen Amt in Berlin setzte sich die Annahme durch, dass die Besorgnis über die deutsche Politik zuerst in England entstanden sei. Die Empfänglichkeit der britischen Regierung für die gegen Deutschland gerichteten Verdächtigungen sei wohl darauf zurückzuführen, dass die Minister dort sich der „Tragweite ihrer Handlungen“ 131 nicht bewusst gewesen seien. Für den Kanzler jedoch war es von zentraler Bedeutung, zu erfahren, was die englische Regierung zu ihrer Intervention bewogen hatte.132 Bismarck war geneigt, als Quelle der Verdächtigungen gegen das Reich die Berichte des Lord Lyons sowie die Privatkorrespondenz zwischen Kaiserin Augusta und Königin Viktoria anzunehmen.133 Offiziell ließ er in London jedoch verlauten, dass die deutsche Reichsleitung vor allem der britischen Presse die Schuld gebe, welche die britische Regierung in die „[I]rre“ 134 geführt habe. Mehr als die „Auslassungen“ 135 der Presse beschäftigten den Kanzler aber das Verhalten Derbys.136 Dieser hatte in seiner Parlamentsrede am 31. Mai 1875 die Kriegsgerüchte hauptsächlich Deutschland zur Last gelegt.137 Laut Münster habe der Außenminister in London an eine Bedrohung des Friedens geglaubt und die Konsequenzen seiner Handlungsweise unterschätzt, als er sich an die europäischen Kabinette wandte.138 In einer persönlichen Aussprache des deutschen Botschafters in London mit dem Leiter des foreign offices ließ dieser Bismarck schließlich versichern, dass die britische Regierung „den höchsten Wert auf die freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland“ 139 lege. Der Kanzler blieb gegenüber diesen Versicherungen jedoch skeptisch.140 Königin Viktoria ließ in einem Brief an Kaiser Wilhelm I. verlauten, dass sie das Ausbleiben des befürchteten Krieges begrüße. Die Gründe, warum die Situation in England als so ernst eingeschätzt worden war, erörterte sie nicht. Die Queen konstatierte aber, es sei ihr „ein Leichtes“ 141 nachzuweisen, dass die Ver131

Bülow an Münster, Berlin, 3. Juni 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 184, S. 284 f. Ebd. S. 286. 133 Bülow an Kaiser Wilhelm I, Berlin, 16. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 181, S. 279 f. 134 Bülow an Münster, Berlin, 3. Juni 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 184, S. 287. 135 Promemoria von Radowitz, Berlin, 12. Mai 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 177, S. 276. 136 Bülow an Münster, Berlin, 3. Juni 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 184, S. 284 ff. 137 „Times“, 1. Juni 1875; Derbys Parlamentsrede vom 31. Mai 1875, in: Schulthess: Europäischer Geschichtskalender (wie Anm. 74), Bd. 16, S. 289 ff. 138 Münster an Bülow, London, 7. Juni 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 186, S. 289. 139 Münster an Bismarck, London, 9. Juni 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 188, S. 292. 140 Holborn: Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger-Jahre (wie Anm. 60), S. 47. 132

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unsicherung nicht übertrieben und durch mehr als flüchtige Bemerkungen hervorgerufen worden sei. Bismarck bemerkte zu dem Schreiben, er hätte eine Erläuterung der Ursprünge der Kriegsgerüchte begrüßt, da die Königin ihre Quellen als sicher eingeschätzt haben müsse.142 Trotz weiterer Nachforschungen, gelang es dem Fürsten nicht, die Hintergründe des britisch-russischen Vorgehens aufzuklären, da London und St. Petersburg der jeweils anderen Macht die Initiative für die Intervention zuschrieben.143 Die genauen Zusammenhänge und Motive der britisch-russischen Zusammenarbeit in dieser Angelegenheit bleiben bis heute spekulativ. Aufgrund der zunehmenden Rivalität zwischen Deutschland und Russland um den Führungsanspruch unter den Dreikaisermächten, lag eine Machtbegrenzung des Reiches besonders im russischen Interesse. Vor diesem Hintergrund wird in der Forschung die britische Beteiligung an der ,deutschkritischen‘ Intervention mit der zeitgleichen russisch-britischen Einigung über Zentralasien in Verbindung gebracht. Gortschakow forcierte im April 1875 die britisch-russische Verständigung ohne eine Beteiligung Deutschlands. Diese Übereinkunft in der Asienfrage könnte eine geeignete Grundlage für die gesteigerte Interventionsbereitschaft Großbritanniens gewesen sein. Zumindest erklärte die britische Regierung erst am 9. Mai 1875 – also nachdem der britische Botschafter in St. Petersburg, Lord Loftus, die russische Offerte bezüglich Zentralasiens als akzeptabel empfohlen hatte – ihre definitive Teilnahme an der gegen die deutsche Politik gerichteten diplomatischen Aktion in Berlin.144 Die Situation des Frühjahres 1875 bot der konservativen Regierung unter Disraeli demnach die Möglichkeit, einen Kompromiss mit dem Zarenreich zu finden und mit dem seit der Amtsführung des Premierministers Herny John Temple Palmerston (1784–1865) die englische Politik dominierenden Prinzip der ,nonintervention‘ zu brechen.145 Aus russischer Sicht war es hingegen möglich, sich in Europa als Friedensvermittler zu präsentieren, eine Annäherung an Frankreich herbeizuführen und zugleich eine Entfremdung zwischen Großbritannien und Deutschland zu provozieren.146 In der Tat war das deutsch-britische Verhältnis durch das Einschreiten Londons belastet worden. Bismarck bezeichnete die britische Einmischung, besonders die 141 GP, Bd. I, Nr. 189: Königin Viktoria von England an Wilhelm I., Windsor, 20. Juni 1875, S. 293. 142 Ebd. S. 293 f. (Fn.); Gall, Lothar (Hrsg.): Otto von Bismarck: Erinnerungen und Gedanken (abgekürzt BEG), II. Buch, Berlin 1998, S. 402 f. 143 Herbert von Bismarck an Radowitz, Varzin, 11. Juni 1875, in: NFA, Bd. II, Nr. 271, S. 399; Prinz Heinrich VII. Reuß an Bismarck, St. Petersburg, 22. Juli 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 190, S. 294 ff. 144 Janorschke: Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875 (wie Anm. 104), S. 135. 145 Holborn: Bismarcks europäische Politik zu Beginn der siebziger-Jahre (wie Anm. 60), S. 45. 146 Janorschke: Die ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ von 1875 (wie Anm. 104), S. 134 ff.

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der Queen, als „lächerlich.“ 147 Die Verärgerung des Kanzlers fokussierte sich aber in der Folgezeit besonders auf Lord Derby und die politischen Unzulänglichkeiten des foreign offices. Der Fürst befahl, Münster zu instruieren, „daß er an Derby nur noch solche geschäftlichen und politischen Mittheilungen macht, die absolut gemacht werden müssen, daß er sonst aber nur in der zugeknöpftesten Weise mit ihm verkehrt“.148 Einen Bruch mit Großbritannien wollte Bismarck allerdings vermeiden. Derby wiederum betonte, dass England mit Deutschland keine „divergierenden Interessen“ 149 habe und ließ dem Kanzler ausrichten, er wünsche „aufrichtig ein gutes Einvernehmen“.150 Eine dauerhafte Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen blieb daher aus. Doch gewann der Kanzler aus dem britischen Vorgehen wesentliche Erkenntnisse: Die britische Regierung hatte im Verlauf der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ ihre bisherige Zurückhaltung in kontinentalen Angelegenheiten aufgegeben und signalisiert, dass für sie der zumutbare Rahmen der deutschen Machtausdehnung ausgeschöpft war. Zwar hatte London auch keinen Versuch unternommen, die Entwicklungen der Jahre 1862 bis 1871 bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu revidieren. Bei jedem weiteren Versuch, die Machtposition des Reiches zu erweitern, musste Bismarck jedoch mit dem vehementen Widerstand Großbritanniens rechnen.151 Das gemeinsame Vorgehen des Vereinigten Königreiches und Russlands verdeutlichte zudem, dass eine deutsche aggressive Vorgehensweise jene feindliche Konstellation heraufbeschwören konnte, die Bismarck zu vermeiden suchte.152 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse avancierte Großbritannien für den deutschen Kanzler in der Folgezeit zu einem stärker zu berücksichtigenden Faktor. 3. Großbritannien in der Außenpolitik Bismarcks nach der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ 1875 a) Die europäische Mächtekonstellation und die beginnende Orientalische Krise 1875 Nach der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ manifestierte sich ein latentes europäisches Gleichgewicht, welches faktisch die Anerkennung der veränderten Mächtekonstellation von 1871 miteinschloss. Da Russland und Großbritannien keine weite147 Gespräche mit Mittnacht (Staatsminister), Varzin, 20., 21. und 22. August 1875, in: GW, Bd. VIII, Nr. 107, S. 147. 148 Herbert von Bismarck an Radowitz, Varzin, 25. Juli 1875, in: NFA, Bd. II, Nr. 277, S. 408. 149 Münster an Bismarck, London, 28. Juli 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 191, S. 298. 150 Ebd. 151 Kennedy: The rise of the anglo-german antagonism (wie Anm. 36), S. 30. 152 Hillgruber: Deutsche Großmacht- und Weltpolitik (wie Anm. 39), S. 57 f.

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ren unmittelbaren hegemonialen Vorstöße des Deutschen Reiches erwarteten, fokussierten sie sich zunehmend auf ihre weltpolitischen Interessen und bemühten sich dabei auch um die deutsche Unterstützung. Die Außenpolitik des Kaiserreiches bewegte sich demnach in dem Spannungsfeld zwischen den Erwartungshaltungen der Flügelmächte und der Möglichkeit, eine neutrale Vermittlerposition einzunehmen.153 Eine wesentliche Rolle spielte der im Sommer 1875 neu angefachte Balkankonflikt.154 Bei diesem wurden durch die verstärkte handelspolitische Erschließung des südosteuropäischen und kleinasiatischen Raums die Interessen nahezu aller europäischen Großmächte tangiert. Zudem hatte die Debatte um die nationalen Ansprüche und religiösen Rechte unterdrückter Völker in der europäischen Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen. Vor allem aber begründeten die territorialen Rivalitäten zwischen Russland, Österreich-Ungarn und Großbritannien um das osmanische ,Erbe‘ die europäischen Interessen an den Balkanunruhen. Aufgrund des russischen Interesses, den Verfall des Osmanischen Reiches weiter voranzutreiben, förderte das Zarenreich die Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanslawen. Das zentrale Anliegen St. Petersburgs stellte die Revision der Ergebnisse des Krimkrieges und die Herrschaft über die Meerengen sowie Konstantinopel dar. Im Gegensatz zu Russland wollte das Vereinigte Königreich die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches erhalten. Der britisch-russische Antagonismus verstärkte sich durch das russische Streben nach den Meerengen, da somit Großbritanniens Interessen im östlichen Mittelmeer und an der Verbindung zu den indischen Besitzungen tangiert wurden. Generell stand die britische Regierung daher eher der Haltung Österreich-Ungarns nahe. Für die Donaumonarchie hatte der Erhalt des Osmanischen Reiches geradezu existentielle Bedeutung, da die Entstehung neuer oder vergrößerter Balkanstaaten und deren panslawistische Ausrichtung auf Russland bei den unter Habsburgs Herrschaft lebenden Slawen Ablösungstendenzen hervorrufen, beziehungsweise verstärken konnten. Aufgrund dessen verlangte die Wiener Regierung von der ,Hohen Pforte‘ Reformen, welche die Situation der unterworfenen Völker verbessern sollten. Darüber hinaus strebte die Habsburgermonarchie in Verbindung mit der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Erschließung des Gebietes die latente Dominanz auf dem westlichen Balkan an. Für Frankreich hatten die orientalischen Verwicklungen in politischer Hinsicht nur zweitrangige Bedeutung. Das

153

Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 106 f. Im Juli 1875 brachen unter der südslawischen Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina Unruhen gegen die osmanische Herrschaft aus. Diese weiteten sich auf das bulgarische Gebiet aus. Auch die halbautonomen Staaten Serbien und Montenegro solidarisierten sich mit den Aufständischen. Im Juni 1876 erfolgte schließlich die Kriegserklärung Serbiens an das Osmanische Reich. Hierzu: Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 109. 154

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Interesse dort war hauptsächlich finanzieller Natur, da die maßgeblichen Gläubiger der ,Pforte‘ aus der Pariser Finanzwelt stammten. Tendenziell unterstützte die französische Regierung deswegen eher die Status-quo orientierte Politik Londons als die russischen Ziele.155 Diese Mächtekonstellation erschien aus deutscher Sicht auf den ersten Blick vorteilhaft. Aufgrund der politischen Fokussierung auf die Balkanregion traten der deutsch-französische Antagonismus und die deutsch-russischen Spannungen gleichermaßen in den Hintergrund. Da das Deutsche Reich in dem umstrittenen Gebiet zudem keine eigenen Interessen zu wahren hatte, nahm Bismarcks diplomatischer Spielraum zu.156 Allerdings bestand für Deutschland stets die Gefahr, durch eine zu einseitige Stellungnahme die Beziehung zu den anderen Großmächten zu gefährden. Da Bismarck vor allem an der „Erhaltung des auf freier Entschließung beruhenden Drei-Kaiser-Bündnisses“ 157 gelegen war, erklärte er sich bereit, jede österreichisch-russische Einigung zu unterstützen.158 Der Kanzler beschäftigte sich aber auch mit dem Gedanken einer Annäherung an Großbritannien.159 b) Deutsch-britische Sondierungen an der Jahreswende 1875/76 Für den Dezember 1875 und den Januar 1876 liegen Berichte über je ein von Bismarck angeregtes Sondierungsgespräch mit der britischen Regierung vor. Während die erste Unterhaltung auf quellenmäßig unsicherer Basis steht, ist das Gespräch vom Januar 1876 in den Akten des Auswärtigen Amtes belegt. In dieser Unterhaltung mit Lord Odo Russell äußerte Bismarck erneut seinen Wunsch nach einer „guten Verbindung“ 160 mit dem Vereinigten Königreich. Zudem regte er einen Gedankenaustausch über die Zukunft des Osmanischen Reiches an. Über diesen Teil des Gespräches liegen voneinander abweichende Berichte vor. Russell erwähnte Derby gegenüber das allgemeine Interesse Bismarcks an der britischen Stellungnahme zu den österreichisch-ungarischen und russischen Annexionsplä155

Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 110 f. Mommsen, Wolfgang: Ägypten und der Nahe Osten in der deutschen Außenpolitik 1870–1914, in: Mommsen, Wolfgang: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1990, 140–181, hier S. 140 ff.; Näheres zu den Grundzügen der Bismarck’schen Orientpolitik bei: Schöllgen, Gregor: Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die Orientalische Frage, München 1984, S. 15–31; zu Bismarck und der Orientalischen Frage: Scherer: Adler und Halbmond (wie Anm. 10). 157 Bülow an Alvensleben (Geschäftsträger in Petersburg), Berlin, 8. Dezember 1875, in: GP, Bd. I, Nr. 130, S. 208. 158 Diktat Bismarcks, Varzin, 20. Oktober 1876, in: GP, Bd. II, Nr. 250, S. 71. 159 Canis: Deutsche Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 111 f. 160 Die englische Version: „good relations he wished to keep up with England“ nach: Odo Russell an Derby, Berlin, 2. Januar 1876, in: Harris, David: Bismarcks Advance to England 1876, in: The Journal of Modern History, 3, 1931, S. 441–456, hier S. 444. 156

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nen hinsichtlich des osmanischen Gebietes.161 Die Akten des deutschen Auswärtigen Amtes fokussieren hingegen auf die Überlegungen Bismarcks bezüglich eines Teilungsplans des Osmanischen Reiches, der auf territorialen Kompensationen für die europäischen Großmächte basierte.162 Hierauf soll Russell Bismarck entgegnet haben, dass nur wenige Parlamentsmitglieder „noch ein Abentheuer gleich dem Krimkrieg gutheißen möchten. Ein Lebensinteresse habe England nur noch an der Sicherstellung seiner Verbindung mit Indien.“ 163 Derby vermutete in jedem Fall, dass Bismarck Großbritannien gegen die anderen europäischen Mächte aufreiben wollte und konnte sich mit dieser Auffassung in London durchsetzen.164 In Folge der Reserviertheit des Vereinigten Königreiches, betonte der Reichskanzler, seine Absicht sei im Sinne der Friedenserhaltung lediglich eine offene Kommunikation mit Lord Derby gewesen.165 Später ließ Bismarck verlauten, er habe sich dem britischen Premierminister 1876 für ein Bündnis angeboten, doch habe dieser sein Angebot nach sechs Wochen abgelehnt.166 In jedem Fall beharrte der Kanzler in den folgenden Monaten nicht auf der Realisierung einer verbindlichen Allianz mit Großbritannien.167 Laut den 1919/20 erschienenen „Lebenserinnerungen und politischen Denkwürdigkeiten“ 168 des Botschaftsrates a. D. Hermann Freiherr von Eckardstein soll der Bündniswunsch Ende 1875 bei Bismarck jedoch so ausgeprägt gewesen sein, dass er bereits vor dem Annäherungsversuch im Januar 1876 Sondierungen mit Großbritannien aufgenommen habe. Eckardstein behauptete, Bismarck habe 1875 wegen der aus dem russischen Imperialismus und Panslawismus resultierenden Probleme für das Reich „unermüdlich nach einem Bündnis mit England gestrebt“.169 Da sich das Dreikaiserbündnis im Kontext der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ als brüchig erwiesen hatte, versuchte Bismarck „Anschluß an England zu gewin161 Odo Russell an Derby, Berlin, 2. Januar 1876, in: Harris: Bismarcks Advance to England 1876 (wie Anm. 160), S. 443 ff. 162 Schmidt, Rainer F.: Die gescheiterte Allianz. Österreich-Ungarn, England und das Deutsch Reich in der Ära Andrássy (1867 bis 1878/79), Frankfurt am Main 1992, S. 198; Bülow an Münster, Berlin, 4. Januar 1876, in: GP, Bd. II, Nr. 227, S. 29 ff. Nach diesem Plan sollte Österreich-Ungarn Bosnien und Russland Bessarabien erhalten, während sich Großbritannien Ägypten sicherte. 163 Bülow an Münster, Berlin, 4. Januar 1876, in: GP, Bd. II, Nr. 227, S. 30. 164 Derby an Odo Russell, 16. Februar 1876, in: Bourne, Kenneth (Hrsg.): The foreign policy of Viktorian England 1830–1902, Oxford 1870, Nr. 99, S. 405. 165 Langer: European alliances and alignments (wie Anm. 55), S. 80. 166 Beaconsfield an Queen Viktoria, Berlin, 17. Juni 1878, in: Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 1194; zitiert nach: Frahm, Friedrich: England und Rußland in Bismarcks Bündnispolitik, in: Archiv für Politik und Geschichte, 8, Heft 4, 1927, S. 365–431, hier S. 382. 167 Langer: European alliances and alignments (wie Anm. 55), S. 80. 168 Eckardstein, Hermann von: Lebenserinnerungen und politische Denkwürdigkeiten, Bände I u. II, Leipzig 1919. 169 Ebd. Bd. I, S. 293 f.

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nen und sandte daher im Dezember 1875 seinen intimsten Mitarbeiter Lothar Bucher in streng geheimer Mission nach London, um dort zu sondieren, ob England bereit sei, zur Erhaltung des Weltfriedens ein Defensivbündnis mit Deutschland zu schließen.“ 170 Bucher sollte die Londoner Regierung „über die für Deutschland in Zukunft notwendige koloniale und wirtschaftliche Ausdehnung aufklären und [. . .] versuchen, einen Modus der Zusammenarbeit mit England in dieser Richtung zu finden.“ 171 Bis heute stellen für diese ,Mission Bucher‘172 die Memoiren Eckardsteins den einzig greifbaren Beleg dar. Da dieser erst 1891 an die deutsche Botschaft in London versetzt wurde, konnte er über die dortigen Ereignisse aus dem Jahre 1875 nicht aus eigener Erfahrung berichten. Er war auf Aktennotizen beziehungsweise Informationen Dritter angewiesen.173 Eckardstein selbst führte als Informationsquelle für seine Behauptungen einen Brief des ehemaligen deutschen Botschafters in London, Fürst Münster, aus dem Jahre 1889 an. Dort werden der Wunsch Bismarcks nach einem Bündnis mit England und die ,Mission Bucher‘ erwähnt: „Als Lothar Bucher im Auftrage Bismarcks 1875 plötzlich in geheimer Mission in London erschien, um die Möglichkeit eines englischen Bündnisses mit mir zu erörtern, riet ich ihm dringend ab, irgendwelche Schritte in dieser Richtung zu unternehmen, weil ich genau wußte, daß England damals nicht bündnisreif war. Trotzdem erfolgten Schritte, und Lothar Bucher holte sich einen ordentlichen Korb. Das hielt aber Bismarck nicht ab, [es] immer von neuem zu versuchen.“ 174

Diese Äußerungen Münsters, in denen von der angeblich diskutierten Kolonialfrage keine Rede war, stellten den einzigen Nachweis für Eckhardsteins Behauptungen dar. Während Münster kein genaues Datum für die ,Mission Bucher‘ nannte, datierte Eckardstein diese auf Anfang Dezember 1875. Daher liegt die Vermutung nahe, dass er über weitere, ungenannte Quellen verfügte.175 Doch bis heute sind derartige Quellen nicht bekannt und es existieren keine neuen Belege für die ,Mission Bucher‘.176 Das Fehlen jeglicher Hinweise zu dieser vermeintlich bedeutenden Mission in den Akten des Auswärtigen Amtes und die ausbleibende Bezugnahme darauf bei den unmittelbar folgenden Bündnisgesprächen Anfang 1876 lassen das Unternehmen fragwürdig erscheinen. So bleibt die ,Mission‘ Lothar Buchers bis heute spekulativ. 170 Eckardstein, Hermann von: Lebenserinnerungen und politische Denkwürdigkeiten, Bd. II, Leipzig 1919, S. 102. 171 Ebd. Bd. I, S. 308. 172 Hierzu: Studt, Christoph: Lothar Bucher (1817–1892). Ein politisches Leben zwischen Revolution und Staatsdienst, Göttingen 1992. 173 Ebd. S. 270. 174 Münster an Eckardstein, 14. April 1889, in: Eckardstein: Lebenserinnerungen (wie Anm. 168), Bd. I, S. 296 f. 175 Studt: Lothar Bucher (wie Anm. 172), S. 272. 176 Ebd. S. 280.

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Ein erster Annäherungsversuch des Deutschen Reiches an Großbritannien nach der ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ ist daher nur für den Januar 1876 nachweisbar. Die Leitung des Auswärtigen Amtes war sich dabei aber bewusst, dass eine deutschbritische Allianz „eine Intimität zwischen den drei Continentalmächten, Österreich, Russland und Frankreich“ 177 erleichtere. Aufgrund dessen erhielt Münster die Weisung, sich im Falle der erfolgreichen Annäherung Großbritanniens an das Reich für eine „Verständigung zwischen Deutschland, England und Russland“ 178 auszusprechen. Allerdings kam es auch in diesem Kontext zu keinem deutschbritischen Arrangement jedweder Art. Trotzdem hatten sich mit der Orientkrise die deutsch-britischen Interaktionen verstärkt und sollten weiterhin zunehmen. c) Großbritannien und das Deutsche Reich im weiteren Verlauf der Jahre 1876/77 Ein erster Einigungsversuch der europäischen Großmächte in der Orientalischen Frage in Berlin im Mai 1876 scheiterte, da Großbritannien dieses ,Berliner Memorandum‘ aufgrund der einseitigen Machtsteigerung Russlands auf dem Balkan ablehnte.179 Bismarck forderte daraufhin von England künftig die „offene Darlegung seiner Wünsche und Absichten.“180 Zudem ließ er kontinuierlich deutsche Freundschaftsbeteuerungen durch den Botschafter Russell und die Kronprinzessin Viktoria (1840–1901) nach London übermitteln. Dennoch vermied er eine zu einseitige Stellungnahme in der Orientfrage.181 Nach Auffassung Bismarcks war die Frage, „ob wir über die orientalischen Wirren mit England, mehr noch mit Österreich, am meisten aber mit Russland in dauernde Verstimmung geraten, [. . .] für Deutschlands Zukunft unendlich viel wichtiger, als alle Verhältnisse der Türkei zu ihren Untertanen und zu den europäischen Mächten.“ 182 Der Kanzler war somit nicht gewillt, die Beziehungen zu England, Österreich-Ungarn und Russland zu gefährden, wenn er nicht „durch eigene deutsche Interessen oder sonst unausweichlich dazu gezwungen“ 183 war.

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Bülow an Münster, Berlin, 29. Januar 1876, in: NFA, Bd. II, Nr. 328, S. 477. Ebd. 179 Mommsen: Großmachtstellung und Weltpolitik (wie Anm. 48), S. 27; Langer: European alliances and alignments (wie Anm. 55), S. 82 f.; Medlicott, William N.: Bismarck, Gladstone and the concert of Europe, London 1956, S. 27; genaueren Aufschluss über die Hintergründe der britischen Ablehnung gibt: Schmidt: Die gescheiterte Allianz (wie Anm. 162), S. 218 f. 180 Bülow an Münster, Berlin, 26. Mai 1876, in: NFA, Bd. II, Nr. 365, S. 533. 181 Medlicott, William N.: Bismarck and Beaconsfield, in: Sarkissian, Arshag Ohan (Hrsg.): Studies in diplomatic history and historiography, London 1961, S. 225–250, hier S. 235. 182 Diktat Bismarcks, Varzin, 14. Oktober 1876, in: GP, Bd. II, Nr. 246, S. 64. 183 Ebd. S. 65. 178

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Daher wies Bismarck die britischen184 und russischen Versuche, die deutsche Orientpolitik zu den jeweils eigenen Gunsten zu beeinflussen, weiterhin konsequent zurück.185 Seiner Ansicht nach, sollten England und Österreich-Ungarn „ihre eigenen Kastanien auch selbst aus dem Feuer [zu] holen.“ 186 Bei einer Eskalation des Konfliktes verschärfte sich für den Kanzler allerdings die Gefahr, zu einer einseitigen Stellungnahme aufgefordert zu werden. Daher strebte er zumindest eine momentane Beilegung der Orientalischen Krise an. Dabei hoffte er auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit London.187 Auch nachdem ein erneuter Einigungsversuch der Großmächte auf der Konferenz von Konstantinopel an der Jahreswende 1876/77 gescheitert war, bemühte sich Bismarck weiterhin um ein Einvernehmen mit der Londoner Regierung. Anfang 1877 erfolgten daher erneute deutsch-britische Sondierungsgespräche,188 die in den Akten des Auswärtigen Amtes nicht verzeichnet sind. In den Nachlässen Lord Derbys und Lord Salisburys finden sich jedoch dementsprechende Hinweise.189 So schrieb der britische Indienminister und spätere Außenminister Robert Salisbury (1830–1903) an seine Ehefrau, Bismarck habe neue Vorschläge für ein Offensiv- und Defensivbündnis übermittelt, die zu seiner Zufriedenheit nicht angenommen wurden.190 Auch 1877 standen weite Teile der britischen Regierungskreise einer verbindlichen deutsch-britischen Allianz immer noch abgeneigt gegenüber. Ein wesentlicher Grund für diese Reserviertheit war das bei Derby, der Queen und dem Premierminister Lord Beaconsfield191 weiterhin vorhandene Misstrauen gegenüber der Person Bismarcks.192 Dabei kam den Versuchen des Kanzlers, für eine

184 Disraeli schlug im Zuge dessen der Queen, Derby und Salisbury vor, mit dem Deutschen Reich ein Abkommen basierend auf der gemeinsamen Sicherung des Status quo zu schließen. Auf diese Weise sollte für Deutschland der Besitz Elsass-Lothringens gesichert und die britischen Sorgen bezüglich Konstantinopels behoben werden: Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 953. Dieses Projekt war jedoch an dem Einspruch Derbys und Salisburys gescheitert, hierzu: Schmidt: Die gescheiterte Allianz (wie Anm. 162), S. 261. 185 Bülow an Schweinitz, Berlin, 26. November 1876, GP, Bd. II, Nr. 262, S. 104. 186 Diktat Bismarcks, Varzin, 9. November 1876, GP, Bd. II, Nr. 256, S. 90. 187 Taube: Fürst Bismarck zwischen England und Russland (wie Anm. 59), S. 23. 188 Kennedy: The rise of the anglo-german antagonism (wie Anm. 36), S. 31 f.; auch von Taube berichtete von diesen Bündnissondierungen: Taube: Bismarck zwischen England und Russland (wie Anm. 59), S. 24; von Taube bezieht sich dabei auf Goriainow, Serge: Le Bosphore et les Dardanelles. Étude Historique sur la question des détroits, Paris 1910, S. 339. 189 Kennedy: The rise of the anglo-german antagonism (wie Anm. 36), S. 32 f. 190 Lord Salisbury an Lady Salisbury, 11. Februar 1877, in: Cecil: Life of Robert, Marquis of Salisbury (wie Anm. 17), Bd. II, S. 127. 191 Benjamin Disraeli wurde 1876 von der Queen in den Adelstand erhoben und erhielt den Titel Earl of Beaconsfield: Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 828 ff.

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etwaige kriegerische Auseinandersetzung mit Frankreich die Unterstützung Russlands und Großbritanniens zu gewinnen, eine entscheidende Bedeutung zu. Im Frühjahr 1877 ließ Bismarck bei Beaconsfield anfragen, wie Großbritannien sich bei einem erneuten deutsch-französischen Krieg verhalten würde.193 London reagierte darauf mit Misstrauen und Ablehnung.194 Nach Canis hegte Beaconsfield den Verdacht, dass Bismarck beabsichtige, England mit Russland in einen Krieg zu verwickeln, um dann Frankreich leichter angreifen zu können.195 Das Auswärtige Amt versuchte derartige Befürchtungen zu zerstreuen.196 London und Berlin suchten demnach aufgrund der Sorge um ein zu ausgeprägtes Einvernehmen Russlands mit der Donaumonarchie oder Frankreich, bisweilen die gegenseitige Unterstützung. Doch wollte weder Beaconsfield noch Bismarck dabei zum ,Werkzeug‘ des jeweils anderen werden.197 Generell standen seit dem Ausbruch des russisch-osmanischen Krieges im April 1877 die weiteren Bemühungen Bismarcks in der Orientfrage in dem Zeichen, ein Eingreifen Österreich-Ungarns und Englands in den Krieg und damit eine Eskalation des Konfliktes zu verhindern.198 Im so genannten ,Kissinger Diktat‘ vom Juni 1877 umriss Bismarck vor diesem Hintergrund seine außenpolitischen Ziele. Der Fürst strebte keine territorialen Gewinne an, sondern eine „politische Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander abgehalten werden“.199 Sein Fokus lag dabei auf dem Vereinigten Königreich und Russland, deren Interessen er an die Peripherie Europas lenken wollte, um eine mögliche Gefahr für Deutschland zu relativieren. Er strebte daher einen Kompromiss zwischen den beiden Flügelmächten Europas auf der Grundlage von Kompensationen an: Großbritannien sollte Ägypten kontrollieren und Russland das 192 Derby an Queen Viktoria, 10. Februar 1876, in: Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), Bd. VI, S. 892 f.; Queen Viktoria an Beaconsfield, Glassalt Shiel, Loch Muich, 6. November 1876, in: Buckle: Queen Viktoria (wie Anm. 17), S. 495 f.; Medlicott, Bismarck and Beaconsfield (wie Anm. 181), S. 240; Sontag, Raymond J.: Germany and England. Background of conflict 1848–1894, New York 1969, S. 151. 193 Taffs: Ambassador to Bismarck (wie Anm. 17), S. 177 f. Inwiefern die Anfragen des Kanzlers bezüglich der britischen Unterstützung gegen Frankreich letztlich konkreten Absichten entsprachen, muss offen bleiben. Im Januar 1877 hatte er die Franzosen noch beruhigt, dass das Deutsche Reich vorläufig keinen Angriff gegen ihr Land beabsichtige. Hierzu: Tischgespräch vom 12. Januar 1877, in: Ballhausen, Robert Lucius von: Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart und Berlin 1920, S. 99. 194 Kennedy: The rise of the anglo-german antagonism (wie Anm. 36), S. 32 f.; Schmidt: Die gescheiterte Allianz (wie Anm. 162), S. 296. 195 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 126. 196 Herbert von Bismarck an Bülow, Kissingen, 16. Juni 1877, NFA, Bd. II, Nr. 118, S. 157. 197 Kennedy: The rise of the anglo-german antagonism (wie Anm. 36), S. 33. 198 Ebd. 199 Diktat Bismarcks, Kissingen, 15. Juni 1877, in: GP, Bd. II, Nr. 294, S. 153 f.

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Schwarze Meer. Hinsichtlich der Meerengen beabsichtigte Bismarck einen „Doppelverschluss“,200 bei dem England die Dardanellen und Russland den Bosporus erhalten sollte. Auf diese Weise sah er den Erhalt des Status quo und der latenten russisch-britischen Rivalität als gesichert an.201 In Folge einer britischen Okkupation Ägyptens rechnete der Kanzler auch mit einer Abkühlung der britisch-französischen Beziehungen.202 Damit sollte Großbritannien, gemäß Bismarcks Überlegungen, von einem Zusammengehen mit Russland und Frankreich gleichermaßen abgehalten werden. Zudem setzte der Reichskanzler auf die Aufrechterhaltung der russisch-österreichischen Spannungen, die mit dem steigenden Einfluss des Zarenreichs im Schwarzen Meer zunahmen.203 Bismarck war der Ansicht, auf diese Weise zu allen europäischen Großmächten außer Frankreich ,freundliche‘ Beziehungen pflegen zu können.204 Wie Münster ihm berichtete, waren sich die britischen Staatsmänner der aus deutscher Sicht nahezu identischen Interessenlage des Deutschen Reiches und Großbritanniens kaum bewusst.205 Daher blieb die Haltung der britischen Regierung Berlin gegenüber auch 1877 noch reserviert.206 d) Deutsch-britische Interaktionen im Vorfeld des ,Berliner Kongresses‘ Trotz Bismarcks weitreichenden Plänen war die außenpolitische Situation des Reiches maßgeblich vom weiteren Verlauf des russisch-osmanischen Krieges abhängig. Als im Dezember 1877 der russischen Armee die Überwindung der osmanischen Stellungen gelang, schien eine Einnahme Konstantinopels durch die Truppen des Zaren möglich. Bismarcks Ziel, die Spannungen zwischen den Großmächten an die Peripherie Europas zu verlagern und sie dort in der Schwebe zu halten, geriet in Gefahr. Denn Wien und London befürchteten nun einen für sie nicht akzeptablen Machtzuwachs Russlands. Als im März 1878 der osmanisch-russische Krieg mit dem Diktatfrieden von St. Stefano207 beendet wurde, forderten die Donaumonarchie und das Vereinigte Königreich eine europäische Konferenz zur Revision der Friedensbestimmungen. Während die österreichisch-ungarische Staatsführung ihre Interessen vor allem durch die Auftei200

Diktat Bismarcks, Kissingen, 15. Juni 1877, in: GP, Bd. II, Nr. 294, S. 153 f. Ebd. S. 153. 202 Der Kanzler hatte eine mögliche Entfremdung zwischen Großbritannien und Frankreich schon früher begrüßt, war aber darauf bedacht, eine direkte und offene diesbezügliche Einflussnahme Deutschlands zu vermeiden. Hierzu: Herbert von Bismarck an Bülow, Friedrichsruh, 13. Mai 1877, in: NFA, Bd. III, Nr. 75, S. 103 f. 203 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 126 f. 204 Diktat Bismarcks, Kissingen, 15. Juni 1877, in: GP, Bd. II, Nr. 294, S. 154. 205 Münster an Bismarck, London, 28. Juni 1877, in: GP, Bd. II, Nr. 295, S. 158. 206 Langer: European alliances and alignments (wie Anm. 55), S. 122. 207 Friede von San Stefano 1878, in: Stoecker, Helmuth (Hrsg.): Handbuch der Verträge 1871–1964, Berlin 1968, S. 41 ff. 201

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lung des Sandschaks von Novi Bazar zwischen Montenegro und Serbien tangiert sah,208 war die Londoner Regierung nicht bereit, die Entstehung eines unter russischem Protektorat stehenden, bis zur Ägäis reichenden Großbulgariens hinzunehmen.209 Im Vorfeld des geforderten Kongresses fanden unter deutscher Mitwirkung russisch-britische Verhandlungen statt. Dabei war auch der Ministerwechsel210 im englischen Außenministerium Ende März relevant. Denn der neue Außenminister Lord Salisbury bemühte sich um eine diplomatische Einigung und nahm vertrauliche Gespräche mit dem seit 1874 amtierenden russischen Botschafter in London, Pjotr Andrejewitsch Schuwalow (1827–1889), auf.211 Bismarck hatte dabei wesentlichen Einfluss. So regte er in St. Petersburg und London eine Verständigung über den Rückzug der Truppen hinter eine Sicherheitslinie um Konstantinopel an.212 Dieser Vorschlag wurde zum Ausgangspunkt der weiteren britisch-russischen Verhandlungen, bei der Bismarck die Rolle „eines freundlichen Beirates“ 213 übernahm. Vor dem Hintergrund der deutschen Vermittlung verständigten sich Salisbury und Schuwalow am 30. Mai 1878 in einem Memorandum über eine Verkleinerung des von Russland angestrebten Großbulgariens und die Beschränkung der territorialen Gewinne des Zarenreiches. Großbritannien sollte hingegen das aus kolonialpolitischen Erwägungen wichtige Zypern erhalten.214 Diese Verständigung der beiden Flügelmächte stellte eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen des folgenden ,Berliner Kongresses‘ dar, da Bismarck die Verschickung der Einladungsschreiben hierzu von der Einigung Großbritanniens und Russlands abhängig gemacht hatte.215 208 Durch die so errichtete „Barriere slawischer Staaten“ auf dem westlichen Balkan erschien ein weiteres Vordringen Österreich-Ungarns über Bosnien und die Herzegowina hinaus unmöglich, hierzu: Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 150. 209 Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 150 f. 210 Der bisherige Außenminister Lord Derby hatte am 28. März seinen Abschied genommen, da er die kriegerischen Maßnahmen seiner Regierung ablehnte. Sein Nachfolger wurde Lord Salisbury: Münster an Bülow, London, 29. März 1878, in: GP, Bd. II, Nr. 375, S. 250. 211 Münster an das Auswärtige Amt, London, 18. April, in: GP, Bd. II, Nr. 398, S. 279; Schmidt: Die gescheiterte Allianz (wie Anm. 162), S. 201. 212 Bismarck an Münster, Berlin, 9. April 1878, in: GP, Bd. II, Nr. 381, S. 262 f. 213 Münster an Bismarck, London, 20. April 1878, in: GP, Bd. II, Nr. 401, S. 289 ff.; Münster an das Auswärtige Amt, London, 29. April 1878, in: GP, Bd. II, Nr. 402, S. 292; Bülow an Herbert von Bismarck, Berlin, 7. Mai 1878, in: ebd. Nr. 404, S. 294 ff. 214 Münster an das Auswärtige Amt, London, 29. Mai 1878, in: GP, Bd. II, Nr. 423, S. 322, Text siehe Münster an Bismarck, Hatfield, 2. Juni 1878, Anlage, in: ebd. Nr. 427, S. 326 ff.; Britisch-russisches Memorandum, 30. Mai 1878, in: Schulthess: Europäischer Geschichtskalender (wie Anm. 74), Bd. 19, S. 312 ff. 215 Bismarck an Münster, Friedrichsruh, 20. Mai 1878, in: NFA, Bd. III, Nr. 409, S. 479.

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4. Die deutsch-britischen Interaktionen während des ,Berliner Kongresses‘ und ihre Auswirkungen Am 13. Juni 1878 kamen die leitenden Staatsmänner der europäischen Großmächte in Berlin zusammen, um in der Orientfrage, unter Bewahrung des europäischen Gleichgewichts, eine Lösung zu finden. Daher sollte es auf dem ,Berliner Kongress‘216 zu einer Überprüfung und Revision des zwischen der ,Hohen Pforte‘ und Russland geschlossenen Friedens von San Stefano kommen. Neben den grundlegenden machtpolitischen Rivalitäten der Großmächte und den aus der politischen und wirtschaftlichen Instabilität resultierenden Auflösungstendenzen des Osmanischen Reiches, war auch der zunehmende Einfluss der einzelnen Nationalbewegungen auf dem Balkan relevant.217 Um vor diesem Hintergrund eine für Europa verträgliche Lösung zu gewährleisten, regelten die Großmächte sowohl territoriale, als auch völkerrechtliche Fragen der betroffenen Gebiete.218 Bismarck, Gortschakow und Beaconsfield stellten die offiziell dominierenden Persönlichkeiten in Berlin dar. Die beiden Letztgenannten überließen die Vermittlung in Streitfragen faktisch aber hauptsächlich ihren Zweitdelegierten Salisbury und Schuwalow. Neben diesen hatte der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Julius Andrássy (1823–1890) einen entscheidenden Anteil an der Verhandlungsarbeit.219 Der deutsche Kanzler hatte, wenn auch nur widerstrebend, den Vorsitz des Kongresses übernommen. Sein Hauptziel war es, sich nach allen Seiten neutral zu präsentieren.220 In Folge der verstärkten deutsch-britischen Kontaktaufnahme bei den Vorverhandlungen hatten sich allerdings besonders die bilateralen Beziehungen zwischen London und Berlin stabilisiert. Lord Salisbury bezeichnete die britischen Beziehungen zu Bismarck im Juni 1878 daher als „particularly good“.221 Unter diesen Voraussetzungen stand das deutsch-britische Verhältnis zu Beginn des Kongresses auf einer stabilen und ausbaufähigen Kommunikationsbasis. Im Verlauf der Beratungen intensivierte sich schließlich aufgrund des virulent bleibenden Gegensatzes zwischen dem Zarenreich und dem Vereinigten Königreich die deutsch-britische Kooperation. Bereits bei der Eröffnungssitzung brachen die Konflikte zwischen den beiden Flügelmächten Europas erneut auf. Der britische Premierminister Beaconsfield 216 Hierzu: Melville, Ralph/Schröder, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der Berliner Kongress von 1878. Die Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1982. 217 Geiss, Imanuel: Der Berliner Kongress 13. Juni–13. Juli 1878, in: Aretin: Bismarcks Außenpolitik und der Berliner Kongress (wie Anm. 44), S. 69–105, hier S. 70. 218 Ebd. S. 73 f. 219 Ebd. S. 89; Langer: European alliances and alignments (wie Anm. 55), S. 150 f. 220 6. Sitzung des Deutschen Reichstages, 19. Februar 1878, in: BPR, Bd. VII, S. 92. 221 Salisbury an Lyons, 5. Juni 1878, in: Newton: Lord Lyons (wie Anm. 115), S. 144.

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monierte die anhaltende Positionierung russischer Streitkräfte im unmittelbaren Umfeld von Konstantinopel. Unter derartigen Voraussetzungen hielt er die Abhaltung des Kongresses für unzumutbar. Die in dieser Angelegenheit von Bismarck angeregten Einzelverhandlungen gestalteten sich äußerst schwierig.222 Als Beaconsfield mit seiner Abreise aus Berlin drohte, geriet der Kongress am 21. Juni ernsthaft in Gefahr.223 Bismarck setzte sich daraufhin für eine Verständigung zwischen Beaconsfield und Gortschakow ein, mit dem Ergebnis, dass die Weiterführung der Konferenz gewährleistet war.224 In den weiteren Verhandlungen gelang es dem Kanzler nicht immer, seine taktische Absicht, sich nach allen Seiten neutral zu präsentieren, umzusetzen. Daher erfuhr besonders das deutsch-russische Verhältnis eine merkliche Abkühlung. Der Reichskanzler war zwar bemüht, eine Demütigung des Zarenreichs zu verhindern, unterstützte allerdings bei den Diskussionen zeitweise die britischen und österreichisch-ungarischen Positionen.225 Hinsichtlich der im Detail immer noch strittigen Grenzziehungen Bulgariens griff Bismarck den britischen Vorschlag zur Beschränkung des bulgarischen Staates auf den Teil der europäischen Türkei nördlich des Balkans sowie den Verbleib der Provinz Rumelien und aller übrigen Gebiete südlich des Balkans „unter der direkten politischen und militärischen Hoheit des Sultans“ 226 auf. Die russischen Zusatzanträge fanden demgegenüber nur eine untergeordnete Beachtung.227 Auch im Hinblick auf die Behandlung Bosniens und der Herzegowina zeigte sich die deutsch-britische Übereinstimmung. Lord Salisbury stellte den Antrag, „der Kongreß möge beschließen, die Provinzen Bosnien und Herzegovina durch Österreich-Ungarn besetzen und verwalten zu lassen.“ 228 Bismarck schloss sich diesem Vorschlag sofort an und empfahl ihn mit Erfolg „lebhaft der Annahme durch die Hohe Versammlung.“ 229 Der von Schuwalow hinsichtlich der konkreten Ausführungen vorgetragene Klärungsbedarf sollte in russisch-österreichischen Einzelverhandlungen beigelegt werden.230 Der Kanzler stimmte demnach in den Hauptfragen des Kongresses mit den britischen Regierungsbevollmächtigten völlig überein. Dementsprechend lässt sich im Verlauf der Verhandlungen ein kooperativer Umgang zwischen Bismarck, Lord Salisbury und Lord Beaconsfield und eine generelle Verbesserung 222 BKPM, Protokoll Nr. 1: Sitzung vom 13. Juni 1878, in: BKPM, Protokoll Nr. 1, S. 178 f. 223 Geiss: Der Berliner Kongress (wie Anm. 217), S. 93; Buckle: Benjamin Disraeli (wie Anm. 17), S. 1195 f. 224 Geiss: Der Berliner Kongress (wie Anm. 217), S. 93. 225 Hildebrand: Das vergangene Reich (wie Anm. 5), S. 53. 226 Sitzung vom 17. Juni 1878, in: BKPM, Protokoll Nr. 2, S. 185 f. 227 Sitzung vom 22. Juni 1878, in: BKPM, Protokoll Nr. 4, S. 200 ff. 228 Sitzung vom 28. Juni 1878, in: BKPM, Protokoll Nr. 8, S. 243. 229 Ebd. S. 242 ff. 230 Ebd. S. 250.

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des deutsch-britischen Verhältnisses verzeichnen. Durch den konsequenten Verzicht auf territoriale Forderungen für das Deutsche Reich gelang es Bismarck, die britischen Bedenken bezüglich seiner außenpolitischen Ziele zu relativieren. Der Fürst erwarb sich im Sommer 1878 sukzessive das Vertrauen besonders der konservativen politischen Kreise Großbritanniens.231 In Bismarcks außenpolitischen Erwägungen und Aktionen fand die britische Option wiederum zunehmend Berücksichtigung. Bismarck hatte Salisbury bereits während der Vorverhandlungen zu dem ,Berliner Kongress‘ schätzen gelernt und hielt diesen für einen vernünftigen und vorsichtigen Politiker.232 Salisbury wiederum hoffte auf einen für ihn wünschenswerten Einfluss Bismarcks auf Lord Beaconsfield und dessen Einschätzung der Orientfrage. Beaconsfield selbst hatte im Vorfeld des Kongresses gegenüber Münster seinen Wunsch betont, den Kanzler „kennen zu lernen und [. . .] die orientalische Frage grundsätzlich zu besprechen“.233 Obwohl dem deutschen Reichskanzler der englische Premierminister zuvor als „eitel und altersschwach“ 234 und ein ernstes Gespräch mit ihm als „schwierig“ 235 beschrieben worden war, stabilisierte sich im Verlauf des Kongresses das Verhältnis zwischen Bismarck und Beaconsfield. So kam es in Berlin bei mehreren inoffiziellen Gesprächen zu einem intensiven Gedankenaustausch der beiden Staatsmänner.236 Nach dem Kongress äußerte sich der Kanzler dementsprechend wohlwollend über den Premierminister.237 Durch die verstärkte Zusammenarbeit mit den britischen Diplomaten veränderte sich die Basis der deutsch-britischen Beziehungen. Dabei war auch das abgekühlte deutsch-russische Verhältnis von Bedeutung. Das Zarenreich hatte auf dem Berliner Kongress an Prestige und Machtzuwachs eingebüßt und beschuldigte in Folge dessen Bismarck, die gewünschten Ergebnisse verhindert zu haben. Vor diesem Hintergrund orientierte sich der Kanzler verstärkt an Wien und London.238 Auch wenn es im Umfeld des Kongresses nicht zu einem konkreten deutsch-britischen Vertragsabschluss kam, so schien eine Neuausrichtung der Politik Bismarcks in Bezug auf Großbritannien zeitweilig möglich zu sein. Denn aufgrund des gesteigerten britischen Interesses an den kontinentalen Entwicklungen und des abnehmenden Misstrauens gegenüber Bismarck in weiten Teilen der englischen Regierungskreise, hatte auch die britische Bereitschaft, mit dem Deutschen Kaiserreich zu kooperieren, zugenommen. Durch die Interaktionen der Ge231

Hillgruber: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 152 f. Bülow an Münster, Berlin, 27. November 1876, in: GP, Bd. II, Nr. 263, S. 106. 233 Münster an Bismarck, London, 10. Juni 1878, in: GP, Bd. II, Nr. 431, S. 334 f. 234 Ebd. S. 335. 235 Ebd. 236 Medlicott: Bismarck and Beaconsfield (wie Anm. 181), S. 245. 237 Gespräche mit Marquis von Lorne, Kissingen, 9. August 1878, in: GW, Bd. VIII, Nr. 210, S. 264. 238 Canis: Bismarcks Außenpolitik (wie Anm. 5), S. 138 f. 232

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sandten Berlins und Londons im Kontext des ,Berliner Kongresses‘ erfuhr das deutsch-britische Verhältnis neue Impulse und als Konsequenz nahm der Handlungsspielraum der deutschen Außenpolitik zeitweilig zu. IV. Fazit Es bestätigt sich bei dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand erneut, dass Bismarck als Realpolitiker seine außenpolitischen Entscheidungen aus den Erfordernissen der jeweiligen Lage heraus ableitete. Die Politik gegenüber Großbritannien stellte dabei keine Ausnahme dar.239 Bismarcks Einschätzung der deutschbritischen Beziehungen wechselte maßgeblich mit den Bedürfnissen des eigenen Landes und dem politischen Kurs der jeweiligen britischen Regierung. Dennoch handelte es sich in den 1870er-Jahren nicht nur um vereinzelte, sich aus den tagespolitischen Ereignissen ergebende deutsch-britische Interaktionen, sondern um bisher weitgehend unterschätzte kontinuierliche Kooperationsbemühungen des deutschen Kanzlers. Dabei lässt sich von der Reichsgründung bis zum ,Berliner Kongress‘ eine sukzessive Intensivierung der deutsch-britischen Beziehungen verzeichnen. Es bestand in London und Berlin bisweilen der Wunsch nach wechselseitiger Hilfestellung im Krisenfall. Bismarcks Haltung gegenüber Großbritannien wurde dabei wesentlich durch das Verhältnis des Deutschen Reiches zu Frankreich und Russland beeinflusst.240 Aufgrund der Gefahr eines Mehrfrontenkrieges war der Reichskanzler in der ersten Hälfte der 1870er nicht bereit, die russische ,Freundschaft‘ für eine unsichere deutsch-britische Verbindung zu riskieren.241 Obwohl er diese Einstellung beibehielt, erwog der Kanzler die britische Option bei einer Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses jedes Mal erneut als eine mögliche Alternative zu dem brüchigen Dreikaiserbündnis. Das hieraus letztlich kein vertragliches Arrangement entstand, lag in der Ambivalenz der deutsch-britischen Beziehungen begründet: Jede Seite fürchtete stets, in die Abhängigkeit der jeweils anderen zu gelangen, beziehungsweise von dieser für die Eigeninteressen instrumentalisiert zu werden. Dennoch stellte die für die für die 1870erJahre maßgebliche „Abwesenheit jedweder Rivalität“ 242 zwischen London und Berlin einen entscheidenden Faktor der bilateralen Beziehungen dar, welche Bismarck häufig zu festigen suchte. 239 Richtig erläutert von Baum: Bismarcks Urteil über England und die Engländer (wie Anm. 65), S. 44. 240 Rothfels: Bismarcks englische Bündnispolitik (wie Anm. 71), S. 27, 34 f.; Frahm, Friedrich: England und Rußland in Bismarcks Bündnispolitik, in: APG, 8, Heft 4, 1927, S. 365–431, hier S. 372 f. 241 Rothfels: Bismarcks englische Bündnispolitik (wie Anm. 71), S. 12; Hagen, Maximilian von: Bismarck und England, Stuttgart 1941, S. 15. 242 Rothfels: Bismarcks englische Bündnispolitik (wie Anm. 71), S. 125.

Brasilien und der Völkerbund Thomas Fischer I. Einleitung und Problemstellung Der Völkerbund wurde von seinen Befürwortern oft als Gebilde angepriesen, mit dem die zuvor von den europäischen Staaten praktizierte Machtpolitik – mit destruktiven Ergebnissen – überwunden werden sollte. Theoretisch sollten laut der Völkerbundsatzung alle sich vollständig selbst regierenden Staaten, Dominions und Kolonien („fully self-governing State, Dominion or Colony“) in der internationalen Organisation vertreten sein. Es galt das Prinzip der Respektierung der Souveränität der anderen Staaten. Am deutlichsten schlug sich die formale Gleichheit aller Mitglieder in der Versammlung nieder, in der, unabhängig von der „Größe“, das Prinzip one state, one vote galt. Im Rat jedoch überwogen realistische Kriterien: Dieses Gremium setzte sich laut Artikel 4 der Satzung aus ständigen und nichtständigen Mitgliedern zusammen. Das Privileg der Permanenz fiel den „hauptsächlichen Alliierten und assoziierten Mächten“ Großbritannien, Frankreich, Italien (bis 1937) und Japan (bis 1933) zu.1 Als Siegermächte im Ersten Weltkrieg meinten sie, für diesen Status ausreichend legitimiert zu sein. Die weiteren Völkerbundstaaten wurden in der Satzung als „andere Mitglieder“ bezeichnet. Auch sie konnten Ratsmitglieder werden, allerdings nur in einer beschränkten Anzahl und für einen befristeten Zeitraum. Sie wurden durch Wahl über die Versammlung legitimiert. Die „anderen“ Staaten mussten sich somit in Bezug auf die Ratsmitgliedschaft einem Konkurrenzkampf aussetzen. Durch die Prosa der Völkerbundsatzung wurde damit eine Abstufung zwischen „hauptsächlichen“ und „anderen“ Mächten festgeschrieben. Diese Einteilung löste bei vielen „anderen“ Mitgliedern, welche die sich selbst gegebene Deutungshoheit der „hauptsächlichen“ Staaten in Frage stellten, eine Dynamik zur Statusaufwertung aus.2

1 Der Sitz der USA blieb leer, wurde aber in der Hoffnung auf einen späteren Beitritt nicht annulliert. 2 Allgemein zur Doppelbedeutung von Macht in der Politik – sowohl als Chance, den eigenen Willen gegen Widerstreben durchzusetzen, als auch als symbolische Mystifizierung – die Pionierstudie von Edelman, Murray: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt am Main u. New York 1976. Die von Edelman über nationale Politikprozesse gemachten Aussagen lassen sich mühelos auf die Mechanismen der internationalen Politik übertragen.

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Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der brasilianischen Diplomatie im Völkerbund, die in den brasilianischen Außenbeziehungen einen hohen Stellenwert einnahm.3 Der Völkerbund, auf Französisch Société des Nations, auf Englisch League of Nations genannt, der für die weltweite Aufrechterhaltung nationaler Souveränität, also politischer Unabhängigkeit und territorialer Integrität aufgrund der in den Pariser Verhandlungen bestimmten Grenzen stand, wird dabei als Arena, als politisches Feld im Bourdieuschen Sinne betrachtet, in dem Vorstellungen über die eigene Nation artikuliert werden konnten. Brasilien gehörte zu den „anderen“ Mächten im Völkerbund. Da Brasilien in der Schlussphase des Ersten Weltkrieges an der Seite der Alliierten mit einem kleinen Truppenkontingent eingegriffen hatte,4 durften Repräsentanten dieses Landes dank der Fürsprache Woodrow Wilsons an der Ausgestaltung der Nachkriegsordnung mitwirken – ohne jedoch von britischen und französischen Repräsentanten wirklich als bedeutende Macht wahrgenommen zu werden. Immerhin fiel Brasilien, unterstützt von anderen lateinamerikanischen Delegierten sowie den USA, ein nichtständiger Sitz im Rat zu.5 Die Verstetigung dieses Sitzes und damit verbunden der Aufstieg von der „anderen“ zur „hauptsächlichen“ Macht erwies sich von Anfang an als zentrales Aufgabenfeld brasilianischer Repräsentanten im Völkerbund. Durch die Sicherung des exklusiven Status der Permanenz im Rat sollte ein sichtbares Distinktionsmerkmal zu den südamerikanischen Nachbarn verankert werden. Mit einer solchermaßen reformierten Völkerbundarchitektur konnte der von den Eliten vertretene Anspruch, die Führungsmacht in Südamerika zu sein, gefestigt werden. Das brasilianische Handeln knüpfte an Vorstellungen an, welche „Größe“ und Zugehörigkeit zu den „zivilisierten Nationen“ als konstitutives Merkmal der brasilianischen Nation herausstellten. Die imaginierte Nation6 erstreckte sich nach der Unabhängigkeit und dem Übergang zum Kaiserreich 1822 im Wesentlichen 3 Siehe hierzu die Berichte der Präsidenten Epitácio Pessoa und Arthur Bernardes an den Kongress. Vgl. ebenfalls die Berichte der Außenminister an den Präsidenten. 4 Die militärische Bedeutung Brasiliens war marginal. Brasilien entsandte ein mobiles Spital sowie einige Kriegsschiffe, die allerdings europäische Gewässer erst erreichten, als der Krieg zu Ende ging. 5 Streeter, Michael: South America and the Treaty of Versailles. The peace conferences of 1919–23 and their aftermath, London 2010, S. 86 u. 101–105. 6 Ich folge hier dem Nationskonzept von Benedict Anderson. Dieser wies in seinem viel zitierten Essay Imagined Communities (der Titel der ins Deutsche übersetzten Ausgabe lautete „Die Erfindung der Nation“) aus dem Jahr 1983 Nationen vier Eigenschaften zu: Erstens betrachtet er Nationen als etwas Vorgestelltes, weil die Anzahl der beteiligten Mitglieder weit größer ist als etwa in dörflichen Gemeinschaften, wo sich jeder kennt. Jedes Individuum der Gemeinschaft fühlt sich mit dieser verbunden, sie existiert in den Köpfen der Beteiligten. Zweitens ist sie begrenzt; jenseits der nationalen Grenzen konstituieren sich andere Nationen als die eigene. Drittens ist sie souverän; die nationale Souveränität ist der Schlüssel für die Freiheit. Schließlich – viertens – konstituiert sie sich als Gemeinschaft von Personen, deren verbindendes Kriterium allerdings nicht die Klasse oder die Ethnie ist. Kurzum, eine Nation ist „eine vorgestellte politi-

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auf die durch das portugiesische Kolonialreich vorgegebenen Grenzen. Brasilianische Eliten nahmen diesen Raum als „Insel“ wahr, die dazu bestimmt war, das paradiesische Reich auf Erden zu werden. Sie vermaßen und steckten das Reich ab und setzten durch Förderung der (europäischen) Einwanderung und Binnenkolonisation die territoriale Durchdringung in Gang. Sie verteidigten das monarchische Prinzip und verknüpften es mit dem Leitmotiv der Zivilisation und der Aufweißung (branqueamento). Der Elitendiskurs von kultivierten, auf europäische Metropolen ausgerichteten Staatsmännern, Schriftstellern und Publizisten betonte die stabile Entwicklung im Unterschied zur spanischamerikanischen Umgebung, die als anarchisch wahrgenommen wurde.7 Als sich jedoch in den Nachbarnationen die politische Entwicklung konsolidierte und sich wirtschaftliche Erfolge einstellten, wurde dieses Merkmal der Distinktion obsolet, umso mehr, als Brasilien seinerseits 1889, ein Jahr nach der Sklavenbefreiung, den Übergang zur Republik und damit zu einer im Vergleich mit den Nachbarstaaten ähnlichen Legitimierung des politischen Systems vollzog. In dieser Zeit etablierte sich neben dem Insel-Topos als symbolisches Vermächtnis des Kaiserreiches ein weiteres Narrativ, das die Überwindung des Isolationismus betonte. Elitenangehörige begannen sich in ihren Schriften intensiv mit den Nachbarländern zu beschäftigen und eine kulturelle Zugehörigkeit zu konstruieren, Zeitungen und Zeitschriften berichteten über Sehenswürdigkeiten, andere Völker und touristische Attraktionen.8 Auf politischer Ebene spielten dabei die Jahre seit der Jahrhundertwende, die international durch Vertreter des aufgeklärten Establishments wie Barão do Rio Branco, Rui Barbosa, Oliveira Lima und Joaquim Nabuco bestimmt waren, eine zentrale Rolle. Die brasilianischen Führungsgruppen suchten eine freundschaftliche Annäherung an die USA, wobei hier vor allem der langjährige Botschafter in Washington, Joaquim Nabuco, als Wegbereiter wirkte. Nach ihrer Vorstellung war Brasilien dazu bestimmt, in Südamerika eine ähnliche Führungsrolle zu übernehmen wie die USA im Norden. Die Monroe-Doktrin in ihrer ursprünglichen Auslegung war für sie ein Instrument zur Festigung nationaler Souveränität (gegen europäische Begehrlichkeiten). Hinsichtlich des Umgangs mit den Nachsche Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreiches Konzeptes, Berlin 1988, S. 14 f. 7 Zur Persistenz der Brasilienidee seit der Kolonialzeit Wink, Georg: Die Idee von Brasilien. Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der Erzählung Brasiliens als vorgestellte Gemeinschaft im Kontrast zu Hispanoamerika (Hispano-Americana, 38), Frankfurt am Main 2009, S. 163 ff. Zur Leitidee des Zivilisationskonzeptes der brasilianischen Eliten nach der Erlangung der Unabhängigkeit, Haußer Christian: Auf dem Weg der Zivilisation. Geschichte und Konzepte gesellschaftlicher Entwicklung in Brasilien (1808–1871) (Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte, 96), Stuttgart 2009. 8 Komplementär dazu bemühte man sich um eine angemessene Wahrnehmung des riesigen brasilianischen Raumes durch Darstellung von kultureller Vielfalt aus lokalen und ethnischen Perspektiven. Sadlier, Darlene J.: Brazil Imagined. 1500 to the Present, Austin 2008, S. 133–172.

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barländern befürwortete Brasiliens Außenminister von 1902–1912, Barrão do Rio Branco, einen diplomatischen Stil, der die Respektierung des internationalen Rechtes in den Vordergrund rückte. Er wurde dank seiner Erfolge, insbesondere bei der gewaltlosen, für Brasilien äußerst vorteilhaften Regelung von Grenzstreitigkeiten mit Argentinien (Misiones, 1895), Frankreich (Guyana, 1900) und Bolivien (Acre, 1905) zum gefeierten Nationalhelden. Sein Leitmotiv Paz e Concórdia zur Regelung von Problemen mit anderen Staaten wurde zum geflügelten Wort, ja zur Doktrin einer ganzen Generation von Diplomaten und Politikern. Diese, mit dem Konzept der soft power vergleichbare außenpolitische Leitlinie passte genau auf das Profil der ambitionierten Macht. Sie stand im Gegensatz zum imperialistischen Diskurs und den militärischen Praktiken starker Nationen. Die Form, mit der Rio Branco seine Ziele verfolgte und die Erfolge, die er dabei erzielte, ließen ihn zu einem nationalen Symbol für Brasiliens Selbstbild im internationalen Kontext werden.9 Paz e Concórdia blieb der außenpolitische Grundsatz weit über die Amtszeit des Barons hinaus. Im Oktober 1917 trat Brasilien auf Betreiben der Liga pelos Aliados unter Rui Barbosa ein. Diesen Schritt begründeten brasilianische Entscheidungsträger ähnlich wie diejenigen der USA als notwendige Maßnahme zur Wiederherstellung von „Zivilisation“ in der Weltordnung.10 Als daher die Nachkriegsordnung mit dem Völkerbund als Kernstück für die zukünftige globale Politik ausgearbeitet wurde, konnte sich der brasilianische Paz e Concórdia-Diskurs bruchlos in diesen neuen Ansatz einfügen. In den nachfolgenden Ausführungen argumentiere ich, dass brasilianische Repräsentanten im Völkerbund zunächst unter Präsident Epitácio Pessoa (1919– 1922) die Aushandlung des Ortes Brasiliens im globalen Kontext, die Adelung als „hauptsächliche“ Macht und die Abgrenzung gegen „Andere“ mit dem Instrumentarium von Rio Branco verfolgten. Unter dem Präsidenten Artur Bernardes (1922–1926), so lautet meine Argumentation, kam es jedoch zu einem Bruch hinsichtlich des diplomatischen Stils. Auf dem Höhepunkt des Ringens um Permanenz im Völkerbund kam es 1926 zu einer Begegnung mit Deutschland, das an seinen Eintritt in die Weltorganisation die alleinige Aufnahme als festes Ratsmitglied verband. Mit ihm kam es ebenso wie mit spanischamerikanischen Staaten die sich und den lateinamerikanischen Kontinent durch Brasilien nicht vertreten sahen, zur offenen Konfrontation. Brasilien scheiterte und zog sich aus der Weltorganisation zurück, was wiederum Auswirkungen auf das nationale Selbstverständnis hatte. Meine Studie schließt an Untersuchungen von Stanley E. Hil9 Preuss, Ori: Bridging the Island. Brazilian’s Views of Spanish America and Themselves, 1865–1912, Frankfurt am Main u. Madrid 2011, S. 159 ff. 10 Eine ausführliche Schilderung der Entscheidungsfindung aus der Sicht der Deputiertenkammer und des Senates sowie der beiden außenpolitischen Parlamentskommissionen gibt Prazeres, Otto: O Brasil na Guerra (Algumas notas para a história), Rio de Janeiro 1918, v. a. S. 30–59. Die Einflussnahme der USA beschreibt Smith, Joseph: Unequal Giants. Diplomatic Relations between the United States and Brazil, 1889–1930, Pittsburgh 1991, S. 111–126.

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ton, Eugênio Vargas Garcia und Norma Breda dos Santos an.11 Ich setze allerdings den Akzent anders als diese Autoren, da ich das Handeln brasilianischer Diplomaten stärker als diese vor dem Hintergrund nationaler Vorstellungen interpretiere. Meine Untersuchung analysiert nicht nur die Verhandlungen innerhalb der einzelnen Völkerbundgremien, sondern auch die Debatten und Diskurse sowie die veröffentlichten Bilder in Presse, Literatur und Wissenschaft. Als Referenzpunkt für die Aushandlung des Ortes Brasiliens im Völkerbund spielen neben den beiden Völkerbund-Führungsmächten Frankreich und Großbritannien auch Deutschland und Spanien eine wichtige Rolle. Mit Deutschland und Spanien, später auch mit Polen und China stand Brasilien in unmittelbarer Konkurrenz. Das spezielle Augenmerk gilt jedoch der Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten, deren Wille zur agency die brasilianischen Repräsentanten unterschätzten. Sie stellten den brasilianischen Führungsanspruch innerhalb der lateinamerikanischen Gemeinschaft unter Bezugnahme auf das Ausschlusskriterium der hispanidad mit zunehmender Dauer immer mehr in Frage. II. Der Ort Brasiliens (und Lateinamerikas) im Völkerbund Über wenige Fragen wurde an der ersten Vollversammlung so intensiv und kontrovers diskutiert wie über die Ausgestaltung des Rates. Im Spezialausschuss der Ersten Kommission, die sich mit der allgemeinen Organisation und Problemen der Verfasstheit des Völkerbundes beschäftigte, ging es nicht zuletzt um die angemessene Repräsentation der nichteuropäischen Regionen. Eine insbesondere von außereuropäischen Delegierten befürwortete Resolution versuchte diesem Kriterium Rechnung zu tragen. Sie sah drei nichtständige Sitze für Europa und den amerikanischen Doppelkontinent sowie einen für Asien und den Rest der Welt vor. Gegen diese Vorschläge war aus demokratietheoretischen Erwägungen wenig einzuwenden. Französische und britische Delegierte ließen gleichwohl kein gutes Haar daran, weil sie befürchteten, die Kontrolle über die Zusammensetzung des Rates zu verlieren. Trotzdem empfahl die Erste Kommission der Vollversammlung den Antrag zur Annahme. Die Bewerber sollten für ein Jahr bestimmt werden. Die Mitglieder der Vollversammlung wählten daraufhin am 15. Dezember 1920 nacheinander Spanien und Brasilien. Der lusoamerikanische Staat erhielt 22 von 39 möglichen Stimmen.12 Beide Länder profitierten dabei von der Unterstützung der hispanoamerikanischen Delegierten. Bereits während 11 Hilton, Stanley E.: Brazil and the Post-Versailles World: Elite Images and Foreign Policy Strategy, 1919–1929, in: Journal of Latin American Studies, 12, Heft 2, 1980, S. 341–364; Garcia, Eugênio Vargas: O Brasil e a Liga das Nações (1919–1926). Porto Alegre u. Brasília 2000; Santos, Norma Breda dos: Diplomacia e fiasco. Repensando a participação brasileira na liga das nações, in: Revista Brasileira da Política Internacional, 46, Heft 2, 2003, S. 87–112. 12 Actes de la première Assemblée, Société des Nations, Séances plénières, Genève 1920 (APA SP), S. 559–561.

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der Friedenskonferenzen hatte sich die brasilianische Delegation erfolgreich um die Gunst weiterer lateinamerikanischer Repräsentanten sowie Vertreter kleinerer Länder bemüht und sich ihnen als Sprachrohr angedient.13 Das zahlte sich nun aus. Spanien genoss gewisse Sympathien bei den ehemaligen Kolonien in Hispanoamerika, zumal es im Weltkrieg ebenso wie viele südamerikanische Staaten neutral geblieben war. Außerdem hatte das iberische Land seit den gemeinsam begangenen Veranstaltungen anlässlich des 400-jährigen Gedenkfeiertages der Entdeckung und Eroberung Amerikas im Jahr 1892 aus der Sicht mancher Eliten als Referenzpunkt für die nationale Imagination wieder an Bedeutung gewonnen.14 Aber innenpolitisch war Spanien wenig gefestigt und konnte daher seine Ambitionen nicht aus einer Position der Stärke vertreten. Belgien, das von Frankreich und seinen Partnern unterstützt wurde, rutschte als dritter Kandidat knapp in den Rat. China, das Griechenland verdrängte, eroberte in einem weiteren Wahlgang das vierte nichtständige Ratsmandat – gegen europäischen Widerstand.15 Ausschlaggebend dafür war die lateinamerikanische Solidarität mit dem asiatischen Kontinent. Delegierte aus der „Neuen Welt“ machten damit verbal und mit ihren Stimmen ebenso wie bereits anlässlich der Friedenskonferenzen deutlich, dass sie gewillt waren, das geographische Kriterium mit Nachdruck zu vertreten.16 Die Frage des Wahlmodus, der Anzahl nichtständiger Sitze, der Dauer der Mandate und der Rotation (oder Wiederwählbarkeit) blieb aber weiterhin ungeklärt. Selbst die Anzahl und die Namen der permanenten Mitglieder des Rates waren nicht definitiv entschieden. Erwartungsgemäß prallten die gegensätzlichen Interessen der „hauptsächlichen“ Mächte auf der einen und der „anderen“ Staaten auf der anderen Seite aufeinander. Außerdem divergierten die Auffassungen europäischer und außereuropäischer Regionen. Aber auch in Lateinamerika gingen die Ansichten auseinander. Brasilianische Regierungen vertraten früh eine Haltung, die auf die Umwandlung der nichtständigen Vertretung im Rat in einen festen, für das lusoamerikanische Land bestimmten Sitz hinauslief. Sie beriefen sich dabei wie bereits bei der Ausarbeitung der Satzung auf die dominante nationale Erzählung, in der die nationale „Größe“ und die Zugehörigkeit zu den „zivilisierten Nationen“ eine wichtige Rolle spielte. Die restlichen Staaten der 13

Streeter: South America (wie Anm. 5), S. 132. Sánchez Mantero, R./Alvarez Rey, Leandro/Macarro Vera, José Manuel: La imagen de España en América, 1898–1931, Sevilla 1994. 15 APA SP, S. 559–561; Vivas Gallardo, Freddy: Venezuela en la sociedad de las naciones: 1920–1939. Descripción y análisis de una actuación diplomática, Caracas 1981, S. 127. China hatte dank lateinamerikanischer Unterstützung bereits im dritten Wahlgang viele Stimmen erreicht. 16 L’élection des membres non-permanents, in: Journal de Genève, 16. Dezember 1920, 2ème édition. 14

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Großregion waren dagegen interessiert, möglichst viele nichtpermanente Sitze zu erhalten und diese rotieren zu lassen. Im Juni 1921 trafen sich die Mitglieder der Subkommission für Verfassungszusätze zu einer Session in London, in der unter anderem über Reformvorschläge der nordeuropäischen Staaten Holland, Dänemark, Norwegen und Schweden beraten wurde. Die Erste Kommission diskutierte ihren Bericht auf mehreren Sitzungen.17 Sie empfahl schließlich, nicht nur die nichtständigen, sondern auch die ständigen Ratsmitglieder durch die Vollversammlung wählen zu lassen. Sie erachteten somit die durch den Kriegsausgang erarbeitete Legitimation der „hauptsächlichen“ Mächte nicht für ausreichend und forderten nun auch sie auf, den Weg über die Vollversammlung zu gehen. Mindestens zwei Drittel der Stimmen sollten jeweils für die Wahl in den Rat genügen. Das Mandat der nichtständigen Mitglieder sollte vier Jahre dauern. Die Kommission schlug außerdem die Wahl von je zwei Mitgliedern im Zweijahresrhythmus vor.18 Dieses Projekt war jedoch sowohl bei den Führungsmächten, die sich bei einer Wahl nicht sicher sein konnten, als auch bei fundamentalistischen Kritikern der festen Sitze umstritten. Auch der Chilene Agustín Edwards erregte mit einem Vorschlag Aufsehen, den er zuerst im Pariser Temps veröffentlichte und dann auf der fünften Sitzung der Ersten Kommission präsentierte. Er schlug eine zahlenmäßige Ausweitung der permanenten Sitze vor.19 Zur Begründung führte er an, dass sich die Zusammensetzung des Rates den veränderten Rahmenbedingungen aufgrund der signifikanten Erhöhung der Völkerbundsmitglieder anpassen müsse. Innerhalb eines Jahres seien sechs Staaten zu den 42 Gründungsmitgliedern hinzugestoßen, und eine zusätzliche Erweiterung sei absehbar. Um das in eine Schieflage geratene Zusammenspiel des Rates mit der Assemblée zu gewährleisten, sei daher die bisherige Formel für den Rat obsolet geworden. Der Chilene hatte vor allem Spanien und Brasilien im Blick. Er dachte in regionalen und kulturellen Kategorien. Brasilien bot sich als Vertreter der Großregion Lateinamerika, die er aufgrund der kolonialen Prägung als Kulturraum betrachtete, wegen seiner flächen- und bevölkerungsmäßigen Größe an. Edwards’ Unterstützung für Spanien, dessen Delegationschef, José de Quiñones de León, das iberische Land selbst ins Gespräch gebracht hatte,20 führte er auf historisch-kulturelle Verbindungen Spanischameri17 Actes de la deuxième Assemblée, Société des Nations, Séances des Commissions, Genève 1921 (ADA SC), Bd. I, S. 34–39. 18 Actes de la deuxième Assemblée, Société des Nations, Séances Plénières (ADA SP), S. 903 f. 19 Observations de la délégation du Chili au sujet de la composition du Conseil, in: ADA SC, Bd. I, S. 40 f. 20 Zu den spanischen Bemühungen für eine ständige Verankerung im Rat, dem die italienische und die französische Regierung Sympathien entgegenbrachte: Public Record Office, Foreign Office, London-Kew Garden (PRO FO) 371/2061, Schreiben Villiers’ vom 20. August 1921; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PAAA) R 96890, Botschafter Leopold von Hoesch an Auswärtiges Amt, Paris, 9. März 1926;

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kas zur madre patria zurück, wobei die raza eine wichtige Rolle spielte. Außerdem war mit diesem Vorschlag auch nüchternes Kalkül verbunden. Die Gruppe lateinamerikanischer Staaten war zwar zahlenmäßig stark, aber um im Rat Entscheidungen in ihrem Sinne herbeizuführen, benötigte sie zusätzliche Fürsprecher. Spanien bot sich da als Brücke zu Europa an. Edwards’ Vorschlag war offensichtlich nicht mit allen spanischsprachigen Mitgliedern im Völkerbund abgesprochen. Der uruguayische Außenminister Juan Antonio Buero (1919–1921) äußerte sich etwa dahingehend, dass er einer permanenten spanischen Vertretung im Rat wenig abgewinnen könne, da Spanien keinesfalls Lateinamerika repräsentieren könne.21 Im Hinblick auf Brasilien dachte ein beträchtlicher Teil spanischamerikanischer Repräsentanten ebenso. Brasilien wiederum hätte dieser Argumentation zufolge den Alleinvertretungsanspruch für Spanischamerika eingebüßt. Auch die Ratsmitglieder diskutierten auf drei Sitzungen über Reformszenarien, ohne allerdings zu einer Lösung zu gelangen. Die britische Regierung wollte ständige Sitze für die USA und für Deutschland im Falle eines Beitritts freihalten. Eine zusätzliche Ausweitung der nichtpermanenten Vertretungen lehnte sie ab. Sie glaubte, ihre Interessen mit dem anfänglichen Design des Rates am besten vertreten zu können. Für das spanische Begehren zeigte sie zwar Verständnis; aber sie machte keine Versprechungen. Brasilianische Anfragen beantwortete sie ebenfalls ausweichend.22 Am Quai d’Orsay spielte Außenminister Aristide Briand (1921/22, 1925–1933) – aus pragmatischem Kalkül – mit dem Gedanken, die Sitze Belgiens und Spaniens, die er als verlässliche Partner einstufte, in dauernde Vertretungen umzuwandeln. Doch ihm wurde im eigenen „Haus“ widersprochen. Der französische Delegierte Léon Bourgeois lehnte Briands Ansatz als reine Interessenpolitik ab. Er plädierte vehement für die Erhöhung der nicht permanenten Vertretungen, um die Legitimität der Ratsentscheidungen gegenüber den in der Vollversammlung vertretenen Ländern zu erhöhen. Der Friedensnobelpreisträger konterte Briands Ängste, dass die Machtposition der ständigen Mitglieder durch die quantitative Ausweitung des Rates angetastet werde, mit dem Hinweis, dass jede „Großmacht“ ausreichend Mittel zur Beeinflussung „zweitrangiger Mächte“ besitze. Diesen Gedankengängen konnte und wollte sich Briand nicht verschließen.23 Bourgeois neigte schließlich dazu, SpaBledsoe, G. B.: La Oficina Española en la Sociedad de Naciones, in: Revista de Política Internacional, Nr. 127, 1973, S. 123–131. 21 Archives de la Ligue des Nations, Genève 1588 Doc. 16098 Doss. 14610, Telegramm Nogueira an Drummond, Montevideo, 3. Oktober 1921. 22 PRO FO 371/7059, Schreiben Cecil Hursts vom 11. Juli 1921; ebd., Schreiben Balfours vom 29. Juli 1921; PRO FO 371/7061, Cecil Hurst an Crowe, 1. Oktober 1921. 23 M. Briand, Ministre des Affaires Étrangères, à M. Bourgeois, délégué de la France à la Société des Nations, Paris, 15.9.1921, in: Ministère des Affaires Etrangères (Hrsg.): Documents Diplomatiques Français (DDF) 1921, T. II, Bruxelles u. a. 2004, S. 274 f. Antwort Bourgeois’ vom 21. September 1921 ebenda, S. 275, Fußnote 1.

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nien die Permanenz zuzugestehen und einen zusätzlichen nichtständigen Sitz zu schaffen. Arthur James Balfour, der britische Völkerbundvertreter mit dem meisten Prestige, beharrte dagegen darauf, die Ausweitung des Rates nur in Bezug auf nichtpermanente Mitglieder zu diskutieren.24 Nach zähem Ringen legte die Erste Kommission schließlich der zweiten Vollversammlung einen Vorschlag vor, der – ganz im Sinne Großbritanniens und Frankreichs, aber auch Brasiliens – die wichtigen Entscheidungen auf spätere Vollversammlungen verschob.25 Der Bericht empfahl, die bisherigen nichtständigen Mitglieder für ein weiteres Jahr zu bestätigen. Die von lateinamerikanischen Delegierten angeregte Rotation von Ratsmitgliedern solle ab 1922 wirksam werden, wobei die Dauer ihrer Mandate noch zu bestimmen sei. Hinsichtlich der Zahl der nichtständigen Mitglieder im Rat gingen die Meinungen so stark auseinander, dass keine Empfehlung abgegeben werden konnte. Die besonders brisante Erhöhung der ständigen Sitze wurde gar nicht erst angesprochen. Die Vollversammlung nahm den Kommissionsbericht einstimmig an.26 In der Abstimmung am 5. Oktober über die nichtständigen Ratsmitglieder für das kommende Jahr vereinigte Brasilien 38 von 44 möglichen Stimmen auf sich. Spanien erhielt 37, Belgien und China brachten es auf je 31 Stimmen. Für Rumänien votierten immerhin elf Delegierte. Aber auch Panama mit zwei sowie Chile, Kolumbien, und Venezuela mit je einer Stimme wurden von einigen Delegierten für den Rat empfohlen.27 Dem brasilianischen Botschafter in Paris, Gastão da Cunha, wurde sogar der Ratsvorsitz übertragen.28 Trotzdem wusste man im Itamaraty, dem Außenministerium in Rio de Janeiro, genau, dass man zwar Zeit gewonnen hatte. Aber der brasilianische Führungsanspruch im Rennen um einen festen Ratssitz war umstritten. Genau so sah es auch Ernst Rietmann, der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, der zwar ein „hispanisches Gemeingefühl“ in Genf „in einer Stärke, die dem alten Europa deutlich, zum Bewusstsein brachte, dass die Tage seiner Hegemonie gezählt sind,“ konstatierte, aber auch zu bedenken gab, dass keineswegs feststand, „wem von den drei A-B-C-Mächten dieser Sitz zugesprochen wird“.29

24 M. Bourgeois, délégué de la France à la Société des Nations, à M. Briand, Ministre des Affaires Étrangères, Genève, 28. September 1921, in: DDF 1921, Bd. II, S. 324–326. 25 ADA SC, Bd. I, S. 119–125 u. 126–128; ADA SP, S. 903 f. 26 ADA SP, S. 891–893. 27 Ebd. S. 898. 28 Informação sobre a Liga das Nações. in: Relatório apresentado ao Presidente da República dos Estados Unidos do Brasil pelo Ministro de Estado das Relações Exteriores comprehendindo o período decorrido de 30 de Abril de 1922 a 3 de Maio de 1923, Rio de Janeiro 1924, S. 68 f. 29 Rietmann, Ernst: Die Zweite Völkerbundversammlung, September–Oktober 1921 in Genf, Zürich 1921, S. 132.

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Auch 1922 war somit die Zusammensetzung des Rates ein wichtiger Tagesordnungspunkt aller Völkerbundsinstitutionen. Inzwischen hatte sich die spanische Botschaft in London offiziell mit der Bitte um Unterstützung für ihr Anliegen an die britische Regierung gewandt. Im Foreign Office und im Ministère des Affaires Étrangères befasste man sich jedoch weiterhin vorwiegend mit Szenarien für die Repräsentation Deutschlands im Rat im Falle eines Eintritts in den Völkerbund. Brasilien genoss ebenso wenig wie Spanien Priorität.30 In London fand man den brasilianischen Antrag unpassend, das spanische Begehren wenig fundiert.31 Die Argumentation der selbsternannten „hauptsächlichen“ Mächte lautete unverändert, dass ihnen aufgrund ihrer Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und militärischen Kapazität eine Bevorzugung zustehe. Diesbezüglich könnten weder Spanien noch Brasilien mithalten. Ohnehin wollten sich die Siegermächte und Architekten der Völkerbundsatzung nicht weiter für ihre privilegierte Situation im Rat rechtfertigen. Eifersüchtig verteidigten sie einen Besitzstand, der in der internationalen Nachkriegsordnung als oberstes Symbol von Macht galt. Britische und französische Delegierte signalisierten jedoch – nach wiederholten Aufforderungen durch Bourgeois und Balfour im Rat – bezüglich der Ausweitung der Zahl nichtständiger Mitglieder Kompromissbereitschaft. Die dritte Vollversammlung stimmte einem von der Ersten Kommission befürworteten Vorschlag des Rates, sechs nichtständige Mitglieder in denselben zu wählen, zu. Damit gaben England und Frankreich den Grundsatz der Überzahl im obersten Gremium des Völkerbundes auf. Lediglich der Vertreter der Niederlande votierte gegen diesen Antrag. Er lehnte eine Ratserweiterung grundsätzlich ab, weil dadurch die Versammlung entwertet werde. Als am 30. September gewählt wurde, erreichte Brasilien mit 42 von 45 möglichen Stimmen ein Glanzergebnis. Die Erhöhung der Anzahl nichtständiger Sitze wirkte sich für Lateinamerika insofern aus, als der Großregion mit Uruguay (40 Stimmen) ein weiteres nichtständiges Mandat zufiel. Dieses Wahlergebnis war in erster Linie ein Erfolg der luso-hispanoamerikanischen Zusammenarbeit. Die lateinamerikanischen Delegierten hatten bei einem Treffen unter der Leitung des chilenischen Präsidenten der Assemblée, Edwards, einen Einheitsvorschlag beschlossen. Sie einigten sich darauf, sowohl die brasilianische als auch die uruguayische Kandidatur zu unterstützen. Brasiliens Wahl konnte als Belohnung für die überzeugenden Leistungen seines Völkerbundpersonals gewertet werden.32 Außerdem beging das Land in diesem Jahr die Hundertjahrfeier seiner Unabhängigkeit, zu der die Regierung 30

PRO FO 371/8332, Schreiben vom 18.8.1922. Barros, James: Office Without Power. Secretary-General Sir Eric Drummond 1919–1933, Oxford 1979, S. 148 f. 32 Archivo General de la Nación, Bogotá (AGN) Fondo Ministerio de Relaciones Exteriores, Urrutia an Ministerio de Relaciones Exteriores, Caja 105, Bern, 5. Oktober 1922; Franco, Afonso Arinos de Melo: Um Estadista da República. (Afrânio de Melo Franco e seu tempo). Band III, Rio de Janeiro 1955, S. 1175. 31

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alle „zivilisierten“ Staaten eingeladen hatte. Das in diesem Zusammenhang gefestigte nationale Selbstbewusstsein honorierten nun in Genf die südamerikanischen Nachbarn und auch einige europäische Länder. Allerdings konnten nun die brasilianischen Vertreter im Rat nicht mehr beanspruchen, die Interessen ganz Lateinamerikas zu repräsentieren. So führte die Assemblée von 1922 zugleich auch zu einer Ausdifferenzierung der Repräsentation Lateinamerikas. Durch die Wahl Uruguays, eines zweiten spanischsprachigen Landes, wurde das Konzept der hispanidad im Rat gestärkt.33 Auch Spanien, das seine Ansprüche immer auch unter Bezugnahme auf die hispanidad begründete, wurde mit 40 Stimmen überzeugend bestätigt.34 Die Ideologie der hispanidad betonte unter Bezugnahme auf die kolonialspanische Prägung Gemeinsamkeiten hinsichtlich der (katholischen) Religion, der (spanischen) Sprache, der raza sowie der hierarchischen Sozialstruktur in allen ehemaligen Kolonien Spaniens. Weiße und mestizische Eliten betonten diese Aspekte als kulturelles Fundament lateinamerikanischer Eliten, weil es ihre privilegierte Stellung innerhalb der Gesellschaft bestätigte. Vor diesem Hintergrund intensivierte die brasilianische Diplomatie das Streben nach Aufstieg in die Permanenz. III. Getrennte Wege: Hispanoamerika versus Brasilien In der vierten Vollversammlung lehnten mit Ausnahme Chiles die meisten lateinamerikanischen Delegierten das brasilianische Begehren ab, seinen gefährdeten nichtständigen Sitz in eine permanente Vertretung umzuwandeln. Sie favorisierten nach der Empfehlung der Assemblée von 1922, welche aus einer situation acquise kein Gewohnheitsrecht machen wollte, eine zeitliche Befristung der nichtständigen Sitze auf drei Jahre. Das Rotationsprinzip erhöhte für alle im Völkerbund vertretenen mittel- und südamerikanischen Länder die Chance, über kurz oder lang im Rat vertreten zu sein. In einem Tauziehen mit der Gruppe europäischer Länder versuchten brasilianische und Delegierte aus Hispanoamerika ihre Positionen zu stärken.

33 Uruguayische Regierungen betonten, dass sie der Bezugnahme auf die hispanidad wenig abgewonnen konnten. Sie punkteten aufgrund der Immigrantentradition in diesem Land auch bei europäischen Delegierten. 34 Der spanische Delegationsführer Quiñones de León hatte die lateinamerikanischen Delegierten mit einem Bankett geködert, auf dem die hispanidad als einigendes Band betont wurde. Daneben wurden Belgien mit 36 Stimmen zum dritten, China mit 27 Stimmen zum zweiten und Schweden mit 35 zum ersten Mal gewählt. Rietmann, Ernst: Die Dritte Völkerbundversammlung, September 1922 in Genf, Zürich 1922, S. 144; Mensaje del Presidente de la República, Doctor Don Baltasar Brum, a la honorable Asamblea General Legislativa, al inaugurarse el primer período de la XXVIII Legislatura, in: Boletín del Ministerio de Re-laciones Exteriores, 11, Heft 2, 1923, S. 80; AGN Fondo Ministerio de Relaciones Exteriores, Urrutia an Ministerio de Relaciones Exteriores, Caja 105, Bern, 6. Oktober 1922.

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Chilenische Vertreter beeinflussten den Fortgang der Diskussion erheblich. Edwards monierte in der Ersten Kommission, dass der amerikanische Kontinent immer noch keinen permanenten Sitz innehabe. In Anbetracht dessen, dass 31 Staaten im Völkerbund aus Europa, 17 aus Amerika und fünf aus anderen Kontinenten stammten, falle diese Aufteilung für Amerika sehr ungünstig aus. Die Länder aus der „Neuen Welt“ hätten extrem geringe Chancen, ihre Interessen direkt im Rat zu vertreten. Edwards brachte erneut seinen bereits zuvor gemachten Vorschlag ins Gespräch, zwei zusätzliche permanente Sitze im Rat zu schaffen. Der eine solle an ein bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht repräsentiertes Mitglied im Völkerbund, der andere an ein europäisches Land vergeben werden. Der von den USA nicht ausgefüllte permanente Sitz könne durch Brasilien übernommen werden. Für den anderen festen Sitz komme Spanien als einzige kontinentale Macht ohne Permanenz in Frage. Edwards hoffte, dass durch eine solche Entscheidung endlich die zeitliche Beschränkung der Amtszeit der verbleibenden nicht permanenten Mitglieder auf drei Jahre und damit die von der Mehrheit in der Assemblée ersehnte Rotation der nichtpermanenten Sitze zustande komme.35 Doch die „hauptsächlichen“ Mächte lehnten auch diesen Vorstoß ab. Edwards erreichte aber immerhin, dass die Kommission der Vollversammlung empfahl, bei der Wahl der nichtpermanenten Mitglieder des Rates auf geographische Unterschiede, ethnische Familien, religiöse Traditionen, Zivilisationstypen und Quellen des Wohlstandes zu achten.36 An der Vollversammlung von 1923 stellten sich Brasilien und Uruguay erneut zur Wahl für den Rat. Obwohl diesmal auch Kolumbien, Kuba und Chile ihre Ambitionen anmeldeten, blieb es bei einem lateinamerikanischen Zweiervorschlag für die bisherigen Mitglieder. In der Abstimmung der Delegierten erzielten Uruguay mit 40 und Brasilien mit 34 Stimmen die Spitzenergebnisse. Dadurch, dass der uruguayische Kleinstaat mehr Stimmen erreichte als Brasilien wollten einige Länder dem selbsternannten Repräsentanten Lateinamerikas im Rat einen Denkzettel geben. Wie wichtig der lateinamerikanische Zusammenhalt und die gleichzeitige Unterstützung durch europäische Partner waren, zeigen die Ergebnisse anderer nichteuropäischer Länder: Persien erhielt lediglich 14 und China gar nur zehn Stimmen. Diese beiden außereuropäischen Länder, die sich unnötigerweise Konkurrenz um einen asiatischen Sitz machten, schafften die Aufnahme in den Rat nicht.37 Markierte die lateinamerikanische Staatengruppe in den ersten Vollversammlungen zumindest gegen außen noch Geschlossenheit, so zeigten sich allmählich Zerfallserscheinungen, und in der Folge trennten sich die Wege des spanischspra35 Actes de la quatrième Assemblée, Société des Nations, Séances des Commissions (AQA SC), S. 37 f. 36 Ebd. S. 39. 37 AQA SC, S. 157.

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chigen und des lusitanischen Amerika. Dies zeigte sich auch in der zunehmenden Abkoppelung des spanischamerikanischen Netzwerkes von dem brasilianischen. Diskrepanzen hinsichtlich der zur Begründung der jeweils eigenen Position herangezogenen kulturellen Konzepte und divergierende Ansichten über die beste Repräsentation der Großregion im Völkerbund waren dafür verantwortlich. Hinzu kam der Regierungswechsel zu Artur Bernardes, der zwar von Anfang an vorgab, das Erbe von Rio Branco zu verwalten,38 aber de facto nach der Abberufung des erfolgreichen Völkerbundpersonals seines Vorgängers mit einer zunehmend aggressiven Vorwärtsstrategie den brasilianischen Anspruch in Genf zu erzwingen sichte.39 Durch den Einzug in den Rat als ständiges Mitglied, dachte Bernardes, könne er das Ansehen Brasiliens erhöhen und von innenpolitischen Auseinandersetzungen ablenken. Der größte Flächenstaat Lateinamerikas wollte damit auf gleicher Höhe wie Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan Politik betreiben. Dies hätte auch eine Abgrenzung von der Gruppe der übrigen lateinamerikanischen Staaten bedeutet – ein Prestigegewinn, den die in Brasilien wegen ihres Autoritarismus umstrittene Regierung zur Festigung ihrer Handlungsfähigkeit dringend benötigte. Ein ständiger brasilianischer Ratssitz hätte allerdings die von den meisten Völkerbundmitgliedern erhoffte Rückkehr Argentiniens nach Genf nahezu unmöglich gemacht, denn die Regierungen dieses Landes wollten sich seit der ersten Vollversammlung durch keine andere vertreten lassen.40 Die fragile Machtbalance im Cono Sur wäre zusätzlich gefährdet worden. Trotz wachsender Bedenken hinsichtlich der Ambitionen Brasiliens unterstützte 1924 das spanischsprachige Lateinamerika, wohl, um keine Eskalierung zu provozieren, nochmals die Wahl Brasiliens als nichtständiges Mitglied im Rat. Auch Uruguays Sitz wurde bestätigt. Für Brasilien votierten 40 Delegierte, was eigentlich ein glänzendes Ergebnis war. Aber Uruguay übertraf das lusoamerikanische Land erneut – diesmal um drei Stimmen. Damit hatte der exklusive Anspruch Brasiliens zur Repräsentation Lateinamerikas als ständig präsente Macht im Rat weiter Schaden genommen.

38 Mensagem presentada ao Congresso Nacional na abertura da terceira sessão da decima primeira legislatura pelo presidente de la República Arthur Bernardes, Rio de Janeiro 1923, S. 5 f. 39 Eugênio Vargas Garcia: A candidatura do Brasil a um assento permanente no Conselho da Liga das Naçoes, in: Revista Brasileira de Política Internacional, 37, Heft 1, 1994, S. 7–11. 40 So die Befürchtungen bei den uruguayischen Entscheidungsträgern. Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Paris (AMAEP) CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Louis de Robien, Chargé d’Affaires de France en Uruguay à son Excellence M. Briand, Montevideo, 23. Januar 1926, [Kopie], Bl. 62 f. Vgl. auch El Brasil está enconaco con la Argentina, in: La Acción, 25. Februar 1926; Representación de Sudamérica en el Consejo, in: La Prensa, 26. Februar 1926.

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Die brasilianische Seite reagierte auf diese Situation mit der Intensivierung ihrer Anstrengungen für einen festen Ratssitz. Im Juli 1924 eröffnete sie zu diesem Zweck eine ständige Delegation in Genf mit sechs Personen im Botschafteroder Ministerrang.41 Die brasilianischen Delegierten verbrachten einen Großteil ihrer Zeit damit, durch die Organisation von Bällen und Soireen im Hôtel de Bergues oder in der Place Claparède für das brasilianische Anliegen günstige atmosphärische Bedingungen zu schaffen. Der Leiter, Afrânio de Melo Franco, ein einflussreicher Politiker, dem man Ambitionen auf das Präsidentenamt nachsagte und der bereits 1923 sein Land in der Vollversammlung vertreten hatte,42 sollte außerdem mit den Botschaftern in Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, Belgien und Schweden Kontakt halten. Als Ergänzung zur Lobbyarbeit der permanenten Delegation in Genf und brasilianischer Botschaften schickte Außenminister José Alves Félix Pacheco (1922–1926) 1924 Raúl Fernandes auf eine goodwill-Tour nach Belgien, Frankreich, Großbritannien, Schweden und in die Tschechoslowakei.43 In einem Brief vom 14. Juli 1924 an Fernandes legte Melo Franco die brasilianische Taktik dar. Diese betonte, an die Adresse der französischen und britischen Regierung gerichtet, dass für Brasilien kein neuer Sitz geschaffen werden musste. Brasilien biete sich vielmehr als kontinentaler Platzhalter anstelle der unwilligen USA an. Diese Lösung stehe im Einklang mit dem „argumento geográfico ou continental“. Brasilien wollte damit als „hauptsächliche“ Macht den ganzen Kontinent repräsentieren. Dadurch könne die direkte Konkurrenz mit den neu aufgetauchten Aspiranten auf Permanenz auf dem Gebiet der Fläche (China) und im Bereich der Bevölkerung (Polen) vermieden werden. Melo Franco machte deutlich, dass mit dieser Lösung auch zukünftige Konfrontationen mit anderen hispanoamerikanischen Ländern vermieden würden, zumal man mit ihnen zu kooperieren gedachte.44 Maliziös forderte er den Delegierten Quiñones de León auf, Spaniens Anspruch auf einen ständigen Sitz mit der Repräsentation der hispanischen Welt zu begründen.45 Er wusste genau, dass dieser Ansatz aus hispanoamerikanischer Sicht nicht zu einer win-win-Situation führen würde, weil er in Lateinamerika nicht mehr vermittelbar war. Hinzu kam, dass Spanien inzwischen 41 Journal Officiel (JO), Mai 1924, Télégramme du Ministre des Affaires Étrangères du Brésil, Félix Pacheco, au Secrétaire Général de la Société des Nations, Rio de Janeiro, 25. März 1924, S. 761. 42 Melo Franco war ein Jurist und Politiker aus Minas Gerais. 43 Melo Franco: Um Estadista da República (wie Anm. 32), S. 1228. Fernandes, der das Gedankengut von Rio Branco vertrat, hatte als Delegierter in den ersten beiden Vollversammlungen viel zum tadellosen Ruf Brasiliens unter den Völkerbundmitgliedern beigetragen, wurde als Oppositioneller unter Bernardes jedoch in das zweite Glied zurückgestuft. 44 Melo Franco: Um Estadista da República (wie Anm. 32), 1229 f. 45 Breda dos Santos, Norma: Le Brésil et la société des nations (1920–1926), Diss. Genève 1996, S. 81.

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unter General Primo de Rivera (1923–1930) ebenso wie Brasilien autoritär regiert wurde, was vor allem in der südamerikanischen Öffentlichkeit nicht nur auf Wohlwollen stieß. IV. Begegnung mit Deutschland Ab dem Jahr 1924 war die Debatte über die brasilianischen Bestrebungen auf fatale Weise mit der deutsch-französischen Annäherung verknüpft. Mit dem Übergang zur Verständigungspolitik war die Einbindung Deutschlands in den Völkerbund absehbar geworden. Auch deswegen spekulierte Melo Franco auf den US-amerikanischen Sitz, denn in einer direkten Rivalität mit Deutschland musste Brasilien natürlich unterliegen.46 Es war daher für Melo Franco eine bittere Erfahrung, als er Ende 1924 einsehen musste, dass Großbritannien und Frankreich den für die USA vorgesehenen Sitz im Rat nicht Brasilien, sondern Deutschland zur Verfügung stellen wollten. Mit Brasilien führten die Großmächte keine Sonderverhandlungen; sie legten den Diplomaten des lusoamerikanischen Landes vielmehr nahe, ihre Forderungen bis zu einer grundsätzlichen Debatte über die Zusammensetzung des Rates zurückstellen. Bernardes’ Wunsch, Brasilien als Repräsentant des panamerikanischen Konzeptes unter den Privilegierten des Rates zu akzeptieren, erteilten sie eine Abfuhr. Der brasilianische Autokrat akzeptierte dies jedoch nicht.47 Seine Hoffnungen beruhten darauf, dass sich zumindest die französische Regierung für Brasilien als permanentes Ratsmitglied stark machen würde.48 Melo Franco konzentrierte seine ganze Energie darauf, die europäischen Regierungen von Brasiliens Anspruch auf einen permanenten Ratsitz zu überzeugen. Zunächst pries er die Vorzüge seines Landes bei den Delegationen Frankreichs, Schwedens und Großbritanniens an. Brasilien sei am besten dazu qualifiziert, den verwaisten Stuhl der USA zu übernehmen. Es habe hinsichtlich der vom Völkerbund vertretenen Prinzipien Pionierarbeit geleistet. Brasilien sei re46 Er erwähnte auch noch die mögliche Rückkehr Russlands. Melo Franco: Um Estadista da República (wie Anm. 32), S. 1229 f. 47 AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Télégramme Alexandre Conty über ein Gespräch mit Bernardes an MAE, Rio de Janeiro, 7.10.1924, [confidentiel], Bl. 55 f. 48 Zu Beginn der 1920er-Jahre waren die Beziehungen Frankreichs zu Brasilien gespannt. Der Grund lag in unterschiedlichen Ansichten über die finanzielle Entschädigung der von Brasilien zur Verfügung gestellten deutschen Schiffe während des „Großen Krieges“. Erst nach dem accordo vom 31. März 1921 besserte sich die bilateralen Beziehungen. Zum französisch-brasilianischen Abkommen, Relatório apresentado ao Presidente da Re-pública dos Estados Unidos do Brasil pelo Ministro das Relações Exteriores comprehen-dendo o período decorrido de 30 de Abril de 1922 a 3 de Maio de 1923. Rio de Janeiro 1924, S. XXII f. Zu den französischen Zusicherungen an Brasilien, AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Visite de l’Ambassadeur du Brésil à M. de Peretti, 26. Juli 1923, Bl. 13r.

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präsentativ für einen insgesamt friedliebenden Kontinent.49 Bei Robert Cecil glaubte Melo Franco auf Wohlwollen zu stoßen.50 Ähnlich äußerte sich Außenminister Pacheco gegenüber dem französischen Chargé d’Affaires in Rio: „En l’absence des Etats-Unis, le Brésil tient à conserver à Genève la tête des Nations Américaines.“ 51 Mit keinem Wort erwähnte er die USA oder Argentinien, dessen Positionen trotz der oft exzentrischen Auftritte seiner Vertreter bei internationalen Anlässen im spanischsprachigen Amerika in den Grundzügen ein hohes Maß an Akzeptanz hatten. Als sich das Auswärtige Amt in Berlin am 29. September 1924 über seine Botschaft in Rio an das brasilianische Außenministerium wandte und um dessen wohlwollende Unterstützung bei der Aufnahme in den Völkerbund und den Völkerbundrat bat,52 antwortete Pacheco am 1. Dezember in bejahendem Sinne. Im Namen der Regierung begrüßte er den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund „em these“ und als permanentes Mitglied in den Rat „em princípio“.53 Von der Forderung der permanenten Einsitznahme im Rat rückte er nicht ab. Im Gegenteil: Durch den möglichen Eintritt Deutschlands sah man in Brasilien das Argument der britischen und französischen Diplomatie, an den ursprünglichen ständigen Mitgliedern festzuhalten, aufgeweicht. Das wichtigste Ergebnis der deutsch-französischen Annäherung waren die Verträge von Locarno. Im Hauptabkommen zwischen Deutschland sowie Frankreich und Belgien vom 16. Oktober 1925 übernahmen Großbritannien und Italien eine Garantie für die deutschen Westgrenzen (respektive die französischen und belgischen Ostgrenzen).54 Deutschland stimmte der Entmilitarisierung des Rheinlandes zu und verzichtete auf das Elsass und Lothringen. Weitere Eckpunkte waren ein Angriffsverbot und die friedliche Streitschlichtung. Melo Franco, der zeitnah Gespräche mit Chamberlain und Briand führte und von diesen über die neue Sachlage informiert wurde, unterstrich, dass seine Regierung mit den Prinzipien der Verträge von Locarno übereinstimmte, auch damit, dass Deutschland einen festen Sitz im Rat des Völkerbundes erhalten sollte. Er äu49 Rodrigues, José Honório/Seitenfus, Ricardo A. S.: Uma história diplomática do Brasil (1931–1945), Rio de Janeiro 1995, S. 298 f. 50 Breda dos Santos: Le Brésil et la société des nations, S. 81. 51 AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, L. de Hauteclocque an den Präsidenten des MAE, Rio de Janeiro, 19. August 1923, [Kopie], Bl. 21r. 52 Relatório apresentado ao Presidente da República dos Estados Unidos do Brasil pelo Ministro das Relações Exteriores comprehendendo o período decorrido de 30 de Abril de 1925 a 3 de Maio de 1926. Bd. I, Rio de Janeiro 1927, S. 115–118. 53 Ebd. S. V u. 118–120. 54 Walters, Francis: A History of the League of Nations, London, New York u. Toronto 1952, Band I, S. 283–289; Bell, Philipp M. H.: France and Britain 1900–1940: Entente and Estrangement, London u. New York 1996, S. 149–153; Cohrs, Patrick O.: The Unfinished Peace after World War I. America, Britain and the Stabilisation of Europe, 1919–1932, Cambridge 2006, S. 261–279.

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ßerte allerdings, wie viele Völkerbundmitglieder, die nicht in die Verhandlungen einbezogen worden waren, Vorbehalte hinsichtlich der Aushandlung „governo a governo“, außerhalb der Genfer Institutionen, und der separaten oder regionalen Bestimmungen, die dem Universalismus des Völkerbundes widersprächen.55 Ebenso wie Pacheco und Bernardes meinte er weiterhin, eine „offene“ Situation zu erkennen, in der Brasilien gewissermaßen als „Trittbrettfahrer“ zugleich mit Deutschland zur permanenten Ratsmitgliedschaft gelangen könne. Diese Haltung vertrat auch der Karrierediplomat Régis de Oliveira, der sich mit einer Bittschrift an den Foreign Secretary Austen Chamberlain (1924–1929) wandte. Durch die ins Auge gefasste Erweiterung des Rates um zusätzliche europäische Mitglieder gerate diese Institution in eine asymmetrische Situation, die nur durch die gleichzeitige Gewährung der Permanenz für Brasilien kompensiert werden könne. Brasilien habe aufgrund seiner Größe und Bedeutung sowie seiner Rolle beim Entstehungsprozess des Völkerbundes einen berechtigten Anspruch auf eine feste Vertretung. Es widersetze sich nicht dem Anspruch Spaniens, wolle aber mit diesem ebenso wenig wie mit den spanischsprachigen Vertretern Amerikas in eine Konkurrenzsituation geraten. Deswegen sei die Besetzung des Sitzes der USA bis zu deren Rückkehr in den Völkerbund die beste Lösung.56 V. Verlust der hispanoamerikanischen Unterstützung Bei ihrer Fixierung auf die hauptsächlichen Mächte und die „anderen“ europäischen Staaten, die im Rat vertreten waren, versäumte es die brasilianische Diplomatie, den eigenen Standpunkt mit demjenigen des übrigen Lateinamerika zu koordinieren. Dies wirkte sich umso gravierender aus, als die brasilianische Position weiterhin darauf aufbaute, den ganzen amerikanischen Kontinent – einschließlich der USA – zu repräsentieren.57 Da dieser Vorstellung sowohl lateinamerikanische als auch US-amerikanische Entscheidungsträger und Publizisten energisch widersprachen, war es für britische und französische Vertreter ein Leichtes, Brasilien die Legitimität abzusprechen. Drummond seinerseits spielte mit dem Gedanken, einen permanenten Sitz zu beantragen, der für alle ABCStaaten galt. Das hätte Bernardes und Pacheco unweigerlich in ein Konkurrenzverhältnis mit Argentinien und Chile gebracht.58 55 Relatório apresentado ao Presidente da República dos Estados Unidos do Brasil pelo Ministro das Relações Exteriores comprehendendo o período decorrido de 30 de Abril de 1925 a 3 de Maio de 1926, S. 135; Breda dos Santos: Le Brésil et la société des nations, S. 94 f. 56 M. Oliveira to M. Austen Chamberlain, London, 28. Juli 1925, in: British Documents on Foreign Affairs: Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Prints (BDFA) Part II, Series J, Bd. II, S. 38–43. 57 Hierzu das Interview, das Pacheco dem Korrespondenten der U.P., Henry Wood, gewährte. Varias noticias, in: O Jornal, 26. Mai 1925. 58 Barros: Office Without Power (wie Anm. 31), S. 172 f.

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Obwohl der Anspruch des Platzhalters der USA und legitimen Vertreters des Panamerikanismus allmählich aus der brasilianischen Rhetorik verschwand, die (wieder) vermehrt auf das Vokabular der latinoamericanidade rekurrierte, konnte Brasilien unter den Vertretern Mittel- und Südamerikas weiterhin kaum Punkte sammeln. Zwar gelang es dem brasilianischen Vertreter anlässlich ihrer vorbereitenden Zusammenkunft von 1925, auf Vorschlag des haitianischen Repräsentanten, den lateinamerikanischen Delegierten nochmals die Unterstützung für eine weitere Amtszeit als nichtpermanentes Mitglied im Rat abzuringen. Aber das von allen Anwesenden unterzeichnete Protokoll hielt, auf Anregung des venezolanischen Vorsitzenden César Zumeta, unmissverständlich fest, dass fortan das Prinzip der „alternabilidad“ gelten solle. Außerdem einigte man sich darauf, dass jeweils ein Land aus dem nördlichen und eines aus dem südlichen Teil des amerikanischen Doppelkontinents zur Wahl vorgeschlagen werden solle.59 Die Versammlung wählte Brasilien mit 43 von 48 abgegebenen Stimmen. Das Spitzenergebnis vermerkte Bernardes in seiner Rede an den Kongress mit Genugtuung.60 Es lag damit drei Stimmen vor Uruguay. In der lateinamerikanischen Hierarchie waren aus brasilianischer Sicht die Verhältnisse wieder zurechtgerückt. Ungeachtet davon musste sich Brasilien damit abfinden, dass die hispanoamerikanische Staatengemeinschaft die quasi automatische Akklamation bisheriger Kandidaten beendet hatte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte der Regierung Bernardes klar geworden sein, dass sie ihr Ziel, die Erlangung eines festen Ratssitzes, ohne die Unterstützung des spanischsprachigen Teils des amerikanischen Doppelkontinents durchfechten musste. Auf einem Treffen am 28. November 1925 mit dem französischen Ministerpräsidenten und dominierenden Außenpolitiker seines Landes, Aristide Briand, unterstrichen spanischsprachige Repräsentanten im Völkerbund ihre Absage an das brasilianische Großmachtgebaren. Sie warben für einen Vorschlag, demzufolge sie anstelle eines ständigen Sitzes für Brasilien drei nichtpermanente Vertretungen für Amerika beanspruchten. Diese wollten sie selbst bestimmen.61 In einem weiteren, vom umtriebigen Salvadorianer Gustavo Guerrero in Paris anberaumten Treffen im Dezember, an dem Melo Franco nicht teilnahm, bekräftigten die Anwesenden erneut, dass das spanischsprachige Lateinamerika 59 AGN Fondo Ministerio de Relaciones Exteriores, Caja 110, Urrutia an Ministerio de Relaciones Exteriores, Bern, 13. Oktober 1925; Archivo General Histórico [del Ministerio de Relaciones Exteriores], Santiago de Chile (AGH) Fondo Histórico Vol. 881 a, Memoria sobre los Trabajos de la VI Asamblea elevada al Ministerio de Relaciones Exteriores por la Delegación de Chile; Soares, e Macedo, José Carlos d: Brazil and the League of Nations, Paris 1928, S. 99 f.; Pérez-Guerrero, Manuel: Les relations des États de l’Amérique latine avec la Société des Nations, Paris 1936, S. 62 f. 60 Mensagem apresentada ao Congresso Nacional na abertura na tereira sessçao da decima legislatura pelo Presidente da República Arthur da Silva Bernardes, Rio de Janeiro 1926, S. 127. 61 Melo Franco: Um Estadista da República (wie Anm. 32), S. 1235 f.

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das durch Rotation und Nichtpermanenz repräsentierte Gleichheitsprinzip gegenüber der Trennung in zwei Kategorien, „Große“ und „Kleine“, favorisiere.62 Pacheco und Bernardes änderten jedoch an der eingeschlagenen Marschroute nichts. Allerdings lobbyierten ihre diplomatischen Vertreter nun auch vermehrt bei lateinamerikanischen Regierungen.63 Auch in Brasilien stellten kritische Stimmen die Prestigepolitik von Bernardes und Pacheco in Frage. Als Plattform der Diskussion bot sich das wichtigste Oppositionsblatt, O Jornal, an. Der Grundtenor einer Serie von Artikeln aus der Feder Azevedo Amarals, des Redakteurs des internationalen Bulletins, lautete, die Genfer Organisation sei ein Mechanismus, mit dem die Hegemonie der „Alten Welt“ und die damit verbundene Mächtehierarchie aufrechterhalten werde. Brasilien könne sich als aufstrebendes Land in der „Neuen Welt“ die aktive Teilnahme am Völkerbund nicht leisten. Es verstricke sich damit in die Intrigen-Diplomatie und vertrete Interessen, die nicht seine seien, und werde in militärische Rivalitäten hineingezogen. Als „nação nova“ benötige Brasilien vor allem Geld, Humankapital, Technologie und Märkte. Unterstützung für dieses nationale Interesse sei vom Völkerbund nicht zu erwarten. Auf dem Weg zu nationaler Größe solle man daher keine weitgehenden Verpflichtungen eingehen und sich vielmehr alle Handlungsoptionen offenlassen.64 In ungewöhnlich langen Artikeln stellte dagegen die erste Garde der brasilianischen Internationalisten, welche das Erbe von Rio Branco angetreten hatten, Pandiá Calógeras, Raúl Fernandes sowie Domício da Gama, die Vorzüge des Völkerbundes als Institution und dessen Erfolge in der praktischen Politik heraus. Auch Afrânio de Melo Franco und dessen Sohn steuerten Beiträge bei. Seit seinen Anfängen hätten sich die brasilianischen Delegierten als Vorreiter des edlen Ziels des weltweiten Friedens profiliert. Mit diesem Pfund lasse sich auf dem internationalen Parkett durchaus wuchern. Druckausübung, um den Einzug Brasiliens in den Rat zu erzwingen, empfahlen die Internationalisten jedoch nicht.65 Am 10. Februar 1926 wurde Drummond das zwei Tage zuvor abgeschickte deutsche Gesuch für die im Hauptvertrag von Locarno vorgesehene Mitglied62 AGH Fondo Histórico Vol. 1075 A, [Memoria der außerordentlichen Versammlung von 1926, ohne Titelblatt], Paris, April 1926. 63 Ebd. 64 Boletim Internacional, in: O Jornal, 1. April 1925; 3. April 1925; 4. April 1925; 5. April 1925; 7. April 1925; 8. April 1925; 9. April 1925. 65 Calógeras, Pandiá: A Liga das Nações, in: O Jornal, 26. März 1925; Franco, Afrânio de Mello: O Brasil na Liga das Nações, in: O Jornal, 31. März 1925; Franco, Virgilio de Mello: A accão do sr. Mello Franco na Liga das Nações, in: O Jornal, 2. April 1925; Fernandes, Raúl: A participação do Brasil na Liga das Nações, in: O Jornal, 2.4.1925; Fernandes, Raúl: O debate em torno da Liga das Nações, in: O Jornal, 4. April 1925; Fernandes, Raúl: O debate em torno da Liga das Nações, in: O Jornal, 7. April 1925; Gama, Domício da: A Missão Nansen na América do Sul, in: O Jornal, 7. April 1925; Gama, Domício da: A Liga das Nações, in: O Jornal, 16. April 1925.

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schaft im Völkerbund überreicht.66 Der Eintritt in die Vollversammlung, das wusste man, war nach der deutsch-französischen Einigung reine Formsache. Doch hinsichtlich der Aufnahme in den Rat als permanentes Mitglied waren Komplikationen voraussehbar. Denn hierfür war die Zustimmung aller Ratsmitglieder erforderlich. Diese Verfahrensweise wollte die brasilianische Regierung unbedingt nutzen, um von den Großmächten gleichzeitig den angestrebten festen Sitz einzufordern.67 Außenminister Pacheco suchte daher jede Gelegenheit, um den Botschafter Frankreichs in Rio de Janeiro von der brasilianischen Forderung zu überzeugen.68 Das Ministère des Affaires Étrangères in Paris war einer permanenten brasilianischen Vertretung im Rat nicht vollständig abgeneigt, wollte sich aber dennoch nicht festlegen. Was die britische Haltung anbelangt, gewann Melo Franco den Eindruck, dass auch Chamberlain Verständnis für das brasilianische Anliegen aufbrachte und das größte Land Südamerikas nicht in eine ähnliche Situation wie Argentinien drängen wollte. Eine konkrete Zusage gab das Kabinett Stanley Baldwin (1924–1929) der brasilianischen Regierung aber ebenfalls nicht. VI. Brasilien, Spanien, China, Polen Als Brasilien seinen Anspruch publik machte, gleichzeitig mit Deutschland die Permanenz im Rat zu erlangen, führte dies sofort zu einem gleich lautenden spanischen Begehren. Auch das iberische Land war seit Jahren immer wieder auf einen nichtständigen Sitz gewählt worden. China und Polen wollten ebenfalls von der vermeintlichen Gunst der Stunde profitieren und meldeten ihren Anspruch auf feste Sitze an. Die dadurch entstandene Konstellation hatte man in Rio de Janeiro nicht vorausgesehen.69 Polen war noch nie im Rat vertreten. Die Regierung dieses Landes fürchtete ein Deutschland, das nun mit Frankreich und England die Verständigung suchte und durch den Eintritt in die Völkerbundsversammlung und in den Völkerbundsrat zusätzlich gestärkt würde. Die in den Locarnoabkommen unzureichend konkretisierten Grenzen mit dem Nachbarn sah man nun aufs Neue gefährdet. China hatte ein nichtständiges Mandat von 1921 bis 1923; danach schaffte es die Verlängerung in Ermangelung an Unterstützung in der Assemblée nicht mehr. Die Regierung in Warschau führte an, dass sie gleich wie Deutschland vitale Interessen, insbesondere die Sicherung der in Locarno nicht definitiv geregelten, gemeinsamen Grenzen, im Rat zu vertreten 66 Wintzer, Joachim: Deutschland und der Völkerbund 1918–1926, Paderborn 2006, S. 560. 67 Hierzu zahlreiche Belege von Instruktionen aus dem Außenministerium an Melo Franco bei Rodrigues/Seitenfus: Uma história diplomática (wie Anm. 48), S. 324. 68 AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Conty an MAE, Rio de Janeiro, 20. Februar 1926, Bl. 67–69. 69 Garcia, Eugênio Vargas: O Brasil e a Liga das Nações (1919–1926). vencer ou não perder, Brasilia 2000, S. 96–102.

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habe. Chinesische Diplomaten und Politiker argumentierten ähnlich wie die brasilianischen. China sei das flächenmäßig größte Land der Weltregion Asien mit einer enormen Bevölkerung und exzellenten wirtschaftlichen Aussichten. Darüber hinaus verwiesen chinesische Delegierte auf die weit zurückreichende Zivilisation.70 Ähnlich wie Brasilien war das Land allerdings innerlich wenig gefestigt, und seine Armee hatte bis dahin vor allem in der Niederschlagung von Unruhen im Inneren Aufsehen erregt. Für Einsätze zur Landesverteidigung oder Aktionen wie im Ersten Weltkrieg war sie ungeeignet. Chinesische Regierungen benutzten den Völkerbund nicht nur als Tribüne, um die angestrebte herausragende Position in Asien zu untermauern, sondern auch, um vorenthaltenes Recht aufgrund ungleicher Verträge zu artikulieren. Auch Spanien und Polen waren verhältnismäßig große Flächenstaaten. Ihre Aufnahme hätte das Image des Völkerbundes als europäisches Gebilde akzentuiert. China genoss keine Unterstützung und war deshalb von Beginn an auf verlorenem Posten. Bei Polen jedoch stand Frankreich seit 1924 im Wort.71 Durch ein permanentes polnisches Mandat sollte nach dem Willen Briands ein Gegengewicht zu Deutschland geschaffen werden.72 Auch die Tschechoslowakei und Belgien unterstützten Polen.73 Mussolini sah in der polnischen Kandidatur ebenfalls eine Möglichkeit, einer „Germanisierung“ der Völkerbundpolitik vorzubeugen.74 Aus Gründen der balance of power in Europa brachten auch Chamberlain, der sich mit Briand in Paris besprochen hatte, sowie Eric Drummond, der Generalsekretär des Völkerbundes, der polnischen Kandidatur einige Sympathie entgegen.75 Robert Cecil wandte sich jedoch strikt dagegen, und in der englischen 70 Kuß, Susanne: Der Völkerbund und China. Technische Kooperation und deutsche Berater 1928–34 (Berliner China-Studien, 45), Münster 2005, S. 98 u. 108. 71 Bereits vor der dritten Vollversammlung meldete sich der polnische Botschafter in Frankreich bei Ministerpräsident und Außenminister Raymond Poincaré (1922–1924) und bat ihn um Unterstützung für die Kandidatur als nichtständiges Ratsmitglied. Poincaré stimmte unter der Bedingung zu „si c’est elle qui réunit le plus des chances“. AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Telegramm Poincaré an französische Botschaft in Rio de Janeiro, Paris, 2. August 1922, Bl. 7v. 72 Haas, Christa: Die französische Völkerbundpolitik 1917–1926, Köln 1996, S. 190–194. Peter Krüger bezeichnet dies als „dreistes und kurzsichtiges französisches Manöver, das den Geist von Locarno und die Absprachen über wichtige Fragen zwischen den Großmächten im Sinne des erneuerten Konzerts gleich auf eine wichtige Probe stellten“. Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, S. 311. 73 Breda dos Santos: Le Brésil et la société des nations, S. 97. 74 Marsico, Giorgio: L’Italia e l’adesione della Germania alla Società delle Nazioni (1925–1926), Trieste 1988, S. 101. 75 Note by the Secretary of State for Foreign Affairs, London, 1. Februar 1926, in: BDFA, Part II, Series J, Vol. II, S. 45; Korcyk, Henryk: Przyje˛cie Niemec I Polski do rady Ligi Narodów W 1926 roku, Wroclaw 1986, S. 100–104. Zu Drummond, Erdmenger, Katharina Sophie: Diener zweier Herren? Briten im Sekretariat des Völkerbundes 1919–1933, Baden-Baden 1998, S. 467. Zur kontinentalen Balance of Power-Politik

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Presse sowie im Parlament formierte sich ebenfalls Widerstand gegen diese Position.76 Briand schlug außerdem vor, permanente Sitze für Brasilien und Spanien zu schaffen. Chamberlain hingegen maß der ständigen Mitgliedschaft Brasiliens keine große Bedeutung zu, während er das spanische Begehren sogar noch stärker als das polnische gewichtete.77 VII. Deutschland versperrt den Weg Stand somit Brasilien als permanentes Ratmitglied keineswegs oben auf der Wunschliste der europäischen Großmächte, so verschlechterte sich die Situation zusätzlich durch die Haltung Gustav Stresemanns.78 Der deutsche Außenminister (1923–1929) führte eine heftige Kampagne gegen den Einzug Polens in den Rat, indem er sich auf die Völkerbundsatzung berief, welche die Permanenz den Großmächten, als deren Repräsentant er sich sah, vorbehielt.79 In Deutschland empfinde man eine gleichzeitige Erhebung weiterer europäischer Staaten zu permanenten Ratsmitgliedern als Herabsetzung, ließ er verlauten.80 Bezüglich Brasiliens deutete Stresemann an, dass er sich dieses Land wenigstens zu einem späteren Zeitpunkt als ständiges Ratsmitglied vorstellen könne. Im Auswärtigen Amt angefertigte Aufzeichnungen sprechen aber eine andere Sprache. Da es in Brasilien nur etwa acht bis zehn Millionen „Weiße“ gebe, sei ein permanenter Ratsitz nicht gerechtfertigt, lautete ein wichtiges, rassistisch begründetes Argument.81 Chamberlains im Völkerbund, McKercher, Brian J. C.: Austen Chamberlain and the Continental Balance of Power: Strategy, Stability, and the League of Nations, 1924– 1929, in: Peace Research Abstracts Journal, 14, 2003, S. 207–236; Cohrs: The Unfinished Peace (wie Anm. 54), S. 350. 76 Carlton, David: Great Britain and the League Council Crisis, in: The Historical Journal, 11, Heft 2, 1968, S. 356. 77 Im spanischen Fall hatte das Kabinett Baldwin im Unterschied zum brasilianischen am 11. November 1925 die Unterstützung der Kandidatur in Aussicht gestellt. Dutton, David: Austen Chamberlain. Gentlemen in Politics, Bolton 1985, S. 267; Carlton: Great Britain and the League Council Crisis (wie Anm. 76), S. 355. 78 Popovitch, Georges: La composition du Conseil de la Société des Nations. Contribution à l’étude juridique de l’article 4 du Pacte de la Société des Nations et de la réforme réalisée par l’Assemblée en 1926 Lausanne 1929 (thèse de doctorat présentée à la faculté de droit de l’Université de Lausanne), S. 23. 79 So jedenfalls sieht es Kimmich, Christoph M.: Germany and the League of Nations, Chicago 1976, S. 79. 80 Rinke, Stefan: „Der letzte freie Kontinent“. Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918–1933, Band I, Stuttgart 1996, S. 199. Ein Teil der Literatur folgt dieser Argumentation. So bezeichnet Krüger das polnische Begehren „als Affront und Schlag gegen das Ansehen Deutschlands als Großmacht [. . .], wenn Deutschland handstreichartig und mit fadenscheinigen Gründen gezwungen werden sollte, gemeinsam mit Polen in den Völkerbundrat einzuziehen und dadurch selbst dem künstlichen polnischen Großmachtanspruch Geltung und Besiegelung zu verschaffen“. Krüger: Die Außenpolitik (wie Anm. 72), S. 313. 81 Zitat in: Rinke: „Der letzte freie Kontinent“ (wie Anm. 80), Bd. I, S. 201 f.

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Ein weiteres internes Papier erinnerte daran, dass Brasilien im Völkerbund verschiedentlich gegen deutsche Interessen Position bezogen hatte.82 Die deutsche Diplomatie wollte somit durch eine Einzellösung für sich eine möglichst starke Ausgangslage im Rat schaffen. Sie hatte allenfalls Europa, aber keinesfalls den Völkerbund als Projekt für die Gewährleistung des Weltfriedens im Blick. Hinzu kam, dass am 16. Februar 1926, kurz vor Beginn der entscheidenden Ratstagung und der eigens einberufenen außerordentlichen Vollversammlung, die Regierung Schwedens, das seit 1922 als nichtständiges Mitglied im Rat vertreten war, dem Foreign Office die Absicht mitteilte, eine über Deutschland hinausgehende Erweiterung mit einem Veto verhindern zu wollen.83 Die Architekten des Völkerbundes hatten das Prinzip der Einstimmigkeit im Rat verankert, um Gewissheit zu haben, dass keine Entscheidung ohne ihre Zustimmung fiel. Dass aber auch nichtpermanente Staaten von diesem Mechanismus bei besonders wichtigen Entscheidungen Gebrauch machen konnten, ja, dass sie die Vetodrohung zur Durchsetzung bestimmter Ziele einsetzen würden, war ihnen bei der Ausarbeitung der Verfahrensweisen nicht klar. In Stockholm befürchtete man, dass der Völkerbundrat durch eine zusätzliche Aufblähung funktionsunfähig werde und zudem ein Übergewicht der permanenten Mitglieder über diejenigen entstünde, die von der Versammlung gewählt wurden. Dadurch werde die Versammlung insgesamt entwertet. Diese Ansicht teilten andere „Kleine“, vor allem die Dominions sowie Holland, Belgien und die Schweiz. Die schwedische Regierung wurde damit zum Instrument der deutschen Verhandlungsführer. Die brasilianische Diplomatie versuchte in Stockholm vergeblich, wenigsten Verständnis für die Haltung des lusoamerikanischen Landes zu schaffen.84 Das britische Kabinett entschied sich schließlich, neben Chamberlain auch seinen Kritiker Cecil nach Genf zu schicken. Ihre Instruktionen lauteten dahingehend, weder Polen noch Brasilien die permanente Ratsmitgliedschaft zu gewähren. Dem „Spezialfall“ Spanien dagegen wollte man in seinen Bemühungen behilflich sein.85 Briand beabsichtigte, zumindest Polen als festes Mitglied im Rat zu installieren. Melo Franco und Pacheco, die von den separaten Verhandlungen auf den Hotelzimmern ausgeschlossen waren, interpretierten das Verhalten der Großmächte als Brasilien-feindliche Kampagne. Die Präsidentenrede von 1926 an den Kon-

82 PAAA R97086, Aufzeichnung. Brasiliens Haltung im Völkerbundsrat, Berlin, 18. April 1926. 83 Haas: Die französische Völkerbundpolitik (wie Anm. 72), S. 195; Spenz, Jürgen: Die diplomatische Vorgeschichte des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund 1924– 1926, Göttingen 1966, S. 131 f. u. 135. 84 Mensagem apresentada ao Congresso Nacional na abertura na terçeira sessão da decima legislatura pelo Presidente da República Arthur da Silva Bernardes, Rio de Janeiro 1926, S. 130. 85 Carlton: Great Britain (wie Anm. 76), S. 359.

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gress unterstrich im Nachhinein nochmals, dass Brasilien frühzeitig grundsätzlich den Eintritt Deutschlands in den Rat befürwortet habe, dass dies aber innerhalb der Institutionalität des Völkerbundes und keinesfalls als Selbstläufer zu betrachten sei.86 In Brasilien erkannte man nicht, dass sich Chamberlain und Briand weniger gegen Brasilien als vielmehr für Deutschland entschieden: Die Einbindung Deutschlands in das kollektive Sicherheitssystem hatte in London und Paris absolute Priorität.87 Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs akzeptierten die starre Haltung Stresemanns und opferten schließlich neben Brasilien auch Spanien und Polen. Dies führte im Itamaraty zu Überlegungen, den Prozess durch ein Veto aufzuhalten. Die brasilianische Drohung nahm zunächst niemand ernst; später quittierte sie Chamberlain mit folgenden Worten: „A flea can be excessively irritating, but I suppose it remains true that it is better not to scratch.“ 88 Diese Einschätzung, erwies sich als kolossale Fehlinterpretation. Signale für die brasilianische Haltung hatte es ausreichend gegeben. Die interkulturelle Fähigkeit, sie wahrzunehmen und zu dekodieren, war offenbar nicht vorhanden. Der Schaden für die Glaubwürdigkeit der britischen und französischen Diplomatie ebenso wie des Völkerbundes als Institution war unübersehbar. Für Brasilien kam es noch schlimmer. Delegierte Guatemalas, Kolumbiens und Venezuelas wiederholten einmal mehr ihre Zweifel am Anspruch des lusoamerikanischen Landes, ganz Amerika zu repräsentieren. Sie sprachen sich einseitig für die Kandidatur Spaniens, nach hispanischer Auffassung die „madre patria“, aus.89 Auch Chile, der lange Zeit wichtigste Verbündete Brasiliens, kippte um. Emilio Bello C. und Eliodoro Yáñez hatten zwar Instruktionen, gegebenenfalls Brasilien zu unterstützen. Sie fühlten sich aber durch das kompromisslose Verhalten der portugiesischsprachigen Delegierten vor den Kopf gestoßen und schlossen sich schließlich dem sich anbahnenden Konsens der spanischamerikanischen Völkerbundmitglieder an. Dieser sah vor, die Bemühungen ganz auf die Sicherung nichtständiger Vertretungen im Rat zu konzentrieren.90 Melo Franco berichtete dem Itamaraty wiederholt über die spanisch-amerikanischen Vorbehalte;91 doch dort wurden sie offenbar ignoriert. Während die Delegierten der Vollversammlung auf eine Einigung warteten, rangen die Ratsmitglieder Briand, Chamberlain, Gustav Stresemann, Vittorio

86 Mensagem apresentada ao Congresso Nacional na abertura na terçeira sessão da decima legislatura pelo Presidente da República Arthur da Silva Bernardes, Rio de Janeiro 1926, S. 128 f. 87 Erdmenger: Diener zweier Herren (wie Anm. 75), S. 467. 88 Dutton: Austen Chamberlain (wie Anm. 77), S. 268. 89 Außerdem wurde Spanien von Lettland und Bulgarien unterstützt. 90 AGH Fondo Histórico Vol. 1075 A, [Memoria der außerordentlichen Versammlung von 1926, ohne Titelblatt], Paris, April 1926. 91 Breda dos Santos: Le Brésil et la société des nations, S. 104 f.

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Scialoja, Émile Vandervelde, Eduard Benesˇ und Alexander Skrzynski auf ihren Hotelzimmern ohne Erfolg um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation. Chamberlain und Briand bearbeiteten zuerst die deutsche und die polnische Delegation, um einen Kompromiss zu erzielen. Die brasilianischen und die spanischen Vertreter wurden in diese mehr als eine Woche dauernden Gespräche nicht einbezogen. Auch deswegen zeigten sich Bernardes und Pacheco uneinsichtig. In Brasilien bekräftigte die Presse den Anspruch Brasiliens und machte dabei folgende Punkte stark: Brasilien sei Gründungsmitglied des Völkerbundes. Es sei von Anfang an im Rat präsent gewesen, in Amerika sei es das wichtigste Land mit 400-jähriger Existenz und stolz auf seine Unabhängigkeit. Brasilien habe den Pazifismus gewissermaßen verinnerlicht. In der humoristischen Wochenzeitschrift Careta aus Rio vom 6. März wurde eine Rede von Pacheco zitiert, in der der Außenminister den Diskurs Rio Brancos bemühte, indem er den Vorwurf des egoistischen Machtstreben Brasiliens weit von sich wies und vielmehr die Verdienste seines Landes für den Völkerbund herausstrich: „O Brasil não se arroga fóros de hegemonia, nem tem preocupações outras que não sejam as de prestigiar a todo transe a Liga o a cooperar lealmente para melhorar sempre e cada vez mais o seu funccionamento.“ 92 In Rio haderte man mit dem Vorgehen Deutschlands, das als rücksichtslos empfunden wurde, und der Prioritätensetzung Chamberlains, der sich davon allzu sehr beeindrucken lasse. Die Titelseite derselben Ausgabe brachte die Befindlichkeit in der brasilianischen Hauptstadt treffend zum Ausdruck. Darauf sah man eine Figur in ländlicher Tracht mit dem brasilianischen Wappen auf dem Rücken. Sie war von rechts über eine Treppe auf ein kleines Podium gestiegen, auf dem ein großer Stuhl stand, der den Ratssitz symbolisierte. Der brasilianische Landmann hätte den Stuhl wohl gerne bestiegen, aber nun trat ihm eine übergroße, ältere Frau mit männlichen Zügen entgegen. Die mit „Liga“ beschriftete Dame wies ihn mit einer Handbewegung auf zwei weitere, als Clowns verkleidete Personen hin, die sich im Dunkeln von links angenähert hatten und es ebenfalls auf den Sitz absahen. Der eine, welcher Deutschland verkörperte, klammerte sich bereits an ein Stuhlbein, ohne dass er den regulären Weg über die Treppe zu gehen gedachte. Der andere – er hatte Ähnlichkeiten mit Briand – schaute dem Treiben entgeistert zu. Der Kommentar zur Karikatur spielte auf Aussagen von Pacheco an, der sich sogar darauf verstiegen hatte, dass es ein Recht gebe, dass Brasilien die Permanenz im Rat erhalte: „O direito do Brasil na Liga das Nações“. Im Völkerbund gebe es keine Hegemonie und Rivalitäten. Damit stellte die Zeichnung ironisch einen scharfen Kontrast zwischen der förmlichen Diplomatie und der zupackenden Konkurrenz aus Deutschland her.

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O Brazil o Conselho Executivo da Liga das Nações, in: Careta, 6. März 1926.

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Abbildung 1: Der Kampf um einen Sitz im Völkerbund in der brasilianischen Publizistik (Quelle: Careta, 6. März 1926)

VIII. Das brasilianische Veto Als Bernardes und Pacheco dämmerte, dass sie kaum jemanden von ihrer Position überzeugen konnten, machten sie mit ihrer Vetodrohung gegen die Aufnahme Deutschlands Ernst. Mit dieser Waffe setzten sie bewusst die deutschfranzösische Annäherung aufs Spiel, ohne jedoch selbst einen direkten Nutzen daraus zu ziehen. Am 5. März erhielt Melo Franco von Bernardes persönlich den Auftrag, sein Veto gegen den Eintritt Deutschlands in den Rat auszusprechen, falls Spanien und Brasilien nicht ebenfalls permanente Vertretungen erhielten.93 93

O Brazil o Conselho Executivo da Liga das Nações, in: Careta, 6. März 1926.

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Obwohl Stresemann und Reichskanzler Hans Luther bekräftigt hatten, dass sie den Vorschlag von Chamberlain und Briand ablehnten, neben Deutschland auch Spanien und Polen den Status der Permanenz zu geben, beharrten auf der Ratssitzung vom 10. März Quiñones de León und Melo Franco gleichwohl auf ihren Forderungen. Der schwedische Außenminister und Ratsdelegierte Östen Undén drohte erneut, im Falle einer über die Aufnahme Deutschlands hinausgehenden Ratserweiterung seinerseits das Veto einzulegen.94 Als am 11. März der Rat wieder zusammentrat, gaben China und Polen den vorläufigen Verzicht auf ihre Forderung nach einem permanenten Sitz im Rat bekannt. Quiñones de León deutete an, sich um eine Möglichkeit zu bemühen, um das von Spanien angedrohte Nein zu vermeiden. Melo Franco, dessen Instruktionen keine andere Deutung zuließen, blieb indessen – entgegen seiner persönlichen Überzeugung und früherer Bekundungen – hart. Nun begann Chamberlain, massiven psychologischen Druck auf den brasilianischen Delegationschef auszuüben. In einem Memorandum machte er Brasilien auf seine historische Verantwortung aufmerksam. Eine Lösung, die der brasilianischen Forderung entgegenkam, hatte der Brite jedoch nicht zur Hand. Das zeigt, dass er den angedrohten Austritt Brasiliens für unwahrscheinlich hielt, zumal Polen, Spanien und China von ihren Forderungen abrückten und damit Brasilien isolierten. Ein Plan von Chamberlain und Briand vom 15. März sah vor, Deutschland sofort einen permanenten Sitz zu gewähren. Auch für Polen wurde eine Lösung gefunden: Die schwedische Delegation stellte diesem Land, nicht ohne Druckausübung seitens Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands, ihren nichtständigen Sitz zur Verfügung.95 Sie unterstrich mit dieser Geste ihre strikte Ablehnung einer zusätzlichen Ausdehnung des Rates. Die tschechoslowakische Delegation als Vertretung der Petite Entente wurde ihrerseits von Briand, Chamberlain und Stresemann dazu gedrängt, ihren Sitz Holland zur Verfügung zu stellen. Ein Komitee sollte bis zur nächsten regulären Vollversammlung einen Reformvorschlag ausarbeiten.96 Mit diesem Szenario waren die polnische Vertretung und Stresemann einverstanden. Auch der spanische Regierungschef Primo de Rivera signalisierte, dass er einstweilen auf seine Forderungen verzichten würde.97 Nun blieb nur noch Brasilien übrig, das das französisch-britisch-deutsche Szenario gefährden konnte. Britische und französische Diplomaten appellierten daher erneut an die Regierung in Rio de Janeiro und bat sie um Verständnis für die historische Situation. Diese verlange es, die eigenen Interessen zugunsten derjenigen Europas zu-

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Haas: Die französische Völkerbundpolitik (wie Anm. 72), S. 199 f. Krüger: Die Außenpolitik (wie Anm. 72), S. 314. 96 Carlton: Great Britain and the League Council Crisis (wie Anm. 76), S. 359; Spenz: Die diplomatische Vorgeschichte (wie Anm. 83), S. 144 f. 97 Walters: A History (wie Anm. 54), Bd. I, S. 320; Haas: Die französische Völkerbundpolitik (wie Anm. 72), S. 200–204. 95

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rückzustellen.98 Doch Bernardes und Pacheco hielten ungerührt an ihrer Forderung fest. Auch die brasilianischen Massenmedien hatten sich festgelegt. Sie sahen im europäischen Druck auf Brasilien eine Erpressung. Oftmals wurde auch das Manöver von Bernardes und Pacheco kritisiert. Die Titelseite der satirischen Wochenzeitschrift O Malho vom 13. März beispielsweise visualisierte den Gegensatz zwischen Völkerbundideal und Wirklichkeit der internationalen Politik. Der Zeichner sah die Repräsentanten der „großen“ Mächte als streitsüchtige Gemeinschaft. Außerhalb des Raumes des Völkerbundes, dessen Eingang er, einem griechischen Tempelportal nachempfunden, darstellte, waren die Vertreter bedeutender Staaten in einen wüsten, handfesten Streit verwickelt. Dem idealistischen, dem Weltfrieden verpflichteten Grundsatz des Völkerbundes, dem Ideal des „Bom Senso“, haftete damit etwas Künstliches, Weltfremdes an. Die Praxis der internationalen Politik war vielmehr von nationalen Egoismen geprägt; jeder suchte nur den eigenen Vorteil und verlor dabei das Ganze aus dem Blick. Auch Brasilien, das der Karikaturist als Teil der Auseinandersetzung wahrnahm, nahm er von seiner Kritik nicht aus. Im Begleittext ließ er anklingen, dass das Handeln der Regierung Bernardes keinesfalls im Einklang mit dem übergeordneten Leitmotiv der Rio-Branco-Ära Paz e Concordia stehe: „E um contrasenso brigar na porta de entrada.“ In Genf meldeten sich die spanischamerikanischen Delegationen am 16. März nochmals zu Wort. Die Repräsentanten Chiles, Kolumbiens, Kubas, Guatemalas, Nicaraguas, Paraguays, der Dominikanischen Republik, El Salvadors, Uruguays und Venezuelas verfassten eine Eingabe, in der sie Brasilien das Recht aberkannten, im Namen Lateinamerikas aufzutreten. Im Gegensatz zur brasilianischen Regierung stehe für das spanische Lateinamerika der Frieden in Europa über der Verwirklichung von Partikularinteressen. Ohnehin sei eine baldige nichtpermanente Dreiervertretung im Rat eine angemessenere Lösung für die Repräsentationsdefizite der Region als eine dauerhafte Einzelvertretung.99 Auch dieses Signal ignorierten die brasilianischen Entscheidungsträger. Gleichentags wurden aufgrund entsprechender Anweisungen sowohl der französische Botschafter Alexandre R. Conty als auch der britische Repräsentant Beilby Alston am Präsidentensitz in Petrópolis vorstellig, um Bernardes umzustimmen. Doch das brasilianische Staatsoberhaupt bedauerte, dass es aus Gründen der „nationalen Ehre“ kein Zurück mehr gebe. Die Bevölkerung verstehe nicht, weshalb sich Brasilien für Europa opfern solle; die Bewahrung der „dignidade nacional“ habe Vorrang.100 98 Melo Franco: Um Estadista da República (wie Anm. 32), S. 1241–1248; Carlton: Great Britain and the League Council Crisis (wie Anm. 76), S. 361. 99 Macedo Soares: Brazil and the League of Nations (wie Anm. 59), S. 135; La difficulté brésilienne, in: Journal de Genève, 17. März 1926. 100 Sir Beilby Alston to Sir Austen Chamberlain, Petropolis, 17. März 1926, in: BDFA, Part II, Series J, Bd. II, S. 82 f.

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Abbildung 2: Wahrnehmung des Streits um Sitze im Rat in Brasilien (Quelle: O Malho, 13.3.1926)

Conty und Alston konnten kurz darauf im einflussreichen Jornal do Commércio, dessen Herausgeber Pacheco war, nachlesen, dass ihre Bemühungen fruchtlos geblieben waren.101 101 AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Conty an MAE, Rio de Janeiro, 19. März 1926, [confidentiel], Bl. 82–86.

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Am 17. März 1926 fand die denkwürdige Vollversammlung statt, in der Afrânio de Melo Franco die Anwesenden gleich zu Beginn darüber unterrichtete, dass sich Brasilien gegen die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbundrat stelle, wenn es nicht zugleich mit diesem ein ständiges Mandat für den Rat bekomme. Im Sinn der brasilianischen Platzhalterstrategie bot er Brasilien erneut als Repräsentant für Amerika an. Dem Kontinent stehe eine angemessene Vertretung im Rat zu.102 Ohne die brasilianische Diplomatie direkt als Hauptschuldigen zu benennen, zeigte sich Chamberlain, der folgende Redner, dessen Verhandlungskunst auf der ganzen Linie versagt hatte, bestürzt über das bedauernswerte „Missverständnis“ und Hindernis.103 Er und Briand hatten allerdings inzwischen das Unheil kommen sehen und sich noch kurz vor Sitzungsbeginn darauf verständigt, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund gegebenenfalls auf die reguläre Vollversammlung im Herbst zu verschieben.104 Das teilten sie nun nach dem Motto „aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ den Delegierten mit. Bei Briand, dem es nicht gelungen war, die deutsche Verhandlungsposition aufzuweichen, schien sich die Enttäuschung über die vorerst geplatzte Aufnahme des erstarkten Nachbarn in den Völkerbund in Grenzen zu halten. Denn der französischen Bevölkerung war nur schwer zu kommunizieren, dass Frankreich in fast allen Punkten Deutschlands starrer Haltung nachgegeben hatte, um das Vertragswerk von Locarno zu retten.105 Der Versammlungsvizepräsident Ramón V. Caballero,106 der nicht nur im Namen seines Landes, Paraguay, sondern auch in demjenigen Chiles, Kolumbiens, Uruguays, Venezuelas, El Salvadors, Guatemalas und Kubas das Wort ergriff, sprach als nächster. Als einziger Redner kritisierte er direkt das brasilianische Vorgehen, indem er auf den Beschluss der lateinamerikanischen Delegierten verwies, demzufolge Brasilien das Recht abgesprochen wurde, ganz Amerika zu repräsentieren. Mit dem brasilianischen Veto würden Einzelinteressen gegen den europäischen Frieden ausgespielt, was dem Sinn des Völkerbundes widerspreche. Er appellierte an Melo Franco, den Eintritt Deutschlands nicht weiter zu blockieren und dafür zu sorgen, dass im Rat doch noch eine konsensfähige Entscheidung herbeigeführt werde.107 Unter den anwesenden Delegierten der Vollversammlung herrschte große Frustration. Sie waren zusammengerufen worden, um eine Entscheidung zu sanktionieren, die sie nicht wirklich beeinflussen konnten. Nachdem es nichts mehr zu beschließen gab, deuteten zahlreiche Redner ihre Unzufriedenheit über die Ein102 103 104 105 106 107

JO, 1926, SS, Nr. 42, S. 26. Ebd. S. 26–28. Haas: Die französische Völkerbundpolitik (wie Anm. 72), S. 205 f. Spenz: Die diplomatische Vorgeschichte (wie Anm. 83), S. 146. Caballero, ein Jurist, war der Botschafter Paraguays in Paris. JO, 1926, SS, Nr. 42, S. 29.

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zelverhandlungen hinter verschlossenen Türen und unter Umgehung des institutionellen Gefüges sowie der Mechanismen des Völkerbundes an. Sie gaben damit Frankreich, Großbritannien und dem Rat eine Mitschuld für das Fiasko. Anzeichen für die unveränderbare Haltung der brasilianischen Regierung hatte es genügend gegeben, man brauchte sich also nicht nachträglich zu wundern. Die Frage war nur, warum man sie nicht ernst genommen hatte.108 Einige Delegierte richteten den dringenden Wunsch an die Ratsmitglieder, rasch Reformvorschläge vorzulegen.109 Stresemann und Reichskanzler Hans Luther, die in einem Sonderzug angereist waren, um ihrem diplomatischen Triumph beizuwohnen,110 fuhren mitsamt dem mitgebrachten Tross von Experten und Sekretären unverrichteter Dinge wieder zurück nach Berlin. Auch sie hatten durch ihre unnachgiebige Haltung gegenüber anderen Anwärtern für den Rat zum Misserfolg beigetragen. Die deutschen Verhandlungsführer bevorzugten jedoch die vertagte Durchsetzung ihrer maximalen Forderungen gegenüber einer unverzüglichen Aufnahme und dem Eintritt in den Rat als permanentes Mitglied zusammen mit anderen Anwärtern. Im Unterschied zu Bernardes’ ging diese Taktik, die ebenfalls alles auf eine Karte setzte, auf. In der deutschen Presse überwog die Meinung, Brasilien habe nicht Deutschland, sondern dem Völkerbund insgesamt eine Niederlage zugefügt.111 IX. Die Reaktionen Die europäischen Medienschaffenden mutmaßten über die wahren Gründe der vorerst gescheiterten Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund; zumindest in einem Punkt, in der Ablehnung der brasilianischen Position, herrschte Einigkeit. Ja, Brasilien bot sich als Sündenbock geradezu an. Die Mehrzahl der Kommentatoren war sich darin einig, dass Brasiliens Ansehen als glaubwürdiger Partner in der internationalen Politik großen Schaden erlitten hatte. Innerhalb von wenigen Monaten war das mühsam über Jahrzehnte erworbene Vertrauen als diplomatisch ernst zu nehmende, dem Weltfrieden verpflichtete Macht in Südamerika verspielt worden. Dies sprach in aller Deutlichkeit der Herausgeber und Chefredakteur des Journal de Genève, William Martin, aus: „Le veto du Brésil, maintenu jusqu’au bout dans un intérêt égoïste, est un abus manifeste.“ 112

108

Breda dos Santos: Le Brésil et la société des nations, S. 101. Vgl. die Voten von Kikurjio Ishii (Japan), Chao-Hsin Chu (China), Herluf Zahle (Dänemark), Giuseppe Motta (Schweiz), Nicolas Petresco Comnène (Rumänien), John Loudon (Holland) und Fritjolf Nansen (Norwegen), in: JO, 1926, SS, Nr. 42, S. 29–32. 110 Walters: A History (wie Anm. 54), Bd. I, S. 319. 111 Spenz: Die diplomatische Vorgeschichte (wie Anm. 83), S. 152. 112 Le veto du Brésil, in: Journal de Genève, 17. März 1926. Zu weiteren Kommentaren in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Bulgarien, Spanien, der Sowjet109

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Auch in Spanischamerika stieß Brasiliens Haltung auf wenig Verständnis. In einem Leitartikel sprach der Bogotaner Tiempo wohl aus, was die Führungsgruppen aller in Genf vertretenen Länder der Großregion dachten: Mit seiner nationalen Prestigepolitik betreibe Bernardes ein gefährliches Spiel, das den europäischen Frieden gefährde. Es sei nicht die Stunde, Ehrenposten zu reklamieren und Etikettenfragen zu erörtern, sondern dem universellen Wunsch nach Frieden die unbedingte Unterstützung zu gewähren. Brasilien habe damit auch den panamerikanischen Idealen entgegengearbeitet.113 Auch der chilenische Mercurio bedauerte den Ausgang der Vorgänge in Genf, der keinesfalls im Interesse der Nachbarstaaten sei. Er forderte gleichwohl Maßnahmen, um Brasiliens Rückzug aus dem Völkerbund zu verhindern.114 Der Diario de la Marina in Havanna machte auf die Mitverantwortung der französischen, englischen und italienischen Regierungen für den Misserfolg aufmerksam.115 Französische und englische Diplomaten hätten Polen einen ständigen Ratsitz versprochen, was den Rat zusätzlich aufgebläht hätte. Italiens Mussolini habe die Gelegenheit benutzt, um die deutsche Diplomatie wegen der anhängigen Südtiroler Frage zu brüskieren. Brasiliens Regierung habe versucht, die kontinentale Hegemonie zu erlangen, was die konzertierte hispanoamerikanische Gegenreaktion geradezu provozierte. Am ausführlichsten und gründlichsten äußerte sich die chilenische Unión. In einem sehr gut recherchierten Hintergrundartikel analysierte sie drei grundsätzliche Probleme der Vorgänge in Genf: das fehlende Gespür („audaz inconsciencia“) einiger Großmächte für die Folgen ihres Handelns, das „Kastengesetz“, welches das Verhältnis der Staaten zueinander reguliere, sowie die inadäquate Zusammensetzung des Rates.116 Weder Brasilien noch Polen noch Spanien hätten sich in ihrem Vorstoß gegen das mittelalterliche Kastensystem im Völkerbund gewehrt. Ihr einziges Ziel sei der Sprung von der einen in die andere Kategorie gewesen. Der Rat benötige jedoch dringend eine grundsätzliche Umgestaltung, und diese könne aus realpolitischen Erwägungen nicht in einer gänzlichen Abschaffung der Permanenz, sondern einzig und allein in der Erhöhung des Kontingents nichtständiger Sitze bestehen. Dadurch werde die Repräsentation bisher nicht berücksichtigter Regionen verbessert. Das eröffne auf der Basis des Rotationsprinzips auch Lateinamerika erfreuliche Perspektiven. In Brasilien wurden die Vorgänge in Genf insgesamt verhalten kommentiert, zumal sich viele Beobachter wenig Illusionen gemacht hatten. Die Opposition union, der Schweiz und Österreich, die Presseschau in: Journal de Genève, 19. März 1926. 113 El Brasil y la Liga de las Naciones, in: El Tiempo, 24. März 1926. 114 Ebd. 15. Juni 1926. 115 ¿Cuál es el secreto del fracaso de la entrada de Alemania en el consejo de la Liga de Na-ciones?, in: El Diario de la Marina, 18. März 1926. 116 Bajo el ruidoso y pintoresco embrollo de Ginebra, palpitan 3 cuestiones de primordial interés, in: La Unión, 23. März 1926.

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sparte nicht mit Kritik an Bernardes. Helenio Miranda Moura schrieb im Jornal, das Itamaraty solle etwas selbstkritischer darüber nachdenken, warum zehn lateinamerikanische Delegationen in Genf die höheren Ziele und den Weltfrieden über den brasilianischen Antrag gestellt hätten. Pacheco habe Brasilien in der internationalen Politik isoliert.117 Und Azevedo Amaral verlangte in derselben Zeitung eine Abkehr von der egoistischen Interessenpolitik Bernardes’ und Pachecos, genau diesen Vorwurf machten letztere den „hauptsächlichen Mächten“ des Rates. Eine Rückbesinnung auf den Internationalismus als außenpolitische Leitlinie sei nun dringend erforderlich. Diese solle nun zumindest im Rahmen des Panamerikanismus zur Anwendung gelangen.118 Von einem Boykott der aus Deutschland und Schweden importierten Güter, zu dem ein Teil der nationalistischen Presse aufgerufen hatte, rieten Kommentatoren ab. Dies sei der nationalen Wirtschaftsentwicklung und den Beziehungen zu Europa abträglich.119 Auch die Publikumszeitschrift Fon-Fon ahnte, dass nun eine Neujustierung der brasilianischen Außenpolitik bevorstand. Sie zeigte in der Sache zwar Verständnis für das brasilianische Anliegen und bedauerte die einseitige Interessenpolitik der europäischen Länder. Unverständnis brachte sie dem Verhalten der lateinamerikanischen Länder gegenüber zum Ausdruck; ihre Position wäre in Zeiten der Monarchie nachvollziehbar gewesen, aber doch nicht jetzt, wo man als Republik gleichauf politisiere. Hinsichtlich der Form, mit der die brasilianische Regierung in Genf vorgegangen war, ließ der Verfasser jedoch anklingen, dass er einen Ausgang „sim quebra da nossa dignidade“ vorgezogen hätte. Es wäre besser gewesen, das brasilianische Anliegen diskret vorzutragen und dadurch eine Sackgasse zu vermeiden. Nun sei es angebracht, den europäischen Problemen, „fontes de discordias e sangueiras“, die den europäischen Nationen und der ganzen Welt Schaden zugefügt hätten, den Rücken zu kehren und die ganze Energie zur Festigung gemeinsamer Bande auf dem amerikanischen Kontinent zu konzentrieren. An die Adresse Bernardes’ und Pachecos gerichtet, mahnte der Autor an, sich wieder an der Doktrin des „incomparavel Rio Branco“, dem „mentor espiritual, „guia idealista“ und „arbitro pacifico e justo“, zu orientieren und sich nach seiner Devise Paz e Concórdia dem amerikanischen Kontinent zuzuwenden. Es gelte, die gemeinsame Tradition und die kontinentalen Interessen stark zu machen. Brasilien komme hier kraft seiner geographischen Position, seines Reichtums und seiner Bevölkerung eine Führungsrolle zu.120

117

A crise na Liga das Nações, in: O Jornal, 18. März 1926. A leção de Genebra, in: O Jornal, 19. März 1926. Ähnliche Artikel erschienen in der oppositionellen Zeitung Correio da Manhã vom 19. und 20. März 1926 sowie in der Gazetta da Bolsa vom 22. März 1923. 119 „Boycottage“ de los productos alemães, in: O Brasil, 19. März 1926; Attitude inadmissivel, in: Gazeta de Noticias, 24. März 1926. 120 Commentarios da Semana, in: Fon-Fon, 27. März 1926. 118

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Bernardes berührte die heftige Kritik aus Genf und den Nachbarländern scheinbar nicht. Am 21. März fand in Petrópolis eine inszenierte Kundgebung statt, an der viele enthusiastische Reden über den heldenhaften Widerstand Brasiliens gegen den im Völkerbund vorherrschenden Eurozentrismus gehalten wurden. Auf dem Gelände des Präsidentenpalastes intonierten fünf Kapellen gleichzeitig die Nationalhymne. Der versammelten Menge sowie hochrangigen Politikern, Wirtschaftsführern und Interessenvertretern rief der Präsident zu, es sei eine Ungerechtigkeit, dass der aufstrebenden „Neuen Welt“ mit insgesamt 20 Nationen im Völkerbund ein permanenter Sitz vorenthalten werde. Brasilien sei ein friedliebendes Land.121 Im Unterschied zu anderen Politikern und der Presse, welche den Egoismus, die Kompromisslosigkeit und die Arroganz der deutschen Regierung, das Komplizentum Schwedens, aber auch die Wankelmütigkeit Chamberlains und Briands, die von ursprünglichen Zusagen an die Kandidaten wieder abgerückt waren, beklagten,122 vermied er es, Schuldige für das desastre beim Namen zu nennen. Klar war allerdings, dass er sich selbst, Pacheco und Afrânio de Melo Franco von den Krisen auslösenden Faktoren ausdrücklich ausnahm. Er stellte seine Regierung als prinzipienfest dar; sie habe die nationale Würde bis zum Ende verteidigt, auch wenn damit nicht ihr angestrebtes Ziel erreicht worden sei. Einen moralischen Sieg habe sie allemal errungen.123 X. Schlussbetrachtung In den vorangehenden Ausführungen habe ich mich mit den Anfängen der internationalen Politik aus der Sicht brasilianischer Eliten beschäftigt. Es wurde gezeigt, wie kulturelle Muster und Diskurse über die Nation (verheißungsvolle Zukunft, Zivilisation, Größe) das Handeln von Entscheidungsträgern im Völkerbund bestimmten. Bis zur Regierung von Artur Bernardes verfolgten brasilianische Repräsentanten ihre Ziele mit dem inzwischen sakrosankten Instrumentarium von Rio Branco. Bernardes opferte jedoch Rio Brancos Grundsatz Paz e Concórdia, indem er den brasilianischen Wunsch nach Erhebung in die Permanenz im Rat mit anderen Mitteln erzwingen wollte. Dieser Versuch endete in einem Fiasko für die Glaubwürdigkeit Brasiliens, aber auch Frankreichs, Großbritanniens und des Völkerbundes, während Deutschland mit nicht weniger ego121 Bernardes’ Rede ist abgedruckt im Jornal do Commércio vom 22. März 1926 unter der Überschrift „O Brasil na Liga das Nações“. Die übrigen Reden sind abgedruckt im Jornal do Commércio vom 23. März 1926 unter der Überschrift „O Brasil na Liga das Nações“. 122 O Brasil na Liga das Nações, in: Jornal do Commércio, 18. März 1926; A Liga das Nações e a formula brasileira, in: Jornal do Commércio, 19. März 1926; Attitude definitiva e irrevogabel, in: O Paiz, 18. März 1926; O grande chefe, in: O Paiz, 22/23. März 1926. 123 AMAEP CPC B. Amérique Doss. Gén. Vol. 52, Conty an MAE, 22. März 1926, Bl. 91.

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istischen Mitteln letztlich Erfolg hatte. Weil die Regierung Bernardes nicht bereit war zuzuwarten, bis sich eine neue Gelegenheit bot, zog sich Brasilien aus dem Völkerbund zurück. Damit war der Versuch gescheitert, sich auf Globalebene als „hauptsächliche“ Macht zu etablieren. Die brasilianische Diplomatie hatte in der Außenwahrnehmung ihr über zwei Jahrzehnte aufgebautes Vertrauenskapital eingebüßt. Gravierend war vor allem der Schaden, den das Verhältnis zu den Nachbarn erlitt. War Brasilien im Selbstverständnis und in der Fremdwahrnehmung eine Insel mit Brücken (Ori Preuss), so drohte das Land nun, wie zahlreiche Publizisten befürchteten, zu einer Insel ohne belastbare Verbindungen zu den Nachbarnationen zu werden. Das von brasilianischen Regierungen in der Folge favorisierte Panamerikanismuskonzept zur Verwirklichung seiner internationalen Politik im regionalen Rahmen wurde daher in Südamerika zunächst eher kritisch aufgenommen. Die Vorbehalte waren ähnlich wie bei den USA, denen Unilateralismus unterstellt wurde. Als weiteres Ergebnis dieser Untersuchung kann man festhalten, dass die internationale Politik in Brasilien ebenso wenig wie in anderen lateinamerikanischen Staaten als von der Nation abgekoppelte Sphäre zu betrachten war. Sie war zwar immer die domaine reservée einer kleinen Gruppe von Experten aus den Eliten. Aber wie gezeigt wurde, kommentierten Politiker, Publizisten, Schriftsteller, Karikaturisten und Fotographen das internationale Geschehen breit. Insofern wurde die brasilianische Außenpolitik nicht nur durch nationale Vorstellungen angetrieben, sondern die Rolle Brasiliens im internationalen Kontext wirkte wiederum auf die Aushandlung der Nation zurück. Der Völkerbund war für die Konstruktion des nationalen Selbstverständnisses ebenso wie das panamerikanische Konzept, die latinoamericanidad und subregionale Ansätze ein wichtiger Referenzpunkt.

Friedrich Thimme Ein Historiker und Akteneditor im „Krieg der Dokumente“ 1920–1937 Hans-Christof Kraus I. Es dürfte wohl wenige große historische Quelleneditionen geben, die so rasch und unter Einsatz einer so immensen Arbeitskraft das Licht der Welt erblickt haben wie die in den Jahren 1922 bis 1927 in nicht weniger als 54 Einzelbänden publizierte Ausgabe der diplomatischen Vorkriegsakten des Deutschen Kaiserreichs zwischen 1871 und 1914, erschienen unter dem Titel „Die Große Politik der Europäischen Kabinette“ 1. Der Rang der ungemein fleißigen, dazu von nur vergleichsweise wenigen Mitarbeitern erbrachten außerordentlichen Leistung war und ist bis heute unbestritten, doch die editorische Zuverlässigkeit der dargebotenen Quellen ist aus verschiedener Perspektive immer wieder angezweifelt worden – in der Entstehungszeit der Edition übrigens ebenso wie noch Jahrzehnte später. Das hing zuerst zusammen mit dem überaus hohen Anspruch, den die Herausgeber der Quellenpublikation von Anfang an erhoben. Bereits im Vorwort zum 1922 erschienen ersten Band hieß es, das Augenmerk der verantwortlichen Editoren sei „hauptsächlich darauf gerichtet . . ., alle zur Bloßlegung des weitverzweigten Wurzelgeflechts des Weltkrieges wesentlichen Vorgänge aktenmäßig so zusammenzustellen, daß sich aus ihnen die Grundlinien der großen europäischen Politik auf seiten Deutschlands und seiner Verbündeten, wie auf seiten der zu ihnen immer mehr in Gegensatz geratenen Mächte möglichst klar und deutlich ergeben“. Sie selbst, die Herausgeber, verstünden sich zuerst als „unabhängige objektive Forscher, denen es einzig und allein um die völlige Aufklärung der ge1 Lepsius, Johannes/Bartholdy, Albrecht Mendelssohn/Thimme, Friedrich (Hrsg.): Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes, Bände I– XL (in 5 Abteilungen und 54 Einzelbänden), Berlin 1922–1927; zur Bedeutung dieser Edition und ihres Entstehungskontextes siehe neben Epstein, Fritz T.: Die Erschließung von Quellen zur Geschichte der deutschen Außenpolitik, in: Die Welt als Geschichte, 22, 1962, Heft 3–4, S. 204–219, vor allem Baumgart, Winfried: Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871–1918), 1. Teil: Akten und Urkunden (Quellenkunde zur deutschen Geschichte von 1500 bis zur Gegenwart, 5/1), Darmstadt 19912, S. 5–15, und Zala, Sacha: Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München 2001, S. 57–77.

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schichtlichen Zusammenhänge zu tun“ sei, und sie seien aus diesem Grund auch „nicht davor zurückgeschreckt, in die Sammlung der Dokumente auch solche aufzunehmen, die die deutsche Politik oder einzelne ihrer Leiter in einem weniger vorteilhaften Lichte erscheinen lassen; ebensowenig haben sie“, so hieß es weiter, „Anstand genommen, Aktenstücke zu bringen, die zugunsten unserer Gegner sprechen können. Unbedingte Ehrlichkeit, Offenheit und Sachlichkeit war und blieb das vornehmste Gebot ihrer Arbeit“ 2. Tatsächlich mussten sich die drei Herausgeber – der Jurist Albrecht Mendelssohn Bartholdy, der Geistliche und Orientalist Johannes Lepsius und vor allem der Neuzeithistoriker Friedrich Thimme – an diesem außerordentlich hohen Anspruch, den sie am Beginn ihrer Tätigkeit selbst formuliert hatten, am Ende messen lassen. Das Urteil fiel, besonders seit den ausgehenden 1950er-Jahren, nicht immer günstig für die Editoren der „Großen Politik“ aus. Es waren Wissenschaftler aus beiden deutschen Staaten, die in der zweiten Nachkriegszeit über die „Verfälschung der historischen Wahrheit“ klagten3, die mit Nachdruck auf die Indienstnahme des wissenschaftlichen Unternehmens „für die politische Agitation in Sachen Kriegsschuldfrage“ hinwiesen4 oder die das große Editionsprojekt vor allem vor dem Hintergrund einer seitens der deutschen Regierungen der Weimarer Republik systematisch betriebenen, konsequenten „Verdrängung“ der Kriegsniederlage von 1918 deuten zu können meinten5. Obwohl die 54 Bände der „Großen Politik der Europäischen Kabinette“ tatsächlich unbestreitbare editorische und andere qualitative Mängel enthalten – das hat die eingehende Kritik mehrerer Jahrzehnte inzwischen zweifelsfrei erwiesen6 –, bleibt doch die Frage zu stellen, wie die Leistung der Editoren unter den äußerst schwierigen Bedingungen der damaligen Zeit, der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der keineswegs einfachen personellen und technischen Rahmenbedingungen und vor allem auch vor dem Hintergrund der ungemein problematischen internationalen Stellung Deutschlands zwischen Versailles und Locarno7 einzuschätzen ist. Dazu ist es nötig, den Blick kurz auf die drei verantwortlichen 2

Alle Zitate: Die Große Politik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. VIII–IX (Vorrede). Klein, Fritz: Über die Verfälschung der historischen Wahrheit in der Aktenpublikation „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7, 1959, Heft II, S. 318–330. 4 Schleier, Hans: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin (-Ost) 1975, S. 141 ff., hier S. 151. 5 Heinemann, Ulrich: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 59), Göttingen 1983, S. 78–87, 291–293. 6 Siehe dazu nur die Bemerkungen und Hinweise bei Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 67 ff. 7 An dieser Stelle sei statt vieler nur verwiesen auf die grundlegende Darstellung von Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 19932. 3

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Herausgeber zu lenken, von denen Friedrich Thimme ohne jede Frage der wichtigste und der letztlich entscheidende gewesen ist – denn Johannes Lepsius schied schon bald aus gesundheitlichen Gründen aus8 und der angesehene Völkerrechtler aus berühmter Familie, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, wurde kurz nach Beginn der Editorentätigkeit auf einen Lehrstuhl an die Universität Hamburg berufen, wodurch seine aktive Mitarbeit schon infolge der räumlichen Distanz unverkennbar eingeschränkt wurde9. So ist es denn der 1868 geborene Friedrich Thimme, dessen Namen man bis heute am meisten mit der Edition verbindet und der dem Projekt in mehr als einer Hinsicht seinen sehr persönlichen Stempel aufdrückten konnte. Er entstammte einer niedersächsischen Pastorenfamilie, konnte nach seiner Ausbildung zum Historiker wegen eines schweren Ohrenleidens (das später zu völliger Ertaubung führen sollte) den Hochschullehrerberuf nicht ergreifen und arbeitete deshalb als Bibliothekar zuerst (1902 bis 1913) in Hannover, ab 1913 als Leiter der Bibliothek des Preußischen Herrenhauses in Berlin10. Während des Ersten Weltkriegs wurde Thimme eine größeren Öffentlichkeit bekannt, als er, geprägt vom „Augusterlebnis“ des Jahres 1914, versuchte, den innenpolitischen „Burgfrieden“ durch eine Reihe von Publikationen zu festigen, die der sozialen Aussöhnung zwischen den Angehörigen verschiedener Klassen dienen sollten; auch zählte er zum weiteren Beraterkreis des von ihm stets außerordentlich verehrten Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg11. Warum aber gehörte gerade Thimme zum kleinen Kreis derjenigen, die um die Jahreswende 1919/20 vom Auswärtigen Amt ausgewählt wurden, um federführend an der geplanten großen deutschen Aktenpublikation zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs mitzuwirken? Hierfür vorgeschlagen wurde er von einem der damals führenden deutschen Historiker, Friedrich Meinecke, der seit 1914 an 8 Lepsius war kurz nach dem Ersten Weltkrieg sehr bekannt geworden durch seine größtes Aufsehen erregende Quellenpublikation zum türkischen Völkermord an den Armeniern während des Krieges: Lepsius, Johannes (Hrsg.): Deutschland und Armenien 1914–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Potsdam 1919. 9 Vagts, Alfred: Albrecht Mendelssohn Bartholdy. Ein Lebensbild, in: LowenthalHensel, Cécile/Elvers, Rudolf (Hrsg.): Mendelssohn Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Band 3, Berlin 1979, S. 201–225, bes. S. 209 ff. 10 Zur Biographie vor allem: Thimme, Annelise: Biographische Einführung, in: Thimme, Annelise (Hrsg.), Friedrich Thimme 1868–1938. Ein politischer Historiker, Publizist und Schriftsteller in seinen Briefen (Schriften des Bundesarchivs, 46), Boppard am Rhein 1994, S. 15–16, demnächst auch (mit der neueren Literatur) Kraus, Hans-Christof: Thimme, Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie, Band 25 [im Druck]. 11 Dazu Thimme: Biographische Einführung (wie Anm. 10), S. 31 ff. sowie dieselbe: Friedrich Thimme als politischer Publizist im Ersten Weltkrieg und in der Kriegsschuldkontroverse, in: Fischer, Alexander/Moltmann, Günter/Schwabe, Klaus (Hrsg.): Russland – Deutschland – Amerika. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag (Frankfurter Historische Abhandlungen, 17), Wiesbaden 1978, S. 212–238.

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der Berliner Friedrich Wilhelms-Universität lehrte12. Die Gründe hierfür waren sicher in Thimmes politischer Grundhaltung zu suchen, die sich an der Mitte orientierte, auf Ausgleich und Versöhnung bedacht und den politischen Extremen von rechts und links in gleicher Weise abhold war. Das hatte bereits Thimmes Publikationstätigkeit während des Krieges gezeigt13. Diese Richtung – im Spannungsfeld zwischen Zentrum, Liberalen und Sozialdemokratie mit zugleich klarem Bekenntnis zur Weimarer Reichsverfassung – entsprach offenbar recht genau demjenigen, was amtlicherseits erwartet wurde. Hinzu kam Thimmes unbestreitbare und mehrfach ausgewiesene Kompetenz als streng wissenschaftlich arbeitender Historiker. II. Bereits im Sommer 1919 hatte die damalige deutsche Reichsregierung unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gustav Bauer die Herausgabe einer großen amtlichen Quellenpublikation zur deutschen Außenpolitik der Vorkriegszeit beschlossen14. Es ging dabei zuerst weniger um ein Vorhaben zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, sondern vorrangig um ein konkretes politisches Ziel: nämlich um die Widerlegung des aus deutscher Sicht unerträglichen Artikels 231 des Versailler Friedensvertrags, in dem die alleinige Kriegsschuld Deutschlands und seiner Verbündeten festgestellt worden war – diesen Passus hatte das Reich durch die erzwungene Unterzeichnung des Vertrages akzeptieren müssen. In einer für Deutschland nicht weniger erniedrigenden Weise war in der von Clemenceau verfassten berüchtigten „Mantelnote“ zur Übergabe des Vertragstextes an die deutsche Friedensdelegation vom 16. Juni 1919 formuliert worden, das Deutsche Kaiserreich habe, „getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt“ und den Krieg nicht zuletzt deshalb „gewollt und entfesselt“, um „ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren“ – und dieses Verhalten Deutschlands sei „in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos“ 15. 12 Das geht aus einem Brief Thimmes an Meinecke vom 23. September 1927 hervor, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 291 f. (Nr. 184). 13 Auch Friedrich Meinecke hatte sich an einem im Jahr 1915 von Thimme und dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Carl Legien gemeinsam herausgegebenen Sammelband mit dem Titel ,Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland‘ mit einem Beitrag über ,Sozialdemokratie und Machtpolitik‘ beteiligt; dazu Bock, Gisela/Ritter, Gerhard A. (Hrsg.): Friedrich Meinecke. Neue Briefe und Dokumente, München 2012, S. 206 f. 14 Heinemann: Die verdrängte Niederlage (wie Anm. 5), S. 76. 15 Die Zitate aus der von Clemenceau an den deutschen Außenminister von Brockdorff-Rantzau übergebenen „Mantelnote“ als Antwort der alliierten und assoziierten Mächte an die deutsche Reichsregierung, Paris, 16. Juni 1919, in: Schwabe, Klaus (Hrsg.), Quellen zum Friedensschluss von Versailles (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, 30), Darmstadt 1997, S. 357–369 (Nr. 130), hier

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Eigentlich war seitens der deutschen politischen Führung zuerst beabsichtigt worden, lediglich die deutsche Diplomatie der unmittelbaren Vorkriegszeit zu analysieren und die dazu gehörigen Dokumente zu publizieren; eine solche Aufgabe wäre – so war es eigentlich geplant – bei konzentrierter Arbeit innerhalb weniger Monate zu erledigen gewesen. Doch die zeitliche Grenze, die man sich dabei stecken wollte, wurde von den verantwortlichen Editoren nach und nach immer weiter zurückverlegt: vom Bukarester Frieden (1913) über die bosnische Annexionskrise (1908/09), die deutsch-britischen Verständigungsversuche um 1900, der Begründung des Zweibundes (1879) bis endlich zurück zum Versailler und Frankfurter Frieden und zur Reichsgründung von 187116. Eingehendes Aktenstudium, bemerkte Thimme in einer im Sommer 1922 zur Publikation der ersten sechs Bände gehaltenen Ansprache, habe die Herausgeber zu der Einsicht geführt, „daß die Gesamtpublikation bis zu den ersten Anfängen des deutschen Kaisertums ausgedehnt werden müsse. Dafür sprach nicht zuletzt auch, daß in der französischen Publizistik der letzten Jahre immer deutlicher die Tendenz zutage getreten ist, unsere Schuld am Weltkriege schon von jenem ersten Versailler Frieden von 1871 und weiterhin von Bismarcks angeblichem Streben nach Hegemonie und Weltherrschaft abzuleiten“. Daher seien die drei Herausgeber – er selbst, Mendelssohn Bartholdy und Lepsius – seit dem Frühjahr 1921 zu der Auffassung gelangt, „daß die Aktenpublikation die ganze Epoche des deutschen Kaisertums von 1871 bis 1914 umfassen müsse“ 17, selbst wenn dies eine enorme Ausdehnung des zuerst vorgesehenen Umfangs bedeute. Im Vorwort zum 1922 publizierten ersten Band der „Großen Politik“ hieß es ausdrücklich, dass die drei Herausgeber „für die gesamte Anlage und Durchführung der Publikation . . . gemeinsam die Verantwortung“ 18 trügen – d. h. nicht etwa das Auswärtige Amt oder eine andere staatliche Institution! Die Bearbeitung des immensen Materials hatte man sich dahingehend aufgeteilt, dass Mendelssohn Bartholdy die deutsch-britischen Beziehungen und die Haager Friedenskonferenzen bearbeiten sollte, während Lepsius für „die Gesamtheit der Ostfragen: Rußland, Österreich-Ungarn, Balkan, Türkei“ und Thimme schließlich für die deutsch-französischen Beziehungen, die Angelegenheiten des Zweibunds, der Triple-Entente sowie „die Ostasiatischen Fragen“ zuständig sein sollte. Zudem

S. 358 f. Auf die Bedeutung gerade dieser in der „Mantelnote“ enthaltenen ungeheuerlichen Vorwürfe für die zeitlich und thematisch umfangreichere Ausgestaltung des Editionsprojekts hat 1937 im Rückblick auch Thimme noch einmal hingewiesen, Thimme, Friedrich: „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914“. Persönliche Erinnerungen, in: Berliner Monatshefte, 15, 1937, S. 215–223, hier S. 217 f. 16 Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 59. 17 Die Zitate: Thimme, Friedrich: Die Aktenpublikation des Auswärtigen Amts. Ansprache, gehalten am 13. Juni 1922, in: Preußische Jahrbücher, 189, 1922, S. 69–78, hier S. 73. 18 Die Große Politik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. XII.

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fiel Thimme, wie es hier ebenfalls hieß, „die gesamte abschließende Bearbeitung der ausgewählten Akten bis zur Erteilung der Druckerlaubnis“ zu19. Trotz dieser weiten zeitlichen und thematischen Ausdehnung der Edition und trotz zusätzlicher Hindernisse konnte das Unternehmen rasch vorangebracht werden. Das erscheint im Nachhinein als umso erstaunlicher, als schon seit Anfang 1921, wie Thimme an Mendelssohn Bartholdy nach Hamburg berichtete, „erhebliche Störungen durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuß“ auftraten, „der durch Sachverständige und deren Hilfsarbeiter ursprünglich tief in unsere Aktenbestände hineingreifen, jetzt sich im wesentlichen mit Exposés von unserer Hand begnügen will, die immerhin recht zeitraubend sein werden“ 20. Und weitere Schwierigkeiten ergaben sich, als der dritte Mitarbeiter, eben Lepsius, durch seine ausgesprochen eigenwillige Arbeits- und Darstellungsweise das Bemühen um politische Ausgewogenheit der Publikation – etwa in den Teilen der „Großen Politik“, in denen die Türkeipolitik des Reiches behandelt wurde – in Frage stellte21. Freilich löste sich dieses Problem durch Lepsius’ baldiges Ausscheiden aus dem Herausgeberkreis; seit Anfang 1922 stand Thimme (trotz weiterer formaler Gleichberechtigung der Herausgeber) faktisch als alleiniger Leiter dem Projekt vor, und zwar bis zum Abschluss der Arbeiten im Jahr 192722. Er sammelte bald eine kleine Gruppe von noch jungen und wissenschaftlich zwar wenig erfahrenen, dafür aber hochmotivierten und besonders fähigen Mitarbeitern um sich, zu denen u. a. der junge Felix Gilbert gehörte, der später sehr anschaulich über die gemeinsame Zeit im Auswärtigen Amt berichtet hat23. Die unumgängliche enge Verbindung mit dem Auswärtigen Amt, die man eigentlich zu kaschieren versuchte – so blieb Thimme offiziell stets als Bibliotheksdirektor am Preußischen Landtag tätig, obwohl er ausschließlich in der Wilhelmstraße arbeitete und vom Amt auch bezahlt wurde24 –, schuf indessen weitere Probleme und Reibungsflächen. Denn das seit Kriegsende bestehende geheime „Kriegsschuldreferat“ innerhalb des Amtes, dessen Hauptaufgabe darin bestand, mit Hilfe großzügig zugewiesener Geldmittel eine ausgedehnte natio19

Alle Zitate: ebd. Bd. 1, S. XII–XIII. Thimme an Mendelssohn Bartholdy, 11. Januar 1921, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 202 (Nr. 119). Zu dem seit Sommer 1919 tagenden, noch von der Weimarer Nationalversammlung eingesetzten Untersuchungsausschuss siehe Fischer-Baling, Eugen: Der Untersuchungsausschuß für die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges, in: Herrmann, Alfred (Hrsg.): Aus Geschichte und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergsträsser, Düsseldorf 1954, S. 117–137. 21 Dazu die aufschlussreichen Briefe Thimmes an Mendelssohn Bartholdy vom 16. und 25. Juni 1922, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 208– 211 (Nrn. 124–125). 22 Heinemann: Die verdrängte Niederlage (wie Anm. 5), S. 80 f. 23 Gilbert, Felix: Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905–1945, Berlin 1989, S. 58 ff. 24 Heinemann: Die verdrängte Niederlage (wie Anm. 5), S. 81. 20

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nale wie nach Möglichkeit auch internationale Propagandatätigkeit gegen die alliierte „Kriegsschuldlüge“ zu entfalten25, versuchte auf den Inhalt der Publikation immer wieder im politischen Sinne Einfluss zu nehmen. Thimme hat zwar auch nach Abschluss der Arbeiten an der Edition immer wieder betont, die Herausgeber hätten sich niemals „zu einer den wissenschaftlichen Charakter des Werkes irgend beeinträchtigenden apologetischen Tendenz zugunsten Deutschlands bekennen wollen, die wir vielmehr immer mit der größten Entschiedenheit von uns gewiesen haben“ 26, doch insgesamt lässt sich, dies hat auch noch die neueste Forschung hervorgehoben, kaum bestreiten, „dass das Auswärtige Amt Steuerung, Kontrolle und Zensur von Akteneditionen ausübte und erst bei zufriedenstellenden Resultaten das placet zum Imprimatur gab“ 27. Eine eigentliche Verfälschung der Quellen war damit jedoch nicht verbunden – dies hätte der von einem tiefen wissenschaftlichen Ethos erfüllte Thimme wohl kaum zugelassen –, allerdings gelegentliche Kürzungen sowie hier und dort auch die Fortlassung einiger bestimmter, offenkundig als allzu „heikel“ angesehener Dokumente. III. Gelegentlich musste auch Thimme feststellen, dass er seitens der Verantwortlichen im Auswärtigen Amt nicht immer sofort und auch nicht immer umfassend über bestimmte, als streng geheim eingestufte Vorgänge und Tatbestände informiert wurde. Allerdings ist, was dieses Problem anbetrifft, aus den Quellen nur die etwas brisante Angelegenheit der im Amt vorhandenen und lange Zeit streng sekretierten geheimen Korrespondenzen und Aufzeichnungen des russischen Staatsmanns und früheren Außenministers Alexander Iswolski bekannt geworden, über deren Herkunft sich Thimme, wie er selbst es ausdrückte, seitens des Amts „ein wenig hinters Licht“ geführt fühlte28. Die sog. Iswolski-Papiere wurden von einem weiteren editorischen Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, Friedrich Stieve, in einer vierbändigen deutschen Ausgabe im Jahr 1924 veröffentlicht29; sie wa25 Dazu siehe die aufschlussreiche Aufzeichnung des Staatssekretärs von Schubert über die Tätigkeit des „Schuldreferats“ vom 26. April 1921, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik (künftig: ADAP), Serie A, Bd. 4, S. 526–528; auch Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 64 ff.; Heinemann: Die verdrängte Niederlage (wie Anm. 5), S. 78 ff.; Geiss, Imanuel: Die Kriegsschuldfrage – das Ende eines Tabus, in: Geiss, Imanuel: Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, München 1978, S. 204–229. 26 Thimme, Friedrich: Die Auswertung der Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes für die Kriegsschuldfrage, in: Die Kriegsschuldfrage, 5, 1927, S. 387–395, hier S. 388. 27 Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 67. 28 Thimme an Mendelssohn Bartholdy, 27. Juli 1924, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 230 f. (Nr. 140), hier S. 231. 29 Stieve, Friedrich (Hrsg.): Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911–1914. Aus den Geheimakten der Russischen Staatsarchive. Im Auftrag des Deutschen Auswärtigen Amtes in deutscher Übersetzung, Bände 1–4, Berlin 1924.

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ren, wie sich herausstellte, durch Bestechung und einen Geheimnisverrat der russischen Seite seit 1911 in deutsche Hand geraten und vom Auswärtigen Amt, wie Thimme mitteilte, „stets als höchstes Geheimnis behandelt worden“ 30; er selbst erfuhr hierdurch erst durch eine Publikation Ernst Jäckhs zu Leben und Werk des früheren deutschen Außenpolitikers und Staatssekretärs Alfred von KiderlenWächter. Überhaupt waren es die zeitgleich erscheinenden, nicht selten konkurrierenden Publikationen oder auch Erinnerungsschriften mehrerer deutscher Politiker und Diplomaten der Vorkriegszeit, mit denen sich Friedrich Thimme während der gesamten Zeit seiner Editorentätigkeit zumeist sehr kritisch auseinanderzusetzen hatte. Das begann mit den schon kurz nach Kriegsende erschienenen Memoiren des früheren kaiserlichen Diplomaten Hermann von Eckardstein31, der – so die Einschätzung Thimmes – das äußerst komplexe Problem der deutsch-britischen Beziehungen um 1900 „durch eine sehr einseitige Auswahl von Schriftstücken und einen noch einseitigeren Kommentar in eine für Deutschland ungünstige Beleuchtung gerückt“ 32 hatte. Besonders heftig fiel einige Jahre später Thimmes Auseinandersetzung mit einem Dokumentenband aus, den der frühere Großadmiral und Staatssekretär Alfred von Tirpitz im Jahr 1924 herausbrachte – mit dem recht durchsichtigen Motiv der Rechtfertigung der eigenen, bekanntlich höchst umstrittenen Vorkriegspolitik33. Die Publikation der hierin enthaltenen Texte – es handelt sich vielfach um amtliche Dokumente aus dem früheren Reichsmarineamt, dem Tirpitz vorgestanden hatte – war weder mit dem Auswärtigen Amt, noch mit einer anderen Behörde abgesprochen; jedenfalls stand rasch fest, dass der frühere Staatssekretär zur Publikation dieser Dokumente in keiner Weise befugt gewesen war34. Thimme beantwortete das Vorgehen Tirpitz’ mit einer von ihm selbst gestarteten heftigen Pressekampagne, die allerdings keineswegs nur wissenschaftlich, sondern explizit auch politisch motiviert war35. Der Historiker griff den ehemali30 Thimme an Mendelssohn Bartholdy, 27. Juli 1924, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 230 f. (Nr. 140), hier S. 231. 31 Eckardstein, Hermann von: Lebenserinnerungen und politische Denkwürdigkeiten, Bände 1–3, Leipzig 1919–1921. 32 ADAP, A 11, S. 52 (Nr. 22), Friedrich Thimme an Otto Hoetzsch, 11. August 1924. 33 Tirpitz, Alfred von: Politische Dokumente. Der Aufbau der deutschen Weltmacht, Stuttgart u. Berlin 1924. 34 Siehe hierzu auch die aufschlussreiche Aufzeichnung Friedrich Stieves vom 11. November 1924, in: ADAP, A 11, S. 391–393 (Nr. 157). 35 Hierzu siehe vor allem Thimme, Annelise: Der „Fall Tirpitz“ als Fall der Weimarer Republik, in: Geiss, Imanuel/Wendt, Bernd Jürgen (Hrsg.): Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1974, S. 463–482; knapper Thimme, Annelise: Biographische Einführung, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868– 1938 (wie Anm. 10), S. 52 ff.

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gen Großadmiral, der eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des wilhelminischen Reichs gewesen war, mit äußerster Schärfe öffentlich an; im Grunde nahm er die von Tirpitz publizierte Dokumentenedition, die als solche in der Tat ausgesprochen problematisch war, nur zum Anlass, um auch politisch gegen ihn vorgehen zu können. Thimme verabscheute Tirpitz nicht nur als einen der Totengräber des alten Deutschland, als einen, wie er sich ausdrückte, „der verlogensten, unehrlichsten und feigsten Gesellen, die es gibt“ 36, sondern ebenfalls als den wohl entschiedensten und gefährlichsten Widersacher des von ihm selbst noch immer hoch verehrten, inzwischen verstorbenen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg. Vor allem aber verstand Thimme seinen auch für einen so versierten Polemiker, wie er es war, ungewöhnlich scharfen Angriff als genuin politische Aktion, wie er in einem Brief an Mendelssohn Bartholdy vom Dezember 1924 klar bekannte: „Das eigentliche Ziel meines Angriffs auf Tirpitz: ihn für immer als Kanzler- oder Reichspräsidentschaftskandidat auszuschalten und dadurch die Gefahr seiner Beeinflussung der Außenpolitik zu beseitigen, dürfte . . . glatt erreicht sein“ 37. Diese Aktion, die zeigt, dass Thimme seinem Amt als wissenschaftlicher Editor auch immer eine genuin politische Aufgabe beimaß, brachte gleichwohl einige Gefahrenmomente für den Historiker mit sich, denn Tirpitz besaß immer noch einen nicht unbedeutenden politischen Einfluss – und erfreute sich zudem als Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei parlamentarischer Immunität. Immerhin dürfte Gustav Stresemann, der in dieser Zeit bereits als Außenminister amtierte, gerade diese politische Aktion Thimmes keineswegs ohne Wohlwollen betrachtet haben. Auch ein anderer hoher Ex-Politiker des Kaiserreichs, der frühere Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow, zeigte sich durch die Editorentätigkeit Thimmes und seiner Mitstreiter sehr bald schon recht beunruhigt – und er hatte hierzu, wie sich wenige Jahre später zeigen sollte, auch allen Grund. Freilich ging er zuerst sehr viel geschickter vor als Tirpitz, indem er den persönlichen Kontakt zu Thimme suchte. Im Juli 12925 empfing der Fürst den Editor im Berliner „Hotel Adlon“, um diesem seine Besorgnisse hinsichtlich bestimmter, strikt vertraulicher Dokumente der deutschen Vorkriegspolitik anzuvertrauen. Wie es schien, ging es dem Exkanzler vordringlich darum, bestimmte noch lebende „deutschfreundliche“ italienische Staatsmänner zu schützen, die sich während Bülows Botschafterzeit in Rom in den Jahren 1914/15 dem später erfolgten Kriegseintritt Italiens widersetzt hätten und deren politischer Ruf aus diesem Grund durch unbedachte Enthüllungen auch in der Gegenwart noch geschädigt werden könnte. Thimme beruhigte den alten Mann mit der Mitteilung, das Amt habe niemals in Betracht

36 Thimme an Luise Thimme, 14. Dezember 1924, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 239 (Nr. 146). 37 Thimme an Mendelssohn Bartholdy, 9. Dezember 1924, in: ebd. S. 237 f. (Nr. 145), hier S. 238.

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gezogen, „irgend etwas zu veröffentlichen, was mit der Mission des Fürsten zusammenhänge“; außerdem ende die Publikation mit der Julikrise des Jahres 191438. Bereits einige Monate vorher hatte (der in Rom seinen Lebensabend verbringende und immer noch über mannigfache Kontakte verfügende) Bülow einen ähnlichen Vorstoß beim Amt selbst, und zwar über den deutschen Botschafter in Rom, Konstantin von Neurath, unternommen39. Der eigentliche Grund für diese merkwürdigen Aktivitäten scheint jedoch ein anderer gewesen zu sein. Bülow arbeitete in diesen Jahren an seinen – bald darauf posthum veröffentlichten – Memoiren, und ihm scheint es vorrangig darum gegangen zu sein, vertrauliche Informationen über den Stand der Arbeiten, vor allem auch über die Edition der Quellen zur Außenpolitik seiner eigenen Kanzlerzeit (1900–1909) zu erhalten, was ihm offenkundig nicht gelungen ist. Wie Bülow über Thimme dachte, hat er im 1931 erschienenen dritten Band seiner „Denkwürdigkeiten“ festgehalten: Thimme sei eine der beiden „politisch naivsten Menschen, die mir in meinem langen Leben vorgekommen sind“; er, Bülow, habe dem Historiker in seinem Gespräch vollkommen vergeblich auseinandergesetzt, „daß durch die allzu weit gehende Gründlichkeit und Ehrlichkeit seiner Publikationen unseren ohnehin nach unserer Niederlage unter schwierigen Verhältnissen tätigen Auslandvertretern ihre Arbeit erheblich erschwert würde“ 40. Und Thimme wiederum hat sich auch noch nach dem Ende seiner Editorentätigkeit für das Auswärtige Amt nicht gescheut, Bülows „Denkwürdigkeiten“ 41, als sie 1930/31 schließlich vollständig in vier Bänden vorlagen, als ein von Ungenauigkeiten, falschen Darstellungen und Verleumdungen durchsetztes, übles politisches Machwerk zu entlarven42.

38 Vertraulicher Bericht Thimmes über sein Berliner Zusammentreffen mit Bülow an das Schuldreferat des Auswärtigen Amtes, 20. Juli 1925, in: ebd. S. 264–267 (Nr. 162), hier S. 264. 39 Thimme an Mendelssohn Bartholdy, 28. 2. 1925, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 250 f. (Nr. 150), sowie ADAP, A 12, S. 242, Anm. 1, 3 zu Dok. Nr. 101. 40 Stockhammern, Franz von (Hrsg.): Bernhard von Bülow. Denkwürdigkeiten, Band 3: Weltkrieg und Zusammenbruch, Berlin 1931, S. 318 f. 41 Zur Entstehung, Bedeutung und Rezeption siehe die grundlegende Studie von Gaertringen, Friedrich Hiller von: Fürst Bülows Denkwürdigkeiten. Untersuchungen zu ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Kritik (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, 5), Tübingen 1956, sowie die Hinweise bei Kraus, Hans-Christof: Von Hohenlohe zu Papen. Bemerkungen zu den Memoiren deutscher Reichskanzler zwischen der wilhelminischen Ära und dem Ende der Weimarer Republik, in: Bosbach, Franz/Brechtken, Magnus (Hrsg.): Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive, München 2005, S. 87–112, hier S. 92 ff. 42 Thimme, Friedrich (Hrsg.): Front wider Bülow. Staatsmänner, Diplomaten und Forscher zu seinen Denkwürdigkeiten, München 1931.

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IV. Noch zwei weitere Aspekte der Geschichte der Erarbeitung und Publikation der „Großen Politik der Europäischen Kabinette“ seit 1920 zeigen, wie stark die Politik in dieses Unternehmen letztlich eben doch verwickelt war. Schon bevor die ersten Bände das Licht der Welt erblickt hatten – sie wurden im Sommer 1922 der Öffentlichkeit vorgestellt –, waren Vertreter der wichtigsten im Reichstag vertretenen Parteien mit der Erstellung von Gutachten über die Bände beauftragt worden – nicht zuletzt um eine, wie es hieß, „einseitige parteitendenziöse Beurteilung der Publikation unter rein innerpolitischen Gesichtspunkten“ 43 zu vermeiden. Mit anderen Worten: Die Edition sollte unter keinen Umständen zu einem Zankapfel der deutschen Parteien mutieren; innenpolitische Auseinandersetzungen hierüber sollten unbedingt vermieden werden, um die erhoffte Außenwirkung möglich nicht zu gefährden. Seitens der Reichsregierung bzw. des Auswärtigen Amts wurden deshalb drei Gutachten über die ersten Bände zur Bismarckzeit angefordert: von dem angesehenen Historiker Otto Hoetzsch, Professor für Geschichte Osteuropas an der Berliner Universität und Abgeordneter der DNVP, sodann von dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Max Quarck sowie von dem linksliberalen, der DDP angehörigen Historiker und Privatdozenten Veit Valentin. Ohne die Qualitäten der Edition und die Arbeitsleistung gering zu achten, übten alle drei Gutachter inhaltliche und formale Kritik, die von den Editoren keineswegs ignoriert werden durfte. Welche Bedeutung diesen „politischen“ Gutachtern zukam, zeigte sich auch darin, dass alle drei – sowie noch zusätzlich als Vertreter des Zentrums der Prälat, Professor und Reichstagsabgeordnete Georg Schreiber – neben Reichsaußenminister Walther Rathenau kurze Einführungsvorträge bei der Vorstellung der ersten Bände halten durften44. Das bedeutete: Die Editoren, allen voran Friedrich Thimme, hatten bei ihrer Tätigkeit nicht zuletzt innenpolitische Rücksichten zu nehmen. Vor allem die Stellungnahmen von Otto Hoetzsch, der nicht nur ein wissenschaftlich vielfach ausgewiesener Fachhistoriker, sondern auch Reichstagsabgeordneter und publizistisch höchst aktiver politischer Kommentator des Tagesgeschehens mit mancherlei Verbindungen war45, mussten ernstgenommen werden. Thimme scheint Einwände von Hoetzsch auch deshalb besonders gefürchtet zu haben, weil dieser ein Partei- und Fraktionsgenosse des von Thimme im Jahr 1924 scharf angegriffenen Tirpitz war, – doch der einflussreiche Berliner Professor und Abgeordnete war 43 Zitiert aus den Akten bei Heinemann: Die verdrängte Niederlage (wie Anm. 5), S. 85. 44 Hierzu die Darstellung ebd. S. 85 f. (mit S. 292). 45 Die eingehende und quellenfundierte Darstellung von Voigt, Gerd: Otto Hoetzsch 1876–1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, 21), Berlin (-Ost) 1978, bes. S. 122 ff.

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klug genug, sich nicht in die bedenklichen Umtriebe seines in der Tat höchst umstrittenen Fraktionskollegen einzulassen. Im August 1924 schrieb Hoetzsch an Thimme, innerhalb seiner Partei, der DNVP, habe sich „nirgends der Wunsch und die Anregung bemerkbar gemacht . . ., die Aktenpublikation . . . möchte eingestellt werden“. Freilich äußerte er entschiedene Bedenken „gegen die große Breite, in die die Aktenpublikation kommt“; größere Partien hieraus zu bestimmten Spezialthemen könnten nach seiner Auffassung eigentlich fortbleiben, da es doch in erster Linie „auf die Heraushebung des Wesentlichen im Hinblick auf das bekannte Ziel“ ankomme, nämlich „durch die Veröffentlichung der Akten . . . die deutsche Friedenspolitik erkennbar zu machen“ 46. Diesen Einwand von ebenso wissenschaftlich kundiger wie politisch einflussreicher Seite musste Thimme sehr ernst nehmen, und tatsächlich hat er sich selten über die eigentliche Motivation für die ungewöhnliche – damals einzigartige – Vollständigkeit und Breite der von ihm unternommenen Quellenpräsentation so klar geäußert wie in seinem umfangreichen Antwortschreiben an Hoetzsch47 (das aus diesem Grund hier etwas ausführlicher zitiert sei): Er habe, so Thimme, gerade aus seinem inzwischen mehrjährigen, sehr eingehenden Aktenstudium in wachsenden Maße die Überzeugung gewonnen, „daß sowohl in historisch-wissenschaftlicher wie in außenpolitischer Beziehung der größtmögliche Nutzen gerade bei und infolge der Ausführlichkeit der Publikation erreicht“ 48 werde. Besonders „der außenpolitische Nutzeffekt der Aktenpublikation“, bemerkte er weiter, scheine ihm ganz wesentlich vor allem durch die große Masse des hier präsentierten Materials bedingt zu sein: „Gerade daß die deutsche Regierung den Schleier von ihrer gesamten Außenpolitik fortzieht und alles aufdeckt, nicht bloß die Hauptkammer der eigentlichen Bündnispolitik, sondern auch die Nebenkammern jener in die Ferne greifenden politischen Fragen und Probleme, die doch wieder die Bündnispolitik hüben und drüben aufs Nachhaltigste beeinflußt haben, hat jenen starken Eindruck besonders in den angelsächsischen Ländern hervorgerufen, den wir bereits als einen starken Faktor zu unseren Gunsten einstellen können. Durch die Ausführlichkeit und Vollständigkeit unserer Aktenauswahl schlagen wir den sonst so sicher zu erwartenden Einwand einer tendenziösen Auswahl a priori glatt zu Boden. Und wenn unsere Gegner . . . sich auf die Dauer der Nachahmung unseres Beispiels und Vorbildes in der Öffnung der Archive nicht entziehen können, so werden wir doch in der Ausführlichkeit und Vollständigkeit unserer Publikation, die unsere Gegner einfach gar nicht nachahmen kön46 Hoetzsch an Thimme, 5. August 1924, im Auszug abgedruckt in: ADAP, A 11, S. 51, Anm. 2. 47 Thimme an Hoetzsch, 11. August 1924, in: ebd. S. 51–53 (Nr. 22). 48 Ebd. S. 52; zur Frage des Umfangs der Edition ebenfalls bereits die Bemerkungen in Thimmes Promemoria für Mendelssohn Bartholdy vom 15. Dezember 1923, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 220–223 (Nr. 133), bes. 221 ff.

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nen, weil sie an allen Ecken und Enden zu verschweigen haben, einen ganz großen Trumpf in den Händen behalten“ 49. Hierbei handelte es sich durchaus nicht lediglich um ein vorgeschobenes Argument, um Hoetzsch und anderen Kritiker, die aus verschiedenen Gründen am Umfang der Publikation Anstoß nahmen, den Wind aus den Segeln zu nehmen, sondern man wird davon ausgehen können, dass die von Thimme hier beschriebenen genuin politischen Wirkungen gerade des extraordinären Umfangs der Ausgabe durchaus beabsichtigt waren; es ging also keineswegs nur um die Bereitstellung eines möglichst ausführlichen Quellenmaterials für die historische Forschung. Die Masse war es, die vor allem Eindruck machen sollte, im Inland ebenso wie im ehemals feindlichen Ausland, und diese Auffassung wurde nicht nur von Thimme, sondern auch von dem Mitherausgeber Mendelssohn Bartholdy ausdrücklich geteilt50. Die Rücksichtnahme auf innen- und parteipolitische Empfindlichkeiten war lediglich ein Aspekt unter mehreren anderen. Aber es gab ebenfalls noch eine außenpolitische, keineswegs nur den Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“ betreffende, sondern unmittelbar wirksame Dimension der Quellenpublikation. Denn durch die unmittelbare zeitliche Nähe der Edition der „Großen Politik“ zu den Ereignissen der Vorkriegszeit – die letzten Bände, in denen die Vorkriegsjahre 1909 bis 1914 behandelt wurden, erschienen 1927, also nur etwa eineinhalb Jahrzehnte nach den hier dargestellten Ereignissen! – entstanden gewisse Probleme für die deutsche Diplomatie der Weimarer Republik. Bereits im Oktober 1924 hatte die japanische Regierung Bedenken wegen einer Publikation vertraulicher (und möglicherweise noch immer brisanter) Dokumente zur Ostasienpolitik vor dem Krieg angemeldet51. Auf Tokio musste, gerade angesichts der restriktiven Arbeitsbedingungen und der entsprechend begrenzten Wirkungsmöglichkeiten der deutschen Nachkriegsdiplomatie, ebenso Rücksicht genommen werden wie auf Italien, dessen Regierung im Februar 1925 ebenfalls ihr Befremden über bestimmte Aspekte der Edition artikulierte; angeblich sollte sich, einem Bericht von Neuraths zufolge, sogar Mussolini persönlich über die Veröffentlichung be-

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Thimme an Hoetzsch, 11. August 1924, in: ADAP, A 11, S. 53. Bartholdy, Albrecht Mendelssohn: Kleine Missverständnisse über eine große Publikation, in: Europäische Gespräche, 7, 1926, S. 377–390, hier S. 387: Die Herausgeber der „Großen Politik“ seien, bemerkt der Jurist hier, sich der Tatsache durchaus bewusst, dass sie ihre Edition „nicht geduldig wie ein feines Mosaik zusammensetzen könnten, sondern es hinausschleudern müßten als einen ungefügen Block, noch ehe unser Volk und die Welt wieder zur Gleichgültigkeit des alten Vorkriegsganges zurückgekehrt wäre. Denn unsere Urkundensammlung will ja nicht der Vergangenheit dienen, sondern der Zukunft“. 51 Siehe dazu die Hinweise in: ADAP, A 11, S. 301, Anm. 2, sowie bei Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 74. 50

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stimmter Dokumente beschwert haben52. Immerhin – und diese Tatsache galt als besonders heikel – regierte im Land noch immer König Viktor Emanuel III., der Italien 1915 in den Krieg gegen Deutschland und die übrigen Mittelmächte geführt hatte und der bereits vor dem Kriegsausbruch von 1914 in Berlin und Wien nicht unbedingt als besonders treuer Bundesgenosse gegolten hatte; unerfreuliche Äußerungen über diesen Monarchen waren in den Akten daher mehr als genug zu finden. Thimme verteidigte seine Arbeitsweise in einer streng geheimen Aufzeichnung für das Schuldreferat53 entschieden – und gab dabei allerdings auch zu, dass er im Rahmen seiner bisherigen Arbeit an den Dokumenten bereits mehr als einmal entsprechende Rücksichten auf aktuelle außenpolitische Belange genommen habe: Zwar sei „vom Standpunkt der Aktenpublikation aus zu bemerken, daß die Fortlassung aller abfälligen Äußerungen italienischer Staatsmänner über ihre Vorgänger und Kollegen und ebenso die Fortlassung aller kritischen Urteile unserer Vertreter in Rom über die italienischen Staatsmänner“ schon angesichts des für das Deutsche Reich höchst unerfreulichen Doppelspiels der italienischen Vorkriegspolitik „einfach unmöglich“, doch könne man ohne Not in den einschlägigen Akten „noch weit schärfere Auslassungen“ deutscher Spitzenpolitiker, inklusive des Kaisers, „über den italienischen König, die italienischen Staatsmänner und das italienische Volk“ finden als in den bisher publizierten Dokumenten. Er, Thimme, selbst dürfe für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, „gerade hier die Auswahl der Schriftstücke mit besonderer Sorgfalt und Vorsicht unter Auslassung möglichst alles dessen vorgenommen“ zu haben, „was wirklichen Anlaß zur Empfindlichkeit in Italien geben konnte“ 54. Diese Thimmes Charakter und Eigenart entsprechende, also sehr offene und drastische schriftliche Begründung seines in diesem Fall eindeutig politisch motivierten, daher genuin unwissenschaftlichen Vorgehens wurde von Mendelssohn Bartholdy kurz darauf sehr deutlich kritisiert: Gerade wenn es darauf ankomme, „die Ehrlichkeitswirkung der ganzen Publikation“ sicherzustellen, dürfte keinerlei Nachricht über Thimmes offenkundige „Siebung“ der römischen Akten an die Öffentlichkeit gelangen; Thimmes Denkschrift müsse deshalb, so der Jurist, unter 52 Auszug aus einem Telegramm Botschafter von Neuraths an das Auswärtige Amt vom 16. Februar 1925, in: ADAP, A 12, S. 242, Anm. 1. 53 Aufzeichnung Thimmes vom 18. Februar 1925, in: ADAP, A 12, S. 242–245 (Nr. 101), ebenfalls abgedruckt in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 246–248 (Nr. 148A). 54 ADAP, A 12, S. 243; Thimme fügte noch an, bestimmte diplomatische Berichte des Grafen Anton von Monts (bis 1909 deutscher Botschafter in Rom), seien, ungeachtet ihrer historischen Bedeutung, „trotz schwerer Bedenken fortgelassen worden, weil sie eben gar zu schneidende Urteile über die Unzuverlässigkeit der italienischen Politik und des italienischen Charakters enthalten. Ebenfalls sind fast sämtliche Äußerungen des Kaisers über den König von Italien, die oft höchst drastisch und despektierlich sind, unterdrückt worden, gelegentlich selbst mitten im Texte“, ebd. S. 243.

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allerstrengstem Verschluss bleiben, besser noch vernichtet werden55. Der Berliner Editionskollege konnte seinen Hamburger Kompagnon jedoch durch seine Antwort weitgehend beruhigen: Es sei „durch die angewandten argumenta ad homines diplomatica“ seiner Denkschrift „eine schwere Gefahr für die Publikation“ sicher abgewehrt worden – dies allein sei Zweck der Übung gewesen. Im Übrigen sei man sich, so Thimme weiter, doch sicher darin einig, „ohne von der Linie der Wahrheit und Ehrlichkeit irgend abzuweichen, doch gewisse Rücksichten, z. B. auf die Neutralen, nehmen“ zu wollen und aus diesem Grund „nicht ohne Not und Zwang Urteile“ zu bringen, „die ganze Völker kränken müssen“. Er selbst habe auch an anderer Stelle bestimmte Dokumente „lieber nicht aufgenommen, die, ohne zur Feststellung der tatsächlichen Wahrheit in Kriegs- und Friedensfragen etwas beizutragen, das englische oder französische Volk verletzen müssen“ 56. Und noch anhand eines weiteren Beispiels lassen sich spezifische „Rücksichtnahmen“ Thimmes, die unzweideutig politisch motiviert waren, nachweisen. Ausweislich eines (im Original offenbar nicht publizierten, nur in auszugsweiser englischer Übersetzung bisher bekannt gewordenen) Briefes an seinen Kollegen Otto Becker vom 27. Dezember 1928 soll Thimme zugegeben haben, mit Rücksicht auf die Empfindungen der Österreicher und auf die für die Weimarer Außenpolitiker höchst brisante „Anschlussfrage“ bestimmte hypothetische Überlegungen des Fürsten Bülow aus dem Jahr 1905 über eine eventuelle Aufteilung des Erbes der Habsburgermonarchie nach dem Tod des regierenden Kaisers Franz Joseph von der Publikation ausgeschlossen zu haben57. Diese Beispiele erweisen nur, was zu jener Zeit im Grunde auch nicht anders zu erwarten war: Tatsächlich konnten – und wollten – die Editoren nicht „die ganze Wahrheit“ präsentieren, trotz mancher vollmundigen Ankündigung, etwa in der (bereits zitierten) Vorrede zum ersten Band der „Großen Politik“ und trotz der Berufung sogar auf „das Weltgewissen“ 58. Nicht nur das Auswärtige Amt griff, wie man heute sicher weiß, gelegentlich ein, sondern auch die Herausgeber selbst haben sich, wenngleich nur gelegentlich, wie treffend formuliert wurde, „aus politischen Überlegungen unter eine patriotisch inspirierte antizipierende Selbstzensur“ gestellt59. 55 Teildruck des Briefes von Mendelssohn Bartholdy an Thimme vom 25. Februar 1925 bei Schleier: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 149 f.; dazu auch Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 74 f. 56 Thimme an Mendelssohn Bartholdy, 28. Februar 1925, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 250 f. (Nr. 150), hier S. 250. 57 Hierzu (mit weiteren Angaben) Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 72 f., bes. Anm. 223. 58 So ausdrücklich Thimme: Die Aktenpublikation des Auswärtigen Amts (wie Anm. 17), S. 69. 59 Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 72; gleiches Urteil bei Herwig, Holger H.: Clio Deceived: Patriotic Self-Censorship in Germany after the Great War,

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V. Schon 1927 konnten die Hauptarbeiten an der „Großen Politik der Europäischen Kabinette“ abgeschlossen werden; inzwischen lagen der Öffentlichkeit nicht weniger als 54 eindrucksvolle und materialreiche, in einem Zeitraum von nur fünf Jahren erschienene Dokumentenbände vor. Im Rahmen einer kleinen Feier im Auswärtigen Amt wurde Thimme am 26. Februar 1927 für seine Editionsarbeiten der Dank der Reichsregierung ausgesprochen; er erhielt von Staatssekretär von Schubert eine Plakette mit der Inschrift „Sieg oder Unsieg steht in Gottes Hand, der Ehre sind wir selber Herr und König“ überreicht60. Die Anregung zu diesem Geschenk ging wohl auf Gustav Stresemann persönlich zurück, dem Thimme – da der Minister aus dienstlichen Gründen an der Feier nicht hatte teilnehmen können – anschließend brieflich seinen Dank aussprach; er selbst habe sich, hieß es darin, nach besten Kräften bemüht, „die große Konzeption des Reichskabinetts“ zu verwirklichen, „einen Wahrheitsbeweis allergrößten Stiles für Deutschlands Friedensliebe zu führen“ 61. Und Stresemann wiederum dankte Thimme ebenfalls noch einmal brieflich für den von diesem und seinen Mitarbeitern geleisteten Beitrag zur „Aufklärungsarbeit“ im Kampf gegen den „grausamen Friedensvertrag“ und dessen Behauptung einer vermeintlichen alleinigen deutschen Kriegsschuld. Freilich gab sich der Minister dabei hinsichtlich der möglichen unmittelbaren Wirkungen der soeben vollendeten Aktenpublikation keinerlei Illusionen hin62. Friedrich Thimme war mit seinem Werk im Großen und Ganzen (sicher auch im Bewusstsein von dessen partiellen Mängeln, die er wohl am besten kannte) zufrieden, und er hat es auch später verteidigt. Schon die zeitgenössische Kritik störte sich an der in der Tat ungewöhnlichen und seinerzeit neuen Vorgehensweise der Herausgeber, die darin bestand, die zum Druck gebrachten ausgewählin: Wilson, Keith (Hrsg.), Collective Memory. Government and International Historians Through Two World Wars, Providence u. Oxford 1996, S. 87–127. 60 Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 290, Anm. 112. 61 Thimme an Stresemann, 5. März 1927, in: ebd. S. 290 (Nr. 182). 62 Stresemann an Thimme, 29. März 1927, in: ADAP, B 5, S. 96 f. (Nr. 40), hier S. 97: „Wir werden den Kampf um die deutsche Ehre nicht durch tönende Resolutionen und durch ein fortgesetztes Betonen deutscher Würde zu Ende führen, sondern durch sachliche Aufklärungsarbeit, die schließlich die Menschen zwingen wird, das zurückzunehmen, was sie gegen unsere Ehre gefrevelt haben. Ich bin viel zu realpolitisch eingestellt, um zu glauben, daß das durch einen formellen Staatsakt jemals geschehen könnte. Was alle Nationen, die gegen uns im Kampfe lagen, zuerst in den Friedensvertrag hineingeschrieben haben, das werden sie freiwillig nicht zurücknehmen. Aber wenn die Weltgeschichte und ihre Forschung über sie hinweggeht und die Unwahrheit dessen festgestellt hat, was sie uns gegenüber zu vertreten wagten, dann wird der Makel jener Schuld nicht mehr auf uns, sondern auf denen liegen, die diesen grausamen Friedensvertrag schufen. Ihnen und Ihren Mitarbeitern werden noch spätere Geschlechter Dank wissen für die starke Basis, die Sie uns für die Wiederherstellung der deutschen Ehre gegeben haben.“

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ten Quellen nicht etwa chronologisch, sondern in thematischer Gruppierung darzubieten, denn die insgesamt 39 (hier ohne die Teilbände gezählten) vollen Textbände wurden in insgesamt fünf Abteilungen bzw. Reihen gegliedert: Reihe 1 umfasste die Bismarckzeit 1871–1890 (Bde. 1–6), Reihe 2 die Zeit des sog. ,Neuen Kurses‘ 1890–1899 (Bde. 7–12), Reihe 3 die ,Politik der freien Hand‘ unter Hohenlohe und Bülow 1897–1904 (Bde. 13–18), Reihe 4 die Zeit der zunehmenden ,Isolierung der Mittelmächte‘ 1904–1908 (Bde. 19–25), und die letzte sowie umfangreichste Reihe 5 enthielt die diplomatischen Dokumente aus der Zeit der ,weltpolitischen Komplikationen‘ bis zum Kriegsausbruch 1908–1914 (Bde. 26–39)63. Die Nachteile eines solchen Verfahrens liegen tatsächlich auf der Hand, und nicht zuletzt die fachwissenschaftliche Kritik hat damals wie auch in neuester Zeit auf die bedenklichen Folgen dieses Vorgehens, vor allem auf das Auseinanderreißen der zum Verständnis vieler Zusammenhänge vollkommen unverzichtbaren strikten Chronologie, immer wieder hingewiesen; nicht zuletzt mussten von den Bearbeitern hier und dort Aktenteile voneinander getrennt und in verschiedenen Kapiteln abgedruckt werden; zuweilen verlor sogar Thimme – beim rasanten Arbeitstempo nicht verwunderlich – selbst den Überblick über die von ihm verwendeten Dokumente, was dazu führte, dass Manches gleich mehrmals abgedruckt wurde64. Der eifrige Editor hat sein Verfahren jedoch selbstbewusst und vehement verteidigt – eben mit dem Argument, es handle sich bei der Quellenedition gerade nicht nur um ein rein wissenschaftliches Vorhaben, sondern ebenfalls um eine politische sowie nicht zuletzt auch volkspädagogische Aufgabe. In einer Denkschrift aus dem Jahr 1924 hatte Thimme bereits die Notwendigkeit hervorgehoben, zum besseren Verständnis der äußerst komplizierten Zusammenhänge und Entwicklungen „die Folge der abzudruckenden Schriftstücke als eine möglichst lückenlose und durchsichtige erscheinen zu lassen und die einzelnen Kapitel und Bände zu einem Gesamtbild der jeweiligen außenpolitischen Zusammenhänge und Tendenzen zu gestalten“ 65. Noch deutlicher wurde er kurz vor Abschluss der Editionsarbeiten in einem Brief an Friedrich Meinecke, in dem er erklärte – nicht zuletzt mit Blick auf Veit Valentins Kritik an der „Großen Politik“ in zwei ausführlichen Rezensionen in der von Meinecke damals herausgegebenen „Historischen Zeitschrift“ 66 –, „daß die Aufgabe, die mir gestellt war, doch nicht eine 63 Siehe den genauen Überblick bei Baumgart: Das Zeitalter des Imperialismus (wie Anm. 1), S. 5 f. 64 So die Bemerkungen bei Baumgart: Das Zeitalter des Imperialismus (wie Anm. 1), S. 13 ff.; Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 70 f. 65 Denkschrift Thimmes vom 20. Oktober 1924, in: ADAP, A 11, S. 301–303 (Nr. 122), hier S. 302. 66 Veit Valentins (maßvoll kritische) Besprechungen finden sich in: Historische Zeitschrift, 128, 1923, S. 135–141, und ebd. 131, 1925, S. 310–318.

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rein wissenschaftliche, sondern ebenso sehr eine politische war und daß der politische Zweck es erforderte, von bestimmten wissenschaftlichen Grundsätzen, wie dem der rein chronologischen Aneinanderreihung der Aktenstücke, abzuweichen. Der politische Zweck, die gesamte deutsche Vorkriegspolitik der ganzen Welt so klar und deutlich wie nur möglich zu machen, hätte bei einer solchen chronologischen Anordnung auf keine Weise durchgeführt werden können“ 67. Aus späterem Abstand hat Thimme freilich, in einer seiner letzten Publikationen, dem 1937 – ein Jahr vor seinem Tod – veröffentlichten Rückblick auf die Aktenedition, wenigstens beiläufig zugegeben, „daß unserer mit äußerster Beschleunigung durchgeführten Aktenedition manche mir zur Last fallenden Mängel anhaften. Ein längeres Zeitmaß . . . hätte gewiß noch eine sorgfältigere Auswahl der Aktenstücke ermöglicht“. Und er fügte hinzu: „Wenn die sachliche Anordnung des Materials ein Fehler ist, so teilen wir ihn ja mit der englischen Publikation. Heute aber bedaure ich doch, daß nicht alle Vorkriegspublikationen nach dem gleichen chronologischen Muster angelegt worden sind“ 68. In der Tat – und hierin hatte Thimme von vornherein Recht gehabt – übten Tempo und Umfang der deutschen Aktenedition einen unübersehbaren und spürbaren Druck auch auf die erst mehrere Jahre später in Gang kommenden Konkurrenzeditionen in London und Paris aus: Die seit 1927 erscheinenden „British Documents on the Origins of the War 1898–1914“, herausgegeben von George P. Gooch und Harold Temperley, umfassten nicht nur einen weit geringeren historischen Zeitraum, sondern wurden in deutlich längeren Intervallen publiziert (der letzte der insgesamt 11 Bände erschien 1936)69. Und die – zwar thematisch ebenso breit wie die „Große Politik . . .“ angelegten – französischen „Documents Diplomatiques Français (1871– 1914)“ begannen erst seit 1929 zu erscheinen, und abgeschlossen wurde die umfangreiche Edition erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 195970.

67 Thimme an Meinecke, 15. 5. 1926, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 275 f. (Nr. 169), hier S. 275. 68 Thimme: „Die Große Politik der europäischen Kabinette“. Persönliche Erinnerungen (wie Anm. 15), S. 222. 69 Zur Bedeutung des deutschen „Vorbilds“ für die britische Publikation siehe neuerdings vor allem Wilson, Keith: Introduction: Governments, Historians and ,Historical Engineering‘, in: Wilson, Keith (Hrsg.), Collective Memory. Government and International Historians Through Two World Wars, Providence u. Oxford 1996, S. 1–27; sowie Lambert, Peter: G. P. Gooch and the Publication of Documents on the Origins of the First World War: Patriotism, Academic Liberty and a Search for Anglo-German Understanding, 1920–1938, in: Berger, Stefan/Lambert, Peter/Schumann, Peter (Hrsg.): Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750–2000 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 179), Göttingen 2003, S. 275–308. 70 Zur britischen und zur französischen Aktenpublikation siehe die zusammenfassenden Abschnitte bei Baumgart, Das Zeitalter des Imperialismus (wie Anm. 1), S. 17–20 u. 26–29, und Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 77–83 u. 84–89.

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Alle drei dieser Editionen – so sehr ihre jeweiligen Herausgeber und Bearbeiter auch betonten, nur im Dienste der reinen Wahrheit und der Wissenschaft zu arbeiten – sind ohne jede Frage auch von politischen Überlegungen und Zielsetzungen bestimmt worden. Wie Friedrich Thimme und seine Mitarbeiter waren nach ihnen auch die Herausgeber und Bearbeiter der britischen und der französischen Aktenedition, wie heute bekannt ist, „verschiedentlich starkem politischem Druck ausgesetzt“ 71. Trotzdem besitzen diese Ausgaben bis heute einen enormen Wert für die wissenschaftliche Forschung, und das gilt zuerst und vor allem für die „Große Politik der Europäischen Kabinette“. Die insgesamt 54 Bände haben ein derart ausführliches Material für die Forschung bereitgestellt, dass, ungeachtet aller heute bekannten Mängel, deren Vorzüge bei weitem überwiegen – zumal kaum anzunehmen ist, dass eine nach heutigen Maßstäben historisch-kritischer Editionen gearbeitete Ausgabe dieser Aktenbestände in absehbarer Zeit erscheinen wird. Man ist auch heute noch auf die alten Bände weiterhin angewiesen, wird aber im gegebenen Fall und bei besonders wichtigen und umstrittenen Fragen auf die Originale zurückgreifen müssen. Wenn Friedrich Thimme einen – aus der Perspektive der Nachgeborenen gesehen – gravierenden Fehler begangen hat, dann war es der unbedingte Anspruch auf Ehrlichkeit und absolute Wahrheitsliebe, mit dem er in den 1920er-Jahren mehrfach an die Öffentlichkeit trat. Denn sein 1922 mündlich und schriftlich formuliertes Versprechen, dass „das vornehmste Gebot unserer Arbeit unbedingte Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit und Offenheit, die Fernhaltung jeder apologetischen nationalen oder sonstigen Tendenz, jeder Rücksichtnahme auf Personen, seien sie tot oder lebend, sein müsse“ 72, hat er – dies muss klar gesagt werden – durchaus nicht einhalten können. Unter den besonderen, ja extremen Bedingungen der ersten Jahre der Weimarer Republik war ein solches Vorhaben nicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Bedenkt man aber andererseits die auch heute noch übliche Regelung, dass diplomatische Aktenstücke frühestens nach dreißig Jahren der Öffentlichkeit und der Wissenschaft durch Publikation zugänglich gemacht werden dürfen – und selbst unter diesen Bedingungen nur in sorgfältiger Auswahl, um die außenpolitischen Interessen der jeweils amtierenden Regierungen und der Diplomaten des eigenen Landes nicht zu gefährden –, bedenkt man ebenfalls, dass selbst nach der Dreißigjahresfrist noch spezifische Aktenbestände weiterhin als „Streng geheim“ klassifiziert werden, hinter Verschluss bleiben und manchmal jahrzehntelang selbst sorgfältig arbeitenden und vertrauenswürdigen Forschern unzugänglich bleiben, dann wird man dem Entschluss zur Öffnung der deutschen Archive nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und ebenfalls der von Thimme und seinen Mit-

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Zala: Geschichte unter der Schere (wie Anm. 1), S. 92. Thimme: Die Aktenpublikation (wie Anm. 17), S. 70.

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arbeitern unter höchst schwierigen Bedingungen vollbrachten Leistung sogar noch größeren Respekt zollen können. Mag sich auch Thimmes Hoffnung nicht erfüllt haben, dem, wie er bemerkte, „leider so unsagbar unpolitische[n] deutsche[n] Volk“ mit seiner Edition „ein gewaltiges Lehrbuch der Politik“ 73 zu schenken – eine überragende und bleibende Leistung ist sie allemal.

73 Thimme an Fürst Hatzfeld-Wildenburg, 28. Juni 1924, in: Thimme: Friedrich Thimme 1868–1938 (wie Anm. 10), S. 228 f. (Nr. 138), hier S. 229.

Kontinuität und Diskontinuität Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel Jugoslawiens 1957–1968 Marc Christian Theurer Über die westliche und deutsche Entspannungspolitik sind über die letzten Jahrzehnte eine Vielzahl von Gesamtdarstellungen1 und Einzeluntersuchungen2 angestrengt worden. Das gilt vor allem für die Hochphase der nach Osten gerichteten westlichen Entspannungspolitik ab Ende der 1960er Jahre. Auch die Herausbildung der neuen Ostpolitik beziehungsweise die Frage, ob und welche Entwicklungslinien ihr zugrunde liegen, ist von der Forschung hinreichend beleuchtet und diskutiert worden.3 Verständlicherweise hat sich das Forschungsinteresse im Hinblick auf die Frage nach der Kontinuität der bundesdeutschen Entspannungspolitik im Wesentlichen auf deren Hauptadressaten, die Sowjetunion und deren Satelliten, konzentriert. Die um Distanz zu Moskau bemühte Föderative Volksrepublik Jugoslawien hat dagegen bestenfalls am Rande Beachtung gefunden.4 Das ist insofern ein Makel, als Jugoslawien in vielerlei Hinsicht einen einzigartigen Betrachtungs- und Diskussionsraum im Hinblick auf die bundesdeutsche Entspannungspolitik zwischen 1957 und 1968 bietet. In der nach Osten gerichteten Entspannungspolitik der Bundesrepublik nahm Jugoslawien in vielfältiger Weise eine Sonderrolle ein. Sie fußte auf der Tatsache, dass Jugoslawien zwar ein autokratisch regierter, sozialistischer Staat war, sich aber Stalin widersetzt und nicht in den Warschauer Pakt eingereiht hatte. Für das westliche Verteidi1 Z. B. Gaddis, John Lewis: Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, München 2007; Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007. 2 Z. B. Bender, Peter: Die ,Neue Ostpolitik‘ und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 1995; Eibl, Franz: Politik der Bewegung. Gerhard Schröder als Außenminister 1961–1966 (Studien zur Zeitgeschichte, Band 60), München 2001. 3 Z. B. Booz, Rüdiger Marco: Hallsteinzeit: Deutsche Außenpolitik 1955–1972, Bonn 1995; Gassert, Philipp: Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006. 4 Eine ausführliche Darstellung des Forschungsstands Theurer, Marc Christian: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin. Die Beziehungen der beiden deutschen Staaten zu Jugoslawien im Vergleich 1957–1968, Berlin 2008, S. 12–18.

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gungsbündnis, deren integraler Bestandteil die Bundesrepublik mit der Aufnahme in die NATO am 6. Mai 1955 geworden war, gewann Jugoslawien dadurch nicht unerhebliche militärstrategische Bedeutung, grenzte der sich der Blockfreiheit5 verschriebene Staat doch direkt an die südliche NATO-Flanke.6 Seiner Blockfreiheit hatte Tito im Dezember 1951 auch deutschlandpolitisch Ausdruck verliehen. Im Dezember 1951 hatte er diplomatische Beziehungen zu Bonn aufgenommen – unter stillschweigender Akzeptanz des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruchs. Da Tito unter der wachsenden Schar der sich entkolonialisierenden Staaten einigen Einfluss besaß, lag der Bundesrepublik sehr daran, dass Jugoslawiens deutschlandpolitisches Wohlwollen erhalten und der DDR die ersehnte diplomatische Anerkennung auf internationaler Ebene versagt blieb.7 Als Tito im Oktober 1957 sein stillschweigendes Plazet für den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch widerrief und die DDR de jure anerkannte, wurde Jugoslawien erneut seiner Sonderrolle gerecht. Es avancierte zum ersten und einzigen Opfer der Hallstein-Doktrin8. Infolge der rigiden Auslegung der Hallstein-Doktrin seitens der Regierung Adenauer wagte es kein abseits des sowjetischen Einflussbereichs stehender Staat mehr, den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch zu missachten. Mit der Hallstein-Doktrin blieb Jugoslawien aufs engste verbunden. Als Bonn und Belgrad am 30. Januar 1968 übereinkamen, die diplomatischen Beziehungen wiederaufzunehmen um darüber die innereuropäische Entspannung voranzutreiben, wurde damit auch die Hallstein-Doktrin auf europäischem Boden ad acta gelegt.9 Angesichts der aufgezeigten, einzigartigen Faktoren ist es durchaus angebracht, sich im Zusammenhang mit der bundesdeutschen Entspannungspolitik gesondert mit den Beziehungen zwischen Bonn und Belgrad beziehungsweise mit dem Sonderfall Jugoslawien auseinanderzusetzen. Dieser Aufsatz zielt darauf ab, Konstanten und Bruchstellen der bundesdeutschen Entspannungspolitik, die sich aus der Entwicklung des bilateralen Verhältnisses zwischen Bonn und Belgrad 5

Stöver: Der kalte Krieg 1947–1991 (wie Anm. 1), S. 111–115. Theurer: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin (wie Anm. 4), S. 7 f. 7 Kosthorst, Daniel: Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschland- und Ostpolitik des Außenministers im Kabinett Adenauer 1955–1961 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Band 26), Düsseldorf 1993, S. 191. 8 Zur Hallstein-Doktrin: Grewe, Wilhelm G.: Rückblenden 1976–1951, Frankfurt am Main, Berlin u. Wien 1979, S. 251–254. 9 Anlage, Brandt an Kiesinger, 6. März 1967, in: Institut für Zeitgeschichte (München) (Hrsg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1967, Bände I, II u. III. 1. Januar bis 31. Dezember 1967, München 1998, S. 414; Gemeinsame Erklärung zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Jugoslawien, 31. Januar 1968, in: Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik, V. Reihe/Band 2. 1. Januar bis 31. Dezember 1968, Bände I u. II, Frankfurt am Main 1987, S. 138. 6

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herauslesen lassen, zu identifizieren, zu erörtern und zusammenzufassen. Dabei wird sich der Betrachtungszeitraum auf den Zeitraum zwischen dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Belgrad (19. Oktober 1957) bis zu deren Neuanknüpfung (30. Januar 1968) erstrecken. Darüber hinaus reichende Aussagen sind ebenso wenig intendiert wie ein willkürlicher Parforceritt durch die Geschichte der bundesdeutschen Entspannungspolitik. I. Der Wille zur Entspannung Mit Blick auf Jugoslawien lässt sich nicht bestreiten, dass alle Bundesregierungen im Betrachtungszeitraum erhebliche Anstrengungen unternahmen, um das bilaterale Verhältnis zu entspannen und zu verbessern. Ein erster Beleg dafür ist bereits die Tatsache, dass sich die Regierung Adenauer nur wenige Monate nach dem Bruch der diplomatischen Beziehungen am 19. Oktober 1957 ernsthaft um deren Neuanknüpfung bemühte. Die Chancen, den Bruch des diplomatischen Verhältnisses zu überbrücken, standen zu jener Zeit noch gut. Die Jugoslawen verhehlten nicht, mit Adenauers strenger Auslegung der Hallstein-Doktrin und dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen nicht gerechnet zu haben. Sie hatten darauf vertraut, dass die Bundesrepublik auf Druck ihres um Titos Gunst buhlenden US-Verbündeten nicht zur ultima ratio des Beziehungsabbruchs greifen würde. Über diplomatische Kanäle versuchten sie auch bereits im Herbst 1957 im Auswärtigen Amt zu eruieren, wie besagter Bruch „möglichst ohne Gesichtsverlust von Seiten beider Staaten“ 10 gekittet werden könne.11 Da die Avancen an die Adresse Bonns nicht abrissen und Belgrad keine Neigung zeigte, aus der de jure Anerkennung Ost-Berlins eine Intensivierung der faktischen Beziehungen abzuleiten, entschloss sich Adenauer im Juni 1958 dazu, einen Schritt auf die Jugoslawen zuzugehen. Am 19. Juni 1958 erklärte er gegenüber Pressevertretern, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen Belgrad und Bonn wiederhergestellt werden könnten, sofern die Jugoslawen das diplomatische Verhältnis zur DDR – etwa durch den Rückruf ihres Gesandten aus OstBerlin – einschlafen lassen würden. Das Angebot des Kanzlers war insofern aufsehenerregend, als Bonn zuvor den förmlichen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Belgrad und Ost-Berlin zur conditio sine qua non für eine Normalisierung des diplomatischen Verhältnisses zu Jugoslawien erklärt hatte.12

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PA AA, AA, B 12–583, Aufzeichnung, Referat 304, 22. November 1957. PA AA, AA, B 1–128, Aufzeichnung, MB, 1607/57, 19. Oktober 1957. 12 PA AA, AA, B 12–619, Botschaft Paris an AA, Fernschreiben Nr. 883, 13. November 1957; PA AA, AA, B 12–97, Konsulat Zagreb an AA, Ber. Nr. 9/58, 7. Januar 1958; Kanzler: Ost-Beziehungen möglich, in: Frankfurter Rundschau, 20. Juni 1958. 11

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Für Adenauers überraschende Offerte war wohl ausschlaggebend, dass er die Bundesrepublik in einer sehr günstigen Verhandlungsposition wähnte. Tito stand zu jener Zeit finanziell und wirtschaftlich unter Druck – auch weil sich dessen Hoffnungen auf sowjetische und ostdeutsche Wirtschaftshilfe aufgrund ideologischer und machtpolitischer Dissonanzen mit dem Kreml zerschlagen hatten. Angesichts dessen wollte Adenauer die vom US-Außenminister John Foster Dulles und ihm geteilte Theorie, dass nur aus einer Position der Stärke13 heraus erfolgversprechende Verhandlungen mit den Machthabern in Ost- und Südosteuropa geführt werden konnten, wohl einem praktischen Test unterziehen.14 Dieser Test schlug allerdings fehl. Die am 11. September 1958 in Rom begonnenen, geheimen Verhandlungen über eine schrittweise Normalisierung der diplomatischen Beziehungen verliefen ergebnislos. Zu einem Einschlafen der diplomatischen Beziehungen zur DDR und der damit verbundenen, weiteren Eintrübung des Verhältnisses zur Sowjetunion mochten sich die Jugoslawen nicht durchringen. Folgerichtig erteilte Bundesaußenminister Heinrich von Brentano auch am 30. Dezember 1958 die Weisung, die Sondierungen mit den Jugoslawen abzubrechen.15 Brentano schlug die Tür zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen jedoch nicht zu. Das Angebot Adenauers, das diplomatische Verhältnis nach Einschlafen der Beziehungen zwischen Belgrad und Ost-Berlin wiederaufzunehmen, bestand fort. Das ist insofern erstaunlich, als die von der Sowjetunion am 17. November 1958 losgetretene Berlin-Krise16 den Raum für deutschlandpolitische Kompromisse und damit für die nach Osten gerichtete Entspannungspolitik Bonns erheblich eingeschränkt hatte. Die sich intensivierende Berlin-Krise hielt die Adenauer-Regierung jedoch nicht von weiteren Wagnissen ab. Im Gegenteil: am 17. Januar 1959 erging seitens des Auswärtigen Amts die Weisung an den bundesdeutschen Botschafter in Rom, Manfred Klaiber, bei den Jugoslawen erneut wegen der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen anzuklopfen.17 Über Bonns Beweggründe lassen sich nur Vermutungen anstellen. Dass hinter dem erneuten Vorfühlen bei den Jugoslawen die gewagte Strategie steckte, die

13 Zu Dulles’ Deutschland- und Europapolitik: Felken, Detlef: Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953–1959, Bonn u. a. 1993. 14 PA AA, AA, B 12–605, AA an Vertretungen in Kairo, Beirut, Bagdad, Amman, Djidda, Khartum, Kabul, Teheran, Tripolis, Neu Delhi, Bangkok, Karachi, Colombo, Djakarta, Rangun, Kuala Lumpur, Damaskus, 421/58, 18. Juni 1958. 15 Theurer: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin (wie Anm. 4), S. 61–64. 16 Note der Regierung der UdSSR an die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA, 27. November 1958, in: Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe/Band. 1. 10. November 1958 bis 9. Mai 1959, Bände I u. II, Frankfurt am Main u. Berlin 1971, S. 163–177. 17 PA AA, AA, B 130–3772A, Botschaft Rom an AA, Fernschreiben Nr. 78, 17. Februar 1959.

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jüngste sowjetische Friedensvertragsoffensive vom 10. Januar 1959 mittels eines deutschland- und ostpolitischen Befreiungsschlags abzuwehren, ist unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen. Naheliegender ist allerdings der Schluss, dass es Adenauer lediglich darum ging, Tito mittels offen signalisierter Verhandlungsbereitschaft zu einer Bonn gefälligen Reaktion auf die sowjetische Friedensvertragsofferte zu bewegen.18 Welche Motivation auch immer hinter der neuerlichen Offerte an die jugoslawische Adresse steckte, auch die im Februar und März 1959 in Venedig stattfindenden bilateralen Verhandlungen brachten keinen Durchbruch. Selbst die von bundesdeutscher Seite in Aussicht gestellten, durchaus erheblichen wirtschaftlich-finanziellen Zugeständnisse konnten die Jugoslawen nicht zum Einschlafen der Beziehungen zu Ost-Berlin bewegen. Das sah die bundesdeutsche Seite aber nach wie vor als Grundvoraussetzung der Neuanknüpfung des bilateralen Verhältnisses an.19 Näher sollten beide Staaten einer Normalisierung der Beziehungen für einige Jahre nicht kommen. Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen verschwand von der Agenda. Allerdings zeigten sich Adenauer wie auch dessen Nachfolger Ludwig Erhard weiterhin darum bemüht, das Verhältnis zu Jugoslawien konstruktiv und stabil zu gestalten. Bundesdeutsches Entgegenkommen musste sich dabei aber in engen Grenzen halten, um auf diplomatischem Parkett keinen Zweifel am Erhalt des deutschlandpolitischen Grundkanons der Bundesrepublik aufkommen zu lassen.20 Der Regierung Erhard war schon deshalb nicht an einer Eskalation des Verhältnisses zu Tito gelegen, weil dieser in der in den 1960er-Jahren anwachsenden Blockfreien-Bewegung hohes Ansehen genoss. Von einer klaren Parteinahme zugunsten der DDR bei den Blockfreien sollte Tito nach Möglichkeit abgehalten werden. Dass dies eine wesentliche Triebfeder der auf Jugoslawien abzielenden Entspannungsbemühungen der Regierung Erhard war, wurde im Vorfeld der Kairoer Blockfreienkonferenz im Oktober 1964 besonders ersichtlich. Um Titos deutschlandpolitischen Operationsspielraum bei der Konferenz zu beschneiden, hatte ihm Bonn im Rahmen des am 16. Juli 1964 geschlossenen Wirtschaftsab18

Theurer: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin (wie Anm. 4), S. 72 f. Ebd. S. 74 ff. Ausschlaggebend für Titos Verweigerungshaltung war wohl dessen Sorge vor einer weiteren Verschlechterung der zu jener Zeit frostigen jugoslawischen Beziehungen zur Sowjetunion, die er keinen weiteren Belastungen mehr aussetzen mochte. 20 Bundesaußenminister Schröders Äußerungen vor dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestags im September 1962 stellen eine prägnante Standortbestimmung der bundesdeutschen Haltung gegenüber Jugoslawien in jenen Jahren dar. Vgl. Stenographisches Protokoll der 15. Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, 27. September 1962, in: Hölscher, Wolfgang (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages, Sitzungsprotokolle 1961–1965 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 13/IV), Düsseldorf 2004, S. 332. 19

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kommens eine politische Wohlverhaltserklärung abgetrotzt. Zudem hatten die Jugoslawen ausdrücklich bestätigt, dass sich das Abkommen auch auf West-Berlin erstreckte, was einer indirekten Anerkennung der Zugehörigkeit West-Berlins zur Bundesrepublik gleichkam.21 Ungeachtet des Abkommens verdüsterte sich das bilaterale Verhältnis weiter. Das war der Tatsache geschuldet, dass sich Tito nicht an die politische Wohlverhaltenserklärung gebunden fühlte. Im Dezember 1964 erklärte er nicht nur seine Bereitschaft zu einem DDR-Staatsbesuch, sondern stand Ulbricht auch bei der Organisation seiner vielbeachteten und für Bonn schädlichen Ägypten-Reise22 im Frühjahr 1965 hilfreich zur Seite. Die bundesdeutsch-jugoslawischen Beziehungen kühlten infolge dessen merklich ab.23 Allerdings bemühte sich die Bundesregierung weiter um eine konstruktive Haltung gegen Belgrad. Ausdruck dessen war die Tatsache, dass Erhard Tito am 25. März 1966 seine Friedensnote zukommen ließ. Diese zielte zwar in erster Linie darauf ab, die unter Druck geratene Bundesrepublik im westlichen Bündnis aus der entspannungspolitischen Defensive zu holen. Sie enthielt aber auch das klare und gerade für die jugoslawische Führung signifikante Signal, dass die bundesdeutsche „Entspannungspolitik nicht mehr mit Fortschritten bei der Lösung der deutschen Frage“ 24 verknüpft war.25 Bei den Jugoslawen stieß der bundesdeutsche Entspannungswille indes auf keinen fruchtbaren Boden, zumal er nicht durch weitere wirtschaftliche Zugeständnisse an die Adresse Titos untermauert wurde. Angesichts dessen war Belgrad merklich darum bemüht, die Beziehungen zu Ost-Berlin zu intensivieren. Nicht 21 PA AA, AA, B 42–653, Protokoll der Verhandlungen vom 26. Juni bis 16. Juli 1964; Rundschreiben Schröders an alle Bundesminister über die internationalen Konferenzen der Entwicklungsländer und die Deutschlandfrage, 4. September 1964, in: Institut für Zeitgeschichte (München) (Hrsg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1964, Bände I u. II: 1. Januar bis 31. Dezember 1964, München 1995, S. 994; PA AA, AA, B 42–1010, AA an Vertretungen in London, Paris, Washington, Moskau, Rom, New Delhi, Djakarta, Bukarest, Budapest, Sofia, Zagreb, Fernschreiben Nr. 2751, 20. Juni 1965. 22 Zu Walter Ulbrichts Ägyptenreise: Blasius, Rainer A.: ,Völkerfreundschaft‘ am Nil: Ägypten und die DDR im Februar 1965. Stenographische Aufzeichnungen aus dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten über den Ulbricht-Besuch bei Nasser, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46, Heft 4, 1998, S. 765–775. 23 PA AA, AA, B 42–242, Schutzmachtvertretung Belgrad an AA, Ber. Nr. 1079/64, 12. Dezember 1964; Kleßmann, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Göttingen 1988, S. 443. 24 Peters, Gunnar: Die vollständige Abriegelung und der Beginn der Entspannungspolitik, in: Veen, Hanns Joachim/Schlichting, Franz-Josef (Hrsg.): 50 Jahre Mauerbau: Vorgeschichte und Folgen, wissenschaftliches Tagesseminar der Stiftung Ettersberg und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Weimar 2011, S. 53–76, hier S. 68. 25 PA AA, AA, B 42–1003, Aufzeichnung, Referat II A 5, 391/66, 31. März 1966.

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nur, dass die Jugoslawen die Bonner Friedensnote am 26. Juli 1966 in recht barschem Ton zurückgewiesen; im Rahmen von Ulbrichts Staatsbesuch in Jugoslawien Ende September 1966 gaben sie auch dem langjährigen DDR-Drängen nach, die als Gesandtschaft firmierenden Vertretungen in Ost-Berlin und Belgrad in den Rang von Botschaften zu erheben.26 Es fiel der Großen Koalition zu, das am Ende der kurzen Ära Erhards zerrüttete Verhältnis zu Belgrad zu verbessern. Hierzu waren Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und sein sozialdemokratischer Außenminister, Willy Brandt, bereit. Mehr noch, sie zielten von Anfang an darauf ab, die gekappten diplomatischen Beziehungen zu Belgrad wiederherzustellen. Bereits in seiner Regierungserklärung unterstrich Kiesinger, dass sich die Bundesrepublik ost- und entspannungspolitisch in die Offensive begeben wollte. Sie zielte auf nichts weniger ab als auf die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit den Staaten Ost- und Südosteuropas. Das war auch im Falle Jugoslawien angedacht, sofern „die Umstände dies erlaub[t]en“ 27. Dies sollte am 30. Januar 1968 der Fall sein. Als die Große Koalition an jenem Tag die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien wiederaufnahm, hatte sie deutlich gemacht, dass sie es mit ihrem entspannungspolitischen Aufbruch ernst meinte.28 II. Das Primat der Deutschlandpolitik Zwischen Oktober 1957 und Januar 1968 standen die deutsche Entspannungsund damit auch die Jugoslawienpolitik eindeutig im Schatten der Deutschlandpolitik. Das galt insbesondere für die Regierungszeit Adenauers, für den die Entspannungspolitik gen Osten keinen Eigenwert besaß. Dem Kanzler galt eine dauerhafte Entspannung in Europa vielmehr als unmöglich, solange die erzwungene deutsche Teilung fortbestand.29 Das Primat der Deutschlandpolitik bestand auch unter Erhard fort. Dieser war aber darum bemüht, stärkeren Einfluss auf die entspannungspolitische Debatte im westlichen Bündnis zu nehmen. Bundesaußenminister Schröder galt dies als 26 PA AA, AA, B 81–505, Aufzeichnung, Referat II A 5, 8. August 1966; PA AA, MfAA, C 1166/72, Die Beziehungen zwischen der DDR und der SFRJ (1957–1967) [undatiert]. 27 Pressekonferenz Kiesingers, 16. Januar 1967, in: Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik, V. Reihe/Band 1. 1. Dezember 1966 bis 31. Dezember 1967, Bände I u. II, Frankfurt am Main 1984, S. 311. 28 Regierungserklärung Bundeskanzler Kiesingers, 13. Dezember 1966, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, V/Band 1, S. 56. 29 Zu Adenauers Deutschlandpolitik: Schwarz, Hans-Peter: Anmerkungen zu Adenauer, München 2004, S. 85–88 u. 115; Hacke, Christian: Weltmacht wider Willen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main u. Berlin 1993, S. 82–105.

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alternativlos, wollte die Bundesrepublik nicht riskieren, dass die deutsche Frage im nach Entspannung dürstenden westlichen Bündnis endgültig von der Tagesordnung verschwand. Schröder meinte den Konflikt von Deutschland- und Entspannungspolitik auflösen zu können. Künftig sollten mittels einer aktiven, gen Osten gerichteten Entspannungspolitik deutschlandpolitische Fortschritte erzielt werden. Konkret sollte die bundesdeutsche Ostpolitik darauf abzielen, die Beziehungen zu den Warschauer-Pakt-Staaten – unter Ausklammerung der DDR – zu normalisieren. Ost-Berlin galt es im sozialistischen Lager zu isolieren und deutschlandpolitisch in die Defensive zu drängen.30 Der ererbte deutschlandpolitische Kanon – allen voran der Alleinvertretungsanspruch – stand für die Regierung Erhard dabei nicht zur Debatte. Ein Abgehen von der Hallstein-Doktrin kam für sie nicht infrage. Eine grundsätzliche Modifikation der bundesdeutschen Jugoslawienpolitik und konkrete Schritte zu einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen waren von daher ausgeschlossen. Mehr noch: um nicht den falschen Eindruck aufkommen zu lassen, dass sich Bonn nicht nur entspannungs-, sondern auch deutschlandpolitisch auf neue Wege begeben wolle, galt Jugoslawien als „das letzte Land auf (. . .) [der] Liste“ 31 der osteuropäischen Staaten, mit dem Bonn seine Beziehungen intensivieren wollte. Über den entspannungspolitischen Anspruch der Erhard-Regierung ging die Große Koalition weit hinaus. Sie ging entspannungspolitisch vielmehr an die Grenzen dessen, was unter Wahrung der deutschlandpolitischen Glaubensgrundsätze vertretbar erschien. Im Gegensatz zu seinen innerparteilichen Kritikern teilte Kiesinger die Ansicht des sozialdemokratischen Koalitionspartners, dass die Wiedervereinigung nicht gegen, sondern nur unter Zustimmung der Staaten Osteuropas erreichbar war. Beim Streben nach einer schrittweisen Normalisierung der Beziehungen nach Osten galt es sich daher in dem Spagat zu üben, die eigenen deutschlandpolitischen Rechtsansprüche zu verteidigen, dabei aber die dafür vorgesehenen Instrumente – allen voran die Hallstein-Doktrin – flexibler zu handhaben. Praktische Anwendung fand diese Strategie mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien am 30. Januar 1968. Um der innereuropäischen Entspannung willen gab die Bundesregierung die Hallstein-Doktrin in Europa auf, ohne dabei von ihren deutschlandpolitischen Kernforderungen abzurücken.32 30

Eibl: Politik der Bewegung (wie Anm. 2), S. 257 ff. Gespräch zwischen StS Carstens und StS Ball im US-Außenministerium, 11. November 1963, in: Institut für Zeitgeschichte (München) (Hrsg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963, Bände I, II u. III. 1. Januar bis 31. Dezember 1963, München 1994, S. 1430. 32 Gassert, Philipp: Im Schatten Adenauers: Kurt Georg Kiesinger als parlamentarischer Außenpolitiker in den 1950er Jahren, in: Buchstab, Günter/Gassert, Philipp/Lang, Peter Thaddäus (Hrsg.): Kiesinger. Von Ebingen ins Kanzleramt, Freiburg, Basel u. Wien 2005, S. 284–297; Anlage, Brandt an Kiesinger, 6. März 1967, in: AAPD 1967, S. 414. 31

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III. Die Wirtschaftspolitik im Dienste der Ostpolitik Im Betrachtungszeitraum schreckte keine Bundesregierung davor zurück, die wachsende ökonomische Stärke der Bundesrepublik in den Dienst ihrer Deutschland- und Ostpolitik zu stellen. Das galt auch im Hinblick auf den Sonderfall Jugoslawien. Nicht zuletzt um das Verhältnis zu Tito zu stärken und ihn langfristig auf eine der Bundesrepublik genehme Deutschlandpolitik zu verpflichten, hatte sich die Regierung Adenauer bereits am 11. Juni 1952 sowie am 10. März 1956 zu Jugoslawien gefälligen Wirtschaftsabkommen bereitgefunden.33 Als die Jugoslawen im Oktober 1957 die DDR anerkannten und damit die bundesdeutsche Deutschlandpolitik negierten, brachte die Bundesrepublik erneut ihre ökonomische Potenz zum Tragen. Titos Hinwendung gen Ost-Berlin sanktionierte Bonn mit der Einstellung der Hermes-Bürgschaften, über die nicht weniger als 70 Prozent der bundesdeutschen Ausfuhren gen Jugoslawien abgedeckt wurden. Um die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen nicht vollends zum Erliegen und die junge Bundesrepublik international nicht in den Ruch des Vertragsbruchs zu bringen, tastete Bonn das 1956 geschlossene Wirtschaftsabkommen aber nicht an.34 Trotz des bereits im Oktober 1957 evident gewordenen Scheiterns der Strategie, Jugoslawien mittels ökonomischer Zugeständnisse an die Bundesrepublik zu binden, fand diese auch unter Adenauers ungeliebtem Amtsnachfolger ihre Fortsetzung. So willigte die Regierung Erhard in dem am 16. Juli 1964 geschlossenen bundesdeutsch-jugoslawischen Wirtschaftsabkommen – im Austausch für Titos Zusicherung politischen Wohlverhaltens – in neuerliche wirtschaftlich-finanzielle Zugeständnisse an die Adresse Titos ein. Als besagtes Wohlverhalten ausblieb, nahm die Regierung Erhard das nicht stoisch zur Kenntnis. Auf die am 1. Dezember 1964 erfolgte Ankündigung Titos, der DDR zeitnah einen Staatsbesuch abzustatten, reagierte Bonn – dem Vorbild Adenauers folgend – mit wirtschaftspolitischer Intransigenz. Das jugoslawische Drängen nach einer Vertretung bei der EWG-Kommission wurde im März 1965 mit dem bundesdeutschen Veto begegnet. Zudem brachte Bonn die Verhandlungen mit Jugoslawien über ein Gastarbeiterabkommen im März/April 1965 gezielt zum Scheitern.35

33 Brey, Thomas: Bonn und Belgrad: Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Osteuropa, 29 Heft 8, 1979, S. 632–644, hier S. 634 f.; Kosthorst: Brentano und die deutsche Einheit (wie Anm. 7), S. 191. 34 PA AA, AA, B 12–118, AA an alle diplomatischen Auslandsvertretungen, 4333/ 57, 5. November 1957; PA AA, AA, B 12–583, Aufzeichnung, Referat 304, 4. November 1957. 35 PA AA, AA, B 42–249, Referat II A 5 an Referat I A 2, 23. März 1965; Aufzeichnung, LR I Rheker, betreffs gemischter deutsch-jugoslawischer Kommission, 9. April 1965, in: Institut für Zeitgeschichte (München) (Hrsg.): Akten zur Auswärtigen Politik

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Dass Adenauer und Erhard nicht davor zurückschreckten, wirtschaftliche Sanktionen als Hebel zur Stützung der deutsch- und ostpolitischen Zielsetzungen einzusetzen, bedeutete aber in keiner Weise, dass Bonn wirtschaftlichen Eigeninteressen der bundesdeutschen Wirtschaft in Jugoslawien keine besondere Bedeutung beimaß. Der Sonderfall Jugoslawien illustriert anschaulich, dass Bonn mitunter sogar willens war, ost- und deutschlandpolitische Bedenken zurückzustellen, wenn es das wirtschaftliche Interesse der Bundesrepublik erforderte. So war die am 9. September 1959 erfolgte Wiederaufnahme der im Zuge des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen gekappten Hermes-Bürgschaften für Jugoslawien nicht außenpolitischem Kalkül, sondern allein ökonomischen Erwägungen geschuldet.36 Der besagten Wiederaufnahme von Hermes-Ausfuhrbürgschaften war ein langes und zähes Ringen innerhalb der Bundesregierung vorangegangen. Das vom späteren Bundeskanzler Erhard geleitete Bundeswirtschaftsministerium hatte bereits seit Dezember 1957 gezielt auf die Schleifung der Hermes-Sperre hingearbeitet. Das Auswärtige Amt hatte dies lange zu verhindern gewusst. Aus dessen Sicht durfte den Jugoslawen nicht der falsche Eindruck vermittelt werden, dass Bonn die mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen einhergehenden Maßnahmen teil-rückgängig machen und sich mit der jugoslawischen Negierung des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruchs arrangieren wollte.37 Das Auswärtige Amt konnte sich auch lange mit dieser Argumentation behaupten. Ihm wurde aber letztlich zum Verhängnis, dass es im März 1959 erheblichem innenpolitischen Druck38 nachgab, der Krauss-Maffei AG eine Sonderbürgschaft für den Export von 50 schweren Diesellokomotiven nach Jugoslawien zu erteilen. Die unter dem Vorbehalt strenger Vertraulichkeit gewährte Sonderbürgschaft sprach sich in Wirtschaftskreisen rasch herum. Bald sah sich das Auswärtige Amt mit weiteren Anträgen auf Ausfuhrbürgschaften konfrontiert, die auf den Fall Krauss-Maffei Bezug nahmen. Das in die Enge getriebene Auswärtige Amt fand sich schließlich bereit, mit dem Bundeswirtschaftsministerium über die Wiederaufnahme der Hermes-Bürgschaften zu beraten. Diese Beratungen mündeten letztlich darin, dass das Bundeskabinett am 9. September 1959 die Wiederaufnahme von Ausfuhrbürgschaften in Höhe von 250 Million DM beschloss. Die zunächst als „vorläufig“ 39 genehmigte Maßnahme wurde nicht mehr

der Bundesrepublik Deutschland 1965, Bände I, II u. III: 1. Januar bis 31. Dezember 1965, München 1996, S. 695–700. 36 Theurer: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin (wie Anm. 4), S. 84–89. 37 Ebd. 38 Die CSU-Landesgruppe im Bundestag, die bayerische Staatsregierung und das Bundeswirtschaftsministerium drängten das Auswärtige Amt, das Anliegen von Kraus Maffei zu unterstützen. PA AA, AA, B 62–267. 39 PA AA, AA, B 12–547, Aufzeichnung, Referat 705, 123/60, 9. Februar 1960.

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zur Debatte gestellt – obwohl sich das politische Verhältnis zu Belgrad bis zum Amtsantritt der Großen Koalition erheblich eintrübte.40 IV. Der Druck des US-Alliierten Die bundesdeutsche Entspannungspolitik entfaltete sich nicht im luftleeren Raum. Zu den externen Faktoren, die auf deren Gestaltung einzuwirken suchten, zählten auch die westlichen Alliierten. Im Hinblick auf Jugoslawien suchten vor allem die USA die deutsche Haltung zu beeinflussen und Bonn dazu zu bewegen, sich gegenüber Tito konzilianter zu zeigen. Dahinter steckte die US-Strategie, Jugoslawien vom Warschauer Pakt fernzuhalten und durch das Gelingen eines von Moskau losgelösten sozialistischen Staates das auf die Sowjetunion bezogene, ideologische Korsett der Satellitenstaaten zu lockern und deren Interessengegensätze zu fördern.41 Adenauer schätzte die Chance, Moskaus Sattelitenreich durch den ideologischen Außenseiter Tito aufbrechen zu können, als gering ein. Das hielt ihn nicht davon ab, dem US-Drängen nach wirtschaftlichen Zugeständnissen an die jugoslawische Adresse zumindest teilweise nachzugeben. Dem Druck des State Departments nach staatlichen Krediten an die Adresse Titos wehrte die Bundesregierung zwar ab, allerdings hob sie im Dezember 1960 die Obergrenze der erst im Vorjahr wieder installierten Hermes-Bürgschaften auf 342 Million DM an und garantierte einen privaten Bankkredit in Höhe von 105 Million DM. Dieses Entgegenkommen an die jugoslawische Adresse erfolgte allein „aus Solidarität mit den USA“ 42 und war kein Ausdruck bundesdeutscher Entspannungsbemühungen gegenüber Belgrad.43 Unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson steigerte sich der Druck auf Bonn, die bundesdeutsche Jugoslawienpolitik grundsätzlich zu modifizieren und auf eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zuzusteuern. Um die in dieser Hinsicht renitente Bundesregierung auf US-Kurs zu bringen, schreckte das State Department nicht einmal davor zurück, die sozialdemokratische Opposition für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Gegenüber dem im März 1962 in Belgrad weilenden Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid verhehlte US-Botschafter George F. Kennan nicht, wie unzufrieden die USA mit 40

Theurer: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin (wie Anm. 4), S. 86–89. National Security Council Report NSC 5811/1, Washington, May 24 1958, in: Department of State (Hrsg.): Foreign Relations of the United States. 1958–1960, Vol. X, Part 1. Eastern Europe Region; Soviet Union; Cyprus, Washington 1993, S. 20. 42 PA AA, AA, B 12–588, AA an alle diplomatischen Vertretungen, 286/62, 18. März 1962. 43 Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Staatsmann. 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 381 f. 41

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der bundesdeutschen Jugoslawienpolitik waren. Um der Stärkung des westlichen Bündnisses willen drängte Washington darauf, im Falle Jugoslawiens über die Hallstein-Doktrin hinwegzusehen und die diplomatischen Beziehungen zu normalisieren.44 Tatsächlich versuchte Schmid, seine sozialdemokratischen Parteifreunde dazu zu animieren, die Bundesregierung in der Jugoslawienpolitik stärker unter Druck zu setzen, was jedoch erfolglos blieb. Am 25. April 1962 wurde das State Department schlussendlich direkt in Bonn vorstellig. Dort ließen die US-Diplomaten verlauten, dass Jugoslawien nun tatsächlich mit dem Gedanken spiele, die Beziehungen mit der DDR einschlafen zu lassen, also ihren Vertreter aus Ost-Berlin abzuberufen. Das Auswärtige Amt mochte dem keinen Glauben schenken. Aus dessen Sicht zielte die tatsächlich wenig glaubwürdige Meldung allein darauf ab, die Bundesrepublik zu einer zugänglicheren Haltung gegenüber Jugoslawien und „zu einem Entgegenkommen in der Frage der Aufnahme von Wirtschaftsgesprächen zu bewegen.“ 45 Ihren Höhepunkt erreichte das US-Streben, die Bundesrepublik zu einer grundlegenden Revision ihrer Jugoslawienpolitik zu animieren, im April 1964. Am 9. April wandte sich US-Außenminister Dean Rusk mit einem Schreiben direkt an seinen bundesdeutschen Amtskollegen Schröder. Darin bat er nicht nur, Tito eine Wiedergutmachung für die Kriegsfolgen in Höhe von 100 Million Dollar zu zahlen, sondern auch eine Neuanknüpfung diplomatischer Beziehungen in den Blick zu nehmen. Für die Bundesregierung kam das überhaupt nicht infrage, was Schröder in seinem Antwortschreiben vom 22. April 1964 auch klar unterstrich.46 Das US-Drängen auf den bundesdeutschen Verbündeten ebbte infolge des bundesdeutsch-jugoslawischen Wirtschaftsabkommens vom Juli 1964 und erst Recht nach dem im Dezember 1964 evident gewordenen Bruch Titos mit dem gegenüber Bonn gegebenen politischen Wohlverhaltensversprechen ab. Der Regierung Erhard konnte infolge dessen schlicht kein weiteres Entgegenkommen an die jugoslawische Adresse mehr abverlangt werden. Als die Große Koalition letztlich das Regierungsruder übernahm, waren US-Belehrungen nicht vonnöten, da sie alsbald eigenständige Weichenstellungen hin zu einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen unternahm.

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Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern, München u. Wien 1979, S. 714–718. PA AA, AA, B 38–120, Vermerk, Referat 705, 340/62, 26. April 1962. Potthoff, Heinrich (Bearb.): SPD-Fraktionssitzung vom 20. März 1962, in: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Sitzungsprotokolle 1961–1966, Düsseldorf 1993 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 8/III), S. 74 f. 46 Schröder an US-Außenminister Rusk, 22. April 1964, in: AAPD 1964, S. 470 ff. 45

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V. Der Faktor Jugoslawien in der Ostpolitik Bonns Bisher war weitgehend von Kontinuitäten beziehungsweise kontinuierlichen Entwicklungslinien in der bundesdeutschen Jugoslawienpolitik die Rede. Bei der Fokussierung des Sonderfalls Jugoslawiens werden aber auch erhebliche Schwankungen in der Ost- und Entspannungspolitik Bonns evident. In Adenauers ostpolitischen Koordinatensystem spielte Jugoslawien eine im Ganzen untergeordnete, wenn auch keine belanglose Rolle. Im Gegensatz zu USAußenminister John Foster Dulles erachtete Adenauer es für ausgeschlossen, Moskaus Satellitenreich über Tito ideologisch und machtpolitisch aufweichen zu können. Adenauer bedauerte zwar den diplomatischen Bruch des bei der wachsenden Blockfreien-Bewegung einflussreichen Tito. Für ein unüberwindbares Hindernis für weitere ostpolitische Aktivitäten, die auf Moskau konzentriert waren, hielt er besagten Bruch aber nicht.47 Die Jugoslawienpolitik gewann unter Adenauer nur kurzzeitig signifikante entspannungs- und ostpolitische Bedeutung. Die zwischen August 1958 und März 1959 mit Unterbrechungen geführten Verhandlungen mit den Jugoslawen über eine etwaige Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen wertete vor allem sein Außenminister Brentano als günstige Gelegenheit, um sich des prekären Sonderfalls Jugoslawien zu entledigen, bei dem keine kreativen deutschlandpolitischen Hilfskonstrukte wie die Geburtenfehlertheorie48 für die Rechtfertigung der Neuanknüpfung diplomatischer Beziehungen angeführt werden konnten. Brentano sah in den Verhandlungen mit den Jugoslawen nichts weniger als einen Lackmus-Test für die weitere bundesdeutsche Ostpolitik. Erst nach einer Einigung mit Belgrad galt es aus Sicht Brentanos, „Entscheidungen gegenüber den übrigen Satellitenstaaten [zu] treffen.“ 49 Das sah Brentanos Nachfolger Schröder grundlegend anders. In der von ihm angestrebten Aktivierung der Ost- und Entspannungspolitik besaß Jugoslawien keine Priorität. Im Gegenteil: es stand an letzter Stelle derjenigen ost- und südosteuropäischer Staaten, bei denen Bonn in Sachen einer schrittweisen Normalisierung der diplomatischen Beziehungen vorstellig werden wollte. Das lag nur zum Teil daran, dass im Falle Jugoslawiens die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht mittels der Geburtenfehlertheorie gerechtfertigt werden konnte.

47 Aníc de Osona, Marija: Die erste Anerkennung der DDR: Der Bruch der deutschjugoslawischen Beziehungen 1957, Baden-Baden 1990, S. 54; Schwarz: Adenauer (wie Anm. 43), S. 380 ff. 48 Grewe, Wilhelm G.: Machtprojektionen und Rechtsschranken. Essays aus vier Jahrzehnten über Verfassungen, politische Systeme und internationale Strukturen, Baden-Baden 1991, S. 445. 49 Bundesarchiv, NL Brentano, N 1239/157, Brentano an Adenauer, MB 1112/58, 23. September 1958.

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Mitentscheidend war auch, dass die Bundesrepublik zu Jugoslawien immerhin bereits konsularische Beziehungen unterhielt – wovon bei den Satellitenstaaten noch keine Rede sein konnte.50 Interessanterweise stand Belgrad auch zu Beginn der Großen Koalition nicht an der Spitze der ostpolitischen Prioritätenliste. Beim Streben nach einer Neuauflage diplomatischer Beziehungen wollten Kiesinger und Brandt nichts überstürzen. Den nichteuropäischen Blockfreien, aber auch Moskau und seinen Satelliten war zuvor begreiflich zu machen, dass mit einem solchen, rein der innereuropäischen Aussöhnung dienenden Schritt keine Aufgabe der deutschlandpolitischen Rechtsgrundsätze Bonns verbunden war.51 Dass Jugoslawien doch rasch an die Spitze der ostpolitischen Agenda der Großen Koalition rückte, war allein der Zuspitzung des bundesdeutschen Verhältnisses zum Sowjetimperium geschuldet. Besagte Zuspitzung war geradezu zwangsläufig aus der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Rumänien am 31. Januar 1967 resultiert. Moskau und seine Satelliten – allen voran Ost-Berlin – werteten den Schritt Bonns nicht als Zeichen der Entspannung, sondern als Provokation, die darauf abzielte, den Warschauer Pakt aufzuspalten. Daher wurden die Satelliten von Moskau auf die Ulbricht-Doktrin eingeschworen, die sie darauf verpflichtete, erst dann Beziehungen zur Bundesrepublik aufzunehmen, wenn diese zuvor die DDR anerkannt hatte.52 Über die harsche Reaktion der Warschauer-Pakt-Staaten und das jähe Ende der Sondierungen mit Prag und Sofia im Hinblick auf eine Normalisierung diplomatischer Beziehungen zeigten sich die Großkoalitionäre überrascht. Da sich die Abwehrhaltung des Kremls und seiner Satelliten nicht auflockerte, blieb Bonn im Grunde nichts anderes übrig, als sich fürs erste auf Jugoslawien zu konzentrieren, zumal Belgrad auf das öffentlich bekundete Interesse Kiesingers, die Beziehungen wiederaufzunehmen, positiv reagiert hatte. Dementsprechend machten sich denn auch Kiesinger und Brandt daran, das Verhältnis zu reparieren, was ihnen am 30. Januar 1968 gelang.53

50 Eibl: Politik der Bewegung (wie Anm. 2) S. 149–152; Stenographisches Protokoll der 15. Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, 27. September 1962, in: Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages, Sitzungsprotokolle 1961–1965, S. 332. 51 Theurer: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin (wie Anm. 4), S. 232–236. 52 Hildebrand, Klaus: Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 4), Stuttgart 1984, S. 328; Taschler, Daniela: Vor neuen Herausforderungen. Die außen- und deutschlandpolitische Debatte in der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion während der Großen Koalition (1966–1969) (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 132), Düsseldorf 2001, S. 114. 53 Brandt, Willy: Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975, Hamburg 1976, S. 223; Booz: Hallsteinzeit (wie Anm. 3), S. 114.

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VI. Resümee Außer Frage steht, dass alle Bundesregierungen im Betrachtungszeitraum gegenüber Jugoslawien entspannungspolitische Akzente zu setzen suchten. Diese Tatsache kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren Jugoslawienpolitik alles andere als kontinuierlich und einheitlich verlief. So hatte die Adenauer-Regierung – wenn auch erfolglos – wiederholt eine Revision ihrer Jugoslawienpolitik ins Auge gefasst und versucht, den diplomatischen Bruch mit Tito mittels der Brücke des Einschlafens der Beziehungen zwischen Belgrad und Ost-Berlin zu kitten. Vor allem Brentano galt eine mögliche Klärung des schwierigen Sonderfalls Jugoslawien als Basis für weitere Sondierungen mit Moskaus Satelliten, bei denen man im Hinblick auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen immerhin die Geburtenfehlertheorie als mehr oder minder elegante Rechtfertigung für die Abweichung vom Alleinvertretungsanspruch anführen konnte. Unter der Regierung Erhard kehrten sich die ost- und entspannungspolitischen Prioritäten um. Sie mochte sich an den Sonderfall Jugoslawien nicht heranwagen, sondern diesen erst im Zuge einer schrittweisen Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik mit Moskaus Satelliten ins Auge fassen. Die um die Glaubwürdigkeit ihrer deutschlandpolitischen Festigkeit bangende Erhard-Regierung war aber zumindest bemüht, das Verhältnis mittels wirtschaftlicher und finanzieller Zugeständnisse stabil zu halten und nicht erodieren zu lassen. Dem Druck des US-Alliierten, von diesem Kurs abzugehen und auf eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen hinzuarbeiten, hielt die Bundesregierung stand. Das sich immer stärker eintrübende bilaterale Verhältnis zu Belgrad nahm die Bundesrepublik um der Absicherung ihres deutschlandpolitischen Alleinvertretungsanspruchs willen in Kauf. Sowohl unter Adenauer als auch unter der Ägide seines Nachfolgers Erhard besaß die Entspannungspolitik einen überwiegend instrumentalen Charakter. Der als spiritus rector einer beweglicheren Außenpolitik geltende Schröder konnte für sich aber immerhin in Anspruch nehmen, den Zielkonflikt zwischen Entspannungs- und Deutschlandpolitik erkannt und an dessen Auflösung gearbeitet zu haben. Allerdings maß auch er entspannungspolitische Schritte daran, inwieweit sie dazu geeignet waren, die deutschlandpolitischen Ansprüche Bonns in Ostund Südosteuropa zu stärken. Die Große Koalition agierte weitaus ambitionierter. Mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien unterstrich sie, dass sie in ihrer Entspannungspolitik so weit zu gehen bereit war, wie unter Beibehaltung des tradierten deutschlandpolitischen Kanons möglich erschien. Sie gab den Alleinvertretungsanspruch nicht auf. Sie entschloss sich nur dazu, der Hallstein-Doktrin in Europa zu entsagen, um der Entspannung, an deren Ende die Einheit Deutschlands stehen sollte, den Weg zu ebnen.

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Allerdings konnte auch die Große Koalition – wie auch ihre Vorgänger – nicht für sich in Anspruch nehmen, eine durchdachte entspannungspolitische Strategie entwickelt und kontinuierlich verfolgt und verwirklicht zu haben. Das zeigt der Sonderfall Jugoslawien in besonderer Klarheit. Die Tatsache, dass sich die Große Koalition rasch und konsequent an die Neuanknüpfung der bilateralen Beziehungen zu Jugoslawien gemacht hatte, war nicht Ausdruck einer bundesdeutschen Strategie, sondern schlicht eine Verlegenheitslösung. Sie war allein der Tatsache geschuldet, dass alle anderen Anknüpfungspunkte bei den Warschauer Pakt-Staaten nach dem Erlass der von Moskau verordneten Ulbricht-Doktrin – für Bonn überraschend – weggebrochen waren.

Der Nahost-Konflikt zwischen Geschichte und nationalen Narrativen* Gert Krell I. Einleitung und Fragestellung In kaum einem territorialen Herrschaftskonflikt spielt die Bezugnahme auf Geschichte eine so zentrale Rolle wie im Nahost-Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern: zum einen als reale und vielfältige traumatische Erfahrungen älterer wie jüngerer Generationen, zum anderen in kollektiven nationalen Deutungen. Dass in diesem Fall dem Holocaust beziehungsweise der al-Nakba, der palästinensischen Katastrophe von 1948/49, besondere Bedeutung zukommt, ist selbstverständlich. So spricht der israelische Historiker Dan Michman von einem zionistischen Nationalmythos, der Israel über den Holocaust legitimiere. Ganz unterschiedliche Traditionen unterstellten sogar eine empirische Kausalbeziehung:1 „Gradually, especially from the 1960s onwards, Israel’s image worldwide and in internal Israeli and Zionist interpretations of Jewish history and fate became linked to the Holocaust – by secularist educators, historians, lay people and religious thinkers [. . .] The fact that this mythical perception was so powerful and became widely accepted in Jewish circles and elsewhere very quickly proves, in my eyes, that for many people it satisfied an inner need to invest history with meaning. This ,meaning‘ of the Holocaust (with a ,happy ending‘) provided some solace for the tragedy of the past and justified massive self-mobilization for the collective ideals of the State especially when Israel had to contend with growing opposition beginning in the late 1960s.“ * Ich fasse hier unter einer neuen Perspektive Überlegungen zusammen, die ich an anderen Stellen (Krell, Gert: Schatten der Vergangenheit: Nazi-Deutschland, Holocaust und Nahost-Konflikt, Frankfurt am Main (HSFK-Report No. 7/2008) 2008. Krell, Gert: Frieden für Israel und Palästina: Deutsche Nahost-Politik im Schatten der „Vergangenheit“, Frankfurt am Main (HSFK-Standpunkte Nr. 6/2011) 2011 ausführlicher behandelt und belegt habe. 1 Michman, Dan: The Causal Relationship between the Holocaust and the Birth of Israel: Historiography Between Myth and Reality, in: Michman, Dan (Hrsg.): Holocaust Historiography – A Jewish Perspective: Conceptualizations, Terminology, Approaches and Fundamental Issues, London 2003, S. 303–328, hier S. 317. Grundlegend für die israelische Seite Zertal, Idith: Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood, Neuauflage Cambridge, New York u. Melbourne 2011; zur palästinensischen Erinnerung Sa’di, Ahmad H./Abu-Lughod, Lila (Hrsg.): Nakba: Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York 2007.

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Als Gegenstück zu diesem zentralen Aspekt israelischer Nationalmythologie erwähnt Michman für die arabische Seite die weit verbreitete Deutung, derzufolge der Holocaust Hauptgrund für die westliche Strategie gewesen sei, „Palästina die Juden aufzuzwingen“. Auch hier dient der Mythos der Legitimation und der Sinngebung von Leid, denn er macht die Niederlage verständlicher. In Reaktion auf die arabische oder iranische Klage, die Palästinenser hätten, gleichsam als Opfer der Opfer, ebenfalls schuldlos einen hohen Preis für den nationalsozialistischen Rassenwahn bezahlt, antworten israelische Nationalisten oder radikale (Pro-)Zionisten außerhalb Israels häufig, für die Eskalation des Konflikts sei arabischer Antisemitismus und insbesondere arabische Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Massenmord an den Juden verantwortlich. Im Folgenden möchte ich mich mit diesen Deutungen auseinandersetzen; dabei werde ich auch auf andere historische Tiefendimensionen des Konflikts zu sprechen kommen. Dass eine solche Analyse Konsequenzen für die deutsche Haltung zum Nahost-Konflikt hat, liegt auf der Hand und werde ich zum Schluss deutlich machen. II. Der Holocaust und die Staatsgründung Israels 1. Einwanderung in den dreißiger und vierziger Jahren Hier gilt es zunächst das Argument zu prüfen, über den Auswanderungsdruck auf die deutschen Juden in den 1930er-Jahren und durch den Holocaust habe der Nationalsozialismus indirekt zur Zuspitzung des Nahost-Konflikts und zur Staatsgründung Israels beigetragen. In der Tat galt die fünfte Alijah zwischen 1932 und 1939, unter der sich der Anteil der jüdischen Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet Palästina von rund 18 auf etwa 30 Prozent erhöhte, den Zeitgenossen als deutsche Einwanderungswelle. Aber der Eindruck täuschte: Zwar war der Anteil deutscher Juden an der Einwanderung ab 1933 von 2,5 auf 25 Prozent gesprungen; doch auch in den dreißiger-Jahren kam die große Mehrzahl der Immigranten, nämlich 75 Prozent, nicht aus Deutschland, sondern aus Staaten, die (noch) nicht zum Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus gehörten. Noch 1936 meinte Chaim Weizmann, der Präsident der Zionistischen Weltorganisation, die „deutsche Frage“ sei ihrem Umfang nach „viel kleiner“ als die polnische.2 Nach 1945 gingen etwa ein Drittel der europäischen Juden, die den Holocaust und den Weltkrieg überlebt hatten, in die USA und etwa zwei Drittel nach Pa-

2 Zitiert nach Freimark, Peter: Zum Selbstverständnis jüdischer Nationalität und Staatlichkeit in Palästina, in: Mejcher, Helmut (Hrsg.): Die Palästina-Frage 1917–1948, Paderborn 19932, S. 49–74, hier S. 62.

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lästina. Unter diesen Einwanderern waren Tausende polnischer Juden, die 1941 vor der SS in die Sowjetunion geflohen waren. Sie fanden in ihrer alten Heimat äußerst unwirtliche Verhältnisse vor, ja Leib und Leben waren aufgrund antisemitischer Pogrome in Gefahr. Auch andere osteuropäische Juden sahen sich genötigt, ihre Heimat zu verlassen. So führte zum Beispiel in Rumänien die Einführung des kommunistischen Systems 1947 zu einer großen Flüchtlingswelle. In der israelischen Forschung wird deshalb kontrovers diskutiert, inwieweit man diese Einwanderung in den ersten Nachkriegsjahren noch dem Holocaust zurechnen kann. Unumstritten ist dagegen, dass Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden die Entschlossenheit des Jischuw ebenso wie der Überlebenden, die jetzt hinzukamen, einen eigenen Staat zu gründen und ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, ganz entscheidend gefördert hat. 2. Der internationale Entscheidungsprozess a) Die Vereinten Nationen Bis heute ist umstritten, in welchem Maße das UNO-Votum von 1947 zugunsten einer Teilung Palästinas vom Holocaust beeinflusst wurde. Zweifellos haben die Shoah und die schwierige Situation der Überlebenden bei der Entscheidung einer Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung eine Rolle gespielt. Aber es sind auch andere Faktoren in Rechnung zu stellen – darunter politischer oder wirtschaftlicher Druck von Seiten der USA, Respekt für den „antikolonialistischen Kampf“ des Jischuw gegen Großbritannien bei einigen Ländern der Dritten Welt und diplomatische Fehler der arabischen Seite. b) Großbritannien Großbritannien hatte zwar mit der Balfour-Erklärung von 1917 den Grundstein für einen jüdischen Staat gelegt und bis 1939 die Zionisten in allen wichtigen Kontroversen im Mandatsgebiet unterstützt. Je näher die Gefahr eines Krieges mit dem nationalsozialistischen Deutschland rückte, desto mehr bemühte sich das Vereinigte Königreich jedoch, die Interessen der Araber zu berücksichtigen. 1939 verfügte es strenge Begrenzungen für Landkauf und Einwanderung, und nach dem Ende des Krieges stellte es sich strikt gegen weitere jüdische Immigration in das Mandatsgebiet und versuchte, dieses Verbot diplomatisch und militärisch durchzusetzen (Stichwort: Exodus-Affäre). Großbritannien war jedoch zu schwach, um sein Empire auf neuer Grundlage einschließlich eines arabisch dominierten Gesamt-Palästina noch einmal zu stabilisieren. Vom Krieg politisch und wirtschaftlich erschöpft und unter dem Druck des jüdischen Terrors 1944–47 zog es sich im Mai 1948 ganz aus Palästina zurück. Bei der entscheidenden Abstimmung in der Generalversammlung enthielt es sich.

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c) Die USA Die politische Führung der USA war keineswegs einheitlich oder durchgängig für einen jüdischen Staat. So gab es in der Truman-Administration starken Widerstand dagegen, in erster Linie aus strategischen Überlegungen, aber auch wegen des Selbstbestimmungsprinzips. Präsident Truman hatte jedoch Rücksicht zu nehmen auf die jüdische Wählerschaft in Schlüsselstaaten der Union und auf breite Sympathien für das zionistische Anliegen. Aufgrund des Holocaust wurde das Projekt eines jüdischen Staates in Palästina inzwischen nicht mehr nur von den Zionisten, die auch in den USA traditionell eine Minderheit unter den Juden gewesen waren, sondern von den amerikanischen Juden insgesamt nahezu einhellig befürwortet, und es stieß auf Zuspruch in weiten Teilen der übrigen amerikanischen Bevölkerung. Für Trumans Votum zugunsten einer Teilung Palästinas, und zwar gegen den Rat seiner Fachminister, war am Ende eine Mischung aus moralischen und pragmatischen innen- wie außenpolitischen Überlegungen maßgebend. Ein wichtiger Aspekt war, einen Platz für die Holocaust-Überlebenden in den amerikanischen Lagern in Europa zu finden. Unter den machtpolitischen Gründen hatte das größte Gewicht die Sorge vor sowjetischer Einflussnahme im Nahen Osten, und zwar, wohlgemerkt, über Israel. d) Die Sowjetunion Die Sowjetunion hat sich zur Überraschung aller Beteiligten in den Beratungen der UNO 1947 nicht nur zugunsten eines jüdischen Staates ausgesprochen, sie hat die Gründung Israels auch diplomatisch und indirekt sogar militärisch unterstützt. Zwar hat die sowjetische Diplomatie ausdrücklich auf den Holocaust als Legitimation für einen jüdischen Staat verwiesen, das überragende Motiv für die Nahost-Politik der UdSSR in den ersten Nachkriegsjahren war jedoch ein realpolitisches: Durch den Kampf des Jischuw gegen die araberfreundliche Endphase der britischen Mandatspolitik war der Zionismus für die Sowjetunion „von einem Instrument des Imperialismus zu einem Instrument gegen den Imperialismus“ (Heinemann-Grüder) geworden. Der Kalte Krieg führte jedoch bald zu einer Umorientierung der UdSSR, und mit Waffenlieferungen an Ägypten und an Syrien vollzog sie schließlich Mitte der 1950er-Jahre endgültig den neuen realpolitischen Schwenk auf die arabische Seite. III. Das NS-Regime, die Araber und der Nahost-Konflikt Nachdem es sich aus Rücksicht auf das erhoffte machtpolitische Arrangement mit Großbritannien zunächst zurückgehalten hatte, versuchte das nationalsozialistische Deutschland mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, sich den arabischen Nationalismus zunutze zu machen. Diesen Bemühungen standen freilich einige Hindernisse entgegen: neben dem Kolonialismus Vichy-Frankreichs und den ko-

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lonialistischen Ambitionen des faschistischen Italien vor allem der Herrenrassismus der Nazis, der ja die Araber nicht aussparte. Gleichwohl stieß HitlerDeutschland im arabischen beziehungsweise islamischen Raum vielfach auf Sympathien. 1. Reaktionen der Araber auf das NS-Regime3 In mehreren arabischen Ländern gab es faschistische Bewegungen, die aber insgesamt keine entscheidende Rolle spielten. (Faschistische Tendenzen gab es übrigens auch im Jischuw, wo sich Teile der revisionistischen Zionisten eine Zeitlang am italienischen Vorbild orientierten.) Viel wichtiger waren die Nationalisten, von denen sich ein Teil von Deutschland Hilfe im Kampf gegen den britischen Kolonialismus und die zionistische Landnahme erhoffte. Die stärkste ideologische Affinität bestand freilich bei einigen fundamentalistischen Pan-Islamisten, und zwar wegen der partiellen Übereinstimmung zwischen ihrem religiös begründeten Antijudaismus und dem rassistischen Antisemitismus der Nazis. Durch die zionistische Einwanderung und den sich daraus entwickelnden Nahost-Konflikt öffnete sich dieser pan-islamistische Antijudaismus, der sich politisch zuerst in den 1920er-Jahren artikulierte, dem europäischen Antisemitismus und dann auch der nationalsozialistischen Judenfeindschaft. Der Kollaborateur par excellence war Muhammad Amin al-Husseini, ein rabiater muslimischer Antisemit. Als Mufti von Jerusalem war er ein führender Repräsentant der islamischen Welt, als Vorsitzender des Obersten Arabischen Komitees eine Art Sprecher der palästinensischen Araber, bis er sich 1937 der britischen Verhaftung durch Flucht entzog. Amin al-Husseini, von seinen Anhängern häufig „Schwert des Islam“ genannt, hat schon früh die Nähe zu den faschistischen Mächten gesucht und schlug sich nach dem ersten britischen Teilungsplan für Palästina endgültig auf die Seite Deutschlands, mit dem er bis zum Ende des Krieges eng zusammenarbeitete. Seine propagandistischen Reden für die arabische Welt von Berlin aus lassen an seiner radikal antisemitischen Komplizenschaft nicht den geringsten Zweifel. 2. Arabischer Antisemitismus Auch über al-Husseini hinaus spielte und spielt Judenhass im arabischen Nationalismus wie im politisierten islamischen Fundamentalismus eine nicht unerhebliche, aber in Größenordnung und Relevanz kontrovers zu diskutierende Rolle. In den 1950er-Jahren fanden antisemitische Dokumente aus Europa wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ zum ersten Mal Massenverbreitung in der arabischen Welt. Seit 1988 liegt mit der Satzung der Hamas eine aktualisierte 3 Dazu vor allem Achcar, Gilbert: The Arabs and the Holocaust – The Arab-Israeli War of Narratives, New York 2009.

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radikal-antisemitische Programmatik des Islamismus vor, die an Vorläufer aus den 1920er und 1930er-Jahren anknüpft. Wie die Fachdiskussion zeigt, wird die Bedeutung dieser Programmatik jedoch manchmal überschätzt; in der politischen Praxis ergeben sich erhebliche Differenzierungen und Mäßigungen, obwohl es nach wie vor auch radikal judenfeindliche Positionen gibt. Außerdem stoßen seit dem Scheitern des Friedensprozesses zumindest sekundärantisemitische Auffassungen, also etwa die Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust, im ganzen arabisch/islamischen Raum vermehrt auf Zuspruch. Zusammenfassend kann man argumentieren, dass sich Teile der Eliten und der Bevölkerung in den arabischen Ländern und im Iran im Zuge des Kampfes gegen den Zionismus beziehungsweise Israel zunehmend des von Europa kommenden Antisemitismus bedienen, ihn auch mit religiös begründeten antijüdischen Tendenzen verbinden. Daraus pauschal eine historische Nähe der Araber oder des Islam zum Nationalsozialismus zu machen, wie das in einem Teil der (pro)zionistischen Literatur üblich geworden ist, wäre jedoch unangebracht. Alle Welt redet vom Mufti von Jerusalem, aber kaum jemand erwähnt arabische Führungspersönlichkeiten wie zum Beispiel Sultan Mohammed V von Marokko oder die muslimischen Einwohner von Algier, die sich den antisemitischen Auflagen oder Verlockungen auf Beute des mit Nazi-Deutschland verbündeten Vichy-Regimes im Rahmen ihrer Möglichkeiten widersetzt haben.4 Für die Bewertung der arabischen Politik in und gegenüber Palästina bieten sich auch vergleichende Überlegungen an. Schließlich gab es im ganzen arabischen Raum Widerstand gegen die europäische Kolonialisierung, und zwar längst bevor die Nazis an der Macht waren, wie sich überhaupt weltgeschichtlich die Einheimischen regelmäßig nicht nur gegen Fremdherrschaft und Unterwerfung, sondern auch gegen Siedlungskolonialismus zur Wehr gesetzt haben. Hier liegt in der Tat eine entscheidende Differenz: Der europäische Antisemitismus war (und ist) rein wahnhaft; in Europa ging von den Juden als Gruppe keine eigenständige physische Gewalt aus, hier waren sie fast überall Opfer. Auch der arabisch/islamische Antisemitismus ist wahnhaft, aber er war von Anfang an mit einem realen politischen Gruppenkonflikt assoziiert oder assoziierbar, in dem beide Seiten organisierte Gewalt anwenden. Der Zusammenhang mit diesem realen Konflikt zeigt sich auch in Israel, wo die Araber bis heute äußerst negativ stereotypisiert und vielfach pauschal mit den Nazis gleichgesetzt werden. Außerdem wird in Israel die Nakba, die palästinensische Katastrophe, bis heute weitläufig verleugnet. Und von der aktuellen Unterdrückung der Palästinenser will ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung nichts hören. Was sich in den besetzten Gebieten ereignet, ist zu einer Art Tabu geworden. 4 Dazu Satloff, Robert: Among the Righteous: Lost Stories from the Holocaust’s Long Reach Into Arab Lands, New York 2006.

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IV. Erweiterung der historischen Perspektive 1. Die zionistische Programmatik und der Nahostkonflikt In jeder Debatte über den Nahost-Konflikt müssen auch Voraussetzungen diskutiert werden, ohne die das zionistische Projekt nicht ernsthaft in Gang gekommen wäre. An erster Stelle sind hier der europäische Nationalismus und Antisemitismus zu nennen, aber auch Kolonialismus und Imperialismus. Das Projekt einer jüdischen Besiedlung Palästinas mit dem Ziel eines eigenen Nationalstaats ließ sich nur (1) gegen Verheißungen von Selbstbestimmung für die Araber, (2) mit politischer, wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung von außen und (3) am Ende durch gewaltsame Majorisierung realisieren. Einen binationalen Staat wollten, von Minderheiten abgesehen, weder Juden noch Araber; einen jüdisch dominierten Staat aber würden die allermeisten Araber nicht freiwillig akzeptieren. Kein Geringerer als Wladimir Jabotinsky, der Präsident der Revisionisten (in etwa die Vorläufer des Likud), hatte schon Anfang der 1920er-Jahre offen ausgesprochen, dass die Zielsetzungen der beiden Nationalbewegungen unvereinbar waren:5 „[. . .] it is utterly impossible to obtain the voluntary consent of the Palestine Arabs for converting ,Palestine‘ from an Arab country into a country with a Jewish majority. [. . .] I suggest that (my readers) consider all the precedents with which they are acquainted, and see whether there is one solitary instance of any colonisation being carried on with the consent of the native population. There is no such precedent. The native populations [. . .] have always stubbornly resisted the colonists.“

Auch für die zionistische Mehrheit um David Ben-Gurion wurden die einheimischen Araber zum „Problem“, schon in der Mandatszeit und dann vor allem im Krieg 1947/48. Und auch Ben-Gurion schätzte ihren Widerstand viel realistischer ein als manche späteren Interpreten, nämlich als Gegenwehr gegen das, was sie als Usurpation ihres Landes ansahen. 2. Die Summe der historischen Verantwortung Wie viele moderne Nationen wurde auch Israel in gewaltsamen Auseinandersetzungen geboren: aus dem „Bürger“-Krieg zwischen Juden und Arabern in Palästina und aus der erfolgreichen Verteidigung gegen den Angriff mehrerer, wenn auch schwacher arabischer Armeen. Als Ergebnis verloren Hunderttausende palästinensischer Araber durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat. Für die histori5 Jabotinsky, Vladimir: The Iron Wall, in: The Jewish Herald, 26. November 1937 (zuerst 1923 auf Russisch erschienen), hier zitiert nach http://writingrights.org/2010/ 06/14/zev-jabotinskys-the-iron-wall-from-the-south-african-jewish-herald-26-november1937 [Zugriff am 12. Mai 2011].

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schen Ursachen des Nahost-Konflikts tragen jedoch viele Länder und Völker Mitverantwortung. Hätte Europa die Emanzipationsversprechen der Aufklärung eingelöst, dann wäre der Zionismus die Position einer kleinen Minderheit unter den Juden geblieben. Ohne den europäischen Antisemitismus, die Pogrome im zaristischen Russland und die Anfeindungen gegenüber den Juden in Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn hätte es die zionistischen Gründungsschriften nicht gegeben. Ohne den vehementen polnischen Antisemitismus in den 1920er und 1930erJahren und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wäre die Einwanderung polnischer Juden in Palästina deutlich geringer ausgefallen. Ohne Nazi-Deutschland und die Shoah hätten sich die amerikanischen Juden nicht nahezu einmütig hinter den Zionismus gestellt und ihn nach Kräften politisch und wirtschaftlich unterstützt, hätten führende Politiker der USA und große Teile der Weltöffentlichkeit die Gründung Israels nicht als eine moralische Notwendigkeit angesehen. Wäre die internationale Staatengemeinschaft, allen voran die USA, offener für die Einwanderung von Juden gewesen, die durch Deutschland und andere europäische Länder verfolgt und bedroht wurden, dann wären gewiss viel weniger nach Palästina gegangen. Es gäbe kein Israel ohne den britischen Imperialismus und ohne die BalfourErklärung, ein Produkt des Ersten Weltkrieges und der europäischen Großmachtkonkurrenz. Und schließlich ist die arabische Seite zu erwähnen, die schon früh nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, sich nur verteidigt zu haben. Schon in der Mandatszeit gab es in arabischen Ländern antijüdische Pogrome, und in der Folge der israelisch-arabischen Kriege kam es zu Auswanderungsdruck bis hin zur Enteignung und Vertreibung jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus arabischen Ländern in der Größenordnung von mehreren Hunderttausend.

3. Weitere historische Tiefendimensionen Schließlich lassen sich historische Dimensionen aufzeigen, die noch weit über das Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Eine solche Dimension bezieht sich auf die Geschichte der Kreuzzüge und den damit verbundenen alten Konflikt zwischen Orient und Okzident. Der Traditionszusammenhang der Kreuzzüge, den die arabische Seite schon sehr früh beschwor und der durch das Anwachsen eines politisierten religiösen Fundamentalismus im Islam wieder aufgewertet wird, spielte auch eine wichtige Rolle in den westlichen Ambitionen gegenüber dem „Heiligen Land“ im 19. Jhdt., während des Ersten Weltkrieges und noch danach bis hin zum radikalen Pro-Zionismus in der heutigen evangelikalen Wählerklientel in den USA. Eine zweite historische Tiefendimension liegt in dem von Europa ausgehenden Globalisierungsprozess, der in der frühen Neuzeit begann und den Siedlungs-

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kolonialismus einschließt. Der historische Ort des Zionismus und seine Tragik, wenn man so will, bestünden dann darin, dass er eine Art Schlusslicht in diesem Prozess bildet. 1947 wurde Indien unabhängig, das heißt die Ausrufung des Staates Israel nur wenig später stellt „den Höhepunkt und zugleich das Ende des kolonialen sowie des imperialen Zeitalters“ dar.6 An eine solche Perspektive lassen sich weitere Überlegungen anschließen. So kann man zwischen zwei Formen von Siedlungs- und Pionierstaaten unterscheiden. In Nordamerika, Teilen Südamerikas, in Australien und Neuseeland gelang es europäischen „Bruchstücks-Gesellschaften“, sich zu verankern, die einheimische Bevölkerung zu überwältigen, auszulöschen oder wenigstens zu marginalisieren. So sind aus den ursprünglich von außen kommenden Bruchstücks-Gesellschaften mehr oder weniger unangefochtene Mehrheitsgesellschaften geworden; ein großer Teil von ihnen erscheint heute als unproblematisch, konsolidiert und unangefochten.7 Andere von Europa kommende Bruchstücks-Gesellschaften wie die Königreiche der Kreuzfahrer, Südafrika, Rhodesien, das französische Algerien und Israel haben die einheimische Bevölkerung weder ausgelöscht noch dauerhaft marginalisiert. Im Falle des jüdischen Staates ist die demographische, kulturelle und symbolische Verdichtung Palästinas und des gesamten Vorderen Orients dafür verantwortlich, dass seine Gründung „nicht ohne Zustimmung der dort ansässigen Gesellschaften abschließend vollzogen werden konnte und kann“ 8. Daraus ergibt sich für Israel die säkulare Herausforderung, seine Existenz, die es zunächst gegen Widerstand erkämpfen musste, durch einen echten Kompromissfrieden mit den gemäßigten Kräften auf der Gegenseite dauerhaft abzusichern. V. Schlussfolgerungen für die deutsche Haltung Wie die historische Analyse zeigt, bestehen eine Reihe von Zusammenhängen zwischen der NS-Zeit, dem Holocaust und dem Nahost-Konflikt, aber sie sind keineswegs eindeutig. Gesellschaft und Politik in Deutschland täten gut daran, besser zwischen der Verantwortung, die sich aus den Verbrechen der NS-Zeit ergibt, und der deutschen Haltung im Nahost-Konflikt, der seine eigene Dynamik hat, zu unterscheiden. Gewiss, die Prinzipien, die sich aus der Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit ergeben, gelten auch für das deutsche Verhältnis zum Nahost-Konflikt, und zwar unabhängig von seiner historischen Verursachung. Israel ist heute die Heimat von fast der Hälfte aller Juden weltweit, darunter eine große Zahl von Holocaust-Überlebenden mit ihren Familien. Daraus folgt eine besondere Verpflichtung Deutschlands, für Israels Recht auf Sicher6

Brumlik, Micha: Kritik des Zionismus, Hamburg 2007, S. 146. Lustick, Ian: Between Samson and Jeremiah, in: The Middle East Institute (Hrsg.): Israel: Growing Pains at 60, Washington, D.C. 2008, S. 62–64, hier S. 62. 8 Brumlik: Kritik des Zionismus (wie Anm. 6), S. 148. 7

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heit, auf Schutz vor Antisemitismus oder vor Pauschalisierung, ungleichen Maßstäben, unzulässigen Vergleichen oder gar Dämonisierung einzutreten. Was die historischen Ursachen des Nahost-Konflikts angeht, so lässt sich freilich auch eine Mitverantwortung Deutschlands für das Schicksal der Palästinenser festhalten, und zwar auch dann, wenn man es nicht als eine Sekundärfolge der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Verbrechen sieht. Die Grundkonstellation des Nahost-Konflikts ist älter als NS-Zeit, Holocaust und Kollaboration. In seinen Ursprüngen war der Zionismus, der sich in die Tradition des europäischen Siedlungskolonialismus stellte und sich den britischen Imperialismus zunutze machte, eine Reaktion auf den europäischen Nationalismus und Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Führenden Zionisten war von Anfang an klar, dass die Vision einer nationalen Heimstätte in Palästina nur gegen Widerstand und zu Lasten der einheimischen Araber zu realisieren sein würde. Vor diesem Hintergrund sind die Palästinenser in der Tat Folgeopfer des europäischen Nationalismus geworden. Durch diese Zusammenhänge erhält die deutsche Nahost-Politik zusätzliche Brisanz. Grundsätzlich und grundgesetzlich gilt es zu beachten, dass die entschiedene Parteinahme für die Sicherheitsbedürfnisse und die Menschenrechte einer Gruppe nicht zu Lasten der Rechte Dritter gehen darf, selbst dann nicht, wenn diese Gruppe historisch in dramatischer Weise unter den Verfehlungen und Verbrechen der Vorfahren ihrer Fürsprecher zu leiden hatte. In einem Interview meinte der israelische Autor und Regisseur Etgar Keret einmal, der Holocaust verleihe Israel keine Immunität. Es sei eine Pflicht für die Deutschen, die Welt zu einem sichereren Platz für alle Menschen zu machen, und nicht nur für Israelis. Es wäre sogar eine Art Missachtung der Holocaust-Toten, wenn er die Deutschen gegenüber Israel verstummen ließe.9 Ähnlich hat es Judith Butler für den innerjüdischen Diskurs formuliert:10 „Die Tatsache großen Leidens rechtfertigt weder Rache noch legitime Gewalt, sondern muss im Sinne einer Politik mobilisiert werden, die das Leiden universell verringern will, einer Politik, der es darum geht, die Unantastbarkeit des Lebens, aller Menschenleben, anzuerkennen.“

Historisch-empirisch muss Deutschland Israel nicht nur aufgrund des Holocaust in besonderer Weise gerecht werden, sondern auch als einem Land, das aus einer doppelten gesamteuropäischen Problematik heraus entstanden ist: Diskriminierung und Verfolgung mit der Reaktion eines nationalistischen, inzwischen auch fundamentalistischen Siedlungskolonialismus, dessen Folgen andere zu tragen hatten und in Form gravierender Verletzungen ihrer Menschen- und Bürger9

Frankfurter Rundschau, 17. März 2008. Butler, Judith: Der Antisemitismus-Vorwurf: Juden, Israel und die Risiken öffentlicher Kritik, in: Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main 2004, S. 60–92, hier: S. 62 f. 10

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rechte immer noch tragen. Die einzige dauerhafte Lösung für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, und zwar eine Lösung, die im Grundsatz seit 1988 und im Detail seit der Genfer Initiative von 2003 auf dem Tisch liegt, wird von Israel seit Jahrzehnten kontinuierlich buchstäblich verbaut. Die westlichen Verbündeten protestieren zwar immer wieder dagegen und gegen die anhaltende Besatzung, aber sie nehmen beides hin. Die Bundesregierung hätte gut daran getan, den Antrag auf Aufnahme eines palästinensischen Staates in die Vereinten Nationen zu unterstützen. Ihrer Weigerung, sich auf dieses Anliegen einzulassen, liegt nach meiner Auffassung sowohl eine Fehldeutung der Geschichte des Nahost-Konflikts als auch eine Fehldeutung der Erblast des Holocaust zugrunde. Wenn die deutsche Politik die historischen und aktuellen kolonialen Dimensionen des Nahost-Konflikts ausblendet und ihn ausschließlich in den Parametern des europäischen Geschichtsraums von Judenhass und Judenverfolgung deutet, dann praktiziert sie eine falsche Form der Solidarität, die weder den realen Problemen in Israel selbst noch denen im Konflikt mit den Palästinensern gerecht wird.

Sektion III: Verfassungs- und Geistesgeschichte der Moderne

„Die Freyheit ist der Menschen Eigenthum“ Zur Frühgeschichte des deutschen Liberalismus Hans Fenske Vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert war der Liberalismus im europäischen Kulturkreis die wirkungsmächtigste politische Kraft. An der Ausbildung dieser Gedankenwelt waren viele Männer beteiligt, die gewichtigsten Beiträge kamen dabei aus England, das in den fünf Jahrzehnten von 1640 bis 1689 immer wieder von heftigen Auseinandersetzungen bis hin zum Bürgerkrieg erschüttert wurde. Henry Parker, Philip Hunton, John Sadler, George Lawson, John Milton und James Harrington entwickelten hier zwischen 1642 und 1659 das Modell eines gewaltenteilenden Staates mit unabdingbarer Mitwirkung von Repräsentanten der Bevölkerung an der Gesetzgebung.1 In dem feierlichen Akt in Whitehall am 13. Februar 1689, in dem Maria, die Tochter des vertriebenen Königs Jakob II., und ihr Gemahl Wilhelm III. von Oranien, Statthalter der Niederlande, die Bill of Rights anerkannten und danach die Krone übertragen bekamen, ist die Geburtsstunde der konstitutionellen Monarchie zu sehen. Aber der Liberalismus war weitaus mehr als nur eine Verfassungsbewegung. Seine grundlegende Idee war, dass die Menschen von Natur aus nach Freiheit und Selbstbestimmung strebten und dass eine angemessene gesellschaftliche Ordnung darauf Rücksicht nehmen müsse. Jedermann sei es zu ermöglichen, seine Kräfte und Fähigkeiten frei zu entfalten und das Beste aus ihnen zu machen. Die Verfolgung des individuellen Nutzens diente nach dieser Sicht zugleich der Gesamtheit und deren Fortschritt. Der Gedanke „vom sozialen Nutzen individueller Freiheit“ hatte im liberalen Denken zentralen Rang.2 Die Entwicklung in England wurde in Deutschland mit großer Anteilnahme beobachtet, die politisch interessierte Öffentlichkeit war hierzulande über das dortige Geschehen ungewöhnlich gut informiert. Dafür sorgten Flugblätter, die Periodika, die Meßrelationen und auch Zeitungssänger. Anfänglich galt die Sympathie dabei überwiegend dem Königtum, aber die Stimmung wandelte sich. So 1 Brocker, Manfred: Die Grundlagen des liberalen Verfassungsstaates. Von den Levellern zu John Locke, München 1995; Zagorin, Peter A.: A History of Political Thougt in the English Revolution, London 1954. 2 Ballestrem, Karl G.: Klassischer englischer Liberalismus, in: Rohe, Karl (Hrsg.): Englischer Liberalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Bochum 1987, S. 1–37, hier S. 12.

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hielt der Reichstag es 1654 für nötig, ein Verbot selbständiger Schriften mit positiven Urteilen über die Entwicklung in England auszusprechen.3 Mit den Informationen, die von dort nach hier gelangten, wurden natürlich auch liberale Vorstellungen übermittelt, aber das hatte kaum Bedeutung für die politische Grundsatzdiskussion. Der Gedanke der Volkssouveränität, wie ihn vor allem Althusius zu Beginn des 17. Jahrhunderts dargelegt hatte, fand kein sonderliches Echo, und ebenso verlor das Konzept der Mischverfassung an Resonanz.4 Dagegen wurde die Notwendigkeit eines starken Staates, in dem die Gewalt tunlichst in einer Hand liegen sollte, weithin anerkannt. Den größten Einfluss hatte dabei Samuel Pufendorf.5 Geboren wurde er 1632 als Sohn eines Pfarrers in Sachsen. Er studierte in Leipzig und kurzfristig in Jena auf Wunsch seines Vaters Theologie, beschäftigte sich aber mehr mit juristischen, philosophischen und kameralistischen Fragen. Nach dem Erwerb des Grades eines Magister artium wurde er Hauslehrer beim schwedischen Gesandten in Kopenhagen. Im dänisch-schwedischen Krieg 1659/60 war er acht Monate in Haft, in dieser Zeit schrieb er sein erstes naturrechtliches Werk ,Elementorum jurisprudentiae universalis libri duo‘, das 1660 in Den Haag erschien. Kurze Zeit studierte er in Leiden, dann erhielt er 1661 an der Universität Heidelberg ein eigens für ihn geschaffenes, in der Philosophischen Fakultät angesiedeltes Extraordinariat für Völkerrecht und Humaniora, das bald in ein Ordinariat für Natur- und Völkerrecht und Humaniora, dann in ein Ordinariat für Natur- und Völkerrecht umgewandelt wurde; es war dies der erste Lehrstuhl dieser Art in Deutschland. Von 1670 bis 1688 wirkte er in Schweden, zunächst als Professor für Natur- und Völkerrecht an der Universität Lund, ab 1677 als Hofhistoriograph. 1688 kehrte er nach Deutschland zurück. Er wurde brandenburgischer Hofhistoriograph in Berlin. Dort starb er im Herbst 1694. In der Heidelberger Zeit entstand seine unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano veröffentlichte Schrift über die Verfassung des Deutschen Reiches ,De statu Imperii Germanici‘ die weithin Aufsehen erregte. In Lund verfasste er seine Hauptwerke, die 1672 veröffentlichte große

3 Berghaus, Günter: Die Aufnahme der englischen Revolution in Deutschland 1640– 1689, Band 1, Studien zur politischen Literatur und Publizistik mit einer Bibliographie der Flugschriften, Wiesbaden 1989, Walther, Karl Klaus (Bearb.): Britannischer Glückswechsel. Deutschsprachige Flugschriften des 17. Jahrhunderts über England, Wiesbaden 1991. 4 Nippel, Wilfried: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980. 5 Zusammenfassend: Denzer, Horst: Pufendorf, in: Maier, Hans/Rauch, Heinz/Denzer, Horst (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. Zweiter Band: Von Locke bis Max Weber, München 1968, S. 27–52; Hammerstein, Notker: Samuel Pufendorf, in: Stolleis, Michael (Hrsg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik – Politik – Naturrecht, Frankfurt am Main 19872, S. 172–196; Denzer, Horst (Hrsg.): Samuel von Pufendorf. Die Verfassung des Deutschen Reiches, Frankfurt am Main u. a. 1994.

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Darstellung des Natur- und Völkerrechts ,De Jure Naturae et Gentium Libri octo‘ und das kurz darauf folgende kürzere ,De Officio Hominis et Civis iuxta Legem Naturalem‘. Ab 1677 wirkte er vornehmlich als Geschichtsschreiber. In der Vorrede zu seiner ,Einleitung zur Geschichte der vornehmsten Reiche‘ bemerkte er 1682, nebenbei, die Historie sei die anmutigste und nützlichste Wissenschaft. Pufendorfs Hauptwerke fanden ein großes Echo, mit ihnen wurde er zum Klassiker des Naturrechts. Das ,Natur- und Völkerrecht‘ wurde bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gedruckt und vielfach in moderne Sprachen übersetzt, und ,De Officio‘ wurde noch häufiger aufgelegt und hatte eine sehr starke Ausstrahlungskraft. Selbstverständlich wurde es auch außerhalb Deutschlands wahrgenommen. Es wirkte anregend auf John Locke und, in den britischen Kolonien in Nordamerika, auf den Vorkämpfer der kongregationalistischen Kirchenverfassung John Wise, der Pufendorf seinen maßgeblichen Führer nannte. Auch Jean Jacques Rousseau schätze ihn, wenngleich er sich vielfach kritisch mit ihm auseinandersetzte. Der französische Literarhistoriker Paul Hazard sagte 1935 über ,De Officio‘, der Titel ,Die Pflicht des Menschen und des Bürgers‘ erscheine mindestens ein Jahrhundert verfrüht und erinnere an das Vokabular der Französischen Revolution. „Tatsächlich enthält das Buch eine Reihe von Ergebnissen, die sich forterbten und schließlich das Denken des folgenden Jahrhunderts beherrschen sollten“, nämlich die philosophische Abstraktion, die soziale Moral und den politischen Vertrag.6 Und Hans Welzel nannte als wesentlichen Beitrag Pufendorfs zum Denken der Folgezeit erstens „die auf der sittlichen Freiheit des Menschen gegründete Idee der Menschenwürde (dignitas naturae humanae)“, zweitens „die aus ihr abgeleitete Idee der naturrechtlichen Gleichheit und Freiheit aller Menschen“, drittens den Gedanken, „dass rechtmäßige Herrschaftsverhältnisse nur durch freie vertragsmäßige Zustimmung der Beherrschten begründet werden können“, und viertens die Idee der Toleranz, die auf dem Boden eigener Glaubensgewißheit die gegenseitige Achtung fremden Glaubens fordert.7 Das sind unzweifelhaft Bausteine zur Fundierung des liberalen Denkens. Das Naturrecht ist nach Pufendorfs Ansicht ausgeprägt sozial angelegt. Es hat seinen Grund in der von Gott geschaffenen natürlichen Ordnung, vor allem in der menschlichen Natur. Diese kann sich nur in Freiheit selbst verwirklichen. Jedermann muss gemäß der Natur handeln, nur durch sie erlangt er Einsicht in die gerechte Ordnung der Dinge. Von Natur aus strebt der Mensch nach Glückseligkeit und Vollkommenheit. Diese Ziele kann er nicht vereinzelt erreichen, er muss sich zusammenschließen. Was er an Annehmlichkeiten kennt, ist aus der gegen-

6 Hazard, Paul: Die Krise des europäischen Geistes. La Crise de la Conscience Europénne 1680–1715. Aus dem Französischen übertragen von Harriet Wegener, Hamburg 1939, S. 320 (frz. Original Paris 1935). 7 Welzel, Hans: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1958, S. 6 f.

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seitigen Hilfe der Menschen erwachsen. Jeder muss so gut er kann die Gemeinschaft pflegen und bewahren. Was die Gemeinschaft fördert, ist gemäß dem Naturrecht geboten, was sie behindert, ist untersagt. Nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen kann der Mensch als vernünftiges und sittlich freies Wesen seine Menschenwürde verwirklichen – dieser Ausdruck begegnet bei Pufendorf erstmals im Schrifttum. Der Staat, der höchste menschliche Zusammenschluss, beruht auf mehreren Verträgen. Jeder einzelne muss zunächst mit allen anderen vereinbaren, eine dauernde Gemeinschaft zu bilden, es muss sodann durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden, welche Staatsform bestehen soll. Danach ist das Herrschaftsorgan zu bestimmen, und dieses verpflichtet sich endlich, Sorge für das allgemeine Wohl zu tragen. Dieses Herrschaftsorgan, das summum imperium, ist die Seele des Staates. Ihr kommt die Souveränität zu, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass das summum imperium ungeteilt in einer Hand liegt. Nur dann hat man einen gesunden Staat vor sich, eine respublica regularis, andernfalls handelt es sich um eine Entartung, um eine respublica irregularis.8 Diejenigen, die einer Mischverfassung das Wort redeten, fertigte Pufendorf von oben herab ab, wie er überhaupt eine Neigung zu apodiktischen Äußerungen hatte: Sie reden nur daher. An Staatsformen nennt er die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie. Letztere ist ihm die älteste und natürlichste Staatsform, weil sie der natürlichen Gleichheit am nächsten steht. Hier ist die Volksversammlung die oberste Autorität und darin liegt die Gefahr der Unbeständigkeit, denn das Volk kann seinen Willen ändern. So hält er die Demokratie nicht für die beste Staatsform. An anderer Stelle meint er, dass die Frage nach der besten Staatsform ohnehin nicht zu entscheiden sei. Pufendorf zieht die Monarchie oder die Aristokratie der Demokratie vor. Er räumt aber ein, dass der Souverän sich irren kann. Deshalb haben, so trägt er weiter vor, viele Völker es für nützlich befunden, ihm gewisse Schranken zu setzen und ihn für bestimmte Fragen an die Mitwirkung eines Rates zu binden. Bei der Herrschaftsübertragung kann ausdrücklich festgelegt werden, dass bei solchen Fällen eine Versammlung des Volkes oder der Vornehmsten einzuschalten ist. Allerdings muss dem Souverän auch dann das Recht verbleiben, das beratende Gremium zu berufen und aufzulösen sowie ihm die Fragen vorzulegen, über die verhandelt werden soll. Immerhin kann die Versammlung auf Dinge aufmerksam machen, über die ihres Erachtens gesprochen werden muss. Diese Konstruktion erinnert an die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts in ihrer frühen Gestalt. Im Grunde spricht sich Pufendorf damit doch für eine Mischverfassung aus, allerdings unter starker Betonung der Stellung des Souveräns, gemeinhin eines Monarchen. Werden solche Vorbehalte wie die eben genannten bei der Herrschaftsübertragung gemacht, kann man schwerlich noch von „einer echten Monarchie“ sprechen, in 8 Pufendorf, Samuel: De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo, Buch 2, Kap 8, § 12 (Ausgabe Frankfurt am Main 1719, S. 320). Erstausgabe Lund 1673.

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der „alle Großen vom Willen des Königs abhängig und ihm zur Rechenschaft verpflichtet sind“.9 Der Zweck des Staates ist die Gewähr der Sicherheit nach innen und außen und die Förderung der Wohlfahrt seiner Bewohner. Wie das verwirklicht werden soll, ist durch die Rechtsordnung festzulegen, denn jeder muss wissen, woran er sich zu halten hat. Die Gesetze müssen vernünftig und für die Gesetzesunterworfenen einsichtig sein. Jede Herrschaft muss auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein. Ist sie das nicht, so gibt es ein Recht auf Widerstand. Über dessen Handhabung äußerte Pufendorf sich freilich nicht. Pufendorfs gelehrte Deduktionen wurden naturgemäß nur im kleinen Kreis der juristisch und philosophisch Gebildeten wahrgenommen. Eine weitaus größere Verbreitung fand der im Herbst 1668 in Nürnberg veröffentlichte Roman ,Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch‘ des Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. In diesem Buch, das schnell mehrfach nachgedruckt und damit ein großer Erfolg wurde, stellte der 1621 oder 1622 in Gelnhausen geborene und seit 1667 als Schultheiß in Renchen tätige Autor die wechselhaften Geschicke eines Mannes während des Dreißigjährigen Krieges vor Augen, wobei eigene Erfahrungen fraglos einflossen – Grimmelshausen war zeitweilig Soldat und Regimentsschreiber.10 Er lässt seine Hauptperson, Simplicissimus, eines Tages, auf Vorposten stehend, einen des Weges daher kommenden ehrbar gekleideten Mann festnehmen und verhören. Der Arrestant ist unverkennbar ein Phantast, gibt er sich doch als Jupiter aus. Der angebliche Jupiter erklärt, er habe seinen himmlischen Thron verlassen, um die Verhältnisse auf Erden gründlich zu verbessern und diejenigen zu bestrafen, die Strafe verdienen. Er wolle deshalb einen deutschen Helden schaffen, der mit seinem scharfen Schwert alle Bösen töten werde. Dieser Held werde dann jeder Stadt das sie umgebende Land zuweisen, damit sie es in Frieden regiere, „und von jeder Stadt durch ganz Deutschland zwei von den gelehrtesten und klügsten Männern zu sich nehmen, aus denselben ein Parlament machen, die Städte auf ewig vereinigen, die Leibeigenschaft samt allen Zöllen, Akzisen, Zinsen, Gülten und Ungelten durch ganz Deutschland aufheben und solche Anstalten machen, dass man von keinen Fronen, Wachen, Kontribuiren, Geld geben, Kriegen noch einiger Beschwerung beim Volk mehr wisse“, sondern sehr glücklich leben werde. Die bisherigen Fürsten müssten dann leben wie an-

9 Denzer: Pufendorf, Verfassung, 7. Kapitel, § 8, (wie Anm. 5), S. 197. Welzel: Naturrechtslehre (wie Anm. 7), S. 71–73, Börner, Bodo: Die Lehre Pufendorfs von der beschränkten Monarchie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 110, Heft 3, 1954, S. 510–521. 10 Scholte, Jan Hendrik (Hrsg.): Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. Abdruck der editio princeps (1669) mit der stark mundartlich gefärbten, nicht von einem berufsmäßigen Korrektor überarbeiteten Originalsprache des Verfassers, Halle 19492, S. 208– 214; Boehncke, Heiner/Sarkowicz, Hans: „Grimmelshausen“. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor, Frankfurt am Main 2011.

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dere gemeine Leute auch oder aber abwandern. Dazu machte der angebliche Gott einige Vorschläge. Der deutsche Held werde sodann den europäischen Teil des Osmanischen Reiches von den Türken befreien, das Römische Kaisertum in Konstantinopel wiederherstellen und die christlichen Konfessionen einigen. Danach würden die europäischen Herrscher ihre Kronen und Länder „von der deutschen Nation aus freien Stücken zu Lehen empfangen, und alsdann wird, wie zu Augusti Zeiten, ein ewiger beständiger Friede zwischen allen Völkern auf der Welt sein.“ 11 Grimmelshausen zeichnete mit dieser Jupiter-Episode das Bild eines einheitlichen und mächtigen Deutschland mit einer Gesellschaft von Freien und rechtlich Gleichen, in dem alle das wirtschaftliche Aufblühen hemmenden Belastungen beseitigt sein und dessen Willensbildung sich im Zusammenwirken eines starken Monarchen mit einem Parlament vollziehen sollte. Da die Mitglieder dieses Parlaments aus dem Kreis der gelehrtesten und klügsten Männer in den Städten berufen werden sollten, war nicht an ein Patriziat im herkömmlichen Sinne und schon gar nicht an einen Adel gedacht. Wie Grimmelshausen sich die Berufung vorstellte, blieb ungesagt – man könnte an ein Präsentationsrecht der Städte denken, an die Vorlage einer Namensliste, damit dem deutschen Helden die Auswahl erleichtert werde. Auch blieb ungesagt, wie die Tätigkeit des Parlaments aussehen sollte. Hätte es nur Rat geben dürfen oder auch Mitentscheidungsrechte gehabt? Warum die Jupiterepisode eine Satire sein soll, ist unerfindlich.12 Aus ihr spricht eine tiefe Friedenssehnsucht und der Wunsch nach einer durchgreifenden Verbesserung der Zustände in Deutschland. Woher Grimmelshausen die Anregung zu dieser bei Beschreibung der künftigen sozialen Verhältnisse konsequent liberalen Vision nahm, lässt sich nicht sagen. Der von ihm benutzte Ausdruck Parlament hatte sich in Westeuropa bereits im 13. Jahrhundert als Bezeichnung für beratende Versammlungen durchgesetzt. Vielleicht orientierte Grimmelshausen sich an England. Vom jüngsten Geschehen dort könnte er gute Kenntnisse gehabt haben. Als der englische Bürgerkrieg ausbrach, war er 18 oder 19 Jahre alt, und die Wiederherstellung der Monarchie lag erst wenige Jahre zurück, als er seinen Roman zu schreiben begann. Auch im Werk Johann Joachim Bechers finden sich frühliberale Gedanken, freilich hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse weniger entschieden als bei Grimmelshausen. Becher, 1635 in Speyer als Sohn eines lutherischen Pfar11

Scholte: Grimmelshausens Simplicissimus (wie Anm. 10), S. 212 u. 214. Breuer, Dieter: Krieg und Frieden in Grimmelshausens ,Simpicissimus Teutsch‘, in: Der Deutschunterricht, 37, Heft 5, 1985, S. 79–96, Breuer, Dieter: Grimmelshausens politische Argumentation. Sein Verhältnis zur absolutistischen Staatsauffassung, in: Daphnis. Zeitschrift für die Mittlere Deutsche Literatur, 5, Heft 2–4, 1976, Weydt, Günther/Wimmer, Ruprecht (Hrsg.): Grimmelshausen und seine Zeit. Die Vorträge des Münsteraner Symposions zum 300. Todestag des Dichters, Amsterdam 1976, S. 302– 332. Dort nennt Breuer S. 326 die Jupiterepisode einen „Narrendiskurs“. Auch Mannack, Eberhard: Politische und verfassungsgeschichtliche Aspekte im Werk von Grimmelshausen, in: Ebd., S. 333–341. 12

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rers geboren, gelangte nach dem frühen Tod seines Vaters und der Wiederverheiratung seiner Mutter spätestens 1647 nach Stockholm, wo er wohl bis 1651 lebte und bald zum Unterhalt seiner Angehörigen beitragen musste – die zweite Ehe seiner Mutter hatte offenbar nur kurze Zeit gewährt. Er gab Privatunterricht und vermittelte dabei oft Wissen, das er selbst erst kurz vorher erworben hatte. 1651 begann er ein mehrjähriges Wanderleben. Die Stationen waren Danzig, Breslau und Wien, er dürfte aber auch Italien und die Niederlande besucht haben. 1657 kam er nach Mainz, wo er 1660 zum kurfürstlichen Mathematicus und Medicus ernannt wurde und im Jahre darauf als Mediziner promovierte. 1653 hatte er für kurze Zeit die Professur seines Schwiegervaters inne, dann ging er nach Würzburg und übersiedelte von dort nach München. Dort wurde er im Juni 1664 zum kurfürstlichen Leibarzt und Mathematiker ernannt, aber seine eigentliche Aufgabe bestand in der wirtschaftspolitischen Beratung des Kurfürsten. Bald machte er eine Studienreise in die Niederlande, die er auch von Mainz aus schon im amtlichen Auftrag besucht hatte. 1665 wurde er zu Verhandlungen über Finanzfragen nach Wien entsandt. Hier wurde er Mitglied des auf seinen Vorschlag hin gegründeten Commerzkollegiums und Hofrat, behielt aber seine Stellung in Bayern bei. Bis 1670 lebte er überwiegend in München, dann schied er aus dem bayerischen Dienst und trat in den des Kaisers, in dem er bis 1677 verblieb. Danach lebte er zunächst einige Zeit in den Niederlanden, kurz im mecklenburgischen Güstrow und ab Ende 1679 in London, wo er im Oktober 1682 starb, nur 47 Jahre alt.13 Mit seinen vielfältigen Tätigkeiten, mit zahlreichen Denkschriften und etlichen bedeutenden Publikationen aus einem weiten Themenfeld hatte er sich einen weithin geachteten Namen gemacht. Sein erster Biograph, Urban Gottfried Bucher, sah 1722 in ihm das Muster einer Nützlich Gelehrten und war sich nicht ganz schlüssig, „ob er mehr ein Philologus oder Mathematicus, ein Chimicus oder Cameraliste, ein Medicus oder Kaufmann gewesen“ sei, um sich dann dafür zu entscheiden, ihn vornehmlich einen vortrefflichen Kameralisten zu nennen.14 Eine Generation später urteilte Georg Heinrich Zincke, der in Braunschweig und Helmstedt Rechtswissenschaften und Kameralistik lehrte, Becher habe fast alle Gelehrten seiner Zeit in vielen Dingen, „sonderlich in Chymie . . . im Policey-, Manufaktur- und Commercien-Wesen unter uns Deutschen übertroffen.“ 15 Wilhelm Dilthey maß Becher 1902 denselben Rang zu wie Leibniz, und der Becher-Biograph Herbert Hassinger nannte ihn

13 Hassinger, Herbert: Johann Joachim Becher 1635–1682. Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus, Wien 1951; Smith, Pamela H.: The business of alchemy. Science and culture in the Holy Roman Empire, Princeton 1994. 14 Bucher, Gottfried Urban: Das Muster eines Nützlich Gelehrten in der Person des Herrn Doctor Johann Joachim Bechers, Nürnberg u. Altendorf 1722, S. 3 f. 15 Zincke, Georg Heinrich: Johann Joachim Bechers politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte und Länder, Frankfurt am Main u. Leipzig 1759, S. 8.

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1951 einen „der bedeutendsten Deutschen seines Jahrhunderts“, der seiner Zeit in vielem weit voraus gewesen sei.16 Bechers Hauptwerk ,Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte, Länder und Republiken‘ entstand in den Münchener-Jahren ab 1664, war 1667 abgeschlossen und erschien 1668 in Frankfurt am Main; es verdankte dem ähnlich betitelten Buch des Niederländers Jan de la Court, das 1667 herausgekommen war, manche Anregung. Wegen des hier und da von Becher angeschlagenen scharfen Tons wurde das Buch mancherorts eingezogen. 1673 erschien eine zweite, gegenüber der Erstausgabe wesentlich erweiterte Auflage, weshalb der Titel jetzt in ,Politischer Discurs‘ abgeändert war. Der Ton war nun zurückhaltender. Das Werk wurde jetzt mit einer Abhandlung ,Von Form der Regierung oder denen, so regieren, und welche ihnen darinnen assistieren‘ eröffnet und enthielt des Weiteren zahlreiche Schriftstücke, die während Bechers politischer Beratertätigkeit entstanden waren, beginnend mit der Polizeiordnung für Mainz. Auch war eine 1672 erschienene gegen Frankreich gerichtete Flugschrift aus der Feder des kaiserlichen Historiographen und Publizisten Eberhard Wassenberg, ,Französische Goldgrube‘, die sich inhaltlich weitgehend mit Bechers Ansichten deckte, aufgenommen – Becher und Wassenburg kannten sich gut. Durch all das war der Umfang des Werks auf mehr als das Fünffache angewachsen und belief sich jetzt auf fast 1300 Seiten.17 In dieser Form wurde es 1688 und 1720 neuerlich gedruckt. In teilweise neuer Gliederung gab es Zincke 1754 reich kommentiert und ergänzt um zahlreiche Literaturhinweise neu heraus, er sprach dabei von einem ,Grundbuch‘, das immer noch benutzt werden müsse.18 Eine zweite Auflage dieser Edition erschien 1759, also 91 Jahre nach der Veröffentlichung in der Erstfassung. Der Politische Discurs hatte langanhaltende Wirkungen. Zumeist sprach Becher von Stadt oder Gemeind, wenn er den Staat meinte, oft auch von Land. Auf die Entstehung des Staates ging er nicht weiter ein und ver16 Hassinger: Becher (wie Anm. 13), S. 9; Dilthey, Wilhelm: Die europäische Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts und ihre Organe, in: Gründer, Karlfried (Hrsg.): Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Band 3. Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Frankfurt am Main 19592, S. 3–25, hier S. 24. 17 D. Johann Joachim Bechers von Speyer/Röm. Kayserl. Majestät CommercienRaths Politische Discurs. Von den eigentlichen Ursachen deß Auff- und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken . . . Dritte Edition . . . Franckfurt M DC LXXXVIII, unveränderter Nachdruck Glashütten im Taunus 1972. Nach dieser Ausgabe wird fortan zitiert. 18 D. Johann Joachim Bechers politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte und Länder. Oder gründliche Anleitung zur Staatswirtschaft und Policey der teutschen Staaten, das erste mahl für jetzige Zeiten brauchbar gemacht und verbessert von D. Georg Heinrich Zincken, Frankfurt am Main 1754, S. D1. Zu Zincke Brückner, Jutta: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaften im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, München 1977, S. 80–91.

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wies nur darauf, dass der Mensch ein animal sociale sei und Gesellschaft suche. Die Obrigkeit war nach Becher von Gott gesetzt, um die Menschen in der wahren Religion, Liebe und Erkenntnis Gottes, in guten Sitten und guter Zucht, bei ihrer Nahrung, ihrer Gesundheit und ihrem Leben zu erhalten, sie zu beschützen und so zu regieren, dass „ein Mensch neben dem andern wohnen könne“, kurz, „sie in dem Stande der Menschheit zu erhalten.“ 19 Eindringlich legte er dar, dass jede Obrigkeit um der Gemeinde willen da sei und dem gemeinen Besten zu dienen habe, wie auch immer sie gestaltet sei. Becher hob zunächst die weltliche von der geistlichen Regierung ab und gab ersterer dabei entschieden den Vorzug. Lakonisch stellte er fest, „dass selten eine Pfaffen-Statt auf grünen Zweig kommet“ 20, gab zugleich aber zu, dass die geistliche Regierung durchaus Vorteile habe. Die Regenten seien zumeist gewissenhaft und führten wenig Krieg. Dann wandte er sich den Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu. Erstere sei zwar weit verbreitet und könne der Gemeind sehr verträglich sein, aber nicht jeder Regent sei seinem Amt gewachsen, Hofbedienstete und Favoriten hätten oft großen Einfluss, und wegen des Strebens vieler Herrscher, ihr Land zu erweitern, komme es oft zum Kriege. Die Aristokratie beurteilte er günstiger, da in ihr ein Ausschuss der Besten und Verständigsten das Regiment innehabe. Hier sei viel weniger über Unverstand und Luxus zu klagen, und so florierten derlei Republiken seines Erachtens denn auch besser als Länder, die durch absolute Herren regiert wurden. Aber auch hier sah er Nachteile, namentlich die häufigen Fraktionsbildungen, die durchaus zum Niedergang des Gemeinwesens führen konnten, den Mangel an Entschlusskraft und die Langwierigkeit des Entscheidungsprozesses, die Gefahr einer ausgedehnten Korruption sowie die Neigung der Führungsschicht, auf den eigenen Nutzen zu sinnen und sich die gemeine Wohlfahrt nicht so zu Herzen zu nehmen wie ein Fürst. Über die Demokratie sagte Becher zusammenfassend, dass hier die Oberen „den Unterthanen Rechnung von ihrer Regierung zu geben schuldig seynd und solche, wenn sie wollen, mit im Rat sitzen und selbsten ihr bestes beobachten helfen.“ Dann zählte er die Mängel auf, die ihm hier noch gravierender als die in der Aristokratie zu sein schienen, den geringen Respekt der Bevölkerung vor der Obrigkeit, die Bildung von Fraktionen, die Neigung zu Rebellionen. Auch betonte er, dass in der Demokratie die Gefahr von Fehlentscheidungen besonders groß sei. „Wegen der meisten Stimmen“ komme es nicht selten zu einem falschen Entschluss. Angesichts der bei den reinen Regierungsformen gegebenen Mängel trat Becher dafür ein, „aus allen dreyen Arten von Regierungen das Beste zu nehmen und ein vermischtes Regiment zu machen.“ Damit schloss er sich 19 Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 4 (erstes Zitat) und S. 40 (zweites Zitat). Vgl. insgesamt Brauneder, Wilhelm: Bechers Lehre vom Staat, in: Frühsorge, Gotthardt/ Strasser, Gerhard F. (Hrsg.): Johann Joachim Becher (1635–1682), Wiesbaden 1993, S. 41–67. 20 Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 13.

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einer seit der Antike immer wieder vorgetragenen Überlegung an. Er wollte ein monarchisches Haupt, dem aber sollten, als aristokratisches Element, hochrangige Ratsherren und, als Anleihe aus der Demokratie, ein großer Rat aus den vornehmsten Bürgern gegenüberstehen. Wenn in einer solchen Regierungsform die Ratsherren am meisten zu gebieten haben, so behält „die Regierung den Namen einer Republik“, hat aber das Haupt das meiste Gewicht, ist es „noch eine Monarchal-Regierung.“ Den Parlaments- oder Landschaftsräten ist der Regierer nach gewissen Gesetzen verpflichtet, ihre Aufgabe ist es, ihn „in den Schrancken der alten Land-Gesätzen“ zu halten und ihm Land und Leute beschützen zu helfen.21 Seine Sympathie galt der erstgenannten Form, war er doch davon überzeugt, dass Republiken besser gediehen als monarchisch regierte Länder, denn „eine Republik“ habe „nur ein Interesse“, ein anderes Land aber zwei, das eigene und das des Herrn.22 Mit der zweiten Form beschrieb er den landständischen Dualismus aber mit einer weitreichenden Perspektive. Die Landstände sollten „dem gemeinen Land, Bürgern, Baurn und deren Ausschuß obligirt“ sein, „Rechnung geben, auff- und abgesetzt werden können.“ 23 Becher verlangte damit „eine modifizierende Weiterentwicklung“ der üblichen landständischen Verfassung.24 Wie das Auf- und Absetzen, also Wahl und Abwahl, vor sich gehen sollte, erörterte er nicht. Da er von den vornehmsten Bürgern sprach, dachte er sich für die Wählbarkeit offenbar einen Zensus. Im Hintergrund dieser Überlegungen stand vage die Idee der Volkssouveränität. Becher schrieb nicht als Staatsrechtler, sein Nachdenken darüber, wie man die Verhältnisse eines Landes verbessern könnte, befasste sich vor allem mit wirtschafts- und bildungspolitischen Fragen. Fünf Jahre nach der zweiten Auflage des ,Politische Discurs‘ ging er in der 1678 in Güstrow publizierten Schrift ,Psychosophia, das ist Seelenweisheit‘ etwas näher auf die Entstehung des Staates ein. Hier erklärte er, „die Freiheit“ sei „jedem Menschen angeboren, indem ein jeder frei geboren wird, und der Natur nach zu reden“ sei „jeder ein Mensch und jeder so gut wie der ander.“ 25 Zwei Gründe führten, so hieß es hier weiter, die Menschen zu einer Verbindung und zur Unterwerfung unter eine Obrigkeit, nämlich die Furcht vor Gewalt und das Bedürfnis nach Unterstützung. Da niemand alles selbst tun könne, sei man auf Hilfe angewiesen. Damit waren der Gesellschaftsvertrag und der Unterwerfungsvertrag wenigstens kurz angedeutet. Den Staat definierte Becher als „eine volckreiche nahrhaffte Gemein“.26 Die wichtigste Staatsregel war ihm, dass die Volkszahl vermehrt, also für möglichst viele

21 22 23 24 25 26

Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 16 f. Ebd., S. 256 f. Ebd., S. 19 f. Brauneder: Bechers Lehre vom Staat (wie Anm. 19), S. 51. Zit. nach Hassinger: Becher (wie Anm. 13), S. 69. Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 2.

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Menschen Arbeit geschaffen werde. Wo die Menschen Arbeit und Brot finden, dorthin begeben sie sich. In der Bevölkerung unterschied Becher drei große Stände, den der Bauern, den der Handwerker und den der Kaufleute. Alle anderen Bevölkerungsgruppen, Geistliche, Bedienstete der Obrigkeit, Soldaten, Gelehrte und Ärzte, waren ihm Diener der Gemeinde, die von ihr besoldet und unterhalten werden mussten. Der erste und weitaus größte dieser Stände war und musste sein der Bauernstand, weil er den anderen Ständen das Material zur Verarbeitung und zum Verkauf gab. Becher meinte damit also nicht nur die Agrarbevölkerung, sondern auch alle diejenigen, die mit der Rohstoffgewinnung befasst waren, besonders die Bergleute. Der zweite Stand, der des Gewerbes, musste nach Bechers Ansicht vermehrt werden, hier vor allem waren Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Für die Verteilung des Erzeugten hatte der dritte Stand, der der Kaufleute zu sorgen. Wenn diese drei Stände nahe beieinander stehen, Hand in Hand arbeiten, sich gegenseitig unter die Arme greifen, dann machen sie „eine rechte Gemein“, dann ist kein Zweifel möglich, „dass solche Societät, Stadt, Land oder Republik erstlich zu blühender Nahrung und dadurch wegen des Zulaufs zu mächtiger populosität, hierdurch aber zu End der wahrhafftigen policey, nemblich zu einer ansehnlichen . . . menschlichen Gesellschaft gelangen“ werde.27 Je volkreicher ein Gemeinwesen ist, desto besser kann es sich verteidigen und desto weniger drohen ihm deshalb Angriffe, eine wahrlich nicht unwichtige Bedingung für sein Blühen. Becher machte viele Vorschläge, wie diese ansehnliche menschliche Gesellschaft gefördert werden konnte. Die Obrigkeit, Herrschaft und Stände im Zusammenwirken, hatte für einen freien Wettbewerb zu sorgen, also Monopole zu verhindern und die Zünfte zu verbessern. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit aber auch darauf zu richten, dass keine Polypole entstanden, in einem Bereich der Wirtschaft also zu viele Anbieter tätig waren, und sie musste Propole bekämpfen, also die künstliche Beschränkung der Konkurrenz durch Preisabsprachen, Kartelle, Aufkauf im großen Stil auf dem Lande und durch den Wanderhandel. Sie musste sich die freie Zirkulation des Geldes angelegen sein lassen und folglich um den Ausbau des Kreditwesens bemüht sein. Sie sollte des Weiteren auf Preisstabilität achten und deshalb über das ganze Land verteilt Provianthäuser mit einem genau definierten Einzugsbereich errichten, die die Agrarprodukte aufkaufen und ein ganzes Jahr lang zu den einmal festgesetzten Preisen an die Konsumenten verkaufen sollten. Allerdings wollte er nicht, dass die Landwirte an diese Provianthäuser verkaufen mussten, sie sollten sich die Abnehmer ihrer Produkte auch weiterhin frei suchen dürfen. Mit den Provianthäusern sollte kein Monopol für den Lebensmittelhandel geschaffen werden. Becher erwartete sich von ihnen nur eine Leitfunktion bei der Preisgestaltung. Was das Provianthaus für die Landwirtschaft leisten sollte, erhoffte Becher sich für das Handwerk von Werkhäu27

Ebd. S. 11.

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sern, für den Handel von Kaufhäusern. Zur Stärkung des Handels empfahl er zudem die Bildung von Kompanien. Durch die Anlage von Lohntafeln wollte er Vergleichsmöglichkeiten schaffen, davon erwartete er die Herausbildung eines angemessenen Lohnes. Durch die Steigerung der Produktion sollten Importe vermieden werden. Was im Lande selbst hergestellt werden konnte, sollte dort auch erzeugt werden. Für die Vermehrung der Produktionsmöglichkeiten dachte er an die Errichtung von Manufakturen. Die Steuerlast sollte niedrig sein, die Obrigkeit also sparsam wirschaften. Exporte wollte er mit Zöllen belegen und damit auch erreichen, dass die Preise im Lande niedrig blieben. Es sollte aber mehr produziert als verbraucht werden, so dass immer Waren exportiert werden konnten. Für geboten hielt er auch die Verbesserung der Infrastruktur, einschließlich des Baus von Kanälen. Die Sorge für die Erziehung war in Beches Sicht eine zentrale Aufgabe des Staates. Große Aufmerksamkeit widmete er dem Schulwesen.28 Bis zum Abschluss des zehnten Lebensjahres sollten alle Jungen und Mädchen die Lese-, Schreib- und Rechenschule besuchen. Diese Forderung nach einer allgemeinen Schulpflicht war geradezu revolutionär. Becher war mit ihr seiner Zeit weit voraus. Mit dem Besuch der Elementarschule war für die meisten Kinder die Schulpflicht erfüllt, aber natürlich musste es weiterführende Schulen geben. Bis zum 13. Lebensjahr sollte die Lateinschule besucht werden können, danach für zwei Jahre die Mechanische Schule, die für Vermittlung von Kenntnissen in allen Zweigen der Mathematik, der Statistik, der Buchführung sowie der Baukunst und der Mechanik zuständig war. Wer eine weitere Ausbildung erhalten sollte, konnte nach dem 15. Lebensjahr die Gelehrtenschule besuchen. Selbstverständlich hatte der Staat seine Aufmerksamkeit dem Gesundheitswesen zu widmen. Er sollte hinsichtlich der Hygiene aufklärend wirken, Krankenhäuser einrichten, eine Gebührenordnung für Ärzte erlassen und Findelhäuser gründen, damit Abtreibungen möglichst nicht mehr vorkamen. Ebenso sollte er für eine Verbesserung der Wohnbedingungen sorgen. Eingehend beschäftigte Becher sich auch mit der sinnvollen Organisation des Staatsapparates. Er schlug fünf oberste Kollegien vor. Das Collegium spirituale sollte sich um alle Fragen der Religion kümmern, das Collegium morale um die gute Ordnung des Regimentes und die Sitten der Untertanen, das Collegium doctrinale um alle Fragen der Bildung und der Wissenschaft. Das Collegium civile „gibt Achtung auf gemeiner Stadt Auffnehmen, Erhaltung, Ausgab und Einnahm“ 29, war also, modern formuliert, als Wirtschafts- und Finanzministerium konzipiert. Die fünfte oberste Behörde schließlich, das Collegium vitale, sollte für das Gesundheitswesen und die innere und äußere Sicherheit zuständig sein. 28 Oßwald, Hans Georg: Die wegweisenden pädagogischen Vorstellungen des Johann Joachim Becher von Speyer (1635–1682), Baltmannsweiler 2000. 29 Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 48.

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Dass Becher so entschieden für die Aufnahme der Gemein, für die Hebung der deutschen Wirtschaftskraft und des Wohlstandes der Bevölkerung eintrat, war gewiss auch durch die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges bestimmt, der Deutschland so schwer geschädigt hatte und dessen letzte Phase Becher als Kind noch in der besonders stark mitgenommenen Pfalz erlebt hatte. Bedeutsam für seine Sicht wurde auch, dass er durch sein Wanderleben ab 1647 die Möglichkeit hatte, die Situation anderer Länder kennenzulernen, in denen der Krieg nicht gewütet hatte. Dabei beeindruckten ihn die Niederlande besonders. Das Aufnehmen war mit Kriegen ganz und gar nicht zu vereinbaren, und so machte Becher denn auch in anonymen Flugschriften entschieden Front gegen Frankreich, das durch Ludwig XIV. mit dem Devolutionskrieg im Frühjahr 1667 wieder auf Expansionskurs gebracht wurde. Hier ist vor allem sein pseudonymes „Unvorgreiffliches Bedencken“ zu nennen, in dem er etliche verfassungs- und wirtschaftspolitische Vorschläge machte. „Ein jeder Teutscher Patriot werde“, so hieß es hier, dafür halten, dass, wenn Ludwig XIV. oder ein Mitglied seiner Familie „zur Römischen Cron kommen sollten, gewißlich das Römische Reich in die äußerste Unruh, Spaltungen und Confusionen dergestalt gerathen sollte, dass es aus einem freyen Reich die ärgste Sclavin“ würde.30 Deshalb empfahl er, dem Kaiser genaue Auflagen für die Sicherung des Reiches nach innen und außen zu machen, die Wahl von Ausländern zum Kaiser zu verbieten, den Reichsständen das Bündnisrecht wieder zu nehmen und eine starke Reichsarmee von 100.000 Mann zu schaffen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Frankreich sollten durch Reichsgesetze genau geregelt werden. In weiteren Flugschriften trat er ebenfalls für wirtschaftliche Kampfmaßnahmen gegen Frankreich ein, und Eberhard Wassenberg dürfte er mit statistischen Informationen für dessen „Französische Goldgrube“ versehen haben. Der Katalog der von Becher genannten Staatsaufgaben und der dafür zuständigen obersten Kollegien ist nicht dahin zu verstehen, dass er einen Verwaltungsstaat wollte, der sich um alles und jedes kümmerte und sich täglich in das Tun der Menschen einmischte. Insgesamt ging es ihm um eine Gesellschaft mit möglichst vielen mittelständischen Existenzen und einem hohen Bildungsgrad der Einwohner, deren Zusammenleben sich weitgehend nach Prinzipien der Marktwirtschaft regulierte. Die soziale Komponente durfte dabei nicht übersehen wer30 Joh. Antauberii unvorgreiffliches Bedencken wegen des H. Römischen Reichs Wohlstand, worinnen in specie von Commercien gehandelt wird, dabey auch andere considerable Sachen mit einlauffen, in: Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 786–824, Zitat S. 796. Ein separater Druck dieser Schrift ist nicht nachzuweisen. Antoine Aubry, Des justes prétentions du roy sur l’empire, 1667, hatte dargelegt, dass die französische Monarchie identisch mit dem Reich Chlodwigs sei, und aus dieser Behauptung die Ansprüche des französischen Königs auf große Teile des Deutschen Reiches abgeleitet. Burgdorf, Wolfgang: Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998, S. 79–83.

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den. Darauf hatte die Obrigkeit zu achten. Bei der praktischen Verwirklichung all dessen sollte die Selbstverwaltung eine beachtliche Rolle spielen. Die Preisfestsetzung in den Provianthäusern beispielsweise sollte durch alle Landwirte im Einzugsbereich dieses Provianthauses gemeinsam vorgenommen werden. An den politischen Entscheidungen sollten die Bewohner durch Repräsentanten teilnehmen. Mit der Aufgabe der Obrigkeit, die Bevölkerung im Stande der Menschheit zu erhalten und sie insgesamt glückselig zu machen, vertrug es sich ganz und gar nicht, dass es Leibeigenschaft gab. Becher nannte diese Tatsache eine schwere Frage. Er beantwortete sie nicht mit einem klaren Votum für die Abschaffung des Instituts, sondern erklärte, dass ein leibeigener Bauer, „wenn er christlich gehalten wird“, schuldig sei, an seinem Platz zu bleiben und „keine Neuerung zu machen“, betonte aber nachdrücklich, dass die Leibeigenen nicht „contra leges natures“ geplagt werden dürften.31 Menschen, denen das dennoch geschah, gestand Becher das Recht zu, sich zu wehren, erläuterte das indessen nicht weiter. Eine Möglichkeit des Sich-Wehrens war die heimliche Abwanderung. Letztlich setzte Becher auf die Selbstregulierung. Eine Obrigkeit, die sich nicht dem gemeinen Besten widmete, musste mit Abwanderungen rechnen, eine Obrigkeit, die sich darauf konzentrierte, die nahrhafte Gemeinde zu fördern, konnte einen Zulauf erwarten. Die Hinzukommenden waren selbstverständlich frei. Die Obrigkeiten, denen sie sich entzogen, konnten diesen Abfluss natürlich auf die Dauer nicht hinnehmen, sondern mussten darauf mit Reformmaßnahmen reagieren – so lassen sich Bechers Überlegungen vielleicht weiterdenken. Ganz verwirklichen ließ sich das gemeine Beste, auf das jede Obrigkeit hinzuarbeiten hatte, nur mit einer Gesellschaft von Freien. Von Bechers Überlegungen bis zu einem durchgebildeten liberalen Konzept war es noch eine gute Strecke Wegs, aber es dürfte doch gerechtfertigt sein, in ihm den Prototyp eines Sozialliberalen zu sehen. Hinter Grimmelshausens Utopie blieb er deutlich zurück. Ihm ging es nicht um die Beschreibung eines Idealzustandes, sondern um das sogleich Machbare.32 Einleitend wurde ganz kurz auf etliche Autoren verwiesen, die in England zwischen 1642 und 1659 das Modell des gewaltteilenden Staates entwickelten, auf Henry Parker, Philip Hunton, John Sadler, George Lawson, John Milton und James Harrington. Einen viel größeren Nachruhm als sie erwarb sich John Locke, insbesondere mit der zweiten seiner beiden 1679 im niederländischen Exil geschriebenen, aber erst 1690 anonym publizierten Abhandlung über die 31

Politische Discurs (wie Anm. 17), S. 46. Knappe Zusammenstellung seiner Vorschläge bei Böhret, Carl: Wissenschaft wird Praxis, am Beispiel des Polyhistors und Polypragmatikers J. J. Becher, in: Mehde, Veith/ Ramsauer, Ulrich/Seckelmann, Margrit (Hrsg.): Staat, Verwaltung, Information. Festschrift für Hans Peter Bull zum 75. Geburtstag, Berlin 2011, S. 59–73. 32

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bürgerliche Regierung ,Über den Ursprung, die Ausdehnung und den Zweck der bürgerlichen Regierung‘. Danach musste ein gut geordnetes Gemeinwesen nach den Prinzipien der Gewaltenteilung organisiert sein. Dem Monarchen oblag die Exekutive einschließlich der Pflege der auswärtigen Beziehungen, ein Bereich, den Locke wie schon lange vor ihm Lawson Föderative nannte, zudem hatte der Herrscher durch die Vetomöglichkeit einen Anteil an der Gesetzgebung, blieb aber doch der Legislative untergeordnet, da auch er unter dem Gesetz stand. Diese hatte freilich keine unbeschränkte Entscheidungsfreiheit, ihr Handeln war vielmehr an die Zwecke des Menschen gebunden, der hohe Rang des Rechts auf Unversehrtheit der Person und des Eigentums war stets zu beachten. Die Rechtsprechung war durch unabhängige, allein dem Gesetz verpflichtete Richter auszuüben. Locke unterstrich in diesem Zusammenhang, dass alle Herrschaft an Recht gebunden sei, jede andere Machtausübung nannte er Tyrannei. Das alles war 1690 nicht neu. Dass sich diese Gedanken für die Nachlebenden vor allem mit dem Namen Locke verbanden, hing wohl damit zusammen, dass er sich nicht in einer Zeit heftiger politischer Kämpfe zu Wort meldete, sondern nach deren Ende, auf der Seite der Sieger stehend. Außerdem wirkte er auch durch spätere Arbeiten fort, so durch Untersuchungen zu nationalökonomischen Fragen, zur Erkenntnistheorie und zum Bildungswesen.33 Eine erste deutsche Ausgabe von Lockes beiden Abhandlungen über die bürgerliche Regierung erschien 1718 unter dem Titel ,Le gouvernment civil oder die Kunst, wohl zu regieren, durch den berühmten Engländer Jean Locke beschrieben‘. Der Übersetzer, der sich den Lesern nicht mit dem vollen Namen, sondern nur mit der Abkürzung G. vorstellte, hatte nicht auf das englische Original zurückgegriffen, sondern auf die 1691 erschienene Übersetzung ins Französische.34 Eingehend stellte fast gleichzeitig David Fassmann, bis 1717 Hofmeister eines englischen Adligen, danach einige Jahre in Leipzig ansässig, in seinem 1717 in Leipzig vorgelegten Buch ,Die entkappten Whigs und Torys‘ diese beiden Parteien, das englische Verfassungsleben und die dort geführte Diskussion über Verfassungsfragen vor. Ebenfalls 1717 erschienen aus der Feder eines Paul Fyhn in Frankfurt ,Anmerkungen über den Staat von Engelland‘, in denen der Verfasser die englischen Verhältnisse uneingeschränkt bejahte und den Wohlstand des Landes auf die dortige Regierungsform zurückführte. Eine Ausgabe des Werkes kam zudem im selben Jahr unter einem anderen Titel in Altona heraus, das zum mit 33 Laslett, Peter (Hrsg.), John Locke: Two Treatises of Government, Cambridge 1960; Euchner, Walter (Hrsg.): John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1977; Euchner, Walter: Naturrecht und Politik bei John Locke, Frankfurt am Main 1969; Rostock, Michael: Die Lehre von der Gewaltenteilung in der politischen Theorie von John Locke, Meisenheim 1977; Hugelmann, Frank: Die Anfänge des englischen Liberalismus. John Locke und der first Earl of Shaftesbury, Frankfurt am Main 1992. 34 Wilhelm, Uwe: Der deutsche Frühliberalismus von den Anfängen bis 1789, Frankfurt am Main 1995, S. 42–44.

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Dänemark verbundenen Holstein gehörte. Die Empfehlung, das englische Regierungssystem auch in Dänemark einzuführen, deutet darauf hin, dass Fyhn – der Name ist vermutlich ein Pseudonym und könnte von Fünen abgeleitet sein – ein Schleswiger, Holsteiner oder Däne war. Unter Rückgriff auf Arbeiten des Schweizers Guy Miège führte der in Leipzig lebende Übersetzer Johann Bernhard Heinzelmann 1718 in einem dreibändigen in Leipzig publizierten Werk Großbritannien und Irland eingehend vor Augen. Er beschrieb die Landesverhältnisse unter vielerlei Aspekten und urteilte dabei über die politische Struktur sehr positiv.35 Das tat im Jahre darauf auch Gottlieb Samuel Treuer, der an der Universität Helmstedt Moral, Politik, Geschichte und öffentliches Recht lehrte, und zwar in einer gegen den 1699 verstorbenen Kameralisten Wilhelm Frhr. von Schröder gerichteten Schrift. Schröders 1686 publiziertes Hauptwerk, die ,Fürstliche Schatz- und Rentkammer‘, war 1713 in dritter Auflage mit einer dabei erstmals veröffentlichten Beilage ,Disquisitio politica vom absoluten Fürstenrecht‘ neu herausgekommen. An dieser Disquisitio rieb sich Treuer. Er bestritt, dass es unumschränkte Fürstenherrschaft geben könne, da jeder Monarch an die gottgegebenen Gesetze der Natur und das Wohl des Volkes gebunden sei. Des Weiteren verwies er auf das naturgegebene und unveräußerliche Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Aufgabe des Staates, der nach Treuers Auffassung auf Vertrag beruhte, sei allein der Schutz der Rechte des Bürgers. In ihm müssten die Rechte des Monarchen mit den Freiheiten des Volkes harmonieren, das diene dem Gemeinwohl. Dann verwies Treuer auf die Verfassung der Germanen, für ihn ein gemischtes System, und legte dar, dass nur noch England voll in dieser Tradition stehe, während die absolutistisch regierten Staaten sich gänzlich davon entfernt hätten. Die englische Verfassung hielt er für die denkbar beste. Die Freiheiten des Volkes sah er am besten durch die gutsituierten Schichten gesichert, dem hohen Adel maß er kein sonderliches Gewicht dabei zu, und dem einfachen Volk stand er misstrauisch gegenüber, da es zu unsinnigen Entscheidungen neige. Bei seinen Darlegungen bezog sich Treuer immer wieder auf die Literatur über England und berief sich wiederholt auch auf Lockes Zweite Abhandlung.36 Unmittelbare Kenntnis Englands hatte Johann Adolf Hoffmann. Er wurde 1676 in Zarpen geboren, besuchte ab 1694 das Katharineum im 10 Kilometer östlich gelegenen Lübeck und studierte von 1698 bis 1701, knapp bemittelt, Theologie, Philosophie und Philologie in Wittenberg. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Heimat setzte er sein Studium 1702 in Kopenhagen fort. In den folgenden Jahren war er Hofmeister in dänischen Adelshäusern und kam bei den mit dieser Tätigkeit verbundenen Reisen in verschiedene europäische Länder. 1716 ließ er sich als Juwelen- und Kunsthändler in Amsterdam nieder und besuchte von dort aus

35 Wilhelm, Uwe: Der deutsche Frühliberalismus von den Anfängen bis 1789, Frankfurt am Main 1995, S. 23–37. 36 Ebd. S. 44–51.

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wiederholt England. Drei Jahre später übersiedelte er, inzwischen sehr wohlhabend geworden, nach Hamburg, wo er als Privatgelehrter und sehr angesehener Mann bis zu seinem Tode Ende 1731 lebte.37 Seit 1723 war er Mitglied der dortigen Patriotischen Gesellschaft. Sein erstes großes Werk begann er 1717 in London und schloss es in Amsterdam ab, es war noch in der Gelehrtensprache Latein gehalten: ,Observationum politicarum sive de republica libri decem‘, es erschien 1719 in Utrecht und wurde 1725 in Hamburg auch auf deutsch vorgelegt: ,Politische Anmerckungen über die wahre und falsche Staats-Kunst, worin aus den Geschichten aller Zeiten bemercket wird, was einem Lande zuträglich oder schädlich sei.‘ Diese deutsche Ausgabe war gegenüber der lateinischen Fassung erheblich erweitert. Etliche Jahre nach Hoffmanns Tod brachte ein C.F.L. 1740 in Hamburg eine zweite Auflage unter einem geringfügig veränderten Titel heraus; der Bearbeiter erklärte in seiner Vorrede, dies sei ein vortreffliches Buch, das von Regenten wie von Bürgern mit Aufmerksamkeit gelesen werden müsse, er habe die alte Übersetzung aus dem Lateinischen geglättet und bereinigt, damit die Gedanken des Verfassers klarer hervorträten. Eine neuerlich verbesserte Auflage erschien 1758. Der gute Beifall, den Hoffmanns Schriften noch immer fänden, veranlasse eine Neuausgabe, hieß es in der jetzt wohl vom Verleger beigesteuerten Vorrede.38 Viel bekannter als Hoffmanns ,Staatskunst‘ wurden seine 1722 veröffentlichten ,Zwei Bücher von der Zufriedenheit‘. Dieses Werk erlebte bis 1757 nicht weniger als zwölf Auflagen, also etwa alle drei Jahre eine. Es gehörte damit zu den verbreitetsten philosophischen Schriften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.39 Auch dieses Buch wurde nach Hoffmanns Tod von C.F.L. bearbeitet. Hoffmann trug vor, dass alle Menschen nach Zufriedenheit strebten, tatsächlich aber unzufrieden seien. Sie lebten in Begierden, seien boshaft und zeigten eine natürliche Feindschaft selbst gegenüber Gott. Das müsse aber nicht so sein. Der Mensch könne seine Affekte dämpfen und Gemütsruhe erlangen. Tue er das, so unterwerfe er sich der Vernunft. Diese werde ihn lehren, dass alle irdischen Güter nichtig seien, und damit gelange er zu einer Einsicht, die der Anfang des himmlischen Vergügens sei. Die Religion könne sehr viel dazu tun, den Status der Gemütsruhe zu erlangen. Hoffmann ließ es nicht bei diesen erbaulichen Worten bewenden, sondern legte des Weiteren dar, dass der Mensch die irdischen Güter 37 Wolff, Hans Matthias: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, München 1949, S. 49–65 u. 72–80; Wilhelm: Frühliberalismus (wie Anm. 34), S. 52–64. 38 Hoffmann, Johann Adolf: Politische Anmerkungen von der wahren und falschen Staatskunst, worinnen aus den Geschichten aller Zeiten bemerket wird, was den Regenten, Bürgern und Einwohnern eines Landes zuträglich oder schädlich ist, Hamburg 17593. 39 Rahtje, Jürgen: Hoffmann, Johann Adolf, in: Killy, Walther (Hrsg.): Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Band 5, Gütersloh u. München 1990, S. 420.

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trotz der Einsicht in deren Nichtigkeit nicht verachten solle, er müsse sich der Gesellschaft nützlich machen. Nützliches Wirken sei eine wesentliche Voraussetzung der Zufriedenheit, ein müßiges Leben viel mühsamer als ein arbeitsames.40 In der Einleitung seiner ,Staatskunst‘ ging Hoffmann von den Grundpflichten jedes Menschen aus, der der Selbsterhaltung durch Arbeit und stetes Bemühen, der der Erkenntnis Gottes und des Gottesdienstes und der der Sorgfalt für die Erziehung der Jugend. Sodann gab er eine Skizze der frühen Geschichte. Das anfängliche Zusammenleben der Menschen hielt er für friedlich, aber die wachsende Zahl der Menschen und die daraus sich ergebenden Reibungen und Streitigkeiten machten schließlich die Ausbildung einer Obrigkeit nötig. Seines Erachtens hatten zunächst die Ältesten der vornehmsten Familien die Führung, daraus erwuchs aber im Fortgang der Entwicklung die Monarchie. Dick unterstrich er, „die Errichtung des ältesten Staates“ gebe „zu verstehen, dass dieses Richters oder Königs Gewalt nicht unumschränkt, sondern von der Ältesten oder des ganzen Volkes Beystimmung abhängig gewesen sey.“ 41 Daraus habe sich aber oft eine autokratische Herrschaft entwickelt, und das wiederum habe vielerorts zur Ausbildung der Republiken geführt. Schließlich stellte er fest, dass dasjenige Leben auf Erden am glücklichsten sei, das sich am meisten nach der vernünftigen menschlichen Natur richte. Das gelte auch für eine Regierung oder einen Staat. In den folgenden zehn Kapiteln beschäftigte Hoffmann sich mit dem Gottesdienst und der Religion, mit den Interessen des Staates, mit der Arbeit und dem Fleiß als Lebensquellen, mit der Erziehung der Jugend, mit den Gesetzen, mit den Regierungsformen, mit den Einwohnern eines Staates, mit dem Handel, mit Bündnissen von Staaten und mit den Fragen des Krieges. Das umfangreichste Kapitel war das über die Regierungsformen, es nahm mehr als ein Fünftel des Bandes ein. Überall brachte Hoffmann Beispiele aus der Geschichte, und immer wieder setzte er sich mit der Literatur auseinander, namentlich mit antiken Autoren und mit dem Schrifttum seit dem 17. Jahrhundert. Sein Werk beruhte auf breiter Bildung, aber es war gut lesbar. Die Gottesverehrung war für Hoffmann ein natürlicher Trieb des Menschen, die Gottesfurcht der Anfang der zeitlichen und ewigen Wohlfahrt. Ohne Gottesfurcht gibt es keinen Segen, sondern Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht, Verfall. Deshalb muss jeder Staat darauf hinwirken, dass seine Bewohner den Gottesdienst regelmäßig besuchen. Religiöse Zwietracht ist verderblich, nur ein Glaubensbekenntnis kann im Staat die Oberhand haben. Aber abweichende Meinungen sind zu dulden. Eindringlich warb Hoffmann für Toleranz. Dass er dem Protestantismus vor dem Katholizismus den Vorzug gab, sprach er unumwunden aus. 40 Hoffmann, Johann Adolf: Zwey Bücher von der Zufriedenheit nach den Gründen der Vernunft und des Glaubens, Hamburg 1722, Ebd. 17315. 41 Hoffmann: Staatskunst (wie Anm. 38), S. LII.

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Das entscheidende Interesse jedes Staates war nach Hoffmann die Förderung der Glückseligkeit. Das bedingte eine gute Regierung im Innern und ein gutes Verhältnis zu den Nachbarstaaten. Um das allgemeine Beste fördern zu können, muss die Regierung wissen, worin es besteht, sie muss also das Land gut kennen. Eine freie Republik kann, davon war Hoffmann überzeugt, das allgemeine Beste besser fördern als ein souveräner Fürst. Um die Erreichung dieses zentralen Staatszieles ist es indessen desto besser bestellt, je mehr Einwohner sich dessen bewusst sind. Deshalb müssen sie wissen, was man Gott und den Menschen schuldet, wie „man sich der vernünfftigen Natur gemäß aufführet“.42 Gottseligkeit, Fleiß, Gerechtigkeit, Eintracht, Mäßigkeit, Treue, Tapferkeit und Sorgfalt für das allgemeine Beste sichern den Staat, wo aber Laster überhand nehmen, wird er entkräftet. Für die Eintracht im Staat ist es sehr förderlich, wenn alle, die es verdienen, gleiches Recht auf Zugang zu den Ämtern haben, wenn es dem Regenten um die Wohlfahrt aller Einwohner geht, wenn Privilegien und Freiheiten der Bürgen geschützt werden, die Auflagen mäßig sind, kein Stand den anderen unterdrücken darf und wenn jeder sich darauf verlassen kann, dass das, was er verdient, sein eigen ist. Niemand darf im Staat zu mächtig werden, und es muss „ein gutes Gleichgewicht der Güter“ bestehen, also möglichst viele besitzende Einwohner geben.43 Die steuerliche Belastung muss sich nach der individuellen Leistungsfähigkeit richten. Die öffentlichen Einkünfte müssen klug und sorgsam verwaltet werden. Durchgehend mahnte Hoffmann eine gerechte Behandlung der Untertanen an, damit sichere sich jeder Regent ihre Treue. Soll ein Staat blühen, müssen seine Bewohner arbeitsam und fleißig sein. In diesem Zusammenhang lobte Hoffmann wie auch an vielen anderen Stellen seines Buches ausdrücklich die Niederlande, deren Bewohner schon dadurch fleißig geworden seien, weil sie ihr Land zum erheblichen Teil dem Meer abringen mussten. Als negatives Beispiel stellte er Spanien daneben, dessen Adel die Felder vielerorts brachliegen lasse. Der Menschen Fleiß wird, so Hoffmann weiter, durch Handel und Wandel gefördert. „Dieser aber blüht am willigsten, wo die meiste Freyheit ist.“ 44 Wer seine Produkte ohne Hindernis an den Mann bringen kann, wird nicht säumen, tätig zu sein, wo der Handel die meiste Freiheit hat, sind die Leute am fleißigsten. Eingehend beschäftigte Hoffmann sich auch mit den Hindernissen des Fleißes und nannte insbesondere zu hohe Abgaben. Er unterstrich, dass Handel und Gewerbe keinen Zwang litten, sprach sich gegen Monopole aus – durch sie wird nur einer reich, nicht aber das Land – und trat für Manufakturen ein. Beim Ackerbau, den er als Mark und Kern des Staates beschrieb, betonte er, dass der Wohlstand in diesem ausgedehnten Teil der Bevölke42 43 44

Hoffmann: Staatskunst (wie Anm. 38), S. 64. Ebd. S. 94. Ebd. S. 176.

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rung dann besonders wachse, wenn die Leute ihr Eigentum bearbeiteten. „Niemans ist so sorgfältig für andere, als für sich selbst und die Seinen.“ 45 Im vierten Buch gab Hoffmann ausführliche Ratschläge für das Erziehungswesen. Eine gute Ausbildung aller dient dem Staat, Halbbildung ist schädlich. Die Jugend muss Gottesfurcht und Tugend lernen, Liebe zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, und natürlich nützliche Kenntnisse erwerben. Wie das auf den einzelnen Ebenen aussehen musste, legte er breit dar. Er warnte vor einer allzu eingehenden Beschäftigung mit der Antike und unterstrich die Bedeutung der Mathematik, der Naturwissenschaften und technischer Kenntnisse. Derzeit sei es um die Schulen und die Universitäten sehr schlecht bestellt, letztere nannte er sogar einen Augiasstall. Gesetze sind letztlich, so hieß es im fünften Buch, die Anwendung der Gesetze der Natur auf das menschliche Leben, sie müssen auf jeden Fall von natürlicher Billigkeit sein und sich mit dem Wandel der Zeiten ändern. Sie sind die Seele des Staates, und die Obrigkeit muss sie hüten. Durch sie lernen die Einwohner, wie sie ihr Leben in gutem Frieden und in Sicherheit zubringen können. Auch in diesem Zusammenhang schärfte Hoffmann den Regenten die Pflicht zur Gerechtigkeit ein. Bereits hier verwies er darauf, dass es verschiedene Regierungsformen gebe, und betonte unter Berufung auf Algernon Sidneys etliche Jahre nach dessen Tod 1683 veröffentlichtes Werk ,Discourses concerning government‘ (1698), „daß diejenigen Länder am glücklichsten sind, wo den König die Gesetze, das Volk aber nebst den Vornehmsten das Ansehen des Königs einschränken.“ Das habe Sidney mit vielen vernünftigen Gründen erwiesen.46 Ausführlich behandelte Hoffmann die Regierungsformen im sechsten Buch.47 Unter Berufung auf Polybios erklärte er, dass die übliche Dreiteilung nach Monarchie, Aristokratie und Demokratie nicht ausreiche, dass vielmehr auch die Entartungsformen Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie gesehen werden müssten. Jede dieser Formen besprach er unter Beibringung vieler Beispiele aus der Geschichte eingehend und verwies zudem, wieder unter Bezug auf Polybios, auf den Kreislauf der Verfassungen. In der Antike erschien ihm Sparta mit der angeblich durch Lykurg geschaffenen Ordnung als vorbildlich, er beschrieb sie nach den Mitteilungen Polybios’. Lykurg wollte, so Hoffmann, eine vermischte Art des Regiments, die alle Vollkommenheiten der besonderen Regierungsformen in sich begreifen und so die allerbeste Republik auf Erden ausmachen sollte. Eine Macht im Staate sollte die andere aufwiegen, dieser damit dauerhaft ge45

Hoffmann: Staatskunst (wie Anm. 38), S. 186. Ebd. S. 277. Sidney, Algernon: Discourses Concerning Government, London 1698; dazu Schott, Clausdieter (Hrsg.): Ernst Reibstein: Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Texte und Studien zur politischen Theorie des 14.–18. Jahrhundert, Band 1, Freiburg 1972, S. 404–429. 47 Hoffmann: Staatskunst (wie Anm. 38), S. 302–448. 46

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macht werden. Kein Stand sollte alles oder das meiste vermögen, vielmehr sollte die Macht so verteilt sein, dass König, Rat und Volk an ihr teilhatten, dass eine ohne die andere nichts, wohl aber alle drei zusammen etwas ausrichten konnten. Die Vorbildlichkeit der spartanischen Verfassung lag damit im Gleichgewicht der Kräfte. Für die Neuezit behandelte Hoffmann die Niederlande, die Schweiz und Großbritannien mit besonderer Sympathie, am ausführlichsten das Vereinigte Königreich. Abschließend meinte er freilich, er überlasse es jedem Leser, die Art der Regierung nach der Beschaffenheit seines Landes einzurichten, aber es war unverkennbar, dass er das englische Regierungssystem am meisten schätzte. Er führte es auf die alten Sachsen zurück und nannte es ausdrücklich eine schöne Regierungsform. Das Regiment besteht in England im König, im Oberparlament und im Unterparlament. In letzterem macht man die meisten Vorschläge hinsichtlich der Gesetzgebung, „und kein Gesetz kann ohne die gemeine Einstimmung gemacht oder verändert werden“, ebensowenig eine Finanzvorlage. Es hat das Recht der Haushaltskontrolle und das Recht der Anklage gegen Personen, die mit den Finanzen des Landes nicht sorgsam umgehen oder umgegangen sind oder sich sonst eines Verbrechens gegen den Staat schuldig gemacht haben. Jeder Beschluss des Unterhauses geht an das Oberhaus, kein Haus darf ohne das andere etwas tun. „Was aber endlich beide Parlamentshäuser zu beschließen eins geworden sind, das gilt nicht eher, als bis es von dem König ist bestätigt worden.“ Der König ruft das Parlament zusammen, vertagt es, hebt es auf. Bei ihm ruht das Recht einer völligen Majestät. Er hat die Gewalt über Krieg und Frieden und die Bündnisse, über Zölle und das Münzwesen, vergibt die öffentlichen Ämter, auch die geistlichen, „Er regiert die Republik nach den Gesetzen, hat das Begnadigungsrecht. Der Einwohner Freyheit aber, ihr Gut und Leben anzugreifen, hindert ihn die sogenannte Charta Magna oder das Siegel der Freyheiten des Volkes.“ 48 Über die Wahl zum Unterhaus äußerte Hoffmann sich nicht. Im Anschluss an die Beschreibung der Verfassungen handelte er über die Erziehung der Fürsten in ihren jungen Jahren und über die Fähigkeiten, die der Monarch haben muss. Dieser Fürstenspiegel nahm im sechsten Buch mehr Platz ein als die voranstehende Darstellung der Verfassungen. Im siebten Buch, das sich mit den Bürgern und Einwohnern des Staates befasst, betonte Hoffmann nochmals, dass kein Stand den anderen unterdrücken dürfe. Ein Edelmann sei ebenso ein Einwohner des Staates wie der Bauer und stehe in der gleichen Pflicht, zum allgemeinen Besten beizutragen. Scharf wandte er sich gegen die Leibeigenschaft, drängend fragte er, wie sie sich „mit der natürlichen Freyheit aller Menschen reime“ und wie sie sich mit den christlichen Geboten vereinbaren lasse.49 Friedrich IV. von Dänemark gebühre unsterblicher Ruhm für seine (1702 erlassene) Verfügung, dass die Leibeigenschaft in 48 49

Hoffmann: Staatskunst (wie Anm. 38), S. 345–348. Ebd. S. 452.

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ganz Dänemark aufhören und alle Ackersleute wie Freigelassene gehalten werden sollen, die niemand mehr unter dem Vorwand der Leibeigenschaft plagen darf. „Wollte Gott, dass die Nachbarn hieran ein Exempel nehmen möchten, so würde des Segens mehr.“ 50 Den Adel mahnte er, nicht grausam und herrschsüchtig zu sein. Des Weiteren äußerte er sich über das Verhalten der Menschen gegeneinander. Selbstverständlich müsse man Hilfsbedürftige unterstützen, aber das sollte tunlichst Hilfe zur Selbsthilfe sein. Dem Handel widmete Hoffmann eine eingehende Betrachtung und verwies dabei immer wieder auf die Niederlage und auf England. Manche Bemerkung, die er schon früher eingestreut hatte, wiederholte er hier. Er betonte, dass weitgehende Freiheiten den Handel aufblühen ließen und verwies dabei insbeondere auf die Religions- und die Gewerbefreiheit, ferner auf die Möglichkeit einer unbehinderten Kreditaufnahme. Besonders unterstrich er die Freiheit des Gewissens und das Bürgerrecht auf Nahrung. „Die Freyheit ist der Menschen Eigenthum; wo jene am meisten gehandhabt wird, da mögen sie am liebsten sein.“ 51 Auch hier trat er für ein mäßiges Preisniveau ein und wandte sich gegen Monopole. Wiederum empfahl er den Ausbau des Manufakturwesens. Ein Land müsse seine Produkte selbst verarbeiten und einen Teil des so Erzeugten exportieren, ja mehr als das: es sollte am besten auch Rohstoffe einführen, sie verarbeiten und die Produkte exportieren, möglichst auf eigenen Schiffen. Wichtig sei eine positive Handelsbilanz. In diesem Zusammenhang zitierte er ausführlich aus Lockes ökonomischen Arbeiten. Namentlich kleineren Staaten empfahl Hoffmann zur Sicherung ihrer Existenz den Abschluss von Defensivbündnissen, sagte aber generell, dass ein Staat ohne Freunde nicht bestehen könne. Er unterstrich, dass jedes Abkommen treu einzuhalten sei. Scharf wandte er sich gegen ein Bündnis mit der Türkei. Indem Franz I. von Frankreich eine solche Verbindung eingegangen sei, habe er sich versündigt. Am besten wäre es, wenn die Christen sich vereinigten und die türkische Macht zerbrächen. Darauf sei aber nicht zu hoffen, da die Christen sich ja ständig untereinander bekriegten. Mit aller Deutlichkeit wandte er sich gegen Kriege. Es sei unzweifelhaft, „daß der Krieg ebenso sehr wider die vernünftige Natur sei als der Raub des Eigentums, der Untergang aller Vergnügung dieses Lebens und der Verlust echter Freyheit und erquicklicher Ruhe.“ 52 Die Christen sind, so hieß es weiter, verpflichtet, sich möglichst vor Krieg zu hüten, denn das Evangelium verbietet ihn. Wegen der durch Sünden verderbten Natur des Menschen wird es aber immer wieder dazu kommen. Dann muss er nach festen Regeln geführt werden, und jeder beteiligte Staat muss auf die baldige Beendigung

50 51 52

Hoffmann: Staatskunst (wie Anm. 38), S. 456. Ebd. S. 516. Ebd. S. 589.

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sinnen. Ein Frieden muss, soll er dauerhaft sein, für beide Seiten billig sein, der Sieger also gegenüber dem Unterlegenen Mäßigung zeigen. In seiner ,Staatskunst‘ gab Johann Adolf Hoffmann viele beherzigenswerte Ratschläge. Auf weite Strecken ist das Buch eine Tugendlehre, getragen von christlichen Überzeugungen. Seine Empfehlungen für die Gestaltung von Gesellschaft und Staat beruhen auf dem Gedanken der Freiheit. Die Menschen sollten aus hemmenden Abhängigkeiten gelöst werden. Das bedingte mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, eine tiefgreifende Sozialreform. Die Ausrichtung des Wirtschaftslebens nach den Prinzipien der Freiheit musste einen starken Anstieg des Wohlstandes zur Folge haben, jedoch sollte Vorsorge getroffen werden, dass diese Mehrung möglichst breiten Kreisen zugute kam. Hoffmann wollte, modern formuliert, keinen konsequenten Wirtschaftsliberalismus, er bedachte stets die soziale Komponente mit. Hinsichtlich der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft führte Hoffmann nicht sonderlich über Becher hinaus, den Fragen der politischen Gestaltung widmete er dagegen weit mehr Aufmerksamkeit. Da Freiheit ein fundamentaler Besitz des Menschen war, konnte ihm das Recht auf politische Mitgestaltung nicht verwehrt werden, wurde so doch die Freiheit am besten gesichert. Als vernünftigste Staatsform sah Hoffmann eine Ordnung an, in der die politischen Kräfte in einem ausgewogenen Verhältnis standen und zusammenarbeiten mussten, sollte etwas bewirkt werden, die konstitutionelle Monarchie. Mit großer Wärme empfahl er das englische Modell. Er war im vollen Sinne ein Frühliberaler. Ein Jahr nach dem Erscheinen der lateinischen Fassung von Hoffmanns ,Staatskunst‘ und der Abfertigung Schröders durch Treuer gab der seit 1707 in Halle wirkende Philosoph Christian Wolff, ein 1679 in Breslau geborener Sohn eines Handwerkers, 1720 seine Schrift ,Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zur Beförderung ihrer Glückseligkeit‘ heraus, im Jahre darauf ließ er ,Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben und insbesondere dem gemeinen Wesen‘ folgen.53 Dass er diese Deutsche Ethik und die Deutsche Politik, wie die beiden Bücher gemeinhin kurz bezeichnet werden, nicht mehr in der Gelehrtensprache Latein vorlegte, zeigt, dass er über den Kreis der akademisch Gebildeten hinaus wirken wollte. Die ,Deutsche Politik‘ hatte bis 1756 sieben Auflagen, war also buchhändlerisch erfolgreicher als Hoffmanns ,Staatskunst‘. Da Wolff den bekannteren Namen hatte, verwundert das nicht. 53 Wolff, Christian: Vernünfftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen zur Beförderung ihrer Glückseligkeit, Halle 1720, Neudruck Hildesheim 1976; Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insbesondere dem Gemeinen Wesen, Halle 1721, Neudruck Hildesheim 1975; Bachmann, Hanns-Martin: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, Berlin 1977; Schneiders, Werner (Hrsg.): Christian Wolff. Interpretationen seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur, Hamburg 1983; Thomann, Marcel: Christian Wolff, in: Stolleis: Staatsdenker (wie Anm. 5), S. 257–283; Wilhelm: Frühliberalismus (wie Anm. 34), S. 75–95.

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In der Deutschen Ethik legte Wolff dar, dass der Mensch zur steten Vervollkommnung aufgerufen sei und dass diese Anforderung das Bemühen um eine Verbesserung der staatlichen Ordnung selbstverständlich mit einschließe. In der Deutschen Politik erörterte er dann seine Sicht auf das staatliche Leben sehr ausführlich und entwickelte dabei das System eines Rechtsstaates. Staatszweck war ihm die Garantie der Sicherheit aller Einwohner und die Förderung der Wohlfahrt. Bei ihrer wirtschaftlichen Betätigung sollten die Menschen ein hohes Maß an Freiheit genießen, jedermann nach besten Kräften für sich sorgen können, freilich dergestalt, dass er dabei niemandem schade. Wie Becher und Hoffmann, so schrieb auch Wolff dem Handel eine hohe Bedeutung zu. Dieser „floriert nirgends mehr als wo er frei ist“, das Interesse der Kaufleute wirke darauf hin, ihn zur Blüte zu bringen, und so tue man am besten, indem „man ihnen ihren Willen lässet“.54 Für diese individuelle Tätigkeit sollte der Staat durch die Verabschiedung guter Gesetze und durch die Gewährleistung des Rechtsschutzes den Rahmen setzen, dabei aber auch für einen gewissen sozialen Ausgleich sorgen. Die Staatsformen behandelte Wolff nach den aristotelischen Kategorien, wobei er sich natürlich vornehmlich mit den guten befasste. Die Politeia nannte er auch die freie Republik. Wegen ihrer Garantie der Freiheit war sie für ihn die einzige moralische Staatsform. Er legte dar, dass sie sich am besten „für polite Völker schicket, wo man um Verstand und Tugend sich bemühet.“ 55 In der Politie wird die Freiheit am wenigsten eingeschränkt, der Missbrauch der Macht am besten verhindert. Die verständigsten und tugendhaftesten Männer aus allen Ständen werden auserwählt und beschließen dann im Namen aller, was für Sicherheit und Wohlfahrt erforderlich ist. Der Herrscher hat das zu bestätigen. In der Neigung zur Parteibildung und der Schwerfälligkeit des Entscheidungsprozesses sah Wolff eine Schwäche der Politie. Die Demokratie hielt er wegen des angeborenen Freiheitstriebes der Menschen für sehr natürlich, aber doch für höchst problematisch, „da der gemeine Mann“ nicht „Verstand genug hat, zu urteilen, was dienlich oder schädlich ist.“ Gehe es in einer Politie nur noch danach, „was der gemeine Pöbel ihm vorteilhaft zu sein erachtet, mit Hintansetzung der gemeinen Wohlfahrt und Sicherheit“, so schlage sie in eine Demokratie um.56 Die Deutschen hielt Wolff duchaus für befähigt, in einer Politie zu leben. Im weiteren Fortgang seiner Darlegungen empfahl er ganz allgemein Mischungen der Regierungsformen, bemerkte zugleich aber, es sei zu weitläufig, das zu entwickeln. Auf jeden Fall sei darauf zu achten, dass derjenige, der die Macht habe, sie nicht gegen die anderen missbrauchen könne. Aus einer Beschränkung ihrer Gewalt erwachse der Obrigkeit kein Nachteil, im Gegenteil werde ihr Ansehen dadurch gestärkt. „Wenn sie vernünftig ist, schränkt sie ihre Macht und Gewalt selbst auf solche Weise ein, dass dadurch nichts Nachteiliges für die gemeine Wohlfahrt und Sicherheit erfol54 55 56

Wolff: Gesellschaftliches Leben (wie Anm. 53), § 488, S. 585. Ebd. § 252, S. 190. Ebd. § 253, S. 190 (erstes Zitat), § 236, S. 176 f. (zweites Zitat).

„Die Freyheit ist der Menschen Eigenthum‘‘

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gen kann.“ 57 Abschließend sagte Wolff, er habe nur darauf verwiesen, auf wie vielerlei Art sich die Macht der Obrigkeit einschränken lasse, aber nicht behauptet, dass das überall geschehen müsse. Der Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen verweist darauf, dass er eine Mischung von Politie und Monarchie für sehr sinnvoll hielt, also, in moderner Formulierung, die konstitutionelle Monarchie empfahl. Nachdem er sich zur Politie geäußert hatte, ließ er einfließen, er sei vergnügt, diesen Wink gegeben zu haben. Auf Betreiben pietistischer Theologen, die Wolff für einen Religionsverächter hielten, enthob ihn Friedrich Wilhelm I. im November 1723 durch Kabinettsordre seines Amtes und verfügte, dass er Halle binnen 24 Stunden und Preußen innerhalb von zwei Tagen zu verlassen habe. Andernfalls habe er sein Leben verwirkt. Diese rüde Maßnahme rief außerordentliches Aufsehen hervor und löste eine lebhafte publizistische Diskussion aus. Wolff ging nach Marburg und erhielt dort sogleich wieder eine Professur. Nach dem Regierungsantritt berief ihn König Friedrich II., der sich in seiner Kronprinzenzeit intensiv mit Wolff befasst hatte, 1740 nach Halle zurück. In seiner Marburger Zeit ging Wolff in kleinen Schriften auf politische Grundfragen ein, ausführlicher tat es das erst wieder 1748 im achten Buch seines Naturrechts und 1750 in seinen Institutionen des Natur- und Völkerrechts. Alle diese Arbeiten waren in lateinischer Sprache geschrieben. Jetzt behandelte er die Freiheitsrechte ausführlicher als zu Beginn der 20er-Jahre und betonte stärker, dass die gesamte Staatsgewalt ursprünglich beim Volk gelegen habe. Der Demokratie stand er nun positiver gegenüber als damals, aber nach wie vor empfahl er die Mischverfassung als sinnvollste Regierungsform.58 Grimmelshausen und Becher waren erste und vereinzelte Vorläufer auf dem Weg zum Liberalismus. Die eigentliche Aufbruchsphase dieser seit dem späten 18. Jahrhundert so gewichtigen politischen Konzeption war in Deutschland die Zeitspanne von 1717 bis 1722, in der Fassmann, Fyhn, Heinzelmann, Treuer, Hoffmann und Wolff ihre Überlegungen zur sinnvollsten Gstaltung von Gesellschaft und Staat vortrugen, am ausführlichsten Hoffmann und Wolff. Sie alle verwiesen dabei auf Großbritannien als Vorbild, aber sie übernahmen ihre Ideen nicht einfach von dort, sondern entwickelten sie eigenständig, wobei sie auch aus der antiken politischen Philosophie schöpften. Die Meinung, die deutsche Literatur vor 1789 habe „kein Werk liberaler oder demokratischer Theorie, das westlichen Beispielen vergleichbar wäre“, aufzuweisen59, geht völlig in die Irre, wie die Namen Hoffmann und Wolff zeigen. Alle eben genannten Autoren befassten sich mit der Materie nicht nur aus theoretischem Interesse, sondern wollten mit ihren Darlegungen wirken, Wege zur Verbesserung der Verhältnisse zeigen. Um 57

Wolff: Gesellschaftliches Leben (wie Anm. 53), § 449, S. 481 f. Wilhelm: Frühliberalismus (wie Anm. 34), S. 84–95. 59 Brandt, Hartwig: Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800–1945, Darmstadt 1998, S. 9. 58

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eine möglichst breite Resonanz zu erzielen, schrieben sie auf deutsch. Und sie fanden diese Resonanz, wie die mehrfachen Auflagen von Hoffmanns ,Staatskunst‘ und Wolffs Deutscher Politik zeigen. Es ist jedoch festzuhalten, dass bei weitem nicht alle, die sich mit dem Naturrecht befassten, dabei zu dem Schluss kamen, die Bürger müssten an der politischen Willensbildung beteiligt werden.60 Die frühen Wegbereiter des Liberalismus waren eine Minderheit. Aber ihre Ideen fanden zunehmend Anklang. Die beiden Professoren Treuer und Wolff wirkten nicht nur über die Leser ihrer Werke, sondern auch über den Kreis der Studenten, die ihre Vorlesungen hörten und ihre Bücher lesen und von denen manche später selber Professoren wurden. Aus Wolffs großem Schülerkreis traten besonders Emer de Vattel und Gottfried Achenwall mit frühliberalen Konzepten hervor. Vattels Buch ,Das Völkerrecht, oder Grundzüge des Naturrechts‘, das 1760 erschien – in französischer Sprache bereits 1758 –, war sehr eng an Wolff angelehnt. Von Achenwall, ab 1748 Professor in Göttingen, ist vor allem sein ,Abriss der neuesten Staatswissenschaft der vornehmsten Europäischen Reiche und Republiken‘ von 1749 zu nennen, in dem er die Regierungsform Großbritanniens als die vollkommenste in Europa bezeichnete.61 In Berlin gründete der dortige sächsische Gesandte Graf Manteuffel 1736, also während Wolffs Marburger Zeit, eigenes eine Vereinigung und sammelte in ihr die in Berlin lebenden Wolffianer. Das war der Bund der Aletophilen, der Wahrheitsfreunde. Bei den allwöchentlichen Treffen dieser Runde ging es darum wie man die Wahrheit am besten verbreiten könne. Dass das im Staate Friedrich Wilhelms I. vorsichtig geschehen musste, verstand sich von selbst. Dass um 1720 die Fundamente des deutschen Liberalismus gelegt wurden, ist unzweifelhaft. Bis aber aus den Konzepten der Frühliberalen konkrete Taten erwuchsen, dauerte es noch geraume Zeit.

60 Etwa Schröder, Peter: Die deutsche Frühaufklärung als Beginn liberaler Tradition? Das Beispiel des Hallenser Gelehrten Christian Thomasius (1655–1728), in: Jahrbuch für Liberalismus-Forschung, 12, 2000, S. 11–22; Rüping, Hinrich: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasischen Schule, Bonn 1968; Luig, Klaus: Christian Thomasius, in: Stolleis: Staatsdenker (wie Anm. 5), S. 227–256. 61 Wilhelm: Frühliberalismus (wie Anm. 34), S. 101–107 u. 109–117.

Die politische Ideenwelt des Adels Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära Markus Raasch Keine Frage: Der Adel boomt. Der „Cultural Turn“ der Geschichtswissenschaft, zudem ihr Bemühen, im Zeichen der Globalisierung überkommene Perspektiven zu transzendieren, verschaffen auch der Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert seit einigen Jahren eine Hochkonjunktur. Sie zeigt sich in einschlägigen Monografien1, entsprechenden Themensetzungen von Zeitschriften,2 ersten Handbüchern3 sowie verschiedenen Sammelbänden4. Das politische Feld, 1 Seit 2006 zum Beispiel: Matzerath, Josef: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialinformation, Stuttgart 2006; Halama, Angelika: Rittergüter in Mecklenburg-Schwerin. Kulturgeographischer Wandel vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Funck, Marcus: Feudales Kriegertum und militärische Professionalität. Der Adel im preußisch-deutschen Offizierskorps 1860–1935, Berlin 2006; Kreutzmann, Marko: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln u. a. 2008; Marburg, Silke: Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008; Gerstner, Alexandra: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008; Mesenhöller, Mathias: Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830, Berlin 2009; Kamp, Anne von: Adelsleben im bürgerlichen Zeitalter. Die Freiherren von Erffa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Würzburg 2010; Pomp, Rainer: Bauern und Grossgrundbesitzer auf ihrem Weg ins Dritte Reich. Der Brandenburgische Landbund 1919–1933, Berlin 2011; Kubrova, Monika: Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011. 2 Geschichte und Gesellschaft, 33, 2007. 3 Reif, Heinz: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Wienfort, Monika: Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006. 4 Seit 2006 zum Beispiel: Hengerer, Mark/Kuhn, Elmar L. (Hrsg.): Adel im Wandel. Oberschwaben von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2 Bände, Ostfildern 2006; Rasch, Manfred (Hrsg.): Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, Münster 2006; Labouvie, Eva (Hrsg.): Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln u. Weimar 2007; Jahn, Wolfgang/Hamm, Margot/Brockhoff, Evamaria (Hrsg.): Adel in Bayern. Ritter, Grafen, Industriebarone, Augsburg 2008; Demel, Walter/Kramer, Ferdinand (Hrsg.): Adel und Adelskultur in Bayern, München 2008; Cerman, Ivo/Velek, Lubos (Hrsg.): Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, München 2009; Holste, Karsten/Hüchtker, Dietlind/Müller, Michael G. (Hrsg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure, Arenen, Aushandlungsprozesse, Berlin 2009; Conze, Eckart/Jendorff, Alexander/Wunder, Heide (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, Marburg 2010; Conze, Eckart/Lorenz, Sönke (Hrsg.): Die Herausforderung der Moderne. Adel in

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zumal im Hinblick auf parlamentarisches und Parteiwirken, blieb dabei allerdings merkwürdig unterbelichtet. Die zusammenfassenden Forschungsbefunde legen den Fokus sinnfälligerweise auf rechtliche Aspekte sowie Zahlen über Adelsanteile in den Ständevertretungen und Parlamenten.5 Insbesondere auf die Frage nach den übergreifenden Ideen, mithin dem „Eigensinn im adligen Politisieren“ 6 oder politischen Mentalitäten7, konnten bisher nur unbefriedigende Antworten gegeben werden.8 Dem soll im Folgenden ein Stück weit abgeholfen werden. Der Blick wird dabei auf den politischen Katholizismus in der Bismarckära gerichtet sein, das heißt jene Zentrumspartei, die in der Formationsphase des modernen deutschen Staates als „rein konfessionelle Fraktion“ 9, „einzige Volkspartei“ 10 sowie deshalb von Bismarck diffamierte „Brechbatterie“ gegen den Staat11 eine für den an politischen Mentalitäten interessierten Historiker höchst spannende Sonderstellung einnahm. Quellengrundlage bilden neben einschlägigen Kompilationen und zeitgenössischen Monografien sämtliche recherchierte Nachlass- und Aktenmaterialien zu den Familien der 114 adeligen Abgeordneten, die zwischen 1871 und 1890 für die Zentrumspartei im Reichstag saßen und als Zentrumsadel verstanden werden sollen.

Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2010; Driel, Maarten van/ Pohl, Meinhard/Walter, Bernd (Hrsg.): Adel verbindet – Adel verbindt. Elitenbildung und Standeskultur in Nordwestdeutschland und den Niederlanden vom 15. bis 20. Jahrhundert, Paderborn 2010; Leonhard, Jörn/Wieland, Christian (Hrsg.): What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011. 5 Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 99 ff.; Wienfort: Der Adel in der Moderne (wie Anm. 3), S. 31 ff. 6 Frie, Ewald: Kommentar. Eigensinn im adligen Politisieren, in: Leonhard, What Makes the Nobility Noble (wie Anm. 4), S. 218–226. 7 Mentalität meint in diesem Fall sowohl die bewussten wie die unbewussten „Leitlinien, nach denen Menschen in epochentypischer Weise Vorstellungen entwickeln, nach denen sie empfinden, nach denen sie handeln“: Dinzelbacher, Peter (Hrsg.): Europäische Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1993, S. IX. 8 Geradezu paradigmatisch erscheint: Ewald Grothe fragt in seinem Aufsatz zu „Adel und Parlamentarismus in Hessen“ zwar auch nach inhaltlichen Positionen und politischen Einstellungen, sein knapp zwölfseitiger Beitrag bleibt jedoch im buchstäblichen Sinne „eine Skizze“: Grothe, Ewald: Adel und Parlamentarismus in Hessen. Eine Skizze, in: Conze/Jendorff/Wunder: Adel in Hessen (wie Anm. 4), S. 115–226. 9 Zit. nach Hehl, Ulrich: Vom Honoratioren- zum Berufspolitiker. Das Zentrum im Kaiserreich, in: Gall, Lothar (Hrsg.): Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn u. a. 2003, S. 151–184, hier S. 151. 10 Nipperdey, Thomas: Die Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland, in: Ritter, Gerhard A.: Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 100–119, hier S. 109. 11 Bismarck, in: Preußisches Abgeordnetenhaus, 30. Januar 1872 und 24. April 1873; zum Verhältnis Bimarcks gegenüber dem politischen Katholizismus explizit: Becker, Winfried: Bismarck, Windthorst und der Kulturkampf, in: Glatzel, Norbert/Kleindienst, Eugen (Hrsg.): Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1993, S. 489–510.

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I. Antiegoismus Das seit den 1860er-Jahren an verschiedener Stelle immer wieder dargelegte Selbstverständnis der Zentrumsadeligen kann als Endprodukt der religiösen Adelsreformdebatten des 19. Jahrhunderts begriffen werden.12 Es fußte auf einer neuthomistischen Weltsicht und der Vorstellung von einer notwendigen Renaturierung des Adelsberufs. Der Aufbau der menschlichen Gesellschaft wurde als organisch-korporativ gedacht, als ihr nukleotisches Paradigma sah man die genossenschaftlich strukturierte Familie. Das christliche Menschenbild ließ die Zentrumsadeligen die Koinzidenz von Individualität und Sozialtrieb als zentrales Wesensmerkmal des nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen betrachten,13 weshalb sie der Sorge um das Gemeinwohl (Summum Bonum) oberste Priorität beimaßen. Erste Beachtung musste dem innersten Ring der nach göttlichem Willen konzentrisch aufgebauten Gesellschaft gelten: Die Familie erschien als „die erste und wichtigste Stufe im ganzen gesellschaftlichen Organismus der Menschheit“.14 Der oldenburgische Zentrumsadelige Ferdinand Graf von Galen akzentuierte dies in programmatischer Form im Reichstagsplenum: „Wie nun im Samenkorn der Keim der ganzen organischen Entwicklung der Pflanze gelegen ist, so liegt in der Familie der Keim der ganzen organischen Entwicklung der Gesellschaft. Gott hat aber die Familie als Genossenschaft gegründet, mithin kann aus diesem Keim auch nur eine genossenschaftliche organische Entwicklung der Gesellschaft hervorgehen.“ 15 Alle Sozialeinheiten waren in Konsequenz korporativ imaginiert. Denn sie besäßen „die Eigenschaft lebendiger Körper und aus der Natur der Dinge gestalteter Organismen [. . .], deren Verbindung nicht auf bloß äußerlichen, vorübergehenden Zufälligkeiten, sondern auf der Natur der Dinge und ihren inneren Gesetzen beruht.“ 16 Der Staat figurierte dementsprechend als organischer, nach naturrechtlichen Prinzipien konstituierter und damit ebenfalls dem Gemeinwohl 12 Reif, Heinz: Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815–1874, in: Fehrenbach, Elisabeth (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 203–230, hier S. 209 ff.; zum groben Verständnis Reif, Heinz: Westfälischer Adel 1770–1860, Göttingen 1979, S. 425 ff.; Reif, Heinz: Adelskritik und Adelsreform in Deutschland 1770–1848, in: Jaroszewicz, Mieczyslaw/Stepinski, Wlodzimierz (Hrsg.): Szlachta, spoleczenstwo, panstwo miedzy Warmia a Rugia w XVIII–XX wieku, Szczecin 1998, S. 13–21, hier S. 19 f.; Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 47 f., 100 ff. u. 111 f.; Wienfort: Der Adel in der Moderne (wie Anm. 3), S. 152. 13 Zum christlichen Menschenbild allgemein zum Beispiel: Grebing, Helga (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus, Katholische Soziallehre, Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Wiesbaden 20052, S. 606 ff. 14 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Die Katholiken im Deutschen Reiche. Entwurf zu einem politischen Programm, Mainz 1873, S. 300. 15 Deutscher Reichstag (DR), 22. Sitzung, 16. April 1877. 16 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Freiheit, Autorität und Kirche. Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, Mainz 18626, S. 66 f.

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verpflichteter Körper, dessen Glieder die Gesamtheit aller Individuen und der durch sie gebildeten Korporationen bildeten. Seine höchste Verpflichtung hatte Gott als seinem Schöpfer und damit Rechtsspender zu gelten: „Wie nun die Familie aus einzelnen Gliedern besteht [. . .] und ihren Abschluss findet in der Autorität des Familienoberhauptes, so gliedert sich die Familie selbst wieder als Glied eines höheren Organismus, und so von Organismus zu Organismus steigend, entwickelt sich das Reich, bis es seinen Einigungspunkt findet in Autorität der von Gott gesetzten Obrigkeit [. . .] Es sind diese Glieder naturgemäße, von Gott gewollte Organismen, gerade so wie der Staat selbst, und sie verhalten sich zum Ganzen wie die Glieder zum Haupt [. . .] Das Recht liegt in ihnen, es wächst im Organismus, es lebt im Volksleben, es muß deshalb gesucht und gefunden und dann ausgesprochen werden, es kann aber niemals gemacht werden; denn Gott ist der Urquell des Rechts und nicht der Mensch.“ 17 Der Staat konnte nach zentrumsadeligem Verständnis niemals „der freie Schöpfer des Rechts“ sein,18 vielmehr war er stets dem gottgegebenen Naturrecht und dessen überzeitlichen Normen unterworfen. Seine Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, durch Wahrung des göttlichen Sittengesetzes und daraus begründetem Gemeinwohleinsatz die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein jeder sich gemäß seiner Bestimmung und seinen Anlagen entfalten kann. Er sollte „die Norm für diejenige Einschränkung der Freiheit jedes Einzelnen“ aufstellen, „durch welche die Erfüllung menschheitlicher Zwecke von seiten der Übrigen ermöglicht wird“.19 Größter Feind der Gesellschaft war demnach für den Zentrumsadel „der Geist des vom Christenthum und seinen Geboten getrennten menschlichen Egoismus. Dieser Egoismus, der sich selbst von Gott trennt, trennt mit Nothwendigkeit auch den Menschen vom Menschen, und muß somit jeden Organismus zerstören“.20 Am Anfang stand sodann für die Zentrumsadeligen die Selbstkritik. Da ihr personalistisches Menschenbild sie soziale Fehlentwicklungen als „Aufhäufung und Zusammenballung vieler personaler Sünden“ deuten ließ,21 klagten sie die eigenen Verfehlungen der Vergangenheit an. 1866 pointierte beispielsweise der westfälische Zentrumsadelige Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst in einer instruktiven Schrift, dass der Adel als von Gott privilegierter und zu besonderen Pflichten für die Gemeinschaft aufgerufener Stand „im Laufe der Jahrhunderte von seinen hohen Bahnen abgewichen“ und dem Egoismus verfallen sei. Zu viele Adelige hätten der „Gottesfurcht“, den damit verbundenen Aufgaben und 17

DR, 22. Sitzung, 16. April 1877. Hertling, Georg Freiherr von: Naturrecht und Socialpolitik, Köln 1893, S. 22. 19 Hertling, Georg Freiherr von: Aufsätze und Reden socialpolitischen Inhalts, Freiburg im Breisgau 1884, S. 48. 20 DR, 22. Sitzung, 16. April 1877. 21 Rauscher, Anton (Hrsg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, S. 12 f.; Radziwill, Edmund Prinz von: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein, Breslau 1872, S. 433 f. 18

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insbesondere der selbstlosen Sorge um das Gemeinwohl als einem zentralen „Wahrzeichen adeliger Gesinnung“ abgeschworen.22 Für den Zentrumsadel stand fest, dass es zu oft adeliges Bestreben gewesen sei, „im Luxus mit den großen Geldmännern, und in frivolem Wesen mit den zuchtlosen Sitten mancher Gesellschaftsklassen zu wetteifern und sie zu überbieten“.23 Der Adel habe lange Zeit durch „seinen Egoismus [. . .] an seinem Ruin gearbeitet und seine eigentliche Aufgabe völlig vergessen“.24 Neben der Selbstkritik stand die Klage über die äußeren Widrigkeiten, denen der Adel in der Vergangenheit begegnen musste. Dabei wurde der Protestantismus bisweilen als Religion der Egoisten desavouiert und der Vorstellung von einer besseren, wenn nicht idealen Vorreformationszeit das Wort geredet. Der schlesische Zentrumsadelige Edmund Prinz von Radziwill etwa betrachtete den Abfall von Gemeinwohlvorstellungen und der damit einsetzenden Diskreditierung des Adelsstands als von Luther initiiert.25 Der Adel schien auch deshalb „dem Untergange anheimgefallen“, weil er im evangelisch determinierten Geiste des staatsgläubigen Egoismus „systematisch bekämpft [worden sei] durch die Gesetzgebung und die Bureaukratie“.26 Zuletzt und vor allem galt die zentrumadelige Kritik dem Zeitgeist: Den modernen Liberalismus beziehungsweise sein staatsrechtliches Derivat, den als Zentralismus zu verstehenden modernen Konstitutionalismus, der widernatürlich „die einzelnen Glieder verbindende Mitte als dominirend über alle Einzel-Interessen“ stellte,27 betrachtete der Zentrumsadel als „das Kind der wilden Ehe des Unglaubens mit dem Aufruhr“ 28. „Materialismus und Egoismus“ obwalteten aus seiner Sicht allerorten und drohten, „die Ideale auch des deutschen Volkes zu ersti-

22 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer-Alst, 1866), in: Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster (LVWLM), Archiv Herringhausen C 323; Statuten der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern, München 1876, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BayHstaM), FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 23 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Die Pflichten des Adels. Eine Stimme aus den Tagen des hl. Thomas von Aquin, Mainz 1868, S. 7. 24 Protokoll über die 17. GV des VkE, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 172. 25 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 432. 26 Wenger, Norbert: Von Schorlemer bis Heereman. 125 Jahre Westfälischer Bauernverein. 50 Jahre Westfälisch-Lippischer Landwirtschaftsverband, Münster 1997, S. 19; Promemoria Droste-Vischering [1881], in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/ 31; Protokoll über die 19. GV des VkE, 3. April 1880, in: LVWLM, Archiv KettelerHarkotten, Bestand Schwarzenraben/Familiensachen 267. 27 Gruben, zit. nach: Sitta, Heinz Wilfried: Franz Joseph Freiherr von Gruben. Ein Beitrag zur politischen Geschichte des deutschen Katholizismus, Würzburg 1953, S. 71. 28 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer-Alst, 1866), in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 323.

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cken“.29 Überkommene Wahrheiten würden relativiert, Sitte und Tradition verunglimpft, es regierten in zunehmendem Maße abstrakte Rechtsgleichheit und „Geldmacht“.30 Ausgehend von dieser dreifachen Kritik suchten die Zentrumsadeligen ihr Handeln im Zeichen eines renaturierten Adelsberufs zu legitimieren: Sie hegten die Vorstellung, dass das „Bedürfnis nach organischer, nach korporativer Gliederung [. . .] wohl nie größer gewesen“ sei.31 Aus ihrer Sicht erschien den Menschen in wachsendem Maße offenbar zu werden, dass der Freiheitsbegriff pervertiert worden sei. Immer mehr würden die Verwerflichkeit des Zeitgeistes erkennen, „alles nur noch vom materiellen, vom egoistischen Interessenstandpunkt [zu] betrachten“.32 Also müssten die traditionellen, nunmehr geläuterten Autoritäten vorangehen im Kampf gegen liberalen Zeitgeist und Werterelativierung. Der Adel habe sich vom Volk losgesagt und deshalb sei es an ihm „umzukehren und die gestörten Beziehungen wieder anzuknüpfen“.33 Der Zentrumsadel sah sich also als klassenübergreifender und dadurch klassen- und ordnungserhaltender Mittler. Er wollte zwecks „Verteidigung von Recht und Wahrheit“ einen „neue[n] Adel“ begründen, der „zwischen Krone und Volk“ stand, nach oben unabhängig, in sich einig und „nach unten hin mit dem Volke verwachsen“.34 Er war schlechterdings willens, „mit christlichem Opfermuthe den wahren Interessen der Gesamtheit zu dienen frei von Egoismus und Herrschsucht“.35 Eine wichtige Komponente dieses neuen, faktisch renaturierten Adelsberufs stellte die wieder zu stärkende Bindung an seine autochthone Lebenswelt dar, das heißt im Regelfall zum eigenen Grundbesitz und damit zur Bauernschaft, die im gesellschaftlichen Bewusstsein wieder als zweitwichtigste Sozialkorporation nach der Familie, als „die eigentliche Regenerationsquelle der Gesellschaft“,36 verankert werden sollte. So gründeten und/oder leiteten zahlreiche Zentrumsadelige nicht von ungefähr lokale, ausschließlich Christen offenstehende Bauernvereine. Der Zentrumsadel war bestrebt, sich durch das Eintreten für das Autochthone selbst wieder Kontur zu geben. Im Abwehrkampf gegen den Liberalismus 29 N. N.: Die Deutsche Adelsgenossenschaft. Zur Aufklärung über Zweck, Ziele, Einrichtungen und Leistungen der Deutschen Adels-Genossenschaft, Neudamm 1905, S. 7. 30 Protokoll über die 17. GV des VkE, 9. März 1879, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 172. 31 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer-Alst, 1866), in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 323. 32 N. N., Die Deutsche Adelsgenossenschaft (wie Anm. 29), S. 5. 33 An den katholischen Adel Deutschlands, 1869, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 172. 34 Ebd. 35 Protokoll über die 17. GV des VkE, 9. März 1879, Referat Pfetten, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 172. 36 Franz Joseph Freiherr von Gruben, in: Verhandlungen der Generalversammlung der katholischen Vereine/der Katholiken Deutschlands (Verhandlungen) (1884), S. 103.

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wollte er verbündete Kräfte sammeln, sie „in religiöser, sittlicher, intellektueller, sozialer und materieller Hinsicht“ heben37 und so wieder gesellschaftliche Führung übernehmen. „Der besondere Beruf des Adels“ bezog sich gemäß der organischen Auffassung von Welt „auf das ganze Leben“. Deshalb sollte der Kampf wider den Egoismus in zwei Stoßrichtungen geführt werden: zum ersten nach innen auf privatem Gebiet, „weil ein jeder Staat sich auf die Familie gründet“ und gesellschaftlicher Einsatz ohne ständische Solidarität unmöglich sei.38 Die Zentrumsadeligen zeigten sich überzeugt, dass „unsägliches Unheil“ angerichtet werden könne, „wo einmal die Erziehung in einer adeligen Familie falsche Bahnen eingeschlagen hat, wo entweder hochmüthige Geringschätzung oder ein Vergessen der wahren Standesehre Platz gegriffen haben“.39 Daher gelte es, „tüchtige, nicht kopfhängerische, sondern frische Kämpfer für den Glauben hervorzubilden“ und „in den Nachgeborenen den Sinn für die Erhaltung der Familie und des Besitzstandes zu wecken und zu pflegen“.40 Komplementär zur inneren Erziehungsarbeit erkannten die Zentrumsadeligen „eine wesentliche Obliegenheit des Adels darin, die Grundsätze [des] Glaubens [. . .] auch im öffentlichen Leben zu bekräftigen und zu vertreten“.41 Es schien unverrückbar festzustehen, dass der Adel „keine Rolle mehr spielen [konnte], wenn er nicht Theil nimmt am öffentlichen Leben“.42 Er hatte in Vereinen wie auch in den Parlamenten Präsenz zu zeigen. Als wichtigste institutionelle Kommunikatoren des renaturierten Adelsberufs konnten die seit den 1860er-Jahren entstehenden Adelsvereine gelten, vor allem der 1863 in Münster als westfälischer Regionalverein ins Leben gerufene und zunächst sechs Jahre intra muros agierende Verein katholischer Edelleute (VkE).43 Als am 31. Juli 1869 der VkE als überregionaler Zusammenschluss an die Öffentlichkeit trat, firmierten immerhin neun Zentrumsadelige als dessen Gründungsmitglieder.44 1877/78 waren 28 Prozent der Vereinsmitglieder auch Mit37 Zit. nach: Jacobs, Ferdinand: Von Schorlemer zur Grünen Front. Zur Abwertung des berufsständischen und politischen Denkens, Düsseldorf 1957, S. 9. 38 Protokoll über die 22. GV des VkE, 23. Januar 1882, in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 39 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 460. 40 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer-Alst, 1866), in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 323. 41 Ebd. 42 Constantin Graf von Waldburg zu Zeil und Trauchburg an seine Frau 8. Juli 1879, in: Neues Zeiler Archiv (NZA) 723. 43 Zum VkE: zum Beispiel Conrad, Horst: Stand und Konfession. Der Verein der katholischen Edelleute. Teil I: Die Jahre 1857–1918, in: Westfälische Zeitschrift, 158, 2008, S. 125–188. 44 [Erklärung der Vereinsgründung], 31. Juli 1869, in: LVWLM, Archiv Ketteler-Harkotten, Bestand Schwarzenraben/Familiensachen 267.

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glied der Zentrumspartei.45 Den Vorstand bildeten lange Zeit fast ausschließlich Zentrumsadelige. In Bayern gründete sich über den VkE hinaus 1876 ein eigener, ähnlich ambitionierter Adelsverein: die Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern. Gründungsmitglieder waren hier 23 von 30 bayerischen Zentrumsadeligen.46 Als „innere Basis“ der Vereinstätigkeit wurde „das gemeinsame Streben nach Erhaltung des Grundbesitzes, die Erhaltung der Tradition des Standes und der Familien-Ehre [sowie] die treue Anhänglichkeit an die katholische Kirche“ angesehen, äußere Legitimation bot das „opferwillige und uneigennützige Vorangehen in der Sorge für das allgemeine Wohl aller Stände, [das] gemeinsame Bestreben die Rechte und Freiheiten des Volkes zu vertheidigen“ 47. Die Vereine setzten sich zum Ziel, durch den Dienst für Kirche und Volk, namentlich durch eine intensive Caritastätigkeit, „aus der Subjektivität des Standes und der Verfolgung egoistischer und spezifischer Standes-Interessen“ herauszutreten und damit „den Stand selbst [zu] heben und [zu] regenerieren“.48 Praktisch bedeutete dies zum Beispiel, dass im VkE durch Vorträge und Besprechungen „die Anregung gegeben [wurde], frühzeitig Testamente zu machen, Sorge zu tragen für eine den heutigen Verhältnissen entsprechende Stellung der nachgeborenen Kinder“. Die Redner auf Vereinsversammlungen beschworen immer wieder die ständische Selbstorganisation und wiesen darauf hin, „daß es adelige Art sei, bei entstehenden Streitfragen ein Schiedsgericht von Standesgenossen zu berufen und statt durch Prozesse durch dieses eine Entscheidung herbei zu führen“.49 Nach außen hin wurden zum Beispiel in Not geratene Standesgenossen ebenso unterstützt wie verarmte Kirchengemeinden.50 Allgemein sollten auf Versammlungen des VkE die rhetorischen Fähigkeiten der Mitglieder für die politische Auseinandersetzung in den Parlamenten geschult werden.51

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Conrad: Horst: Stand und Konfession (wie Anm. 43), S. 149. Mitgliederverzeichnis der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern, 1. Juli 1876, in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 47 Protokoll über die GV des VkE, 31. Juli 1876, in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 48 Reif: Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815–1874 (wie Anm. 12), S. 427. 49 Promemoria Droste-Vischering [1881], in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 50 Protokoll über die 16. GV der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern, 2. Februar 1868, in: Diözesanarchiv Eichstätt, Nachlass Leonrod, Genossenschaft katholischer Edelleute; Protokoll über die 12. GV der GkEB, 17. Februar 1884, in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31; Der Vorstand des VkE, November 1878 und März 1879, beide in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 51 Conrad: Stand und Konfession (wie Anm. 43), S. 150 f. 46

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II. Milites christiani Ursprung und Motor fand die Proklamierung eines renaturierten Adelsberufs in der adeligen Kirchenbindung im Allgemeinen und der Papstaffinität im Besonderen. Denn Antiegoisten waren die Zentrumsadeligen vornehmlich als Milites christiani: Die ausgeprägte Kirchennähe des Adels war zunächst in seinem Weltverständnis und seiner Geschichte begründet. Die Kirche stellte für den Zentrumsadel die bedeutsamste, weil übernatürliche, auf der Offenbarung Christi beruhende gesellschaftliche Korporation dar.52 Sie verkörperte die „Trägerin der Wahrheit“; in ihr besaß gottgegebene Autorität „sakramentale Natur“ 53. Hinzu kam der Rekurs auf die Vergangenheit, als der Adel den „aktivste[n], de[n] ständischste[n] aller Stände des Alten Reiches“ 54 bildete. Laut dem Schlesier Edmund Prinz von Radziwill beispielsweise „verdankt der Adel, wie er sich in allen christlichen Staaten gebildet hat, sein Ansehen und seine moralische Bedeutung der Kirche, und nur in der Verbindung mit ihr vermag er dieses Ansehen und seinen Einfluß zu behaupten“.55 Im privaten Leben der Zentrumsadeligen hatte die Vorstellung vom Defensor christi seit jeher einen besonderen Platz eingenommen: Abgesehen von vereinzelten Mitgliedschaften in schlagenden Studentenverbindungen zeichnete kaum eine Biografie ein unstetes Verhältnis zu Glauben und Kirche. Im Regelfall konnte der Grad persönlicher Frömmigkeit als sehr hoch gelten: Der Zentrumsadelige besuchte mindestens wöchentlich, oft täglich die Messe. War er mit seiner Familie unterwegs und die heilige Messe fand ohne Predigt statt, dann las er anschließend den Angehörigen aus einem christlichen Erbauungsbuche vor.56 Er betete regelmäßig und intensiv. Als die Frau eines westfälischen Zentrumsadeligen einmal schwer krank war, betete er nach eigenem Bekunden „halblaut die Lauretanische Litanei, das ,salus infirmorum‘ (Heil der Kranken) dreimal wiederholend“.57 Hatte ein Zentrumsadeliger seinen Rosenkranz verloren, dann ließ er mitunter eine heilige Messe zu dessen Wiederfindung lesen.58 Viele Zentrumsadelige betrieben regelmäßig Exerzitien, nahmen an Wall- und Pilgerfahrten teil, waren An52 Hierzu auch: Corman, Gilbert: Kirche in der Gesellschaft. Kleine Katholische Soziallehre II. Teil, Essen 1959, S. 37 ff. 53 Schmidt, Franz: Hermann von Mallinckrodt, Mönchengladbach 1921, S. 44. 54 Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 29. 55 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 444. 56 Ehren, Hermann: Graf Franz von Ballestrem, Breslau 1935, S. 46 f. 57 Schlesinger, Carl: Große Männer einer großen Zeit. Mallinckrodt, Windthorst, Franckenstein, Peter Reichensperger, August Reichensperger, Schorlemer-Alst, Lieber, Heereman, Münster 19102, S. 189. 58 Rath an Alois Fürst zu Löwenstein, 31. Dezember 1921, in: Landesarchiv Baden Württemberg – Staatsarchiv Wertheim (LBWW), Nachlass 675/55.

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hänger des Herz-Jesu-Kultes59. Außergewöhnlich erschien die Romliebe des Zentrumsadels. Als Herrschaftssitz des Stellvertreters Gottes auf Erden wurde Rom als „locus amoenus“ wahrgenommen und der Papst, dem einige Zentrumsadelige in Privataudienz begegneten, zum Heiligen hypostasiert. Treffen mit ihm bedeuteten emotionale Ausnahmesituationen und tiefe Lebenseinschnitte. Als beispielsweise der Schlesier Franz Graf von Ballestrem im Februar 1873 erstmals zu einer Privataudienz bei Pius IX. geladen war, fühlte er sich „wie im Dusel“ und konnte die Nacht vorher nicht schlafen. Die Begegnung selbst stilisierte er gegenüber seiner Frau zum sinnlichen Hochereignis: Er fühle sich als „ein überglücklicher Mann“. Der Papst sei „überwältigend“ gewesen, er hinterließ den Eindruck „eines inspirierten Heiligen“: „Ich war 16 Minuten bei Ihm, in Seinem Schlafzimmer, ich habe oft Seine Hände geküsst. Er war zu mir wie ein gütiger Vater. Du siehst, ich bin noch keines anderen Gedanken fähig“.60 Auch der in Westfalen sozialisierte Klemens Graf Droste von und zu Vischering schwärmte in seinen Erinnerungen offen von der affektiven Dimension der Papstbegegnung: „Die große [. . .] Gestalt Pius IX., sein liebevoller Ausdruck und seine heilenden Worte machten tiefen Eindruck auf mich, ebenso wie der Augenblick, so ich zum ersten Mal die Hand des Stellvertreters Christi . . umfassen und küssen durfte“.61 Sein „Herz erzitterte [. . .] ob vor Rührung oder Ehrfurcht, Scheu und Freude“.62 Die private Nähe zu Kirche und Papst war allerdings das eine, das Engagement für sie coram publico etwas anderes. Und hier vollzog sich in den zentrumsadeligen Familien ein Wandel, von relativ ausgeprägter Zurückhaltung zur Vorreiterrolle: Zweifelsohne war ein bestimmter öffentlicher Einsatz stets typisch gewesen. Einige Familien hatten sich bereits vor 1848 im katholischen Vereins- und Pressewesen engagiert. Mit ganz wenigen Ausnahmen – zum Beispiel Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler und Franz Joseph (Ritter von) Buß – mieden die zentrumsadeligen Familien aber bis Ende der 1850er exponierte Positionen im Kircheneinsatz, stellte dezidiert kirchenpolitisches Handeln allenfalls ein kurzes Intermezzo dar: Während der Revolution von 1848/49 zum Beispiel hielten sich Adelige in Kirchenangelegenheiten relativ zurück.63 Die überall entstehenden 59 Siebertz, Paul: Karl Fürst zu Löwenstein. Ein Bild seines Lebens und Wirkens, München 1924, S. 111 ff. 60 Ballestrem an seine Frau 19. Februar und 10. März 1873, zit. nach: Ballestrem, Karl Ludwig Graf von: Graf Franz von Ballestrem 1834–1910. Aus den Briefen, Tagebüchern und Reden zusammengestellt mit einer Einleitung versehen von Ernst Laslowski, Eichstätt 1991, S. 98. 61 Memoiren Klemens Graf Droste von und zu Vischering, in: LVWLM, Archiv Darfeld, Klemens Droste-Vischering 1. 62 Audienz bei Pius IX, Juni 1867, in: LVWLM, Archiv Darfeld, Klemens DrosteVischering 317. 63 Zur Rolle des Katholizismus in der Revolution von 1848 ausführlich: Scheidgen, Hermann Josef: Der deutsche Katholizismus in der Revolution von 1848/49. Episkopat, Klerus, Laien, Vereine, Köln, Weimar u. Wien 2008. Allgemein zur Bedeutung des Adels: Ebd. S. 305 ff.

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Piusvereine waren vom gehobenen, teilweise vom Kleinbürgertum dominiert. Exemplarisch für die Kurzatmigkeit des adeligen Engagements auf kirchenpolitischem Feld erscheint die Rolle des Adels in der „Katholischen Fraktion“ des preußischen Abgeordnetenhauses: Aus Empörung über die Raumerschen Erlasse,64 welche die durch die Revolution für die Kirche in Preußen gewonnenen Errungenschaften zu revidieren schienen, hatten sich am 30. November 1852 63 Mandatsträger zur „Katholischen Fraktion“ zusammengeschlossen, darunter immerhin 12 Adlige (19,0 Prozent) und drei spätere Reichstagsabgeordnete der Zentrumspartei.65 Nachdem jedoch der Streit um die Raumerschen Erlasse entschieden war, traten fast alle Adeligen binnen zwei Jahren wieder aus der Fraktion aus. Ihr öffentliches Engagement im Dienste der Kirche hatte im Regelfall ein paar Monate gedauert.66 1862 saßen nur noch drei Adelige in der seit 1859 als „Zentrum“ firmierenden katholischen Fraktion, von denen lediglich einer auf eine mehr als dreijährige Parlamentserfahrung zurückblicken konnte.67 Bezeichnenderweise wurden auch die Katholikentage von 1850 bis Anfang der 1860erJahre im Regelfall von keinem späteren Zentrumsadeligen besucht. Der Adel lebte für gewöhnlich „von der religiösen Bewegung zurückgezogen“, in der Öffentlichkeit „selten ein Zeichen katholischen Lebens von sich“ gebend.68 Der dauerhafte öffentliche Einsatz für Kirche und Glauben sollte erst im Laufe der 1860er-Jahre zum adeligen Kennzeichen werden. In der Entschiedenheit, mit der Zentrumadelige diesen leisteten, kam ihnen dann jedoch eine Zugpferdfunktion im kirchlichen Lager zu. In einer Zeit, in welcher der kleindeutsche Staatsgründungsprozess die Katholiken zur Minderheit machte und der staatliche Säkularismus ausgehend von Baden69 die Rechte der Kirche zu beschneiden suchte, vor allem aber die weltliche Macht des Papstes durch das Voranschreiten der italienischen Nationalbewegung im fortwährenden Zerfall begriffen war, wurden sie federführend zu überzeugten Milites christiani. Zumal die adelige Papstnähe ließ den öffentlichen politischen Einsatz unabdingbar erscheinen und so bildete denn 64 Es sollte eine besondere Beaufsichtigung ausländischer Geistlicher und der Volksmissionen geben; Geistlichen wurde der Besuch des von Jesuiten geführten Collegium Germanicum in Rom verwehrt. 65 Bachem, Karl: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, Band 1–9, Aalen 1967/68 (Neudruck der 2. unveränderten Auflage, Köln 1928), hier Band 2, S. 217. 66 Bachem: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei (wie Anm. 65), Band 2, S. 124; vgl. die statistischen Angaben bei Donner, Hermann: Die Katholische Fraktion in Preußen 1852–1858, Leipzig 1909, S. 74 ff. 67 Wendorf gibt für die Wintersession 1862 drei Adelige an: Wendorf, Hermann: Die Fraktion des Zentrums (Katholische Fraktion) im preussischen Abgeordnetenhause 1859 bis 1867, Leipzig 1914, S. 133 f. 68 Niedermayer, Andreas: Die katholische Bewegung in Deutschland, Frankfurt am Main 1869, S. 52. 69 Fenske, Hans u. a.: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte. Band 3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, Stuttgart 1992, S. 135 ff.

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auch die Entwicklung der Jahre 1859/60, als der Kirchenstaat binnen kürzester Zeit 72 Prozent seines Territoriums verlor,70 dessen Fanal. Wichtigster Werber und Geldspender für die sich nunmehr erhebende Solidaritätsbewegung im katholischen Lager war der Adel, dessen Unterschrift unter keiner Protestadresse fehlte. Drei Zentrumadelige meldeten sich sogar freiwillig zur päpstlichen Armee und nahmen unter anderem an der Schlacht von Castelfidardo teil.71 Fortan zeigten Adelige ein unablässig großes Engagement in den St. Michaelsbruderschaften, die sich ausdrücklich der „Unterstützung der ältesten Monarchie der Welt im Kampf gegen die rothe Revolution“ verpflichtet fühlten und zu diesem Zweck Gaben und Geld aufbringen wollten.72 Zugleich fand der Malteserorden, der sich neben der „Ausübung der Werke der Barmherzigkeit“ der „Vertheidigung der Religion“, namentlich dem Schutz des heiligen Stuhls, verpflichtet sah,73 regen Zulauf durch Adelige. Etliche Adelige waren an der Gründung regionaler und überregionaler katholischer Zeitungen und Pressevereine beteiligt, die „der Kirche neue Mittel der Vertheidigung“ zuführen sollten.74 Die seit Ende der 1860er-Jahre allerorten in den deutschen Staaten entstehenden katholischen Volksvereine, die der „Besprechung und Wahrung der Rechte und Interessen der katholischen Bevölkerung in Staat und Gemeinde“ dienlich sein sollten,75 unterstanden meist der Führung eines Zentrumadeligen. Das adelige Engagement in Sachen Katholikentage nahm deutlich zu. Bei den 17 zwischen 1871 und 1890 abgehaltenen Generalversammlungen der katholischen Vereine Deutschlands saß zum Beispiel zwölfmal mindestens ein Zentrumsadeliger im Präsidium. Dem vorbereitenden Lokalkomitee gehörte zumeist ein Zentrumsadeliger an, mehr70 Benz, Hartmut: Der Peterspfennig im Pontifikat Pius IX. Initiativen zur Unterstützung des Papsttums (1859–1878), in: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 90, Heft 1–2, 1995, S. 90–109, hier S. 91. 71 Haunfelder, Bernd: Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871– 1933. Biografisches Handbuch und historische Photografien, Düsseldorf 1999, S. 190 u. 142. 72 Wilderich Freiherr von Ketteler an Mitglieder der St. Michaelsbruderschaft, 25. Mai 1868, in: Archivamt des Landschaftsverbandes Rheinland, Brauweiler (LVRB), Archiv Heltorf U 71 II; Hohmann, Friedrich Gerhard: Die Soester Konferenzen 1864– 1866. Zur Vorgeschichte der Zentrumspartei in Westfalen, in: Westfälische Zeitschrift 114, 1964, S. 293–342, hier S. 295; allgemein Benz: Der Peterspfennig im Pontifikat Pius IX. Initiativen zur Unterstützung des Papsttums (wie Anm. 70), S. 97 f. 73 Geschäftsordnung der Rheinisch-westfälischen Malteser-Genossenschaft, 12. August 1867, in: LVRB, Archiv Heltorf V 53; Motive zum Ausführungsstatat [1867], in: LVRB, Archiv Heltorf V 53. 74 Aufruf an die Katholiken des Bistums Mainz [1868]; vgl. Briefwechsel in: LBWW, Nachlass 675/32; Quittung, 9. Februar 1870, in: Kreisarchiv Rottweil (KaR), Nachlass Cajetan Graf von Bissingen-Nippenburg 697; Westfälisches Adelsblatt, S. 236, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 220; Freie Stimme, 24. Juni 1865, zit. nach: Gräflich Bodmansches Archiv, Bodman (GBAB), A 2315. 75 Bachem: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei (wie Anm. 65), Band 3, S. 27.

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fach stand er ihm vor. Zentrumsadelige exponierten sich auf Katholikentagen als Redner und in der Ausschussarbeit. Auffällig erscheint zudem, dass bekannte bürgerliche Zentrumspolitiker erst viel später auf den Katholikentagen Präsenz zeigten. Ludwig Windthorst besuchte die Generalversammlung erstmals 1879, regelmäßig seit 1881, Peter und August Reichensperger tauchten in der Bismarckära lediglich sporadisch auf.76 In der Sprache der Zentrumsadeligen traten sodann im Sinne der Miles-christianus-Idee seit den 1860er-Jahren immer klarer die Kreuzzuganleihen hervor, ihre Weltsicht bekam zusehends bellizistische, ja eschatologische Züge. In wachsendem Maße wurde herausgestellt, dass „ein Kampf um das Dasein der Kirche“ geführt werde.77 Vergleiche mit dem Kampf der Makkabäer florierten,78 man imaginierte den finalen Kampf „zwischen den Feinden der katholischen Kirche und ihren Anhängern, zwischen den Liberalen und kirchentreuen Anhängern“,79 zwischen „christliche[r] Cultur [. . .] und Barbarei“,80 zwischen „Christenthum und moderne[m] Heidenthum“, „zwischen Glauben und unchristlicher Philosophie“, zwischen der Kirche und den „Mächte[n] der Finsterniß“.81 Viele Adelige sahen den „göttlichen Organismus“ Kirche [. . .] dem Vernichtungskampf“ anheim gegeben.82 „Der Krieg“ zwischen naturrechtlicher Tradition und unchristlicher Moderne83, ja „die Entscheidungsschlacht“ der Menschheit84 um die Frage „ist der Herr Gott, oder ist die Welt, ist Baal Gott?“ 85 war im adeligen Bewusstsein vor Verabschiedung des „Kanzelparagraphen“ eröffnet und fand in den Gesetzeswerken der 1870er-Jahre lediglich konkrete Angriffspunkte. 76 Buchheim ist energisch zu widersprechen, wenn er meint, dass es bis zu Windthorsts erstmaligem Auftreten „eine Verbindung zwischen der Partei und der katholischen Bewegung“ nicht gegeben habe: Buchheim, Karl: Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963, S. 279. 77 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Das Recht und der Rechtsschutz der katholischen Kirche in Deutschland, mit besonderer Rücksicht auf die Forderungen des Oberrheinischen Episkopates und den gegenwärtigen kirchlichen Conflict, Mainz 18542, S. 34. 78 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Der Kampf gegen die Kirche. Predigt bei Eröffnung des allgemeinen Gebetes für die Anliegen der Kirche, Mainz 1872, S. 3 f. 79 Freie Stimme, 2. März 1871. 80 Friedrich Graf von Praschma, in: Verhandlungen (1876), S. 66. 81 Schmidt: Hermann von Mallinckrodt (wie Anm. 53), S. 32; Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 394 u. 508. 82 Ketteler: Der Kampf gegen die Kirche (wie Anm. 78), S. 4; Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 363. 83 Karl Friedrich von Savigny an Ernst Ludwig von Gerlach, 17. Juli 1871, in: Gerlach-Archiv, Erlangen, S. 84 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 500. 85 Kraus, Hans-Christof: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, Teil 1 u. 2, Göttingen 1994, S. 911.

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Kampfvoraussetzung bildete dabei das Bewusstsein allgegenwärtiger Stigmatisierung und die den Sieg garantierende Vorstellung ideeller Überlegenheit: So litten die Zentrumsadeligen einerseits an der Vorstellung vom Paria Kirche; sie fühlten sich ausgegrenzt, unverstanden und gedemütigt, das Pejorativ wurde zum Topos der Selbstzuschreibung: Man sah sich „in einer bösen Zeit“ leben86 und glaubte, dass „die Verblendung, die Böswilligkeit, der absolute Mangel an Rechtsgefühl, und die absolute Unkenntniß der Kirche noch niemals klarer, häßlicher und gewaltiger hervorgetreten“ seien.87 Andererseits schien der Erfolg gerade wegen der Größe der Bedeutung sicher; Zentrumsadelige huldigten der Dialektik von großem Leid des Parias und des lediglich scheinbar sinnlosen Heldenkampfes. Der Zentrumsadel sah sich in „dem großen Kampfe der Gegenwart [. . .] glänzend und würdevoll“ streiten für „die Vertheidigung des Rechtes [und] die Bekämpfung des Unrechtes“.88 Er war sich sicher, „daß die katholische Kirche zu siegen im Begriff steht, weil sie die einzige wahrhaft ideelle Macht auf Erden [darstellt], sich durch nichts einschüchtern, durch nichts zum Aufgeben und Modifizieren ihrer Prinzipien bestimmen lässt“.89 III. Das Reich als Herausforderung Die deutsche Reichsgründung kam den Ideen vom Antiegoisten und Miles christianus ausdrücklich entgegen und steigerte so die Politisierung des Zentrumsadels, zumal der Regionalisten etwa aus Bayern. Der Weg für den Zentrumsadel in das Reich war weit.90 Hindernisse markierten neben persönlichen Bindungen an die Habsburgermonarchie (immerhin drei

86 Rede Droste-Vischering, 14. Januar 1870, in: LVWLM, Archiv Darfeld, Klemens Droste-Vischering 318. 87 Klemens Freiherr von Heereman-Zuydtwyck an Christoph Moufang, 11. Mai 1875, in: Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Domkapitel 5.3. 6 i. 88 Hertling, Georg Freiherr [Graf] von: Erinnerungen aus meinem Leben, Band 1, München 1919, S. 279; Toast auf Ludwig Windthorst, 17. Januar 1882, in: Franckensteinsches Archiv Ullstadt (FAU), Rote Handakten. 89 Savigny an Johannes Janssen, 11. Mai 1870, zit. nach: Real, Willy (Hrsg.): Karl Friedrich von Savigny: Katholizismus und Reichsgründung. Neue Quellen aus dem Nachlass Karl Friedrich von Savignys, Paderborn u. a. 1988, S. 49. 90 Allgemein zu Katholiken und Reichsgründung: zum Beispiel Lill, Rudolf: Die deutschen Katholiken und Bismarcks Reichsgründung, in: Schieder, Theodor/Deuerlein, Ernst (Hrsg.): Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 345–365; Lill, Rudolf: Großdeutsch und kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800, Paderborn u. a. 1984, S. 29–48; Becker, Winfried: Staat, Kultur, soziale Frage. Zur Rolle der Kirchen im Kaiserreich, in: Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Kirchen und Staat. Vom Kaiserreich zum wiedervereinigten Deutschland, München 2000, S. 11–29.

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Zentrumsadelige zogen 1866 für Österreich gegen Preußen in den Krieg)91 vor allem die konfessionell begründete Affinität zum großdeutschen Gedanken und in Korrelation dazu das adelige Verständnis von Welt: In allen Landsmannschaften des Zentrumsadels besaß die Anhänglichkeit an Österreich als „mächtigste[r] Stütze des Katholicismus“ 92 und die Gegnerschaft gegenüber kleindeutschen Begehrlichkeiten Tradition. Für Westfalen wie Wilderich Freiherr von Ketteler oder Schorlemer-Alst beispielsweise stand außer Frage, dass sie „ein rechter ächter Preuse“ sind.93 Zugleich ließen sie vor 1866 nie einen Zweifel an ihrer doppelten Loyalität: Für sie zählte „der gute preußische, aber auch der festzuhaltende traditionelle großdeutsche Standpunkt“.94 Als Ideal firmierte ein Staat, „in welchem das Recht aller deutschen Völker auf Reichseinheit volle Befriedigung“ findet und „auch das alte deutsche Kaiserhaus mit seinen alten deutschen Volksstämmen einen Platz“ erhält95. Die Geschehnisse des Jahres 1866/67 bedeuteten demgemäß für fast alle Zentrumsadeligen eine „Katastrophe“ 96. Selbst für Repräsentanten der preußischen Landsmannschaften schien außer Frage zu stehen: „Preußen befindet sich auf dem Wege zum Abgrund. Wie lange es denselben wandeln wird, bis es hinabstürzt, weiß Gott allein. Aber nur der handelt als wahrer Patriot und loyaler Untertan, der ihm ein Halt! Zuruft und zur Umkehr mahnt“ 97. Viele süddeutsche Adelige fanden im Abwehrkampf gegen die preußisch dominierte Nationalstaatsgründung den Weg in die Parteipolitik. Sie schlossen sich der 1868 entstehenden bayerischen Patriotenpartei an, die sich in der Gegnerschaft zum Zollparlament formierte,98 und machten sich gegen einen isolierten Eintritt Bayerns in den Norddeutschen Bund stark99. Der größte Teil des Zentrumsadels betrachtete die Bismarcksche Lösung der deutschen Frage als einen eklatant illegitimen Bruch von Sitte und gottgegebener 91 Vgl. die Angaben bei Haunfelder: Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei (wie Anm. 71). 92 Gerlach, Ernst Ludwig von: Die Annexionen und der Norddeutsche Bund, Berlin 18665, S. 34. 93 Wilhelm Emmanuel an Wilderich Ketteler, 15. Januar 1825, zit. nach: Iserloh, Erwin/Gollmann, Bernd (Bearb.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Briefe 1825– 1850, Mainz 1984, S. 1. 94 Zit. nach: Keinemann, Friedrich: Soziale und politische Geschichte des Westfälischen Adels 1815–1945, Hamm 1976, S. 116. 95 Ketteler: Die Katholiken im Deutschen Reiche (wie Anm. 14), S. 12. 96 Cajus Graf von Stolberg-Stolberg an Gerlach, 11. Juli 1866, zit. nach: Diwald, Hellmut (Hrsg.): Ernst Ludwig Gerlach: Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Aus dem Nachlass von Ernst Ludwig von Gerlach, Teil 2: Briefe, Denkschriften, Aufzeichnungen, Göttingen 1970, S. 862. 97 Zit. nach: Keinemann: Soziale und politische Geschichte des Westfälischen Adels (wie Anm. 94), S. 118. 98 Hartmannsgruber, Friedrich: Die Bayerische Volkspartei 1868–1887, München 1986, S. 33 ff. 99 Ebd. S. 88 f.

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Ordnung: „Wir leben in einer Zeit, wo die faktischen Autoritäten zugleich mit den autoritativen Principien umgestoßen sind. Keine legitime Herrschergewalt wird mehr anerkannt, über die Frage der Entthronung der Monarchen geht man hinweg mit einer Gleichgültigkeit, als handele es sich um den Wechsel der Mode“.100 Für die überragende Mehrheit schlug die preußische Politik „dem Faß des historischen Rechtes den Boden aus . . .“.101 „Ein guter[r] Theil deutscher Geschichte, alter deutscher Traditionen, alter deutscher Rechtsverhältnisse“ schien „hinweggeschwemmt“.102 Trotz einer durchaus massiven Reichspropaganda, die „mit der Errichtung des deutschen Kaiserreichs“ das Werk des „weltliche[n] Protestantismus“ gekrönt,103 ja „das heilige evangelische Reich deutscher Nation“ geschaffen sah,104 sollte die große Mehrheit des Zentrumsadels gleichwohl im Reich ankommen, unterschiedlich schnell und mit unterschiedlicher Intensität. Eine Brücke lieferte die massive Aufwallung nationaler Gefühle durch den erfolgreich bestrittenen deutsch-französischen Krieg, wobei Frankreich als Hort der Revolution und der zentralistischen, das Naturrecht torpedierenden Staatsauffassung ein besonders dankbares Feindbild abgab;105 eine noch Wichtigere entsprang gerade dem, was eigentlich trennte: dem organisch-naturrechtlichen Verständnis von Welt. Ein Solches implizierte mithin für die allermeisten Zentrumsadeligen, dass „Gott [. . .] dem Volke der Christen keine äußeren Satzungen [. . .] über die Formen ihrer Staatsverfassung“ vorschreibt.106 Es hatte lediglich der Grundsatz zu gelten: „jede Freiheit ist [. . .] begrenzt durch Sittlichkeit“.107 Ein kleindeutscher Einheitsstaat war spä-

100 Gruben, 19. März 1870, zit. nach: Sitta: Franz Joseph Freiherr von Gruben (wie Anm. 27), S. 64. 101 Schorlemer-Alst an Friedrich Freiherr von Schorlemer-Overhagen, 26. Oktober 1868, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 325. 102 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Deutschland nach dem Kriege von 1866, Mainz 18674, S. 58. 103 Michael Baumgarten, 1872, zit. nach: Lill, Rudolf (Hrsg.): Der Kulturkampf, Paderborn u. a. 1997, S. 12. 104 Adolf Stoecker, zit. nach: Aschoff, Hans-Georg: Protestantismus und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, in: Rüther, Günther (Hrsg.): Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegungen in Deutschland. Grundlagen, Unterrichtsmodelle, Quellen und Arbeitshilfen für die politische Bildung. Teil 1, Bonn 1984, S. 57–92, hier S. 67. 105 Zum Beispiel Gruben, 21. Juli 1870, zit. nach: Sitta: Franz Joseph Freiherr von Gruben (wie Anm. 27), S. 73. 106 Gerlach, 1833, zit. nach: Kraus: Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 85), S. 220; vgl. in größerem Kontext: zum Beispiel Ruppert, Karsten: Protestantismus und Katholizismus in der Weimarer Republik, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildung: Kirchen und Staat (wie Anm. 90), S. 30–75, hier S. 49 ff. 107 Franz Joseph (Ritter von) Buß, katholische Politik, 1851, zit. nach: Morsey, Rudolf (Hrsg.): Katholizismus, Verfassungsstaat und Demokratie. Vom Vormärz bis 1933, Paderborn u. a. 1988, S. 7.

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testens 1870/71 unumkehrbare Realität, „die Bildung eines solchen im Sinne des Großdeutschen [. . .] eine Unmöglichkeit geworden“.108 Wo nach zentrumsadeliger Auffassung aber „niemand regieren will oder kann, ist jeder legitim, der es will und kann“,109 und als Katholiken sah man sich als „treue Unterthanen, nicht jenachdem [. . .] eine Regierung gefällt oder nicht, nicht nach [. . .] Belieben, nicht nach [. . .] Wahl, sondern wegen Gott und Gottes Gebot“ 110. Es war alternativlos das von einem Hohenzollern regierte Reich, das die Deutschen zu einer „Volkspersönlichkeit“ verband,111 und daher ging es in den Worten von Wilhelm Emmanuel Ketteler darum, „von den gegebenen Verhältnissen, die wir nicht geschaffen haben, die wir aber auch nicht ändern können, auszugehen, und mit warmer Liebe zu unserem deutschen Vaterlande alle Keime einer guten und gedeihlichen Entwickelung in ihnen aufzusuchen und zu benützen.“ 112 Obwohl auf revolutionärem Wege entstanden und „in dynastischem Interesse verstümmelt“, oblag dem Hohenzollernreich aus Sicht der meisten Zentrumsadeligen fortan die Wahrung des Sittengesetzes. Es war von Gott aufgerufen, die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen zu schützen und sich dem Einsatz für das Summum Bonum zu verpflichten. Es galt also für den gläubigen Christen die „Pflichten gegen das Deutsche Reich treu“ zu erfüllen113. Das Verhältnis zum neuen Reich war folglich vor allem von sittlich begründetem Pragmatismus bestimmt. Zweifelsohne waren auch Zentrumsadelige „jederzeit für die Ehre Deutschlands mit Gut und Blut“ einzutreten bereit114 und „durch die Großtaten unserer Truppen mit patriotischer Begeisterung erfüllt“ 115. Mancher Zentrumsadelige empfing 1871 auf seinem Schloss „sämtliche Soldaten aus den Orten der Herrschaft“ und ließ ihnen durch seine Kinder „schwarz-rotweiße Schleifen mit Efeublättern“ überreichen.116 Im Normalfall aber wahrten Zentrumsadelige Abstand zu jeder Form des Nationalkults. Die Distanz zum liberalen Protestantismus, der als Antwort auf den fortschreitenden Säkularismus die Hingabe an die Nation als wichtigstes Bindemittel in einer von Einzelinteressen

108 Buß 1874, zit. nach: Dor, Franz: Franz Joseph Ritter von Buß. In seinem Leben und Wirken geschildert, Freiburg im Breisgau 1911, S. 176 f. 109 Gerlach, April 1849, zit. nach: Kraus: Ernst Ludwig von Gerlach (wie Anm. 85), S. 272. 110 Verhandlungen (1871), S. 306. 111 Hertling: Aufsätze und Reden socialpolitischen Inhalts (wie Anm. 19), S. 48. 112 Ketteler: Deutschland nach dem Kriege von 1866 (wie Anm. 112), S. 68 f. 113 Bachem: Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei (wie Anm. 65), Band 3, S. 184. 114 Rede Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein vom 21. Juni 1870, in: FAU, Blaue Handakten 4. 115 Hertling: Erinnerungen aus meinem Leben (wie Anm. 88), S. 227. 116 Mein Erlebtes (Franz Freiherr von und zu Bodman) Bd. 1, 1871, S. 51, in: GBAB, A 3075.

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geprägten Gesellschaft ansah,117 konnte nicht größer sein. Das Sittengesetz stand über der Nationalität. Denn: „So wie das wahre Recht, das Recht aus Gott, verbindet, so isolirt die Nationalität wenn sie oberstes Prinzip sein will; sie ist dann nur erweiterter Egoismus.“ 118 Der nationale Staat wurde akzeptiert und verteidigt, wenn ihm zugetraut werden konnte, seine gottgegebene Aufgabe zu erfüllen: Die natürliche Rechtsordnung und damit den Antiegoismus zu wahren. Die notwendige innere Konstituierung des neuen Staates bedeutete alsdann für den selbsterklärten antiegoistischen Vorkämpfer für Tradition und Glauben freilich eine ebenso große Herausforderung wie Chance. Denn es erschien den meisten Zentrumsadeligen offenkundig, dass „die äußere Einheit und Kraft, welche das deutsche Volk durch Wiederherstellung eines Reiches und einer kaiserlichen Macht gewonnen hat [. . .] ihm nur dann zu Hilfe gereichen [kann], wenn es zugleich die Grundlage seiner alten deutschen Kraft heilig hält und stärkt: die Gerechtigkeit und Gottesfurcht“. Da die Reichsverfassung „den Abgeordneten des Reichstags einen großen und gewichtigen Einfluß auf die Gesetzgebung, wie auf die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten“ gab, fürchtete man „einen unberechenbaren Schaden [. . .] wenn falsche und verderbliche Grundsätze in ihm die Herrschaft haben“.119 Es ging also für den Zentrumsadel darum, im neuen Reich möglichst viele der eigenen Vorstellungen verwirklicht zu sehen, einen Staat zu schaffen, der versteht, dass der Mensch nicht nur „ein staatliches Wesen“ ist, sondern Verbindungen benötigt, „in welchen die Idee der Religion, die Idee der Gesellschaft, die Bedürfnisse des Erwerbs, die Idee der Familie verwirklicht sind“.120 Es ging darum, wie der bayerische Abgeordnete Franz Josef Freiherr von Gruben es prägnant formulierte, „die weisen Lehren des Christenthums und sein Sittengesetz als den heilsamen Lebenssaft in alle Adern des Staatswesens einzuführen“ 121. Der Reichstag war nunmehr an erster Stelle das „Schlachtfeld, wo die Geschicke der Völker entschieden werden“,122 wo „die Vertheidigung der christlichen Religion selbst“ stattfand123 und deshalb wurde das höchste deutsche Parlament zum bevorzugten adeligen Kampfplatz.124

117 Zum liberal-protestantischen Nationalstaatsgedanken: zum Beispiel Becker, Winfried: Staats- und Verfassungsverständnis der christlichen Demokratie von den Anfängen bis 1933, in: Rüther: Geschichte der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland (wie Anm. 194), S. 93–144, hier S. 50 ff. 118 Gerlach, Ernst Ludwig von: Das neue Deutsche Reich, Berlin 18712, S. 34. 119 Bischof Ketteler, in: Badischer Beobachter, 25. Februar 1871. 120 Ketteler: Die Katholiken im Deutschen Reiche (wie Anm. 14), S. 45 f. 121 Gruben, Franz Josef von (unter dem Pseudonym J. Albertus): Die socialpolitische Bedeutung und Wirksamkeit des hl. Vaters Leo XIII., Münster u. a. 1888, S. 48. 122 Gruben, in: Verhandlungen (1884), S. 108. 123 Bischof Ketteler, in: Badischer Beobachter, 25. Februar 1871. 124 Becker: Staats- und Verfassungsverständnis der christlichen Demokratie von den Anfängen bis 1933 (wie Anm. 117), S. 62 f.

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Dies galt auch für die süddeutschen Zentrumsadeligen. Sicherlich war ihr Weg in die Politik am stärksten von regionalen, wider den Reichsgedanken stehenden Interessen befördert worden. Die bayerischen Adeligen etwa lehnten bis 1871 jede Verfassungskonzession ab.125 Sie teilten zwar „die Begeisterung für ein großes deutsches Vaterland“, wollten aber nicht davon abgehen, „die Selbstständigkeit und innere Freiheit Bayerns“ mit allen Mitteln zu verteidigen.126 Die Gründung des Deutschen Reichs nahmen daher etliche süddeutsche Zentrumsadelige „ohne innere Teilnahme“ wahr.127 Man goutierte ausdrücklich, dass das Gros der Patriotenpartei am 21. Januar 1871 im bayerischen Abgeordnetenhaus gegen die Versailler Verträge stimmte, da sich Bayern „der Willkür des preußischen Nordens zum schweren Nachteil [der eigenen] politischen und wirtschaftlichen Existenz preis geben würde“.128 Zusehends arrangierten sich die Süddeutschen und auch die Bayern jedoch damit, dass die deutsche Fahne voran wehte, weil sich „unser Aller sehnlichster Wunsch nach einem großen einigen Vaterland erfüllt [habe]“, wenn auch „nicht ganz auf die Art, wie [. . .] erhofft“,129 und weil man sich unter ihr umso nachdrücklicher zum Beispiel „um das blauweiße Banner“ scharen konnte130. Es wurde konzediert, durchaus für Reichspatriotismus und „deutsche Ehre zugänglich“ zu sein,131 und man fand Gefallen an einem mächtigen Deutschen Reich, das sich durch „ein festes, brüderliches Zusammenwirken und Zusammenhalten der deutschen Staaten und Stämme“ gekennzeichnet sah132. Der Reichstag wurde als Möglichkeit entdeckt, sich nicht „in die preußische Zwangsjacke“ 133 stecken zu lassen, gegen den „preußische[n] Staatsabsolutismus“ zu Felde zu rücken,134 „den Süden Deutschlands gegen norddeutsche Vergewaltigung zu schützen“ 135 und „unbedingt der Stimme [des] für Bayern hochschlagenden Herzens“ zu folgen136. 125

Hartmannsgruber: Die Bayerische Volkspartei (wie Anm. 98), S. 14. Aufruf zur Wahl in das Zollparlament [1868], in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/28; An unsere Wähler, 21. Januar 1871, in: Gräflich Seinsheimsches Hausarchiv, Sünching (GSHaS), 934. 127 Hertling: Erinnerungen aus meinem Leben (wie Anm. 88), S. 227. 128 Aufruf zur Wahl in das Zollparlament [1868], in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/28. 129 Freie Stimme, 23. Februar 1871. 130 Landshuter Zeitung, 5. November 1869. 131 Konrad Graf von Preysing-Lichtenegg-Moos an seine Frau 19. Januar 1885, in: Staatsarchiv Landshut (StaL), Schlossarchiv Moos (SaM), 776. 132 An die patriotischen Wähler des Wahlkreises Dillingen-Günzburg-Zusmarshausen, 26. Februar 1871, in: FAU, Blaue Handakten 1. 133 Blaue Handakten 5, in: FAU. 134 Franckenstein an Konrad Preysing, 17. August 1886, in: StaL SaM 740 a; Hertling an Franckenstein, 11. September 1881, in: FAU, Rote Handakten 28. 135 Gesandtschaft Württemberg an Bismarck, 3. Dezember 1881, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, IA Deutschland IAAb 102 Band 5 11817 R 710. 136 Anton Ruland an Maximilian Graf von Seinsheim-Grünbach, 3. April 1871, in: GSHaS, 856. 126

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IV. Gegnerschaften Das Andere bildete in den Bewusstseinswelten des Zentrumsadels die Sozialdemokratie. Sie galt als Leitidee der Gegenordnung und deshalb mit aller Macht zu bekämpfende Bedrohung. Der Zentrumsadel verurteilte ihre Lehren „voll und ganz“ 137 und brandmarkte sie als „Todfeind“ 138. Der Sozialismus figurierte ihm als fortgeschrittenster Teil der liberalen Bewegung und damit gefährlichster Phänotyp der Moderne. Stets gingen Zentrumsadelige davon aus, dass „die sociale Frage [. . .] nicht bloß eine Magenfrage“ sei, sondern vor allem „auch eine Seelenfrage“.139 Jedoch gab man lange Zeit im Einklang mit der herrschenden katholischen Lehre der religiösen Komponente das eindeutige Präe.140 Wilhelm Emmanuel Ketteler etwa hatte 1848 „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“ klar beschrieben, die sozialen Verwerfungen jedoch im Wesentlichen auf eine weitgehende Abkehr der modernen Gesellschaften vom Christentum zurückgeführt und strukturell-politische Änderungen abgelehnt: „Nicht in der äußeren Not liegt unser soziales Elend, sondern in der inneren Gesinnung [. . .] Ich fürchte nicht die sozialen Übel, denn ich weiß, daß [. . .] die Lehre, das Leben und die Gnade Christi stark genug ist, um [. . .] alle Thränen bis in das letzte Kämmerlein hinein zu trocknen, ich fürchte nur die Gottlosigkeit, die Ungläubigkeit, die Unchristlichkeit“.141 Der Linderung sozialer Probleme sollten vorerst karitative Maßnahmen, vor allem im Rahmen katholischer Vereinsarbeit dienlich sein. Bald schienen die Belastungen des Arbeiterstandes jedoch zu groß und der Zentrumsadel sah nunmehr gemäß dem Subsidiaritätsgedanken den Staatskörper in der Fürsorgepflicht für seine bedrängten Glieder. Es schien der Punkt erreicht, „wo das niedere Glied dieses Organismus nicht mehr imstande ist, seine Zwecke selbst zu erreichen oder die seiner Entwicklung drohende Gefahr selbst abzuwenden“, sodass „das höhere Glied für es in Wirksamkeit“ treten müsste.142 Staatliche Maßnahmen schienen notwendig und sinnvoll, sofern sie das Bemühen um föderale Interessenvertretung nicht konterkarierten 137

Franckenstein, in: DR, 8. Sitzung, 9. Oktober 1878. Redemanuskript Praschma [1887], in: Archiwum Pan´stwowe w Opolu, GPSaF = Gräfliches Praschmasches Schlossarchiv Falkenberg, 1100/1. 139 Schorlemer-Alst, in: Verhandlungen (1885), S. 125. 140 Dazu zum Beispiel auch: Becker, Winfried: Sozialpolitische Vorstellungen der Kirchen und ihre Realisierung im 19. Jahrhundert (bis zu rerum novarum), in: Pohl, Hans: Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991, S. 177–194; Görner, Regina: Die deutschen Katholiken und die soziale Frage im 19. Jahrhundert, in: Rüther: Geschichte der christlichdemokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland (wie Anm. 104), S. 145–198, hier S. 159 ff. 141 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Die großen socialen Fragen der Gegenwart. Sechs Predigten gehalten im hohen Dom zu Mainz, Mainz 1849, S. 34. 142 Ketteler, 17. September 1848, zit. nach: Höffner, Joseph: Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die katholische Sozialbewegung im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1962, S. 11 f. 138

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und das Materielle den ethisch-sittlichen Aspekt nicht überragte. Entsprechend akzentuierte Bischof Ketteler 1865: „Auch Religion und Sittlichkeit reichen nicht aus, um die Arbeiterfrage zu lösen [. . .] Wenn der Staat sich verpflichtet hält, große und wichtige Unternehmungen durch Staatshilfe zu unterstützen und zu fördern, dann darf er sich auch der Unterstützung des Arbeiterstandes nicht entziehen.“ 143 Nach Ansicht des Zentrumsadels hatte der Staat der Arbeiterschaft als seinem Glied seine „angeborenen, unveräußerlichen Rechte mit der festen Hülle äußerer Rechtssicherheit zu umgeben“, ohne freilich den Einzelnen in seiner Freiheit und Selbstverantwortung zu entmündigen:144 Denn „wenn bei der Vertheilung der Güter der Erde nichts mehr von dem freien Willen der Menschen abhinge, wenn darin Alles Naturnothwendigkeit wäre oder wenn diese Fürsorge durch Polizeimaßregeln oder Staatsgesetze erzwungen werden könnte, so wäre die schönste Quelle der edelsten Gesinnung in der Menschheit verstopft.“ 145 Das Bemühen um eine rein positivistische Lösung sozialer Missstände musste aus Perspektive des Zentrumsadels zwangsläufig scheitern und den gesellschaftlichen Verfall weiter vorantreiben, weil es verkannte, dass „der schrankenlose Egoismus“ den „wahre[n] Grund des allgemeinen Unbehagens“ bilde.146 Deshalb wurden Materialismus und Atheismus der Sozialdemokratien als so gefährlich erachtet, denn sie griffen die elementaren Grundlagen eines gesunden Gesellschaftslebens an: „Den Glauben an den persönlichen Gott, an die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen, an den höheren Ursprung des Rechts, das alle Macht verliert, wenn es blos als Menschenwerk angesehen wird [. . .] den Glauben an einen höheren Ursprung der in Familie und Staat, in Obrigkeit und Unterthanen sich gliedernden Gesellschaftsordnung“.147 Dies erschien ebenso fundamental wie fatal. Denn „wenn Materie und Bewegung die letzten Gründe für die Erklärung der Welt“ seien, so gäbe „es auch kein höheres Princip im Menschenleben“. Es könnte „kein Gesetz [geben], welches in der Natur selbst begründet, der Willkür Schranken setzte. Der Krieg Aller gegen Alle [wäre] alsdann der natürliche Zustand“.148 Im Reichstag setzte sich die zentrumsadelige Majorität konsequenterweise stets für das Sozialistengesetz und seine Verlängerung ein – und zwar gegen die Majorität der eigenen Partei. Spätestens nach dem Nobiling-Anschlag auf den Kaiser vom 2. Juni 1878 häuften sich im Zentrumsadel die Stimmen, die „vom katholischen Standpunkt aus gar nichts einzuwenden“ hätten, „wenn eine wohl143 Zit. nach: Franz, Albert: Der soziale Katholizismus in Deutschland bis zum Tode Kettelers, Mönchengladbach 1914, S. 215. 144 Hertling: Erinnerungen aus meinem Leben (wie Anm. 88), S. 323 f. 145 Ketteler 1848, zit. nach: Brehmer, Karl: Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811– 1877). Arbeiterbischof und Sozialethiker. Auf den Spuren einer zeitlosen Modernität, Regensburg 2009, S. 32. 146 Gruben, zit. nach: Sitta: Franz Joseph Freiherr von Gruben (wie Anm. 27), S. 80. 147 Hertling, in; DR, 11. Sitzung, 12. Oktober 1878. 148 Hertling: Naturrecht und Socialpolitik (wie Anm. 18), S. 11.

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geleitete Regierung die Macht der Staatsgewalt [. . .] gegen die Socialdemocratie in Anwendung brächte“.149 Zwar kam die Fraktion im Herbst 1878 gegen die Reichstagsmehrheit noch einmal zu einem einheitlich negativen Votum – weil vor allem gravierende Ängste vor einer Unterdrückung der eigenen Partei durch die projektierten Maßnahmen bestanden.150 Im Jahre 1880 – die mögliche Anwendung der Ausnahmegesetze auf den politischen Katholizismus war obsolet geworden – stimmten allerdings bereits etliche Zentrumsadelige gegen die Fraktionsmehrheit für seine Verlängerung.151 Ballestrem machte im Reichstag deutlich, dass er das Gesetz für „ein gefährliches Mittel“, aber nicht für ein „sittlich verwerfliches“ halte. In keinem Fall wollte er Verantwortung dafür tragen, dass „nach plötzlichem Aufhören der Giltigkeit des Gesetzes wieder die ganze Agitation entfesselt würde“.152 Bei der zweiten Verlängerung des Sozialistengesetzes im Jahre 1884 war dann die Gruppe der vornehmlich von Adeligen dominierten Befürworter weiter gewachsen153 und 1886 stimmten schließlich bei der dritten Parlamentslesung 35 Abgeordnete des Zentrums für eine abermalige Verlängerung, darunter befanden sich 22 Adelige (ca. 63 Prozent). Unter den 43 Mandatsträgern der Zentrumspartei, die gegen eine Verlängerung stimmten, waren lediglich sechs Adelige.154 Die Aversion gegenüber dem Sozialismus überstieg folglich die Parteiräson und damit selbst die Antipathie hinsichtlich der Juden. In seiner überragenden Mehrheit war der Zentrumsadel in seinen Imaginationen des Jüdischen vor allem von Ressentiments geleitet. Nicht zufällig unterstützte der bayerische Zentrumsadelige Karl Heinrich Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg zwei Antisemiten in finanzieller und, mittels seiner Kontakte, in ideeller Hinsicht: namentlich August Rohling, den wohl bekanntesten katholischen Antisemiten, und Aron Israel Briman, einen zum notorischen Judenfeind konvertierten Rabbiner, der sich immer wieder als Plagiator hervortat.155 Im Sprachgebrauch der Zentrumsadeligen besaß das Wort „jüdisch“ fast immer herablassenden Charakter. Regte sich der Württemberger Constantin Graf von Waldburg zu Zeil und Trauchburg über die parlamentarische Arbeit auf, dann sagt er, „der Reichstag gleiche manchmal eher einer Judenschule als einem römischen Senate“ 156. Wie selbstverständlich rekurrierte ein anderer südwestdeutscher Abgeordneter in einem Sprüchlein zum Wahlkampf auf den Topos des nie149

Hertling an Franckenstein, 18. Juni 1878, in: FAU, Rote Handakten 36. Aretin, Karl Otmar von: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003, S. 88 f. 151 Konrad Preysing an Franckenstein, 9. März 1880, in: FAU, Politische Korrespondenz 1879/80. 152 Pack, Wolfgang: Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878–1890, Düsseldorf 1961, S. 128. 153 Allgemein zum Verhalten der Zentrumspartei: Ebd. S. 139, 147 u. 150 ff. 154 III. Lesung des Sozialistengesetzes, 31. März 1886, in: FAU, Rote Handakte 12. 155 Mazura, Uwe: Zentrumspartei und Judenfrage 1870/71–1933. Verfassungsstaat und Minderheitenschutz, Mainz 1994, S. 199 f. 150

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derträchtigen Juden: „Musst ziehen viel von Ort zu Ort/und reden da und dort/ Vor schlimmen und vor Guten/vor Christen und vor Juden [. . .].“ 157 Die antisemitische Attitüde war dabei zunächst religiös determiniert. Man ging davon aus, dass die Juden „wegen des Charakters ihrer Religion [. . .] sich nie mit dem ganz auf Christenthum gegründeten [. . .] teutschen Staat“ verbinden lassen.158 Großen Anklang im Zentrumsadel fanden der Antitalmudismus und die Ahasverlegende, sodass beispielsweise der schlesische Abgeordnete Radziwill das Diasporaschicksal des jüdischen Volkes „furchtbar“ nannte, in ihm aber auch „den Finger Gottes in der Geschichte der Völker“ handeln sah159. Gruben verband gerne Geschichte und Heilsgeschichte und ging davon aus, dass die Arier als Nachfahren Japhets zur Herrschaft über die christusverleugenden Nachfahren des älteren Bruders Sems, die Semiten, bestimmt waren – allerdings nur wenn sie dem Christentum verhaftet blieben: wo immer die Arier „vom Christenthum sich wieder abkehren“, lebt das natürliche Vorrecht der Semiten auf“.160 Darüber hinaus fungierte der Antisemitismus als Medium im Kampf wider den egoistisch-liberalen Zeitgeist. Die liberale Frankfurter Zeitung wurde zum Beispiel von Konrad Graf von Preysing-Lichtenegg-Moos als „jüdisch-freimaurerisch“ verunglimpft.161 Den Kulturkampf deutete der Zentrumsadel bevorzugt als liberale, maßgeblich von Juden getragene Verschwörung wider die gottgewollte Ordnung. Wilhelm Emmanuel Ketteler akzentuierte zum Beispiel 1874, dass die Liberalen – „unterstützt von dem alten Gegner des Christenthums, dem mächtig gewordenen Judenthum“ – danach trachteten, das „mehr als tausendjährige Recht des christlichen Volkes“ gewaltsam zu vernichten.162 Eine Fundamentalverbindung bestand zwischen adeligem Antisemitismus und der Aversion gegenüber dem Wirtschaftsliberalismus. Juden imaginierte der Zentrumsadel als ungläubige Agenten des kapitalistischen Systems. Das Adjektiv „jüdisch“ und das Substantiv „Finanzwelt“ besaßen eine feste Beziehung.163 Der bayerische Zentrumsabgeordnete Gruben brachte auf dem Katholikentag des Jahres 1884 in beispielhafter 156 Burgwald, Constantin (= Waldburg-Zeil, Constantin Freiherr von): CentrumsBriefe. Briefe vom deutschen Reichstage, Leutkirch u. Saulgau 1881, S. 41. 157 Gästebuch [27. Oktober 1881], in: Landesarchiv Baden Württemberg – Staatsarchiv Ludwigsburg, PL 13 BÜ 856. 158 Buß, zit. nach: Petri, Dieter K.: Franz Joseph Ritter von Buß. Professor, Politiker und Katholik im Spiegel seiner Schriften, Zell am Hammersbach 2007, S. 66. 159 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 366 f. 160 Gruben, zit. nach: Sitta: Franz Joseph Freiherr von Gruben (wie Anm. 27), S. 80. 161 Konrad Preysing an Franckenstein, 26. September 1888, in: FAU, Politische Korrespondenz 1887–1890. 162 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Die Anschauungen des Cultusministers Herrn Dr. Falk über die katholische Kirche, Mainz 1874, S. 86. 163 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 452.

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Weise zum Ausdruck, dass das jüdische Volk „nicht nur vermöge seiner besonderen Charakteranlage, sondern auch vermöge eines natürlichen Vorzugs der erste Vertreter des Mammon“ sei. Außerdem gab er zu bedenken: „Sofern also die Christen den Mammon als Herrn erkennen, müssen Sie den Juden als Knechte dienen“.164 Wenn im Reichstag das Bankgesetz verhandelt wurde, war sich Waldburg-Zeil sicher: „Da werden die Juden sich wieder breit machen“, während die „unschuldigen Nicht-Gründer vom Centrum“ von der Materie nicht viel verstünden und „zwischen den verschiedenen Meinungen der Juden“ stünden.165 Der geldwuchernde Jude erschien immer wieder als das die Gemeinschaft zersetzende Andere des Katholizismus und dementsprechend scharf fielen die zentrumsadeligen Warnungen vor „der israelitischen Sündfluth“ aus, die der Welt mit fortschreitender Liberalisierung drohe.166 Die im Ganzen wenigen Auftritte adeliger Zentrumspolitiker bei der parlamentarischen Behandlung der Judenfrage bestimmten jedoch vor allem adversative Argumentationsmuster, die neben der Aversion auch die Relativität ihrer Ressentiments deutlich werden ließen. Mithin wurden antisemitische Vorbehalte ebenso klar betont wie der Primat des Rechts. Bei den meisten Zentrumsadeligen dominierte in Umkehrung eines gängigen antisemitischen Sprachmusters ein „ja, aberVerhalten“, die Grenze zum rassistisch determinierten Antisemitismus wurde nicht überschritten: 1852 hatte sich Hermann von Mallinckrodt im Abgeordnetenhaus bei der Beratung eines Antrages, der Juden den Zugang zu Gemeindeämtern in Westfalen verwehren wollte, zu Wort gemeldet. Sehr deutlich brachte er sein Missfallen darüber zum Ausdruck, dass Nicht-Christen über Christen staatliche Gewalt ausüben: Er „hoffe, dass nie ein Jude zum Vorsteher in einer Gemeinde Westfalens gewählt werden wird“. Gleichwohl lehnte er mit Verweis auf seine „Verfassungspflicht“ den Antrag ab.167 Als Anfang der 1890er-Jahre in Preußen über die Rekonfessionalisierung der Schule gestritten wurde, betonte Schorlemer-Alst im Herrenhaus ausdrücklich, dass er sein „ganzes Leben lang, die vielen Ausschreitungen, die die Juden sich im geschäftlichen Verkehr, im Handel und auch sonst zu Schulden kommen lassen, aufs Energischste bekämpft habe“. Der Präsident des westfälischen Bauernvereins, der angeblich in den Juden „die Pest des Landes“ sah,168 wies jedoch auch darauf hin, dass „vielfach von Christen dieselben abscheulichen Geschäfte betrieben werden wie von den Juden“, und er nannte alle Versuche, die Emanzipation rückgängig zu machen, „ein Unrecht“.169 164

Verhandlungen (1884), S. 102. Waldburg-Zeil an seine Frau 16. Januar 1875, in: NZA, 723. 166 Radziwill: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein (wie Anm. 21), S. 494. 167 Mallinckrodt, zit. nach: Mazura: Zentrumspartei und Judenfrage (wie Anm. 155), S. 48. 168 Festschrift Schorlemer, S. 246, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 220. 165

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Trotz seiner antisemitischen Attitüde stützte der Adel die judenfreundliche Politik der Zentrumspartei, die partiell bei der Debatte um die „Antisemitenpetition“ von 1880/81170 und noch konsequenter bei den Ausweisungen von Polen und Juden 1885/86171 sowie im Einsatz für das rituelle Schächten172 evident wurde. Zudem verlangten die meisten Programme und Wahlaufrufe des Zentrumsadels eine allgemeine Verfassungsgarantie für religiöse Freiheit und Gleichberechtigung. Vor der sogenannten Antisemitendebatte des preußischen Abgeordnetenhauses im November 1880 forderte wohl unter anderem Schorlemer-Alst, dass gegen die Juden „scharf losgezogen“ werde.173 Er lehnte jedoch „directe Hilfe“ für die Initiatoren der Antisemitenpetition ausdrücklich ab. Letztlich fand sich kein Zentrumsmann unter den Unterzeichnern sowohl der ersten Fassung als auch der veröffentlichten Version der Petition.174 Die Parteiräson war offenkundig stärker als die Aversion. Der These, „je gesinnungsklerikaler die Adeligen waren, desto größer war ihr Antisemitismus“,175 ist unbedingt beizupflichten, allerdings mit dem Zusatz ,und desto ausgeprägter war ihr Bekenntnis zum historischen, den Antisemitismus dominierenden Recht‘. V. Zusammenfassung und Ausblick Die Zentrumsadeligen waren in der Breite hochkonservative Idealisten. Eine neuthomistische Weltsicht ließ sie an einen naturrechtlich-organischen Aufbau der menschlichen Gesellschaft glauben, der in den verschiedenen Ausprägungen von Egoismus seine größten Bedrohungen fand. Im Hader über äußere, durch die Reformation angestoßene Entwicklungen und im Bewusstsein eigener Verfehlungen in der Vergangenheit proklamierten Zentrumsadelige daher seit den 1860erJahren wider den liberalen Zeitgeist samt Staatsgläubigkeit, Zentralismus und Säkularismus eine Renaturierung des Adelsberufs. Dieses Konzept war aus der adeligen Kirchen- und Papstaffinität geboren und wurde im Zeichen des Mileschristianus-Gedankens formuliert. In seinem sittlich begründeten Rechtsempfinden musste der Zentrumsadel den deutschen Reichsgründungsprozess zunächst 169 Schorlemer-Alst, zit. nach: Mazura: Zentrumspartei und Judenfrage (wie Anm. 155), S. 82. 170 Ausführlich: Ebd. S. 73 ff.; Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997, S. 238 ff. 171 Ausführlich: Mazura: Zentrumspartei und Judenfrage (wie Anm. 155), S. 87 ff. 172 Zum Beispiel Windthorst, in: DR, 18. Mai 1887; ausführlich: Mazura (wie Anm. 155), S. 114 ff. 173 Bachem: Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei (wie Anm. 65), S. 418. 174 Mazura: Zentrumspartei und Judenfrage (wie Anm. 155), S. 75. 175 Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich (wie Anm. 170), S. 205.

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ablehnen, dann als unumkehrbare und damit der konstruktiven Mitarbeit bedürftige Realität anerkennen. Zugleich glaubten die passionierten Vorkämpfer für Sitte und Glaube, durch den Reichstag eine zentrale Kampfstätte erhalten zu haben. Ideologischer Gegner des Zentrumsadels waren insbesondere die Sozialdemokraten, die als extremste Erscheinung eines gottlosen, wertezerstörenden und gemeinschaftszersetzenden Liberalismus verortet wurden. Die Zentrumsadeligen zögerten daher nicht, ihren Antisozialismus auch wider die Mehrheit der eigenen Partei zu leben. Selbst ihr frappierender Antisemitismus ging nicht so weit. Der Rückgang des Adels in der Zentrumspartei seit der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre (1878 lag der Adeligenanteil in der Reichstagsfraktion des Zentrums noch bei über 45 Prozent, 1887 war die Quote auf im Mittel 31,9 Prozent gesunken) nimmt vor diesem Hintergrund nicht wunder. Sowohl aus der Außenwie aus der Innenperspektive degenerierte er zum Anachronismus: Die sich gegen Ende der Bismarckära wegen des Bedeutungsverlusts kirchenpolitischer Fragen, fortschreitender Industrialisierung und struktureller Agrarkrise beschleunigende Erosion der überkommenen Sozialbeziehungen bedingte „eine allgemeine ,Materialisierung‘ der wahlpolitischen Entscheidung“ 176, die das Interesse an einem wertkonservativen Papst- und Kirchenadepten zunehmend sinken ließ. Der Zentrumsadel selbst musste erkennen, dass der Anspruch, an vorderster Front „die Fahne des Kreuzes“ zu erheben,177 sie weit mehr als ihre bürgerlichen Fraktionskollegen zu „Gefangene[n] ihrer eigenen Geschichte“ 178 machte. Dies erkannten die Zentrumsadeligen und so waren es nicht nur äußere Umstände, die ihren Rückzug bewerkstelligten. Seiner eigenen Ideenwelt vermochte der Zentrumsadel seit den 1880er-Jahren nicht immer nachdrücklich zu folgen, was sich im nachlassenden Engagement für die wichtigsten Vergemeinschaftungsformen des renaturierten Adelsberufs, die Adels- und Bauernvereine, manifestierte. Die Teilnahme an den Generalversammlungen des VkE beispielsweise wurde mangelhaft. Die Spendenfreude seiner Mitglieder sank.179 Sinnfälligerweise fanden sich in den bayerischen Bauernvereinen, die ab 1893 entstanden, keine Adeligen in führenden Positionen.180 In Konsequenz traten etliche Adelige auch willentlich nicht mehr für den Reichstag an.

176 Aschoff, Hans-Georg: Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866– 1918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreiches, Düsseldorf 1987, S. 330. 177 Gruben, in: Verhandlungen (1884), S. 108. 178 Anderson, Margaret Lavinia: Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988, S. 151. 179 Protokoll über die 19. GV des VkE, 3. April 1880, in: LVWLM, Archiv Freiherr von Ketteler-Harkotten. Bestand Schwarzenraben/Familiensachen 267; Promemoria Droste-Vischering [1881], in: BayHstaM, FA Aretin, Carl Freiherr von 49/31. 180 Heim, Georg: Der Bayerische Bauernverein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, München u. Regensburg 19062, S. 103 ff.

Die Auseinandersetzung Sergej Bulgakovs mit den totalitären Versuchungen von links und rechts Leonid Luks I. Der „Götzenglaube“ der russischen Intelligencija Die russische Revolution von 1917 hatte sich seit Generationen angebahnt: „Hundert Jahre lang hatte die russische Gesellschaft der Zarenmonarchie mit einer Revolution gedroht“, schrieb 1927 der russische Schriftsteller Mark Aldanov: „[Der letzte russische Zar] . . . hat wahrscheinlich deshalb den Vorwarnungen nicht geglaubt, weil es so viele davon gegeben hatte.“ 1 Besonders dringlich warnten vor der sich abzeichnenden Umwälzung die Herausgeber des 1909 erschienenen Sammelbandes Vechi [Wegmarken]. Sie setzten sich schonungslos mit der revolutionären Ungeduld des radikalsten Teils der russischen Bildungsschicht – der Intelligencija – auseinander und warnten vor deren Illusion, man könne über Nacht ein soziales Paradies auf Erden aufbauen. Den Vechi-Autoren fiel es insoweit leichter als vielen anderen Zeitzeugen, die Vorzeichen der herannahenden Katastrophe zu erkennen, als einige von ihnen selbst eine Zeitlang geglaubt hatten, eine neue heile Welt könne allein durch die Zerstörung der unvollkommenen alten Welt aufgebaut werden. Den Bazillus des kompromißlosen Utopismus trugen sie in sich selbst, deshalb konnten sie so genau das Wesen dieser Versuchung erkennen, der viele russische Intellektuelle damals erlagen. Insbesondere Autoren wie Sergej Bulgakov, Semen Frank, Nikolaj Berdjaev und Petr Struve hatten in ihrer Jugend mit dem Marxismus sympathisiert und gehörten sogar zu seinen führenden Theoretikern. Nach einigen Jahren verließen sie jedoch die marxistische Bewegung und begannen unentwegt vor der revolutionären Versuchung zu warnen. Der Theologe und Philosoph Sergej Bulgakov (1871–1944), dem dieser Beitrag gewidmet ist, gehörte zu den zentralen Figuren der Vechi-Gruppe. Nach dem Bruch mit dem Marxismus standen religiöse Fragen im Zentrum seiner Analyse der Krisen der Zeit. Die Wiederentdeckung der Religion betrachtete Bulgakov als eine Rückkehr zu seinen familiären Wurzeln, denn er entstammte einer Priesterfamilie und sollte ursprünglich selbst Priester werden. Die Abkehr vom Glauben, die in seiner Jugend erfolgte und die etwa fünfzehn Jahre, bis zu seinem dreißigs1

Zit. nach Moskovskie novosti, 27. September 1992.

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ten Lebensjahr andauerte, hielt Bulgakov nachträglich für eine schändliche Kapitulation vor dem Zeitgeist, eine Art dämonische Besessenheit. Seinen Eintritt in den militant atheistischen Intelligencija-Orden vergleicht Bulgakov mit der geistigen Entwicklung anderer Priestersöhne wie Nikolaj Dobroljubov oder Nikolaj Cˇernysˇevskij, die in den 1860er-Jahren zu den einflußreichsten Gestalten der russischen Revolutionsbewegung zählten . Ähnlich wie die beiden Letztgenannten sei er (Bulgakov) nach dem Verlust des Glaubens an Gott zum Verfechter eines Götzenglaubens geworden. Als Teil des Intelligencija-Ordens habe er eine unendliche Schuld gegenüber Russland auf sich geladen und die Katastrophe von 1917 mitverursacht.2 Dieses erschütternde Schuldbekenntnis formulierte Bulgakov zu Beginn der 1940er-Jahre, also etwa vier Jahrzehnte nach seinem Bruch mit dem Orden. In der Zwischenzeit hatte sich Bulgakov unentwegt mit dem Glaubensbekenntnis der Intelligencija auseinandergesetzt, dessen Verführbarkeit, er als ehemaliges Ordensmitglied (ähnlich wie Struve, Berdjaev oder Frank) selbst am eigenen Leib verspürt hatte. Mit besonderer Eindringlichkeit kritisiert Bulgakov das Credo der Intelligencija in seinem Vechi-Aufsatz vom Jahre 1909 „Das Heldentum und das Glaubenseifertum“. Die russische Revolution von 1905, die so eine außerordentliche Zerstörungskraft entwickelte, sei ein Geschöpf der Intelligencija gewesen, schreibt Bulgakov. Die Seele der Intelligencija stelle nun einen Schlüssel für die Zukunft Russlands dar, das Schicksal des Landes sei aufs engste mit dem Schicksal der Intelligencija verbunden.3 In welchem geistigen Zustand befinde sich aber diese für die Zukunft Russlands so wichtige Formation? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Abhandlung. Besonders intensiv befasst sich Bulgakov mit der eigenartigen Religiosität des Ordens. Trotz seines gottlosen Charakters trage das Credo der Intelligencija eindeutig religiöse Züge. Die philisterhafte Selbstzufriedenheit, das spießerhafte Streben nach materiellen Gütern seien der Intelligencija fremd. Sie strebe nach der Erlösung der Menschheit vom Leid, könne sich mit der Disharmonie dieser Welt nicht abfinden. Sie sei asketisch, rigoros und zum Märtyrertum bereit. Sie empfinde unendliche Schuldgefühle gegenüber den unterdrückten Volksschichten und sei bereit, für deren Befreiung aufopferungsvoll zu kämpfen. All diese Eigenschaften, die auch bei den christlichen Märtyrern und Glaubenseiferern zu finden seien, verbinde die Intelligencija indes mit einem militanten Atheismus. 2 Bulgakov, Prot. Sergij: Avtobiografic ˇ eskie zametki (posmertnoe izdanie). Pred. i primecˇanija L.A. Zandera, Paris 1946, S. 27 f. 3 Bulgakov Sergej: Geroizm i podviz ˇ nicˇestvo, in: Vechi. Sbornik statej o russkoj intelligencii, Moskau 1909, S. 23–69, hier S. 24 f.

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Bulgakov wundert sich darüber, dass über diese Frage innerhalb des Ordens, der ansonsten durch unzählige politische und ideologische Konflikte erschüttert werde, eine vollkommene Übereinstimmung herrschte. Die Gottlosigkeit werde von der Intelligencija mit einem beinahe religiösen Eifer verkündet, innere Zweifel jedweder Art seien auf diesem Gebiet unzulässig. Die Absage an den Gottesglauben stelle eine Art Eintrittskarte für den Intelligencija-Orden dar. Diese Frage werde ein für allemal entschieden, und zwar in der Regel im jugendlichen Alter.4 Die Intelligencija betrachte sich selbst als die einzige Trägerin des aufklärerischen Lichts in einem barbarischen Land, setzt Bulgakov seine Kritik fort. Die Verfolgungen, denen sie seitens der Behörden ausgesetzt sei, steigerten noch ihr Sendungsbewusstsein, ihre Heldenhysterie wie auch ihre Rettungsphantasien. Dabei habe jede Fraktion des Ordens ihr eigenes Rezept zur Erlösung der Menschheit. Jede Partei sei wiederum auch extrem unduldsam Andersdenkenden oder konkurrierenden Gruppierungen gegenüber, jede von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt und für Kritik völlig unzugänglich. Da revolutionäre Bewegungen ihren Inhalt in erster Linie aus der Verneinung des Bestehenden schöpften, stellten Hass und Zerstörungswut ihr eigentliches Pathos dar. Das Bekenntnis zur revolutionären Utopie und zu geradlinigen, alles vereinfachenden Erlösungsrezepten stellen für Bulgakov ein Zeichen geistiger Unreife dar. Die pubertierende Jugend sei tonangebend im Intelligencija-Orden, andere Teile der Gesellschaft biederten sich der Jugend an und versuchten sich in ihrem Vokabular an diese anzupassen. Wehe einem Land, das sich der unreifen Jugend unterwerfe und die Errichtung einer Pädokratie (Herrschaft der Kinder) zulasse, hebt Bulgakov hervor.5 Auch andere Zeitzeugen berichten über die damalige Anbiederung der Politiker, vor allem aus dem liberalen Lager, an die revolutionäre Jugend, über ihre panische Angst, ihr Ansehen bei den Mitgliedern des Ordens zu verlieren. Einen Beleg für diese Haltung stellt zum Beispiel die Aussage des Führers der Partei der Konstitutionellen Demokraten, Pavel Miljukov, dar: Er kenne keine Feinde auf der Linken.6 Nun aber zurück zur Auseinandersetzung Bulgakovs mit dem Credo der Intelligencija. Den Helden- und Märtyrerkult der Intelligencija vergleicht er, wie bereits erwähnt, mit dem christlichen Märtyrertum und Glaubenseifertum. Die vermeintlichen Retter der Menschheit aus den Reihen der Intelligencija träten allerdings selbst im Gewand der Vorsehung auf, der christliche Glaubenseiferer

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Bulgakov: Geroizm i podvizˇnicˇestvo (wie Anm. 3), S. 27–31. Ebd. S. 43 f. 6 Frank, Semen: Krus ˇenie kumirov, in: Frank, Semen (Hrsg.): Socˇinenija, Moskau 1990, S. 119. 5

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hingegen glaube an die Vorsehung Gottes. Er beuge sich demütig dem Willen Gottes und befreie sich dadurch von einer heldenhaften Attitüde. Eine demütige Haltung sei ein Zeichen geistiger Reife, setzt Bulgakov seine Darstellung fort. Sie zeichne zum Beispiel die größten Wissenschaftler aus, die voller Demut über das Ausmaß ihrer Ignoranz staunten, oder die genialen Künstler, die mit ihren Werken immer unzufrieden seien. Der Intelligencija hingegen sei der Begriff Demut fremd. Sie sei von sich selbst überzeugt, selbstzufrieden und wolle die Welt nur mit Hilfe ihrer eigenen, höchst bescheidenen Kraft verändern. Im Sinne von Rousseau glaube sie an die natürliche Güte der Menschen und halte die biblische Erzählung vom Sündenfall für einen finsteren Aberglauben. Sie halte nichts von einer Vervollkommnung der eigenen sündigen Natur und wolle lediglich die Gesellschaft als Ganzes verbessern. Das Individuum stelle für sie bloß ein Produkt der Gesellschaft dar. Wenn man allerdings bedenke, so Bulgakov, dass die Gesellschaft sich ihrerseits aus unvollkommenen Individuen zusammensetze, so gleiche der Versuch der Intelligencija, die Gesellschaft ohne die Vervollkommnung der einzelnen zu verbessern, der Lösung einer Quadratur des Kreises.7 Bulgakov weist darauf hin, dass die Intelligencija in ihrer Einstellung zum einfachen Volk zwischen zwei Extremen schwanke: zwischen der Ehrfurcht gegenüber den Volksschichten und einer elitären Attitüde ihnen gegenüber, denn sie wolle sie aus ihrer Unwissenheit befreien. Dabei lasse die Intelligencija außer acht, dass zwischen ihr und dem Volk eine fundamentale Kluft bestehe, und zwar aufgrund ihrer völlig unterschiedlichen Einstellung zur Religion: „Die Weltanschauung des Volkes wird durch den christlichen Glauben geprägt. Christus und seine Lehre, das ist sein Ideal, seine [ethische] Norm stellt das christliche Glaubenseifertum dar . . . Deshalb handelt es sich bei der Begegnung zwischen der Intelligencija und dem Volk um einen Zusammenprall von zwei verschiedenen Glaubensvorstellungen, von zwei Religionen. Der Einfluss der Intelligencija auf das Volk äußert sich vor allem darin, dass sie durch die Zerstörung des Volksglaubens auch die Volksseele zersetzt, ihre Jahrhunderte alten Fundamente zerstört.“ 8 Bulgakov warnt vor den verheerenden Folgen dieser Erschütterung, und dies mit Recht, wofür die russische Katastrophe von 1917 eine drastische Bestätigung liefern sollte. Die anschließenden Passagen seines Vechi-Artikels klingen beinahe prophetisch. Er schreibt: „Die Zerstörung der religiös-moralischen Fundamente des russischen Volkes befreit dunkle Elementarkräfte, die in ihm schlummern . . . In der historischen Überlieferung des russischen Volkes fand immer ein Ringen zwischen den Geboten des heiligen Sergius und denjenigen der anarchischen Willkür 7 8

Bulgakov: Geroizm i podvizˇnicˇestvo (wie Anm. 3), S. 48–51. Ebd. S. 62 f.

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der [Bauernaufstände] statt . . . Diese Elementarkräfte wurden zwar vom russischen Staat immer wieder, wenn auch nur mit Mühe, gezähmt, allerdings nicht vollständig besiegt. Die durch die Intelligencija betriebene Aufklärung weckt diese schlummernden Instinkte und stürzt Russland erneut in chaotische Zustände.“ 9 Diese scharfsinnige Diagnose enthält allerdings auch einen weniger überzeugenden Aspekt. Bulgakov neigte, ähnlich wie vor ihm Dostoevskij, zu Verklärung der Religiosität und der Christusgläubigkeit der russischen Volksschichten. Dabei ließ er außer acht, dass der Gottesgaube der russischen Bauern untrennbar mit ihrem Glauben an den Zaren verbunden war. Als Soldaten kämpften sie für den Glauben, den Zaren und das Vaterland, und zwar in dieser Reihenfolge, wie dies auch in Volksliedern zum Ausdruck kommt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand jedoch eine Erosion des Zarenglaubens statt. Die Erwartungen der Bauern auf die Errichtung einer gerechten sozialen Ordnung waren jetzt nicht mit dem Zaren, sondern mit der Revolution verknüpft. Diesen Paradigmenwechsel konnte man bereits während der Ereignisse von 1905 beobachten. Das Verhalten der Bauern bei den Wahlen zur ersten und zweiten Staatsduma (1906/07), als sie geschlossen revolutionäre und nicht monarchistische Parteien wählten,10 bestätigte zusätzlich diesen Sachverhalt. Die Erosion des Zarenglaubens führte beinahe zwangsläufig zur Erschütterung der religiösen Vorstellungen der Bauernschaft, die mit der Verehrung des rechtgläubigen Zaren, der als Stellvertreter Christi auf Erden galt, untrennbar verbunden waren. Bulgakov hat sicher recht, wenn er die Erosion der ursprünglichen Glaubensvorstellungen der Volksschichten auf das Wirken der Intelligencija zurückführt. Die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Intelligencija sei von Erfolg gekrönt worden, schreibt er im Aufsatz „Die Religion der Menschenvergötterung bei der russischen Intelligencija“ aus dem Jahre 1908. Das Volk habe sich der Weltanschauung der Intelligencija angeschlossen, es habe das „Bewusstsein“ erlangt und von der Intelligencija den todbringenden Glauben an den Unglauben übernommen. Diesen propagandistischen Erfolg der Intelligencija erklärt Bulgakov damit, dass das Volk, dessen Weltbild in der Epoche des Heiligen Vladimir (im 10. Jahrhundert) stehengeblieben sei, keine wirksamen Abwehrmechanismen gegenüber dem Intelligencija-Orden entwickeln konnte, es sei geistig wehrlos gewesen. Sollte die Intelligencija durch ihre Aufklärungsarbeit die ursprünglichen moralischen Vorstellungen des Volkes gänzlich zerstören, werde dies für Russland unabsehbare Folgen haben. Deshalb plädiert Bulgakov nur für eine andere Form der

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Bulgakov: Geroizm i podvizˇnicˇestvo (wie Anm. 3), S. 64 f. Siehe dazu u. a. Miljukov, Pavel: Vospominanija 1859–1917, New York 1955, Band 1, S. 350–424; Maklakov, Vasilij: Iz vospominanij, New York 1954, S. 359–362; Tyrkova-Williams, Ariadna: Na putjach k svobode, London 1990, S. 233–364; Bulgakov: Avtobiograficˇeskie zametki (wie Anm. 2), S. 80 f. 10

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Aufklärungsarbeit, die das ursprüngliche Weltbild der russischen Volksschichten nicht tangiere.11 Diese Aufgabe ließ sich aber kaum lösen. Ungeachtet ihrer geistigen Verankerung in der vorpetrinischen Welt kamen die Volksschichten unentwegt, in welcher Form auch immer, mit der Moderne in Berührung. Die Versuche solcher konservativer russischer Politiker wie des Oberprokurors des Heiligen Synod, Konstantin Pobedonoscev, Russland „einzufrieren“ und das einfache Volk von den „verderblichen“ Einflüssen der modernen Welt abzuschotten,12 waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Um als Großmacht im internationalen Konkurrenzkampf bestehen zu können, mußte sich Russland modernisieren, was auch die Modernisierung des Weltbildes aller seiner Bürger, auch der Bauernschaft, erforderlich machte. Darüber war sich zum Beispiel der wohl bedeutendste Reformer des Zarenreiches an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Sergej Witte, im Klaren. 1898 wies er den Zaren Nikolaus II. auf die Notwendigkeit hin, das Bildungsniveau der Unterschichten zu heben. Zwar würden sie dabei ihre ursprüngliche Naivität verlieren, dies sei jedoch unumgänglich. Das Volk müsse lernen, selbst zu laufen, sogar auf die Gefahr hin, dass es dabei hin und wieder hinfalle. Nur eine aufgeklärte Bevölkerung werde den Willen entwickeln, ihren eigenen Wohlstand und damit auch den Wohlstand des Staates heben.13 Daß dieser unvermeidliche Aufklärungsprozess letztlich zerstörerische Folgen für Russland haben sollte, wie Bulgakov dies befürchtete, war nicht vorherbestimmt. Vermeidbare Fehler der politischen Klasse Russlands, und zwar nicht nur der Intelligencija, sondern auch der Vertreter des herrschenden Establishments, haben der russischen Katastrophe in einer entscheidenden Weise den Weg geebnet. II. Die russische Revolution als Triumph des Antichristen Nach seinem Bruch mit dem Marxismus konnte Bulgakov keine neue politische Heimat finden. Anders als Petr Struve, der nach 1905 zu einem der Führer der Konstitutionell-Demokratischen Partei beziehungsweise ihres rechten Flügels wurde, konnte sich Bulgakov mit keiner politischen Partei, weder im liberalen noch im konservativen Spektrum, identifizieren. Er wurde trotzdem zum Abgeordneten der Zweiten Staatsduma (Februar 1907) als parteiloser „christlicher Sozialist“ gewählt. 11

Bulgakov, Sergej: Dva grada. 2 Bände, Moskau 1911, hier Band 2, S. 159–163. Siehe dazu u. a. Byrnes, Robert F., Pobedonoscev. His Life and Thought, Bloomington 1968; Florovskij, Georgij, Puti russkogo bogoslovija, Paris 1983, S.410–424; Rogger, Hans, Russia in the Age of Modernisation and Revolution 1881–1917, London u. New York 1983, S. 8. 13 Vitte, Sergej: Vospominanija. 3 Bände, Berlin 1922–1923, hier Band 2, S. 467– 472. 12

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In keiner anderen Wahlperiode des vorrevolutionären russischen Parlamentarismus war das Parlament derart radikal, wie dies bei der Zweiten Duma der Fall war. Beinahe die Hälfte der Abgeordneten (mehr als 200) waren sozialistischer Orientierung. Der linke Flügel des sozialistischen Parteienspektrums (37 Sozialrevolutionäre und 65 Sozialdemokraten) befürwortete sogar die Anwendung des revolutionären Terrors gegen das bestehende Regime. Dabei muss man hervorheben, daß der damalige Terror beispiellose Dimensionen erreichte. 1906–07 wurden 4.126 Amtspersonen infolge von Attentaten getötet, 4.552 verletzt. Die Regierung von Petr Stolypin beantwortete diese Terrorwelle ihrerseits mit scharfen Gegenmaßnahmen. 1906–10 verurteilten die Militärgerichte 3.825 Menschen zum Tode, 26.000 Personen wurden verbannt.14 Stolypin verlangte von der Zweiten Duma die Verurteilung des revolutionären Terrors. Dies lehnte allerdings die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten, auch die liberalen Konstitutionellen Demokraten, ab. Diese Weigerung der Abgeordneten nahm Stolypin zum Anlass, um am 2. Juni 1907 die Duma in einer staatsstreichähnlichen Manier aufzulösen und ein neues Wahlgesetz zu verabschieden, das die Kurie der Gutsbesitzer (Russland hatte ähnlich wie Preußen ein Mehrklassenwahlrecht) erheblich stärkte. Die nach dieser Wahlreform gewählte Dritte Staatsduma hatte als Folge davon eine konservative Mehrheit. Für den kontemplativ veranlagten Bulgakov stellte die Arbeit in der chaotischrebellischen Zweiten Duma eine Qual dar. Die Journalistin Ariadna Tyrkova-Williams, die über die Duma-Sitzungen berichtete, schrieb wie unwohl sich Bulgakov in der Atmosphäre des politischen Jahrmarkts, die in der Zweiten Staatsduma vorherrschte, fühlte: „Er hat in der Regel geschwiegen, . . . suchte keinen Einfluss, duldete aber keine Versuche, ihn selbst zu beeinflussen. Für solche Menschen ist das Korsett der politischen Parteien viel zu eng. Seine politische Laufbahn dauerte nicht allzu lange. Schon damals befanden sich die Gedanken dieses hochbegabten Gelehrten in anderen Sphären.“ 15 Bulgakov selbst beschreibt seine Duma-Erfahrung folgendermaßen: „Meine viermonatige Tätigkeit in der ,revolutionären‘ [Zweiten] Staatsduma hat mich endgültig von allen revolutionären Illusionen geheilt. . . . Und dies war auch verständlich. Dieses Gremium, das Hoffnungslosigkeit, Absurdität, Ignoranz und Niedertracht geradezu verkörperte, merkte nicht einmal, dass es aufgrund der endlosen Geschwätzigkeit, in der es versank, und seiner kleinlichen Eitelkeit zu einer konstruktiven Arbeit völlig ungeeignet war. Es gab wohl keinen anderen Ort, in dem eine derart ungesunde Atmosphäre herrschte, wie der Tagungsort der Staatsduma, an dem später die dämonischen Spielchen der Sowjetdeputierten stattfinden sollten.“ 16 14 15 16

Kulesˇov, s. u. a.: Nasˇe otecˇestvo. 2 Bände, Moskau 1991, hier Band 1, S. 238. Tyrkova-Williams, Na putjach k svobode (wie Anm. 10), S. 349. Bulgakov: Avtobiograficˇeskie zametki (wie Anm. 2), S. 80.

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Trotz seiner Ablehnung der Revolution war Bulgakov zunächst nicht bereit, sich mit der russischen Monarchie auszusöhnen. Auch als Abgeordneter der Zweiten Duma änderte er seine bisherige Einstellung zur zarischen Autokratie nicht. Er hielt sie „für ein sinnloses Relikt der Geschichte, das durch solche Begriffe wie Polizei, Gefängnisse, Verbannung, völlig unnötige Empfänge und Paraden wie auch tödliche Grausamkeit gegenüber dem russischen Volk symbolisiert wurde“.17 Erst einige Jahre später, am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts, begann sich seine Position zu ändern. Er schreibt in seinen autobiographischen Notizen zu Beginn der 1940er-Jahre folgendes dazu: „In meiner Seele begann wie ein heller Stern die Idee von der sakralen zarischen Macht zu leuchten . . . Dort, wo ich früher nur die Leere, Lüge und asiatische [Barbarei] gesehen habe, erkannte ich eine Macht, die durch die Gnade Gottes und nicht durch den Willen des Volkes legitimiert ist . . . Die gottlose Demokratie, auf der die Revolution geistig basiert, ist mit dem theokratischen Wesen der Macht unvereinbar. . . . Hier befand sich ein Scheideweg: Entweder mit dem Zaren oder gegen den Zaren. Und die russische Revolution war immer gegen den Zaren.“ 18 Bulgakov unterstreicht, dass diese Entdeckung der sakralen Wurzeln der zarischen Macht keineswegs dazu führte, dass er den tatsächlichen Zustand, in dem sich die Selbstherrschaft damals befand, akzeptierte. Die polizeiliche Willkür, die Schwarzhundertschaften, die skandalöse Abhängigkeit der Zarenfamilie vom Wunderheiler Rasputin, die sträfliche Willenlosigkeit des Zaren habe er scharf verurteilt. Die ganze Herrschaftsperiode Nikolaus II. bezeichnet Bulgakov als einen ununterbrochenen Selbstmord der Autokratie. Die Revolution wurde nicht nur durch die „revolutionäre [Intelligencija], sondern auch durch den Zaren verursacht, den irgendeine böse Kraft in den [Abgrund] zog“.19 Trotz all dieser unerfreulichen Erscheinungen war Bulgakov nach seiner Bekehrung zur Monarchie nicht bereit, sich vom Bild des idealen russischen Zartums abzuwenden. Elemente dieses Ideals entdeckte er auch im „real existierenden“ Zarenreich. Mit dieser seiner Einstellung stand er indes im damaligen Russland auf verlorenem Posten. Denn etwa ein Jahr nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erreichte die Ablehnung der Zarenfamilie im Lande, nicht zuletzt wegen der Rasputin-Affäre, beispiellose Dimensionen. Nicht nur die linken und liberalen Parteien, sondern auch rechte Gruppierungen und sogar einige Hofkreise wollten sich der herrschenden Dynastie entledigen und planten eine Palastrevolution: „Die ganze Staatsduma – von Miljukov bis Purisˇkevicˇ [rechtsextremer russischer Politiker] bekannte sich zur Revolution“, schreibt Bulgakov.20 17 18 19 20

Ebd. S. 75. Ebd. S. 82. Bulgakov: Avtobiograficˇeskie zametki (wie Anm. 2), S. 74. Ebd. S. 87.

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Die Überlegungen der nationalgesinnten Kräfte, die den Krieg bis zum siegreichen Ende führen wollten, fasst Bulgakov folgendermaßen zusammen: „Die Sache Russlands befindet sich in den falschen Händen. Diese „Hände“ müssen im Namen des Sieges und der Errettung der Heimat beseitigt werden.“ 21 Die Atmosphäre, in der sich Russland nach dem Sturz der Romanov-Dynastie befand, hielt Bulgakov für eine Art kollektiven Wahn. Er zog sich deshalb aus dem Alltagsgeschehen zurück und befasste sich vorwiegend mit der Arbeit des Landeskonzils der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), die nach dem Sturz des Zaren zunächst für kurze Zeit eine für sie völlig ungewohnte Freiheit genoss und das Amt des Patriarchen, das Peter der Große abgeschafft hatte, wieder einführte. Die Befreiung der Kirche von dem bis dahin herrschenden cäsaropapistischen System bezeichnet Bulgakov als den wichtigsten Grund, weshalb er nun bereit war, sich mit der Kirche gänzlich zu identifizieren.22 Dies umso mehr, als die ROK sich nach der bolschewistischen Machtübernahme von einer herrschenden zu einer verfolgten Kirche, Kirche der Märtyrer wandelte. Dies war die Konstellation, in der er sich entschied, Geistlicher zu werden. Am 9. Juni 1918 wurde er in Moskau im Alter von 47 Jahren zum Priester geweiht. Damit setzte er nach einer etwa dreißigjährigen Unterbrechung seine Familientradition fort. Obwohl die Aufmerksamkeit Bulgakovs von nun an in erster Linie theologischen Fragen galt (er wurde zu einem bedeutenden, wenn auch umstrittenen russischen Theologen), verfolgte er intensiv auch alle politischen und ideologischen Verästelungen der russischen Tragödie, die 1917 ihren Anfang nahm. Dies belegt ein Beitrag, den er für den von Petr Struve initiierten Sammelband „De profundis“ im Mai 1918 verfasste.23 Der Text Bulgakovs, der den Titel „Das Gastmahl der Götter“ trägt, besteht aus Dialogen und lehnt sich eng an die 1900 erschienenen „Drei Gespräche“ von Vladimir Solov’ev an, deren Schluss die berühmt gewordene „Kurze Erzählung vom Antichristen“ bildete.24 In seiner Anlehnung an die „Drei Gespräche“ legt Bulgakov folgende Botschaft nahe: Die von Solov’ev angekündigte Apokalypse finde nun statt, der Solov’evsche Antichrist, der sich in Jerusalem offenbarte, trete jetzt in Russland in Erscheinung. Manche Protagonisten der „Drei Gespräche“ feiern im „Gastmahl der Götter“ quasi ihre Wiedergeburt. So nimmt an den beiden Dialogen ein zarentreuer und geradliniger General teil. Auch russische „Westler“ kommen hier und dort zu Wort (ein „Politiker“ bei Solov’ev und ein „Diplomat“ bei Bulgakov). Die Rolle 21

Ebd. S. 89. Ebd. S. 38. 23 Bulgakov, Sergej, Na piru bogov. Pro i contra. Sovremennye dialogi, in: Iz glubiny. Sbornik statej o russkoj revoljucii, Paris 1967, S. 111–169. 24 Solov’ev, Vladimir: Tri razgovora, New York 1954. 22

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des geheimnisvollen Herrn „Z“, der in den „Drei Gesprächen“ über die Ankunft des Antichristen erzählt, wird im „Gastmahl der Götter“ von einer Figur übernommen, die Bulgakov als „Flüchtling“ bezeichnet. Bezeichnenderweise fehlt in den Dialogen Bulgakovs die Figur eines Tolstojaners. Bei Solov’ev war dies ein „Fürst“, der die Meinung vertrat, man könne das Böse, auch den schlimmsten Gewalttäter durch die Güte besänftigen. Die Orgie von Gewalt, die Russland 1917/18 überflutete, offenbarte die Weltfremdheit dieser Position. Eine Auseinandersetzung mit ihr betrachtete Bulgakov anscheinend als überflüssig. Schließlich fehlt in den Dialogen Bulgakovs die Solov’evsche Salondame. Die russische Apokalypse stellte eben keinen adäquaten Hintergrund für Salongespräche dar. Am „Gastmahl der Götter“ nehmen allerdings drei Figuren teil, die in den „Drei Gesprächen“ nicht auftraten: ein slavophiler Schriftsteller, ein gesellschaftlicher Aktivist und ein weltlicher Theologe. Warum hatte sich die prophetische Vision Solov’evs so schnell – 17 Jahre nach ihrer Verkündung – im Wesentlichen erfüllt? Warum wurde sie zuerst in Russland verwirklicht? Diese Frage steht im Zentrum des „Gastmahls der Götter“, das manchmal direkt, manchmal indirekt den Gesprächsfaden der Solov’evschen Dialoge wiederaufnimmt. Dies tut zum Beispiel der Bulgakovsche Diplomat, der im Wesentlichen die Position des Solov’evschen Politikers einnimmt. Beide sind überzeugte Europäer und glauben an die segensreiche Wirkung der europäischen Kultur auf alle Völker der Welt. Die Europäisierung setzt der Solov’evsche Politiker mit der Überwindung der Barbarei gleich und als eine solche bezeichnet er den Krieg. Er ist davon überzeugt, dass die europäischen Völker bereits eine solche zivilisatorische Reife erreicht haben, dass die Regelung ihrer Konflikte durch Kriege für sie nicht mehr in Frage kommt: „Ein Krieg in Europa ist unwahrscheinlich, weil es so viele Möglichkeiten gibt, Konflikte friedlich zu lösen . . . Die geschichtliche Periode der Kriege ist nun vorbei. Ich bin davon überzeugt, dass weder wir noch unsere Kinder große Kriege erleben werden. Und unsere Enkel werden sogar über die kleinen Kriege irgendwo in Asien oder in Afrika nur aus Geschichtsromanen erfahren.“ 25 Der europäische Gedanke der friedlichen Lösung von Konflikten werde demnächst die ganze Welt erobern, setzt der Politiker seine Ausführungen fort: „Überall kündigt sich jetzt die Epoche des Friedens und der friedlichen Verbreitung der europäischen Kultur an. Alle sollten jetzt Europäer werden.“ 26 Wenn man bedenkt, dass die von Solov’ev erdachte Figur des „russischen Europäers“ diese Prognose im Jahre 1900 aufstellte, also am Vorabend der wohl zerstörerischsten Kriege der Neueren Geschichte, klingt sie besonders bizarr. In gewisser Weise erinnert dieser Triumphalismus an die Gedankengänge Francis Fu-

25 26

Solov’ev: Tri razgovora (wie Anm. 24), S. 94 f. Ebd. S. 125.

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kuyamas, der 89 Jahre später vom „Ende der Geschichte“ sprechen sollte, also vom endgültigen und weltweiten Sieg der westlichen Wertvorstellungen. Auch diese Prognose wurde bekanntlich bald, nicht zuletzt durch die Terrorakte vom 11. September 2001, widerlegt. Die Tatsache, dass die vom Solov’evschen Politiker so hochgelobte pax europaea 1914 so jäh zu Ende ging, betrachtet der Bulgakovsche Westler – der Diplomat – als seine persönliche Tragödie: „Hätte ich weinen können, hätte ich alle meine Tränen vor vier Jahren ausgeweint, als der Weltbrand begann. Es war mir klar, welchen Preis Russland und die europäische Welt, die mir noch teurer als Russland ist, dafür bezahlen wird . . . Deshalb trage ich seit 1914 in meinem Herzen Trauer . . ., denn damals begann mein Haus, mein Heiligtum – die europäische Zivilisation zu brennen und daran hat sich unser auf Stroh gebautes Russland entzündet. Dieser Krieg ist für das heutige Europa . . . verbrecherisch, eine Gotteslästerung.“ 27 Der einzige Lichtblick, den der Diplomat in dieser Katastrophe sieht, ist der 2. März 1917, der Tag, an dem die Romanov-Dynastie infolge des Krieges und der Revolution entmachtet wurde: „Der morsche Thron zerbrach . . ., es gibt kein Zurück zum alten System mehr.“ 28 Diese Apotheose der Februarrevolution ruft beim anderen Protagonisten des „Gastmahls der Götter“ – beim „General“ – Empörung hervor: „Dies war der schrecklichste Tag in meinem Leben . . ., ein von Gott verfluchter Tag. Damals wurde mir sofort klar, dass unser Russland zugrunde geht“. Der Sturz des Zaren habe die geschichtliche Kontinuität Russlands zerstört, die Klammer, die das Land mit der Vergangenheit verband, sei verschwunden. Russland sei entweder zarisch oder es existiere überhaupt nicht. Ein „konstitutionell-demokratisches“ Russland nach westlichem Vorbild lasse sich mit der russischen Tradition nicht vereinbaren. Kein Wunder, dass die russischen Bauern und Soldaten dieses ihnen fremde System verworfen hätten. Durch ihre weltfremden Projekte, durch ihre Geschwätzigkeit hätten die russischen Demokraten die Armee zerstört: „Die russische Armee beruhte auf zwei Säulen: auf der eisernen Disziplin und auf dem Glauben.“ 29 Durch die Abkehr von der historischen Kontinuität hätten die russischen Demokraten den soldatischen Glauben und damit auch die Armee zerstört. Deshalb wollte der „General“ den Bolschewiki, die die russische Demokratie beseitigten und die Verfassunggebende Versammlung auseinanderjagten, sogar ein Denkmal setzen. Welche Position nahm Bulgakov selbst in dieser Kontroverse ein? Seiner Autobiographie kann man entnehmen, dass er das im Februar 1917 begonnene „Frei27 28 29

Bulgakov: Na piru bogov (wie Anm. 23), S. 116 u. 131. Bulgakov: Na piru bogov (wie Anm. 23), S. 124. Ebd. S. 128.

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heitsfest“ nicht mitfeiern wollte. Die Verklärung der Februarrevolution, zu der einige Protagonisten des „Gastmahls der Götter“ neigten, war ihm fremd. Auch die bedingungslose Identifizierung mit dem alten Regime, wie sie der General vertrat, ließ sich mit den Ansichten Bulgakovs nicht vereinbaren. Trotz seiner Abkehr vom Intelligencija-Glauben verwandelte er sich nicht in einen unkritischen Monarchisten. Auf den ersten Blick scheint der „weltliche Theologe“, der am „Gastmahl der Götter“ ebenfalls teilnimmt, das „Alter ego“ Bulgakovs zu sein. Der „Theologe“ setzt sich wie Bulgakov selbst leidenschaftlich mit dem Glauben der Intelligencija auseinander und vergleicht ihn mit dem jüdischen Messianismus. Ähnlich wie Bulgakov hofft der „Theologe“, dass die religiösen Sehnsüchte der Intelligencija sie letztendlich doch zum Christentum führen würden. Die Tatsache, dass der „Theologe“ die Befreiung der Russisch Orthodoxen Kirche vom Staat als die einzige Errungenschaft der Februarrevolution bezeichnet, erinnert ebenfalls an die von Bulgakov selbst vertretene Position. An einer Stelle scheinen sich jedoch die Wege Bulgakovs und seines literarischen Ebenbildes zu trennen. So meint der Theologe, gerade jetzt, nach der Befreiung der russischen Orthodoxie von der erniedrigenden Abhängigkeit vom Zaren, könne sie sich authentisch um ihre Reinheit bemühen. Ihm widerspricht indes eine andere Figur des „Gastmahls“ – der „Flüchtling“, der in vielem, wie bereits gesagt, an den geheimnisvollen Herrn „Z“ aus den „Drei Gesprächen“ erinnert, dem Solov’ev seine Vision über das künftige Erscheinen des Antichristen in den Mund legt. Der „Flüchtling“ setzt diesen Gedanken fort. Er spricht allerdings nicht vom künftigen, sondern von dem bereits erschienenen Antichristen. In der russischen Apokalypse habe sich das Ende der Neuzeit, die Endzeit angekündigt, die demnächst auch alle anderen Länder erfassen würde. Angesichts dieser Triumphe der Feinde Gottes müssten alle christlichen Konfessionen ihre Kräfte vereinigen, um sich gemeinsam gegen den „Fürsten dieser Welt“ zu wehren. Deshalb sei die Position des „Theologen“, der auf die Reinheit der Orthodoxie poche, angesichts dieser neuen Gefahren veraltet. Die vom „Flüchtling“ vorgeschlagene Widerstandsstrategie lehnt sich an diejenige an, die Solov’ev in der „Erzählung vom Antichristen“ beschreibt. Dort legten die führenden Vertreter der wichtigsten christlichen Konfessionen (die Katholiken, die Orthodoxen und die Protestanten) ihre Streitigkeiten bei, um den endgültigen Triumph des Antichristen gemeinsam zu verhindern. Aus der Sicht des „Flüchtlings“ ist die Schreckensvision Solov’evs vom Jahre 1900 nun Wirklichkeit geworden. Nicht zuletzt darauf führt er das Scheitern aller Versuche zurück, den Triumph des Bösen in Russland zu verhindern. Hinter dem siegreichen Bolschewismus sieht er eine mystische, unsichtbare Kraft, die trotz aller Widerstandsversuche Russland in den Abgrund ziehe: „Alles, was für das Land rettend sein konnte, kommt zu spät. Alles, was dem Land schadet, hat Erfolg. . . . Die Bolschewiki haben überall unglaubliches Glück und alle Versuche, sie zu be-

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kämpfen, sind zum Scheitern verurteilt. Man kann das natürlich durch die schicksalhafte Fügung von unglücklichen Umständen erklären – durch die Fehler der Regierenden, die Unaufgeklärtheit des Volkes, die Verschwörungspläne der Feinde Russlands. Dessenungeachtet kann ich mich nicht von dem Eindruck befreien, dass hier irgendeine unsichtbare Hand an all diesen Entwicklungen mitmischt . . . Jemand im „grauen Mantel“ [ein Synonym für den Antichristen], der schlauer als Wilhelm II. ist, kämpft jetzt gegen Russland, versucht es zu lähmen. Russland stört jemanden, der danach strebt, die Welt zu erobern.“ 30 Der beispiellose Aufstieg der Bolschewiki innerhalb von acht Monaten von einer Randerscheinung im politischen Spektrum Russlands zum Alleinherrscher eines der größten Reiche der Erde, kann in der Tat dazu verleiten, dieses Drama auch auf das Wirken mystischer Kräfte zurückzuführen. Dies um so mehr, als die Bolschewiki in diesen acht Monaten mehrmals vor einem gänzlichen Scheitern standen – zum Beispiel als die nationalgesinnten Kräfte Russlands sie der Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner beschuldigten und diese Beschuldigung auch dokumentarisch bewiesen. Oder auch als die organisatorischen Infrastrukturen der Bolschewiki nach dem gescheiterten Staatsstreichversuch vom Juli 1917 weitgehend zerstört wurden. Trotz dieses Balancierens am Rande des Abgrunds konnte Lenin letztlich doch zum „Sieger der Geschichte“ werden. Ähnlich verhielt es sich übrigens auch mit Hitler, dessen politische Kariere nach dem kläglichen Scheitern seines Münchner Putsches vom 9. November 1923 im Allgemeinen als beendet galt. Als aber die NSDAP dann im September 1930 die Zahl ihrer Wähler von 2,5 Prozent auf 18 Prozent und im Juli 1932 auf 37 Prozent erhöhte, konnte man ähnlich wie im Fall der bolschewistischen Siege in Versuchung geraten, hinter diesen Triumphen eine unsichtbare mystische Hand zu sehen. Plausibler sind allerdings Erklärungen andere Art, die diese Vorgänge vor allem aus historischer, politischer, ideengeschichtlicher oder sozialpathologischer Sicht zu erklären versuchen. So ging sowohl der bolschewistischen Machtergreifung als auch der nationalsozialistischen Machtübernahme ein beispielloser Verfall der demokratischen Strukturen wie auch eine beispiellose Identitätskrise der Demokratie in Russland und in Deutschland voraus. Sowohl die erste russische als auch die erste deutsche Demokratie sind nicht an der Stärke ihrer totalitären Gegner, sondern an der eigenen Willensschwäche zugrunde gegangen. Der deutsche Historiker Konrad Heiden spricht im Zusammenhang mit den Triumphen Hitlers vom Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, vom Verrat der politischen Eliten Deutschlands, die den Staat, den sie zu beschützen hatten, seinen ärgsten Feinden auslieferten.31 Von einer ähnlichen Desertion der politischen Eli-

30

Bulgakov: Na piru bogov (wie Anm. 23), S. 132. Heiden, Konrad, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, Zürich 1936. 31

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ten kann man auch im Zusammenhang mit den bolschewistischen Triumphen vom Jahre 1917 sprechen. Der Aufstieg der totalitären Bewegungen vollzog sich in einem gesellschaftlichen Klima, das einige Zeitzeugen als Zustand des Deliriums bezeichnet haben. Der italienische Faschismuskenner und kommunistische Dissident Angelo Tasca beschrieb diesen Zustand 1938 folgendermaßen: Die Reaktionen seien in dieser Atmosphäre maßlos, der Sinn für Proportionen gehe verloren. Das Delirium werde zu einem Normalzustand und gewinne unheimliche Eigenständigkeit. Der Faschismus sei nicht nur eine Kriegspsychose, er sei eines der bedrückendsten Kapitel der Sozialpathologie.32 Der konservative Kritiker Hitlers, Hermann Rauschning, analysiert seinerseits das geistige Klima in der Weimarer Republik, das den Aufstieg Hitlers begünstigte. Seine Beschreibung vom Jahre 1941 weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit derjenigen Tascas auf: Aufgrund der Mythen und Legenden, die der Niederlage von 1918 folgten, habe damals in Deutschland ein Zustand geherrscht, den man als eine Art Delirium bezeichnen könne. Auch die edelsten Pläne und Handlungen könnten die Nationen, die sich in einer solchen Gemütslage befänden, nicht davon abhalten, ihren Marsch in den Abgrund fortzusetzen.33 Auch die Atmosphäre, die 1917 in Russland vorherrschte und die den Aufstieg der Bolschewiki begünstigte, könnte man mit ähnlichen Worten beschreiben. Um sie adäquat wiederzugeben, benötigt man nicht unbedingt mystische, sondern eher politisch-historische, ideengeschichtliche oder wirtschaftlich-soziale Erklärungsversuche. III. Bulgakovs Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Auflehnung gegen das Christentum Unmittelbar nach seiner Priesterweihe im Juni 1918 verließ Bulgakov Moskau und begab sich auf die Krim, wo sich seine Familie befand. Dort verbrachte er die nächsten fünf Jahre seines Lebens und wurde zum Zeugen der sich abwechselnden deutschen, französischen, bolschewistischen, der weißen und schließlich, nach der Niederlage der Armee von General Wrangel im November 1920, der erneuten bolschewistischen Herrschaft wie auch des brutalen roten Terrors, der sich als erstes gegen Tausende von gefangenen Soldaten und Offizieren der weißen Armee richtete. All diese Jahre war Bulgakov als Priester an der Kathedrale von Jalta und als Professor an der Universität von Simferopol tätig. Er enthielt sich jeder politischen Tätigkeit. Dessenungeachtet teilte Bulgakov das Schicksal

32 Tasca, Angelo: Glauben, Gehorchen, Kämpfen. Aufstieg des Faschismus, Wien 1969, S. 378. 33 Rauschning, Hermann: The Conservative Revolution, New York 1941, S. 262 f.

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vieler anderer Vertreter der intellektuellen Elite Russlands und wurde 1922 aus dem Lande gejagt. Ende Dezember 1922 schrieb er auf dem Schiff, das ihn nach Konstantinopel bringen sollte eine Art „Abschiedsbrief“ an Russland. Dies sei eine unvermeidliche und höchstwahrscheinlich segensreiche Expatriation: „Es macht mir Angst, dieses Wort zu schreiben, wenn ich mich an die Ereignisse vor zwei Jahren erinnere, als ich die Expatriation für mich, ungeachtet der allgemeinen Flucht, als ein Todesurteil betrachtete. Die letzten zwei Jahre vergingen allerdings nicht umsonst. Ich habe begriffen, dass der Westen für mich jetzt nicht das Land der ,bürgerlichen Kultur‘ oder das ehemalige Land der ,heiligen Wunder‘ ist, das jetzt ,verfault‘, sondern ein Land, in dem die christliche Kultur immer noch lebt, vor allem ein Land, in dem sich der heilige römische Thron und die universale katholische Kirche befindet. Russland hingegen, das jetzt im Grabe modert, hat mich als unnötigen Ballast abgeworfen und mich zum Sklaven abgestempelt.“ 34 Das Leben im Exil betrachtete Bulgakov, wie man seinem „Abschiedsbrief an Russland “ entnehmen kann, als einen Neuanfang, mit dem er viele Erwartungen verknüpfte. Er gelangte in der russischen Exilgemeinde in der Tat zu einem beträchtlichen Einfluss, dies vor allem seit 1925, als der Metropolit der Russisch Orthodoxen Kirche in Paris, Evlogij, ihn zum Dekan und praktisch zum Leiter des neugegründeten Orthodoxen Theologischen Instituts in Paris (St. SergeAkademie) ernannte.35 Unter der Leitung Bulgakovs (1925–1944) wurde die St. Serge-Akademie zu der wohl bedeutendsten russischsprachigen wissenschaftlichen Einrichtung, und zwar nicht nur im Exil, sondern auch im gesamten russischsprachigen Raum, denn in Russland selbst war die freie wissenschaftliche Forschung seit der Errichtung der bolschewistischen Diktatur nicht mehr möglich. Das theologische Werk Bulgakovs, das sich an die von Solov’ev entwickelte Lehre von sofijnost’ anlehnte, war allerdings, wie bereits erwähnt, recht umstritten. Dieses Thema stellt aber nicht den Gegenstand dieses Beitrags dar, sondern die Auseinandersetzung Bulgakovs mit den totalitären Ideologien und ihrem pseudoreligiösen Anspruch. Sein Kampf gegen die totalitäre Versuchung von links wurde hier bereits ausführlich geschildert. Im Westen wurde Bulgakov jetzt mit der Auflehnung gegen die bestehende Ordnung von rechts konfrontiert, vor allem mit der totalitären Anmaßung der Nationalsozialisten, die die Schöpfung neu gestalten wollten, und zwar auf der Grundlage der von ihnen entwickelten Rassenlehre. Mit dieser nie dagewesenen Revolution, die das auf den christlich34 Vysylka vmesto rasstrela. Deportacija intelligencii v dokumentach VC ˇ K-GPU 1921–1923, Moskau 2005, S. 7 f. 35 Bobrinskij, Boris, Prepodobnyj Sergij v Pariz ˇ e, Sankt-Peterburg 2010, S. 161–185 u. 683 ff.; Put’ moej zˇizni. Vospominanija Mitropolita Evlogija, Paris 1946, S. 446– 453.

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jüdischen Grundsätzen aufgebaute Fundament der europäischen Kultur aufs Tiefste erschütterte, setzte sich Bulgakov intensiv auseinander, dies vor allem nach 1941, als in den von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten die Judenvernichtung begann. In seiner 1941/42 verfassten Schrift „Rassismus und Christentum“ beschäftigt sich Bulgakov ausführlich mit dem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ von Arthur Roseberg und mit Hitlers „Mein Kampf“. In beiden Schriften wie auch in der NS-Ideologie als solcher sieht er eine nie dagewesene Herausforderung für das Christentum: „Sie ist bösartiger als die militante Gottlosigkeit der französischen Enzyklopädisten, als der Hass der Marxisten oder die Barbarei der Bolschewiki“, denn sie setze dem christlichen Glauben nicht die Leere des Unglaubens entgegen, sondern sie rivalisiere mit dem Christentum als Pseudokirche beziehungsweise als ,Deutsche Nationalkirche‘. Da der Nationalsozialismus in einem pseudogeistigen Gewand auftrete, vergifte er die Volksseele noch stärker als dies der Bolschewismus tue, der das geistige Leben bloß unterdrücke, fügt Bulgakov hinzu.36 Als besonders gefährlich stuft Bulgakov die Tatsache ein, dass die NS-Ideologie die christlichen Grundsätze nicht direkt verwerfe, sondern sie blasphemisch von den sogenannten „jüdischen Elementen“ reinigen wolle, so vom Alten Testament, von der paulinischen Theologie, von der Nächstenliebe, vom Kreuz als Symbol „sklavischer Unterwerfung“ und sie dann, nach dieser „Reinigung“, mit der Rassenlehre zu verbinden versuche. Den unbändigen Judenhass der Nationalsozialisten führt Bulgakov auf deren Neid auf die von Gott Auserwählten zurück, deren Stelle sie durch die Ausmerzung einnehmen wollten: „Dies ist ein Anspruch der historischen Emporkömmlinge, die gestern, also in der gesamten antiken Geschichte, nicht existiert hatten und deren Existenz im historischen Morgen beendet werden kann. All das entlarvt die Leere des Anspruchs der Nationalsozialisten wie auch deren Maßlosigkeit.“ 37 Man muß sich vergegenwärtigen, dass Ende 1941, als Bulgakov über diese Selbstverherrlichung der nordischen beziehungsweise germanischen Rasse durch die Nationalsozialisten schrieb, die deutschen Truppen beinahe den gesamten europäischen Kontinent vom Atlantik bis Moskau beherrschten, und dass damals durchaus die Gefahr bestand, dass die monströse Rassenlehre der NSDAP Europa für Generationen prägen würde. Bulgakov schreibt: „Der wahnhafte Zustand der [Deutschen], der die Folge der nationalen Erniedrigung war, verwandelt sich vor unseren Augen in ihr wahnhaftes Streben nach der Weltherrschaft.“

36 37

Bulgakov, Sergij, Christianstvo i evrejskij vopros, Paris 1991, S. 33 u. 117. Ebd. S. 34, 64, 58 u. 89.

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Bulgakov hält es allerdings für ausgeschlossen, dass dieser hegemoniale Plan gelingen könnte: „Die Idee der Weltherrschaft der ,nordische Rasse‘ stellt kein politisches Programm, sondern eine Wahnvorstellung dar. Ihre konsequente Umsetzung führt unausweichlich zu einer Katastrophe, die schneller eintreten kann, als dies heute scheint“, schreibt er am 21. September 1941 als die Wehrmacht nicht allzu weit vor den Toren Moskaus stand.38 Die Tatsache, dass das NS-Regime seinen Feldzug gegen Russland zu einem Befreiungskrieg, zu einem „Kreuzzug“ stilisierte, hält Bulgakov für eine ungeheure Blasphemie. Im Gegensatz zu manchen russischen Emigrantengruppierungen war sich Bulgakov darüber im Klaren, dass Hitler in seinem Kampf um die Weltherrschaft nicht nur den Bolschewismus, sondern auch Russland zerstören wollte, das ihm im Wege stand: „Es ist aber ein Ding der Unmöglichkeit, dass es dem deutschen Imperialismus gelingen kann, Russland von der Landkarte zu streichen“, hebt Bulgakov hervor: „Das ist ein historisches Axiom. . . . Der Sieg einer antichristlichen Apostasie, die sich unter der Maske der Kreuzritter versteckt, die aber von der geistigen Krankheit des Rassismus befallen ist, stellt ein Ding der Unmöglichkeit dar. Aufgrund seines Rassismus ist Deutschland trotz seiner vorübergehenden Erfolge zum Scheitern verurteilt.“ Und dieses Scheitern, fügt Bulgakov im Dezember 1941 hinzu, werde eine Erlösung für Deutschland bringen: „Die Geschichte des Deutschtums ist noch nicht zu Ende, es hat Zukunft. Diese Zukunft hängt allerdings davon ab, ob es Deutschland gelingen wird, sich selbst zu bezwingen und sich auf dem Weg der geistigen Erneuerung vom Rassismus zu befreien.“ 39 An einer anderen Stelle schreibt Bulgakov, dass Deutschland im Streben nach der physischen Zerstörung des Judentums alle moralischen Hemmungen und jedes Schamgefühl fallen gelassen habe: „Diese erniedrigende Barbarisierung findet in einem Volk statt, das gestern noch die europäische Hochkultur verkörperte. Dieser beispiellose Fall muss aber zwangsläufig im geistig sensiblen Teil des deutschen Volkes das Gefühl der nationalen Reue und Scham erwecken. Die Zeit für diese nationale Reue ist zwar noch nicht reif, aber sie wird unausweichlich kommen.“ 40 Trotz dieses festen Glaubens an die Wiedergeburt Deutschlands hält Bulgakov den Nationalsozialismus nicht für einen Fremdkörper im deutschen Volksorganismus: „Er war nicht die Folge der Eroberung, der Vergewaltigung Deutschlands. Er wurde auch vom Volk (wenn auch nicht vom ganzen Volk) mit Begeisterung angenommen. Natürlich war all das die Folge der geistigen Erkrankung Deutschlands, die mit der Erniedrigung des Landes in Versailles verbunden war. 38 39 40

Bulgakov: Christianstvo i evrejskij vopros (wie Anm. 36), S. 60. Ebd. S. 86 ff. Ebd. S. 85.

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Aber auch [vor dem Ersten Weltkrieg] zeichnete sich der deutsche Geist nicht nur durch eine schöpferische Genialität, sondern auch durch eine düstere Vergötterung des Willens aus, die im Nationalsozialismus nun ihre Triumphe feiert.“ 41 Ganz anders verhält es sich aus der Sicht Bulgakovs mit dem Bolschewismus. Ihn hält er für einen Fremdkörper im russischen Volksorganismus, der mit der russischen Geistigkeit nichts gemein habe: „Sowohl historisch als auch geistig ist auf dem Bolschewismus der Stempel Made in Germany aufgedruckt . . . Lenin wurde von den Deutschen nach Russland geschickt, die deutsche Technik stellte das Vorbild für das frühbolschewistische Regime dar, die sozialistische Dressur erhielten die Bolschewiki von den deutschen Marxisten.“ 42 Eine besondere Aufmerksamkeit widmet Bulgakov bei der Analyse des Bolschewismus allerdings dem jüdischen Faktor. Es ist in diesem Zusammenhang erstaunlich, wie dieser entschlossene Kämpfer gegen Mythen und Legenden unterschiedlichster Art selbst zum Opfer eines Mythos werden konnte, nämlich des Mythos vom jüdischen Bolschewismus. Bereits während des russischen Bürgerkrieges setzte Bulgakov wiederholt das bolschewistische Regime mit dem Judentum gleich. So sprach er zum Beispiel im Jahre 1919, als er über die Schändung der orthodoxen Reliquien in Russland berichtete, vom Rachefeldzug der Synagoge gegen das von ihr verschmähte Christentum.43 Wenn man bedenkt, dass sich der atheistische Feldzug des Sowjetregimes gegen alle Religionen, auch gegen die jüdische richtete und dass es sich bei den bolschewistischen Funktionären, die ihn betrieben, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft allesamt um militante Atheisten handelte, die mit der jeweiligen Religion ihrer Vorväter gebrochen hatten, muss man den Versuch Bulgakovs, den Kirchenkampf der Bolschewiki mit der jüdischen Religion in Verbindung zu bringen, als eine ausgesprochene Entgleisung betrachten. Aber auch 22 Jahre später, in seinen während des Holocausts verfassten Abhandlungen, spricht Bulgakov von einer führenden Rolle des Judentums im Kampf gegen das Christentum, und zwar nicht nur in Russland , sondern weltweit.44 Er hält diesen Sachverhalt für derart offensichtlich, dass Beweise hierfür angeblich überflüssig seien. Die schrecklichen Verfolgungen, die das Judentum nun ereilten, bildeten für Bulgakov eine Art „unvermeidliche Strafe für das schreckliche Verbrechen, das es an Körper und Seele des russischen Volkes durch den Bolschewismus verübt hat. Diese [schwere Sünde] kann nicht ungesühnt bleiben“.45 41

Bulgakov: Christianstvo i evrejskij vopros (wie Anm. 36), S. 116. Ebd. S. 114. 43 Bulgakov, Sergij: O svjatych mos ˇcˇach (po povodu ich poruganija), in: Vestnik RChD Nr. 166, 1992, S. 50–88, hier S. 50. 44 Ebd. S. 88. 45 Bulgakov: O svjatych mos ˇcˇach (wie Anm. 43), S. 138. 42

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Bulgakov bezeichnet den Bolschewismus als einen beispiellosen Sündenfall des Judentums, als einen Sieg des Satans über das Judentum, den „die jüdische Staatsmacht mit Hilfe des Judentums durchgeführt hat“.46 Wie lässt sich diese beinahe gänzliche Entrussifizierung der russischen Revolution durch einen Denker erklären, der Jahrzehnte lang so feinfühlig die revolutionäre und totalitäre Versuchung, der sowohl die russischen Eliten als auch die Volksschichten zum Opfer fielen, analysierte?47 Wie kann einer der bedeutendsten christlichen Theologen, der sich darüber im Klaren war, dass die Missachtung der Gebote Christi eine geradezu typische Verhaltensweise der überwältigenden Mehrheit der Christen war, die Juden zu den Initiatoren dieser seit der Entstehung des Christentums andauernden Auflehnung unzähliger Christen gegen die Botschaft des Gekreuzigten erklären? Zwar schreibt Bulgakov in seiner Schrift „Rassismus und Christentum“, dass „das Antichristentum ein universales Phänomen darstellt, in dem sich unterschiedliche nationale und geistige Potentiale zusammenfügen“.48 Diese Relativierung seiner Kritik an den Juden fällt allerdings kaum ins Gewicht, denn die moralische Anklage gegen das Judentum als solches überwiegt. Mehr noch. Gelegentlich verfällt er selbst in den Ton der von ihm so leidenschaftlich kritisierten rassischen Judenfeinde und wirft den Juden mangelnde Kreativität, die Unfähigkeit, sich in das Wesen der jeweiligen Mehrheitskultur einzufühlen, vor. Alle Versuche der Juden, sich zu assimilieren, hätten nur zu einem oberflächlichen Erfolg geführt, meint Bulgakov. Es bleibe nämlich ein nicht assimilierbarer jüdischer Kern. Deshalb stellten die Juden einen Fremdkörper in den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften dar und aufgrund dieser Fremdheit seien sie zum genialen Schöpfertum, wie dies in der Zeit der Propheten der Fall gewesen sei, nicht mehr fähig. Ihren kulturellen Leistungen fehle die Authentizität, die eigentliche Tiefe. Da Israel Christus als Erlöser nicht akzeptiert habe, sei sein Haus geistig leer, führt Bulgakov aus: „Deshalb ist das jüdische Schöpfertum ontologisch zweitrangig, ungeachtet all seiner Meriten . . . Infolge seiner Apostasie hat Israel sein Genie verloren. Es blieb nur die Begabung. Aber die Begabung kann sich mit der Genialität nicht messen.“ 49 Wenn man bedenkt, dass diese apodiktischen Sätze vom Zeitgenossen Freuds, Einsteins, Kafkas oder Osip Mandelstams stammen, muten sie besonders bizarr an. Es ist verblüffend, wie ein russischer Emigrant, also ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Kulturen, nicht erkennen konnte, dass die Zugehörigkeit der Juden zu verschiedenen kulturellen Traditionen, ihr Grenzgängertum sie ge46

Ebd. Siehe dazu u. a. Bulgakov: Geroizm i podvizˇnicˇestvo (wie Anm. 3). 48 Bulgakov, Evrejstvo i christianskij vopros, S. 78; siehe dazu Berdjaev, Nikolaj: Christianstvo i antisemitizm (religioznaja sud’ba evreev), Paris [o. J.], S. 20–31. 49 Ebd. S. 99 f. 47

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radezu dazu prädestinierte, neue Horizonte zu eröffnen, zu Pionieren innovativer Denkschulen zu werden. Bulgakov ließ weitgehend außer Acht, dass die Moderne mit ihrem ständigen Perspektivenwechsel, mit ihrer Experimentierfreude ohne den Beitrag der Juden kaum denkbar gewesen wäre. Ihn interessierte nicht in erster Linie der kreative, sondern der negative Einfluss der Juden auf die moderne Welt, auf „alle Bereiche des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens . . ., auf die Börse, Presse, Wissenschaft, den Markt, das Parlament und sogar auf die Regierungen“.50 Ausführlich geht er auf die verderbliche Rolle der bolschewistischen Funktionäre jüdischer Herkunft, die in der bolschewistischen Elite des ersten sowjetischen Jahrzehnts in der Tat überrepräsentiert waren, ein. Warum lässt er aber die Tatsache außer Acht, dass auch in allen antibolschewistischen Gruppierungen des demokratischen Spektrums der russischen Öffentlichkeit die Juden in den ersten Reihen zu finden waren? Sie gehörten auch zu denjenigen, die, ähnlich wie Bulgakov, die russische Intelligencija vor der Vergötterung der Revolution warnten. Etwa die Hälfte der Vechi-Autoren (drei von sieben) waren Juden – Semen Frank, Michail Gersˇenzon und Aleksandr Izgoev. Dass nicht einmal diese Tatsache Bulgakov dazu veranlasste, seine Judenschelte abzumildern, macht ratlos.

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Berdjaev: Christianstvo i antisemitizm (wie Anm. 48), S. 66.

„Das Reich und Europa“ Der Reichsgedanke der Schutzstaffel Gerhard Wenzl I. Einführung „Das Reich ist so alt wie das deutsche Volk selbst und die deutsche Geschichte von Anbeginn nicht die einer einzelnen Nation, sondern die des Kontinents.“ 1

Historische Argumentationen waren stets Legitimationsgrundlagen für politische Ambitionen. Da in der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland Geschichte umfangreich instrumentalisiert wurde, gilt dies heute als „demagogisch und gegenaufklärerisch“ 2. Adolf Hitler forderte in seiner programmatischen Schrift „Mein Kampf“ 3 von Beginn an, dass die Geschichtswissenschaft „die Rassenfrage zur dominierenden Stellung“ 4 erheben müsse.5 Dieser Forderung wurde von der historischen Forschung des „Dritten Reichs“ dahingehend nachgekommen, indem diese die deutsche Geschichte einer perspektivischen Neuauslegung unter dem Fokus der rassischen Prinzipien6 des Nationalsozialismus unterzog. In den ersten 20 Jahren der Nachkriegsforschung wurde zunächst versucht, die nationalsozialistische Geschichtspolitik zu analysieren. Jedoch offenbarte sich bald, dass diese Aufgabe deutlich komplexer war, als zu erwarten. Karl Werner urteilte hierzu schließlich: „Eine offizielle, einheitliche geregelte Geschichtslehre des Nationalsozialismus hat es nicht gegeben.“ 7 Der „Führer“ zog zwar mit 1 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (Schriftenreihe für die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei, Heft 8), [o. O.] 1943, S. 4. 2 Zimmering, Raina: Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000, S. 18. 3 Hitler, Adolf: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, ungekürzte Ausgabe, München 1942. 4 Ebd. S. 468; Ebenso RFSS/SS-HA: Rassenpolitik (Schriftenreihe für die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei, Heft 4–6), [o. O.] 1943, S. 3–4; Bieder, Theobald: Geschichte der Germanenforschung, Band 1 (Deutsches Ahnenerbe Reihe A: Grundwerke), Leipzig 1939, S. 209–218. 5 Wippermann, Wolfgang: Der konsequente Wahn. Ideologie und Politik Adolf Hitlers, Gütersloh u. München 1989, S. 99–102; Werner, Karl: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1967, S. 9. 6 RFSS/SS-HA: Rassenpolitik (wie Anm. 4), S. 4. 7 Werner: NS-Geschichtsbild (wie Anm. 5), S. 24.

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„Mein Kampf“ weltanschauliche Grenzen, jedoch konnten sich andere entscheidende Funktionäre wie Alfred Rosenberg8 oder Heinrich Himmler mit ihren Interpretationen innerhalb dieser Schranken weitgehend frei bewegen. Dies führte zu partiell differenten Schwerpunktsetzungen9 und Perspektiven10. Der Einschät8 Alfred Rosenberg 1933–1945 Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, 1934–1945 Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, 1940–1945 Chef des Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, 1941–1945 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, 1940–1945 Chef des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg. Benz, Wolfgang/Graml, Hermann/Weiß, Hermann (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 876. 9 Der „Führer“ schätzte beispielsweise die exzessive Germanenverehrung innerhalb der SS geringer. Hitlers hatte kein Verständnis dafür, den historischen Stämmen der Germanen kultische Verehrung zuteil werden zu lassen. Aber er ließ Himmler hierbei freie Hand. Hitler konstatierte hierzu beispielsweise: „Die Externsteine waren sicher nicht Kultstätten, sondern Zufluchtspunkte, auf welche die Leute sich zurückgezogen haben, um aus dem steigenden Schlamm herauszukommen. Kalt, feucht und trübe war dieses Land! In einer Zeit, wo die anderen schon Steinstraßen besaßen, hat unser Land Zeugnisse der Kultur nicht aufzuweisen.“ Hitler am 4. Februar 1942 im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“, in: Jochmann, Werner (Hrsg.): Adolf Hitler: Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Hamburg 1980, S. 263. 10 Zurechtweisungen von Hitler gab es nur geringfügig: Zur Erläuterung sei das Beispiel „Carolus Magnus“ erwähnt: Hitler sprach ausschließlich mit Verehrung von Karl dem Großen, Ackermann, Josef: Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 56. „Karl der Große war einer der größten Menschen der Weltgeschichte: Daß er es fertiggebracht hat, diese deutschen Querschädel zueinanderzubringen!“ Hitler am 4. Februar 1942 im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“, in: Jochmann: Adolf Hitler (wie Anm. 9), S. 263. Alfred Rosenberg musste deshalb eine Stelle in seinem Werk ändern: „Er [Widukind] unterlag; aber kein Zweifel darf heute mehr darüber bestehen, daß wir zu den Kräften stehen, die ihn leiteten und nicht zu denen, welchen Karl der Große zum Siege verhalf.“ Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930, S. 186. Später lautete dieselbe Stelle: „Nach Wiederherstellung der Ehre der 1000 Jahren geschmähten Niedersachsen, gehen beide großen Gegner ein in die deutsche Geschichte: Karl als Gründer des deutschen Reiches, Widukind als Verteidiger der germanischen Freiheitswerte.“ Rosenberg: Mythus (wie Anm. 10), S. 186. Das Bekenntnis zu Widukind entfiel. Innerhalb der SSChronik stand trotz der Würdigung des Werkes Karls des Großen, Widukinds „Freiheitskampf“ lange im Vordergrund. Hierzu: RFSS/Schulungsamt im RuSHA (später im SS-HA) (Hrsg.): SS-Leitheft (SSLH), Folge 12, 1937, S. 9–17. Erst nachdem Hitler den Reichsführer-SS zurechtwies und auch untersagte, Karl den Großen wegen der Hinrichtung von 4500 sächsischen Edelmännern als „Sachsenschlächter“ zu titulieren, lenkte Himmler ein. Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 57–58. In den Lehrplänen der SS verschwindet Widukind dann ab 1943 aus der Überlieferung, die „Reichseinigung“ von Karl dem Großen blieb. Grund hierfür war sicher auch der gesteigerte Wert Karls als „Einiger“, welcher in der Europäisierung der Propaganda und in der gesteigerten ethnischen Heterogenität der Waffen-SS im Gegensatz zu zum „Sachsenrebellen“ eine ideologisch integrativere Funktion einnehmen konnte. Das Fazit der SS im Jahr 1943, welches auch in die weltanschauliche Schulung integriert wurde, lautete: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß das karolingische Reich eine Schöpfung aus germanischen Geist und Willen ist.“ RFSS/SS-HA: Das

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zung von Jay Baird folgend, kann aber für alle Geschichtsdarstellungen des nationalsozialistischen Staates konstatiert werden, dass in jeder die Umsetzung einer Synthese verfolgt wurde, in welcher „das Praktische und Politische mit dem Mythos“ 11 verbunden sein sollte. Diese pragmatisch-propagandistische Auslegung historischer Ereignisse und Personen führte Henryk Olszewski letztlich zu dem Urteil, dass jene Entwicklung den „tiefsten aller Niedergänge in der Geschichte der Geschichtswissenschaft überhaupt“ 12 bedeutete habe. Vor allem innerhalb der SS war die Suche nach einem historischen Fundament für die ideologischen Prinzipien ein deutlich markanteres Merkmal, als die gängige Forschung bisher akzeptiert hat. Bernd Wegner konstatierte zwar bereits im Jahr 1982: „Die Beschwörung eines selbsterzeugten Geschichtsmythos gehört neben der Konstruktion von Feindbildern und der Propagierung von gigantischen Zukunftsplänen [. . .] zu den unablässig betriebenen Versuchen [. . .] der Ausbreitung der SS und Waffen-SS eine Legitimationsbasis zu verschaffen.“ 13 Diese These Wegners greift dahingehend etwas zu kurz, dass die von Himmler geführte historische Argumentation innerhalb der SS keineswegs nur selbstlegitimatorische Rhetorik war. Sie bot dem Reichsführer vielmehr auch die Möglichkeit, pragmatische Ziele außerhalb der zu Friedenszeiten streng limitierten selbstdefinierten SS-Ordensgrenzen zu verfolgen. In Rückkopplung ließ sich Himmler von seinem selbstkonstruierten Geschichtsbild für neue politische Innovationen inspirieren.14 Obwohl mit der Konstruktion eines SS-Geschichtsbildes die ArgumenReich und Europa (wie Anm. 1), S. 7. Hierzu: SS-HA (Hrsg.): Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung, [o. O., o. J.] S. 27–28. Inhaltsanalytisch ist dieser Lehrpan auf den Zeitraum 1943/44 zu datieren. Himmler lies dennoch, ohne ein Eingreifen Hitlers, zur Verehrung der getöteten Sachsen einen Ehrenhain (Sachsenhain im niedersächsischen Verder) errichten. Nierbaum, Anabel: Niedersächsische Kultfiguren in der NS-Zeit: Widukind, die Stedinger, Till Eulenspiegel und Hermann Löns, in: Kuropka, Joachim/Laer, Hermann von (Hrsg.): Woher kommt und was haben wir an Niedersachsen?, Cloppenburg 1996, S. 121–161, hier S. 130. 11 Baird, Jay: Die mythische Welt der nationalsozialistischen Kriegspropaganda, in: Hütter, Joachim/Meyers, Reinhard/Papenfuss, Dietrich (Hrsg.): Tradition und Neubeginn. Internationale Forschungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Köln, Berlin, Bonn u. München 1975, S. 289–298, hier S. 289. 12 Olszewski, Henryk: Das Geschichtsbild – ein Bestandteil der NS-Ideologie, in: Hütter/Meyers/Papenfuss: Tradition und Neubeginn (wie Anm. 11), S. 299–316, hier S. 316. 13 Wegner, Bernd: Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945, Paderborn 2008, S. 56. 14 Beispielhaft: Das „Scheingefecht“ von Valmy, bei welchen die Kanonade zwischen Frankreich und Preußen von Himmler als abgesprochene Finte dargestellt wurde. Grund hierfür war offensichtlich eine plausible Erklärung für das „Versagen“ der „deutschen Wehrverbände“ zu finden. RFSS: Eine Rede des Reichsführers SS, in: Goebbels, Joseph (Hrsg.): Die Lage. Zentralinformationsdienst der Reichspropagandaleitung der NSDAP und des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, Berlin 1944, S. 1–27, hier S. 5; auch Eschenburg, Theodor (Hrsg.): Rede vor den Gauleitern am 3. August 1944 in Posen, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1, Heft 4,

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tationsbasis zur Existenz und Ausbreitung des Organs erstellt wurde, konnte Himmler im „Bann mythischer Bilder“ 15 Vorstellungen aufgreifen, welche in Form und Ausprägung innerhalb des Nationalsozialismus einzigartig und partiell separatistisch waren. Die geistig-ideologischen Autonomisierung der Schutzstaffel innerhalb des NS-Staates konnte nur durch eine zuvor erreichte institutionelle Separation in der nationalsozialistischen Staats- und Parteiorganisation erreicht werden. Die eigentliche Geschichte der SS habe nach dem Selbstempfinden erst am 6. Januar 1929 begonnen, an dem Tag, an dem Himmler zum Kommandanten und Reichsführer-SS ernannt worden war.16 Himmler strukturierte die SS in einer konsolidierenden Phase bis 1935 neu. In dieser Zeit kam es mehrfach zu Kompetenzkonflikten mit dem eigentlichen militärischen Arm der NSDAP, der Sturmabteilung (SA). Mit dem „Röhm-Putsch“ im Juli 1934 war die innerparteiliche Opposition eliminiert worden. Da Himmler mit seiner SS Hitler loyal unterstützte, musste sich der Reichsführer-SS ab diesem Zeitpunkt lediglich dem „Führer“ verantworteten. Dieser stattete ihn sukzessive bis ins Jahr 194417 mit einer innerhalb des Reiches einzigartigen Machtfülle aus.18 Somit besaß Himmler, als einziger der „ideologiebildenden Funktionäre“ 19 des „Dritten Reiches“, die Machtbasis, seine persönlichen historisch-ideologischen Vorstellungen praktisch zu entwickeln und umzusetzen.20 John Steiner beschrieb die SS auf diesem Höhepunkt ihrer Macht passend: „Die Schutzstaffel der NSDAP war nicht nur 1953, S. 363–394, hier S. 384. Ebenso die wiederkehrende Behauptung, dass es preußische Verbrecherbataillone unter Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg gegeben habe, RFSS: Die Lage (wie Anm. 14), S. 2. Der Kampfwert dieser Truppen blieb für Himmler zumindest in seinen Äußerungen unbestritten. Ferner der „Seegermanentreck“ und das Opfer von Kindern nach rassischer Auslese um den Stamm zu erhalten, RFSS: Rede Himmlers am 21. September 1944, [o. O.] 1944, S. 5. (Bundesarchiv NS 19/323); Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 55. 15 Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918–1933, München 1962, S. 78. 16 d’Alquen, Gunter: Die SS. Geschichte, Aufgabe und Organisation der Schutzstaffeln der NSDAP. (Schriften der Hochschule für Politik. II: Der organisatorische Aufbau des Dritten Reichs, Heft 33), Berlin 1939, S. 8. Hierzu: Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 123. 17 Ämterlaufbahn Heinrich Himmlers: 1929–1945 Reichsführer SS, 1936–1945 Chef der deutschen Polizei, 1939–1945 Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, 1943–1945 Reichsinnenminister, 1944–1945 Befehlshaber des Ersatzheeres, 1944–1945 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe „Weichsel“ und Stellvertretender Generalbevollmächtigter für die Reichsverwaltung. 18 Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 209–210. 19 Hierbei sind zu nennen: Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Richard Walther Darré, Alfred Rosenberg, Ebd. S. 17. 20 Ebd. S. 209–210. Hierzu: Buchheim, Hans: Die SS in der Verfassung des Dritten Reichs, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 3, Heft 3, 1955, S. 127–157.

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eine politische und militärische Organisation mit sicherheitsdienstlichen Funktionen, sondern darüber hinaus einer jener militanten, pseudoreligiösen Orden des 20. Jahrhunderts, der seine eigene Vorstellung vom Absoluten besaß.“ 21 Obwohl diese potente Stellung anfänglich keineswegs geplant war, führte jene Expansion die SS zur Millionenarmee sowie zum Terrorapparat des „Dritten Reiches“ und war der erste Schritt zum autarken Akteur innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung. Himmler schaffte es durch die ordensgemeinschaftliche Abgrenzung der SS eine exklusive Konsumentengruppe für seine „Ideologie“ 22 zu konstruieren. Diese konnte er selbst kontrollieren und vor dem Zugriff weiter Einflüsse, insbesondere vor anderen nationalsozialistischen Funktionären, bewahren.23 Die strikten Ordensregeln24 und das Postulat eine Art „Avantgarde“ 25 des Nationalsozialismus zu sein, verlieh der Schutzstaffel in der Wahrnehmung der Zeit einen „Elitenstatus“. Innerhalb dieses abgegrenzten „elitären“ Ordens wurde, nachdem die innerparteiliche Opposition ausgeschalten war, durch die SS-Schulungsämter damit begonnen, die Weltanschauung des Nationalsozialismus nach den Vorgaben Himmlers zu interpretieren, zu vertiefen und selbstständig zu propagieren. Die ersten umfassenden Schulungsmaterialien und Propagandaarbeiten wurden 1935 veröffentlicht. Die SS-Leithefte26 sind als elementare Quelle von herausragender Wichtigkeit, da hier das SS-Weltbild sowohl Offizieren als auch Mannschaften

21 Steiner, John: Über das Glaubensbekenntnis der SS, in: Bracher, Karl Dietrich/ Funke, Manfred/Jacobson, Hans-Adolf (Hrsg.): Nationalsozialistische Diktatur. Eine Bilanz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 192), Bonn 1986, S. 206–223, hier S. 206. 22 Zur Problematik des Begriffes SS-Ideologie Wegner: Politische Soldaten (wie Anm. 13), S. 25. Auch: „Eine Ideologie entwirft einen ,Idealzustand‘ und formuliert klare Vorgaben, wie dieses Ideal zu erreichen ist.“ Braun, Christian: Nationalsozialistischer Sprachstil. Theoretischer Zugang und praktische Analysen auf der Grundlage einer pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik, Diss. Heidelberg 2007, S. 196. Aus Sicht der SS: SSLH, Heft 2, 1943, S. 4. 23 Himmler, Heinrich: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, München 1937, S. 31. 24 SS-Oberabschnitt West (Hrsg.): Die Ordensgesetze der SS, Düsseldorf 1938. 25 SSLH, Folge 12b, 1941, S. 1. Hierzu: Wegner, Bernd: The „Aristocracy of National Socialism“: The Role of the SS in National Socialist Germany, in: Koch, Hans Joachim (Hrsg.): Aspects of the Third Reich, London 1985, S. 430–450, hier S. 434. 26 Zu berücksichtigen bleibt, dass die uneinheitliche Benennung der Ausgaben der monatlich erscheinenden Leithefte zu einer inhomogenen Zitierung führen muss. Bei Ausgaben ohne Paginierung werden die verwendeten Artikel genannt. Die SS-Leithefte waren Informationsschriften für das SS-Offizierskorps. Sie sollte beispielbezogen die weltanschauliche Schulung der Mannschaften unterstützen. Wie der Konsum oder der Effekt auf die SS-Mitglieder war, konnte nicht geklärt werden. Jedoch ist den Leitheften, da sie bereits 1935 erschienen, ein besonderer Quellenwert als Schulungsmaterial zuzuschreiben.

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gelehrt werden sollte. Das ebenfalls seit 1935 wöchentlich erscheinende Periodikum „Das Schwarze Korps“ 27 gilt als das erste Massenpropagandainstrument des weltanschaulichen Ordens. Auch wenn hier gelegentlich aufgrund der alltagspolitischen Notwendigkeiten geringe Abweichungen zu Schulungsmaterial der Lehrpläne existieren, bleibt der Quellenwert für die SS-Ideologie fundamental.28 Wesentliche Bedeutung für das Geschichtsverständnis der SS besitzen die Bemühungen um eine archäologische Beweisführung. Die vom „Ahnenerbe e. V.“ 29 durchgeführte Suche nach angeblichen Fakten um die eigenen Theorien zu erklären, fanden Himmlers persönliches Interesse30. Das Ergebnis blieb wissenschaftlich sowie propagandistisch weniger bedeutend.31 Die entscheidende Position der SS ließ Ernst Fraenkel32 im Jahr 1941 vom Doppelstaat des „Dritten Reiches“ sprechen und führte zur Auffassung von Auerbach, dass es „in der SS Anzeichen eines selbständigen Ausbaus der Ideologie und der Organisation [gab], die den Tod des Führers überlebt hätten – wenn das Reich weiterbestanden hätte“.33 Ziel der vorliegenden Untersuchung ist hierbei die Herausarbeitung des SSReichsgedankens. Was waren für die SS die Grundlagen für die Entstehung und den Bestand eines „Deutschen Reiches“? Welche Aufgabe wurde von der Schutzstaffel diesem Reich zugeschrieben und welche Eigenschaften musste es besitzen, um seinen unterstellten geschichtlichen „Missionen“ nachkommen zu können? Wie grenzte sich dabei insbesondere Himmler von den seit dem Mittelalter vorherrschenden Ideen vom Reich ab. Entscheidend wird es dann sein zu klären, welche politischen Zukunftsabsichten sich aus dem konstruierten Geschichtsbild ergaben.

27 Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organs der Reichsführung-SS, Jg. 1935–1945. Das „Schwarze Korps“ erschien wöchentlich (= SK). 28 Zeck, Mario: Das schwarze Korps. Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS (Medien in Forschung + Unterricht, 51), Tübingen 2002, S. 125. 29 Kater, Michael: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches (Studien zur Zeitgeschichte), Stuttgart 1974, S. 11. 30 „Zur Durchführung wesentlicher und wertvollste Forschungen, die trotzdem und teilweise gerade deshalb von der offiziellen Forschung nicht anerkannt, bzw. sogar verfolgt werden, habe ich das ,Ahnenerbe e.V.‘ ins Leben gerufen.“ Brief Himmlers an Hermann Göring vom 19. März 1937 BA NS 21/vorläufig 676. Zitiert nach Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 45. 31 Kater: Ahnenerbe (wie Anm. 29), S. 360. 32 Fraenkel, Ernst: The dual state. A contribution to the theory of dictatorship, New York 1941. 33 Auerbach, Hellmuth: Führungspersonen und Weltanschauungen, in Broszat, Martin (Hrsg.): Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte. Vorträge aus dem Institut für Zeitgeschichte, München 1983, S. 127–151, hier S. 151. Zur Bedeutung der SS für den nationalsozialistischen Staat Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1946, S. 26.

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II. Der SS-Reichsgedanke „Unser Reich ist von dieser Welt“ 34.

Mit diesem prägnanten Bekenntnis distanzierte sich Himmler von jeder christlichen oder damit auch katholischen Prägung des Reichsbegriffes.35 Seine Vorstellungen des „Reiches“ konstruierten sich aus einer engen Verknüpfung von historischen Heldenmythen, einem rassisch motivierten Germanenglauben36 und einem radikalen Antikatholizismus37. Den Begriff „Mythos“ definierte Jan Assmann als „eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt“. 38 Die SS konnte auf bereits vorhandene Mythen der deutschen und sogar europäischen Geschichte zurückgreifen und diese in ihrem Sinne instrumentalisieren und weiterentwickeln. Der Reichsbegriff als politische Parole war aber keine Innovation der Nationalsozialisten. Schon nach dem Untergang des „Alten Reiches“ im Jahr 1806 blieb der Reichsbegriff mehr als nur eine historische Vokabel. Der „Wiedergewinn“ des Reiches von 1871 und die militärische Niederlage von 1918 hatten aufgrund der vorangegangenen innereuropäischen Konflikte den „Reichsgedanken“ mit einem „nationalen“ Traditionalismus verbunden.39 Dieser fußte auf einen starken bürgerlichen Nationalismus.40 Die revolutionären Erschütterungen der Jahre 1918/ 19, welche den Verlust der monarchistischen Ordnung zur Folge hatten, transportierten partiell die „Reichsidee“ der deutsch-konservativen und völkischen Kreise in die Welt eines historisch verklärten Mythos.41 Josef Ackermann formulierte zurückgreifend auf Kurt Sontheimer deshalb 1970 die These, dass „Pangermanismus, nationale Ressentiments, Revanchegelüste nach dem verlorenen Weltkrieg und schließlich der Antisemitismus [. . .] zu 34

SSLH, Heft 7, 1943, S. 4. Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 171. Hierzu: Ackermann, Konrad: Der Widerstand der Monatszeitschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus, München 1965, S. 115. 36 Steiner: Über das Glaubensbekenntnis der SS (wie Anm. 21), S. 206. 37 RFSS (1942): Rede vor dem Oberabschnittsführern und Hauptamtschefs im Haus der Flieger in Berlin am 9. Juni 1942, in: Smith, Bradley/Peterson, Agnes (Hrsg.): Heinrich Himmler Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt am Main 1974, S.145–161, hier S. 159. 38 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 76. 39 Sontheimer: Antidemokratisches Denken (wie Anm. 15), S. 280. 40 Hierzu: Wahl, Hans Rudolf: Die Religion des deutschen Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zur Literatur des Kaiserreichs: Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch, Walter Flex, Heidelberg 2002. 41 Sontheimer: Antidemokratisches Denken (wie Anm. 15), S. 222–223 u. 229–230. 35

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Beginn des 20. Jahrhunderts den mittelalterlichen Reichsgedanken derart unterwühlt“ 42 hatten, „dass die Idee des Reiches zu den verschwommensten des nationalen Begriffsarsenals gehörte“ 43. Der spätere Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der in diesen Jahren mit völkischer Literatur44 konfrontiert wurde, konstatierte hierzu abfällig, wer vor dem Jahr 1933 „vom Reich sprach, konnte nur dieses 1000jährige deutsche Reich meinen“ 45. Die entscheidende Neuerung von Himmlers Reichsvorstellung war, ein „Reich des Blutes“ 46 zu begründen, welches „das heilige germanische Reich deutscher Nation“ 47 genannt werden und als Existenzgrundlage die rassischen Prinzipien des Nationalsozialismus besitzen sollte.48 1. Das antikatholische Reich „Kreuz und Hakenkreuz sind Symbole einer kommenden großen Entscheidung.“ 49

„Mit diesem Christentum, dieser größten Pest, die uns in der Geschichte anfallen konnte, die uns für jede Auseinandersetzung schwach gemacht hat, müssen wir fertig werden.“ 50 Mit diesem Worten charakterisierte Himmler, der bis Mitte der 1920er noch strenger Katholik war,51 die Konfrontation der Schutzstaffel mit dem Christentum, insbesondere mit kirchlichen Organisationen. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum als weltanschaulichen Gegner der SS war ein wesentlicher Charakterzug des Ordens und für Himmler notwendig, um das „Reich“ von der „römischen Bevormundung“ 52 zu befreien. Der Glauben an eine „Gottesmacht“ im metaphysischen Sinne, blieb dennoch eine notwendige Voraussetzung für Himmlers SS.53 Somit richtete sich der Kampf der Schutzstaffel

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Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 171. Sontheimer: Antidemokratisches Denken (wie Anm. 15), S. 280. 44 Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 25–29. 45 RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ Rede des Reichsführers SS in der SS-Junkerschule in Bad Tölz, am 23. November 1942, [o. O.] 1943, BA NS 19/409 Blatt 180–199, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ HimmlerUmsiedlg3.pdf, S. 2 [Zugriff am 15. Mai 2012]. 46 RFSS: Rede des RFSS am 25. Mai 1944 in Sonthofen vor den Teilnehmern des politisch-weltanschaulichen Lehrgangs, [o. O.] 1944, S. 8. 47 RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 2. 48 RFSS/SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre 7, Thema 9, 1944, S. 9. 49 Volkmar Hentrich am 27. Januar 1935, in: „Nordland“. Die Zeitung Nordland erschien in einem Verlag der SS. Zitiert nach Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 40. 50 RFSS: Rede vor dem Oberabschnittsführern und Hauptamtschefs im Haus der Flieger in Berlin am 9. Juni 1942, in: Smith/Peterson: Geheimreden (wie Anm. 37), S. 159. 51 Longerich, Peter: Heinrich Himmler, München 2008. S. 84. 52 Undatierter Plan der Reichsführung-SS zur Erschließung des germanischen Erbes (1937), BA NS19/320. Zitiert nach Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 253. 43

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vorrangig gegen den „Katholizismus“ 54. Dieser war seit 1935 mit Feindbildern der SS wie einem weltweit operierenden Judentum55, dessen unwissendem Gehilfen, den Freimaurern,56 sowie mit den Bolschewisten gleichgesetzt. „Die Kirche als kulturgeschichtliche stabilste Institution der „alten“ Welt drohte Himmlers eigenes Konzept der totalen physischen und psychischen Indienstnahme der Persönlichkeit des SS-Mannes zum Scheitern zu bringen, beanspruchte sie doch selbst, die menschliche Persönlichkeit unter Ausnutzung eben jener irrationalen Glaubensbereitschaft zu prägen, welchen auch Himmler als den geeignete Ansatzpunkt mentaler Manipulationen erschien.“ 57 Aus programmatischer Sicht Himmlers war also Christentum und SS-Germanentum grundlegend inkompatibel. Der Katholizismus wurde hierbei aufgrund seiner politischen Ausrichtungen als der mehr entscheidende weltanschauliche Kontrahent wahrgenommen. Die protestantischen Kirchen nahmen hierbei eine untergeordnete Bedeutung ein. Fernab von aufgeklärter Bildung und wissenschaftlichen Erkenntnis war die Hingabe zum Metaphysischen ein Monopol des Glaubens, was die SS somit unweigerlich ebenfalls „in den Bannkreis des Religiösen“ 58 befördern sollte. Da nun der christliche Glaube mit der Institution „Kirche“ verknüpft war, musste zur erfolgreichen Schulung der SS-Ideologie eben auch diese Organisationen bekämpft und ihre „Weltanschauung“ verdrängt werden. Als Ersatz des katholischen Glaubens wurde versucht, einen Ahnenkult zu installieren, welcher in dieser Form angeblich auf germanischen Riten fußen sollte. Somit konnten die SSMänner im „Banne mythischer Bilder“ 59 gefesselt werden. In diesem SS-germanischen „Glaubensbekenntnis“ 60, welches eine eigene Metaphysik sowie sakralen Rituale entwickelte, lag die wesentliche Erkenntnis, dass „die Verehrung der Ahnen für ein Volk der Lebensquell“ 61 sei. Die SS-Männer sollten im „Reich“ ihre Erlösung finden, was dem Reichsbegriff eine dezidierte germanisch-religiöse Komponente verlieh. Die Suggestion von Seelenwanderung und gemeinschaftlicher fortwährender Existenz im Glauben der Volksgemeinschaft sollte die Heils53 Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 27–28. Hierzu: RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 10. 54 Zum Klerus und dessen Einfluss auf die weltliche Politik: SSLH, Heft 12, 1937, S. 17–23; Heft 5, 1936, S. 40; Heft 6, 1936, S. 9–19; Heft 11, 1937, S. 20–25; Heft 10, 1938, S. 24–33. 55 RFSS/SS-HA: Rassenpolitik (wie Anm. 4), S. 7–9. 56 RSHA: Die Weltfreimaurerei (Schriften zur politischen und weltanschaulichen Erziehung der Sicherheitspolizei und des SD, Heft 3), Berlin, [o. J.], S. 36–41. 57 Wegner: Politische Soldaten (wie Anm. 13), S. 51. 58 Ebd. S. 52. 59 Sontheimer: Antidemokratisches Denken (wie Anm. 15), S. 78. 60 Steiner: Über das Glaubensbekenntnis der SS (wie Anm. 21), S. 206. 61 Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 16.

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vorstellung des Christentums deckungsgleich ersetzen. Dies zeigt, wie es im machtpolitischen Kalkül der Schutzstaffel lag, sich „christliche Leitbilder und Ideen politischen Zielen dienstbar zu machen“ 62. Die reellen Fortschritte der „Remissionierung“ im Sinne der SS-Ideologie blieben aber bis Kriegsende elementar. In der praktischen Umsetzung bedeutete dies, dass es möglich war „in den Reihen der Waffen-SS zu kämpfen und die Sakramente der eigenen Kirche zu empfangen“ 63. Der radikale Antikatholizismus war somit für die SS eine machtpolitische Notwendigkeit, um einerseits den Zugriff der christlichen Religionsvertreter auf die Glaubensbereitschaft der Menschen zu brechen. Andererseits handelte es sich um eine deutliche Tilgung der christlichen Prägung der deutschen Vergangenheit, welche sich nun elementar im germanischen SSReichsbegriff widerspiegeln sollte. 2. Das „Dritte Reich“ als historische Notwendigkeit? „Die ursprünglichste Legitimation von Herrschaft war immer eine historische.“ 64

Der Ursprung der historischen Argumentation zum SS-Reichsgedanken waren die Franken, welche das Fundament des „Reiches“ gelegt haben.65 Die SS legte Wert darauf, dass sie keine Kräfte für die Wanderung in den Süden aufwendeten, sondern immer „in Fühlung mit dem germanischen Mutterboden“ 66 blieben, der ihnen fortwährende Kräfte zuführte habe. Besondere Betonung widerfuhr dem Aspekt, dass sich die Franken „nicht ins Uferlose“ 67 ausbreiteten, sondern eine „gesunde Siedlungspolitik“ 68 betrieben. Die konstruierte Vorstellung war, dass diese Franken ein „rassenreines“ siedlungsorientiertes Besitztum begründeten, auf welchem das „Reich“ habe entstehen können. „Deutschland“ sei durch dieses Vermächtnis zu „eine[m] Grad innerer blutsmäßiger Einheitlichkeit“ 69 gekommen, „der ihm die schweren Kämpfe des Ausgleichsprozess[es]“ 70 erspart habe, welcher die Folge von „rassische Vermischung“ gewesen wäre. Dieses „Erste Reich“ hatte im SS-Geschichtsbild seinen Ursprung in der Person Karls des Großen, welcher als der „raue und notwendige Gründer“ 71 des 62 Ackermann: Der Widerstand der Monatszeitschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 35), S. 115. 63 Steiner: Über das Glaubensbekenntnis der SS (wie Anm. 21), S. 214. 64 Salewski, Michael: Geschichte als Waffe: Der nationalsozialistische Mißbrauch, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, 14, 1985, S. 289–310, hier S. 289. 65 SS-HA: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung (wie Anm. 10), S. 26. 66 Ebd. 67 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 6. 68 Ebd. 69 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 13. 70 Ebd. 71 SSLH, Heft 5, 1937, S. 60–61.

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Deutschen Reiches erachtet wurde. Denn erst er habe den verschiedenen Stämmen die Idee eines gemeinsamen Reiches zwingend ins Bewusstsein gebracht. Soviel auch die SS von ihrem Standpunkt gegen Karls „romfreundliche“ und somit aus Sicht der Schutzstaffel antigermanische Politik einzuwenden hatte, so vehement wurde dessen überragende Bedeutung für die Entwicklung des späteren Reiches propagiert. Der Sachsenkönig Heinrich I. habe dann „im Jahre 919 das Erste Reich der Deutschen“ 72 erschaffen und geformt.73 Nach Heinrich, der als deutscher König „vom Papste vollkommen unabhängig“ 74 erachtet wurde, seien die Nachfolger dem Kaisergedanken erlegen, dessen Schwergewicht aber in Italien lag, „wo auch der Papst die größte Macht war“ 75. Der „Reichsbegründer“ Heinrich, der innerhalb der Schutzstaffel zu einer Art Patron76 stilisiert wurde und mit welchem sich Heinrich Himmler eng verbunden wähnte77, war den historischen Quellen nach keineswegs ein radikaler Kirchengegner. Seiner Politik war weder äußerst kirchenfeindlich, noch war er der „Wehrbauer“ im Osten, zu dem der Sachse innerhalb der SS konstruiert wurde.78 Heinrich lehnte zwar die Einmischung in römische Angelegenheiten und somit die Kaiserkrone ab. Dass dieser „Patron“ auf einen Romzug verstarb, wurde von der SS bewusst verschwiegen. Er galt für Himmler als Lichtgestalt des germanisch-reichsdeutschen Widerstandes gegen Fremdherrschaft.79 So seien im Gegensatz die anderen „deutschen

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SSLH, Heft 10, 1938, S. 1. Besonders hier ist die Kollision der Geschichtsdarstellung erkennbar. Werden signifikant SS-Quellen untersucht, gilt Heinrich I. als der Begründer des Reiches. Innerhalb anderer NS-Chroniken steht dagegen Karl der Große im Vordergrund und Heinrich bleibt stellenweise völlig unerwähnt. 74 SSLH, Heft 5, 1937, S. 7. 75 Ebd. 76 SK, 1. Juli 1937; 9. Juli 1936; 8. Juli 1937; 26. November 1936; 18. Juni 1936. Himmler, Heinrich: Rede des Reichsführers SS im Dom zu Quedlinburg. Am 2. Juli 1936, Berlin 1936, S. 20. Himmler über die bewusste Initiierung einer SS-Tradition in Quedlinburg am vermeintlichem Grabe Heinrichs I.: „Wir wollen und werden hier eine Tradition schaffen, ungekünstelt wachsen lassen, damit auch ferne Zeiten zu des Volkes Nutz und Frommen die Früchte solcher Selbstbesinnung ganz besitzen. [. . .] Jahr für Jahr halten die kommenden Führer der Schutzstaffeln besinnliche Wache an diesem deutschen Heiligtum.“ SK, 7. Juli 1938. 77 Die Einschätzungen in der Forschung zu dieser „Nähe“, die Himmler in Bezug auf Heinrich I. gefühlt habe, gehen von der Verehrung als „Idol“ bis hin zu dem Glauben, das sich der Reichsführer als Reinkarnation des Sachsenkönigs gesehen habe. Letztere Annahme kann aufgrund des Quellenmaterials, welches sich auf Aussagen von Himmler nahestehenden Personen nach dessen Tode stützt, nicht zugestimmt werden. Steiner: Über das Glaubensbekenntnis der SS (wie Anm. 21), S. 207. Ackermann: Himmler (wie Anm. 10), S. 60–62. Longerich: Himmler (wie Anm. 51), S. 440. 78 Himmler: Rede des Reichsführers SS im Dom zu Quedlinburg (wie Anm. 76), S. 11. 79 Himmler: Rede des Reichsführers SS im Dom zu Quedlinburg (wie Anm. 76), S. 11–12. 73

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Herrscher immer wieder gezwungen“ 80 gewesen, „sich in italienische Verhältnisse einzumengen“ 81. Das Engagement in Italien, das Streben nach der Kaiserkrone und die Verpflichtung auf den christlichen Kreuzzügen, wurden für die SS zum Gradmesser für die deutschen Könige des Mittelalters.82 Diese Herrscher seien, je näher sie der Kirche standen, bedeutungsloser für das Wohl des deutschen Volkes und die Macht des „Reiches“ gewesen. Der endgültige Niedergang des „Reiches“ in der SS-Mediävistik sei mit dem Tode von Friedrich II. von Hohenstaufen gekommen. Dieser Kaiser galt als der letzte germanische Herrscher, der sich gegen den Papst behauptete und das „Reich“ stärkte.83 Mit Friedrich endete für die SS das „Reich des Mittelalters“ 84, welches als die „Generalprobe des deutschen Volkes“ 85 in der Führung des Abendlandes gesehen wurde. Danach hätten die „religiös-verpflichtenden Aufgaben des Kaisertums“ 86 die „alte germanische Sittlichkeitsvorstellung von Treu und Glauben“ 87 gegenüber Volk und Reich vernichtet. Die Kaiser wären dem „unbedingten Gehorsam gegenüber dem Papste unterworfen“ 88 gewesen und das „Reich“ sei zum Instrument seiner

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SSLH, Heft 5, 1937, S. 7. Ebd. 82 Otto I, dem Sohn Heinrichs I. dessen „Nähe“ zur Kirche innerhalb der SS-Chronik ein großer Makel war. SSLH, Heft 5, S. 9; RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 11–12; SS-HA: Der Kampf um die deutsche Ostgrenze. Ein Längsschnitt von der frühgermanischen Zeit bis zur Jetztzeit. Nur für Führer Grenzkampf Ost, Berlin 1941, S. 11; SS-HA: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung (wie Anm. 10), S. 29–30; SD des RFSS: Schulungsleitheft für SS-Führungsanwärter, [o. O., o. J.], S. 19. 83 SSLH, Heft 7, 1937, S. 6. Friedrichs „Staat“ in Sizilien wurde durch die von der SS unterstellte Kirchenfeindlichkeit und der suggerierten drakonischen Disziplin von der SS besonders gewürdigt: „wie uns Friedrichs sizilianische Gesetzgebung [. . .] als eine frühe Parallele zum Gesetzeswerk des Dritten Reiches erscheint“. SSLH, Heft 5, 1937, S. 31. Die SS würdigte die „Staatsgründung“ des Staufers in Sizilien und sah in diesem „Staat“ einen Vorläufer der Moderne, da hier idealtypisch das Verhältnis von Herrscher und Volk als umgesetzt betrachtet wurde. Hierzu auch: Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, S. 16. Friedrichs Widerstand gegen den Papst galt als die bedeutendste Tat des Herrschers. Mit seinem Tode endet für die SS die Hochzeit des deutschen Mittelalters und es begann ein Abstieg des „Reiches“ bis zum Tiefpunkt des Dreißigjährigen Krieges. Hierzu: SSLH, Heft 5, 1937, S. 9–10 u. 29–32; Heft 2, 1942, S. 12; Heft 1, 1942, S. 31; Folge 2, 1939, S. 10–16; SS-HA: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung (wie Anm. 10), S. 32; RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 17–18. Zum Konflikt Kaiser und Papsttum SSLH, Heft 5, 1937, S. 46–50. Bei Friedrich begann für die SS auch eine Kontinuität des Widerstandes gegen die römische Bevormundung: „Friedrichs Leben war ein einziger Kampf gegen den römischen Aberwitz; Luther hat den Kampf fortgesetzt und wir kennen unseren Platz.“ SSLH, Heft 5, 1937, S. 32. 84 RFSS/SS-HA: SS-Handblätter für den weltanschaulichen Unterricht, Broschüre 7, Thema 9, 1944, S. 9. 85 Ebd. 86 SSLH, Heft 5, 1937, S. 10. 87 Ebd. S. 9. 88 Ebd. 81

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eigentlichen Feinde geworden.89 Diese Bevormundung durch diese „Feinde“ habe dazu geführt, dass der für die SS notwendige Glauben ans Metaphysische im Reichsbegriff, dem germanischen Gemeinschaftsgedanken, immer schwächer geworden sei. Bis schließlich seine Feinde den finalen Schlag im germanischen Bürgerkrieg und dem folgenden „Diktatfrieden“ führten. Im Geschichtsbild der SS stellte dieses Ereignis, welches unter dem Begriff „Westfälischer Frieden“ 90 bekannt ist, die größte Zäsur und Niederlage für das „Reich“ und dem „germanisch-deutschen“ Mutterboden dar.91 Obwohl 1648 für die SS der absolute Tiefpunkt der Geschichte erreicht war, gab es in dieser deutsch-germanischen Erzählung einen Aspekt, welchem stete Würdigung widerfuhr. Dem perfekten Triumph der Reichsfeinde wurde die neue Kraft gegenübergestellt, die sich im germanischen „Corpus“ geregt habe. Die Wiederauferstehung des „Reiches“ habe durch ein Volk aus dem „Herzen Germaniens“ begonnen. Preußen war „erwacht“ und somit sei für die europäische Geschichte eine neue Zeitrechnung angebrochen.92 Das kleine preußische Fürstentum, welches durch seine von der SS suggerierte „rassische“ Überlegenheit bald zum „Führerstaat [und] zur Großmacht in Europa“ 93 aufsteigen sollte, galt nunmehr als neuer Lebensquell des wiedergeborenen „Reiches“. Der preußisches König Friedrich der Große wurde zum Heros dieses neuen „Reiches“ stilisiert.94 Hierfür wurden beispielweise im „Schwarzen Korps“ die Gespräche des Königs mit Voltaire aufgegriffen. Der französische Philosoph wurde als Nichtkenner der innerdeutschen Angelegenheiten dargestellt. Als Kontrast hierzu erklärte der weitsichtige Preußenkönig dem Franzosen seine Reichsidee: „Das Reich ist mehr als Preußen und Österreich zusammen. Das Reich ist auch mehr als nur ein Staat. Aber der Stärkste darf nicht gegen das Reich sein, der Stärkste muß der Anfang sein.“ 95 Die Essenz der suggerierten Begeisterung Friedrichs für ein preußisch geführte „Reich“ war der Appell für eine „germanische Ordnung“ und eine tiefe Ablehnung der römisch-habsburgerischen „Dekadenz“.96 89 Himmler, Heinrich: Sicherheitsfragen. Vortrag, gehalten auf der Befehlshabertagung am Bad Schachen am 14. Oktober 1943, in: NS-Führungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht (Hrsg.), [o. O.] 1943, S. 13. 90 SSLH, Folge 10a, 1940, o. s. Artikel: „Der Führer verhindert einen neuen Westfälischen Frieden“. Sowie: SSLH, Heft 1, 1938, S. 59–69; SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre 6, Thema 8, S. 9, 1944; RFSS/SS-HA (Hrsg.): Bilder und Bauten. Ein Handbuch für den Unterricht in der SS, [o. O., o. J.], S. 40. 91 Wegner: Politische Soldaten (wie Anm. 13), S. 62–63. 92 SSLH, Folge 10a, 1942, S. 4. 93 SSLH, Heft 3, 1942, S. 6. 94 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 35. Alfred Bäumler nannte dagegen Friedrich dagegen den „Reichsrebell“. Bäumler, Alfred: Friedrich der Große und der Reichsgedanke, in: Wissen und Wehr, 20, Heft 3, 1939, S. 164–171, hier S. 171. 95 SK, 2. Februar 1939. 96 Ebd.

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Diese Preußen besaßen nach Darstellung der Schutzstaffel ein neues Pflichtverständnis, das „ihr König ihnen vorlebte“ 97 und das dessen „Offiziere vorstarben“ 98 und leisteten somit „ihren Teil zur Formung eines starken und später einigen Reiches“ 99. Auch habe jener preußische Aufstieg, welcher, „aus mehr als 200jähriger Zersplitterung und Uneinigkeit, in die das germanische Herz Europas seit dem 30jährigen Krieg hineingeraten war“ 100, „das Reich Bismarcks“ 101 hervorgebracht. Der preußische Ministerpräsident hatte die „deutschen Länder im Jahre 1871 zum Zweiten Reich der Deutschen“ 102 geeint, doch blieb bei allem „Jubel und aller Zustimmung, doch das Gefühl“ 103, dass dies noch „keine Vollendung bedeutete, sondern eine Anwartschaft“ 104 erhoben habe. Adolf Hitler korrigierte aus Sicht der SS diesen Makel, als er „am 30. Januar 1933 das Dritte Reich der Deutschen“ 105 begründete und endlich der germanische Weg des Reiches eingeschlagen worden sei. An diesem Tage erschien für die SS und somit suggestiv für alle „Germanen“ endlich „das frühe Rot einer neuen, jubelnden Sonne“ 106. Damit sei der Weg zum neuen Europa frei geworden, worin das „Reich“ seine „alte geschichtliche Mission“ 107 als „der Garant und Gestalter der Ordnung, der Wahrer und Hüter des Friedens“ 108 auf dem Kontinent endlich wieder aufgenommen habe. Für die Schutzstaffel war somit das „germanisches Zeitalter“ 109 Europas angebrochen. 3. Das germanische Reich als Garant Europas? „Europa als ganzes steht und fällt mit dem Vorhandensein eines starken Reiches“ 110

Wie bereits angedeutet, war der SS-Reichsbegriff eng mit einer SS-Europavorstellung verknüpft. Dieser Dualismus von „Europa – Reich“, der zunächst elementar blieb und mit dem Feldzug gegen die Sowjetunion massiv an Gewicht zulegte, war eines der markantesten Kennzeichen der autarken SS-Ideologie. Pro-

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SK, 26. Oktober 1944. Ebd. 99 SSLH, Folge 12b, 1941, S. 4. 100 RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 2. 101 Ebd. 102 SSLH, Heft 10, 1938, S. 1. 103 SK, 8. August 1940. 104 Ebd. 105 SSLH, Heft 10, 1938, S. 1. 106 SSLH, Folge 11a, 1941, S. 5. 107 Himmler, Heinrich: Das politische Konzept der Feindmächte, Berlin 1944, S. 40. 108 Ebd. RFSS/SS-HA: Europa und der Bolschewismus, Berlin 1944, S. 40. 109 RFSS/SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre 6, Thema 8, 1944, S. 10. 110 Ebd. S. 11. 98

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pagandistisch sollte vor allem ein germanisches Gemeinschaftsgefühl bei den jungen Männern in den vom Reich besetzten, als germanisch erachteten Gebieten erweckt werden, welches den russischen „Sowjetimperialismus“ als primäres Feindbild inne haben sollte.111 Die propagierte Vorstellung, dass sich die „auserwählten“ Völker Europas in einer pangermanischen Bewegung vereinen würden, um unter dem Banner des „Reiches“ nach Osten zu ziehen, blieb Fiktion. Dies galt auch für das seit 1943 immer wiederkehrende Postulat, dass in der Einheit der Waffen-SS die europäische Gemeinschaft bereits verwirklicht sei und die germanische Jugend die alte Pflicht des „Reiches“, „den Schutz des Abendlandes“, erfülle.112 Da sich nicht alle „Germanen“ angeschlossen hatten, blieb das germanische „Reich“, dass „auf den Schlachtfeldern des Osten geboren“ 113 hätte werden sollen, als ein Europakonstrukt „das ferne Paradies“ 114 der Schutzstaffel. Innerhalb der SS wurde hierzu das Leitmotiv propagiert, dass die Staffel „die erste Organisation ist, welche bewußt zum ,Reich strebt‘“ 115, was ihr diesbezüglich eine Erstverfügungsposition einräumen sollte. In einer eschatologischenbellizistischen Konstruktion wurde Europa nach Auffassung der Schutzstaffel in den verschiedenen Zeitaltern durch Mächte aus dem Osten physisch, kulturell und weltanschaulich bedroht.116 Dies hätte zur Folge gehabt, dass sich in jedem Zeitalter große germanische Herrscher und eine Schar Getreuer zum Schutze Europas geopfert hatten. Zunächst soll die rassisch-kulturelle Genese Europas aus Sicht der Schutzstaffel skizziert werden. Kurz nachdem sich „Europa“ als Raumvorstellung durch die Hellenen in der Antike etabliert hatte, seien diese durch ihre „eugenische“ Defizite untergegangen. Dies bedeutete, dass auch Alexander dem Großen lediglich als Militaristen Würdigung entgegengebracht wurde.117 Die Römische Republik konnte dann, nach Konstruktion der SS zwar auf eine rassisch „einwandfreie“ bäuerliche Bevölkerung zurückgreifen, was als die Grundlage der Expansion erachtet wurde.118 Der Untergang sei zum einem durch die imperiale Ausdehnung verursacht worden. Zum anderem kritisierte die SS das Fehlen rassischer Prinzipien im römischen Rechtssystem. Indem einerseits das römische Bürgerrecht aus111 RFSS/SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre 6, Thema 8, 1944, S. 10. SSLH, Heft 9/ 10, 1943, o. s. Artikel: „Europa und Wir Bekenntnis eines Norwegers“. 112 RFSS/SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre 7, Thema 9, 1944, S. 9. 113 SSLH, Heft 6, 1943, S.13. 114 SSLH, Heft 12, 1943, S. 4. 115 SSLH, Heft 9/10, 1943, S. 10. 116 SSLH Heft 3, 1944, S. 29. 117 Seine Vernichtung sei dem ebenfalls arische Persien nur deshalb wiederfahren, da es in Alexander dem Großen einem Gegner gegenüberstand, der den „Überlegenheit garantierenden Typus“ des „Ariers“ „viel reinblütiger“ vertreten habe. SK, 22. Oktober 1936. Zum Fall des Persischen Reiches im selben Sinne: SK, 29. Juni 1939. 118 SK, 5. November 1936, S. 11.

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geweitet und gleichzeitig keine adäquate Siedlungspolitik betrieben wurde, sei der Untergang unvermeidlich geworden.119 Obwohl als letzter bedeutender Zug der römischen Kaiser gewürdigt wurde, dass sie die „rassisch“ noch hochwertigen Germanen in ihre Provinzen strömen ließen, habe dies nicht mehr gereicht, um einen genetischen Ausgleichsprozess zu etablieren.120 Die daraus resultierende Schwäche habe sich dann als entscheidender Nachteil erwiesen, als die so genannte erste Welle Europa bedrohte: „Die Völkerwanderung im 4. Jahrhundert wurde durch den Ansturm der Hunnen, eines Reitervolkes aus Innerasien, gegen die damalig germanischen Gebiete ausgelöst.“ 121 Die Römer waren nach SS-Ansicht erst in einer letzten Verzweiflungsschlacht bei den Katalaunischen Feldern zur Abwehr dieses Ansturms von „Untermenschen“ fähig gewesen. Der eigentliche Sieg wurde nicht dem römischen Feldherren Aetius zugeschrieben, sondern dem Gotenkönig Theoderich. Die inzwischen kulturell, militärisch und eugenisch als degeneriert beschriebenen Römer seien durch den Verrat an Ihrer Rasse dazu alleine nicht mehr in der Lage gewesen. Zudem wurden den Römern vorgeworfen, das Opfer der Germanen für ganz Europa nicht geschätzt zu haben.122 Als Konsequenz habe Asien längere Zeit benötigt, um seine „Völkermasse“ 123 erneut gegen Europa zu mobilisieren: „Im 8. Jahrhundert begann der Vorstoß der Ungarn. Durch drei Jahrhunderte hindurch lastete dieser Albdruck auf Europa.“ 124 Diese zweite Welle wurde ebenfalls als slawisch und somit „minderwertig“ erachtet. Dabei galt jener zweite Ansturm in der SS-Geschichtsdarstellung als besonders verwerflich, da die Ungarn als heimstückische, verräterische und brutale Kämpfer erachtet wurden.125 Doch stand mit Heinrich I. ein „Führer“ dieser neuen Welle mit seiner Schar entgegen. Dem SS-Patron wurde ein übermächtiger Gegner gegenüber gestellt, um somit dessen Erfolge als noch bedeutender zu suggerieren. Heinrich galt als Verteidiger und „Führer“ des Reiches, der seinen Epigonen ein wehrhaftes und stabiles Staatsgebilde hinterließ. Sein Nachfolger Otto I. sei dem „Sündenfall“ 126 der Christianisierungsidee und der 119 SK, 19. November 1936; RFSS/SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre Nr. 6, Thema 8, 1944, S. 8. 120 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 4. 121 RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 6–7. 122 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 4; SS-HA: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung (wie Anm. 10), S. 25. 123 RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 7. 124 Ebd. S. 6–7. 125 SS-HA: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung (wie Anm. 10), S. 29. 126 SSLH, Heft 5, 1937, S. 58–62. Heydrich, Reinhard: Wandlungen unseres Kampfes, München 1935, S. 8.

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Kaiserkrone erlegen. Doch konnte er trotzdem auf Grundlage von Heinrichs Errungenschaften einen heroischen Sieg auf dem Lechfeld erringen und somit die zweite Welle endgültig vernichten.127 Der Aufbau eines mongolisch-asiatischen Großreiches unter Dschingis-Khan im 13. Jahrhundert wurde von den SS-Geschichtsschreibern als dritte Welle gegen Europa beschrieben.128 Germanien sei durch die Macht des Papstes in Zwietracht geraten und so habe es an Wenigen gelegen, sich für Europa zu opfern, auch wenn aus Verblendung durch Rom viele Germanen diesem Beispiel nicht folgen wollten. Die Schlacht von Liegnitz wurde zum „Opfertod der Zehntausend“ 129 stilisiert. Wieder sei Europa nur durch den heldenhaften Einsatz germanischer Ritter gerettet worden.130 Die osmanischen Expansionsbestrebungen im 16. und 17. Jahrhundert galten als die vierte Bedrohungswelle. So habe es auch bei den Belagerungskämpfen Wiens 1529 und 1683 an einer Schar germanischer Helden gelegen durch ihren Opfertod die Freiheit Europas zu wahren.131 Himmler konstatierte hierzu, dass immer wieder ein „asiatischer Führer“ „chaotische Völkermassen“ 132 gegen Europa organisierte. Aus Folge hiervon wurde erachtet, dass das „Reich“ stets die Verteidigerrolle der abendländischen Kultur übernommen habe.133 Anders als bei der Abwehr der bisherigen vier Wellen sollte durch den Nationalsozialismus, der als ein Geschenk des von „Gott gesandten“ 134 Führers Adolf Hitlers gepriesen wurde, das germanische Europa seine Einheit finden. Als das große Ziel galt, bei einer fünften Welle diesmal gemeinsam und ohne Zwietracht anzutreten. Diese letzte Welle wurde mit dem Bolschewismus identifiziert, in welchem alle Todfeinde der germanisch-abendländischen Kultur zum finalen Schlag als vereint suggeriert wurden.135 Nach Hunnen, Ungarn, Mongolen sowie Osmanen seien nun die Bolschewisten gekommen. Himmler sah sich und seine SS hierbei als die „Paladine“ Adolf Hitlers, welche die finale fünfte Welle brechen sollten, die in einem stets wiederkehrenden Bedrohungsszenario prophezeit wurde.136

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RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 11. RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 6–7. 129 SSLH, Folge 1, 1941, S. 9. Hierzu: SSLH, Folge 1, 1941, S. 1 u. 10–12. 130 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 11. 131 RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 6–7. 132 Ebd. S. 7. 133 SSLH, Heft 3, 1944, S. 29. 134 RFSS: Eine Rede des Reichsführers SS. 26. Juli Truppenübungsplatz Bitsch, Berlin 1944, S. 27. 135 SSLH, Heft 3, 1944, S. 29. 136 RFSS/SS-HA: Sicherung Europas, Berlin 1942, S. 16–20; RFSS: „Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!“ (wie Anm. 45), S. 7. 128

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In der Geschichtsdarstellung der SS wurden auch andere Großreiche mit einem europäischen Auftrag zur germanischen Ordnung Europas ausgestattet: „Immer von neuem wird daher der Versuch gemacht, die widerstreitenden Interessen in eine gewisse Abstimmung zu bringen. Alle diese Versuche kranken an dem Übel, daß sie vom Rande des Kontinents und folglich von einer zu schmalen Basis aus unternommen werden.“ 137 So musste neben den Spaniern, den Briten und Napoleon, welcher von der SS-Geschichtsschreibung zum großen germanischen Heros umfunktioniert wurde, mit seinen Feldzügen zur Einigung aller Germanen scheitern.138 Denn nur „von der Mitte Europas und nicht von seinen Rändern her entfalten sich die Kräfte, die die Bindung aller isolierten und fliehenden Teile an ein Ganzes fordern.“ 139 So wurde für die SS „das deutsche Volk [. . .] zum Vollstrecker der europäischen Aufgabe des Reiches: Schutz und Schirm des Abendlandes nach Außen [. . .] und Walter einer gerechten Ordnung nach innen.“ 140 4. Die Reichsbegründer von König Heinrich I. bis Hitler „Von den Gefolgsleuten des germanischen Herzogs und den ritterlichen Dienstmannen der Kaiser über die Brüder vom Deutschen Hause und die Offiziere Friedrichs des Großen führt eine gerade Linie arteigener Lebensgestaltung zu den grauen und schwarzen Kolonnen Adolf Hitlers.“ 141

Zentrale Struktur der SS-Geschichtsdarstellung war die Heldenverehrung. Die Schutzstaffel war somit vom Einfluss des Historismus geprägt, bei dem die Vorstellung dominierte, dass einzelne herausragende Persönlichkeiten die Entscheidungsträger geschichtlicher Prozesse sind. Dabei fanden nicht nur Könige oder Heerführer Einzug in die Reichserzählung, sondern auch diejenigen historischen Persönlichkeiten, welchen die SS kulturelle Verdienste am deutschen Volke zuschrieb. So wurde beispielsweise Walther von der Vogelweide als geistig-politischer Führer in der mittelalterlichen Kaiserzeit zum „Mittler zwischen Volk und Thron“ 142 erklärt, der sich dem Einfluss Roms widersetzt habe. Ulrich von Hutten war für die SS der Vordenker einer deutschen Nation und stand somit „für das Freiheitsringen der deutschen Seele“ 143, was der Schutzstaffel als vorbildlich galt.144 Martin Luther habe dann die Romknechtschaft beendet und wurde „als Garant der inneren Glaubenskräfte des ewigen Deutschlands“ 145 konstruiert. 137

RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 22. Ebd. S. 22–30. 139 SK, 14. Mai 1942; RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 22. 140 RFSS/SS-HA: SS-Handblätter, Broschüre 7, Thema 9, 1944, S. 9. 141 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 19. 142 SSLH, Folge 1b, 1941, S. 6; SSLH, Heft 5, 1937, S. 63–66. 143 SSLH Heft 9, 3. Jg., 1938, S. 81. 144 Ebd. S. 13–20 u. 80–84; SSLH, Folge 7b, 1940, o. s. Artikel: „Herrn Huttens heil’ge Stunde“. 138

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Aber die politischen und militärischen Protagonisten bildeten quantitativ die Mehrheit. Der erste große germanische „Führer“ in der Geschichtsdarstellung der SS war Arminius der Cherusker146, „der Befreier Germaniens“ 147. Der Germanenfürst brachte für die Staffel nicht nur den römischen Feldherrn Varus 9 n. Chr. eine verheerende Niederlage bei, sondern er habe versucht, „ein GroßGermanien aufzurichten“ 148. Obwohl Arminius in seiner ihm unterstellten Zielsetzung scheiterte, war für die SS „das von ihm Erreichte schon so bedeutend, daß er zu den ganz Großen unserer Geschichte gerechnet werden muß“ 149. Für die SS spiegelte das Leben des Arminius aber auch die „germanische Tragödie“ 150 wieder. Der junge Cherusker habe die Volkseinheit Roms kennengelernt und es sei somit „das Ziel seines Lebens“ 151 geworden diesen Einheitsgedanken auch in Germanien zu etablieren. In den Erzählungen der SS zu Arminius wurde darauf Wert gelegt, dass seine Einheitsbemühungen zum Wohle aller Germanen durch die Zwietracht und den Verrat aus den eigenen Reihen zunichte gemacht worden seien.152 Dieser Niedergang habe wiederum die absolute Notwendigkeit

145 SSLH, Heft 9, 1938, S. 67; auch: SK, 14. Oktober 1937; 26. Oktober 1944. SD des RFSS: Schulungsleitheft für SS-Führungsanwärter (wie Anm. 82), S. 24; SSLH, Heft 9, 1938, S. 66–79. 146 Arminus der Cherusker wurde als Hermann der Cherusker im deutschnationalen Bewusstsein populär. Hitler hatte dagegen die Auffassung, dass Arminius und die Germanen nur in der Lage waren, die Römer zu besiegen, da sie das Kriegshandwerk bei ihnen selbst gelernt hätten. Hitler am 21. Oktober 1941 im Führerhauptquartier, in: Jochmann: Adolf Hitler (wie Anm. 9), S. 98. Hausmann, Heinrich: Sie alle bauten Deutschland. Deutsche Geschichte in Einzelbildern, Breslau 1940, S. 5–12. 147 Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 13. 148 SSLH, Heft 2, 1937, S. 24. 149 SSLH, Heft 2, 1937, S. 24. 150 SSLH, Folge 1b, 1941, S. 4. Diese Tragödie liegt in der steten Zwietracht der Germanen, die eine erfolgreich germanische Politik in der frühen Geschichte der „Rasse“ verhindert hätte. SSLH, Folge 1b, 1941, S. 4; SSLH, Heft 2, 1937, S. 24. Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 15. So seien auch die Züge der Kimbern und Teutonen gescheitert. Diese germanischen Stämme brachten den römischen Truppen zwischen 113 und 105 v. Chr. Niederlagen bei, bevor sie schließlich 102 und 101 v. Chr. vernichtend geschlagen wurden. Die SS erklärt sich die Niederlage der wandernden Stämme durch deren Uneinigkeit untereinander und der Weigerung, sich unter der Stimme eines einzigen „Führers“ zu vereinen. Dieser „Ungehorsam“ musste für die SS zur Vernichtung führen. Den Germanen wäre aus Perspektive der SS der Erfolg sicher gewesen, wenn diese „germanischen Völker einiger gewesen wären, wenn sie vor allem in ihrer Heeresführung ein klares Führerprinzip gehabt hätten.“ SSLH, Heft 2, 1937, S. 15–16. Auch die Schlacht von Argentoratum 357 n. Chr., die Schlacht bei Straßburg der Römer gegen die Alemannen, sei auf das Versagen des Gefolges zurückzuführen. SSLH, Heft 10, 1936, S. 7. 151 SSLH, Folge 1b, 1941, S. 4. 152 Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 13.

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des Gehorsams gegenüber einer Führung belegen und gleichzeitig die Unterlegenheit einer pluralistischen Ordnung darlegen sollen.153 Die SS beklagte nach dem Niedergang des Arminius eine lange Vakanz von „germanischer Führerschaft“. Erst mit Heinrich I., welcher das Erbe Germaniens wiederaufgenommen habe, etablierte sich die nächste „germanische Führergestalt“ im Geschichtsbild der Schutzstaffel. Der Sachse sei ein „Führer“ gewesen, der „seine Gefolgsleute an Kraft, Größe und Weisheit überragte“ 154. Dieser König habe sich als der „Erste unter Gleichen“ 155 bezeichnet. Die SS suggerierte, dass die Bevölkerung ihm aufgrund seiner persönlichen Führungseigenschaften „eine größere und wahre[re] menschliche Ehrfurcht“ 156 entgegenbrachte als späteren Kaisern. Die SS-Darstellung sah in Heinrich den Entscheidungsträger, der das Fundament einer neuen staatspolitischen- und rassischen Entwicklung gelegt habe.157 Das von ihm geschaffene Reich sei „die Wiege [. . .] des Großdeutschlands“ 158 Adolf Hitlers gewesen, „der nach tausend Jahren König Heinrichs menschliches und politisches Erbe wieder aufnahm“ 159. Nur wenige germanisch-deutschen Anführer konnten in der SS-Darstellung den Reichsgedanken solche entscheidenden Impulse zuführen wie der Preußenkönig „Friedrich II.“.160 Dieser wurde somit eine zentrale Figur der SS-Geschichtsinterpretation. Schwerpunktmäßig wurde im Leben des Königs der Siebenjährige Krieg, insbesondere die Niederlage in der Schlacht von Kunersdorf, behandelt. Die Person Friedrichs war in der Konstruktion der SS ein „heroischer Geist“ 161, dessen Leben drei Zielen gedient habe: 1. Einer sogenannten „germanischen Freiheit im Denken und im Glauben“ 2. Dem „Siege des Pflichtgedankens“. 3. Der Verwirklichung des „Prinzip von Führung und Gefolgschaft“ 162. Das Verantwortungsgefühl, und Pflichtverständnis, welches die Schutzstaffel dem preußischen König zuschrieb, sei ausschlaggebend für die Wende des Siebenjährigen Krieges gewesen.163. Somit wurde der Krieg im SS-Verständnis

153 154

SSLH, Heft 2, 1937, S. 21–24; Folge 1b, 1941, S. 3–4. Himmler: Rede des Reichsführers SS im Dom zu Quedlinburg (wie Anm. 76),

S. 14. 155 156 157 158 159

Ebd. S. 17. Ebd. SK, 8. Juli 1937; 7. Juli 1938; SSLH, Heft 4, 1937, S. 26–30. SSLH, Folge 3, 1939, S. 42. Himmler: Rede des Reichsführers SS im Dom zu Quedlinburg (wie Anm. 76),

S. 20. 160

SSLH Folge 2b/3a, 1940, o. s. Artikel: „Friedrich der Große“. Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 17. 162 SSLH, Folge 2b/3a, 1940, o. s. Artikel: „Friedrich der Große“. 163 SSLH, Folge 2, 1939, S. 25. 161

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nicht nur zur „Geschichte einiger großen Siege eines Genies“ 164, sondern Friedrichs Kampf galt als Zeichen der „Standhaftigkeit“ 165 und „des Erleidens von Schicksalsschlägen“ 166. Dieser Aspekt wurde besonders mit der Verschlechterung der Kriegslage des „Dritten Reiches“ verstärkt betont. Preußen wurde soweit mit Friedrich identifiziert, so dass „das wesentliche im Werdegang Preußens zu Macht und Größe [. . .] die Persönlichkeit und das Vorbild seines großen Königs“ 167 gewesen sei. Diese Identifikation von Anführer, Staat und Volk wollte die SS auch auf das „Dritte Reich“ beziehen und somit Hitlers Herrschaftsansprüche auf preußische Tradition stützen. Als Konsequenz diente es somit als Schaffung einer eigenen Legitimationsgrundlage. Die Reichsgründung in Versailles am 18. Januar 1871168 war dann der bedeutendste Aspekt für die SS bei der zweiten preußischen Figur in der Reichsgeschichte. Denn „unter all den Männern, die es beanspruchen können, ebenfalls Wegbereiter des neuen Reiches gewesen zu sein, ragt einer in gewaltiger Einsamkeit heraus: Bismarck“ 169. Er war für die Staffel ein „Tatmensch größten Ausmaßes“ 170 und „das Herz des Volkes“ 171 habe „mit Stolz für Bismarck und seine Führung“ 172 geschlagen. Für die SS war er ein germanischer Führer, der verantwortungsbewusst gegen alle Widerstände von Katholizismus, Liberalismus und Marxismus standhielt.173 Seine ihm zugeschriebene Mäßigung, die niemals zugelassen habe, dass „er über das gesteckte Ziel hinaus“ 174 ging, wurde von der SS verehrt, da er sich nicht „vom Erfolg des Augenblicks fortreißen“ 175 ließ. Der Fürst sei im Siege oder Niederlage immer dem germanischen Gleichmut treu geblieben. Es ist bemerkenswert, dass an dieser Stelle konstatiert werden kann, dass 164 Himmler, Heinrich: Rede des Reichsführers SS vor den Wehrkreisbefehlshabern und Schulkommandeuren. Am 21. September 1944 in Jägerhöhe, [o. O.] 1944, S. 15. 165 Ebd. 166 Ebd. In der SS-Darstellung wurde betonte, wie die Treue der Armee zu Friedrich nach Kunersdorf es ihm ermöglicht habe den Feldzug erfolgreich zu beenden. Himmler: Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation (wie Anm. 23), S. 17. 167 SSLH, Folge 2b/3a, 1940, o. s. Artikel: „Friedrich der Große“. 168 Die SS sah hierin die Krönung des bismarckschen Werkes, der dies weitestgehend ermöglicht habe. Hierzu: SS-HA: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung (wie Anm. 10), S. 45–46. 169 SK, 23. Februar 1939. Zu Otto von Bismarck im SS Geschichtsbild im Detail: Wenzl, Gerhard: Konstruktion und politische Instrumentalisierung von Geschichte durch die SS. Das Beispiel Otto von Bismarck, in: Raasch, Markus (Hrsg.): Die deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2011, S. 177–192, hier S. 185–192. 170 SK, 22. April 1937. 171 SSLH, Folge 11b, 1941, S. 4. 172 Ebd. 173 SK, 22. April 1937. 174 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 39. 175 Ebd.

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die SS die Mäßigungen in Bismarcks Politik offensichtlich befürwortete. Bismarcks Auseinandersetzung mit den „inneren Feinden“ seiner Politik im so genannten „Kulturkampf“ 176 und den Sozialistengesetzen 177 wurde in der SS-Geschichtsschreibung grundsätzlich anerkannt. Doch ist an dieser Stelle bei Bismarck durchaus auch Kritik anzutreffen. Der Vorwurf, den die Staffel gegenüber dem Fürsten erhob, war, dass er „die jüdische Gefahr“ 178 nicht erkannte, welche das „Reich“ bedroht habe. Dies verdeutlicht wiederum die Relevanz des Antisemitismus in der Ideologie der SS. Denn während Bismarck als Mensch und hinsichtlich seiner Politik sonst nur Zuspruch erfährt, hielt es die SS für notwendig, ihn in seinem Verhalten gegenüber den Juden zu kritisieren. Bismarcks Größe hebt sich für die SS nochmals hervor durch den Vergleich mit den als unfähig erachteten „Epigonen“ 179, die nicht in der Lage gewesen seien das Einigungswerk des Reichgründers fortzuführen.180 Als Fazit blieb, neben der Würdigung der Erfolge der Politik Bismarcks, die Kritik, dass er „den weltanschaulichen Kampf, das Ringen um die Seele des deutschen Volkes mit dem Schatten der Vergangenheit [. . .] noch nicht aufzunehmen“ 181 wagte. Er sei seiner Zeit politisch und seelisch weit voraus gewesen, was letztlich auch seinen Untergang verursacht habe. Die SS-Geschichtsdarstellung kam aber zu dem Schluss, dass Otto von Bismarck wohl noch „zu sehr ,Staatsmann‘ und zu wenig ,Führer‘“ 182 gewesen sei. Dies verdeutlicht neben dem Antisemitismus auch die Relevanz des Vorhandenseins einer Ideologie für die SS. Der „Führer“ Adolf Hitler habe Bismarcks Werk übertroffen, indem er den Parlamentarismus überwand, das „Judentum“ erfolgreich bekämpfte und ein „Großgermanisches Reich“ erschuf. III. Fazit Die SS vollzog vereinfacht gesprochen eine Art „empirische“ Analyse der europäischen Geschichte, um zu untersuchen, unter welchen Umständen und Vo176 SS-HA: Lehrplan für die zwölfwöchige Schulung, Berlin 1940, S. 42. Zum politischen Katholizismus aus Sicht der SS: SK, 22. Juli 1937; 5. August 1937; 26. August 1937; 2. September 1937. 177 SS-HA: Lehrplan für die zwölfwöchige Schulung (wie Anm. 176), S. 42. 178 Ebd. 179 RFSS/SS-HA: Das Reich und Europa (wie Anm. 1), S. 40. 180 Ebd. Hierzu auch SD des RFSS: Schulungsleitheft für SS-Führungsanwärter (wie Anm. 82), S. 42–48. 181 SS-HA: Lehrplan für die zwölfwöchige Schulung (wie Anm. 176), S. 42. 182 SS-HA: Lehrplan für die zwölfwöchige Schulung (wie Anm. 176), S. 42. Bismarck blieb aber charakterlich ein Vorbild, unter anderem in der Eheführung: „Nicht nur in der politischen Erziehung, auch dann, wenn es unser persönliches Leben betrifft, also bei der Wahl des Ehegenossen“ ist es wichtig „rassisch zu denken.“ SSLH, Folge 11a/b, 1942, S. 33. „In diesem Zusammenhang ist eine Betrachtung der bismarckschen Ehe aufschlußreich und vorbildlich für uns.“ SSLH, Folge 11a/b, 1942, S. 33.

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raussetzungen sich eine deutsche Machtposition etablieren konnte. Eine Stärke des Reiches, als Garant für kulturelle Entwicklung, Friedenssicherung und rassische „Reinheit“, lag für die SS immer dann vor, wenn entscheidende „Führerpersönlichkeiten“ die alleinige politische Verantwortung trugen. Diese „Führer“ mussten sich durch militärische Kompetenzen und eine kontinuierliche aber nicht überdehnte Siedlungspolitik auszeichnen. Bei den als relevant erachteten Protagonisten besaßen Standesunterschiede keine Rolle für die SS. Hingegen fanden in einem geringeren Umfang auch kulturelle Leistungen bei der Würdigung eine Berücksichtigung. Beachtenswert ist dabei, dass grundsätzlich die Einstellungen der „Führerpersönlichkeiten“ hervorgehoben wurden, auch wenn der langfristige politische Erfolg im Einzelnen ausblieb. Auch ist bei der Betrachtung der Reichsgeschichte durch die SS immer wieder ersichtlich, welche Relevanz das Vorhandensein einer Weltanschauung und eines Antisemitismus in der Ideologie der Schutzstaffel einnahm. Neben den starken „Führern“ einerseits, war die SS andererseits zu dem Ergebnis gelangt, dass eine „innere Einheit“ des Volkes eine weitere Grundlage zum Ausbau einer Machtposition bildete. Hierfür sollten jegliche weltanschauliche und auch konfessionelle Spaltungen der „Germanen“ überwunden werden. Als Folge bedeutete dies zunächst die Etablierung der eigenen Ideologie. Wenn auch die Existenz eines transzendenten Wesens bestätigt wurde, sollte als Folge daraus die als „fremdartig“ empfundenen christlichen Religionen, insbesondere der Katholizismus, weltanschaulich ausgeschaltet werden. Das „Reich“ wurde somit zum Inbegriff all dessen, was für die SS germanische „Kultur“ auszeichnete und zum metaphysischen, holistischen Begriff. Die SS propagierte somit, die entscheidenden Prinzipien aus der Geschichte erkannt zu haben, unter denen eine Weiterentwicklung des „Reiches“ vorangetrieben werden müsse. Die Umsetzung der angeblichen geschichtlichen „Gesetzmäßigkeiten“ sollte in der Konsequenz endlich den Übergang von der stetigen Abwehr feindlicher Angriffe auf den „germanischen Mutterboden“ zur Initiative der Rückeroberung des Lebensraumes ermöglichen. Am Ende dieses Ziels sollte dann eine germanisch-deutsche Vorherrschaft über Kontinentaleuropa vorliegen. In dem Moment, als die Kriegslage dieses Ziel als gefährdet erscheinen ließ, entwickelte man den nochmals entscheidenden Schritt von einer pangermanistischen Legitimation hin zu einer paneuropäischen Argumentationsgrundlage, die dann auch die Integration „fremdrassischer“ Völker, wie russische Kosaken183 und bosnische Moslems184, in Teile der Schutzstaffel ermöglichte.

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SSLH, Heft 1, 1944. S. 10. SSLH, Heft 2, 1944. S. 11.

Vom Barnabasbrief zum „Mythus des 20. Jahrhunderts“ Philipp Haeuser (1876–1960) Stefan Gerber I. Ausnahme und Exempel: der „Fall“ Haeuser Der Theologe und Priester Philipp Haeuser, 1876 in Kempten geboren, 1960 in Augsburg gestorben und 35 Jahre lang, zwischen 1911 und 1946, Pfarrkurat und Pfarrer des Dorfes Straßberg bei Bobingen im bayerischen Schwaben, hat in den letzten Jahren sowohl in der Lokal- und Regionalgeschichte als auch in der Kirchengeschichtsschreibung und Katholizismusforschung zur NS-Diktatur eine bescheidene Berühmtheit erlangt. „Philipp Haeuser war der Schatten der Diözese Augsburg, ja des deutschen Klerus überhaupt“, titelte etwas reißerisch im April 2008 die ,Schwabmünchener Allgemeine‘, die in Bobingen und Umgebung gelesene Regionalusgabe der ,Augsburger Allgemeine‘1, in Anlehnung an ein von Haeuser selbst wiedergegebenes Wort des Augsburger Bischofs Josef Kumpfmüller ihm gegenüber.2 Der amerikanische Historiker und Priester Kevin P. Spicer, der sich im Rahmen seiner Forschungen zu „Hitlers Priests“ – so der Titel seiner 2008 erschienenen Untersuchung zu katholischen Klerikern im Nationalsozialismus3 – mit Haeusers Aktivitäten während der NS-Zeit beschäftigt hat, beschei1 Reif, Werner: Ein irregeleiteter Diener Gottes als Ehrengast Hitlers, in: Schwabmünchner Allgemeine, 5./6. April 2008. 2 Haeuser, Philipp: Mein Werden; Kopie des Manuskripts im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 25. Vgl. auch den Brief Haeusers an das Augsburger Ordinariat vom 16. Januar 1937; Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert). 3 Spicer, Kevin P.: Hitler’s priests. Catholic clergy and national socialism, DeKalb 2008; auch Spicer, Kevin P.: Im Dienst des Führers. Pfarrer Philipp Haeuser und das „Dritte Reich“, in: Spicer, Kevin P.(Hrsg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Paderborn u. a. 2005, S. 17–31. [Englische Fassung: Spicer, Kevin P.: Working for the Führer. Father Dr. Philipp Haeuser and the Third Reich, in: Spicer, Kevin P. (Hrsg.): Antisemitism, Christian Ambivalence and the Holocaust, Bloomington 2007, S. 105–120.]. Zum Gesamtproblem: Spicer, Kevin P.: Gespaltene Loyalität. ,Braune Priester‘ im Dritten Reich am Beispiel der Diözese Berlin, in: Historisches Jahrbuch, 122, 2002, S. 287–320; Spicer, Kevin P.: „Tu ich unrecht, . . . ein guter Priester und ein guter Nationalsozialist zu sein?“ Zum Verhältnis zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus, in: Gailus, Manfred/ Nolzen, Armin (Hrsg.): Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 66–95; Hastings, Derek: Catholicism

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nigt ihm, sein „ganzes Leben und seine Seelsorge der Sache Adolf Hitlers und der NSDAP“ gewidmet zu haben.4 Martina Steber urteilt in ihrer im vergangenen Jahr erschienene Studie zu regionalen Identitäten im bayerischen Schwaben zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur darüber hinaus, der Umgang mit Haeuser sei charakteristisch für die auf „harmonische Koexistenz zwischen Partei und Kirchen im regionalen Rahmen“ gerichtete Politik der schwäbischen NS-Gauführung und der Augsburger Diözesanleitung.5 Nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen um die Rolle des Augsburger Weihbischofs Franz Xaver Eberle, ein Freund und Unterstützer Haeusers seit gemeinsamen Tagen im Georgianischen Klerikalseminar in München zwischen 1897 und 1899, taucht Haeuser als Randfigur immer wieder auf. Gerade diese Deutungs- und Einordnungskonflikte, in denen zum Beispiel der Augsburger Bistumshistoriker Thomas Groll und der emeritierte Bamberger Kirchenhistoriker Georg Denzler gegensätzliche Deutungen präsentierten6, verweisen darauf, dass der Blick auf Gestalten wie Haeuser oder Eberle, stets in der Gefahr steht, von aktuellen Perspektiven dominiert zu werden: Ist Groll von der (durchaus begründeten) Sorge umgetrieben, im Blick auf Weihbischof Eberle und auch auf Philipp Haeuser solle das einseitige und diskreditierende Bild einer „Komplizenschaft“ zwischen Bistumskirche und NSInstanzen gezeichnet werden, versucht Denzler, der 1973 nach seiner Heirat die kirchliche Lehrerlaubnis verlor und vom Priesteramt suspendiert wurde, seit den frühen 1980er-Jahren – neben seinen Veröffentlichungen zu den Problembereichen von Zölibat und Sexualmoral – mit oftmals moralisierenden, bisweilen polemisch formulierten Beiträgen zu Katholizismus und Kirche im Nationalsozialismus unverkennbar seine persönlichen Konflikte mit Lehramt und kirchlicher Disziplin zu „bewältigen“.7 Eine solche „Betroffenheit“, die bewusst oder unbe-

and the roots of Nazism. Religious identity and national socialism, New York u. Oxford 2011. 4 Spicer: Im Dienst des Führers (wie Anm. 3), S. 30. 5 Steber, Martina: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime, Göttingen 2010, S. 415 (vgl. dort auch Anmerkung 66). 6 U. a. Groll, Thomas: Franz Xaver Eberle (1874–1951), in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte, 39, 2005, S. 433–455; Groll, Thomas (Bearb.): Spruchkammerverfahren Weihbischof Dr. Franz Xaver Eberle Februar 1947 bis März 1948, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte, 40, 2006, S. 549–606. Im Gegensatz das Porträt Denzler, Georg: Widerstand ist nicht das richtige Wort, Zürich 2003; ähnlich zum Beispiel schon der knappe und dekontextualisierte Auszug eines Schreibens Eberles an Hitler vom 12. März 1938 unter der Überschrift „Ein Weihbischof huldigt Hitler“, in: Denzler, Georg: Widerstand oder Anpassung? Kirche und Drittes Reich, München u. Zürich 1984, S. 97 f. 7 Zur Kritik an Denzlers Verfahren zum Beispiel Hummel, Karl-Joseph: Gedeutete Fakten: Geschichtsbilder im deutschen Katholizismus 1945–2000, in: Hummel, KarlJoseph/Kösters, Christoph (Hrsg.): Kirchen im Krieg. Europa 1939–1945, Paderborn, München, Wien u. Zürich 2007, S. 507–567; Kißener, Michael: Ist „Widerstand“ nicht „das richtige Wort“?, in: Hummel, Karl-Joseph/Kißener, Michael (Hrsg.): Die Katholi-

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wusst, explizit oder implizit Parallelen zwischen einem behaupteten historischen „Versagen“ der Kirche als Glaubensgemeinschaft oder Institution und vermeintlichen eigenen „Unrechts“-Erfahrungen im kirchlichen Raum zieht, bietet denkbar ungünstige Voraussetzungen für differenzierende Analysen des komplexen Beziehungsgeflechts von Kirche, Staat und Gesellschaft in einer modernen Diktatur wie dem Nationalsozialismus: In der von Georg Denzler immer wieder bemühten starren Dichotomie von „Widerstand oder Anpassung“, „Kollaboration oder Opposition“ 8 jedenfalls, sind solche Analysen kaum zu leisten. Wo die Zumutung einer „verstehenden“ historischen Kontextualisierung, der sich Geschichte als Wissenschaft auch und gerade angesichts des Verlangens nach einer emotional eingefärbten „histoire engagée“ immer wieder stellen muss, nur als „Relativierungsversuch“ wahrgenommen werden kann, kommt jene „Geschichte der Wünschbarkeiten“ und des „Wie-es hätte-sein-sollen“ zustande9, die zum Verständnis der NS-Herrschaft kaum etwas beitragen kann. Philipp Haeuser, der während der 1920er- und 1930er-Jahre als Redner und politischer Publizist für beträchtliches Aufsehen sorgte, zum Beispiel in einer Kontroverse mit dem Präses der süddeutschen katholischen Arbeitervereine Carl Walterbach um die Haltung der deutschen Katholiken zur Republik10, zum biographischen Brennspiegel für eine solche Analyse zu machen, heißt, das muss klar gesagt werden, den „syntagmatischen“, nicht den „paradigmatischen“ Aspekt der historischen Biographie herauszustellen.11 Denn Haeuser – und darauf fokussiert die schmale Forschung zu ihm bisher fast ausschließlich – machte sich wesentliche ideologische Elemente und Versatzstücke des Nationalsozialismus tatsächlich schon in der Endphase der Weimarer Republik in einer Radikalität, ja Aggressivität zu eigen, die für die katholische Theologie und den Klerus in Republik und Nationalsozialismus keineswegs charakteristisch oder exemplarisch sind. Ab Dezember 1930, als Haeuser in Augsburg eine aufsehenerregende nationalsozialistische Weihnachtsrede hielt, die das Augsburger Ordinariat zu Ermahken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn, München, Wien u. Zürich 20092, S. 167–178, hier S. 167 f. 8 So Denzler: Widerstand oder Anpassung? (wie Anm. 3); Denzler: Widerstand ist nicht das richtige Wort (wie Anm. 3), S. 111. 9 So Nipperdey, Thomas: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 227, 1978, S. 86–111, hier S. 240. 10 Haeuser, Philipp: Wir deutschen Katholiken und die moderne revolutionäre Bewegung oder Los vom Opportunismus und zurück zur Prinzipientreue!, Regensburg 19223; Walterbach, Karl: Katholiken und Revolution. Eine Verteidigung gegenüber den Angriffen auf die Führer der deutschen Katholiken, Berlin 1922. 11 Zu dieser Unterscheidung zum Beispiel Hähner, Olaf: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris u. Wien 1999. Einen Überblick über neuere biographietheoretische Ansätze bieten zum Beispiel die Beiträge in: Klein, Christian (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002.

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nungen und Verboten, im August 1936 nach weiteren Reden schließlich zu einem generellen politischen Redeverbot veranlasste12, äußerte sich der Straßberger Pfarrer so vernehmlich und öffentlichkeitswirksam im nationalsozialistischen Sinne, dass zahlreiche Beschwerden, nicht zuletzt aus Zentrumskreisen in Augsburg eingingen.13 Haeusers „Nationalsozialismus“ mutet vor allem deshalb teilweise fast bizarr an, weil er ihn mit der ihm eigenen, egoman-fanatischen Verve eines Menschen vertrat, der sich in seinen intellektuellen wie politischen Potenzialen verkannt fühlte und weil er in den 15 Jahren zwischen dem Kriegsende und seinem Tod 1960 mit einem Starrsinn daran festhielt, der ihn in den Quellen fast als Karikatur erscheinen lässt. In der gegenwärtigen Zeit einer „entehrenden Schändung“ des deutschen Volkes, so Haeuser in dem nach 1953 entstandenen Manuskript „Hitler hat nicht umsonst gelebt“, müssten alle danach streben, zu „Hitlernaturen“ zu werden und seinem „Propheten- und Erlöserschicksal“ nachleben. „Der wahre Prophet und Erlöser wird gehaßt, verfolgt, gekreuzigt. Aber er hat nicht umsonst gelebt. Nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden wird er als Schöpfer im großen Werden der Weltgeschichte erkannt werden.“ 14 Die viele hundert Schreibmaschinenseiten füllenden Reflexionen, Selbstapologien und immer deutlicher pseudo-theologischen Abhandlungen, die Haeuser während der 1950er-Jahre verfasste und über den Kemptner Oberbürgermeister Otto Merkt im dortigen Stadtarchiv deponierte, sind mit solchen Passagen angefüllt. Haeuser schrieb all das für die Schublade; nicht nur, weil an eine Veröffentlichung in der frühen Bundesrepublik nicht mehr zu denken war, sondern auch, weil er es dezi-

12 Haeuser, Philipp: Kampfgeist gegen Pharisäertum. Nationalsozialistische Weihnachtsrede eines katholischen Geistlichen. Gehalten am 14. Dezember 1930 in Augsburg, München 1931. Zu den Auseinandersetzungen um Haeusers politische Redeauftritte, den Redeverboten bzw. Erklärungen zur Unerwünschtheit des Auftretens Haeusers im Bistum in München-Freising, Regensburg und Speyer Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser); dort v. a. Schriftwechsel zwischen dem Ordinariat und Haeuser aus den Jahren 1931/32. Haeusers Sicht ist dargelegt in: Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), besonders S. 13–29. Außerdem als Beispiele der recht breiten Presse-Auseinandersetzung um den Auftritt von 1930 und das folgende politische Redeverbot: Redeverbot gegen Pfarrer Dr. Haeuser, in: Bayerischer Kurier, 20. Dezember 1930; Dr. Haeuser als nationalsozialistischer Propagandaredner, in: Neue Augsburger Zeitung, 20. Dezember 1930; Redeverbot für Pfarrer Haeuser!, in: Schwäbische Volkszeitung, 22. Dezember 1930; Redeverbot für den deutschen Patrioten Haeuser, Hetzfreiheit für den Franzosenfreund Mönius, in: Völkischer Beobachter (Süddeutsche Ausgabe), 24. Dezember 1930. 13 Zum Beispiel die Beschwerdebriefe des „Pirmasenser Tageblattes“ (16. September 1931), der Zentrumsgeschäftsstelle Dortmund-Hörde (30. September 1931), der Zentrumsgeschäftsstelle Krefeld (21. September 1931); Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert). 14 Haeuser, Philipp: Hitler hat nicht umsonst gelebt; Kopie des Manuskripts im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 10. (Im Gegensatz zu vielen anderen Manuskripten undatiert; allerdings werden im Text die erstmals 1953 erschienenen Erinnerungen von Hitlers Jugendfreund August Kubizek zitiert, so dass das Manuskript zwischen 1953 und dem Todesjahr 1960 entstanden sein muss.)

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diert nicht wollte. Schon im März 1940 hatte er zu dem an Oberbürgermeister Merkt übermittelten autobiographischen Manuskript „Mein deutsches Ringen und Werden“ geschrieben, es solle „bis zu meinem Tode vollständig geheim“ bleiben. „Zu Lebzeiten, solange man im Kampfe steht, muß man Verleumdung und böse Kritik ertragen können. Aber nach meinem Tode möchte ich richtig verstanden werden um der großen Idee willen, für die ich gelebt habe“.15 Die manische schriftliche Produktion der Nachkriegsjahre war für Haeuser unverkennbar Selbsttherapie. An den Straßberger Lehrer Oswald, eine der zentralen Bezugspersonen Haeusers in seiner alten Pfarrei, schrieb er, der seit 1957 in dem der Zisterzienserinnen-Abtei Oberschönenfeld angegliederten Altenheim St. Maria lebte, am 14. Oktober 1958: „Mein Leben hier scheint ruhig und klösterlich zu sein. Aber das stimmt nicht. In mir regt es sich immer noch in gewaltigen, lebensmutigen, schöpferischen Stürmen. Meine Klausur ist ganz anders als die der Klosterfrauen. In meiner Klausur ist herrliche seelische und geistige Freiheit. [. . .] In meiner Einsamkeit ist tiefe Ruhe und doch reges Leben. [. . .] Könnte ich doch der Welt und vor allem der Kirche und ihren hohen und höchsten Führern doch [sic] sagen, was ich im Leben gelernt und erkannt habe.“ 16 1947 im Entnazifizierungsverfahren vor der Spruchkammer Schwabmünchen, auf das noch einmal zurückzukommen sein wird, als „Hauptschuldiger“ eingestuft und zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt, von denen er ein knappes Jahr im Arbeits- und Internierungslager Regensburg absaß, hatte sich Haeuser zunächst beharrlich geweigert, auf seine Straßberger Pfarrei zu verzichten, war suspendiert worden und lebte nach seiner Entlassung wieder in Straßberg, wo sich der neu ernannte Pfarrer wohl oder übel die Wohnräume im Pfarrhof mit ihm teilen musste. Noch immer von der Pfarrgemeinde unterstützt, die 1947 gegen das Urteil der Spruchkammer protestiert hatte17, konnte Haeuser hier seine, nach langwierigen Auseinandersetzungen mit dem Augsburger Ordinariat schließlich doch errungene Pension verzehren und erst Altergründe bewegten ihn zu dem bereits erwähnten Umzug nach Oberschönenfeld.18 Dort machte er, neben der Niederschrift seiner umfänglichen Texte, seinem Herzen vor allem in Briefen an den 15 Vorsatzschreiben zu Haeuser Philipp: Mein deutsches Ringen und Werden; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 16 Brief von Philipp Haeuser an Oswald, 14. Oktober 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 17 Kopie der Entnazifizierungsakte Haeusers mit dem Urteil der Spruchkammer Schwabmünchen vom 14. Mai 1947 (AZ 29/21) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 18 Zu all diesen Auseinandersetzungen vgl. den letzten Teil von Haeusers Personalakte, der mit der Suspendierung des Straßberger Pfarrers vom 26. November 1946 einsetzt; Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert). Seine eigene Sicht auf sein Wirken im NS und auf das Entnazifizierungsverfahren legt Haeuser ausführlich dar in: Haeuser, Philipp: Kirche und Entnazifizierung oder War ich Hauptschuldiger?; Kopie des Manuskripts (19. Juli 1948) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser.

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Vertrauten Oswald Luft. Am 7. November 1958 etwa, um ein kennzeichnendes Beispiel anzuführen, berichtete der Emeritus, einige Tage zuvor die Krönung Papst Johannes XXIII. am Radio mitverfolgt zu haben und bekannte: „Während des Berichtes packte mich sehnsüchtige Erinnerung an die ersten Parteitage in Nürnberg.“ 19 „In deutscher Begeisterung“, so hatte er Oswald wenige Wochen zuvor in pathetischem Verlautbarungston bekannt, „erinnere ich mich gern an die große deutsche Bewegung unter Hitler, an den Kampf für das Volk gegen die unvölkische Versklavung durch finanzielle Weltmächte.“ 20 Haeuser, der während der Weimarer Republik aus dem Lager der bayerischen Monarchisten immer weiter nach rechts gerückt und über die DNVP und die Völkischen schließlich beim NS angekommen war, der den Kontakt zunächst zu Erich Ludendorff, dann zu Alfred Rosenberg, Rudolf Heß und zu Hitler selbst gesucht und gefunden hatte und der immer wieder als nationalsozialistischer Schulungsredner auftrat21, war sich in seiner Perspektive bis zuletzt treu geblieben. Nur an wenigen Punkten, beim Konflikt um die Seelsorge im NSV-Müttergenesungsheim in Straßberg oder um die von der Partei nicht gewünschte öffentliche Ehrung gefallener Mitglieder der Pfarrgemeinde während des Krieges, in Aufsätzen, die Haeuser nach Beginn des Russlandfeldzuges im Freundeskreis versandte und in einigen Sonntagspredigten22, wurde ein Dissens Haeusers mit dem System sichtbar – Ereignisse, die von den Entlastungszeugen im Schwabmünchener Spruchkammerverfahren natürlich gebührlich herausgestellt wurden.23 Haeuser selbst betrachtete sie unter dem Blickwinkel der „Familienstreitigkeiten“ und als loyale Kritik; ließ sich von einem Besuch der Augsburger Gestapo im Pfarrhaus nicht von seinen Meinungen abbringen, versuchte seine lokalen Konflikte durch Briefe an Rudolf Heß und Hermann Göring zu klären und weigerte sich, einer Vorladung des Augsburger NSDAP-Kreisleiters Folge zu leisten. Die Erinnerung an Haeusers frühes NS-Engagement, seine lockere Verbindung zu 19 Brief Haeusers an Oswald, 7. November 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 20 Brief Haeusers an Oswald, 1. September 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 21 Dazu Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), besonders S. 13–29 u. 157–269. 22 Haeuser: Kirche und Entnazifizierung (wie Anm. 18), S. 17–28. 23 Kopie der Entnazifizierungsakte Haeusers im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser; besonders den Brief von Pfarrer Richard Kempf (Reinhartshausen) an das Ministerium für Sonderaufgaben in München, 15. Mai 1947. Richard Kempf, seit 1922 Pfarrer im Straßberger Nachbardorf Reinhartshausen, hatte sich auch bei Weihbischof Eberle für eine Unterstützung Haeusers eingesetzt und koordinierte sein Vorgehen mit dem Straßberger Vertrauensmann Haeusers, Lehrer Oswald. Häufig übernahm er in der Abwesenheit Haeusers in Straßberg auch die Messvertretung. (Brief von Kempf an Oswald, 23. Mai 1947). Oswald hatte Kempf (Brief vom 22. Mai 1947) im Auftrag des Rechtsanwaltes von Haeuser gebeten, nicht das Jahr 1942 als Umkehrjahr zu nennen, da der Anwalt bewiesen haben wollte, Haeuser habe sich schon zu Beginn des Krieges, bzw. sogar schon vorher vom NS abgewandt.

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den genannten NS-Größen und vor allem zu Hitler selbst, der Haeuser 1933 als Ehrengast zum Reichsparteitag in Nürnberg einlud24, Rücksichten auf die Kirche und seinen starken Rückhalt im Dorf, der Unwille, sich näher mit dem Straßberger Pfarrer zu befassen und Kopfschütteln über dessen Starrköpfigkeit verbanden sich besonders während der Kriegsjahre der nationalsozialistischen Herrschaft zu einem Freiraum, der mit dem Begriff der „Narrenfreiheit“ sicher nicht ganz unzutreffend bezeichnet ist. Welche Sprache Haeuser sich im Rahmen dieser „Narrenfreiheit“ offenbar gestatten konnte, zeigt seine Antwort auf die Vorladung des Kreisleiters: „Ich lasse mich durch keine Hetzte stören. [. . .] Unterlassen sie jede abfällige Kritik gegen mich. [. . .] Deutsche Ehre möge nie einer geschäftstüchtigen Ehrlosigkeit [. . .] Platz machen.“ Der Kreisleiter antworte, er wolle Haeuser gegenüber von den Schritten absehen, die sonst üblich seien, wenn einem Ersuchen der Parteidienststellen nicht Folge geleistet werde, müsse die Angelegenheit aber Gauleiter Wahl vortragen. Damit war die Sache erledigt.25 Aber war Philipp Haeuser tatsächlich ein „schwarzer Brauner“ – eine Bezeichnung, die Martina Steber für den Augsburger Gauleiter Karl Wahl verwendet und als nicht untypisch für die regionale Kirchenpolitik des Regimes bezeichnet? Ist der Umgang mit ihm tatsächlich als Beispiel für eine „gegenüber den regionalen Nationalsozialismus konziliante Politik“ einzustufen?26 Das würde voraussetzen, dass Haeuser ein Verbindungsmann, ein „Brückenbauer“ zwischen Kirche und NS war, wie zum Beispiel Abt Alban Schachleiter, mit dem Haeuser in brieflichem Kontakt stand27, oder wie sein Amtsbruder und Freund Josef Roth, Ministerialdirigent in Kerrls Reichskirchenministerium, dem Haeuser nach dessen Unfalltod oder vielleicht auch Selbstmord 1941 in Ottobeuren die Grabrede hielt.28 Das historisch Bemerkenswerte an diesem „braunen Priester“ aber, so die hier vertretene These, das Exzeptionell-Syntagmatische der Biographie dieses publizierenden Landpfarrers ist es, dass er sich mit seiner nationalsozialistisch grundierten Privatideologie, die im Folgenden in den Blick genommen werden soll, „zwischen alle Stühle“ setzte und so keineswegs als „Brückenbauer“ fungieren konnte – auch wenn er es selbst wünschte. Seine eigenen Intentionen konterkarierend, machten Haeusers Weltsichten das überdeutlich, was der Franziskanerpater Erhard Schlund mit publizistischer Breitenwirkung schon seit den frühen 24 Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), S. 235. Zu Haeusers Blick auf Hitler vgl. auch den Brief von Philipp Haeuser an Adolf Hitler, 14. Oktober 1923; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 25 Haeuser: Kirche und Entnazifizierung (wie Anm. 18), S. 21. 26 Steber: Ethnische Gewissheiten (wie Anm. 5), S. 415. 27 Zu Schachleiter Spicer: Hitler’s priests (wie Anm. 3); Bleistein, Roman: Abt Alban Schachleiter OSB. Zwischen Kirchentreue und Hitlerkult, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 170–187. 28 Zu dieser Grabrede und den Vorgängen um die Beerdigung: Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1782; dort neben der Rede Haeusers besonders den Bericht des Pfarramtes Ottobeuren vom 16. September 1941.

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1920er-Jahren der Attraktion völkischer und radikalnationalistischer Ideenkonglomerate für einige Protagonisten des deutschen Katholizismus entgegensetzte, die sich als „legitime“ Fortsetzer der staats- und rechtskatholischen Traditionslinie verstanden29: Dass eine Doppelexistenz als Katholik und mehr noch als katholischer Priester einerseits und als völkisch-nationalsozialistischer Publizist andererseits unweigerlich in Aporien führen, letztlich stets auf Kosten des Katholizismus gehen musste und mithin unmöglich war – tertium non dabitur. In dieser Perspektive werden der exzeptionelle Weg Philipp Haeusers, sein Scheitern als Priester, Theologe und politischer Publizist, der Bruch in seiner Person und Identität, den er nur durch hermetische Intransigenz gegenüber seiner offensichtlichen politisch-ideologischen Desavouierung zu überdecken und durch die Selbstzuschreibung des verkannten Helden und Kämpfers zu kompensieren suchte, eben doch „paradigmatisch“: Beispielhaft keineswegs für den katholischen Klerus im Nationalsozialismus, sondern dafür, dass ein katholischer „Brückenschlag“ zum NS trotz des kurzfristigen, oder, wie bei Philipp Haeuser bis in die Kriegszeit hineingeführten Aktivismus seiner Vertreter, eine Brücke ins Leere schlug. Um das herauszuarbeiten, ist der Blick freilich nicht nur, wie in den vorliegenden Forschungen geschehen, auf Haeusers Aktivitäten in der NS-Zeit, sondern auf seine gesamte geistig-intellektuelle Entwicklung und auf die Konsequenzen zu richten, die diese Entwicklung für sein Verhältnis zu Kirche und Katholizismus hatten. Der Versuch, die Kerngedanken des Ideenkomplexes zu identifizieren, den Philipp Haeuser als Student in München, als Kaplan in Bertholdshofen im Ostallgäu, als Doktorand in Freiburg und Präfekt in Neuburg an der Donau und Ettal entwickelte30, führt unweigerlich zu zwei entscheidenden Charakteristika: Erstens seiner antisemitischen Zuspitzung eines von traditionellen Argumenten getragenen Antijudaismus und zweitens seinem radikal-vitalistischen, alle Bezüge zu Evangelien und katholischer Glaubenslehre mehr und mehr lösendem Jesus-Bild. II. Radikalisierter Antijudaismus Antijudaismus scheint für Philipp Haeuser schon früh ein zentrales Identitätselement seines Katholizismus gewesen zu sein. Für seine 1911 beim damaligen Freiburger Kirchenhistoriker Georg Pfeilschifter eingereichte Dissertation31 wählte er den Barnabasbrief, einen Traktat aus dem Korpus der Apostolischen 29 Z. B. Schlund, Erhard: Katholizismus und Vaterland. Eine prinzipielle Untersuchung, München 1923; Schlund, Erhard: Religion, Kirche, Christentum und Nationalsozialismus, in: Gelbe Hefte, 8, 1931/32, S. 115–143. Zu Schlund Fellner, Michael: Pater Erhard Schlund OFM (1888–1953) und seine Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung und dem Nationalsozialismus, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, 43, 1998, S. 131–214. 30 Zu diesen Lebenstationen Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2). 31 Haeuser, Philipp: Der Barnabasbrief. Neu untersucht und erklärt, Paderborn 1912.

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Väter, der die Abgrenzung vom Judentum zum Instrument innerchristlicher Polemik und Differenzierung macht.32 Auch über den Barnabasbrief hinaus galt Haeusers wissenschaftlich durchaus produktives, von seinen intellektuellen Potenzialen zeugendes patristisches Interesse vor allem demjenigen frühchristlichen Schrifttum, das aus der theologisch-heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Judentum erwuchs: 1917 veröffentlichte er in der von seinem Münchener neutestamentlichen und patrologischen Lehrer Otto Bardenhewer herausgegebenen „Bibliothek der Kirchenväter“ eine noch heute verwendete Übersetzung des „Dialoges mit dem Juden Tryphon“ von Justinus.33 In der selben Reihe erschienen während der 1920er-Jahre noch Übersetzungen der Katechesen des Cyrill von Jerusalem und von zwanzig Reden des Gregor von Nazianz34; hinzu kamen Arbeiten zum Galaterbrief 35 und die kommentierte Übertragung der Bibelenzyklika „Spiritus Paraclitus“ Papst Benedikts XV.36 Mit all diesen Arbeiten konnte Haeuser einiges Renommee in der Patristik und der neutestamentlichen Wissenschaft erwerben. Seine ostentative öffentliche politische Positionierung für die Deutschnationalen und späterhin die Nationalsozialisten allerdings, hätte eine akademische Karriere, von der Haeuser wohl träumte, schon Mitte der 1920erJahre nahezu unmöglich gemacht. Alle Augsburger Domkapitulare, denen Haeuser 1925 sein Buch über den Galaterbrief zustellen ließ, schickten ihre Exemplare an den Straßberger Pfarrer zurück37 und Nuntius Eugenio Pacelli, dem Haeuser sein Werk widmen wollte, lehnte, obwohl er die wissenschaftliche Leistung ausdrücklich anerkannte38, nach vorsichtigen Erkundigungen beim Augsburger Bi32 Zum Text und zur Theologie des Briefes besonders in Bezug auf die frühchristliche Abgrenzung vom Judentum Prostmeier, Ferdinand R.: Der Barnabasbrief, Göttingen 1999; Prostmeier, Ferdinand R.: Antijüdische Polemik im Rahmen christlicher Hermeneutik. Zum Streit über christliche Identität in der Alten Kirche, in: Zeitschrift für Antikes Christentum, 6, 2002, S. 38–58. Auch: Wengst, Klaus (Bearb.): Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diogenet, Darmstadt 1984; Wengst, Klaus: Tradition und Theologie des Barnabasbriefes, Berlin u. a. 1971. 33 Haeuser, Philipp: Des heiligen Philosophen und Martyrer Justinus Dialog mit dem Juden Tryphon. Aus dem Griechischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen, Kempten u. München 1917. Ein Nachdruck der Haeuserschen Übersetzung erschien noch: Wiesbaden 2005. Zur Theologie des Briefes Rudolph, Anette: „Denn wir sind jenes Volk . . .“. Die neue Gottesverehrung in Justins Dialog mit dem Juden Tryphon in historisch-theologischer Sicht, Bonn 1999. 34 Haeuser, Philipp: Des heiligen Cyrillus Bischofs von Jerusalem Katechesen. Aus dem Griechischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen, München u. Kempten 1922; Haeuser, Philipp: Des Heiligen Bischofs Gregor von Nazianz Reden, München u. Kempten 1928. 35 Neben kleineren Aufsätzen v. a. Haeuser, Philipp: Anlaß und Zweck des Galaterbriefes. Seine logische Gedankenentwicklung, Münster 1925. 36 Haeuser, Philipp, (Hrsg.): Die Hieronymusenzyklika „Spiritus Paraclitus“ vom 15. September 1920. Ein päpstliches Mahnwort an alle Bibelfreunde, Regensburg 1921. 37 Haeuser, Mein Werden (wie Anm. 2), S. 10. 38 Vgl. den von Haeuser zitierten Brief Pacellis an ihn vom 7. April 1925; Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), S. 9.

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schof den Dedikationswunsch ab.39 Zu diesem Zeitpunkt lag bereits die Schrift vor, in der Haeuser die aktuell-zeitgeschichtlichen Konsequenzen gezogen hatte, die sich in seiner Perspektive aus dem von den Anfängen der Kirche bis in ihre Gegenwart reichenden Kampf gegen das Judentum ergaben. „Jud und Christ oder: Wem gebührt die Weltherrschaft“ war von Haeuser Ende 1922 fertiggestellt worden, erschien im Folgejahr und veranlasste den katholischen Journalisten und Ministerialbeamten Alfons Steiger, der sich der Kritik antijüdischer Stimmen im Katholizismus der Weimarer Republik verschrieb, zu einer Gegenschrift.40 Für die Einordnung aller dieser Schriften, sowohl der wissenschaftlichen zum Barnabasbrief und zum Justin-Dialog, als auch der polemischen Broschüre von 1923 in den Kontext der in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg virulenten Formen der Judenfeindschaft ist es wichtig, anders als Kevin Spicer es tut, genauer zwischen Antijudaismus und Antisemitismus zu unterscheiden. Wenn Haeuser in seiner Dissertation betonte, der untersuchte Barnabasbrief kämpfe „für das Evangelium und dessen Mahnung zu Liebe, Geduld und Ausdauer gegen das sittliche Verhalten des jüdischen Volkes“ 41; wenn er am Verfasser des Briefes tadelte, dieser kritisiere nur das konkrete Verhalten der Juden, stelle aber das alttestamentliche Gesetz noch als hochbedeutsam für das Leben des Christen dar, bewegte er sich im Rahmen der zeitgenössischen Exegese und Patristik. Das sympathetische Interesse an der als Überwindung, nicht als „Erfüllung“ der jüdischen Wurzel des Christentums gedeuteten frühchristlichen Abgrenzung vom Judentum, das Haeuser mit der Themenwahl und den Interpretationen seiner wissenschaftlichen Arbeiten bekundete, wies ihn – darüber sollten die heute grundlegend gewandelten exegetischen und patristischen Perspektiven nicht hinwegtäuschen – zeitgenössisch nicht als besonders exponierten „Judenfeind“ oder „Antisemiten“ aus. „Jud und Christ“ von 1923 dagegen, stand – schon weil es sich nicht um eine theologische Studie, sondern ein Propagandapamphlet handelte – zweifellos für eine Radikalisierung des tradierten Antijudaismus und damit eine neue Qualität der Judenfeindschaft. Obgleich Haeuser noch in der Rückschau in bezeichnender Uneinsichtigkeit meinte, die Broschüre sei „in anständiger Form“ und im „Anschluß an die Worte Jesu und die Lehren des Apostels Paulus“ verfasst worden42, 39 Brief von Nuntius Eugenio Pacelli an Bischof Maximilian Lingg, 25. März 1925, Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert). 40 Haeuser, Philipp: Jud und Christ oder Wem gebührt die Weltherrschaft, Regensburg 1923; Steiger, Alfons: Katholizismus und Judentum, Berlin 1923 (Die 2. Auflage erschien unter dem Titel „Der neudeutsche Heide im Kampf gegen Christen und Juden“, Berlin 1924.); Steiger, Anton: Katholizismus und Judentum, Berlin 1923 (Die 2. Auflage erschien unter dem Titel „Der neudeutsche Heide im Kampf gegen Christen und Juden“, Berlin 1924). Vgl. zum Zusammenhang: Blaschke Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997, S. 272. 41 Haeuser: Barnabasbrief (wie Anm. 31), S. 127. 42 Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), S. 17.

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ging die Publikation der Schrift auf eine bischöfliche Disziplinarmaßnahme zurück: Der Augsburger Bischof Maximilian Lingg hatte Haeuser auf Bitten des Augsburger Bezirksrabbiners Richard Grünfeld und anderer jüdischer Honoratioren verboten, seine Thesen im katholischen kaufmännischen Verein Laetitia in Augsburg vorzutragen. Haeuser, dem nicht nur die Einsicht in die denunziatorischen Wirkungen seiner antijüdischen Explikationen, sondern trotz einer immer wieder herausgestrichenen „autoritären“ Grundhaltung offenbar auch jedes Verhältnis zum priesterlichen Gehorsam fehlte, war empört, dass „der Bischof mir im Namen der Synagoge verbot, ein christliches Thema im schwersten christlichen Kampf in christlicher Rede zu behandeln“.43 Welche anmaßende, und in ihrer fanatisierten Dynamik von kirchlichen Disziplinarmaßnahmen kaum zu steuernde Haltung Philipp Haeuser schon Anfang der 1920er-Jahre gegenüber seinem Bischof und der Diözesanleitung einnahm, und wie er immer mehr gleichsam zum „Getriebenen“ seines übersteigerten Geltungsbedürfnisses wurde, zeigt der Brief, mit dem der Straßberger Pfarrer am 31. Januar 1923 die Einsendung eines Druckexemplars von „Jud und Christ“ an das Augsburger Ordinariat begleitete: „Furchtlos“, so Philipp Haeuser hier, „kämpfe ich weiter für Gott, Wahrheit und Vaterland, selbst wenn irgendeine Obrigkeit es für gut findet, gegen mich einzuschreiten. Mein Lebensgrundsatz ist das Wort des Apostels Paulus in Gal. 1,10: Wenn ich noch Menschen gefallen würde, wäre ich Christi Diener nicht.“ 44 Dennoch war selbst „Jud und Christ“ zwar eine radikal antijüdische – und damit im völkischen Lager anschlussfähige – aber keine antisemitische Schrift im Sinne des Rassenantisemitismus als verbindendes Kernelement nationalsozialistischer „Weltanschauung“. Antisemitische Interpretationslinien, wie etwa die besonders von „deutschchristlichen“ Theologen aufgebrachte Vorstellung, Jesus sei ethnisch kein Jude, sondern „arischer Galiläer“ gewesen, lehnte Haeuser deutlich ab. Durch nichts, so Haeuser im Dezember 1924 vor der Augsburger Ortgruppe der Deutschnationalen Volkspartei (beziehungsweise Bayerischen Mittelpartei) schade sich die „völkische Bewegung“ so sehr, als wenn sie „das Christusproblem vom völkischen Standpunkt aus beurteilen“ wolle und „in hochmütiger Verblendung“ behaupte, „Jesus sei nicht, wie die Evangelien lehren, Jude gewesen.“ „Rassenhochmut allein hat jene Lehre diktiert. Rassenhochmut kann es nicht ertragen, daß Jesus einem fremden Volke entstammt, kann es nicht verschmerzen, daß ferner der Weltschöpfer Jahve zuerst von den Juden verehrt wurde“.45 Demgegenüber gelte es festzuhalten, dass „Wahrheiten überhaupt, also vor allem auch die religiösen Wahrheiten [. . .] noch nie das Produkt eines Blutes“ gewesen

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Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), S. 17. Ebd. Haeuser, Philipp: Pazifismus und Christentum, Augsburg 1925, S. 35.

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sind.46 Das lief nicht auf ein antisemitisches, aber auf das traditionell-antijüdische Argument hinaus, die jüdische Herkunft Jesu sei zwar unbestreitbar, aber letztlich bedeutungslos – eine Sicht, die den Kern der jesuanischen Verkündigung in der endzeitlichen Sammlung Israels, und damit auch den Ursprung der Kirche, eklatant verkennt. Auch andere biologistische Argumente, wie sie konstitutiv für den modernen Antisemitismus sind, oder gar Anklänge eines „eliminatorischen“ Antisemitismus finden sich im Pamphlet von 1923 wie auch in anderen Publikationen und Reden Philipp Haeusers nicht. Dagegen entwickelte er ganz in den Bahnen des „tradierten“ Antijudaismus, wenn auch mit aggressivem Unterton, immer wieder die Auffassung, Israel habe zwar das mosaische Gesetz, die Propheten und schließlich den Erlöser selbst hervorgebracht, sei aber durch seine göttliche Erwählung nicht gebessert, sondern im Gegenteil immer stärker in Hochmut und sittlichen Verfall hineingetrieben worden, so dass es heute mit Fug und Recht als ein „verfluchtes Volk“ 47 gelten könne.48 Dass Gott gerade im jüdischen Volk Mensch geworden sei, müsse als Ausdruck der extremsten Selbstverdemütigung Gottes in der Heilsökonomie verstanden werden.49 Über antijüdische Interpretationen zentraler neutestamentlicher Gleichnisse und unter Verweis auf die z. T. von ihm bearbeiteten frühchristlichen Autoren kam Haeuser so zu dem aktualisierenden Schluss, dass die ursprüngliche Erwählung Israels keine Bevorzugung, sondern eine Abwehr des jüdischen Volkes notwendig mache und das der Katholizismus der Gegenwart in dieser Hinsicht „von den Christen der glaubens- und kampfesfrohen Kirche“ des Anfangs lernen müsse.50 Für den Umgang mit den Juden im Deutschland des Jahres 1923 stellte Haeuser sich den Schritt zurück hinter die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts und in den Status einer geduldeten, in minderem, jederzeit aufhebbaren Rechtsstatus lebenden Randgruppe vor. „Nicht jüdische Staaten mit christlichen Untertanen!“, so seine Forderung. „Nein, trotz Weimarer Verfassung christliche Staaten, in denen allerdings dem Juden das Gastrecht gewährt werden kann, solange er sich fügt.“ 51 Die hier aufscheinende Identifikation der bei Haeuser verhassten, 1919 errichteten Republik mit dem „Judentum“, war der aktualisierende Grundzug im Antijudaismus des Straßberger Pfarrers. Er wisse schon, so Haeuser einleitend, dass ihm die vorliegende Arbeit den Vorwurf „Schamlose Judenhetze! Gefahr für die deutsch-jüdische Republik“ eintragen werde.52 Gegen einen Mann wie den heiligen Stephanus mit seiner (ganz in der Tradition alttestamentlicher Prophetie) stehenden Kritik an der „Halsstarrigkeit“ des jüdischen Volkes hätten, so Haeuser, 46 47 48 49 50 51 52

Haeuser: Pazifismus und Christentum (wie Anm. 45), S. 36. Haeuser: Jud und Christ (wie Anm. 40), S. 29. Die gesamte Argumentation ist entwickelt ebd. S. 12–14 u. 29 f. Ebd. S. 15. Ebd. S. 34. Haeuser: Jud und Christ (wie Anm. 40), S. 39. Ebd. S. 6.

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die „christlichen Politiker“ der republikanischen Gegenwart schon längst das Einschreiten der Polizei „zum Schutze der deutsch-jüdischen Republik“ verlangt.53 Diese Stilisierung des Attributs „jüdisch“ zum Qualifizierungsbegriff für politische und soziale Haltungen war – aller Wiederaufnahme antijüdischer Argumentationsmuster seit dem frühen Christentum ungeachtet – dasjenige Moment in Haeusers Polemik von 1923, das die offene Flanke seines radikalisierten Antijudaismus zum modernen Antisemitismus markiert. In diesem Sinne musste die gesamte industriegesellschaftliche Moderne mit ihren politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen und neuen Formen als „jüdisch“ erscheinen. Die „Offenbarungen Gottes an das jüdische Volk“, so Haeuser, dürften „nicht Anlass sein, daß wir jetzt feige unser Land und unser Volk an die Juden ausliefern [. . .] und die Welt der jüdischen Freimaurerei, einer verjudeten Demokratie und einem verjudeten Parlamentarismus überlassen.“ 54 Hier wandelte Haeuser ganz in den Spuren des österreichischen Priesters und Publizisten Robert Klimsch, der 1920 bei Manz in Regensburg – auch Haeusers Hausverlag – seine Broschüre „Die Juden“ veröffentliche hatte55, die Haeuser in „Jud und Christ“ ausdrücklich als Quelle und Vorlage benannte.56 Diese antisemitische Ausweitung des Begriffs des „Jüdischen“ zur Chiffre für die abgelehnte Moderne – und hier zeigt sich die mangelnde Tragfähigkeit der Zuschreibung vom „schwarzen Braunen“ auf dem Feld des Haeuserschen Antijudaismus besonders deutlich – musste von Beginn an auch eine Dynamik enthalten, die sich gegen den Katholizismus selbst, gegen Lehre, Tradition und historische Gestalt der Kirche richtete. Je mehr Haeuser sich in den fünf Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1918 und seinem Lebensende von katholischer Kirchlichkeit emanzipierte, desto deutlicher trat diese Tendenz hervor. Am Ende waren ihm nicht nur Demokratie und Parlamentarismus „verjudet“, sondern auch die Kirche. Ähnlich wie wir es auch bei seiner vitalistisch-militanten Jesusfrömmigkeit sehen werden, bewegte Philipp Haeuser sich hier immer deutlicher in den Bereich einer völkisch grundierten, lebensphilosophisch-parachristlichen Heterodoxie. War schon 1923 in „Jud und Christ“ davon die Rede, „weite Kreise des deutschen Katholizismus und Protestantismus“ hätten sich durch das „Judentum“ in „internationale, demokratische, den gesunden Volksgeist untergrabende Ideen“ hineinziehen lassen57, und bezeichnete er 1931 die kirchliche Kritik an seinem Engagement für die NS-Bewegung als Geisteshaltung der „benörgelnden und kritisierenden Pharisäer“ 58, so wurde in einem Brief an den kirchlich gemaßregelten 53

Haeuser: Jud und Christ (wie Anm. 40), S. 23. Ebd. S. 35. 55 Klimsch, Robert: Die Juden, ein Beweis für die Gottheit Jesu und ein Mahnruf für die Christen der Gegenwart, Regensburg 1920. 56 Haeuser: Jud und Christ (wie Anm. 40), S. 8. 57 Ebd. S. 39. 58 Haeuser: Kampfgeist gegen Pharisäertum (wie Anm. 12), S. 9. 54

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Alban Schachleiter vom 5. Februar 1933 die Kluft deutlich, die Haeuser schon zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft von der Kirche trennte: „Seien wir überzeugt:“, so schrieb er dem schon 1920, nach der Vertreibung der deutschsprachigen Mönche, zum Verzicht auf seine Abtwürde in der Prager Emaus-Abtei gezwungenen und im März 1933 schließlich wegen seiner offen nationalsozialistischen Haltung von der römischen Ritenkongregation suspendierten Schachleiter, „Wenn Jesus heute wieder unter uns erscheinen würde, die Bischöfe und Rom selbst würden ihn mit allen möglichen Kirchenstrafen belegen, sie würden auf seinen Untergang hinarbeiten und nach seinem Tode ihm das kirchliche Begräbnis verweigern. Kein Priester dürfte an seinem Grabe stehen!!“ 59 Nach dem Krieg, als Haeuser sich mehr denn je als Opfer einer „jüdisch-römischen“ Verschwörung und des „voreingenommene[n] römische[n] Zentrumsgeist[es]“ sah, den er Bischof Josef Kumpfmüller in Augsburg schon 1930/31 vorwarf 60, waren die Formulierungen des „braunen Priesters“ von der Begrifflichkeit des nationalsozialistischen Antikatholizismus nicht mehr zu unterscheiden. In einem auf den August 1956 datierten Manuskript mit dem Titel „Lebensfreude oder Reue und Buße“ zum Beispiel, verwarf Haeuser – charakteristisch für die antikatholische Imagination eines „verjudeten“ Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert – die Lehre von der Erbsünde, wobei der Kampfbegriff des „Jesuitischen“ in eine überaus kennzeichenende Verbindung mit der polemisch ausgeweiteten Zuschreibung des „Jüdischen“ gebracht wurde. Seit Jahrhunderten, so Haeuser, führe der „Jesuitismus“ als prägende Kraft der Kirche „einen scharfen, stillen und offenen Kampf gegen die deutsche Persönlichkeit, den nordischen Geist.“ 61 So sei die katholische Kirche – deren Priester Haeuser doch noch immer war und die ihm mit Pensionszahlungen seinen Lebensabend in Oberschönenfeld ermöglichte – „als jesuitische, judenfreundliche, im Gesetztum erstarrte Kirche gleich dem Judentum der unheimlichste, zäheste und gefährlichste Feind der deutschen und nordischen Bewegung“ geworden. Jesus sei „der Gegensatz zu einer verjudeten, jesuitischen Kirchenmacht.“ 62 Die Darstellung der katholischen Kirche als „jüdische Gesetzeskirche“, die ihre innere Verwandtschaft mit dem talmudischen Judentum durch das starre Festhalten an „lebensfeindlichen“ Regeln und „Gesetzen“ erweise, war ebenso ein Topos des Antikatholizismus im „langen“ 19. Jahrhundert, wie die Konstruktion einer inneren Konvergenz von „Judentum“ und „Jesuitismus“, die in der Gestalt des „Juda-Jesuiten“ 63 ihre Verkörperung er59 Brief von Philipp Haeuser an Alban Schachleiter, 5. Februar 1933, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, NL Schachleiter 10. 60 Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), S. 193. 61 Haeuser, Philipp: Lebensfreude oder Reue und Buße; Kopie des Manuskripts (August 1956) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 6. 62 Ebd. 63 Borutta, Manuel: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, S. 399. Auch Healy, Róisín: The Jesuit specter in imperial Germany, Boston 2003.

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fuhr. Haeuser machte sich diese Topoi mehr und mehr zu eigen. War er zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch von den Ufern eines tradierten Antijudaismus aufgebrochen, wird man die radikalisierte, sich Hauptargumenten eines biologistischen Antisemitismus zwar verschließende, aber vor allem über die polemische Entgrenzung der Metapher des „Jüdischen“ an einen solchen Antisemitismus dennoch anschlussfähige Judenfeindschaft, die Philipp Haeuser bereits in den 1920er-Jahren erkennen ließ und spätestens zu Beginn der 1930er-Jahre voll entfaltete, nicht umstandslos als „katholischen Antijudaismus“ oder gar „Antisemitismus“ bezeichnen können.64 Vielmehr führten diesen Priester sowohl die Einseitigkeit seiner theologischen Auseinandersetzung mit der Abgrenzung des frühen Christentums vom Judentum – die, wie wir noch sehen werden, in der häretischen Stilisierung Jesu zum größten Feind eines als Geistes- und Welthaltung verstandenen Judentums gipfelte –, als auch die kirchlichen Disziplinarmaßnahmen gegen seine nationalsozialistische und antijüdische Agitation zu einer Verschmelzung von Antijudaismus und Antikatholizismus, wie sie für eine deutschvölkische Haltung typisch war. Philipp Haeuser war sicher ein „antijüdischer“ Priester, aber er war untrennbar davon auch – diese paradoxe Formulierung ist kaum zu umgehen – ein antikatholischer katholischer Priester. Ihm selbst war diese Aporie durchaus bewusst: Als er sich im Sommer 1955 in dem Manuskript „Kirche oder Einsamkeit“ Rechenschaft darüber zu geben suchte, warum er eigentlich noch in der Kirche bleibe, fand er nur noch den pseudodialektischen Ausweg, er kappe die Verbindung zur Kirche nicht, um den Schmerz Jesu an der erstarrten jüdischen Gesetzesreligion und ihrem „heuchlerischen Priestertum“ nachempfinden zu können.65 III. „Jesus, der Kämpfer“ Eng mit dieser Amalgamierung von völkischen Antijudaismus und Antikatholizismus verbunden, war der zweite oben bezeichnete Kernpunkt seines Ideenkonglomerats: die Jesus-Rezeption. Eine stärker auf das persönliche Erleben, die persönliche Beziehung in der Spannung von Göttlichkeit und Menschlichkeit abhebende Aneignung der Christus-Gestalt lag in den 1920er und 1930er-Jahren durchaus im Trend der theologischen Aufbrüche im deutschen Katholizismus der Zwischenkriegszeit – man denke an Karl Adams „Christus unser Bruder“ von 1926, seinen „Jesus Christus“ von 1933 oder an Romano Guardinis „Der Herr“ von 1937.66 Haeuser verzerrte und radikalisierte diesen Ansatz neuer Jesus64 Eine solche Einordnung legt nahe: Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus (wie Anm. 40), S. 271 f. 65 Haeuser, Philipp: Kirche und Einsamkeit; Kopie des Manuskripts (17. Juli 1955) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 7. 66 Adam, Karl: Christus unser Bruder, München 1926; Adam, Karl. Jesus Christus, Augsburg 1933; Guardini, Romano: Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi, Würzburg 1937.

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Frömmigkeit vor allem in den Schriften „Der Kämpfer Jesus“ und „Wer warst du, Jesus?“ durch eine Herausstellung Jesu als „Führer“, wobei es ihm zuerst darauf ankam, wieder und wieder darauf hinzuweisen, dass Jesus kein „Pazifist“ gewesen sei. Nun ist auch die aktuelle Kritik moderner Jesusbilder, etwa bei Roman Heiligenthal67 oder Klaus Berger, durchaus der Auffassung, dass es, wie Berger schreibt, einer um die Vermeidung des Anachronismus vom „frommen Moralisten“ Jesus68 bemühten Exegese trotz des Aufrufes zur Feindesliebe in der Bergpredigt, „nicht möglich“ sei, „Aussagen über Gewaltgebrauch aus den Erzählungen über Jesus oder aus seinen Worten zu tilgen“.69 Geht es einer solchen Perspektive heute vor allem darum klarzulegen, was evangelische Begriffe wie „Feind“ oder „Frieden“ im Horizont der Verkündigung Jesu bezeichnen, wollte Philipp Haeuser Jesus als „Kampfnatur“ 70 begreifen und seinen Kreuzestod nicht als Selbsthingabe aus Liebe, sondern als den bewussten, durchaus in Parallele zu seiner Auffassung des Frontkämpfers im Ersten Weltkrieg zu sehenden, Opfergang eines „Kämpfers“ akzentuieren. „Wir deutschen Christen“, so Haeuser 1931 in seiner „Weihnachtsrede“ vor Augsburger Nationalsozialisten, „halten um Jesu willen an der Kampfespflicht fest. [. . .] Das Kreuz Jesu ist doch gerade das Zeichen seines rücksichtslosen Kampfes.“ 71 Käme Jesus heute auf die Erde zurück, so Haeuser schon 1924 im Blick auf die Szene der Tempelreinigung in den Evangelien, würde er „ebensowenig wie damals dem Volke mit pazifistischen, süßen Reden schmeicheln, er würde wieder kämpfen. Vielleicht würde er den Strick überhaupt nicht mehr aus der Hand legen können.“ 72 Das von der Kirche in der Messfeier tradierte Opferverständnis sei noch immer deckungsgleich mit der jüdischen Sicht des Opfers als Buß- und Sühneopfer, letztlich als „Selbstentehrung und Selbstentmannung“, als „Opfer der Schande und Ehrlosigkeit“.73 Ein solches Opfer aber, habe der „Kämpfer Jesus“ nicht darbringen können und wollen; sein Opfer am Kreuz sei ein „Opfer der Ehrfurcht“ gewesen. Haeuser zögerte 1958 nicht, zu vermerken, dass 1945 auch Hitler ein solches „Opfer der Ehrfurcht“ dargebracht habe74; Christus und Hitler verwischten sich in seinen späten Phantasmagorien zu einer einzigen Erlösergestalt. 1953 schrieb Haeuser über den „Führer“: „Daß er in Berlin im April 1945 im furchtbarsten Schicksal des deutschen Volkes sein Leben beschließen mußte, ist nicht, wie kirchliche, jüdische wie christliche, Kreise in aller Welt verkünden, ein Beweis dafür, daß Gott ihn 67 Heiligenthal, Roman: Der verfälschte Jesus. Zur Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 1997, S. 120–124 („Jesus, der Vegetarier und Friedensfreund“). 68 Berger, Klaus: Jesus, München 2007, S. 375. 69 Ebd. S. 391. 70 Haeuser: Pazifismus (wie Anm. 45), S. 17. 71 Haeuser: Kampfgeist gegen Pharisäertum (wie Anm. 12), S. 13. 72 Ebd. S. 18. 73 Haeuser, Philipp: Opfer der Ehrfurcht, nicht Opfer der Buße!; Kopie des Manuskripts (Juli 1958) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 4 u. 7 f. 74 Haeuser: Opfer der Ehrfurcht (wie Anm. 73), S. 4.

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strafte und daß sein Werk, wie der Papst mit dem ganzen Jesuitismus behauptet, ein Werk des Teufels war. Prediger, welche Hitler in solcher Weise verfluchen und verdammen, müßten konsequent auch den gekreuzigten Jesus wegen seines Schicksals und des schmerzlichsten Mißerfolges verfluchen und verdammen.“ 75 Eine ähnliche Identifikation nahm Haeuser auch im Blick auf Alfred Rosenberg vor, dem er sich durch einige persönliche Begegnungen besonders verbunden fühlte. In Rosenbergs ideologischem Hauptwerk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, das einer „Überwindung“ des Christentums das Wort redete76, wollte Haeuser eine philosophisch-geistesgeschichtliche Unterfütterung seiner Jesus-Rezeption sehen; der Kampf vieler Theologen gegen das 1934 auf den Index gesetzte Buch – zum Beispiel die unter Federführung des Kölner Domvikars und späteren Generalvikars entstandenen „Studien zum Mythos des 20. Jahrhunderts“ 77 – sei „der Kampf zwischen einem kampfscheuen Jesus und dem Kämpfer Jesus“ gewesen.78 Das Werk Rosenbergs, so Haeuser 1954 im Rückblick, habe auf die Kämpfernatur Jesu hingewiesen, die von der Kirche unterdrückt und verdunkelt werde, weil sie Angst vor freien, kämpferischen, „deutschen“ Persönlichkeiten habe und die Gläubigen in einer auf Verfälschung der Offenbarung beruhenden Botmäßigkeit halten wolle. Durch die von Haeuser konstruierte Geistesverwandtschaft konnte ihm letztlich auch Rosenberg zur Jesusfigur werden: „Dieser ehrliche und mutige Kämpfer für deutsche Seele und deutschen Geist wurde vom Nürnberger Militärgericht zum Tod am Galgen verurteilt. Während die mit ihm verurteilten Kameraden kurz vor der Hinrichtung noch einige Worte des Abschieds sprachen, schwieg Rosenberg. Lieber Rosenberg, warum hast du geschwiegen? Ich hätte gerade aus deinem Munde so gerne noch ein Wort vernommen. Aber vielleicht hast Du dort am Galgen im letzten Augenblick deines Lebens nochmals an den Kämpfer Jesus und seine überragende Persönlichkeit gedacht.“ 79 Letztlich, das schien sowohl bei seinen Hitler-Apotheosen als auch im Blick auf Rosenberg durch, sah Philipp Haeusers sich selbst als Teilhaber am Verfolgungsschicksal des „Kämpfers“ Jesus, sah sich, verfolgt von „Juden“ und „Jesuiten“, selbst als Kreuzträger: „Ich kannte“, so schrieb er 1948 im Blick auf seine Verurteilung im Spruchkammerverfahren, „das Kreuz Jesu zu gut, um nicht in meinem Leben so etwas wie einen Kreuzweg zu ahnen.“ 80 75

Haeuser: Hitler hat nicht umsonst gelebt (wie Anm. 14), S. 8. Z. B. Bärsch Claus-Ekkehard: Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ als politische Religion, in: Maier, Hans/Schäfer, Michael (Hrsg.): „Totalitarismus“ und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band 2., Paderborn, München, Wien u. Zürich 1997, S. 227–248. 77 Erzbischöfliches Generalvikariat (Hrsg.): Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts (Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, Amtliche Beilage), Köln 1934. 78 Haeuser, Philipp: Das Geheimnis des einsamen Jesus; Kopie des Manuskripts (6. Dezember 1954) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 35. 79 Haeuser: Das Geheimnis des einsamen Jesus, S. 35. 80 Haeuser: Kirche und Entnazifizierung (wie Anm. 18), S. 33. 76

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Diese letzte Steigerung einer Selbstbeschreibung, die – auch wenn hier keineswegs ein „psychologisches“ oder gar psychiatrisches Urteil zu Haeuser gefällt werden kann oder soll – beim Betrachter, wie die anderen zitierten Selbststilisierungen Haeusers, unwillkürlich die Frage nach der Fähigkeit ihres Urhebers zu einer sachgerechten und von eigenen Befindlichkeiten abstrahierenden Weltwahrnehmung aufkommen lässt, zeigt, ähnlich wie im Falle von Haeusers radikalisiertem Antijudaismus, dass das Attribut „katholisch“ für die Geisteshaltungen dieses katholischen Priesters in die Irre führt. Die Figur des „Kämpfers“ und „Führers“ Jesus war Philipp Haeuser das Zentrum einer ekklesiophoben Privatreligion deistisch-völkischen Zuschnitts, die aus Sicht der katholischen Glaubenslehre Häresie, aus Sicht nationalsozialistischer Ideologen ein ebenso verstiegener wie überflüssiger Versuch war, christliche Versatzstücke zu retten, derer sie längst nicht mehr bedurften. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die Erfahrung von Verurteilung und Lagerhaft 1947/48 scheinen bei Haeuser die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einsetzende Emanzipation von Kirche und Katholizismus vollends zum Durchbruch gebracht zu haben. Aus dem Internierungslager berichtete Haeuser im Ton eines Erweckungserlebnisses, er sei, weil er nicht zelebrieren konnte, eine Zeit lang jeden Sonntagmorgen an den Lagerzaun gegangen, um dort in der Stille auswendig die Messgebete zu sprechen. „Da kam mir der befreiende Gedanke: Diese prachtvolle Natur, diese Gottesschöpfung ist der Altar Gottes. Ich brauche nicht den kirchlichen Altar, ich kann verzichten. Diese Erde, diese Schöpfung war der Altar, an den Jesus getreten war, um die Gesetze des Werdens, den Lebenskampf und das Lebensschicksal, opferfroh zur Ehre des Schöpfers und Vaters zu beachten.“ 81 Beten konnte Haeuser nun, um eine heute bisweilen zu hörende Absage an das gemeinschaftliche Gebets- und Liturgieleben in der Kirche zu zitieren, eben auch „im Wald“. Die Absage des Priesters Haeuser an das Kernsakrament der Kirche, war auch die Absage an die Kirche selbst als „sacramentum mundi“: Schon 1937 hatte er geschrieben, „Kampf und Schicksal [. . .] als vom Schöpfer gewollte Naturgesetze [. . .] sind uns zu Sakramenten geworden, die uns veredelten und vervollkommneten, so daß wir nicht mehr ängstliche, furchtsame Sklaven des Lebens sind, sondern seine Herren, nicht mehr vor Sünde und Fluch erschrecken, sondern mit reinen Augen in allen Natur- und Lebensgesetzen Gottes Offenbarung schauen.“ 82 Seine wachsende Ablehnung der Kirche, die er als „Gesetzes“-Institution und damit als das eminent „Jüdische“ am Katholizismus ansah und die er – wie so viele theologisch-politische Bewegungen verschiedenster Provenienz seit Beginn der Neuzeit bis in unsere Gegenwart – durch eine vermeintlich „unmittelbar“„lebendige“, den kirchlichen Traditionszusammenhang obsolet machende „Be81 82

Haeuser: Opfer der Ehrfurcht (wie Anm. 73), S. 7 f. Haeuser: Der Kämpfer Jesus, S. 3.

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gegnung“ mit Jesus „selbst“ aufgehoben sehen wollte, ließ Philipp Haeuser besonders nach dem Zweiten Weltkrieg einen „Reformkatholizismus“ auf völkischlebensphilosophischer Grundlage entwickeln. Von der „optimistischen, den Schöpfergesetzen des himmlischen Vaters dienenden Lebensauffassung“ der „Kämpferpersönlichkeit Jesu“ ausgehend83, wandte er sich mit wachsender Schärfe gegen die Sexualmoral der Kirche, den Zölibat der Weltpriester und das Ordensleben: Sie seien „eine gewaltige systematische Loslösung“ von den „Lebensgesetzen“, die aus der Kirche eine „Lebensflüchtige“ mache.84 Als „Lebensflucht“ erschien Haeuser nun auch jede geregelte Form geistlichen Lebens, die der Emphase seiner „flottierenden“ vitalistisch-völkischen Religiosität die Nüchternheit einer von individuellen „Empfindungen“ wegführenden Kontemplation entgegensetzen konnte: Immer wieder kritisierte er das Stundengebet als kennzeichnende Form der „jüdischen“ Gesetzeskirche85 und meinte noch 1958 im Blick auf die Zisterzienserinnen in Oberschönenfeld, diese hätten „in ihren stundenlangen Gebeten keine Zeit zum Denken.“ 86 Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen brach auch der antirömische Affekt, der bei Philipp Haeuser schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sichtbar geworden war, immer ungehemmter durch. Das machte sich zunächst an der Person Eugenio Pacellis, des späteren Papstes Pius XII. fest. Schon bei einer Aussprache in der Münchener Nuntiatur habe er den künftigen Papst als „erstarrten Gesetzeslehrer“, also in Haeusers Nomenklatur als einen Vertreter der „jüdischen“ Erblast der Kirche kennengelernt, dem es eine „zeitgemäße“, an den „Realitäten“ des Lebens orientierte Haltung entgegenzusetzen gelte. „Er hatte kein Verständnis für das Schöpfergesetz, für das Werden der Geschichte. Jesus – das Leben, der Papst – die Erstarrung“.87 Aus dieser „Erstarrung“ heraus, so Haeuser 1958 beim Tode des Papstes an seinen Vertrauten Oswald in Straßberg, „haßte“ Pius XII. „die große deutsche Bewegung“ – den Nationalsozialismus.88 Die Antwort darauf, so noch der 82-jährige Haeuser, könne nur sein, sich noch stärker als bisher, in den „Kampf von Religion und Geist gegen jüdische, kirchliche Erstarrung und seelische Versklavung“ zu vertiefen.89 Aber nicht nur Pius XII., sondern auch das römische Zentrum des Weltkatholizismus als historische 83

Haeuser: Das Geheimnis des einsamen Jesus (wie Anm. 78), S. 26. Ebd. S. 29. 85 Ebd. S. 26 f. 86 Brief von Philipp Haeuser an Oswald, 14. Oktober 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 87 Haeuser, Philipp: Ohne Ehrfurcht keine Gemeinschaft, kein Leben in Familie, Volk, Kirche; Kopie des Manuskripts (November 1957) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 12. 88 Brief von Philipp Haeuser an Oswald, 14. Oktober 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 89 Brief von Philipp Haeuser an Oswald, 1. September 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 84

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und aktuelle Wirklichkeit nahm Philipp Haeuser immer stärker ins Visier: „Nordischer Kulturgeist“, so notierte er 1955, „baute die gothischen Dome, römische Machtgier den Petersdom.“ 90 Noch denke er manchmal an „Peterskirche und Vatikan“, so Haeuser Anfang 1959 wiederum an Lehrer Oswald, und sehe den Adressaten „in Ihrer Truppe“ an beiden vorbeimarschieren – bei der deutschen Besetzung Roms 1943. Für Oswald sei die Peterskirche, so der 82-jährige Haeuser Anfang 1959 aus dem Altenheim, damals „ohne Bedeutung“ gewesen und auch für ihn selbst sei sie „immer bedeutungsloser“ geworden. „Denn ich marschiere, marschiere.“ 91 Dieser Marsch führte den Priester Philipp Haeuser nicht nur weg von Kirche und Katholizismus; er konnte auch kein Marsch in die neue Bundesrepublik sein, deren Schaffung Haeuser, der seit 1918 gegen Zentrum und Bayerische Volkspartei publiziert und polemisiert hatte, als einen späten Triumph des politischen Katholizismus der Weimarer Republik, und damit zugleich als Triumph des „jesuitischen“ deutschen Klerus betrachtete. Die Bundesrepublik, so hielt Haeuser im November 1957 nach der Bundestagswahl vom September fest, die CDU und CSU die absolute Mehrheit gebracht hatte, sei ein „Kirchenstaat der römischen Kirche“.92 Selbst auf die Protestanten, die früher in ihrer Mehrheit halbwegs „national“ gewesen seien und „in Bekämpfung römischer Kirchenmacht stets ihre Aufgabe gesehen“ hätten, sei nun kein Verlass mehr: Sie unterstützten jetzt „durch ihre Politik Adenauer und ihre römische Pilgerschaft den Untergang der deutschen Volksgemeinschaft“.93 Der Katholizismus, von dem Haeuser sich verabschiedete und die zweite deutsche Republik im Wiederaufbau verschmolzen dem Weltdeuter von Oberschönenfeld zu einer einzigen katholisch-demokratischfranzösisch-marianischen Lüge: „Herrlich: Wirtschaftswunder, Krankenhauswunder, Schulhauswunder! Die Muttergottes von Lourdes, von der die geschichtliche, wahre Mutter Jesu schon lang aus dem Weg geräumt wurde, wirkt wunderbar im französisch-frommen Adenauer Volk. Für fromme Leute ist es eine Lust zu leben. Doch, Herr Hauptlehrer, wir haben eine andere Auffassung von Leben und Lebenslust.“ 94 Auch wenn man geneigt sein könnte, solchen Zeitwahrnehmungen des über 80-jährigen einen dementen Zug zuzusprechen, bilden sie doch die intellektuelle und politische Entwicklung dieses zugleich exzeptionellen und auf spezifische Weise paradigmatischen Priesters authentisch ab. Die ambivalente, letztlich nur 90 Haeuser, Philipp: Abendländische Kultur?; Kopie des Manuskripts (20. Februar 1955) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser, S. 11. 91 Brief von Philipp Haeuser an Oswald, 28. Januar 1959; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 92 Haeuser: Ohne Ehrfurcht (wie Anm. 87), S. 7. 93 Ebd. 94 Brief von Philipp Haeuser an Oswald, 1. März 1958; Kopie im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser.

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biographisch zu erfassende Verbindung zwischen der Exzeptionalität der völkisch-religiösen Sonderwelt, die Haeuser sich synthetisierte, und der Beispielhaftigkeit seines Weges für die Aporien, in die sich aktivistische katholische Minderheiten mit ideologischen Annäherungsversuchen an den Nationalsozialismus unweigerlich begeben mussten, macht Philipp Haeuser für generalisierende Verweise auf tatsächliche oder vermeintliche Affinitäten deutscher Katholiken zum Nationalsozialismus denkbar ungeeignet. Das wird auch deutlich, wenn man den Umgang der Augsburger Bistumsleitung mit Haeuser in den Blick nimmt. Was dem Betrachter entgegentritt, wenn er die Personalakte Haeusers durchblättert ist nicht, wie die zweifellos lange gegebene Unterstützung des Straßberger Pfarrers durch Weihbischof Eberle nahelegen könnte, der Versuch des Ordinariates, einen „braunen Priester“ aufgrund ausgeprägter Kooperationsbereitschaft mit dem System oder gar diffuser Sympathien für den Nationalsozialismus im Amt zu halten. Es ist Hilflosigkeit. Hilflosigkeit gegenüber einem durch die nur im gläubigen Gehorsam wirksame kirchliche Disziplin immer weniger zu beeinflussenden Aktivisten, den man in Augsburg längst als Ärgernis empfand, zu dessen endgültiger Abstoßung man sich aber wegen der Sorge vor einem öffentlichen Skandal oder einem Konflikt in der Straßberger Pfarrgemeinde, wegen gewachsener persönlicher Loyalitäten, wie im Falle Eberles, wegen lange nachwirkender Sympathien für Haeusers Auftreten gegen die Revolution von 1918 doch nicht durchringen konnte. Philipp Haeuser erspürte das Dilemma, ja die Selbstblockade der Diözesanleitung zwischen dem Versuch, einerseits die manifeste Trennung zu vermeiden und andererseits die kirchliche Disziplin durchzusetzen, mit bemerkenswerter Sensibilität und nutzte den daraus erwachsenden Spielraum mit einer für sein unerschütterliches Selbstbewusstsein charakteristischen Unverfrorenheit. Nichts ist bezeichnender für diese Situation als das, was Domkapitular Weber im Protokoll einer Aussprache vermerkte, die mit Haeuser am 3. März 1932 im Ordinariat wegen Streits in der Straßberger Pfarrei geführt wurde: „Im Verlauf der Vernehmung sagte er dann: [. . .] ,Ich stehe viel zu erhaben da; das ist unter meiner Würde. Ich fürchte keinen Kommissär; ihr könnt kommen; ich fürchte euch nicht; ich fürchte überhaupt niemanden; ich fürchte den Herrgott nicht.‘ Unter diesen Umständen verzichtete der Unterzeichnete auf jede weitere Auseinandersetzung.“ 95 Haeuser selbst bemerkte stolz, er habe bei einer Vorladung zu Bischof Kumpfmüller am 19. Dezember 1930 nicht abgewartet, bis der Bischof ausgeredet hatte, sondern sich mit der Bemerkung verabschiedet, „daß ich gehen müsse, da ich in der Stadt noch einiges zu besorgen habe. [. . .] Ich habe damit gezeigt, daß ich selbst geistig der Herr der Situation bin.“ 96

95 Protokoll der Aussprache mit Philipp Haeuser, 3. März 1932; Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert). 96 Haeuser: Mein Werden (wie Anm. 2), S. 195.

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Als sich diese Situation nach 1945 wandelte, als die Einstufung Haeusers als „Hauptschuldiger“ seine Disziplinierung, nicht zuletzt mithilfe der Pension, aussichtsreicher erscheinen ließ, als Weihbischof Franz Xaver Eberle sich gegenüber der Spruchkammer zustimmend zur Verurteilung Haeusers äußerte97 und der Straßberger Pfarrer als Exempel für die Entfernung von NS-Sympathisanten aus dem Dienst der Kirche dienen konnte, machte diese Hilflosigkeit größerer Entschiedenheit Platz, in der sich der aufgestaute Ärger über Philipp Haeuser und der Wunsch, sich die Jahre der NS-Herrschaft in der Zurückweisung seiner Person gleichsam symbolisch vom Leibe zu halten, ebenso bemerkbar machte, wie die Lernprozesse, die auch auf der Ebene der Bistumsverwaltung eingesetzt hatten. Auf Haeusers Vorhaltung, er leide „große Not“, weil ihm die Pensionsbezüge verweigert würden, antwortete die Bischöfliche Finanzkammer 1952, viele müssten heute, „durch die katastrophale Politik und Machenschaft des Dritten Reiches, dessen eifriger Verfechter sie waren [. . .] in wirklicher Not leben. [. . .] Herr Doktor werden auch nicht vergessen haben, was sie der Kirche und vielen Volksgenossen durch Wort und Schrift geschadet haben. Sie muten der in ihrem wirklich niederträchtigen Machwerk so sehr geschmähten Kirche allzuviel zu, wenn sie von ihr die Bezüge eines Emeriten haben wollen.“ 98 Zum 1. Januar 1954 wurde Haeuser dann doch seine Pension gewährt.99 Auf die Mitteilung, er müsse, da er nun wieder mit Bezügen ausgestattet sei, Miete für die bislang kostenfreie Wohnung im Straßberger Pfarrhof zahlen, erfolgte umgehend die Weigerung Haeusers und postwendend die knappe Erklärung der Finanzkammer, dann werde die Miete eben einfach von der Pension einbehalten. Mit diesem Bescheid schließt die Akte Philipp Haeuser – eine Randepisode, vielleicht sogar eine Arabeske zum Thema Katholiken und Kirche im Zeitalter der Extreme, aber eine aufschlussreiche Episode doch.

97 Vgl. den Brief von Franz Xaver Eberle an die Spruchkammer Schwabmünchen 20. Mai 1947; Kopie der Entnazifizierungsakte Haeusers mit dem Urteil der Spruchkammer Schwabmünchen vom 14. Mai 1947 (AZ 29/21) im Stadtarchiv Bobingen, NL Philipp Haeuser. 98 Brief der Bischöflichen Finanzkammer Augsburg an Philipp Haeuser, 11. Juli 1952; Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert). 99 Mitteilung der Bischöflichen Finanzkammer Augsburg an Philipp Haeuser, 5. November 1953, Archiv des Bistums Augsburg, Pers 1410 (Personalakte Haeuser) (unpaginiert).

Nicht die „volkstümlich vereinfachte Rolandsfigur“ Die Bismarckidee bei Theodor Heuss Tobias Hirschmüller I. Einleitung Reichsgründer, Sozialistenfresser, Sozialgesetzgeber, Antidemokrat, Friedenspolitiker, Trinker, Vorbild, Dämon – auf Bismarck haben sich noch lange nach seinem Ableben viele berufen und viele haben ihn verrufen, in Deutschland wie im Ausland. So schrieb der erste Bundespräsident Theodor Heuss im August 1951 an den Bundeskanzler Konrad Adenauer: „Die Klärung der Beziehungen der Deutschen zu Bismarck ist ja mit ein Politikum geblieben bezw. [sic] immer neu geworden.“ 1 Die beiden Staatsmänner stellten dabei später öfter die Differenzen hinsichtlich ihrer Bismarckbilder fest. Muss sich nicht gerade auf Grund immer wieder vorgekommener Instrumentalisierungen von Geschichte, insbesondere von Bismarck, eine Vereinnahmung von Geschichte als politischem Argument in der Demokratie verbieten oder muss sich Demokratie nicht gerade deswegen hier positionieren? Diese Fragen bewegten bundesdeutsche Politiker nach 1945. Einer der wichtigsten Akteure in der politischen Diskussion um das Verhältnis zur deutschen Geschichte war der erste Bundespräsident Heuss. Schon seit dem Kaiserreich hatte sich der Journalist Heuss immer wieder in Artikeln mit Ereignissen und Personen zur deutschen Geschichte auseinandergesetzt, insbesondere nahm er hierfür Jubiläen zum Anlass. Dies behielt er bei bis zu seinem Amt als Bundespräsidenten. Die Bandbreite seiner historischen Themen reichten von der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg im Jahr 9552 und den Deutschen Bauernkrieg3 über Feldherrn und Generäle wie Albrecht von Wallenstein,4 den Prinzen Eugen,5 Preußenkönig Friedrich den Großen6 und Gneise1 Brief von Heuss an Adenauer vom 3. August 1951, in: Mensing, Peter (Bearb.): Heuss – Adenauer. Unserem Vaterland zugute. Der Briefwechsel 1948–1963, Berlin 1989, S. 84. 2 Augsburg in der deutschen Geschichte. Zur 1000-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Lechfeld, Rede vom 10. August 1955, in: Heuss, Theodor: Profile. Nachzeichnungen aus der Geschichte, Tübingen 1964, S. 16–25. 3 Vossische Zeitung, 7. April 1925. 4 Württemberger Zeitung, 25. Februar 1934. 5 Berliner Tageblatt, 23. Mai 1936.

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nau7 bis zu Reformern und Revolutionären wie dem Reichsfreiherrn vom und zum Stein8 und Karl Marx9. Zwei Bereiche sind überdurchschnittlich häufig anzutreffen: die Revolution von 1848/1849 und Bismarck. Der Wandel von Funktion und Bedeutung der Mythisierung des „Alten im Sachsenwald“ vor dem Hintergrund der Umbrüche in der deutschen Geschichte wurde von der Forschung bisher mit unterschiedlichen Schwerpunkten berücksichtigt. Während die Forschung zum Kaiserreich10 und der Weimarer Republik11 weiter vorangeschritten war, blieben die Zeit des Nationalsozialismus12 sowie der Umgang mit Bismarck in den beiden deutschen Staaten nach 194513 eher 6 Heuss, Theodor: Friedrich II., in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung, 15. August 1936, S. 368–370. 7 Die Sendung. Rundfunkwoche, 21. August 1931. 8 Darmstädter Zeitung, 26. Juni 1931. 9 Heuss, Theodor: Karl Marx. Zum 50. Todestag am 14. März 1933, in: Die Hilfe, 18. März 1933, S. 184–187. 10 Für das Kaiserreich sind zu nennen: McGuire, Michael C. Q.: „Bismarck in Walhalla“. The Cult of Bismarck and the Politics of National Identity in Imperial Germany 1890–1915, Philadelphia 1993; Gräfe, Thomas: Der Bismarck-Mythos in der politischen Kultur des wilhelminischen Kaiserreiches. Die kultische Verehrung des Reichsgründers durch die Parteien und Verbände des nationalen Lagers 1890–1914, Norderstedt 2002; Richter, Christine Monika: Bismarck und Darmstadt. Bismarck-Verehrung und Bismarck-Kult, Darmstadt 2008; Machtan, Lothar: Bismarck, in: Francois, Etienne/ Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Band II, München 20033, S. 86– 104; Fallstudien vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus bietet: Machtan, Lothar (Hrsg.): Bismarck und der deutsche National-Mythos, Bremen 1994. 11 Hardtwig, Wolfgang: Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktion zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: Hardtwig, Wolfgang (Hrsg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 61–90; Weber, Wolfgang E. J.: Konstruktion und De(kon)struktion. Der Bismarck-Mythos in der deutschen Geschichte, in: Dotterweich, Volker (Hrsg.): Mythen und Legenden in der Geschichte, München 2004, S. 129–155; mit breiter Quellenbasis aber inhaltlichen Schwächen: Gerwath, Robert: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler, München 2007. 12 Bei der Erforschung der Instrumentalisierung von Vergangenheit durch den Nationalsozialismus stand der allgemeine „Missbrauch“ Preußens im Mittelpunkt. Hier besonders hervorzuheben: Schlenke, Manfred: Das „preußische Beispiel“ in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 18, Heft 27, 1968, S. 15–23. 13 Hierzu: Breitenborn, Konrad: Bismarck mit und ohne Sockel. Ein Mythos und seine Folgen, in: Iven, Mathias (Hrsg.): Lindstedter Begegnungen über Preußen. 1999 bis 2001, Berlin 2002, S. 183–202; Hedinger, Hans-Walter: Der Bismarckkult. Ein Umriß, in: Stephenson, Gunther (Hrsg.): Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, Darmstadt 1976, S. 201–215; Langewiesche, Dieter: Geschichte als politisches Argument: Vergangenheitsbilder als Gegenwartskritik und Zukunftsprognose – die Reden der deutschen Bundespräsidenten, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, 43, 1992, S. 36–53; Rensing, Matthias: Geschichte und Politik in den Reden der deutschen Bundespräsidenten 1949–1984. Münster, New York 1996; Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, S. 258–267; auch: Wolfrum, Ed-

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marginal berücksichtigt. Hier konnte 2010 mit der von Markus Raasch herausgegebenen Aufsatzsammlung „Die Deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe“ 14 ein wesentlicher Fortschritt erzielt werden.15 Die Fragestellung, der hier nachgegangen werden soll, stellt allerdings bisher weiterhin ein Forschungsdesiderat dar: Die Untersuchung des Wandels des Bismarckbildes eines der entscheidenden späteren westdeutschen Nachkriegsstaatsmänner in vier Zeiten – Kaiserreich, Weimar, Nationalsozialismus, Bundesrepublik – hat bisher nicht stattgefunden. Theodor Heuss ist hierbei die einzige Person, die von der Quellenlage her eine solche Untersuchung ermöglicht. Von der Mehrzahl der bundesdeutschen Nachkriegspolitiker existieren nur vereinzelte Hinweise, wie sie mit dem Mythos um Bismarck in ihrer Zeit vor 1945 konfrontiert wurden. Diese wenigen Hinweise zum Umgang mit Bismarck durch die späteren Nachkriegspolitiker entstammen mehrheitlich einer retrospektiven Betrachtung. In der Regel handelt es sich um Interviews oder Autobiographien, die nicht nur nach 1945, sondern zum Teil erst nach der Zeit der politischen Karriere entstanden.16 Hier bildet Theodor Heuss eine exponierte Ausnahme. Kein anderer bedeutender Politiker in der Bundesrepublik hat sich zum Reichsgründer vor 1945 in dem Umfang geäußert wie der spätere erste Bundespräsident. Zur publizistischen Tätigkeit von Heuss existieren Studien von Rainer Burger17 und Wolfgang Wiedner.18 Über den Wandel des Demokratie- und Staatsverständnisses des Journalisten und Politikers vor dem Kontext der historischen

gar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Phasen und Kontroversen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 48, Heft 45, 1998, S. 3–15. 14 Raasch, Markus (Hrsg.): Die Deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010. 15 Für den Nationalsozialismus zum Beispiel: Hirschmüller, Tobias: Funktion und Bedeutung von Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck in der nationalsozialistischen Geschichtspolitik. Von der Anfangszeit der „Bewegung“ bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“, in: Raasch: Die Deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe (wie Anm. 14), S. 135–176. Für den Nationalsozialismus vor 1933 noch zu nennen: Hirschmüller, Tobias: Geschichte gegen Demokratie – Bedeutung und Funktion von Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck in den politischen Reden Hitlers zur Zeit der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft, 18, 2010, S. 189– 216. Für die Zeit nach 1945: Hirschmüller, Tobias: „Wegbereiter und Mahner zur Einheit Deutschlands“? Der „Eiserne Kanzler“ und die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik, in: Raasch: Die Deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe (wie Anm. 14), S. 221–257. 16 Zu der Bismarckwahrnehmung späterer bundesdeutscher Historiker vor 1945: Hirschmüller: „Wegbereiter und Mahner zur Einheit Deutschlands“? (wie Anm. 15), S. 223–226. 17 Burger, Reiner: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte, Münster 1999. 18 Wiedner, Wolfgang: Theodor Heuss. Das Demokratie- und Staatsverständnis im Zeitablauf. Betrachtungen der Jahre 1902 bis 1963, Düsseldorf 1973.

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Umbrüche forschte Jürgen Hess.19 In Anbetracht der Forschungsfragen konnte der Blick von Heuss auf Bismarck in allen Arbeiten nur rudimentär berücksichtigt werden. Es soll dargelegt werden, welche Positionen Heuss gegenüber den wandelnden Funktionen des Bismarck-Mythos infolge von Umbrüchen in der deutschen Geschichte einnahm. Als Quellengrundlagen für die Auseinandersetzung diente die Vielzahl von Briefen, Zeitungsartikel und auch Monographien, die der Journalist Theodor Heuss seit dem Kaiserreich verfasst hat. Für die Weimarer Zeit und insbesondere nach 1945 kommen die Reden des Politikers Heuss hinzu. II. „Das ist die Gefahr der Bismarcklegende“. Die Anfänge im Deutschen Kaiserreich 1. Der Journalist Theodor Heuss Theodor Heuss wurde am 31. Januar 1884, also noch zu der Zeit Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks, in der schwäbischen Oberamtsstadt Brackenheim in der Nähe von Heilbronn im damaligen Königreich Württemberg geboren.20 Die Kanzlerschaft Bismarcks hat er damit wohl bereits nicht mehr bewusst erlebt. Zu Hause sei er, so erinnerte er sich einmal nach dem Zweiten Weltkrieg, „durchaus antibismarckisch erzogen“ 21 worden. Der Großvater von Heuss, der allerdings schon vor dessen Geburt verstarb, war ein Aktivist der Revolution von 1848 und 1849 im Südwesten gewesen.22 Nach dem Besuch des humanistischen Karlgymnasiums in Heilbronn studierte Heuss von 1903 bis 1905 Nationalökonomie, Literatur, Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte und Staatswissenschaften in München und Berlin.23 Nach der Promotion 1905 in München über den Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn24 wurde er Feuilletonredakteur bei Friedrich Naumanns in Berlin erscheinender Zeitschrift „Die Hilfe“. Bis 1912 war er Schriftleiter der liberalen Zeitung mit deutlich christlich-sozialer Ausrichtung.25 19 Hess, Jürgen C.: Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zu Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973. 20 Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011, S. 12–18. Zu Heuss’ Perspektive seiner Jugend: Heuss, Theodor: Vorspiele des Lebens. Jugenderinnerungen, Tübingen 1953. 21 Brief an Eugen Fischer-Baling vom 19. Februar 1947, in: Becker, Ernst Wolfgang (Hrsg.): Theodor Heuss. Briefe 1945–1949. Stuttgarter Ausgabe, München 2007, S. 253. 22 Wiedner: Theodor Heuss (wie Anm. 18), S. 22–23; Winter, Ingelore M.: Theodor Heuss. Ein Porträt, Tübingen 1983, S. 21. 23 Burger: Theodor Heuss als Journalist (wie Anm. 17), S. 39–42. 24 Heuss, Theodor: Der Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar, Diss. München 1905. 25 Burger: Theodor Heuss als Journalist (wie Anm. 17), S. 61.

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Bald schloss er sich unter dem Einfluss von Friedrich Naumann politisch den Nationalsozialen und später der linksliberalen „Freisinnigen Vereinigung“ an.26 Von 1912 bis 1917 wechselte Heuss als Chefredakteur zur Heilbronner „NeckarZeitung“. Ab 1913 fungierte er bis 1917 zusätzlich als Schriftleiter der von Hermann Hesse und Ludwig Thoma herausgegebenen Wochenschrift „März“.27 Im Januar 1918 wurde Heuss schließlich Schriftleiter bei der Zeitschrift „Deutsche Politik“, was er bis zum Februar 1922 blieb.28 Die Periodika mit den Themen „Kultur- und Weltpolitik“ besaßen einen deutlich nationalen Duktus und vertraten eine expansive Außenpolitik. Heuss stellt mit seinen liberalen Artikeln eher eine Ausnahme dar. Bevor der Fokus weiter auf die Person von Theodor Heuss gerichtet werden kann, sind zunächst die gesellschaftlichen und politischen Gründe der beginnenden Mythisierung Bismarcks sowie die inhaltliche Codierung jener Instrumentalisierung zu erörtern. 2. Die Genese und Ambivalenz des Bismarckmythos im Deutschen Kaiserreich Der Kernpunkt des Bismarckmythos war die Stilisierung zum konservativen deutschen Heroen. Bismarck, so Lothar Machtan, war „ein urdeutscher Genius der Kraft, des Willens und der Tat – eine moderne Ikone ,zeitgemäßen‘ Glaubens an Deutschland. Bismarck, das war Geist und Kraft: eiserner Wille und Tat, Held und Titan. Bismarck, das war ,Deutschland über alles in der Welt‘.“ 29 Dies wirkt erstaunlich, zumal Bismarck persönliche Popularität nie suchte und zu seinen Amtszeiten auch nicht erreichte.30 Die „jubelnde Verehrung der Massen“ 31 bei seiner Abreise aus Berlin 1890 und während seiner Deutschlandreise 1892 deuteten einen Wandel an. Die Ursache für die Änderung des Bismarck-Bildes in der Öffentlichkeit lag in der verbreiteten Ablehnung der Politik seines Nachfolgers Leo von Caprivi sowie zum Teil auch an den Vorbehalten gegenüber dem noch relativ jungen neuen Monarchen Wilhelm II.32 Der Reichsgründer entwickelte sich so noch zu seinen Lebzeiten zur „Galionsfigur der konservativen und nationalistischen Opposition“ 33 gegen den Kaiser. Bismarck bot die Projektionsfläche 26 Becker: Theodor Heuss (wie Anm. 20), S. 31–35. Heuss, Theodor: Erinnerungen 1905–1933. Tübingen 19645, S. 28–46. 27 Burger: Theodor Heuss als Journalist (wie Anm. 17), S. 114–125 u. 134–154. 28 Ebd. S. 209. 29 Machtan, Lothar: Bismarck-Kult und deutscher Nationalmythos, in: Machtan: Bismarck und der deutsche National-Mythos (wie Anm. 10), S. 14–67, hier S. 16. 30 Pflanze, Otto: Bismarck 2. Der Reichskanzler, München 1999, S. 687–688. 31 Ebd. S. 688. 32 Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 22. 33 Ebd. S. 23.

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für indirekte politische Kritik.34 Das Ableben der historischen Person des Reichsgründers im Jahr 1898 fungierte dann als entscheidender Katalysator. Nach seinem Tod entwickelte sich die Verehrung zu einem in Deutschend bisher nicht vorgekommenen Ausmaß eines Personenkultes.35 Der Name Bismarck wurde für einen signifikanten Teil der Bevölkerung zur Verkörperung der Nation und blieb untrennbar verbunden mit der Reichsgründung. Bismarck erreichte den Status eines „Erlösers“ 36, der die territoriale Zerrissenheit überwunden und Deutschland zur kontinentalen Hegemonialmacht emporgehoben habe. Unumstritten blieb der „Eiserne Kanzler“ freilich nie. Das Bild der von ihm als „Reichsfeinde“ bezeichneten Gruppen, vor allem Zentrumskatholiken, Liberale und Sozialdemokraten, blieb gekennzeichnet von den innenpolitischen Auseinandersetzungen nach der Reichsgründung, wobei sich die Katholiken nach der Jahrhundertwende zunehmend am Bismarckkult beteiligten.37 Das Ableben Bismarcks bot dem deutschen Kaiser die Möglichkeit, den Kult für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Wilhelm II. wollte sich durch die Suggestion einer Verbundenheit zwischen ihm und dem alten Kanzler als Fortführer bismarckscher Politik präsentieren. Das Ziel war es, dass die Bismarck zugeschriebenen Eigenschaften, insbesondere dessen Funktion als eine Symbolfigur der Nation, in der kollektiven Wahrnehmung auf Wilhelm übertragen werden. Das Verblassen der Gegensätze zwischen Kaiser und Kanzler im kollektiven Gedächtnis der Deutschen begünstigte das Vorhaben. Somit erhielt der Bismarck-Mythos neben einer Kritik übenden nun auch eine staatstragende Funktion.38 3. Heuss’ wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Epoche Bismarcks Eine der ersten feststellbaren Auseinandersetzungen von Theodor Heuss mit dem Thema Bismarck stammt wiederum aus einem Brief an Lulu von Strauß und Torney aus dem Jahr 1907: „In den letzten Tagen habe ich zum erstenmal [sic] mit zugänglichem Verstand Bismarcks Gedanken und Erinnerungen gele34 Pösl, Werner: Bismarckverehrung und Bismarcklegende als innenpolitisches Problem der Wilhelminischen Zeit, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, XX, 1971, S. 183–201. 35 Machtan: Bismarck-Kult und deutscher Nationalmythos (wie Anm. 29), S. 15. Zu den für Bismarckfeiern errichteten Bismarcksäulen und Bismarcktürmen: Kloss, Günter/Seele, Siglinde: Bismarck-Türme und Bismarck-Säulen. Eine Bestandsaufnahme, Petersberg 1997. 36 Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 22. 37 Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 11; Müller-Koppe, Jens: Die deutsche Sozialdemokratie und der Bismarck-Mythos, in: Machtan: Bismarck und der deutsche National-Mythos (wie Anm. 10), S. 180–196. 38 Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 29–31. Über den Umgang Kaiser Wilhelms II. mit dem Tod von Bismarck auch: Machtan, Lothar: Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, München 1998.

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sen, mit sehr bedeutenden Eindrücken, wenn auch so und so oft mal in gegensätzlicher Stimmung.“ 39 Somit zählt der junge Heuss zu den Deutschen, die die Memoiren Bismarcks nicht nur besaßen, sondern sie gelesen und sich kritisch mit diesen auseinandergesetzt haben. Heuss verfolgte auch nach seinem Teilstudium der Geschichte die historische Forschung zu Bismarck im Deutschen Reich und gab seine Einschätzungen in Rezensionen wieder. So kommentierte er zu Heinrich von Sybels „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“, an jener siebenbändigen Arbeit sei zu erkennen, dass es sich bei Sybel um keinen Leopold von Ranke handelte.40 Eine psychologische Untersuchung Bismarcks von einem Emil Ludwig hielt er zwar für nicht wissenschaftlich, aber zumindest eine Heranführung an die „dunkle Problematik dieser Seele“ 41. Differenziert sah er die kleine Edition „Erinnerungen an Bismarck“, die aus persönlichen Quellen von Mitarbeitern und dem privaten Umfeld des Reichskanzlers zusammengesetzt wurde: „Wertvolles steht neben recht Unwesentlichem.“ 42 Doch dürfen die historischen Kompetenzen von Heuss nicht überschätzt werden. Beispeisweise glaubte er in der Edition „Briefe an Schwester und Schwager“ die „ganze Lebendigkeit seines inneren Wesens, das völlig natürlich, völlig unpedantisch alle Dinge benennt“ 43 zu erkennen. Auch nimmt er unreflektiert die Karikatur- und Anekdotensammlung von Paul Liman an und schließt daraus, dass Bismarck eben ein witziger und schlagfertiger Plauderer gewesen sei.44 Die 1915 erschienene Kurzbiographie von Erich Marcks, jenem sehr nationalen und später im Nationalsozialismus dafür sehr geschätzten Autor, erachtete er als das beste Bismarckbuch überhaupt.45

39 Brief an Lulu von Strauß und Torney vom 22. April 1907, in: Heuss, Theodor: Theodor Heuss – Lulu von Strauß und Torney. Ein Briefwechsel, Düsseldorf u. Köln 1965, S. 117. 40 Neckar-Zeitung, 6. Juli 1912; es handelt sich um: Sybel, Heinrich von: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. 7 Bände, Berlin 19133. Von Heuss auch gelesen: Stolze, Wilhelm: Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1870, München 1912. 41 Neckar-Zeitung 1. April 1912; Ludwig, Emil: Bismarck. Ein psychologischer Versuch, Berlin 19112. 42 Heuss, Theodor: Bismarckbücher, in: März. Eine Wochenschrift, 14. April 1915, S. 23–24, hier S. 24; Brauer, Arthur: Erinnerungen an Bismarck. Aufzeichnungen von Mitarbeitern und Freunden des Fürsten, mit einem Anhange von Dokumenten und Briefen, Stuttgart u. Berlin 19152. 43 Heuss: Bismarckbücher (wie Anm. 42), S. 23; Kohl, Horst (Hrsg.): Briefe Ottos von Bismarck an Schwester und Schwager, Leipzig 1915. 44 Heuss: Bismarckbücher (wie Anm. 42), S. 24; Liman, Paul: Bismarck in Geschichte, Karikatur und Anekdote. Ein großes Leben in bunten Bildern, Stuttgart 1915. 45 Heuss: Bismarckbücher (wie Anm. 42), S. 24. Zur Person von Erich Marcks: Nordalm, Jens: Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1838) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003.

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4. Das Bismarckbild von Heuss Für jeglichen Umgang mit Vergangenheit galt für Heuss: „Die Geschichte arbeitet nicht mit so einfachen Formeln.“ 46 Auch ein Bismarck habe somit erst in seine Aufgaben „hineinwachsen“ müssen.47 Heuss sah es aber als eine diplomatische Leistung des preußischen Ministerpräsidenten, in den schwierigen Verhandlungen zwischen Generälen und Monarchen während der Wintermonate des Deutsch-Französischen Krieges das große Ziel nicht verloren zu haben. Für ihn konnte die Schaffung des Deutschen Reiches als entscheidende Wendung in der deutschen Geschichte gewertet werden. Die nationale Einigung erachtete er als den Ausgangspunkt für die wirtschaftliche Prosperität und Deutschlands Aufstieg als die stärkste Militärmacht in eine führende Stellung zwischen den europäischen Staaten. Die entscheidende Leistungen Bismarcks im Prozess der Reichsgründung sah er aber nicht in der Kaiserproklamation in Versailles 1871, sondern schon zuvor im Jahr 1866. Hier war die Entscheidung vorweggenommen, dass eine deutsche Einigung unter Preußens Führung stattfinden werde. Bismarck hat hier für Heuss mehrere nahezu revolutionäre Einschnitte vollzogen. Zunächst zeigte er Mäßigung gegenüber dem Kriegsgegner Österreich, die er gegen den König und die Generäle durchsetzte. Er erzielte somit, dass ein Friedensschluss nicht zum Anlass eines neuen Krieges werden konnte. Für die deutsche Geschichte liegt zudem die epochale Bedeutung des Jahres 1866 in der Gründung des Norddeutschen Bundes. Mit dem Reichstag, dem Bundesrat und dem Bundeskanzleramt waren für Heuss schon der Rahmen des politischen Lebens und der Kraftverteilung vorhanden. Der Hinzutritt der Süddeutschen habe an allen diesen Einrichtungen nichts Grundsätzliches geändert.48 Heuss gab jedoch zu erkennen, dass für ihn die deutsche Einigung der Höhepunkt und zugleich der Abschluss der staatspolitisch schöpferischen Periode Bismarcks waren. Ablehnung riefen bei ihm die Jahre unmittelbar nach der Reichsgründung hervor. Sie waren für ihn durch die kontraproduktiven innenpolitischen Auseinandersetzungen des Kulturkampfes und der Sozialistengesetze geprägt. Hier habe Bismarck schlicht seine Gegner unterschätzt.49 Er bilanzierte: „Die Psychologie des einzelnen verstand er, aber die Psychologie der Masse war ihm unbekannt.“ 50 Die Folgen waren für Heuss eine schlimme Erblast für die deut46 Heuss, Theodor: Der Krieg und die Zukunft, in: Von schwäbischer Scholle. Kalender für Schwäbische Literatur und Kunst, 1915, S. 29–33, hier S. 29. 47 Neckar-Zeitung, 6. Juli 1912. 48 Heuss, Theodor: Zehn Jahre nach dem Krieg 1870/71. Die Politik, in: Der Kunstfreund: Zeitschrift der Vereinigung der Kunstfreunde, 3, Heft 1./2. Januar/Februar, 1915/16, S. 1–6; Heuss, Theodor: Nikolsburg. Zum 27. Juli, in: Die Hilfe, 27. Juli 1916, S. 487–489; Neckar-Zeitung, 1. April 1912. 49 Heuss: Zehn Jahre nach dem Krieg 1870/71 (wie Anm. 48), S. 2–4. 50 Neckar-Zeitung, 1. April 1912.

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sche Politik, da er die Wunden der Auseinandersetzungen noch lange nicht verheilt sah.51 Anerkennung fanden bei ihm hingegen Bismarcks Maßnahmen hinsichtlich der Rechtsvereinheitlichung, durch welche sich erst ein öffentliches und wirtschaftliches Leben in ganz Deutschland entwickeln habe können.52 Schon in diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis schließlich in die Zeit der Bundesrepublik charakterisierte Heuss Bismarcks Politikstil in der Bilanz als ein „Künstlertum“ 53. Wenn der junge Journalist allerdings zu Ergebnissen kommt, dass der Reichsgründer als wichtigstes diplomatisches Instrument immer ausgesprochen habe, was sei, er immer gesagt habe, was er wolle54, und die „prachtvolle Unbefangenheit und Kraft des brieflichen Ausdrucks“ 55 rühmt, dann lässt dies den Rückschuss zu, dass er selbst auch in einem gewissen Umfang von der Mythisierung des „Alten im Sachsenwald“ infiltriert war. 5. Exkurs: Heuss und der Kaiser Die Hintergründe des Prozesses der Mythisierung Bismarcks im wilhelminischen Kaiserreich erfordern bei der Erodierung von Heuss’ Haltung zur Stilisierung des Reichsgründers auch einen Fokus auf dessen Wahrnehmung der Selbstinszenierung von Kaiser Wilhelm II. Prägend für Theodor Heuss war die Begegnung und Zusammenarbeit mit Friedrich Naumann. Die Beiden hatten sich 1902 auf einem Kongress der Nationalsozialen kennengelernt.56 Naumann bekannte sich dezidiert zur monarchischen Staatsform, vertrat aber die Vorstellung von einem, wie er 1897 schrieb, „sozialen Kaiser“, der fortschrittsorientiert eine Vermittlerrolle zwischen gesellschaftlichen und politischen Interessengruppen einnehmen sollte. Dies war keine Beschreibung des „persönlichen Regiments“ des aktuellen Kaisers, sondern mehr eine erhoffte Prognose.57 Naumann revidierte seine Erwartungen an Wilhelm II. dann jedoch nach der „Daily-Telegraph-Affäre“ von 1908.58 So schrieb auch Theodor Heuss noch ein Jahr nach der Affäre um die Äußerungen des Kaisers an seine langjährige Bekannte Lulu von Strauß und Torney, dass er deswegen „eine Sauwut auf den Kaiser“ 59 hatte. Neben dieser im Privaten durchgeführten Bemerkung nahm Heuss auch öffentlich eine erstaunlich kritische Haltung gegenüber dem Monarchen ein. So verfasste er in der 51

Neckar-Zeitung, 1. April 1912. Heuss: Zehn Jahre nach dem Krieg 1870/71 (wie Anm. 48), S. 6. 53 Neckar-Zeitung, 1. April 1912. 54 Ebd. 55 Heuss: Bismarckbücher (wie Anm. 42), 23. 56 Wiedner: Theodor Heuss (wie Anm. 18), S. 22. 57 Naumann, Friedrich: Der soziale Kaiser, in: Die Hilfe, 24. Januar 1897, S. 3. 58 Burger: Theodor Heuss als Journalist (wie Anm. 17), S. 65. 59 Brief an Lulu von Strauß und Torney vom 14. Januar 1909, in: Frieder, Günther (Hrsg.): Theodor Heuss. Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917. Stuttgarter Ausgabe, München 2009, S. 278. 52

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ersten Hälfte des Jahres 1913 eine Serie von drei Artikeln zu den bisherigen drei Kaisern, die das Deutsche Reich seit 1871 regiert hatten. Während er bei Wilhelm I. dessen Zurückhaltung in gesellschaftlichen und parteipolitischen Kämpfen schätzte60 und bei Friedrich III. die dezidiert liberale Haltung achtete61, resümiert er über Wilhelm II.: „Und der Kaiser, für den ein drängendes Redebedürfnis charakteristisch ist, hat immer dafür gesorgt, daß die Welt erfahre, was ihn bewegt.“ 62 Dabei war für Heuss nicht zu erwarten, dass die Ansprachen des Kaisers immer geistreich und weise sind. Für ihn waren auch die Erträge Deutschlands unter Wilhelm II. mehr der Generation davor zu verdanken. Heuss sah als Ursache für die Defizite im Regierungsstil des Kaisers das Fehlen einer Kronprinzenzeit, der Regent habe jung ein schweres Erbe antreten müssen. Bemerkenswert ist, dass Heuss es menschlich und politisch für falsch hielt, dem Kaiser die Entlassung Bismarcks vorzuwerfen. Es scheint, als habe Heuss die Demission des Reichsgründers für erforderlich gehalten, da er resümiert, der Kanzler sei 1890 innenpolitisch an einem toten Punkt angelangt gewesen.63 Somit ist bei Heuss aus der kritischen Haltung gegenüber dem Kaiser keine daraus folgende Überhöhung Bismarcks festzustellen. 6. Die Auseinandersetzung mit der Mythisierung Die erste große öffentliche Thematisierung des Umgangs der Deutschen mit Bismarck und somit die erste publizierte Analyse des Bismarck-Mythos von Heuss stammt aus dem Jahr 1912. Anlass war der Geburtstag des „Eisernen Kanzlers“, der sich noch im 19. Jahrhundert zu einem fixen Punkt in der Festund Erinnerungskultur des Kaiserreiches entwickelt hatte.64 In der „Neckar-Zeitung“ schrieb er hierzu, dass die Memoiren des Reichsgründers den Deutschen zu einem klassischen Werk ihrer Literatur geworden seien.65 Doch Heuss war sich der Selbstdarstellung des Reichsgründers bewusst, die er durch Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Personen aus Bismarcks Umfeld teilweise eher noch verstärkt sah. Dementsprechend missbilligte Heuss die immanenten Versuche seiner Zeitgenossen, die jeweils eigene Auffassung mit einem Zitat aus den „Gedanken und Erinnerungen“ zu belegen. Denn jeder könne aus dem „Werk des großen Staatsmannes herausbuchstabieren, was ihm in den Kram paßt“ 66. 60

Der Schwabenspiegel. Wochenschrift der Württemberger Zeitung, 4. März 1913. Der Schwabenspiegel, 8. April 1913. 62 Der Schwabenspiegel, 10. Juni 1913. 63 Ebd. 64 Seggern, Andreas von: „Bismarck Heil!“ Kanzlerkult in der Festkultur des Kaiserreichs, in: Biefang, Andreas/Epkenhans, Michael/Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2008, S. 393–410. 65 Neckar-Zeitung, 1. April 1912. 66 Ebd. 61

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Dies bezog Heuss sowohl auf die Konservativen und Liberalen als auch auf die Sozialdemokraten und Klerikalen. Wenn er die „Gedanken und Erinnerungen“ trotzdem als „eines der großen Lehrbücher der Politik“ 67 für jeden unabhängig von der politischen Ausrichtung wertet, so verstand er dieses „Lehrbuch“ nicht als Richtungsweiser für die Zukunft, sondern als Einblick in politische Entscheidungsprozesse der Vergangenheit. Heuss stand auch der ausgedehnten Denkmalkultur um den Reichsgründer ablehnend gegenüber. In der Vielzahl von Statuen, Gedenksteinen, Säulen und Türmen sowie den damit verbundenen nächtlichen Festen am Feuer sah er eine befremdende Monumentalisierung.68 Deswegen begrüßte er die beginnenden Möglichkeiten für Historiker, eine Akteneinsicht in die Bestände der amtlichen Archive sowie auch in Familienbestände des Hauses Bismarck zu bekommen. Er verband damit die Hoffnung, je mehr die Zeit Bismarcks aufgearbeitet werden könne, „desto weiter entfernt sich jene geläufige und populäre Vorstellung von dem ,eisernen Kanzler‘, von der geschlossenen Persönlichkeit, die eben nur wollte und erreichte.“ 69 Der Erste Weltkrieg führte auch zu einer „Mobilisierung“ der deutschen Geschichte. Bismarck kam in diesem Prozess eine Art Schlüsselfunktion zu. Durch die immer wieder durchgeführten Berufungen auf seine Person und seine Leistungen – meist in Form von verkürzten und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten – wurde der konservative Heroe als Garant des Sieges zur Moralisierung der Bevölkerung erhoben. In der Tendenz blieben damit die Spannbreiten der Instrumentalisierung bestehen. Bismarck diente von Seiten der Reichsleitung zur Bestärkung der Bevölkerung und fand gleichzeitig als Projektionsfläche für Kritik an der Politik von Kaiser und Reichskanzler Theobald zu Bethmann Hollweg unter den Bedingungen des Weltkrieges verstärkte Verwendung. Einen Höhepunkt bildete Bismarcks 100. Geburtstag im Jahr 1915.70 Zu diesem Anlass hielten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft unzählige Reden. Kaiser Wilhelm II. ließ vor dem Denkmal am Berliner Königsplatz im Namen von Heer und Marine einen Kranz niederlegen als „Dank für die unsterblichen Verdienste des großen Kanzlers“. Er fügte jedoch noch in einer Spitzfin67

Neckar-Zeitung, 1. April 1912. Ebd.; hierzu auch Kloss/Seele: Bismarck-Türme und Bismarck-Säulen (wie Anm. 35). 69 Neckar-Zeitung, 1. April 1912. 70 Eine kurzer Überblick zum Bismarckmythos im Ersten Weltkrieg bietet: Machtan: Bismarck-Kult und deutscher Nationalmythos (wie Anm. 29), S. 30–34. Die bisher einzige Studie zu Bismarcks 100. Todestag 1915 stammt von Egmont Zechlin. Dabei handelt es sich aber um nicht mehr als einen Aufriss der Fragestellung: Zechlin, Egmont: Das Bismarckbild 1915, in: Zechlin, Egmont: Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1979, S. 227–233. Auch: Zechlin, Egmont: Das Bismarck-Bild 1915. Eine Mischung aus Sage und Mythos, in: Die Zeit, 2. April 1965. 68

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digkeit hinzu, dass Gott das Vaterland, jenes „Lebenswerk des großen Kaisers“, schützen solle.71 Diese Hervorhebung seines Großvaters verdeutlicht das weiterhin ambivalente Verhältnis des Kaisers zum Kanzler. „Was hat uns Bismarck heute zu sagen?“, so lautete der Titel der Rede von Ernst Wagner, dem Direktor des Königlichen Wilhelmsgymnasiums zu Königsberg in Preußen zum 1. April 1915.72 Von Bismarck könne man lernen, so der Direktor, die Beredsamkeit nicht zu überschätzen.73 Die Schriften vom „Held und Wundermann“ Bismarck sollten die Schüler studieren und sich als Beispiel nehmen. „Haltet fest am Vaterland“, das würde Bismarck uns heute sagen, so ein anderer Redner.74 Dass der Erste Weltkrieg hinsichtlich der Mythisierung Bismarcks bei den Deutschen als neuerlicher Katalysator wirkte, konnte Heuss beobachten. So stellte er anlässlich des 100. Geburtstags 1915 fest, dass sich das Bismarckbild zwischen der Vorstellung von einem heroischen Heldentum, das sich in der „Volksphantasie“ entwickelt habe, und einer von Widersprüchen und Nervosität bewegten menschlichen Seite bewegte. Heuss konstatierte: „Es gibt eine nationalliberale und demokratische, eine sozialistische und klerikale, großdeutsche und kleindeutsche Bismarcklegende: sie spinnt sich immer an einem Teilabschnitt seines Werkes und Wesens fort.“ 75 Er behielt sein ambivalentes Bild von der Person Bismarcks.76 Daher lehnte er es ab, zu fragen, wie der „Eiserne Kanzler“ in der Situation des Weltkrieges entscheiden würde, und ihn „volkstümlich vereinfacht als Eideshelfer gegen die Politik Bethmanns und Wilhelms II. ins Feld zu führen.“ 77 So griff er im Hinblick auf „diejenigen, die mit der Frage hausieren“ gehen, „was Bismarck täte“ 78, ein Schlusswort aus einem Buch über Bismarcks Friedenschlüsse von Johannes Haller auf.79 Haller und Heuss betrachteten es als einen „billigen, aber nicht löblichen Kunstgriff, was man selbst getan sehen möchte, für das auszugeben, was Bismarck täte“ 80. Die Geschichte sei nur so 71 Großes Hauptquartier, den 1. April 1915. Kundgebung zu Bismarcks Geburtstag, in: Brandt, Luise von (Hrsg.): Deutsche Kaiserworte. Aus dem Weltkriege 1914/15. Gesammelt und herausgegeben für Jung und Alt, Berlin 1915, S. 96. 72 Wagner, Ernst: Was hat uns Bismarck heute zu sagen? Rede bei der hundertjährigen Gedenkfeier der Geburt Bismarcks in dem Königlichen Wilhelmsgymnasium. Beilage zum XL. Jahresbericht über das Königliche Wilhelmsgymnasium zu Königsberg in Preußen, Königsberg in Preußen 1915. 73 Ebd. S. 18. 74 Beumer, Wilhelm: Eine Bismarck-Rede zum 1. April 1915 (Kriegs Hefte aus dem Industriebezirk, 5. Heft), Essen 1915. 75 Heuss, Theodor: Bismarcks Porträt, in: März. Eine Wochenschrift, 3. April 1915, S. 292–295, hier S. 295. 76 Ebd. 294. 77 Heuss: Nikolsburg (wie Anm. 48), S. 487. 78 Heuss, Theodor: „Bismarcks Friedensschlüsse“, in: März. Eine Wochenschrift, 4. November 1916, S. 98–100, hier S. 100. 79 Haller, Johannes: Bismarcks Friedenschlüsse, München 1916. 80 Heuss: Bismarcks Friedensschlüsse (wie Anm. 78), S. 100.

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weit Lehrmeister, als dass sie in ihrer zeitlichen Notwendigkeit begriffen werde. Bismarcks Zweibund von 1879 sah er nämlich mit als eine Ursache des Weltkrieges.81 Heuss warnte daher davor, den „großen Leiter deutscher Politik wie einen Schulmeister anzusehen, der einen gültigen Lehrplan und ewige Leitsätze hinterlassen hätte“ 82. Die Ausmaße der Bismarckverehrung sah er zunehmend als eine Bedrohung der politischen Kultur in Deutschland. Er befürchtete, dass ein zu großes Versteifen auf Vorbilder der Vergangenheit den Blick auf die Möglichkeiten in einer veränderten Gegenwart einschränken könne: „Das ist die Gefahr der Bismarcklegende, die in volkstümlicher, durch den Zeitabstand wachsender Vergröberung fast einen Götzen geschaffen hat, um den ein Dogma sich gesammelt hat, das nur noch die Krone der Unfehlbarkeit braucht.“ 83 Bismarck aber, so Heuss, habe in der Geschichte keine Vorbilder, sondern Beispiele gesucht. Und er entgegnete weiter: „Mit mehr Recht dürfen wir wohl fragen: was täte Bismarck nicht.“ 84 Als Antwort führte er entscheidend an, Bismarck habe nie gefragt, was andere getan hätten. In dieser Kontroverse zeichnete sich ein später immer wieder für Heuss charakteristischer Umgang mit dem Reichsgründer ab. Er versuchte Bismarck-Argument mit Bismarck-Argument zu widerlegen. Als Beispiel hierfür ist unter anderem auch die Diskussion um die Kriegsziele im Ersten Weltkrieg zu nennen. Die rechtskonservative „Deutsche Zeitung“ veröffentlichte während der deutsch-russischen Friedensverhandlungen Anfang 1918 ein Bild mit der Unterschrift „Der steinerne Gast in Brest-Litowsk“ 85. Bismarck taucht hier in der steinernen Gestalt seines Hamburger Denkmals in der Mitte der Delegationen auf, schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass dieser mit allen Unterlagen zusammenbricht. Er erschreckt damit den deutschen Unterhändler Richard von Kühlmann ebenso wie seinen russischen Verhandlungspartner Leo Trotzki. Die Botschaft ist somit die Forderung nach einem stärkeren deutschen Auftreten gegenüber den sowjetischen Unterhändlern. Einen Kontrast bildet der Kommentar von Heuss im März 1918 zum Frieden im Osten.86 Er warnt vor verschwommenen und unklaren Kriegszielen und konstatiert: „Wir selber aber müssen Experimente vermeiden, die den 1871 festgelegten geschichtlichen Charakter des deutschen Nationalstaates verwischen“ 87. Schon früh hatte sich Heuss für eine Mäßigung in der Kriegszieldiskussion ausgesprochen und dabei sich immer wieder auf den 81

Heuss: Nikolsburg (wie Anm. 48), S. 489. Heuss: Bismarcks Friedensschlüsse (wie Anm. 78), S. 98. 83 Ebd. S. 100. 84 Ebd. 85 Abgebildet in: Machtan: Bismarck-Kult und deutscher Nationalmythos (wie Anm. 29), S. 33. 86 Heuss, Theodor: Der Ostfriede und die westlichen Probleme, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kultur-Politik, 22. März 1918, S. 355–358. 87 Ebd. S. 356. 82

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Reichsgründer berufen. Aus Bismarcks Friedensschlüssen war für ihn als das Endscheidende zu erkennen, dass man sich bewusst sein müsse, was überhaupt erreicht werden solle, was hierfür notwendig ist und ob überhaupt die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung stehen sowie dann auch die Gunst des Augeblicks zu ergreifen, um die Ziele umzusetzen.88 Als Beispiel nannte er immer wieder das Jahr 1866, in dem Bismarck Österreich eben nicht vollständig bezwungen und somit die Basis für eine zukünftige Koexistenz gelegt hatte. Das Fazit von Heuss war: „Der Frieden darf keine Quellen künftiger Konflikte schaffen.“ 89 Er hielt somit den Konservativen oder auch insbesondere den Alldeutschen, die mit Bismarck argumentierten, Bismarck als Argument entgegen. Es wäre aber nun ein Anachronismus, die Position von Heuss als eine Vorwegnahme des späteren Bundespräsidenten zu interpretieren. Zwar hatte er im Juli 1914 den Eindruck, dass das Ultimatum an Serbien von Österreich-Ungarn a priori unannehmbar gehalten war.90 Als Hauptaggressor für den letztendlichen Kriegsausbruch war dann aber für ihn Russland auszumachen.91 Den Einmarsch deutscher Truppen in die neutralen Staaten Belgien und Luxemburg sah er als militärische Notwendigkeit in „einem Vernichtungskrieg, der gegen Deutschland loszubrechen“ 92 drohe. Seine Kommentare während der gesamten Zeit des Ersten Weltkrieges spiegeln, dem offiziellen Zeitgeist entsprechend, ungebrochene Siegeszuversicht, Verherrlichung des Kampfes93 und auch eine Radikalisierung hinsichtlich der notwendig erachteten Maßnahmen in der Kriegsführung wider.94 Von einem Sieg des Deutschen Kaiserreiches erwartete Heuss sich: „Der Ausgang des Krieges muß nicht nur die Ueberlegenheit unserer militärischen Technik, sondern auch die sittliche Kraft und das moralische Recht des Deutschtums im Herzen Europas erweisen.“ 95

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Heuss: Bismarcks Friedensschlüsse (wie Anm. 78), S. 100. Heuss: Nikolsburg (wie Anm. 48), S. 488. 90 Neckar-Zeitung, 25. Juli 1914. 91 Neckar-Zeitung, 1. August 1914. 92 Heuss, Theodor: Der Weltkrieg, in: März. Eine Wochenschrift, 15. August 1914, S. 221–225, hier S. 224. 93 Beispiele: Die Glorifizierung Hindenburgs: Neckar-Zeitung, 17. November 1914. Oder über die Seeschlacht vor dem Skagerrak: Neckar-Zeitung, 17. Juni 1914. Die Leitartikel der Neckarzeitung sind nicht mit Theodor Heuss als Autor gekennzeichnet und wurden, daher auch nicht in die nur unvollständige Bibliographie von Margret Boveri und Walter Prinzing aufgenommen: Boveri, Margret/Prinzing, Walter: Theodor Heuss. Bibliographie der Schriften und Reden von Theodor Heuss und Elly Heuss-Knapp, Stuttgart 1954. Die Aufarbeitung und Erfassung der anderen von Heuss verfassten Artikel ist hier Reiner Burger zu verdanken. 94 Zur Befürwortung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges: Neckar-Zeitung, 1. Februar 1917. 95 Heuss: Der Weltkrieg (wie Anm. 92), S. 225. 89

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Die politischen Ziele, die sich Heuss von einem gewonnenen Krieg erwartete, waren aber anderer Natur als jene der Annexionisten. Sie lagen nicht in erster Linie in einer territorialen Expansion, sondern in einer verfassungsrechtlichen Reform hin zu einer stärkeren Zentralisierung des Reiches. So gab er zu bedenken, es gäbe „auch Kriegsziele, die innerhalb der Reichsgrenzen liegen“ 96. Er sprach sich explizit gegen Partikularismus und für eine innere Fortentwicklung des Reichsgedanken aus. Dies bedeutete für ihn zwar eine Anerkennung der Möglichkeiten und Leistungen des deutschen Föderalismus, der Zentralismus der Kriegsjahre konnte seiner Auffassung nach jedoch nicht mehr rückgängig gemacht werden.97 Dezidiert betonte er, dass nicht die Abschaffung des Föderalismus sein Anliegen sei, sondern der Krieg die Reibungen mit dem Reich verringern und somit der Reichsgedanke gestärkt werden müsse.98 Der Krieg wurde für Heuss um des Reiches willen geführt und nicht für einzelne Bundesstaaten, Hausmächte oder Dynastien. So warnte er davor, Bismarcks Lösungen von Nikolsburg als endgültige Abschlüsse zu betrachten. Das Festhalten an Bismarcks föderativer Konstruktion des Reiches von 1871 würde neue Optionen versperren.99 Das Relative dürfe hier nicht als Absolutes gesetzt werden. Wieder gestand Heuss Bismarck zu, hinsichtlich des Aufbaus des Reiches ein Genie in seiner Zeit gewesen zu sein. Aber Bismarck, einen für ihn so undogmatischen Staatsdenker, als „Kronzeugen für die Unantastbarkeit von Verfassungsbestimmungen“ anzuführen sowie daraus eine „Apologie Bismarcks“ zu lesen und damit eine „Bismarckdogmatik“ mit politischen Ansprüchen zu erzwingen, welche nicht mehr den Anforderungen der Gegenwart entsprachen, lehnte er ab.100 Theodor Heuss besaß wohl auch wegen seiner liberalen Weltanschauung ein eher distanziertes Verhältnis zur Person und zum Regierungsstil von Kaiser Wilhelm II. Durch seinen Liberalismus sah er sich gleichwohl nicht dazu veranlasst, deswegen einen „konservativen Heroen“ wie Bismarck als Antipoden zum Kaiser zu stilisieren. Hierzu eignete sich für den jungen Liberalen der „Alte vom Sachsenwald“ nicht. Der Grund ist zunächst in der Geschichtsauffassung von Heuss zu sehen. Wegen eines differenzierten Bildes von Vergangenheit neigte er nicht dazu, sich aus dieser Richtlinien oder Forderungen für eine gegenwärtige und zukünftige Politik abzuleiten. Im expliziten Fall von Bismarck kann zudem konstatiert werden, dass er sich mit der historischen Forschung der wilhelminischen 96

Vossische Zeitung. Morgenausgabe, 21. Januar 1917. Ebd. 98 Heuss, Theodor: Die Stärkung des Reichsgedankens, in: März. Eine Wochenschrift, 27. November 1915, S. 141–143. 99 Vossische Zeitung. Morgenausgabe, 21. Januar 1917. 100 Heuss, Theodor: Die Bundesstaaten und das Reich (Der Deutsche Volksstaat. Schriften zur inneren Politik, Heft 3), Berlin Schöneberg 1918, S. 4. 97

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Zeit sowie mit Quellen zur Person des Reichskanzlers beschäftigte und hieraus zunächst ein relativ differenziertes Bild gewann. Es war nicht frei von gewissen historistischen und stilisierenden Zügen. Der Größe der auf Bismarck fokussierten Reichsgründung stand bei Heuss eine innenpolitische Ideenlosigkeit nach 1871 gegenüber. Als politisches Argument diente Bismarck ihm daher nicht. Die stärker werdende Mythisierung des Reichsgründers veranlasste Heuss immer mehr, sich in die Rolle des Analytikers und Gegners dieses Phänomens zu versetzen. Dieser Aspekt der Analyse und ein Stück weit auch einer Dekonstruktion des Bismarckmythos noch zu dessen Entstehungszeit im Kaiserreich wurden bisher von der Forschung nicht wahrgenommen. Der Duktus lag stets auf der Betrachtung des Konfliktes zwischen „Bismarckverehrern“ und „Bismarckgegnern“. Insbesondere während des Ersten Weltkrieges sah Heuss sich dazu veranlasst, die nochmals gesteigerte Mythisierung in seinen Kommentaren zu kritisieren. Dabei ging er so weit, den Kaiser auch gegen Bismarck zu „verteidigen“. Als Methode hielt er den Bismarckverehrern den historischen Bismarck nun auch als politisches Argument entgegen, dies aber eben nur, um die These der anderen zu widerlegen und nicht um eine eigene Bismarckargumentation aufzubauen. Der Umgang von Heuss mit Bismarck ist sozusagen als „reaktionär“ zu sehen, da es sich nahezu ausnahmslos um Reaktionen auf Impulse aus der Umwelt handelte. III. „Das deutsche Volk [. . .] steht gegen seine Vergangenheit.“ Die Weimarer Republik 1. Vom Staats- zum Gegenmythos Das Ende der Monarchie führte nicht zu einem Ende des Erinnerungskultes um Bismarck, sondern potenzierte diesen teilweise noch. „Der politische Umbruch des Jahres 1918 ließ den mythisierten Bismarck unbeschädigt.“ 101 So bilanzierte Lothar Machtan. Dies bezog er jedoch nur auf die inhaltliche Codierung des Mythos und nicht auf die politische Stoßrichtung. Nach dem Ende des Kaiserreiches wurde Bismarck als „Wahlkämpfer“ 102 von deutschnationalen und rechten Kräften gegen den Staat von Weimar benutzt. Dies galt auch für andere Persönlichkeiten der preußischen Geschichte wie Friedrich den Großen103 oder Königin Luise von Preußen104. Während die staatstragende Funktion des Bismarckmythos damit nahezu vollständig obsolet wurde, dominierte nun die Instru101

Machtan: Bismarck (wie Anm. 10), S. 92. Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 97. 103 Dollinger, Hans: Friedrich II. von Preußen. Sein Bild im Wandel von zwei Jahrhunderten, München 1986, S. 162–171. 104 Bruyn, Günter de: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2001, S. 109–110. 102

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mentalisierung des Reichsgründers gegen die junge Republik. Ihr Existenzrecht sollte mit dem Stil der Politik Bismarcks, beziehungsweise was dafür gehalten wurde, widerlegt werden. Gleichzeitig griff das linke Spektrum Bismarck als einstigen Urheber des Sozialistengesetzes auf. Dämonisiert und ins Lächerliche gezogen sollte der „Alte“ als Beleg dienen, um die Argumente der Rechten ad absurdum zu führen. Die Präsenz des Reichsgründers war als Konsequenz auf der gesellschaftlichen sowie auf der politischen Ebene in den Kontroversen noch intensiver als zur Zeit des Kaiserreiches. Nur noch Friedrich der Große kam unter den historischen Personen annähernd eine derartige Bedeutung zu. Von rechtsgerichteten Kräften wurde die Vorstellung vertreten, Bismarcks Entlassung durch Wilhelm II. sei eine Ursache der deutschen Niederlage im Weltkrieg gewesen. Die Nachfolger seien unfähig gewesen, die Bündnispolitik des Reichsgründers fortzusetzen.105 Nach der Auffassung der Rechtskonservativen wäre Bismarck in der Lage gewesen, die „Katastrophe“ abzuwenden. Bismarcks „Anrufung“ konnte somit sowohl der Forderung nach der Restauration des Kaiserreiches dienen als auch parallel zur Abgrenzung von Demokratie und der kaiserlichen Vergangenheit. Als Konsequenz wurde postuliert, dass ein „neuer“ Bismarck die Fähigkeit besitzen würde, Deutschland aus den als schmachvoll empfundenen Folgen des Versailler Vertrages wieder in eine Zukunft mit nationaler Größe zu führen. Politische Kräfte wie SPD und KPD, die das mythisierte Bild von Bismarck ablehnten, nutzen diesen als Gegenthese für politische Auseinandersetzungen.106 Das Entscheidende an dieser Kontroverse war, dass es sich nicht allein um den Beleg oder Widerleg von politischen Argumenten handelte oder nur um das Vertreten unterschiedlicher Vorstellungen von Vergangenheit im politischen Tagesgeschehen. Es stand in der Kontroverse um Bismarck stets die Staatsform selbst zur Disposition. 2. Die Wahrnehmung des Umbruchs bei Heuss Die im Kaiserreich begonnene Arbeit des Journalisten behielt Heuss über die Umbrüche in der deutschen Geschichte bei. Dafür kam aber während der Weimarer Republik die Tätigkeit des Geisteswissenschaftlers und Politikers hinzu. Heuss, der am Krieg wegen einer Schulterverletzung, die er sich als Abiturient zugezogen hatte, nicht hatte teilnehmen müssen107, wurde Hochschullehrer an der überparteilichen Deutschen Hochschule für Politik, deren Vorgänger als linksliberale „Staatsbürgerschule“ 1918 von Friedrich Naumann gegründet wor105

Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 97–112 u. 139–165. Müller-Koppe: Die deutsche Sozialdemokratie und der Bismarck-Mythos (wie Anm. 37), S. 180–196. 107 Becker: Heuss (wie Anm. 20), S. 35. 106

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den war.108 Politisch wurde Heuss im Winter 1918/1919 Mitglied der ebenfalls 1918 gegründeten linsliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), deren Vorsitz Naumann übernahm. Für diese DDP, die in den frühen 1930er-Jahren auch unter dem Namen „Deutsche Staatspartei“ zu Wahlen antrat, saß Heuss von 1924 bis 1928 und nochmals von 1930 bis 1933 als Abgeordneter im Deutschen Reichstag.109 Zunächst ist im Kontext des Funktionswandels des Bismarckmythos zu klären, wie Heuss den Zusammenbruch der Monarchie und insbesondere die Flucht des Kaisers wahrnahm. Trotz der kritischen Haltung gegenüber Kaiser Wilhelm II. hatte er die Monarchie bis in den September des Jahres 1918 hinein als Staatsform nicht infrage gestellt, sondern als Bindeglied und Symbol für die Nation befürwortet.110 Er vertrat, in Analogie zu Friedrich Naumann, das Konzept der Vereinbarkeit von Demokratie und Kaisertum.111 Vor dem Hintergrund der sich im Oktober 1918 abzeichnenden Niederlage bekannte Heuss dann jedoch: „Die Demokratie ist in der Stunde der Not zur Rettung des Vaterlandes zu Hilfe gerufen worden.“ 112 In der Demokratie sah er die Grundlage zur Einleitung von Verhandlungen und damit den Weg zum Friedensschluss mit den Gegnern. Im November bilanzierte Heuss nüchtern: „[. . .] der Ausgang des Krieges hat den Glauben an die Überlegenheit der monarchischen Staatsform selber schlechtweg erschüttert.“ 113 Eine Rückkehr zur Monarchie war für ihn schon im Dezember 1918 nur noch theoretisch möglich, in der Praxis schien sie ihm ausgeschlossen. Die Flucht des Kaisers sah er als Ursache für den Ansehensverlust der Monarchie.114 Über den Kaiser bilanzierte er im Januar 1919: [. . .] er war im Guten und Schlimmen gewissermaßen ein Spiegelbild seines Volkes, das schwankend, bald selbstbewußt, bald unsicher, ohne Lebensstil, ein wenig parvenühaft zwischen den andern sich bewegte.“ 115 Eine dezidierte öffentliche Auseinandersetzung mit der Person Kaiser Wilhelms II. unternahm Heuss dann noch einmal im Jahr 1922. 108

Becker: Heuss (wie Anm. 20), S. 54–55. Ebd. S. 56–66. 110 Heuss, Theodor: Die „Kaisertreuen“, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kultur-Politik, 6. September 1918, S. 1140–1143. 111 Burger: Theodor Heuss als Journalist (wie Anm. 17), S. 211; auch: Heuss, Theodor: Die Demokratisierung Deutschlands, 12. Juli 1917. Bundesarchiv Koblenz: Nachlass Heuss 35, in: Vogt, Martin (Hrsg.): Theodor Heuss. Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden, Tübingen 1984, S. 84–86. 112 Heuss, Theodor: Der Weg zum Frieden, in: Deutsche Politik, 18. Oktober 1918, S. 1315–1319, hier S. 1318. 113 Heuss, Theodor: Der Kaiser, in: Deutsche Politik, 8. November 1918, S. 1411– 1414, hier S. 412. 114 Heuss, Theodor: Deutsche Reichsverfassung I, in: Deutsche Politik, 13. Dezember 1918, S. 1571–1576, hier S. 1571. 115 Heuss, Theodor: Deutschlands Zukunft [Rede vor einer DDP-Versammlung in Stuttgart am 17. Januar 1919], Stuttgart 1919, S. 11. 109

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Anlass war das Erscheinen der Memoiren des einstigen Regenten.116 Das Buch des Kaisers sah er mehr als Selbsttäuschung und Selbstentlastung des Monarchen, der für Heuss die eigentlichen Ursachen des Zusammenbruchs verkannte. So war das Buch für ihn lediglich von historischem und psychologischem, aber nicht von politischem Interesse. Sein Fazit lautete daher: „Wollte die deutsche Demokratie nur von den Unzulänglichkeiten des letzten Kaisers leben, wäre es schlecht um sie bestellt.“ 117 Für Heuss waren zwar entscheidende Träger des Staates, aber dank dem „Mörtel der Demokratie“ 118 nicht der deutsche Staat selbst zusammengebrochen. 3. Die Forderung nach einem neuen Blick auf die Geschichte Bismarcks Verfassungsschöpfung war Theodor Heuss, wie er Dezember 1918 bekannte, zu sehr als Fürstenbund und zu wenig als „Volksbau“ konstruiert gewesen.119 Welche Chancen er in der neuen politischen Situation erkannte, dies teilte er komprimiert in einer seiner wohl bemerkenswertesten öffentlichen Rede mit. Heuss kandidierte für die DDP zur Wahl der Nationalversammlung und sprach hierfür im Januar 1919 vor Delegierten seiner Partei in Stuttgart. Er konstatierte zunächst: „Wir sind zwischen gestern und Morgen gestellt.“ Das „alte Deutschland“, das Kaiserreich, sah er als fleißige und beharrliche, aber nun eben als abgeschlossene Epoche. Daher forderte er „Mut zum Neuen“, um zu verhindern, dass die Vergangenheit neben ihrem Bereichernden sich zur „Fessel des Werdenden“ wandelt.120 116 Wilhelm II. [von Hohenzollern]: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 bis 1918, Leipzig u. Berlin 1922. 117 Der Beobachter. Blatt der Deutschen Demokratischen Partei Württembergs, 4. November 1922. 118 Schleswig-Holsteinische Volkszeitung. Organ für das arbeitende Volk, 3. Juli 1926. In Anbetracht dieser Einschätzung erscheint die Kritik von Wolfgang Becker, der an der Edierung zahlreicher Quellen des Liberalen beteiligt war, unangebracht. Becker warf Heuss vor, dieser habe die Tragweite der Ereignisse des Umbruchs von 1918 nicht erfasst und deshalb bis ins Alter immer nur von einem „Zusammenbruch“ gesprochen; Becker: Theodor Heuss (wie Anm. 20), S. 44–45. Grund für Beckers Sicht ist, dass er Heuss stark aus der Perspektive und mit den Demokratievorstellungen der heutigen Berliner Republik wertet. Dabei übersieht er einerseits, dass es sich beim Ende der deutschen konstitutionellen Monarchien eben auch um einen Zusammenbruch eines Systems und nicht nur um das Entstehen einer Republik handelte. Andererseits verkennt er, dass Heuss in der neuen Staatsform die Möglichkeiten im Vergleich zum vorherigen Konstitutionalismus erkannte. Wenn Becker sich weiter wundert, dass Heuss in der alleinigen Revolution auf der Straße kein zukunftsweisendes Projekt sah, ist dies ebenfalls im historischen Kontext zu erklären. Aus der Perspektive der Jahre 1918/1919, als die heterogenen Ziele der Menschen auf der Straße kaum zu eruieren waren und die spätere Staatsform von Weimar noch nicht feststand, fürchtete Heuss, es könnten Gewaltzustände wie in der Sowjetunion entstehen. 119 Heuss: Deutsche Reichsverfassung I (wie Anm. 114), S. 1571. 120 Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 5.

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Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches war für Heuss ein politisches Umdenken erforderlich: „Und nun stehen wir vor dem Neuen. Um eine geschichtliche Formel zu versuchen: die Bismarcksche Epoche ist zu Ende.“ 121 Dieses Umdenken sollte sich für den liberalen Parteipolitiker auch auf das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte beziehen. Deswegen forderte er: „Die Fürsten sind nicht mehr da und unser Denken muß zurückgehen über Bismarck zum Jahr 1848.“ 122 Die Relevanz des Jahres 1871 sollte im deutschen Geschichtsbild durch die bisher für Heuss vernachlässigte Erinnerung an die Revolution von 1848 ersetzt werden. Viel zu gering war ihm bisher die Leistung der Mitglieder der Nationalversammlung in der Paulskirche geschätzt worden. Die Deutschen müssten begreifen, dass es sich bei dem Jahr 1848 um eines der „größten Ereignisse der deutschen Staats- und Seelengeschichte“ 123 handelt. Schließlich sei es der Versuch des deutschen Volkes gewesen, aus eigener Kraft und gegen die Macht der Fürsten die nationalstaatliche Einheit herzustellen. So postulierte er für die kommenden Verfassungsberatungen: „Wenn wir heute staatsrechtlich neu denken sollen, so nehmen wir den Verfassungsentwurf des Jahres 49 aus der Schublade und buchstabieren dort weiter, wo unsere Großväter aufgehört haben.“ 124 Als er anmerkte, „wer ist nicht stolz auf einen alten Achtundvierziger in seiner Familie!“ 125, bezog er dies auf seine eigene Familie. Die Erinnerung an den Großvater wurde in der Familie sehr gepflegt.126 Neben dieser Einlage formulierte er in Anlehnung an die Paulskirchenversammlung eine konkretere politische Forderung: „Bismarcks Reich ist tot und Großdeutschland allen zur gemeinsamen Aufgabe gestellt.“ 127 Dass für ihn der „Anschluss“ Österreichs nur eine „Zeitfrage“ 128 sein konnte und dieser auch – wenn notwendig – gegen den Willen der alliierten Siegermächte vollzogen werden129 müsse, blieb für ihn eine der zentralen Forderungen bis zum Jahre 1938.130 Diese Forderung teilte er mit anderen demokratischen Politikern wie Philipp Scheidemann.131 Heuss verwahrte sich dagegen, diese Hoffnungen als

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Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 6. Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Wiedner: Theodor Heuss (wie Anm. 18), S. 22–23; Winter: Theodor Heuss (wie Anm. 22), S. 20–21. 127 Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 9. 128 Neues Wiener Journal, 24. März 1928. 129 Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 10. 130 Auch nach 1945 verwahrte er sich gegen eine Gleichsetzung der „großdeutschen“ Ambitionen mit denen der Nationalsozialisten. Heuss, Theodor: 1848. Die gescheiterte Revolution. Neuausgabe, Stuttgart 1998, S. 231–232. Die Erstausgabe erschien 1948. 131 Die Tradition, 5. April 1919. 122

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„Illusion“ zu diskreditieren.132 Voraussetzungen für die Verwirklichung eines „Großdeutschlands“ hielt er nach dem verlorenen Krieg für günstiger als vor 1914, da man nicht mehr durch dynastische Zwänge gebunden war. Für die Deutschen sah er es somit als Trost in Bezug auf die Niederlage, dass „jetzt in der Mitte Europas ein größeres Deutschland aufgebaut werden kann“ 133. Somit stand für ihn die Niederlage von 1918 gleichzeitig für die notwendige Weiterentwicklung des deutschen Nationalstaates. Von den Deutschen forderte er, dass sie Bismarcks Meinung von der kleindeutschen Lösung „Lügen strafen“ 134. Die auf Brandenburg-Preußen und damit auf Friedrich den Großen und Bismarck zugespitzte Perspektive der Partikulargeschichte pflege, so Heuss, nur die preußische Legende und werde der gesamtdeutschen Geschichte nicht gerecht.135 Das Einigungswerk des Reichsgründers dürfe nicht mehr länger als einzige und zwangsläufige Lösung und erst recht nicht als der Abschluss der deutschen Geschichte begriffen, sondern müsse als relative und geschichtliche gebundene Übergangslösung erkannt werden.136 Heuss hoffte auf ein vom Volk getragenes Nationalgefühl, das aus der Revolution ebenso entstehen sollte wie in England und Frankreich.137 Das nationale Bewusstsein musste für Heuss gerade wegen der Erfolge während des Krieges und trotz des von ihm verurteilten Versailler Vertrages „in der dunklen Zeit, in die wir hineingehen“ 138, in „Ehren“ gehalten werden. So sollte das deutsche Volk der Welt zeigen, dass es nicht vernichtet werden könne.139 Er verband allerdings den Nationalgedanken mit der Demokratie. Hierin lag einer der entscheidenden Unterschiede zwischen den großdeutschen Vorstellungen von Heuss und den Ambitionen der rechtskonservativen und extremistischen Parteien und Gruppierungen der Weimarer Zeit.140 Denn er bekannte sich im Januar 1919 dezidiert zur Staatsform des Parlamentarismus: die Parteien seien zwar durch den „Schatten“ Bismarcks beeinträchtigt und nicht zum Regieren „erzogen“ worden, doch nun müssen sie sich zur „Klammer des Staatslebens“ 141 entwickeln.

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Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 3. Juli 1926. Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 10. 134 Deutsche Arbeit in Österreich, 3. Dezember 1918. 135 Heuss, Theodor: Die großdeutsche Frage, in: Der Kunstwart. Deutscher Dienst am Geiste, Band 39, Heft 2, April 1925 bis September 1926, S. 16–20, hier S. 20. 136 Heuss, Theodor: Die großdeutsche Frage (wie Anm. 135), S. 17; Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 3. Juli 1926. 137 Deutsche Arbeit in Österreich, 3. Dezember 1918. 138 Heuss, Theodor: Zwischen Gestern und Morgen, Stuttgart 1919, S. 11. 139 Ebd. 140 Hess: Theodor Heuss vor 1933 (wie Anm. 19), S. 150–151. 141 Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 13. 133

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Zusammenfassend stand somit für Heuss in der Stuttgarter Rede von 1919 nicht der Zusammenbruch im Zentrum, sondern die Möglichkeit der Weiterentwicklung des deutschen Staatsaufbaus hin zu einer „nationalen Demokratie“. In diesem Prozess konnte für ihn Bismarck beziehungsweise ein „neuer Bismarck“ keine „Retterfigur“ sein, sondern musste zu einer historischen und nicht mehr über den Tod hinaus in Politik und Gesellschaft richtungweisenden Persönlichkeit werden. Wenn Heuss die Jahre nach dem Weltkrieg mit der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg142 oder den Aufbaujahren Friedrichs des Großen nach dem Siebenjährigen Krieg143 verglich und an die nationalen wirtschaftspolitischen Forderungen von Friedrich List144 erinnerte, besaß dies im Vergleich zu den Republikgegnern einen anderen Duktus. Die Erinnerungen an Krisenzeiten der deutschen Geschichte sollten vor Augen führen, dass hierauf auch immer wieder eine wirtschaftliche Prosperität folgte. Wie diese zu erreichen sei, versuchte er nicht mit der Vergangenheit zu begründen. Bei der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung erhielt die DDP 18,6 Prozent der Stimmen und konnte damit 75 Abgeordnete entsenden. Heuss verpasste den Einzug und wurde dafür in Berlin zum Bezirksstadtverordneten von Schöneberg gewählt.145 Das Bismarckbild von Heuss hatte während der Jahre des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs sowie der damit verbundenen Veränderungen der persönlichen Biographie keine signifikanten Änderungen erfahren. Auffällig ist, dass er nach 1918 beim Reichsgründer demokratische politische Attitüden zu erkennen glaubte. Er interpretierte Bismarcks Schaffung des Norddeutschen Reichstages als demokratische und die Absetzung der Welfen in Hannover sowie der anderen Fürsten von 1866 als revolutionäre Politik.146 Diese Entscheidungen charakterisierten ihn für Heuss als „größten Revolutionär des 19. Jahrhunderts in Deutschland“ 147. Mehrmals hob der DDP-Politiker hervor, dass die staatliche Einigung Deutschlands und die Außenpolitik Bismarcks nicht auf die Perspektive eines Machtstaatsdenkens reduziert werden dürften. Die diplomatische Einbettung und Absicherung in die europäische Staatenwelt waren für Heuss die unabdingbaren Voraussetzungen für alle außenpolitischen Erfolge Bismarcks.148 Unterschwellig dürfte er sich hier auf die Rolle der deutschen Republik in Europa bezogen haben. 142

Heuss: Zwischen Gestern und Morgen (wie Anm. 138), S. 11. Ebd. S. 107. 144 Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 21. 145 Ekstein, Moritz: Theodor Heuss und die Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1969, S. 30–31. 146 Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 5–6; auch: Heuss, Theodor: Das Führerproblem, in: Deutsche Politik, 21. November 1919, S. 648–652, hier S. 651. 147 „Demokratischer Staat“, DDP-Parteitag in Nürnberg 1920, zitiert nach: Hess: Theodor Heuss vor 1933 (wie Anm. 19), S. 66. 143

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4. Die Wahrnehmung des Bismarckmythos als Bedrohung für den Staat von Weimar Theodor Heuss musste bald feststellen, dass sich seine Hoffnungen auf den Umgang der Deutschen mit der Person Bismarcks nicht erfüllten. Somit sah er sich weiter dazu gezwungen, die Mythisierung des Reichsgründers öffentlich zu thematisieren und zu kritisieren. Das Bemerkenswerte an dieser Analytikerrolle von Heuss ist ihre „binäre“ Ausrichtung. Denn er prangerte sowohl die überzogene Verherrlichung des Reichsgründers als auch dessen Dämonisierung an. Heuss stellte sich zunächst dezidiert gegen die Bismarckwahrnehmung der nationalen Rechten, die sich als subversiver Gegenkult offenbarte. Für Heuss war der Ruf nach einem „Führer“ in den unruhigen Zeiten der Weimarer Republik ein „Ausdruck eines Schwächegefühls, zugleich die Spiegelung unserer sozialen Zerrissenheit“ 149. Dabei wehrte er sich sowohl dagegen, dass Bismarck gegen die demokratischen Politiker von Weimar, als auch in der Retrospektive gegen Reichskanzler Theobald zu Bethmann Hollweg instrumentalisiert wurde. Wieder war es für ihn sinnlos zu fragen, was Bismarck getan hätte oder tun würde. Der historische Bismarck wäre für Heuss weder in der Situation von 1914 noch in der Niederlage und der Folgezeit zu der Person geworden, die er in seiner Zeit war.150 Die Gegenwart konnte daher Bismarck nicht als „Schule“ begreifen und ein „Zurück zu Bismarck“ erschien ihm als törichter und geistloser Ruf.151 Eine Legendenbildung und Vereinfachung der Geschichte für das „Heldenbedürfnis der Nachwelt“ 152 lehnte er ab. Die Kritik wurde von anderen demokratischen Politikern geteilt. So erklärte auch Außenminister Gustav Stresemann 1926 in einer Rede anlässlich einer Bismarckfeier, dass die heutige Stellung Deutschlands mit keiner Lage vergleichbar wäre, in der Bismarck sich befunden habe. „Bismarck selbst würde über diejenigen lächeln, die da glauben, aus seinen Reden und Handlungen Rezepte für die heutige Lage formen zu können.“ 153 Heuss war sich hingegen darüber im Klaren, dass das Volksbewusstsein eine „gemeinsame geschichtliche Legende von gemeinsamen historischen Helden 148 Heuss: Die großdeutsche Frage (wie Anm. 135), S. 16; auch: Heuss, Theodor: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur, Berlin 1926, S. 100. 149 Heuss: Staat und Volk (wie Anm. 100), S. 100. 150 Heuss: Das Führerproblem (wie Anm. 146), S. 650. 151 Heuss: Die großdeutsche Frage (wie Anm. 135), S. 17. 152 Der Österreichische Volkswirt, 30. Dezember 1922. 153 Amtliche Meldung über eine Rede das Reichsaußenministers Dr. Stresemann anlässlich einer Bismarckfeier, in: Michaelis, Herbert/Schraeppler, Ernst (Hrsg.): Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte. Sechster Band. Die Weimarer Republik. Die Wende der Nachkriegspolitik 1924–1928. Rapallo – Dawesplan – Genf, Berlin 1961.

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braucht“ 154. Er bedauerte, dass Personen wie Friedrich der Große, Luther, Freiherr vom Stein und Bismarck diesem Anspruch nicht für alle genügten.155 Die Leistungen Bismarcks dürften nicht zum Maßstab der Gegenwart gemacht werden, denn solch eine Erscheinung sei „nicht an eine Institution gebunden, sondern ein Geschenk des Schicksals an ein Volk“ 156. Ein Bismarck stehe aber nicht jeden Tag zur Verfügung. Heuss beklagte, dass es der jungen, noch wenig Tradition besitzenden Republik nicht gelungen war, die notwendigen entscheidungsträchtigen Persönlichkeiten herauszubilden. Die Thematisierung dieses für ihn ungelösten „Führerproblems“ wollte er aber nicht als Kritik an den Staatsmännern in Berlin und den Ländern verstanden wissen.157 Andererseits nahm Heuss mit derselben Vehemenz immer wieder eine „Verteidiger-Rolle“ für Bismarck ein. Da dessen Werk, das Deutsche Kaiserreich, nur 20 Jahre nach dem Tod seines Gründers unterging, müssen die Leistungen Bismarcks kritischer betrachtet werden. Heuss stellte die Frage, ob Bismarcks „Politik im letzten nicht nur eine große Episode mit falschen Voraussetzungen gewesen sei“ 158. Er gab als Antwort, dass es grundsätzlich immer etwas Hoffnungsloses, von Polemik und Besserwisserei habe, die Geschichte anzuklagen.159 Dass Bismarcks Werk nach vier Kriegsjahren zusammengebrochen war, genügte ihm nicht als Beweis dafür, die kleindeutsche Reichseinigung als eine Fehlentwicklung der deutschen Geschichte zu interpretieren.160 Heuss betrachtete sie immer noch in der historischen Situation der 1860er-Jahre als einzig mögliche und notwendige Lösung. Die Trennung von Österreich dürfe, so Heuss, nicht als „Anklagematerial“ gegen Bismarck angeführt werden. Er verwahrte sich dagegen, dass diejenigen, die sich in der großdeutschen Tradition des Publizisten und Bismarckgegners Konstantin Franz sahen, das Ergebnis von 1918 als Beleg für die Richtigkeit ihres eigenen Vorbildes postulierten.161 Diese Behauptungen würden Bismarck weder gerecht noch helfen, die Aufgaben der Gegenwart zu bewältigen.162 Eine Bilanz zum Bismarckmythos zog Heuss 1924 unter dem bezeichnenden Titel „Die deutsche Tragik“ im „Argentinischen Tageblatt“. Nach fünf Jahren Republik ließ Heuss in seiner Argumentation erkennen, dass sich die Deutschen noch immer mit den neuen politischen Verhältnissen nicht zurechtfanden. Zu154

Argentinisches Tageblatt, 1. Januar 1924. Ebd. 156 Heuss: Staat und Volk (wie Anm. 148), S. 100. 157 Heuss: Das Führerproblem (wie Anm. 146), S. 650–652. 158 Der österreichische Volkswirt, 30. Dezember 1922. 159 Heuss, Theodor: Vor sechzig Jahren, in: Die Hilfe, 1. Juni 1926, S. 205–207. Heuss: Die großdeutsche Frage (wie Anm. 135), S. 16–20; auch: Deutsche Arbeit in Österreich, 3. Dezember 1918. 160 Ebd. 161 Heuss: Vor sechzig Jahren (wie Anm. 159), S. 205. 162 Heuss: Die großdeutsche Frage (wie Anm. 135), S. 17. 155

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nächst konstatiert er, wie wenig die Menschen mit der errungenen Freiheit umgehen können: „Es scheint als das Los der Deutschen, dass sie einen Katechismus von Glaubenssätzen brauchen, der ihnen über die brennende Not ihrer Enge hinweghilft.“ 163 Heuss verteidigte die Notwendigkeit von politischen Parteien. Bismarck, der sie gebrauchte, missbrauchte, verbrauchte, habe das Wort in Umlauf gesetzt, dass der Parteiengeist die Fortsetzung des deutschen Bedürfnisses nach Sonderung sei. Dieser immer wieder nachgesprochenen Phrase widersprach Heuss vehement, da sich die Parteien für ihn mittlerweile als Instrument der Vereinheitlichung des Volksbewusstseins bewährt hätten. Bismarck trug die Verantwortung dafür, dass die Parteien durch die Einschränkungen im Kaiserreich nicht reif für die ihnen im Zusammenbruch zukommende politische Aufgabe der Übernahme der Staatsgeschäfte waren. Dieser „Fluch älterer Geschichte“ war für Heuss die Ursache für die Probleme im deutschen Parteienleben.164 Jener weit verbreitete Blick auf die Vergangenheit, der sich an „Führerpersönlichkeiten“ orientierte und Pluralismus als Hemmschuh erachtete, der dazu führte, dass nicht nur die Lösung von Problemen mit Methoden der Vergangenheit gefordert, sondern die Legitimität des existierenden deutschen Staates widerlegt werden sollte, blieb für Heuss eine omnipotente und stetig zunehmende Bedrohung: „Das deutsche Volk, gezwungen in den Kampf um seine Zukunft, steht gegen seine Vergangenheit. Und das macht seine Lage so verzweifelt und tragisch. Denn diese Vergangenheit soll zum einen, in dem Augenblick, da der Boden der Gegenwart zerklüftet ist, die geistige Atmosphäre geben, das stolze Traditionsgefühl für die unermessliche Schöpferkräfte deutschen Wesens; zum anderen zerstört sie, indem sie Gegenwart bleiben will, fast unmerklich die Voraussetzungen einheitlicher Erneuerung.“ 165 Diese von Heuss angesprochene Problematik manifestierte sich an der Person Bismarcks. Zum einen waren die von diesem geschlagenen „Wunden“ noch nicht verheilt und konnten dies auch nicht, da Bismarck als Vergangenheit präsent war und die Konflikte des 19. Jahrhunderts weitergeführt wurden. Zum anderen litt sein Bild unter der primitiven Banalisierung der Epigonen.166 Heuss hatte erkannt, dass eine Positionierung zu Bismarck gleichbedeutend sein musste mit Zuspruch zum Staat von Weimar oder dessen Ablehnung. 5. Der Politiker Heuss in der Kontroverse um Bismarck Durch die Tätigkeit als Parteipolitiker, vor allem als Reichstagsabgeordneter, verstärkte sich für Theodor Heuss während der Weimarer Republik die Auseinandersetzung mit Bismarck und dessen Werk auf der politischen Ebene. Als Bei163 164 165 166

Argentinisches Tageblatt, 1. Januar 1924. Ebd. Ebd. Ebd.

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spiele für Heuss’ Einbringung in die Kontroversen um den Reichsgründer sollen die Diskussion um das Verhältnis von Ländern und Reich sowie die Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten behandelt werden. Theodor Heuss hatte im demokratischen Staat die Legitimität der neuen „Gewalten als die Faktoren der Geschichte“ 167 anerkannt. Dies inkludierte für ihn aber die Forderung nach einer Weiterentwicklung des Staatsaufbaus. Insbesondere favorisierte er eine noch über die Weimarer Reichsverfassung hinausgehende Zentralisierung und damit einhergehend eine Neugliederung der Länder.168 Die Haltung, dass die territoriale Gliederung Deutschlands und damit der Föderalismus ein undemokratisches Erbe der Fürstenzeit sei, das in der Demokratie überwunden werden müsse, wurde unter anderem auch vom SPD-Politiker und späteren Parteivorsitzenden Kurt Schumacher geteilt. Dieser war während der Weimarer Republik Abgeordneter im Landtag von Württemberg.169 Für Schumacher wie für Heuss waren Bismarcks Lösung von 1871 wie die der Nationalversammlung von 1919 nur Etappenschritte hin zu einem Unitarismus. Der Vorstellung von Heuss standen die Ambitionen der „Föderalisten“ gegenüber, zu denen unter anderem Martin Schiel (DNVP), Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, oder der Abgeordnete Emil Berndt (DNVP) zählten. Diese führten immer wieder den Föderalismus des Bismarckreiches als Argument für die Forderung nach umfänglicheren Kompetenzen der Länder an. In einer seiner entscheidenden Reichstagsreden am 12. Juni 1925 wandte sich Heuss sowohl gegen einen föderaleren Aufbau des Reiches sowie gegen eine Wiedereinführung des 18. Januars als Nationalfeiertag und der Farben Schwarz-WeißRot als Reichsfarben. Heuss hielt seinen politischen Widersachern zunächst einen historischen Exkurs. Er erinnerte, dass Schwarz-Rot-Gold seit 1848 für ein „Großdeutschland“ stehe und der 18. Januar 1871 eigentlich verfassungsrechtlich für die Reichsgründung keine Bedeutung besessen habe. Bayern habe schließlich erst am 21. Januar zugestimmt, und selbst König Wilhelm I. sei nur widerstrebend auf Bismarck eingegangen. Der 18. Januar war für Heuss somit immer Symbol der preußischen Geschichte geblieben und nie der gesamtdeutschen geworden. Er warnte zudem vor einer sentimentalen Verklärung des Aufbaus des Bismarckreiches und schilderte die nach der Reichsgründung noch unterschwelligen, aber im Laufe der Zeit immer virulenter werdenden verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten des Reiches.170 Damit, wie er betonte, wolle er die Vergangenheit nicht schmähen, aber eine „gefährliche Romantik“ verhindern: „Denn der ist

167

Heuss: Die großdeutsche Frage (wie Anm. 135), S. 16. Heuss: Deutschlands Zukunft (wie Anm. 115), S. 7. 169 Rede von Kurt Schumacher im Württembergischen Landtag vom 28. Januar 1928, in: Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 2. ordentlichen Landtag in den Jahren 1924/1928. Protokoll-Band 7, Stuttgart 1928, S. 4727–4728. 168

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ein armer Kerl, der in die Vergangenheit geht, um in ihr Rezepte für die Zukunft zu suchen, oder sie gebraucht bloß als Stärkung für die Armseligkeit seiner Empfindungen in einer Gegenwart, der er nicht gewachsen ist.“ 171 Dem stellte er gegenüber: „Die Vergangenheit soll uns Lehre, Mahnung, Warnung sein, und wird dies um so mehr sein, als wir ihr mit dem Willen wahrhafter Erkenntnis uns nähern, ein Volk aber muß den Mut haben, sich zu seiner Gegenwart, auch zu all seiner Not und zu seiner Armut zu bekennen.“ 172 „Zwei deutsche Recken“ titelte eine Postkarte zur Zeit der Weimarer Republik und zeigte die Abbilder von Bismarck und Hindenburg Seite an Seite.173 Als Hindenburg 1925 im zweiten Wahlgang zum Nachfolger des verstorbenen Friedrich Ebert ins Amt des Reichspräsidenten gewählt wurde, druckte der „Kladderadatsch“ folgende Karikatur: Hindenburg besteigt mit einer Leiter das Staatsschiff Deutschland, auf dem ihm der „Deutsche Michel“ freudig entgegenblickt.174 Der „Sieger von Tannenberg“ wurde als „Inkarnation“ des „Alten im Sachsenwald“ inszeniert. Heuss hatte während des Ersten Weltkrieges Hindenburg immer wieder in der „Neckar-Zeitung“ seine Achtung ausgesprochen und ihn als „Garanten“ eines ersehnten deutschen Sieges präsentiert.175 Schließlich charakterisierte er ihn als einen „zweiten Blücher“ 176. Auch noch 1925 sprach Heuss Hindenburg Achtung für dessen Leben aus. Doch fügte er nun hinzu, dass der einstige kaiserliche Generalfeldmarschall „der vornehme Exponent einer Zeit sei, die ins Grab ging“ 177. Seinen Wahlsieg wertete Heuss als Symbol für das Eingeständnis der Mutlosigkeit des deutschen Volkes infolge einer unbewältigten Vergangenheit. Er befürchtete zudem diplomatischen Schaden mit dem Ausland. Dezidiert missbilligte er die Gleichsetzung von Hindenburg und Bismarck und die damit verbundene Hoffnung, in dem General einen neuen Reichsgründer zu bekommen: „Nichts ist unleidlicher, nichts geistloser, nichts unbismärckischer, als jene Losung, die von 170 Rede von Theodor Heuss vom 15. Juni 1925, in: Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte (= VDR), III. Wahlperiode 1924. Band 386, Berlin 1925, S. 2303–2304. 171 Ebd. S. 2304. 172 Ebd. 173 Abgebildet in: Machtan, Lothar: Einführung, in: Machtan: Bismarck und der deutsche National-Mythos (wie Anm. 10), S. 6–13, hier S. 11. 174 Abgebildet in: Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 110. 175 Beispielsweise: Neckar-Zeitung, 29. November 1914, 12. Dezember 1914, 11. April 1917. 176 Neckar-Zeitung, 1. Oktober 1917. Der Vergleich Hindenburgs mit Gebhard Leberecht von Blücher ist während des Ersten Weltkriegs nicht nur bei Heuss anzutreffen, sondern war in der bürgerlichen und konservativen Tagespresse verbreitet. Hierzu: Hoegen, Jesko von: Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des HindenburgMythos, Köln, Weimar u. Wien 2007, S. 104–106. 177 Stuttgarter Neues Tagblatt, 25. April 1925.

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volksparteilichen Grammophon-Gehirnen weitergegeben wurde: Zurück zu Bismarck!“ 178 Explizit wollte er seine Vorbehalte nicht als „Schmähung“ des Veteranen aus dem Weltkrieg verstanden wissen: „Wir kämpfen gegen Hindenburg um Hindenburg und um des Vaterlandes willen.“ 179 In beiden Beispielen treten bei Heuss bezeichnende Aspekte im Umgang mit Bismarck auf. In diesen Kontroversen war er nie derjenige, der den „Eisernen Kanzler“ als Ersten für den Beleg oder Widerleg eines seiner Argumente anführte. Er reagierte nur auf den Impuls der Instrumentalisierung. Zunächst hielt er der Geschichte als politisches Argument für die Gestaltung der Zukunft die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft entgegen. Heuss demontierte also den Mythos mit Wissenschaft. Er deklarierte die Vergangenheit als Erfahrung sowie eine notwendige Identitätsstiftung und nicht als eine Wegweisung für das Kommende. Es sollte seiner Meinung nach nicht mit Geschichte argumentiert werden, aber ebenso wenig gegen die Geschichte. Bismarck könne nur in seiner Zeit verstanden werden und keine Wegweiser für die Zukunft bringen. Der historische Bismarck habe sich auch nicht an historischen Vorbildern orientiert, sondern entsprechend den Anforderungen seiner Zeit entschieden. Durch den bloßen Blick zurück sah er eine selbst auferlegte Einschränkung in den Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der deutschen Politik. 6. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Bismarckbild „Geschichte war für die NS-Bewegung immer eine politische Waffe, eine blutbefleckte Waffe“ 180, stellte Michal Salewski einmal fest. Wie bei der übrigen extremen Rechten stand Bismarck bei Hitler im Zentrum seiner Verwendung von Geschichte als politisches Argument. Am Umgang mit Bismarck können die Aspekte des nationalsozialistischen Geschichtsbildes rekonstruiert werden. Für Hitler waren Führerpersönlichkeiten wie Bismarck oder auch Friedrich der Große die Entscheidungsträger der Geschichte und nicht die Masse.181 Im Umkehrschluss galten ihm Parlamentarismus und Demokratie als unfähig und destruktiv. Der preußische Ministerpräsident habe „weitschauend gegen den parlamentarischen Wahnsinn“ 182 die Reorganisation der preußischen Armee durchge178

Stuttgarter Neues Tagblatt, 25. April 1925. Ebd. 180 Salewski, Michael: Geschichte als Waffe, in: Jahrbuch des Institut für deutsche Geschichte, XIV, 1985, S. 289–310, hier S. 303. 181 „Positiver Antisemitismus der Bayerischen Volkspartei“. Rede auf NSDAP-Versammlung in München am 2. November 1922, in: Jäckel, Eberhardt/Kuhn, Axel (Hrsg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 717. 182 Hitlers Rede vor dem Industrieklub in Düsseldorf am 27. Januar 1932, in: Domarus, Max (Hrsg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, I. Band: Triumph (1932–1938), München 1962, S. 84. 179

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setzt. Mehrfach zitierte Hitler Bismarcks Worte von „Blut und Eisen“ 183 und erklärte diese zu einer Art „Leitmotiv“ der Nationalsozialisten. Im Unterschied zu vielen deutschnationalen oder rechtskonservativen Parteien und Gruppierungen waren aber Hitlers Bezüge auf den Reichsgründer frei von jeder Absicht einer Restauration des Kaiserreiches, welches für ihn keineswegs als „abgeschlossenes Ergebnis eines politischen Kampfes unseres Volkes“ 184 anzusehen war. Auch für den Nationalsozialismus war der 1871 entstandene deutsche Nationalstaat nur ein Etappenschritt. Wie das „neue Deutschland“ und vor allem dessen Wiederaufstieg dann gelingen sollten, darüber wurden von Hitler nur unspezifische Angaben geäußert. Dies galt auch für die Ausgestaltung eines an Bismarck oder Friedrich dem Großen orientierten „Führertums“. Die einzigen Anhaltspunkte boten die außenpolitischen Anspielungen. Hitler erklärte als Grundsatz, Deutschland müsse versuchen, „aktiv in eine Mächtekombination“ 185 einzudringen, die eine einschneidende Erweiterung des Territoriums ermöglichte.186 Und in diesem Punkt distanzierte er sich in seinem außenpolitischen Kalkül von Bismarck. Zwar kam Frankreich für Hitler als Bündnispartner in Analogie zur Außenpolitik nach 1871 nicht in Betracht,187 doch schon in „Mein Kampf“ hatte er den 1882 zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien abgeschlossenen Dreibund als „Unsinn“ bezeichnet, da man mit diesen Staaten keine Eroberungen vollbringen könne.188 Der mit Russland 1887 geschlossene Rückversicherungsvertrag wurde von Hitler zwar befürwortet,189 seine Einschätzung bezog sich allerdings auf das 19. Jahrhundert: „Es ist Bismarck niemals eingefallen, einen politischen Weg taktisch prinzipiell für immer festlegen zu wollen.“ 190 Die Sowjetunion sei nicht mehr das Russland aus der Zeit Bismarcks191, und deswegen würde sich 183 Beispielsweise: „Sinn und Aufgabe der nationalsozialistischen Bewegung“. Rede auf SA-Versammlung in München vom 6. Juli 1928, in: Institut für Zeitgeschichte (München) (Hrsg.): Hitler. Reden. Schriften. Anordnung. Februar 1933 bis Januar 1933. Band III/1. München u. a. 1994, S. 4. (Im Folgenden angekürzt als: IFZ); „Grundsätzliche Richtlinien für die Arbeit der Vorsitzenden und Schriftführer der Sondertagungen am Reichsparteitag 1929“. Anordnung, in: IFZ: Bd. III/2, S. 35. 184 „Deutsche Außenpolitik“. Rede auf SA-Versammlung in Berlin am 13. Juli 1928, in: IFZ: Bd. III/1, S. 13. 185 Hitlers zweites Buch, in: IFZ: Bd. II/A, S. 101. 186 „Das Ende des Völkerbunds-Schwindels“. Rede auf NSDAP-Versammlung in München am 21. September 1928, in: IFZ: Bd. III/1, S. 105. 187 Beispielsweise: „Politik der Woche“. Artikel vom 29. März 1930, in: IFZ: Bd. III/ 3, S. 143. 188 Hitler, Adolf: Mein Kampf. Zwei Bände in einem. Ungekürzte Ausgabe, München 1935151–152, S. 160. 189 Beispielsweise: „Die Einheitsfront der Lüge“. Rede auf NSDAP-Versammlung in München am 14. Mai 1929, in: IFZ: Bd. III/2, S. 266. 190 Hitler: Mein Kampf (wie Anm. 188), S. 744. 191 Ebd.

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dieser „bei seiner politischen Klugheit nie mit einem Staate verbünden, der dem Untergang geweiht ist.“ 192 Die Ablehnung einer Kooperation mit der UdSSR hatte für Hitler hauptsächlich territoriale Gründe. Ein Bündnis mit Russland bedeutete für ihn keine Lösung „der grundsätzlichen Lebensfrage, ja an der Lebensnot unseres Volkes“ 193. Theodor Heuss setzte sich seit den frühen 1920er-Jahren mit den faschistischen Bewegungen in Europa auseinander. Wie Jürgen C. Hess feststellte, war jedoch für Heuss 1926 der italienische Faschismus allein aus den nationalen Besonderheiten des Landes infolge des Ersten Weltkrieges zu verstehen. Eine Übertragung der Entwicklung und Verhältnisse auf Deutschland war für ihn wegen der spezifischen deutschen Situation und Mentalität zunächst undenkbar.194 Zudem hielt er die Republik nach den Krisenjahren für gefestigter. Die in Europa „mißglückten Napoleone“ gehörten für ihn zu dem „peinlichen Inventar der historischen Fabeln“ und endeten in Deutschland „in der Staubluft eines Gerichtssaales“ 195, in Anspielung an den Hitlerprozess von 1924. Die „Nationalsozialistische Bewegung“ wurde von Heuss noch 1928 vor dem Ruin gesehen, da er der Auffassung war, sie könne im Parlamentarismus nicht bestehen.196 Der Aufstieg der NSDAP infolge der Weltwirtschaftskrise veranlasste Heuss zu einer verstärkten Auseinandersetzung. Wenn auch in der Forschung einhellig und zutreffend die Auffassung vertreten wird, dass Heuss das Gesamtpotential der Gefahr des Nationalsozialismus nicht erfasste197, so kann doch eine dezidierte Aversion konstatiert werden. Er beschrieb 1932 bei Hitler die „primitive Gleichsetzung seines Machttriebes und seiner Romantik mit den Bedürfnissen der Nation“ 198, kritisierte das vereinfachte Gesichtsbild und warnte das deutsche Volk davor, ihn „an der Spitze seines Reiches sich ausleben“ zu lassen. Hingegen betonte er nun bei der Reichspräsidentenwahl die überparteiliche und integrative Kraft von Hindenburg, dessen Wiederwahl ihm „volkspolitisch und außenpolitisch“ geboten schien.199 Die Ergebnisse seiner Recherchen über den Nationalsozialismus fasste Heuss 1931 in seinem Buch „Hitlers Weg“ zusammen.200 Wenn auch in der Forschung 192

Hitler: Mein Kampf (wie Anm. 188), S. 744. Hitlers zweites Buch, in: IFZ: Bd. II/A, S. 115. 194 Heuss: Staat und Volk (wie Anm. 148), S. 96–99. Zur Auseinandersetzung von Heuss mit dem Nationalsozialismus immer noch zu nennen: Hess: Theodor Heuss vor 1933 (wie Anm. 19), S. 177–191. 195 Heuss: Staat und Volk (wie Anm. 148), S. 99. 196 Heuss, Theodor: Parteien und Bünde, in: Wille und Weg. Eine politische Halbmonatsschrift, 15. April 1928. 197 Beispielsweise: Hess: Theodor Heuss vor 1933 (wie Anm. 19), S. 180; oder Becker: Theodor Heuss (wie Anm. 20), S. 62–66. 198 Stuttgarter Neues Tagblatt, 8. März 1932. 199 Ebd. 193

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immer wieder angeführt wird, dass das Werk nicht überschätzt werden dürfe, da es sich inhaltlich nicht von den Äußerungen anderer demokratischer Politiker abhebe, so bleibt es doch eine bemerkenswerte Quelle. Heuss stellt hier unter anderem Hitler und Bismarck als Kontrast gegenüber. Der Österreicher Hitler habe die Probleme des Bismarckreiches von seiner Heimat aus nicht richtig wahrgenommen.201 Heuss verwahrte sich gegen die Vereinnahmungen der preußischen Geschichte und die Gleichsetzung von Preußentum und Sozialismus durch den Parteiredner Hitler.202 Auch lehnte er die nationalsozialistischen Rassenvorstellungen strikt ab: „Bekanntlich gehören auch Goethe und der Rundkopf Bismarck zu den nordischen Fragwürdigkeiten.“ 203 Während Bismarck auf die europäische Friedenssicherung hingearbeitet habe, ziele Hitler auf einen neuen Krieg ab.204 Heuss schloss aus der Ablehnung der Bismarckschen Habsburg- und Russlandpolitik durch Hitler, dass dieser „die Ausdehnung des deutschen Macht- und Siedlungsraumes nach Osten“ 205 als wesentliche Aufgabe vor sich sehe. So konstatierte der Abgeordnete der DDP, dass Hitler mit seinen Geschichtsargumenten eben nichts belegen, sondern man ihn eher widerlegen könne: „Jeder Geschichtsdarstellung, die etwas beweisen will, gelingt der Beweis.“ 206 Theodor Heuss beließ es nicht bei der schriftlichen Auseinandersetzung, sondern suchte in seiner Funktion als Reichstagsabgeordneter die Konfrontation mit dem Nationalsozialismus, auch mit dessen Bismarckbild. In einer Rede am 10. Mai 1932 beschrieb Hermann Göring wieder, welch kraftvoller Außenpolitiker und hervorragender Innenpolitiker der Reichgründer gewesen sei.207 Einen Tag später antwortete ihm Heuss und fragte einleitend: „Nach welchem Geschichtsbuch hat eigentlich Herr Göring Bismarcksche Zeit gepaukt?“ 208 Er betonte die Leistungen der Sozialdemokratie wie der katholischen Kirche für die innere Einigung der Deutschen und merkte wohl etwas spottend an, ob Göring, der mittlerweile den Plenarsaal verlassen hatte, überhaupt wisse, wie denn Bismarcks innenpolitische Kämpfe ausgegangen seien. Unter lebhaftem Beifall der demokratischen Parteien bilanzierte Heuss: „Die Ausstattung des Dritten Reiches wird aus einem Großausverkauf von neulackierten und aufgeputzten Ladenhütern der wil200 Heuss, Theodor: Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus. Eine Schrift aus dem Jahre 1932. Neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Eberhard Jäckel, Tübingen 1968. 201 Heuss: Hitlers Weg (wie Anm. 200), 17. 202 Ebd. 29. 203 Ebd. S. 37. 204 Ebd. S. 103. 205 Heuss: Hitlers Weg (wie Anm. 200), S. 95. 206 Ebd. 207 Rede von Herman Göring am 10. Mai 1932, in: VDR. V. Wahlperiode 1930– 1932. Band 446, S. 2537. 208 Rede von Theodor Heuss am 11. Mai 1932, in: VDR (wie Anm. 207), S. 2589.

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helminischen Epoche bezogen sein [. . .] und davon meine Herren, haben wir, denke ich, genug gehabt.“ 209 Das Zitat zeigt einerseits die Bereitschaft, dem Nationalsozialismus entgegenzutreten, aber anderseits, durch die Gleichsetzung mit dem Kaiserreich, auch die Verkennung des aggressiven Gewaltpotentials von Hitler. Es existieren kaum Hinweise, wie Heuss’ Dekonstruktion des nationalsozialistischen Bismarckbildes oder überhaupt seine Kommentare zum Kult um den Reichsgründer wahrgenommen wurden. So besteht nur ein widersprüchlicher Hinweis zur Einschätzung von „Hitlers Weg“ in den Goebbels-Tagebüchern. Noch in der Phase der nationalsozialistischen Machtfestigung 1933/1934 erschienen mit „Vom Kaiserhof zur Reichkanzlei“ angebliche Exzerpte aus den Tagebüchern des nunmehrigen Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda.210 In einem Eintrag vom 24. Januar 1932 schrieb Goebbels über das Heuss-Buch: „Das ist alles so dumm, daß es kaum einer Beachtung wert scheint. Die bürgerliche Welt versteht uns nicht und kann uns wohl auch nicht verstehen.“ 211 Diese Einschätzung steht im Gegensatz zu der von Elke Fröhlich bearbeiteten und edierten Version. Hier heißt es in einem Eintrag vom 25. Januar 1932: „Spät noch Broschüre gelesen von Theodor Heuß: ,Hitlers Weg‘. Nicht ganz dumm. Weiß sehr viel von uns. Nutzt das etwas gemein aus. Aber immerhin eine Kritik, die sich sehen lassen kann.“ 212 Möglich ist, dass Goebbels seine zwar ohnehin für die Veröffentlichung konzipierten Tagebucheintragungen nochmals zensiert und revidiert hat. Somit muss die zweite Variante als die wahrscheinlichere angenommen werden. IV. „Man kann sich bei Bismarck nichts abgucken“. Die Zeit des Nationalsozialismus Theodor Heuss erkannte den „Umbruch“ 213, der sich durch Hitlers Ernennung zum Reichskanzler in Deutschland vollzog. Den Umfang der Veränderungen konnte er aus seiner Perspektive zunächst nicht verorten Er kommentierte im Februar 1933, dass selbst die Historiker später einmal Schwierigkeiten haben werden, die ersten Monate der Regierung Hitler zu erforschen. Dass sich „das alte und das junge Deutschland in dem Marschall und dem Gefreiten des großen Krieges gefunden haben“, hielt er jedoch nur für „wirkungsvolle Plakatierung“. 209

Rede von Theodor Heuss am 11. Mai 1932, in: VDR (wie Anm. 207), S. 2593. Heuss: Hitlers Weg (wie Anm. 200), S. 35. 211 Goebbels, Joseph: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern, München 19343, S. 31. 212 Fröhlich, Elke (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941. Band 2/II. Juni 1931–September 1932. Bearbeitet von Angela Hermann, München 2004, S. 203. 213 Heuss, Theodor: Umbruch, in: Die Hilfe, 18. Februar 1933, S. 97–101. 210

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Er hoffte, die Konservativen würden erkennen, was ihnen als „preußischer Stil“ suggeriert werde. Öffentlich bilanzierte Heuss: „Die deutsche Lage ist ungeheuer ernst geworden.“ 214 Trotz seiner auch durch die historischen Perspektiven gewonnenen Erkenntnis über den Nationalsozialismus stimmte Theodor Heuss am 23. März 1933 dem „Ermächtigungsgesetz“ 215 der Nationalsozialisten zu. Diese Entscheidung widerstrebte ihm, war aber das Ergebnis einer Diskussion der fünf Fraktionsmitglieder der Deutschen Staatspartei. Heuss sowie sein Parteifreund Hermann Dietrich hatten bei der Abstimmung innerhalb der Fraktion gegen das Gesetz gestimmt. Da die drei anderen Fraktionsmitglieder aber dafür votierten, beugten sie sich schließlich der Fraktionsdisziplin.216 Im Nachlass von Theodor Heuss ist der erste Entwurf einer Rede für die entscheidende Reichstagssitzung überliefert, die er dann in dieser Form nicht halten konnte. Hier äußerte er große Vorbehalte, bei der Norm der Gesetzgebung die Verfassung zu verlassen. Er betonte, die Unabhängigkeit der Gerichte, die staatsbürgerliche Gleichberechtigung sowie die Entfaltung des künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens seien keine Errungenschaften der Weimarer Republik, sondern Elemente des staatlichen Lebens, die für Bismarcks Verfassung wie zuvor für den preußischen Staat seit dem Freiherrn vom Stein selbstverständlich gewesen seien. All diese Werte seien nicht 1919 geschaffen, sondern als Pfeiler des Rechtsstaates gerettet worden. Aus seinem Gewissen heraus müsse er sich daher der Stimme enthalten. Die Rede wurde von Heuss wegen seiner Zustimmung für das Gesetz nur verkürzt und ohne die Erwähnung Bismarcks gehalten.217 Im April 1933 vollzog Heuss eine, wenn auch kurze Wende gegenüber dem sich festigenden Regime. Unabhängig von den Motiven des Kabinetts hielt er die „Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ für eine notwendige und nicht mehr änderbare Entscheidung. Dies war „nicht bismärckisch und ganz gewiß nicht ,deutschnational‘ “ 218 sondern eine definitive Abkehr vom konservativen deutschen Staatsdenken. Er sah hier eine der wesentlichen Forderungen des deutschen Liberalismus der 1860er-Jahre verwirklicht. Durch die Abschaffung des Föderalismus gelangte er zu einer Neubewertung der NSDAP: „Die Situation hat 214

Heuss: Umbruch (wie Anm. 213), S. 98. „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, in: Reichsgesetzblatt. Teil I, Jg. 1933, S. 141–148. 216 Ekstein: Theodor Heuss und die Weimarer Republik (wie Anm. 145), S. 112–115. Die posthum veröffentlichte Darstellung von Heuss: Pikart, Eberhard (Hrsg.): Heuss, Theodor: Die Machtergreifung und das Ermächtigungsgesetz. Zwei nachgelassene Kapitel der „Erinnerungen 1905–1933“, Tübingen 1967. 217 Theodor Heuss: Entwurf einer Erklärung für die Reichstagssitzung vom 23.03.1933, in: Ekstein: Theodor Heuss und die Weimarer Republik (wie Anm. 145), S. 113–114. 218 Heuss, Theodor: Das Schicksal des Reiches, in: Die Hilfe, 22. April 1933, S. 224–227, hier 227. 215

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sich heute für sie gewandelt und ihre Chance könnte ein Auftrag der Geschichte werden.“ 219 Doch einen Monat später ist eine gewisse Ernüchterung auszumachen. Heuss sprach sich gegen die „Gleichschaltung des Geistes“ als eine „Verdumpfung“ 220 aus und verteidigte die Pressefreiheit221. Er verwahrte sich dagegen, mit Bismarcks Auffassung von einer Zersplitterung des Volkes durch die Parteien deren Verbot zu legitimieren.222 Sein Mandat im Reichstag verlor er dann wie viele andere im Juli 1933. Er gab noch drei Jahre lang „Die Hilfe“ heraus, erhielt 1936 ein Publikationsverbot und verlor sein Lehramt. Im Jahr 1941 wurde Heuss fester Mitarbeiter der liberalen „Frankfurter Zeitung“. Ein Jahr später verbot man aber den deutschen Zeitungen, Texte von ihm abzudrucken. Er schrieb weiter unter einem Pseudonym und lebte mit der Familie ab 1943 in Heidelberg.223 Im Kontext der Zensur und der persönlichen Situation von Heuss sind die von ihm noch veröffentlichten Artikel umso relevanter. Hier kann konstatiert werden, dass historische Persönlichkeiten wie Bismarck und auch Friedrich der Große ihm die Möglichkeit einer indirekten Kritik boten, wurde doch der nationalsozialistische Kult um die beiden Preußen entgegen häufig in der Forschung vertretenen Thesen nach 1934 noch weiter erstärkt.224 Heuss schrieb am 18. Januar 1934, dem ersten Reichsgründungstag unter dem neuen Regime, dass Bismarck „nur sehr bedingt ein Liebhaber der volkstümlichen Legenden“ gewesen sei. Die Menschen dürften in Anbetracht der Aufgaben der Zeit nicht „geschichtsblind“ werden.225 Noch deutlicher formulierte Heuss seine Aversion gegenüber der allgemeinen nationalsozialistischen Geschichtsauffassung in „Kampf um das deutsche Geschichtsbild“ 226 im Juni 1934. Er gestand hier zunächst ein, dass jede Geschichtsdarstellung nicht bloß über Vergangenheit, sondern auch etwas über den politischen Standpunkt des Autors schildere. Doch war für ihn hier etwas Exorbitantes festzustellen, die Umgestaltung und Neuausrichtung der Vergangenheit auf das „Dritte Reich“ hin. Urteile über die Vergangenheit würden aus der Perspektive des Jahres 1933 gefällt. Dies 219

Heuss: Das Schicksal des Reiches (wie Anm. 218), S. 227. Heuss, Theodor: Gleichschaltung des Geistes, in: Die Hilfe, 20. Mai 1933, S. 265–267, S. 267. 221 Heuss, Theodor: Die deutsche Presse, in: Die Hilfe, 16. Oktober 1933, S. 505– 509. 222 Heuss, Theodor: Der Ausgang der Parteien, in: Die Hilfe, 15. Juli 1933, S. 361– 366. 223 Becker: Theodor Heuss (wie Anm. 20), S. 79–95. 224 Hirschmüller: Funktion und Bedeutung von Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck in der nationalsozialistischen Geschichtspolitik (wie Anm. 15), S. 147–176. 225 Vossische Zeitung, 15 Januar 1934. 226 Heuss, Theodor: Der Kampf um das deutsche Geschichtsbild, in: Die Hilfe, 16. Juni 1934, S. 280–283. 220

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warf für ihn die Frage auf, „wie weit Vorstellungen, Begriffe, auch Empfindungen einer Zeit, etwa einer Gegenwart, als Maßstab von Vergangenheiten benutzt werden dürfen, ohne daß eine Verbiegung der Tatsachen eintritt.“ 227 Dezidiert bemängelte er, dass aus politischem Interesse in Deutschland nun wissenschaftliche Auffassungen gesetzlich vorgeschrieben werden.228 Reiner Burger warf Heuss vor, dass er in der Wiener „Neuen Freien Presse“ 1938 den Anschluss Österreichs eindeutig begrüßt und sich nicht daran gestört habe, dass Hitler es war, der das Großdeutsche Reich verwirklichte. Burger rechnete ihm nur an, den „Führer“ im Unterschied zu weiten Teilen des Bürgertums nicht zum „Über-Bismarck“ stilisiert zu haben.229 Dabei verkennt er zum einen, dass Heuss den Anschluss mindestens seit den 1920er-Jahen als einen Schritt des „Werdens der Nation“ und daher ohnehin nur für eine Zeitfrage hielt.230 Die territorialen Erfolge Deutschlands des Jahres 1938 wertet Heuss als Teil einer Konsolidierung Mitteleuropas. Er versprach sich nach einer Gewöhnungsphase für die europäischen Mächte eine Stabilisierung der Verhältnisse wie nach Bismarcks Reichsgründung.231 Zum anderen übersieht Burger, dass Heuss Hitler in dem Artikel mit keinem Wort erwähnte. Dies ist als definitive Distanzierung zu werten. Und Bismarck warf er vor, das Reich aus preußischen Instinkten heraus gegründet, das Volk jedoch immer auch gefürchtet zu haben.232 Heuss’ öffentliche Äußerungen zu Bismarck konzentrierten sich ab 1939 nahezu ausschließlich auf das Abfassen von Rezensionen zu entsprechender Literatur.233 Die bedeutendste dieser Literaturbesprechungen war jene zu Heinrich von Srbiks „gesamtdeutscher“ Geschichtsbetrachtung aus dem Jahr 1943.234 Heuss wirft hier die Frage auf, ob das Bismarcksche Reich vielleicht doch die beste Zwischenform der Geschichte war. Srbik rechnet er an, darauf verzichtet zu haben, der „raumpolitischen und ethnischen Sonderlage“ des Nationalstaates von 1871 eine Aktualisierung zu geben. So hütete sich der Wiener Historiker davor, „die Fragen jener Zeit, die eben an diese Monarchen und jene Staatsmänner gebunden waren, mit Antworten aus unserer Gegenwart zu bedrängen“.235 227

Heuss: Der Kampf um das deutsche Geschichtsbild (wie Anm. 226), S. 281. Ebd. S. 283. 229 Burger: Theodor Heuss als Journalist (wie Anm. 17), S. 348. 230 Hierzu der Artikel: Heuss, Theodor: Das Werden einer Nation. Die Phasen des großdeutschen Gedankens, in: Neue Freie Presse, 10. April 1938. 231 Heuss, Theodor: Die Konsolidierung Mitteleuropas, in: Die Hilfe, 4. März 1939, S. 49–51. 232 Heuss: Das Werden einer Nation (wie Anm. 230). 233 Beispielsweise: Heuss, Theodor: Alte und neue Bismarck-Literatur, in: Europäische Revue, 17, Heft 3, 1941, S. 205–209. 234 Deutsche Bergwerkszeitung. Tageszeitung für Wirtschaft und Technik, 5. Dezember 1943. 235 Ebd. 228

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Zur Weimarer Zeit war es die zentrale Absicht von Heuss gewesen, die Republik gegen eine bedrängende Bismarcklegende zu verteidigen. Nun versuchte er, wenn auch auf eine sehr unterschwellige Weise, die Persönlichkeiten aus der preußischen Geschichte als Gegensatz zum nationalsozialistischen Staat zu positionieren. V. „Bismarcks Gestalt fordert in unserem Zusammenhang eine nachdenksame Überlegung“. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg 1. Eine „Stunde Null“ im Umgang mit Geschichte? Ende Mai 1945 hielt der im Exil lebende Thomas Mann in der Library of Congress in Washington eine Rede mit dem Titel „Deutschland und die Deutschen“ 236. In Anbetracht der Trümmerlandschaft, in der sich das 1871 gegründete Reich befand, sprach Mann von Bismarck als „dem einzigen politischen Genie, das Deutsachland hervorgebracht“ 237 habe. Doch gleichzeitig konstatierte er: „Bismarcks Reich hatte im tiefsten nichts mit Demokratie und also auch nichts mit Nation zu tun.“ 238 Als reines Machtgebilde habe das „unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich“ 239 sein können. Auch in Deutschland setzte nach dem Zweiten Weltkrieg eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Gebrauch“ von Geschichte im Nationalsozialismus ein. Friedrich Meinecke stellte in seinem erstmals 1946 erschienen Buch „Die deutsche Katastrophe“ zunächst fest, dass noch viele Stufen gewesen seien von der Zeit Bismarcks zu der von Hitler. Die Inszenierung als „neues Preußen“ am Tag von Potsdam wertete Meinecke als „Rührkomödie“. Und doch forderte er in Anbetracht der Katastrophen der beiden Weltkriege zu überlegen, ob der Ursprung dieses Unheils nicht dem Reich auf Grund des preußischen Militarismus von Anfang an beigegeben war. Als eine Neuorientierung schlug er eine Rückbesinnung der Deutschen auf die Goethezeit vor.240 Gerhard Ritter beklagte 1947 in seinem Aufsatz „Die Fälschung des Geschichtsbildes im Hitlerreich“, dass durch die Instrumentalisierung von preußischer Geschichte im Nationalsozialismus die „nationale Vergangenheit der Deutschen diffamiert, ja vielleicht für immer in der Welt in Verruf gebracht“ 241 wurde. 236 Mann, Tomas: Deutschland und die Deutschen. Vortrag Ende Mai 1945 in der Library of Congress, Washington, in: Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band XI: Reden und Aufsätze 3, Frankfurt am Main 19742, S. 1126–1148. 237 Ebd. S. 1143. 238 Mann: Deutschland und die Deutschen, (wie Anm. 136),S. 1143. 239 Ebd. S. 1144. 240 Meinecke, Friedrich: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 21–26. 241 Ritter, Gerhard: Die Fälschung des Geschichtsbildes im Hitlerreich, in: Deutsche Rundschau, 70, Heft 4, 1947, S. 11–20, hier S. 11.

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Die Distanz zu Bismarcks betonenden Auffassungen stimmen mit Äußerungen der politisch verantwortlichen Deutschen der unmittelbaren Nachkriegszeit überein. Zwar bemerkte Konrad Adenauer ironisch: „Daß jetzt die alte Garde, die zu Bismarcks Zeiten auf die „Penne“ gegangen ist, wieder die Spitzenpositionen einnimmt, ist nicht nur im Rheinland zu beobachten.“ 242 Doch auch Adenauer stellte 1946 die Frage, wie es möglich gewesen sei, dass das 1871 gegründete Reich Bismarcks sich zu einem der mächtigsten Staaten der Welt entwickelt habe und doch schon 1918 zerbrochen sei.243 In diesem Zusammenhang warf er dem deutschen Volk vor, eine falsche Auffassung von Staat besessen zu haben: „Es hat den Staat zum Götzen gemacht und auf den Altar erhoben.“ 244 Nach 1871 sei das Kaiserreich zu einer souveränen Maschine geworden. Für die Zukunft forderte er die Begründung der Vereinigten Staaten von Europa und um Deutschland vor der Zerstückelung durch seinen Nachbarn zu bewahren: „kein Reich mehr unter preußischer Führung“ 245. In der Forschung wurde oft die These vertreten, in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft habe es keine „Stunde Null“ hinsichtlich einer historischen Neuorientierung und explizit des Bismarckbildes gegeben.246 Dabei schwingt auch immer die Unterstellung mit, die Deutschen hätten noch keine wirkliche Distanz zum Nationalsozialismus besessen. Als Belege werden gerne Umfragen in der Bundesrepublik aus den 1950ern angeführt. So wurde beispielsweise im März 1953 Männern der Geburtsjahrgänge 1927 bis 1934 die Frage gestellt: „Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?“ 247 Bei den Antworten rangierte Bismarck auf dem ersten Platz mit 36, Friedrich der Große an zweiter Stelle mit 14 Prozent und auf den folgenden Rängen Hitler mit zehn und Hindenburg mit fünf Prozent. Die Interpretationen dieser Studien sind allerdings in der Forschung sehr weitgehend. Hier wurde zunächst nur die Bewertung historischer Leistungen und keine politischen Einstellungen oder Ziele erfragt. Das Drittel, das für Bismarck votierte, hat nicht wie noch zur Weimarer Republik gleichbedeutend eine Rückkehr zu dessen Politik

242 Konrad Adenauer am 16. April 1946, zitiert nach: Schwarz, Hans Peter: Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1991, S. 437. 243 Konrad Adenauer: Grundsatzrede des 1. Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union für die Britische Zone in der Aula der Kölner Universität 24. März 1946, in: Schwarz, Hans Peter (Hrsg.): Konrad Adenauer. Reden 1917–1967. Eine Auswahl, Stuttgart 1975, S. 83. 244 Ebd. 245 Konrad Adenauer: Grundsatzrede (wie Anm. 243), S. 104. 246 Beispielsweise: Gerwarth: Der Bismarck-Mythos (wie Anm. 11), S. 182. 247 Umfrage des Instituts für Demoskopie unter Männern der Geburtsjahrgänge 1927–1934, in: Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.): Quellen zur Innenpolitik der Ära Adenauer 1949–1963. Konstituierung und Konsolidierung der Bundesrepublik (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit, 40), Darmstadt 2005, S. 123.

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oder politischem Stil gefordert. Hingegen als Beleg, dass es in Westdeutschland durchaus mit dem Jahr 1945 auch einen Einschnitt im Umgang mit der Geschichte Bismarcks gab, kann hingegen das nahezu völlige und dauerhafte Wegbrechen der bis dahin so populären Bismarck- und Sedanfeiern gewertet werden.248 2. Theodor Heuss zwischen Distanz und Nähe Das Kriegsende 1945 hatte Theodor Heuss im schwer zerstörten Heidelberg erlebt. Dort wurde er noch im selben Jahr Lizenzträger der Militärregierung der Vereinigten Staaten für die Rhein-Neckar-Zeitung. Auch gelang ihm schnell der Wiedereinstieg in das politische Tagesgeschehen. Im September 1945 trat er auf Vorschlag der Militärregierung zunächst als Kultminister (Kultusminister) in die von Reinhold Maier geführte erste Landesregierung von Württemberg-Baden ein. Von 1946 bis 1949 war er Landtagsabgeordneter. Heuss wechselte aber bald zur Ebene der Parteiführung und wurde 1946 zum ersten Vorsitzenden der süddeutschen Liberalen. Zudem fungierte Heuss ab 1948 als Honorarprofessor für Geschichte und politische Wissenschaft an der TU Stuttgart.249 Theodor Heuss zeichnete in einer seiner ersten Nachkriegsansprachen im Oktober 1945 ebenfalls ein kritisches Bild von Bismarck. Der Reichsgründer habe die „innere Glaubenskraft eines freiheitlichen Gestaltungswillens“ 250 zerstört. Im Unterschied zu anderen Nachkriegspolitikern sah er sich jedoch bald zu einer Art „Verteidigung“ des Reichsgründers veranlasst. Bismarck sei trotz problematischer politischer Entscheidungen der „Baumeister der deutschen Staatlichkeit“ 251 gewesen. Wieder war der Bezug von Heuss eine Reaktion auf einen von ihm als polemisch empfundenen Umgang mit der Vergangenheit. Heuss hielt über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalen Vergangenheit 1946 einen bemerkenswerten Vortrag an der Universität in Tübingen mit dem Titel „Die deutsche Nationalidee im Wandel der Geschichte“ 252. Hier stellte er die Frage: „Darf, da sich die Nationalsozialisten auch ihren Bismarck zurecht gemacht hatten, an ein Stück deutscher Nationalgeschichte erinnert werden?“ 253 Er beantwortete die Frage damit, dass Bismarck mit Heinrich Simson auf einen 248 Hirschmüller: „Wegbereiter und Mahner zur Einheit Deutschlands“? (wie Anm. 15), S. 221–257. 249 Becker: Theodor Heuss (wie Anm. 20), S. 96–108. 250 Hess, Jürgen C.: „Erste Wege durch das Ruinenfeld“. Theodor Heuss und der Neubeginn liberaler Rhetorik 1945/46, in: Hess, Jürgen C./Lehmann, Hartmut/Sellin, Volker (Hrsg.): Heidelberg 1945, Stuttgart 1996, S. 348–386, hier S. 368. 251 „Bildung und Freiheit“. Rede auf dem demokratischen Dreikönigstag am 6. Januar 1946, in: Pikart, Eberhard (Hrsg.): Theodor Heuss. Aufzeichnungen 1945–1947, Stuttgart 1967, S. 168. 252 Heuss, Theodor: Die deutsche Nationalidee im Wandel der Geschichte, Stuttgart 1946. 253 Ebd. S. 33.

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Juden als ersten Richter des Reichsgerichts zurückgegriffen habe, und stellte somit den Kontrast zum Nationalsozialismus her.254 Der siegreiche Ausgang der Einigungskriege sei von den Deutschen als Bestätigung für deren Recht und Richtigkeit genommen worden. Bismarcks Gestalt erfordere dahingehend ein Überdenken. Bismarck aber als einen geistigen Verursacher der Katastrophe zu bezeichnen, lehnte er ab. Hitlers Verbrechen würden nichts über Bismarcks historische Leistung aussagen.255 In der Abwägung zwischen Distanzierung und Nähe, in der sich Theodor Heuss bewegte, dominierte somit die Trennlinie zwischen Bismarck und Hitler. Die Kontinuitätsthese verwarf er. Zu Bismarcks 50. Todestag kommentierte er in der „Rhein-Neckar-Zeitung“, man dürfe nicht, man müsse an den Reichsgründer erinnern, wolle man sich nicht nur an Tagesmeinungen orientieren.256 Wolfgang Benz warf Heuss vor „in seiner bildungsbürgerlichen Zurückhaltung gegenüber der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen typisch für die westdeutsche Gesellschaft“ 257 gewesen zu sein. Die Differenzierung zwischen Bismarck und Hitler bestätigt dies nicht, die in der Rede von 1946 und danach immer wieder stattgefundene Thematisierung von Hitlers Verbrechen korrigiert das Ergebnis von Benz. Heuss sprach sich 1947 in einem Brief an Fritz Ulrich auch gegen die Umbenennung von Straßen aus, die nach Bismarck, Moltke, Blücher, Radetzky, Scharnhorst, Gneisenau, York oder Ziehten benannt waren.258 Heuss wertete ein derartiges Vorhaben als Mangel an Geschichtsgefühl: „Man kann gegen Bismarck eine geistvolle Polemik betreiben, und er bleibt damit doch die größte politische Erscheinung Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.“ 259 Zudem fürchtete er durch diese Maßnahmen Gegenreaktionen, die vermieden werden könnten. Noch deutlicher vertrat er diese Auffassung über Straßenumbenennungen im Landtag von Württemberg-Baden, als er die Politiker, die auf diese Weise die Vergangenheit „abschütteln“ wollten, unabhängig von der Partei als „Esel“ und „Rindvieh“ titulierte. Durch die Beibehaltung der Stilisierung von explizit Bismarck und Friedrich dem Großen zu Vorläufern des Nationalsozialismus würden die verkitschenden Thesen von Goebbels weiter nachgesprochen. Dies „Abschütteln“ von Vergangenheit war für ihn, wie einst die Bismarcklegende, eine 254 Heuss: Die deutsche Nationalidee im Wandel der Geschichte (wie Anm. 252), S. 22–34. 255 Ebd. 256 Rhein-Neckar-Zeitung, 29. Juli 1948. 257 Benz, Wolfgang: Geschichte als prägendes Element, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.): Normen. Stile. Institutionen. Zur Geschichte der Bundesrepublik, München 2000, S. 23–34, hier S. 29. 258 Brief von Theodor Heuss an Fritz Ulrich vom 4. Februar 1947, in: Becker: Theodor Heuss (wie Anm. 21), S. 248. 259 Ebd. S. 250.

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„geistige Gefahr“. Man dürfe es sich nicht wieder zu einfach mit der Vergangenheit machen. Diese müsse immer in ihrer Zeit und in einem internationalen Kontext begriffen werden. So sei beispielsweise der deutsche Imperialismus im 19. Jahrhundert unbefriedigend geführt worden, doch müsse der Imperialismus als solcher dabei nicht als nationaler, sondern epochaler Vorgang begriffen werden. Die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stand für ihn außer Frage, eine Kollektivschuld der Deutschen lehnte er jedoch ab.260 Die Herstellung eines vor allem wissenschaftlichen Bezuges der Deutschen zur deutschen Geschichte war für Heuss eine Voraussetzung dafür, dass ein „Frieden“ Deutschlands möglich wird. Nur so könne ein nationales Gefühl ohne die Hybris des Nationalismus entwickelt werden.261 3. Theodor Heuss und die Revision des Geschichtsbildes Heuss erkannte, dass man in einer Revision der Beurteilung der Vergangenheit stehe und eine solche auch notwendig war.262 Diese Neubewertung war ihm eines der zentralen Anliegen beim Wiederaufbau: „Die Frage des deutschen Geschichtsbildes steht als schwerste Aufgabe im Geistigen und Politischen vor uns.“ 263 Eine solche Revision war für ihn nicht ohne Gefahren verbunden. Er warnte davor, die „Vergangenheit“ zu schmähen oder in ihr die „unmöglichsten Dinge umfärben“ zu wollen.264 Er war sich dessen bewusst, dass jede Generation einmal in den Zwang komme, ihr Geschichtsbild zu überdenken. Auch Bismarcks Gestalt fordert für ihn eine „nachdenksame Überlegung“ 265. Dass das Bild des Reichsgründers eine überfällige Revision erforderte, glaubte er auch als Konsens in der deutschen Geschichtswissenschaft zu erkennen.266 Aber man müsse dafür sorgen, dass die Vergangenheit „nicht immer nur in neuen, eben politisch modischen Farben geschrieben und gemalt wird“ 267. Als Zielsetzung formulierte er, in Abgrenzung zur nationalsozialistischen Geschichtspolitik, ohne Zweckgebundenheit „Forschung 260 Theodor Heuss: Landtagsrede zu Möglichkeiten deutscher Außenpolitik (Verhandlungen des Württembergisch-Badischen Landtags. Wahlperiode 1946–1950, Protokoll-Band 1), in: Vogt: Theodor Heuss (wie Anm. 111), S. 333–334. 261 Ebd. S. 332–333. 262 „Bildung und Freiheit“, in: Pikart: Theodor Heuss (wie Anm. 251), S. 167–168. 263 „Um Deutschlands Zukunft“. Rede vor dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Berlin, im Haus des Rundfunks, Maurenallee, 18. März 1946, in: Welchert, Hans Heinrich (Hrsg.): Theodor-Heuss-Lesebuch, Tübingen 1975, S. 297. 264 „Bildung und Freiheit“ (wie Anm. 262), S. 167–168. 265 Heuss: Die deutsche Nationalidee im Wandel (wie Anm. 252), S. 23. 266 Heuss, Theodor: Das Bismarck-Bild im Wandel. Ein Versuch, Bonn 1951, S. 6. Zur Diskussion der Fachhistoriker: Hallmann, Hans (Hrsg.): Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945–1955, Darmstadt 1972. 267 Heuss: Die deutsche Nationalidee im Wandel (wie Anm. 252), S. 23.

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und Darstellung wieder unter das Gesetz wissenschaftlichen Gewissens [zu] führen“. Dies war für ihn die Voraussetzung, um wieder ein „glaubwürdiges Erziehertum in allen Schulgattungen“ zu erhalten.268 Die Komplexität der Revision des Geschichtsbildes wurde nach Heuss dadurch verstärkt, da die Deutschen ein solches als Einheit nie besessen hatten. Waren die unterschiedlichen Bilder zuvor den diversen deutschen Fürstenhäusern geschuldet, lag ihre Ursache nun in einer für ihn fragwürdigen „reeducation“, die je nach Besatzungsmacht variierte.269 Die „Substanz eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins“ 270 sollte sich, wie er hoffte, durch sich abzeichnende dauerhafte Teilung nicht aufbrauchen lassen. Im Kontext der geschichtlichen Aufarbeitung ging er auf starke Konfrontation mit der Politik der Besatzungsmächte, die den deutschen Historikern den Zugang zu entscheidenden Dokumenten nicht nur zur Geschichte des Nationalsozialismus verweigerten: „Die wenigsten machen sich darüber wohl eine Vorstellung, was es heißt, daß die militärisch siegreichen Mächte auch die ganze neuere deutsche Geschichte, soweit sie ihnen greifbar war, sozusagen als Kriegsbeute an sich gezogen haben.“ 271 Die Jahre der Diktatur mussten und konnten für Heuss nur von Deutschen aufgearbeitet werden, da nur diese in der Lage seien, die spezifische Situation ihres Landes zu erfassen. 4. Bismarck in der frühen Bundesrepublik Bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat hatte Bismarck keine bedeutende Rolle eingenommen, und die Wiedererrichtung eines deutschen Staatsgebildes 1949 änderte zunächst nichts an der distanzierten Haltung der deutschen Politik gegenüber Bismarcks, wenngleich in der Politik am Fortbestand von dessen Werk in den Grenzen von 1937 kontinuierlich und parteiübergreifend festgehalten wurde. Entsprechend nahmen sich anlässlich des 80. Jahrestages der Reichsgründung am 18. Januar 1951 die wenigen Kommentare in der Tagespresse aus. So war zu lesen, Preußen habe seine Aufgabe als europäische Macht verfehlt.272 In der „Rhein-Neckar-Zeitung“ wurde prognostiziert, dass die erhoffte deutsche Einigung im 20. Jahrhundert nur dann gelingen werde und von Dauer sei, wenn sie im Gegensatz zu 1871 als Demokratie vollzogen werde.273 In der CSU-Parteizeitung „Bayernkurier“ wurde das Fehlen von 268

„Bildung und Freiheit“ (wie Anm. 262), S. 168. Ansprache zum 1. Mai 1950, in: Welchert: Theodor-Heuss-Lesebuch (wie Anm. 263), S. 341. 270 Ebd. 271 Heuss, Theodor: Wer schreibt unsere Geschichte?, in: Das neue Vaterland, 23. März 1949. 272 Die Welt, 18. Januar 1951. 273 Rhein-Neckar-Zeitung, 19. Januar 1951. 269

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Grundrechten in der Verfassung von 1871 beklagt, wenngleich das Kaiserreich auch als ausbaufähiger Rechtsstaat eingeschätzt wurde.274 Die SPD-Zeitung „Vorwärts“ kritisierte eine bürgerliche und militärische Vorherrschaft im Kaiserreich und betonte die innenpolitischen Differenzen mit dem Reichsgründer. Dennoch wurde die Behauptung einer Linie von Bismarck zu Hitler abgelehnt.275 Die Erinnerung von Jubiläen um den Reichsgründer in den Tageszeitungen der 1950er- und frühen 1960er-Jahre kann grundsätzlich nur als marginal bezeichnet werden, war sie doch vor 1945 die Regel. Diese rudimentäre erinnerungskulturelle Rolle des Reichsgründers ist auch in den politischen Kontroversen der 1950er-Jahre festzustellen. Im Jahr 1949 warb zwar der „Vaterländische Bund“ aus CDU, FDP und DKP auf einem Plakat mit dem Hamburger Bismarckdenkmal unter dem Motto „Jugend – Wir rufen Dich!“ um Wählerstimmen.276 Solche Unternehmungen blieben jedoch die Ausnahme. Entsprechend fiel auch die Ansprache von Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) zum achtzigsten Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar 1951 aus. Er distanzierte sich von jeglichem Gegenwartsbezug: „Wenn ich dieses Vorgangs gedenke, geschieht es nicht, um eine historische Erinnerung mit einer gegenwärtigen politischen Zielsetzung zu versehen.“ 277 Die Ereignisse seit der Reichsgründung in Versailles machten eine Verklärung unmöglich: „Wir haben durch bitteres Erleben unseres Volkes genügend Abstand von den Vorgängen vor 80 Jahren, um noch versucht zu sein, den 18. Januar 1871 in einer unechten Weise zu glorifizieren.“ 278 Die einzige Gemeinsamkeit zu 1871 sah Ehlers in dem Wunsch des deutschen Volkes, in Freiheit vereint zu sein. Adenauer äußerte sich im Bundestag überhaupt nicht zu dem Jubiläum. Ein ambivalentes Bismarckbild ergab sich auch bei den anderen demokratischen Parteien in Westdeutschland. Reinhold Maier erklärte beim Dreikönigstreffen der DVP 1946, dass das Bismarckreich einerseits die längste Friedensperiode der deutschen Geschichte gebracht habe, andererseits sei sein Fundamt „auf Sand gebaut“ worden. Deshalb konstatierte er als die Aufgabe der Politiker des Jahres 1946: „Uns, die Nachfahren der Männer des Jahres 1848 und ihrer Gesinnung, trifft die Aufgabe, Deutschland noch mitten im Sturz aufzufangen und seine weitere Zertrümmerung aufzuhalten.“ 279 Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher ge274

Bayernkurier, 20. Januar 1951. Vorwärts, 19. Januar 1951. 276 Abgebildet in: Schilling, Jörg: „Distanz Halten“. Das Hamburger Bismarckdenkmal und die Monumentalität der Moderne, Göttingen 2006, S. 335. 277 Rede von Hermann Ehlers am 18. Januar 1951, in: Verhandlungen des Bundestages. Stenographische Berichte, 1. Wahlperiode 1949, Band 6, Bonn 1951. S. 4196. 278 Ebd. 279 Rede beim Dreikönigsparteitag der DVP am 6. Januar 1946, in: Hofmann, Wilhelm (Hrsg.) (1982): Reinhold Maier. Die Reden. Eine Auswahl, Band 1, Ulm, S. 258. 275

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stand dem Bismarckreich immerhin „demokratische Spielregeln in beschränktem Umfang“ 280 zu. Trotzdem blieb es für ihn nur eine konservative Antwort auf die deutsche Frage. 5. Bismarck und der Bundespräsident Theodor Heuss behielt seine Vorbehalte gegenüber einem Föderalismus Bismarckscher Prägung auch vor dem Hintergrund der bevorstehenden Beratungen um ein neues deutsches Staatsgebilde bei.281 So entgegnete er auch dem bayerischen SPD-Politiker Wilhelm Hoegner, die Novemberverträge des Jahres 1870 seien nicht durch die Geschäftsunfähigkeit des Deutschen Reiches außer Kraft, sondern grundsätzlich „interessieren [sie] uns nicht mehr“ 282. Aber auch bei Heuss blieben derartige historische Bezüge die Ausnahme. Hierzu gehört auch ein bekannter Kommentar von Heuss über die Einigung des Bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard mit dem SPD-Politiker Walter Menzel über die Regelung der Kompetenzen der Länderkammer: „Für den Historiker wird es später eine sehr reizvolle Anekdote sein, einmal festzustellen, daß der rheinische Sozialist und der weißblaue Staatsmann sich bei Bismarck gefunden haben, (Heiterkeit) und zwar über Weimar zurück noch bismärckischer geworden sind.“ 283 Diese Charakterisierung der beiden „neuen Bismärcker“ blieb, als was sie gedacht war, eine humoristische Einlage. Heuss erwähnte dann aber Bismarck in der Rede nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 12. September 1949 mit keinem Wort. Stattdessen erinnerte er an den 200. Geburtstag Johann Wolfgang von Goethes am Tag seiner Präsidentenwahl und dass diese in der Geburtsstadt Ludwig van Beethovens stattfand: Doch selbst dabei gab er zu bedenken: „Es steht uns auch nicht an, wohlwollend auf ihre Schultern zu klopfen. Aber wir spürten dies, daß in diesen beiden Männern aus dem deutschen Mutterboden Weltwerte geworden sind, vor denen wir selber stolz und bescheiden stehen. Mögen sie uns in der Zerschlagenheit der Zeit Festigung und Trost bedeuten.“ 284 Dies war symbolisch eine Anknüpfung an 280 Referat Schumachers für den Parteitag der SPD: „Die Sozialdemokratie im Kampf für Freiheit und Sozialismus“, 8. Sepember 1948, in: Albrecht, Willy (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden – Schriften – Korrespondenzen 1945–1952, Berlin u. Bonn 1985, S. 588. 281 Rhein-Neckar-Zeitung, 1. Juli 1948. 282 Rede im Parlamentarischen Rat über die Grundlage einer Verfassung. Dritte Sitzung des Plenums am 9. September 1948, in: Werner, Wolfram (Bearb.): Der Parlamentarische Rat. 1948–1949. Akten und Protokolle, Band 9: Plenum, München 1996, S. 113. 283 Rede in der zehnten Sitzung des Plenums am 8. Mai 1949, in: ebd. S. 533. 284 Ansprache des Bundespräsidenten Theodor Heuss vom 12. September 1949, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Die Bundesversammlungen 1949–1999. Eine Dokumentation aus Anlass der Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai 2004, Berlin 2004, S. 99.

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die deutsche Geistesgeschichte statt an eine Machtstaatstradition. Auch Adenauer stellte in seiner ersten Regierungserklärung nach der Wahl zum Bundeskanzler acht Tage später keine Bezüge zu Bismarck oder zum Reich von 1871 her.285 Der Bundespräsident Theodor Heuss blieb einer der Politiker, die am häufigsten und deutlichsten die Unterschiede von Bismarck und Hitler betonten.286 Explizit störte er sich an den Bildern, die in den Filmen des „Dritten Reiches“ von Friedrich dem Großen und Bismarck vermittelt wurden, was vor allem die Vorstellungen in den USA verzerren würde. Nach Heuss’ Vorstellung sollte sich dieses Bild in der Zukunft ändern.287 Wie wenig er von einer Instrumentalisierung oder Verkitschung der Geschichte hielt, zeigt ein „Zwischenfall“ auf dem Neujahrspresseball von 1957. Ein als Friedrich der Große verkleideter Schauspieler „mit Uniform und Krückstock“ sollte dem Bundespräsidenten ein Dokument überreichen, mit dem der Preußenkönig einst den Pfandbrief schuf. Diese Situation wurde von dem Staatsoberhaupt als „grässlich“ und „ekelhaft“ empfunden und hatte zur Folge, dass Heuss, wie er sich später eingestand, „schroff gegen so ziemlich jeden wurde“. Dem Friedrichdarsteller entgegnete er: „Heute, Majestät, ist es mein Schicksal, verkitscht zu werden. Sie haben es glücklich hinter sich gebracht. Aber Sie waren, sind und bleiben, wie immer die Dinge in Deutschland sind, die auswechselbare Propagandafigur.“ 288 Heuss war sich der Problematik im Umgang mit dem Reichsgründer bewusst. Trotz seiner häufig eingenommenen „Verteidigerrolle“ gegenüber dem „Eisernen Kanzler“ hielt auch er es für ein falsches Signal, die Bundesverdienstkreuze jährlich um der Kontinuität willen am 18. Januar zu verleihen.289 Heuss versuchte ein differenziertes Bild von der Entwicklung des deutschen Nationalstaates aufzuzeigen, der für ihn weder ein „Irrweg“ noch eine endgültige „geschichtliche Erfüllung“ 290 war. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit Bismarck und dessen Zeit vollzog der Bundespräsident noch einmal im Jahr 1951. Anlässlich einer Neuauflage der „Gedanken und Erinnerungen“ des Reichsgründers sollte Heuss hierfür ein Vor285 Regierungserklärung Konrad Adenauers vom 20. September 1949, in: Schwarz: Konrad Adenauer (wie Anm. 243), S. 22–30. 286 Rede zum Gedächtnis des 20. Juli 1944 vom 19. Juli 1954, in: Bott, Hans (Hrsg.): Theodor Heuss. Reden, Aufsätze und Briefe aus den Jahren 1949–1955, Tübingen 1955, S. 415. 287 Rede vor der Carl-Schurz-Gesellschaft vom 7. Februar 1952, in: ebd. S. 341–342. 288 Brief von Heuss an Toni Stolper vom 10. November 1952, in: Pikart, Eberhard (Hrsg.): Theodor Heuss. Tagebuchbriefe 1955–1963. Eine Auswahl aus Briefen an Toni Stolper, Stuttgart u. Tübingen 1970, S. 307. 289 Brief von Heuss an Adenauer vom 3. August 1951, in: Mensing: Heuss – Adenauer (wie Anm. 1), S. 81. 290 Rede von Theodor Heuss: „Heimat, Vaterland und Welt“ am 1. April 1951 zum Abschluss der Woche der Jugend und des Internationalen Jugendtreffens, WatenstedtSalzgitter, in: Bott: Theodor Heuss (wie Anm. 286), S. 92.

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wort verfassen. Einleitend legte er dar, dass die Memoiren des Staatsmannes heute der deutschen Jugend nur mehr Einblicke in eine vergangene Epoche gewähren. Die von Bismarck postulierte Absicht „zur Lehre für die Zukunft“ wirke hingegen eher verwirrend. Die meisten Voraussetzungen, die in dem Buch als feste Gegebenheit betrachtet werden, seien mittlerweile „gestorben oder vernichtete Vergangenheit“ 291. Neben der Wiederholung seiner seit dem Kaiserreich vertretenen differenzierten Ansichten tritt dieser Aspekt der gewordenen Vergangenheit als die entscheidende Neuerung in jenen Jahren des Neubeginns hinzu. Er resümiert: „Die Enkel haben, wenn nicht verziehen, so doch vergessen, was der Kanzler ihren Großvätern durch den Kulturkampf oder durch das Sozialistengesetz angetan hat [. . .].“ 292 Somit konnte Heuss als Bundespräsident das feststellen, was er sich schon vor 1914 erhofft hatte: Die Bismarcksche Epoche war zu einer vergangenen Epoche geworden und nicht mehr als Gegenwart Belastung für Deutschlands Zukunft. Über Bismarck konnte nun bilanziert werden, dass er Europa immer im Blick hatte, aber kein „guter Europäer“ 293 war, dass er sich loyal gegenüber den Hohenzollern verhielt und doch kein überzeugter Royalist war294, dass seine Sozialversicherung ein Fortschritt war295, der nicht allein auf ihn zurückzuführen war, dass er einen Bundesstaat schuf und doch kein wirklicher Föderalist296 war. Alle diese Feststellungen konnte nun ein deutsches Staatsoberhaupt äußern, ohne dass gesellschaftliche Spannungen dadurch angeheizt wurden und ohne dass diese Aussagen als Belege für oder wider die Legitimität des politischen Systems Verwendung fanden. Bismarck und die von ihm geprägte Epoche waren in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland zu einer historisch verarbeiteten Epoche geworden und sind es geblieben. Die politischen und religiösen Differenzen aus der Zeit von Bismarcks Innenpolitik gehörten der Vergangenheit an, und die tiefgreifenden weltanschaulichen Konflikte aus der Weimarer Republik keimten nicht mehr auf. Die junge Bundesrepublik entwickelte nicht zuletzt wegen des baldigen wirtschaftlichen Wiederaufstieges eine enorme integrative Kraft. Es existieren kaum Hinweise, wie und ob überhaupt der relative Zuspruch von Heuss für Bismarck in Politik und Gesellschaft wahrgenommen wurde. Eine der wenigen verifizierbaren Reaktionen auf das Vorwort des Bundespräsidenten zu den „Gedanken und Erinnerungen“ stammt aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von dem Kommentator Erich Stückrath mit dem Titel „Sehnsucht nach

291 Heuss: Das Bismarck-Bild im Wandel (wie Anm. 266), S. 3. Das Vorwort ist auch als eigenständige kleine Monographie erschienen. 292 Ebd. S. 6. 293 Ebd. S. 4. 294 Ebd. S. 7. 295 Ebd. S. 20. 296 Ebd. S. 12.

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der Geschichte. Theodor Heuss sieht Bismarck“. Der Autor bilanziert hier: „Werden wir Ueberlieferung [sic] und Erinnerung behalten? Werden wir wieder eine Geschichte haben? Heuss hat ein leises Ja gesagt.“ 297 Von diesem Einzelhinweis lassen sich aber keine Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung vollziehen. Ironischerweise wurde nicht der „Verteidiger“ Heuss, sondern der kritischere Bundeskanzler Adenauer immer wieder mit Bismarck verglichen.298 Golo Mann kommentierte, der Rheinländer sei der „zweite Urkanzler“ 299 Deutschlands geworden. „Der Recke aus dem Sachsenwald und der Rheinische Fuchs“ 300, so stellte Marion Gräfin Dönhoff die beiden Kanzler bei Adenauers Rücktritt im Jahr 1963 gegenüber. Von Winston Churchill wurde der Ausspruch populär, Adenauer sei der „wisest German statesman since the days of Bismarck“ 301. Heuss missfielen – wie in allen Zeiten – Kommentare dieser Art. So schrieb er, der Bundeskanzler wisse zwar, dass Deutschland den Krieg verloren habe, seit Churchills Bismarckvergleich sei aber auch er „in Gefahr der Hybris“ 302. 6. Wenn Geschichte doch für Heuss Gegenwart wurde Der dargestellte wissenschaftliche Ansatz in seinem Umgang mit Geschichte wurde von Theodor Heuss nicht immer durchgehalten. Die von Heuss vertretene Vorstellung vom Umgang mit Vergangenheit im Allgemeinen wurde von ihm immer wieder selbst unterlaufen. So stilisierte er 1946 in Tübingen das so genannte „Augusterlebnis“ am Beginn des Ersten Weltkrieges zur wichtigen verbindenden Erinnerung im in Besatzungszonen aufgeteilten Deutschland: „Diesen Geschichtsvorgang von 1914 wollen heute, vielleicht aus Vorsicht, vielleicht aus Torheit, viele Menschen nicht mehr recht wahrhaben, daß der Beginn des Krieges, August 1914, in der Gefühlmächtigkeit eines nationalen Einheitsbewußtseins eine große Bedeutung dargestellt hat. Dieses tiefgreifende Gefühl soll ruhig 297

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. August 1952. Studnitz, Hans-Georg von: Bismarck in Bonn. Bemerkungen zur Außenpolitik, Stuttgart 19652; Liebelt, Leo: Dr. Adenauer und das deutsche Schicksal. Was hätte uns Bismarck heute zu sagen?, Bremen 1962. Als wissenschaftlicher Versuch eines Vergleiches: Schwarz, Hans-Peter: Bismarck in Bonn? Die Außenpolitik Adenauers in historischer Perspektive (Friedrichsruher Beiträge, 17), Friedrichsruh 2002. 299 Mann, Golo: Konrad Adenauer. Selbstporträt eines Patriarchen. Der Erste Band der „Erinnerungen“, 1965, in: Mann, Golo: Zwölf Versuche über Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1973, S. 120. 300 Dönhoff, Marion Gräfin von: Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer. Kritik und Perspektiven, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 22. 301 Rede Churchills vor dem Unterhaus am 11. Mai 1953, in: Parliamentary Debates, House of Commons, 1953, Volume 515, C., S. 893. 302 Brief von Heuss an Toni Stolper vom 6. Juni 1959, in: Pikart: Theodor Heuss (wie Anm. 288), S. 440. 298

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im Bewußtsein des Volkes bleiben, man darf es heute nicht bagatellisieren wollen.“ 303 Es erscheint von daher fast naheliegend, dass er den Reichsfreiherrn vom und zum Stein bei einer Denkmaleinweihung in Nassau 1951 nicht als „historische Reminiszenz“, sondern als Mitbegründer der Demokratie in Deutschland und somit „von der aktuellsten Gegenwärtigkeit“ charakterisierte.304 Wieder umso bemerkenswerter ist seine Rede vier Jahre später aus Anlass des 1000. Jahrestages der Schlacht Ottos des Großen auf dem Lechfeld bei Augsburg. Als das wichtigste Symbol des Erfolges begriff er das gemeinsame Kämpfen von Sachsen, Franken, Bayern und Schwaben, wodurch der Sieg „die erste gesamtdeutsche Leistung“ in der Geschichte geworden sei.305 Er bedauerte es dabei, dass es bis zur Abwehr der Türken vor Wien 1683 rund 700 Jahre dauerte, bis eine solche Leistung wiederholt wurde. Das zentrale historische Ereignis, zu dem Heuss auch in den Nachkriegsjahren immer einen Gegenwartsbezug herstellte, blieb jedoch die deutsche Revolution von 1848/1849. Die Deutschen haben hier „vom Volk her politisch eine Willensgestaltung zum ersten Mal unternommen“ 306. Als Lehre und Erbe wollte er diese Ereignisse daher im Bewusstsein verankert wissen.307 Er sah eine Kontinuität der Problematik im Verhältnis zu Russland beziehungsweise der Sowjetunion. Zar Nikolaus I. wurde zum Retter der autoritären Staatlichkeit, die „Ideologen haben nun neue Kostüme angezogen“ 308. Ein Vergleich der Stellungnahmen, in denen für Heuss Geschichte doch zur Gegenwart wurde, führt zu dem Ergebnis, dass jedes Mal dieselbe Intentionen vorlag: Deutschlands Einheit. Alle diese Ereignisse sollten in dem geteilten Land das Bewusstsein der nationalen Einheit waren. Dieses Anliegen war Heuss so zentral, dass er dafür auch, entgegen seinen regulären politischen Maximen, die deutsche Geschichte vereinnahmte. Mittelalterliche Schlachten und preußische Reformer wurden zwar selten, aber doch von Heuss mit einem Gegenwartsbezug präsentiert, bei Bismarck vollzog er dies nie. Das verdeutlicht, dass Heuss eine spezifische Vorstellung vom Umgang mit dem Reichsgründer besaß. Es handelte sich um eine besondere „BismarckIdee“, die sich von der Bezugnahme auf andere historische Ereignisse abgrenzte. 303

Heuss: Die deutsche Nationalidee im Wandel (wie Anm. 251), S. 29. „Freiherr vom Stein“, anlässlich einer Denkmaleinweihung bei Nassau am 12. Februar 1951, in: Bott, Hans (Hrsg.): Theodor Heuss. Würdigungen. Reden, Aufsätze und Briefe aus den Jahren 1949–1955, Tübingen 1955, S. 129. 305 Heuss, Theodor: Augsburg in der deutschen Geschichte, in: Heuss, Theodor: Die Großen Reden. Der Humanist; Tübingen 1965, S. 206. 306 Der Spiegel, 11. März 1948. 307 Rhein-Neckar-Zeitung, 1. Januar 1948; Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft „Demokratisches Deutschland“, 2. März 1948; Der Spiegel, 11. März 1948; Heuss, Theodor: Nachhall von 1848, in: Die Schule. Monatsschrift für geistige Ordnung, März/ April 1948, S. 90–95. 308 Heuss, Theodor: Das Erbe von 1848, in: DD. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft „Demokratisches Deutschland“, 2. März 1948. 304

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VI. Fazit Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Tod von Theodor Heuss schlug der Minister für das Post- und Fernmeldewesen, Richard Stücklen (CSU), im Bundeskabinett vor, zum bevorstehenden 150. Geburtstag von Otto von Bismarck eine Gedenkbriefmarke mit den Porträts des ersten Reichskanzlers, des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert und des ersten Bundespräsidenten drucken zu lassen. Bei den Kabinettsmitgliedern stieß der Vorschlag jedoch mehrheitlich auf Bedenken, und man entschied sich, eine Marke nur mit Bismarcks Konterfei herauszubringen.309 Zu dieser Entscheidung führten jedoch nicht die geschichtspolitischen Kommentare von Heuss, sondern wohl eher die allgemeine Furcht vor missverstandenen Assoziationen. Ob – und wenn in welchem Umfang – Heuss mit seiner Bismarck-Idee die Deutschen zu irgendeinem Zeitpunkt erreichte, lässt sich kaum mehr verifizieren. Das Bismarckbild von Theodor Heuss war vor 1914 entstanden und erfuhr bis zu seinem Tod 1963 wenig Veränderung. Es bewegte sich zwischen der von ihm als grundsätzliche Leistungen anerkannten Einigungs-, Außen- und Sozialpolitik und der Kritik gegenüber demokratischen Defiziten beim Aufbau des Reiches und innenpolitischen Entscheidungen. Er war für Heuss kein Heroe, aber ein Agitator mit nicht immer zufriedenstellenden Agitationen. Diese Positionen behielt der schwäbische Liberale über alle Umbrüche des 20. Jahrhunderts bei. So galt das Bismarckbild von Heuss im Kaiserreich als eher kritisch, während es in der Bundesrepublik eher als Zuspruch für den Preußen empfunden wurde. Der Umgang mit Bismarck durch den Publizisten und Politiker Heuss veränderte sich stets nur mit dem Wandel der Intentionen der Instrumentalisierung des Reichsgründers durch die Umwelt. Besonders hervorzuheben ist dabei die a priori von Heuss eingenommene Rolle des Analytikers, ist doch die bereits seit dem Kaiserreich immer wieder unternommene Dekonstruktion des Bismarckmythos in der Forschung eher vernachlässigt. So war Theodor Heuss einer der ersten und entscheidenden Kommentatoren über die Epochen hinweg, die öffentlich erklärten, dass die Interpretationen von Bismarck bezüglich der gesellschaftlichen und politischen Kontroversen weniger über die Person des Reichsgründers als über die Bedürfnisse, Hoffnungen, Einstellungen, Wertvorstellungen und Zielsetzungen des Interpreten aussagten. Die Bezugnahmen von Heuss waren zum Großteil hervorgerufene Reaktionen auf die Instrumentalisierung des Reichskanzlers durch andere. Für die reale Tagespolitik diente er Heuss weder als Vorbild oder zur Untermauerung seiner eigenen Argumente noch dazu die Argumente seiner politischen Gegner zu wider309 147. Sitzung des Bundeskabinetts vom 16. Dezember 1964, in: Weber, Hartmut (Hrsg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 17: 1964, München 2007, S. 543.

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legen – sehr wohl aber nutzte Heuss Bismarck, um Bismarck als Argument zu entkräften. Dies bildet die eine Kontinuität in den Kommentaren von Heuss vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Die andere Kontinuität im Umgang mit dem Reichsgründer blieb, dass die Plädoyers für Bismarck vom Journalisten bis schließlich zum Bundespräsidenten Heuss allein auf die Einbringung seiner Meinung in die Diskussion um das vorherrschende Bild von der Vergangenheit abzielten. Heuss „Verteidigung“ war nicht mit dem Ziel verbunden, eine politische Entwicklung oder Zielsetzung für die Zukunft zu fordern und/oder zu legitimieren. Auch das Anliegen des späteren Bundespräsidenten war ausschließlich die Vertretung eines Bildes von der Vergangenheit im politischen Tagesgeschehen. Die Bismarckidee von Heuss war und blieb grundsätzlich, den historischen Bismarck in seiner Zeit zu belassen und dessen historische Leistung auch nur für diesen Zeitraum zu bewerten und immer wieder neu zu bewerten. Der größere historische Bezugspunkt blieb für Heuss stets 1848.

Die Abendlandidee Winfried Becker I. Raum und Begriff „Das Wort Abendland entstand als Entsprechung zu Martin Luthers ,Morgenland‘ in der Übersetzung von Matthäus 2,1“.1 Der Straßburger Theologe und Humanist Caspar Hedio gebrauchte in seiner „Cronica“ (1529) das Wort „Occident“ synonym für den Plural „die Abendlender“. Das lateinische Nomen für „Abendland“, „Okzident“, bezeichnete ursprünglich die westliche Verwaltungseinheit des antiken Imperium Romanum und den durch die Teilung des Imperiums unter Theodosius I. (395) abgegrenzten Westteil des Römischen Reiches. Als Substrat für den Begriff Abendland galt dann jener west- und mitteleuropäische Raum, den der Papst Kaiser Karl dem Großen bei der Krönung 800 n. C. mit der angeblichen Translatio Imperii übertragen hatte. Das Fränkische Reich Kaiser Karls basierte auf einem Kernraum Kontinentaleuropas, der im Osten vom Handelszentrum Haithabu an der Schlei bis zur Halbinsel Istrien am Adriatischen Meer, von dort nach Ober- und Mittelitalien bis zur Spanischen Mark mit Pamplona reichte. Der Westsaum verlief von da nordöstlich die Atlantik-, Kanal- und Nordsee-Küste entlang bis Holstein. Dieser Raum bildete trotz der in seinem Inneren weiterbestehenden Unterschiede besondere rechtliche, kulturelle und wirtschaftlich-soziale Eigenschaften aus und wurde deshalb rückschauend als geographisch-historische Einheit und Realität, als Abendland, angesehen. Mit Unterstützung der weltlichen Mächte schuf die christliche Missionstätigkeit bis zum Jahr 1000 „eine Glaubensgemeinschaft der romanischen, germanischen und angrenzenden slawischen Völker“ unter Einschluss Ungarns, während das großenteils maurische Spanien noch abseits stand und die christianisierten Angelsachsen, die Kelten Britanniens und die Iren sich in einer insularen Randlage befanden.2 Dem 1 Huldigung der „Weisen aus dem Morgenland“ (Luther-Übersetzung), der „Sterndeuter aus dem Osten“ (approbierte Einheitsübersetzung von 1979). Köhler, Oskar: Abendland (Occident, Europa), in: Krause, Gerhard/Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie, Band 1, Berlin u. New York 1977, S. 17–42, hier S. 17; Köhler, Oskar: Abendland, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Band 1, Freiburg, Basel u. Wien 19857, Sp. 1–6. – Für freundliche Hinweise danke ich Dr. Christoph Böhr (Trier) und Dr. Renate Höpfinger (München). 2 Dempf, Alois: Abendland, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Band 1, Freiburg im Breisgau 19576, Sp. 3–8, hier Sp. 3; vgl. Angenendt, Arnold: Die religiösen Wurzeln Europas, in: Köpke, Wulf/Schmelz, Bernd (Hrsg.): Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte,

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waren zwei kulturbildende Prozesse vorausgegangen: Die meisten der in die Romania einwandernden germanischen Völker hatten das Christentum, auch in der Form des Arianismus, und wesentliche Bildungselemente der lateinisch-römischen Kultur übernommen. Die Verbindung zwischen dem Frankenreich und dem Papsttum hatte die Trennung Roms von Byzanz und von der im slawischen Raum verbreiteten griechischen Orthodoxie vertieft. Im Unterschied zum Byzantinischen Reich, wo die Kaiser die kirchlichen Angelegenheiten in ihre Selbstherrschaft einbezogen, bildete sich im abendländischen West- und Mitteleuropa eine Doppelpoligkeit von geistlicher und weltlicher Gewalt, Kaisertum und Papsttum aus. Das zentralistisch regierte, doch kulturell hochstehende und ständig von außen bedrohte Byzantinische Reich bewahrte und entwickelte eigene Qualitäten; in kirchlicher Hinsicht trat ein „orbis orientalis“ neben den „orbis occidentalis“. Dem abendländischen Raum mit seiner bemerkenswerten Vielfalt herrschaftlicher und kirchlicher Zentren und Standorte erschien es aufgegeben, Einheit inmitten der Pluralität zu wahren.3 Eine vielleicht exemplarische Verkörperung fand das abendländische Spannungsgefüge im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Das „Alte Reich“ tritt heute nicht mehr primär als der herrschaftlich-majestätische, einen weiten Raum unter deutschem Dominat zusammenfassende Kaiserstaat ins Blickfeld der Forschung, vom Mythos entschwundener Größe umrankt, der die angeblichen Zeiten deutscher Schwäche kompensieren sollte, sondern enthüllt sich als ein komplex zusammengesetztes, von einer gemeinsamen geistigen und politischen Kultur getragenes staatliches oder staatsähnliches Gebilde. Es blieb in seiner vom Herkommen geprägten Gestalt bis 1806 bestehen,4 während ringsumher zentral regierte dynastische Staaten als Vorläufer der Nationalstaaten entstanden. Europa war spätestens seit dem 14. Jahrhundert durch ein „hohes Maß an kultureller Homogenität“ verbunden. Der „Geist des Christentums“ hatte breite BeMünchen 1999, S. 481–488; Heer, Friedrich: Das Heilige Römische Reich, Bern, München u. Wien 1967, S. 16: „Strukturen des karolingischen Europa“ bestimmend bis 1914. 3 Vgl. Becker, Winfried: Nachdenken über Europa. Christliche Identität und Gewaltenteilung, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 12, 2005, S. 1–24; leicht verändert wieder abgedruckt bei Haucke, Manfred (Hrsg.): Maria als Patronin Europas. Geschichtliche Besinnung und Vorschläge für die Zukunft, Regensburg 2009, S. 15–43. Zum Verhältnis zwischen römischer Kirche und Ostkirche Roberg, Burkhard: Zur Frage des ökumenischen Charakters der beiden Lyoner Konzilien von 1245 und 1274, in: Annuarium Historiae Conciliorum, 40, 2008, S. 289–322. 4 „Deutsches Kayserthum“, „Occidentalisches Kayserthum“, „Occidentalisches Reich“, „Occidentales Imperium“ nach Zedler, Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Band 25, Leipzig u. Halle 1740 (Nachdr. Graz 1995), S. 321 f.; vgl. Asche, Matthias/Nicklas, Thomas/Stickler, Matthias (Hrsg.): Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, München 2011.

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völkerungsschichten erfasst und überstand die Stürme der Reformationszeit.5 Im Unterschied zum Europäertum, das Immanuel Kant rationalistisch und säkularistisch definierte, meinte Abendland „stärker als Europa historisches Erbe, die geschichtlich gewachsene und bedingte Kulturgemeinschaft der westeuropäischen Völker“.6 Diese Definition Heinz Hürtens deckt sich partiell mit einer Begriffsklärung, die Rémi Brague vorgelegt hat. Er versteht unter dem historischen, näherhin dem hochmittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa das den „westlichen Teil des Christentums, seine lateinische katholische Hälfte“ umfassende Gebiet, das allerdings im 16. Jahrhundert zwischen der katholischen und der anglikanischen Kirche sowie den protestantischen Kirchen aufgeteilt wurde.7 Der „geistesgeschichtliche“ Inhalt8 des Begriffs Abendland entfaltete sich in Wechselwirkung mit bedeutenden realhistorischen Entwicklungen – mit der Aufklärung, der Französischen Revolution, der Romantik, den Säkularisierungsschüben des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter der Weltkriege. Der Begriff war keine bloß „mythische und religiös-politische Konzeption“,9 sondern wollte die geschichtliche und philosophische Kultur eines Identitätsraumes einfangen.10 Novalis und Friedrich Schlegel wagten sich an die Neubewertung des Mittelalters als einer langen und bedeutsamen Periode der europäischen Geschichte, in welcher der Kontinent auf der Grundlage des Christentums seine kulturelle Einheit gewonnen hatte.11 Um 1860, ein paar Jahrzehnte später, entdeckten zwei Historiker unabhängig voneinander den Dualismus und die Trennung von religiöser und staatlicher Gewalt als den freiheitsgewährenden Grundtypus europäischer Verfas5 Delgado, Mariano: Ein Glaube, verschiedene Wege. Europäisches Christentum an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, in: Köpke/Schmelz: Das gemeinsame Haus Europa (wie Anm. 2), S. 504–519, hier S. 505; Kampling, Rainer: Das christliche Abendland, in: ebd. S. 489–492, hier S. 491; Rauscher, Anton: Die christlichen Wurzeln der Europäischen Einigung, in: Blumenwitz, Dieter/Gorni, Gilbert H./Murswiek, Dietrich (Hrsg.): Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, Berlin 2005, S. 19–27, hier S. 25 f. 6 Hürten, Heinz: Europa und Abendland. Zwei unterschiedliche Begriffe politischer Orientierung, in: Hildmann, Philipp W. im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.): Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa. Perspektiven eines religiös geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert, München 2009, S. 9–15, hier S. 10. 7 Brague, Rémi: Orient und Okzident. Modelle „römischer“ Christenheit, in: Kallscheuer, Otto (Hrsg.): Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1996, S. 45–65. 8 Dempf: Abendland (wie Anm. 2), Sp. 3. 9 Heer, Friedrich: Abendland, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 1, Mannheim, Wien u. Zürich 19719, S. 57–64. 10 Repgen, Konrad: Abendland, in: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 1, Darmstadt 2005, Sp. 1–4. 11 Becker, Winfried: Europa. Erbe des Mittelalters in den historischen Schriften von Novalis, Adam Müller und Friedrich Schlegel, in: Frenz, Thomas (Hrsg.): Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 185–203; Gollwitzer, Heinz: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, S. 174–201.

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sungsentwicklung. John Emerich Edward Dalberg-Acton, ein individualistischer Gelehrter englisch-deutscher Herkunft, führte die freiheitliche Entwicklung Europas und die „pre-eminence of the West“ darauf zurück, dass die Res publica Christiana des Mittelalters das Prinzip der paganen Staatsvergottung sowie die Sklaverei verworfen und zugleich eine unabhängige Sphäre religiöser Transzendenz anerkannt habe.12 Ähnliche, doch insgesamt konservativere Auffassungen vertrat Joseph Edmund Jörg, Redakteur der „Historisch-politischen Blätter“, der wie Acton dem Döllinger-Kreis in München angehört hatte. Für ihn bildete die Dualität von Kirche und Staat das tragende Verfassungselement Kontinentaleuropas, einer „romanisch-germanischen Societät“, die eine Mittelposition einnahm zwischen der staatskirchlichen Orthodoxie Russlands und der von den Freikirchen dominierten und zum Anarchismus tendierenden Demokratie Nordamerikas.13 Mit dem fortschreitenden 19. Jahrhundert verdrängte die nationalistische Geschichtsschreibung das Interesse an den religiös-kulturell begründeten Gemeinsamkeiten der europäisch-abendländischen Entwicklung. Oswald Spenglers biologisch-morphologische Sichtweise begriff das Abendland nicht mehr als christliches Kulturphänomen, sondern schrieb diesem eine Kulturseele „faustischen“ Charakters zu. Er sah sein untergehendes Abendland naturhaften Wachstumsgesetzen unterworfen, im Innern vom Nihilismus, von außen durch die „farbige Weltrevolution“ bedroht. Diese von Gollwitzer faschistisch genannte Sichtweise14 siedelte den „Staatsmann“ sowie die diesen unterstützenden Kohorten und Ideologien in einer religionsfreien Sphäre an und ging vom Recht des Stärkeren im unbarmherzigen Lebenskampf der Völker aus. Spengler rief das soldatisch geprägte preußisch-deutsche Reich dazu auf, in der angeblich zur Zivilisation degenerierenden abendländischen Kultur die Zügel der Macht zu ergreifen. Die Krise nach dem Ersten Weltkrieg verschaffte Spenglers Ideen eine anhaltende Breitenwirkung. Weniger beachtet wurden den Zeitumständen gemäß diejenigen Autoren, die aus den europäischen Gemeinsamkeiten die positive Forderung nach der Einigung Europas ableiteten. 12 Dalberg-Acton, John Emerich Edward: Political Thoughts on the Church (1858), in: Figgis, John Neville/Laurence, Reginald Vere (Hrsg.): John Emerich Edward Dalberg-Acton: The History of Freedom and other Essays, Freeport (New York) 1907 (Nachdruck 1967), S. 188–211, hier S. 200–202. 13 Becker, Winfried: Ausprägungen der Europaidee in der katholischen Publizistik des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Kick, Karl G./Weingarz, Stephan/Bartosch, Ulrich (Hrsg.): Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 411–438. 14 So Gollwitzer, Heinz: Geschichte des weltpolitischen Denkens, Band 2: Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982, S. 551–555. Spengler, Oswald: Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte; Band 1 erschien zuerst 1918 in Wien, Band 2 1922 in München. Das markante Titelwort „Untergang“ wählte Spengler schon 1912 angesichts der Marokkokrise von 1911.

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Wirkungsgeschichtlich reüssierte auf lange Sicht allerdings Richard Graf Coudenhove-Kalergi, dessen Buch „Pan-Europa“ schon 1923 erschien und Beachtung fand.15 Der Bonner Romanist Hermann Platz bahnte aus seiner katholischen Perspektive den Zugang zur europäischen Idee. Er veröffentlichte 1924 das Werk „Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes“.16 Die gemeinsame christliche Vergangenheit bildete für ihn das geistige Fundament Europas und die Grundlage für die europäische Einigung und besonders die deutsch-französische Aussöhnung. Dem Glauben an die deutsch-französische Erbfeindschaft stellte Platz die These von der kulturellen Verwandtschaft der beiden Völker entgegen; er bekräftigte aber die Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Deutschland. Platz fand wie der aus dem Saargebiet stammende Kölner Studienrat Peter Wust politische Resonanz für seine Abendlandideen bei der Rheinischen Zentrumspartei, die ihre Empfänglichkeit für solche Vorstellungen mit anderen christlichen Parteien Europas teilte. So folgte der aus Lothringen stammende Historiker Jean de Pange, ein Brieffreund Wusts, der Einladung des Rheinischen Zentrums, auf dem „internationalen Kongress der christlich-sozialen Parteien“, der 1927 in Köln stattfand, ein Referat „über die Reorganisation des Völkerbundes nach Kontinenten“ zu halten.17 „Erster deutscher Beamter des Völkerbunds“ wurde der Freiburger Nationalökonom Gerhart von Schulze-Gävernitz. Unter dem Einfluss „synkretistisch-religiöser Ideen“ rief er mit irrationalem Pathos zu einer ganzheitlichen Lebenserneuerung auf. Er begriff die „Lebensreform“ und die Bändigung des Kapitalismus in der von Technik und Wirtschaft beherrschten „angloamerikanischen Weltperiode“ als brennende Zukunftsaufgaben.18 Unter dem Eindruck der Niederlage von 1918 rückte der protestantische Heidelberger Historiker Karl Hampe Themen der Kultur- und Weltgeschichte, des 15 Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004; vgl. Hürten, Heinz: Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen, in: Langner, Albrecht (Hrsg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985, S. 131–154, hier S. 134. 16 Vgl. Berning, Vincent (Hrsg.): Hermann Platz 1880–1945. Eine Gedenkschrift, Düsseldorf 1980; Becker, Winfried: Wegbereiter eines abendländischen Europa. Der Bonner Romanist Hermann Platz (1880–1945), in: Rheinische Vierteljahrsblätter, 70, 2006, S. 236–260. 17 Jean de Pange an Peter Wust, Paris 4. Juli 1927, in: Bendiek, Johannes/Huning, Hildebert A. (Hrsg.): Ein deutsch-französisches Gespräch. Peter Wusts Briefwechsel mit Frankreich, Münster 1968, S. 73; Thull, Jean-François: Jean de Pange. Un Lorrain en quête d’Europe 1881–1957, Metz 2008, S. 98–100; Faber, Richard: Abendland. Ein „politischer Kampfbegriff“, Hildesheim 1979, S. 182 f. 18 Schulze-Gävernitz, Gerhart von: Zur Wiedergeburt des Abendlandes, Berlin 1934, S. 139; Borchardt, Knut: Schulze, Gerhart, in: Neue Deutsche Biographie, 23, 2007, S. 722 f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118762583. html [Zugriff am 17. Januar 2012]. Schulze (1864–1943), 1912–1920 linksliberaler Parlamentarier, war von 1896–1923 Prof. für Nationalökonomie in Freiburg im Breisgau. Den Hinweis auf ihn gab mir Dr. Rainald Becker.

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abendländischen Früh- und Hochmittelalters an die Stelle von Inhalten der nationalen Geschichte. Hampe beschrieb das Hochmittelalter, eingegrenzt auf das lateinische „Abendland“, als „Amalgam aus Christentum, Antike und Germanentum“ 19; er behandelte und variierte damit Thesen, die auf das Denken der Romantik zurückwiesen. Die Reiche Polens, Ungarns, des Balkans bildeten für Hampe Grenz- und Abwehrräume gegen östliche Gefährdungen. Über geographisch-historische Abgrenzungen gewann auch der belgische Historiker Henri Pirenne seinen Abendland-Begriff. 1937 erschien posthum sein Werk „Mahomet et Charlemagne“, 1939 und 1941 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Geburt des Abendlandes“.20 Die seit 1922 auf historischen Kongressen erörterte Grundthese des Buches lautete, dass sich wegen der Einfälle der Araber ins westliche Mittelmeer während des 7. und 8. Jahrhunderts die „Achse des Lebens vom Mittelmeer weg nach Norden“ verlagert habe. Dadurch sei im Westen „ein neues Antlitz Europas“, „ein neues römisches Reich“, freilich auf der vormodernen Grundlage des Lehnswesens und der feudalen Sozialordnung, entstanden. Das Kernland des neuen Reiches der Karolinger legte Pirenne in den zwischen Aachen, Trier und Metz gelegenen Raum – ein Gebiet, das sich später wegen seiner Mittellage zum umkämpften Grenzraum zwischen Deutschland und Frankreich entwickeln sollte. Sprachrohre abendländischer Aufgeschlossenheit oder Neubesinnung waren zwischen 1918 und 1933 „Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft“ (seit 1925) und die katholische Kulturzeitschrift „Hochland“ (gegründet 1903). Dieses hochkarätige, von Karl Muth geleitetete, den Tendenzen der Gegenwart aufgeschlossene Organ widmete sich im Geist des katholischen Universalismus der grenzüberschreitenden Besprechung von Werken der europäischen, amerikanischen und russischen Literatur.21 II. Vertreter der Abendlandidee Nach 1945 fiel in Westdeutschland der Aufschwung der Europa- und Abendlandidee mit kulturellen und politischen Neuorientierungen zusammen. Er bildete 19 Reichert, Folker: Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009, S. 222 f. u. 227 f. 20 Untertitel: Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittelalters (übersetzt von Paul Egon Hübinger), Nijmegen 1941, S. 143 f. u. 286 f.; vgl. Duroselle, Jean-Baptiste: L’idée d’Europe dans l’histoire, Paris 1965, S. 50–55. 21 Merlio, Gilbert: Carl Muth et la revue Hochland. Entre catholicisme culturel et catholicisme politique, in: Grunewald, Michel/Puschner, Uwe/in Zusammenarbeit mit Bock, Manfred (Hrsg.): Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2006, S. 191–208; Becker, Winfried: Karl Muth und das „Hochland“. Kulturelle und politische Impulse für einen Katholizismus „auf der Höhe der Zeit“, in: Schwab: Hans-Rüdiger (Hrsg.): Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts, Kevelaer 2009, S. 29–45; Muth, Wulfried C.: Carl Muth und das Mittelalterbild des Hochland, München 1974.

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den Hintergrund für die sich neu organisierende europäische Bewegung und für den Ruf nach der Wiederentdeckung des christlichen Abendlands. Es hieße, diese Entwicklungen und Appelle zu verkennen und zu verkürzen, würde man in ihnen hauptsächlich Kampfinstrumente des Kalten Krieges sehen. Konrad Adenauer und seine Mitarbeiter legten die Regierungspolitik auf den Kurs des Bündnisses mit den westlichen Demokratien und den USA fest. Weniger bekannt ist, dass der Bundeskanzler und der Diplomat Herbert Blankenhorn auch die wissenschaftliche Erinnerung an das abendländische Europa zu fördern suchten, so an den Universitäten Bonn und Köln. De Pange, ein Freund Robert Schumans, nahm nach 1945 Einfluss auf die Neubesetzung der Universitäten Mainz und Bonn, um eine Revision vordem herrschender nationalistischer Orientierungen einzuleiten. Dabei schien sich vor allem die Geschichte des Mittelalters als Projektionsfeld europäisch-abendländischer Gemeinsamkeiten zu eignen.22 Hermann Platz und Peter Wust als ausgewiesene Pioniere der Abendlandidee standen für solche Aufgaben geistiger Neubesinnung allerdings nicht mehr zur Verfügung. Wust starb 1940 in Münster, von seinen Studenten betrauert, Platz ohne öffentliche Anteilnahme 1945 in Düsseldorf. Der Abendlandgedanke erfreute sich einer gewissen Konjunktur von 1945 bis zum Ende der 1950er Jahre. Anhaltspunkte dafür geben die Erscheinungsjahre der Zeitschrift „Neues Abendland“, die von 1946 bis 1958 veröffentlicht werden konnte. Die Bandbreite der Abendlandidee reichte von den realpolitischen Ansichten eines Adenauer und Coudenhove-Kalergi bis zu differenzierten geistesgeschichtlichen Exposés und zu den Wunschvorstellungen einer monarchistischen Reaktion. Der wohl langlebigste Repräsentant der Abendlandidee, Otto von Habsburg, hat vor allem verbandspolitisch gewirkt und so eigentlich mit demokratischen Mitteln die Einigung Europas vorangetrieben. Er spielte eine zentrale Rolle in der Abendländischen Aktion von 1951 und in der Abendländischen Akademie von 1952.23 Die Abendland-Kreise erarbeiteten aus verschiedenen Gesichtspunkten Gegenmodelle zu den nationalistischen Traditionen der deutschen 22 Pfeil, Ulrich: Eugen Ewig. „Créer un ordre transnational“. Von einem Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, in: Pfeil, Ulrich (Hrsg.): Das Deutsche Historische Institut in Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 294–322. 23 Pape, Matthias: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945–1955, Köln, Weimar u. Wien 2000, S. 189–198; Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 1950er Jahre, München 1999, S. 39–67; Großmann, Johannes: Ein Europa der „Hintergründigen“. Antikommunistische christliche Organisationen, konservative Elitezirkel und private Außenpolitik in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Wienand, Johannes/Wienand, Christiane (Hrsg.): Die kulturelle Integration Europas, Wiesbaden 2010, S. 303–340, hier S. 311–315 u. 329; Materialien zur Abendländischen Akademie und Aktion: CSU Correspondenz, 2, 1950/ 51, Nr. 86, 90, 92; NL Franz Josef Strauß, PV 1; NL Richard Jaeger, Ph 37, D 71–74, 77, 255, P 113. Archiv für Christlich-Soziale Politik (ACSP), Hanns-Seidel-Stiftung, München. Eine Anzahl wenig bekannter Schriften und Broschüren zum Thema Abend-

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Geschichte und gaben Anleitung zur geistigen Überwindung des Nationalsozialismus. Der Chor der Publizisten und Intellektuellen, die vor der Öffentlichkeit für abendländische Ideen warben, erfreute sich bunter Zusammensetzung und übersprang gern die von den einzelnen Wissenschaftsfächern im Namen der Professionalität und des Methodenstolzes aufgerichteten Grenzmarken. Ernst Friedlaender (1895–1973), geboren in Wiesbaden, wurde nach seinem Philosophiestudium 1920 Bankkaufmann. Er war 1929–1931 für die IG-Farben in den USA tätig. 1931 emigrierte er in die Schweiz, 1934 nach Liechtenstein, wo er sich mit seiner Familie bis 1945 aufhielt. Nach dem Krieg wurde er stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“ (1946–1950), Kolumnist des „Hamburger Abendblatts“ und der „Berliner Morgenpost“ (1950–1960), ab 1951 auch Kommentator beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR). Von 1954 bis 1957 war er Präsident der überparteilichen Europa-Union (Union Europäischer Föderalisten) Deutschland, von 1954 bis 1958 auch des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung.24 Seine Tochter Katharina Focke, Bundestagsabgeordnete der SPD, wurde in der großen Koalition Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (1972–1976). Gerhard Kroll (1910–1963), geboren in Breslau, schloss das Studium der Rechte, der Volkswirtschaft und Staatswissenschaft 1934 mit der Promotion zum Dr. rer. pol. ab. Dank eines Stipendiums konnte er in Berlin ein Zweitstudium der Philosophie und Religionsphilosophie anschließen (1936–1938). 1932 trat der Katholik, dessen Interesse an der Politik früh erwacht war, der SPD bei. Wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten blieb ihm die erstrebte politische Laufbahn verwehrt. Er fand seit 1934 wechselnde Beschäftigungen in der Wirtschaft, zuletzt bei einer Radiofirma in Leipzig (1943–1945). Von Anfang an ein Gegner des Nationalsozialismus, „gründete er mit Gleichgesinnten 1942 ein Hilfskomitee zum Schutz jüdischer Familien“.25 1945 flüchtete er nach Bamberg, wurde dort Mitgründer der CSU und entwarf eines der ersten Parteiprogramme. Darauf wurde er Vorsitzender des Bezirksverbands Oberfranken der CSU (1946–1947), Landrat von Staffelstein (1946–1948), Abgeordneter des Bayerischen Landtags (1946–1950) und Mitglied des Parlamentarischen Rates (1948–1949). Von 1949 bis 1951 Geschäftsführer des Instituts zur Erforschung land aus den 1940er- und 1950er-Jahren verwahrt die Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg. 24 http://www.“Akten der Reichskanzlei.Weimarer Republik“ Online; http://de.wiki pedia.org/wiki/Ernst_Friedlaender_(Publizist) [Zugriff am 5. Dezember 2011]. 25 Zeitler, Peter: Gerhard Kroll (1910–1963). Landrat mit Ambitionen und mangelnder Fortüne, in: Dippold, Günter/Meixner, Alfred (Hrsg.): Staffelsteiner Lebensbilder. Zur 1200-Jahr-Feier der Stadt Staffelstein, Staffelstein 2000, S. 237–243, hier S. 239; Uertz, Rudolf: Gerhard Kroll (1910–1963). Landrat, Bayern, in: Buchstab, Günter/ Kleinmann, Hans-Otto (Hrsg.): In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948/49, Freiburg, Basel u. Wien 2008, S. 218–226; NL Gerhard Kroll, 11, 13. ACSP.

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des Nationalsozialismus in München, des späteren Instituts für Zeitgeschichte, wandte er sich gegen die Trennung der politischen Erziehung von der Wissenschaft und vertrat damit eine gegenwartsoffenere Position als seine internen Widersacher, die angesehenen Fachhistoriker Walter Goetz und Gerhard Ritter. Darauf wurde er Mitgründer der Abendländischen Akademie (1951), musste sich aber aus dieser 1955 wegen Angriffen des „Spiegel“ auf seine angeblich verfassungsfeindlichen Ideen zurückziehen. Danach wirkte er noch als Publizist und Gutachter in aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten. Johann Wilhelm Naumann (1897–1956) studierte Philosophie, Geschichte und Volkswirtschaft in seiner Geburtsstadt Köln. Nach Militärdienst im Ersten Weltkrieg wurde er 1920 Redakteur der dem Zentrum nahestehenden Zeitung „Der Rheinpfälzer“, 1928 der „Neuen Augsburger Zeitung“ und der katholischen „Augsburger Postzeitung“. 1933 arbeitslos geworden, fand er Unterschlupf beim Päpstlichen Missionswerk in Freiburg im Breisgau. 1945 erhielt er von der USBesatzung die Lizenz für die „Schwäbische Landeszeitung“, darauf auch für die ab März 1946 erscheinende Zeitschrift „Neues Abendland“. Naumann verließ 1948 die „Schwäbische Landeszeitung“, die 1959 in der liberalen „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ aufging. Er gründete nun die „Augsburger Tagespost“, die erste katholische Tageszeitung nach 1945. Das Blatt musste 1951 eingestellt werden, aber seine zuerst nach Regensburg, 1955 nach Würzburg wechselnde Bundesausgabe besteht bis heute. Naumann war auch Mitgründer und Vorsitzender des Vereins Bayerischer Zeitungsverleger (1945–1950).26 Peter Wust (1884–1940), geboren in Rissenthal (Saar), wuchs in einem armen katholischen Elternhaus auf. Er besuchte wegen seiner früh entdeckten Begabung das Bischöfliche Konvikt in Trier. Diese Zeit empfand er als prägend, wählte aber nicht den Priesterberuf, sondern studierte seit 1907 in Berlin und Straßburg Germanistik, Anglistik und Philosophie. 1910 wurde er Gymnasiallehrer in Berlin, dann in Neuss und Trier, seit 1921 in Köln. 1914 promovierte er an der Universität Bonn im Fach Philosophie. Sein 1920 erschienenes Werk „Die Auferstehung der Metaphysik“ enthielt eine Absage an den vorherrschenden Kantianismus und fand vor allem in der jungen Generation gute Aufnahme. Wust lernte in Köln Max Scheler kennen. Spätestens 1928 vollzog er unter dem Einfluss des Renouveau catholique die Reversion zum Glauben seiner Kindheit und Jugend. Von 1930 bis 1940 lehrte er als Ordinarius Philosophie an der Universität Münster und gewann große Hörerzahlen. Den Kontakt vor allem mit den französischen Freunden hielt er warmherzig und lernbegierig aufrecht. 1940 erlag er einem mit bewundernswerter Geduld ertragenen Krebsleiden.27 26 Pierk, Carl H.: Johann Wilhelm Naumann, in: Neue Deutsche Biographie, Band 18, Berlin 1997, S. 772. 27 Schüßler, Werner: „Geborgen in der Ungeborgenheit“. Einführung in Leben und Werk des Philosophen Peter Wust (1884–1940), Berlin 2008; Wust, Peter: Gestalten und Gedanken. Rückblick auf mein Leben, München 19615, S. 230–255.

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Johannes Hollnsteiner (1895–1971), geboren in Linz (Oberösterreich), 1919 zum Priester geweiht, schloss sein Studium der Theologie in Wien 1920 mit der Promotion ab. 1922 promovierte er zusätzlich im Fach Geschichte bei Heinrich Finke an der Universität Freiburg im Breisgau. Zunächst Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Lehranstalt St. Florian in Oberösterreich (1923– 1925), wurde er 1926 Privatdozent für Kirchengeschichte, 1930 für Kirchenrecht an der Universität Wien. Von 1934 bis zu seiner vorzeitigen Entlassung 1938 lehrte er dort als ordentlicher Professor Kirchenrecht. Er wurde Mitarbeiter der christlich-sozialen Tageszeitung „Reichspost“ und faktisch Vorsitzender der Katholischen Akademikergemeinschaft in Wien. Seinen gesellschaftlichen Verbindungen verdankte er die Freundschaft mit Alma Mahler-Werfel, der Frau des 1938 emigrierten Dichters Franz Werfel. Als enger Berater (und Beichtvater) des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg war er in den Augen des NS-Regimes diskreditiert. Schon Ende März 1938 wurde er wegen angeblicher „Verbreitung von Greuelnachrichten“ festgenommen. Er verbrachte die längste Zeit seiner mehr als einjährigen Haftstrafe im Konzentrationslager Dachau. 1941 wegen Heirat aus dem Orden der Augustiner-Chorherren ausgetreten, übernahm er 1942 die neugeschaffene Stelle eines Bibliothekars an dem vom NS-Regime im aufgehobenen Kloster St. Florian eingerichteten Historischen Forschungsinstitut. Wohl aufgrund einer Denunziation geriet er nach Kriegsende wiederum in Haft, diesmal von Oktober 1945 bis April 1947 im US-Internierungslager Glasenbach. Der frühe Gegner des Nationalsozialismus war nach dem „Anschluss“ dem NS-Regime, mit „partieller Zustimmung und zaghaft aufrechterhaltener Distanz“ gegenübergetreten, um sich eine Anstellung zu sichern, die ihm die Fortführung geistiger Tätigkeit erlaubte. Hollnsteiner wurde 1948 an der Universität Wien rehabilitiert, zugleich aber vorzeitig in den Ruhestand versetzt. 1948 publizierte er im eigenen Pilgram-Verlag sein programmatisches Buch „Das Abendland“. Er griff hier Gedanken seiner gleichnamigen Schrift von 1937 auf, entwickelte diese aber unter dem Eindruck seiner jüngsten Hafterlebnisse weiter. Seit 1950 widmete er sich dem Kulturleben seiner Heimatstadt Linz, hielt Vorträge über kunstund kulturgeschichtliche Themen und warb für die UNO und die Völkerverständigung.28 Der Wiener Friedrich Heer (1916–1983) schloss sein Studium der Kunstgeschichte und Germanistik 1938 mit der Promotion ab. Bekannt wurde er durch seine Beiträge für die Monatsschrift „Wort und Wahrheit“ (ab 1946) und die Wochenschrift „Die Österreichische Furche“ (später „Die Furche“). Aufgrund seiner Studie „Aufgang Europas“ wurde er an der Universität Wien für „Geistesgeschichte des Abendlandes“ habilitiert und dort 1949/50 zum Dozenten für Euro28 Buchmayr, Friedrich: Der Priester in Almas Salon. Johannes Hollnsteiners Weg von der Elite des Ständestaats zum NS-Bibliothekar, Weitra 2003, S. 177 f., 236 ff., 266 u. 281; Johannes Hollnsteiner, in: Biographisches Lexikon von Oberösterreich, Band 4, 7. Lieferung, Linz an der Donau 1961, Blatt 1–4 (Lebenslauf und Werkverzeichnis).

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päische Geistesgeschichte ernannt. Erst 1961 erhielt der geistvolle, vielseitige und fleißige Gelehrte den Titel eines außerordentlichen Professors. Er wurde auch zum Chefdramaturg am Wiener Burgtheater ernannt. Ihn fesselten vor allem das Jahrhundert des Investiturstreits mit seiner die Einheitskultur von Kirche und Welt sprengenden Wirkung und der Humanismus als dritte Kraft zwischen den Fronten des Reformationszeitalters. Der „christliche Denker“, wie er sich selbst nannte, pflegte eine essayistische, komparatistische und dialektische Darstellungskunst. Weit ausgreifend und über die Maßen produktiv, bekannte er sich in Anlehnung an Karl Poppers Formel der „open society“ zu einem „offenen Katholizismus“.29 Der Pädagoge und Kulturphilosoph Wilhelm Flitner (1889–1990) stammte aus Berka bei Weimar. Während seines Studiums der Germanistik, Anglistik, Pädagogik und Philosophie schloss er sich der Jugendbewegung an. 1912 promovierte er; im Ersten Weltkrieg leistete er Militärdienst. Danach wurde er Gymnasiallehrer und betrieb maßgeblich den Aufbau der Volkshochschulen in Thüringen. 1922 habilitierte er sich in Jena mit einer Arbeit über die Grundlagen der Didaktik. 1926 wurde er außerordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Pädagogischen Akademie Kiel. Von 1929 bis 1958 war ihm ein langes Wirken an der Universität Hamburg als ordentlicher Professor und Institutsleiter vergönnt. 1930 legte er ein Bekenntnis zur Weimarer Republik ab. Seit 1934 entwickelte er in seinen Vorlesungen die Kulturtheorie der „abendländischen Lebensformen“. Außerdem machte er sich um die Etablierung der Pädagogik als eigenständiges Fach verdient. Bis 1935 war er Mitherausgeber der von 1925 bis 1943 erschienenen Zeitschrift „Die Erziehung“. Mit dem nationalsozialistischen Denken hatte er keine Gemeinsamkeit. 1937 war seine Entlassungsurkunde schon unterschrieben, wurde ihm aber an der Universität nicht ausgehändigt. Flitners pädagogisches Sinnen und Streben war auf das Ganze des Menschen gerichtet. Darum bezog er die Erwachsenen- und Volksbildung, die religiöse (evangelische) Bildung und die Bildungsreformen der zweiten Nachkriegszeit entschieden in seinen Wirkungskreis ein.30 29 Fischer, Cornelia: Friedrich Heer, in: Jens, Walter (Hrsg.)/Radler, Rudolf (Chefredaktion): Kindlers neues Literaturlexikon, Band 7, München 1990, S. 508 f.; Leser, Norbert: Friedrich Heer, in: Killy, Walther (Hrsg.): Lexikon der Literatur. Autoren und Werke deutscher Sprache, Band 5, Gütersloh u. München 1990, S. 96; Scheichl, Sigurd Paul (Hrsg.): Friedrich Heer: Europäische Geistesgeschichte, Wien, Köln u. Weimar 2004, S. 1 ff. (Vorwort des Herausgebers); Gehler, Michael: Friedrich Heer (1916– 1983), in: Duchhardt, Heinz/Morawiec, Malgorzata/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, Band 2, Göttingen 2007, S. 271–293. 30 Killy, Walter (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Band 3, München 1996, S. 352; Scheilke, Christoph Th.: Wilhelm Flitner, in: Betz, Dieter/Browning, Don S./Janowski, Bernd/Jüngel, Eberhard (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, Tübingen 20004; http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Flitner [Zugriff am 5. Nobember 2011]; Flitner, Wilhelm: Erinnerungen 1889–1945, Paderborn 1986.

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III. Historische Standortbestimmungen Romano Guardini veröffentlichte 1950 erstmals sein Aufsehen erregendes Buch „Das Ende der Neuzeit“.31 Auf ihn beruft sich Kroll bei seiner höchst kritischen Bewertung der neuzeitlichen Geschichtsepoche, in der der Mensch „selbstherrlich“ nur seiner Fortune folgt. Nach dem Untergang der Antike und des Mittelalters hat die folgenreiche Hinwendung des Menschen zu dem Bewusstsein unbegrenzter Autonomie eingesetzt; die Bergung im Glauben, die Anerkennung der Allmacht und des Schöpferwillens Gottes, sind verloren gegangen. Der Mensch mit seiner Vernunft, seinen Leidenschaften und Bedürfnissen wurde zum Maß aller Dinge erhoben. Kroll macht die „Hybris der Neuzeit“ verantwortlich für die moderne Proklamierung sowohl des Herren- wie des Massenmenschen, für die Entstehung der Ideologien des Absolutismus und Rationalismus, schließlich des Nihilismus und Kollektivismus der kommunistischen und nationalsozialistischen Diktatur. Nur die im „christlichen Bewusstsein“ grundgelegte theonome Ausrichtung des Menschen, „der Glaube an die Einwirkung transzendenter Kräfte, an Gnade und Dämonie“ gewährleistet das dauerhafte Bestehen einer an Rechten und Pflichten orientierten, darum allein lebensfähigen und menschenwürdigen Ordnung in Staat und Gesellschaft.32 „Die gewaltigste politische Leistung des Mittelalters, das universale und übervölkische Reich, zerbrach als Ordnungsmacht am Egoismus seiner Fürsten und zerfiel in Territorialstaaten“.33 Der absolutistische Staat erwies sich als „eine egoistische Herrschaftsdomäne des Fürsten“. Das „autonome Bewusstsein“ entzog dem nun so herausgehobenen Fürstenstand die Legitimation, versäumte aber, Besseres zu schaffen. Es ließ im Staat schließlich nur noch die Einzelnen – als die gemäß der Theorie des Gesellschaftsvertrages Handlungsberechtigten – gelten. Diese Autonomie des Einzelnen schlug um in die „Autonomie der Masse“, beispielsweise in der Form uneingeschränkter Mehrheitsbeschlüsse, und in die moderne „Autonomie des Staates“. Kroll bejaht prinzipiell den Staat, sieht diesen aber einbezogen in eine höhere theonome Ordnung. Der Staat „entsteht notfalls auch gegen den Willen des einzelnen. Er ist als Schöpfungsordnung Gottes Wille und darum im letzten trotz allen Mißbrauchs einer radikalen menschlichen Ablehnung entzogen“.34 Seine Macht ist von oben gegeben, eben darum unterstehen die Regierenden einer hö31 Guardini, Romano: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Mainz u. Paderborn 198610, S. 34 f. 32 Kroll, Gerhard: Grundlagen abendländischer Erneuerung. Das Manifest der Abendländischen Aktion, München u. Nürnberg 1951, S. 16 u. 9–35. 33 Kroll: Grundlagen (wie Anm. 32), S. 24 f. Kritik am Autonomismus ist daher zugleich auch Absolutismus-Kritik, was davor bewahren sollte, die Ideen Krolls (und anderer) als hierarchisch, rückwärtsgewandt, statisch und prinzipiell unfreiheitlich zu qualifizieren; so aber Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005, S. 148–150. 34 Kroll: Grundlagen (wie Anm. 32), S. 50 f.

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heren und besonderen, die Anforderungen der normalen Lebensführung weit übersteigenden Verantwortung. Ihre theonome Gewissensbindung bietet die Gewähr für den Schutz, den der Staat der Freiheit gewährleisten und der Anarchie versagen soll. Naumann interpretiert die augustinische Staatsvorstellung dahingehend, dass ein universalistisch gestaltetes „irdisches Reich“ „die unmittelbare Projektion des Gottesreiches, der Gottesidee, der ,Civitas Dei‘ darstellt“ 35. Augustins Zuordnung von irdischem und Gottes-Staat liefert ihm die tiefste Begründung dafür, dass die Staatsgewalt an Frieden, Recht und Gerechtigkeit sowie am Schutz der „Schwachen und Bedrängten“ ausgerichtet sein soll. Naumann bringt durchaus die Missstände des mittelalterlichen Staates zur Sprache, ebenso „die unselige Verquickung der Kirche mit weltlichen Würden“. Er hält das alte Abendland nicht für wiederherstellbar. Doch bedauert er eine historische Entwicklung, welche die der vergänglichen Welt gesetzten „ewigen Ziele“ weit hat zurücktreten lassen gegenüber den „zeitlichen und weltverknüpften Zwecksetzungen“. Das Bild des Menschen ist so den „Urzügen seines Schöpfers“ entfremdet worden. Naumann beklagt den Verlust der „Religio“; dabei fasst er den Begriff nicht eng auf, sondern versteht darunter den die menschlich-irdischen Vergemeinschaftungen überwölbenden Bezug zum Schöpfergott, der zugleich ein Band wirkte zwischen den Individuen und der Gemeinschaft und ebenso zwischen den zu einem „Reich“ vereinten Völkern. Diese Entwicklung vollzog sich auch in der Gedankenwelt, im Bereich der Philosophie. Der philosophische Objektivismus und Realismus wurde von dem Subjektivismus und dem daraus folgenden ungebremsten Individualismus abgelöst: Ausgangspunkt war der erkenntnistheoretische Nominalismus, den im 12. Jahrhundert Petrus Abaelardus und Wilhelm von Ockham vertreten hatten. Auch die Auflösung der Verbindung der Gewalten im Investiturstreit und das Vordringen des Konziliarismus, der die mystische Einheit der Kirche verdunkelt habe,36 gelten Naumann aus seiner philosophischen Perspektive als Symptome für die Bestreitung der Universalien: Der extreme Nominalismus bestritt die reale Existenz des Allgemeinen, auf das die Allgemeinbegriffe, dieses bezeichnend, bezogen waren. Er verneinte so den philosophischen Realismus und die Existenz von Universalien und ließ nur die sog. Nomina, die die Einzeldinge benennenden Eigennamen, als erkenntnistheoretisch gesichert gelten. Hier lag für Naumann der Keim des anhebenden Prozesses der Entwurzelung und des Abfalls vom Allgemeingültigen, des Übergangs zum beliebigen Autonomismus, der die soeben erlebte „furchtbare Katastrophe Deutschlands und Europas“ letztlich erst begreifbar machte. Zu der langen Vorgeschichte des Ver35 Naumann, Johann Wilhelm: Altes und Neues Abendland, Augsburg 1948, S. 53 f. u. 46, auch zum Folgenden. 36 Naumann: Altes und Neues Abendland (wie Anm. 35), S. 5 f.; vgl. Hollnsteiner, Johannes: Das Abendland. Aufstieg, Krise, Zukunft, Linz, Wien u. Zürich 1948, S. 129– 155.

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hängnisses gehörten „die Trennung von Wissen und Glauben, die Trennung von Welt und Gott im Deismus, die Trennung von Moral und Religion in der autonomen Ethik, die Trennung von Wirtschaft und Moral im Liberalismus, die Gleichsetzung von Macht und Recht bei Hegel, Treitschke und Nietzsche“.37 Ohne solche philosophischen Herleitungen beklagt 1934 auch Schulze-Gävernitz die „geistesgeschichtliche Zersetzung“, die er als Grund der Krise der gegenwärtigen „kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ ansieht: „Die Abkehr von der Transzendenz ist das ,Auflösungszentrum‘ des abendländischen Geistes (Sombart)“.38 Für Peter Wust hat der Dichter Hermann Hesse die Entfremdung des „zu sich selbst erwachten Menschen der modernen Geistesepoche“ symbolisch erfasst und in die „Gestalt des unruhig hin- und herjagenden Steppenwolfes“ gebannt. Diese Situation ist für ihn das Ergebnis eines etappenweise vollzogenen Abfalls von der „antiken und christlichen Humanitas“.39 Denn der antike Mensch lebte aus der „Hingabe an die Mächte des Seins“, erschaute seine Götterwelt in „Objektfrömmigkeit“. Ihm war eine „naturhaft-religiöse Objektivität“ eigen. Die „christliche Humanität“ der jungen Kirche steigerte die „pietas des antiken Menschen“ zu „einem bis dahin nie dagewesenen Objektivismus für das Übernatürliche“, erhob die Religiosität „von der natürlichen auf die übernatürliche Stufe“ der christlichen Offenbarung. Wust rückt so das angeblich dunkle Mittelalter sehr in die Nähe der zu seiner Zeit in höchstem kulturellem Ansehen stehenden klassischen Antike. Auf diese beiden verwandten Epochen lässt er eine „spezifisch moderne Humanitätsentfaltung“ folgen, die in drei Phasen zerfällt. Die Renaissance ließ „das übernatürliche Gottesbild und die übernatürliche Lebensordnung“ verblassen. Zwar lebte die mittelalterliche Glaubenskraft noch eine Weile fort, aber dann verdrängte die Blickrichtung auf „das Kulturwerk“ die „Sakralität der Glaubensgemeinschaft“, aus der die Kunst, ursprünglich ein sekundäres Phänomen, zuerst hervorgegangen war.40 Das „antik-christliche Glaubenserbe“, die „einstmals ernst durchlebte metaphysische Glaubenstiefe“ erfuhren eine zweite Minderung im Deismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Idealismus eines Johann Wolfgang Goethe, Immanuel Kant oder Johann Gottlieb Fichte schloss den Ring der Immanenz. Vergeblich begehrte die Romantik dagegen auf. Die dritte Phase brachte den „in puris naturalibus“ lebenden Menschen hervor. Die Seinssphären von Theologie, Religion und Metaphysik wurden zertrümmert und als Illusionen 37

Naumann: Abendland (wie Anm. 35), S. 56. Schulze-Gävernitz: Wiedergeburt (wie Anm. 18), S. 128. Werner Sombart (1863– 1941), führender Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker. 39 Wust, Peter: Die Krise des abendländischen Menschentums (1926/27), in: Vernekohl, Wilhelm: Peter Wust: Gesammelte Werke, Band VI: Weisheit und Heiligkeit. Vorträge und Aufsätze, Münster 1966, S. 254–312, hier S. 256–258, 263, 265, 268, 270, 272 f., 276 u. 310. 40 Vgl. Kohlschmidt, Werner: Das Gottesbild und sein Ersatz in der modernen Dichtung, in: Schaefer, Albert (Hrsg.): Der Gottesgedanke im Abendland, Stuttgart 1964, S. 109–129, hier S. 115: Ersatz Gottes durch die „ästhetische Existenz“. 38

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entlarvt. Nachdem der metaphysische Halt geschwunden ist, will der Mensch nun zu der einzig „wirklich positiven Welt“ vordringen. Diese aber präsentiert sich gestalt- und wertfrei, entgeistigt und mechanistisch und kann so den höheren Bestimmungen der menschlichen Natur nicht genügen, wie die Zeitgenossen selbst empfinden.41 Wust verwirft die Weltanschauung des Positivismus und des psychologisierenden, relativierenden oder Geschichtsgesetze entwerfenden Historismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Angesichts der Säkularisierung, der Selbstverlorenheit und des Subjektivismus der modernen Weltanschauung meint er in den ersten beiden Großepochen der abendländischen Geschichte das Verlorene wiederzufinden: Er umschreibt es als die Zuordnung der objektiven und subjektiven Bestimmungen, die das menschliche Dasein konditionieren und die wesenhaft die Transzendenz einbeziehen: „das Zusammentreffen der natürlichübernatürlichen Seinshaltung des Menschen überhaupt mit dem objektiven, natürlich-übernatürlichen Wahrheitsgut“ des christlichen Glaubens. Wust sah seine nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Rückkehr zum verschütteten „Glaubenserbe“ seiner Kindheit und Jugend, die einherging mit der Entdeckung der „antik-christlichen Tradition“, hineinverwoben in die nun für Deutschland erhoffte geistige Wende. Der evangelische Theologe und Philosoph Heinrich Troeltsch sprach mit ihm bei einer persönlichen Begegnung in Berlin darüber. Er erkannte in der „äußeren Katastrophe“ der Niederlage von 1918 das Symptom für den „inneren Niederbruch“ des deutschen Volkes wegen der seit dem 19. Jahrhundert vollzogenen „Abkehr von der Macht des Geistes“. Troeltsch riet dem jungen Kollegen, sich wieder dem Glauben und der Metaphysik zuzuwenden.42 Heer widerspricht der Auffassung, Europa habe „in statischen Stufen und Positionen“ klar unterscheidbare Epochen der Christianisierung und der Dechristianisierung durchlaufen. Er lässt die „polemische Verschwärzung“ nicht gelten, die von den Humanisten und Aufklärern auf das Mittelalter und umgekehrt von den Romantikern und ihren Nachfolgern auf die neueren Jahrhunderte projiziert wurde.43 Er widerspricht besonders der in seinen Augen wenig frommen Legende, Gott habe sich in den neueren Zeiten aus der Welt zurückgezogen. Für ihn ergibt sich ein anderer historischer Befund: Es ist der „geschlossene intim-innerliche Zusammenhang der europäischen Geschichte, in dem Augustin und Luther und Voltaire, Thomas und Descartes und Kant, mittelalterliche Kaiser und spani41 Vgl. parallel dazu die Ausführungen über Nationalismus, Rationalismus und Determinismus der Dritten Republik bei Platz, Hermann: Geistige Kämpfe im modernen Frankreich, München u. Kempten 1922, S. 77–102, 258–279 u. 412–433. 42 Peter Wust, „Pariser Rechenschaft“, in: Bendiek/Huning: Ein deutsch-französisches Gespräch (wie Anm. 17), S. 487; Wust: Gestalten und Gedanken (wie Anm. 27), S. 250. 43 Vgl. die Verwerfung der Neugotik bei De Keyser, Eugenie: Das Abendland der Romantik 1789–1850, Genf 1965, S. 87 f. u. 99 f.

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sche und französische Könige ,von Gottes Gnaden‘ zusammengehören, als einer gemeinsamen Entfaltung eines historischen Phänomens, eben ,Europa‘, verpflichtet“.44 Heer überrascht mit Metaphern, Analogien und Parallelen zwischen religiösen und säkularen Erscheinungen. Für ihn ergibt sich die Abhängigkeit des modernen Solipsismus von der Mystik des Meisters Eckhart, die zuerst die große Einkehr nach innen vollzog, oder des wissenschaftlichen Revolutionärs von dem religiösen Reformator. Heers Sympathie gehört den christlichen Nonkonformisten: Die Sekten des Hochmittelalters, die Krypto-Lutheraner, Krypto-Calvinisten, Sozinianer und Anabaptisten waren Exponenten des Widerstands gegen das mit der irdischen Macht und Gewalt verquickte Kirchentum Alteuropas. „Die blutigen irdischen Sakramente der alteuropäischen Welt“, das „religiös-politische Gottkönigtum der Rache und des Gerichts“ sieht Heer durch drei den „kleinen Weg“ weisende Gestalten überwunden, die Bruder- und Feindesliebe statt Macht bewiesen. Franz von Assisi, der das Vaterhaus verlässt, „sprengt das Geschlechtergefüge der feudalrechtlichen Väterwelt“. Therese von Lisieux lässt sich in Gottes Hand fallen, ein Gegenbild zum „triumphierenden, erhebenden Aufstieg zu Gott“. Ignatius von Loyola ringt den Päpsten die Gründung jenes Ordens ab, dessen Mitglied Josef Ignaz Zimmermann in einem 1777 gedruckten Jesuitendrama erstmals das deutsche Wort „Menschenrechte“ gebraucht. Alle drei versprechen mit ihrer Absage an den geistlich-weltlichen Synkretismus des „alten Abendlands“ das „Christsein der Zukunft“. Sie schreiten durch das „Tor einer neuen Welt“, in der Gott und die Seele schweigen werden, die für den Christen keine greifbare Bestätigung und Anerkennung mehr bereithalten wird. Heer erahnt auch die Entmachtung und Entgrenzung Europas nach zwei Weltkriegen und den Anbruch eines neuen Zeitalters, in dem allgemein proklamierte Menschenrechte einen globalen Anspruch erheben und bisheriges Sonderdasein untergraben wird. Heers Beobachtungen umkreisen schon die „exzentrische Identität“ Europas, wie sie Brague begrifflich klarer definiert hat: Er führt die europäische Anfälligkeit für innere Verwerfungen und die Offenheit gegenüber fremden Kulturen auf den christlichen Gottesbegriff zurück: Die Herrschaft Gottes erscheint vordergründig als Ohnmacht, lässt aber darum die ganze Freiheit des Menschen zu. Ein anderes Bild Alteuropas als Heer entwerfen zur etwa gleichen Zeit die Fachhistoriker Otto Brunner und Dietrich Gerhard. Sie entdecken und würdigen die regionalen Institutionen des „alteuropäischen Ständewesens“ als langfristig vom 15. bis zum 18. Jahrhundert wirkende, Sitte und Landschaft, Staat und Gesellschaft positiv durchformende Kräfte: Diese Binnenstrukturen des politischen und sozialen Lebens widerstanden lange den Tendenzen zur Konzentration der Macht und zur Nivellierung. Sie waren „in dieser Form weder in Russland noch gar in orientalischen und asiatischen politischen Systemen zu finden“.45

44 Heer, Friedrich: Das Experiment Europa. Tausend Jahre Christenheit. Mit einem Vorwort von Werner Kaegi, Einsiedeln 1952, S. 10 f., 66–69 u. 75–78.

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Der Pädagoge Flitner strukturiert seine Kulturgeschichte Europas nach der Abfolge der „abendländischen Lebensformen“, die sich vom griechisch-römischen Altertum bis zur Gegenwart herausgebildet haben. Anders als Spengler fasst er die Kulturen nicht nach Analogie von Organismen auf, sondern weist den „kulturellen Inhalten“, die entstehen, weitergegeben oder abgewandelt werden, eine „selbständige Existenz“ zu.46 Er unterscheidet drei historisch aufeinander folgende Interessenkomplexe oder Grunderfahrungen. Die „religiöse Grunderfahrung“, der es primär an der Ausgestaltung der Beziehung zwischen Gott und Mensch lag, entfaltete sich in der von Augustinus bis zu Philipp Jakob Spener, Ludwig von Zinzendorf und John Wesley reichenden Epoche. Das humanistische, künstlerische, philosophische und kulturelle Interesse wurde für die Ära kennzeichnend, die etwa zwischen Petrarca und Goethe lag. Seit dem 17. Jahrhundert brach sich der dritte, bis zur Gegenwart reichende politisch-soziale „Interessenkomplex“ Bahn, der sich primär dem Staat und seinem Recht zuwandte.47 Als überzeitliche „Errungenschaften“ und „Fundamente unserer Gesittung“ ermittelt Flitner das christliche „Brudertum der Menschen“ oder die „personale Kultur“ und die grundlegenden Freiheiten des abendländischen Kulturkreises: das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, „die Freiheit der Kirche vom Staat“ seit Ambrosius und Augustinus, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, „die Freiheit von Forschung und Lehre – die libertas philosophandi“, die „Freiheit der Person“ seit der Habeas-Corpus-Akte und die Beachtung des Willens der Untertanen durch die Obrigkeit bei „allen Grundsatzentscheidungen“ (gemäß dem Prinzip „Quod omnes tangit“). Flitner verdeutlicht die Entwicklung eines „abendländischen Normgefüges“ vor allem an den Beispielen der Standes- und Arbeitsethik sowie des „Staatsbürgertums“. Die Regenten, der Klerus, das Mönchtum, die Humanisten, die Ritter und Bauern entwickelten seit dem Mittelalter eine bestimmte Standesethik, fassbar etwa im „Rittertum“. Dieses ursprüngliche Kämpfertum ist durch die „nihilistische Barbarei“ der beiden Weltkriege pervertiert worden; es drückt sich heute in der Bereitschaft aller Gutgesinnten aus, Hilfe und Schutz, vor allem bei der Erziehung der Jugend, zu gewähren.48 Beständiger wirkte die Arbeitsethik. Sie wurde zu einem selbstverständlichen Gut des europäischen Zusammenlebens. Die Arbeit der „christlichen Werkleute“ in den Klöstern, in den Städten und auf dem Land gewann, über die Bedeutung als Fron und Lebensunterhalt hinaus, „einen frohen Charakter und Würde in sich selbst“ und wurde damit zukunftsprägend. „An ihr nimmt die Frau vollen An45 Hinrichs, Ernst: Alteuropa, in: Jaeger: Enzyklopädie (wie Anm. 10), Sp. 288–291 u. 290; Gerhard, Dietrich: Das Abendland. Ursprung und Gegenbild unserer Zeit, Freiburg im Breisgau u. Würzburg 1985 (engl. Ausgabe: Old Europe. A study in continuity, 1000–1800, New York 1981). 46 Flitner, Wilhelm: Europäische Gesittung. Ursprung und Aufbau abendländischer Lebensformen, Zürich u. Stuttgart 1961, S. 5 f., 81–84 u. 326. 47 Ebd. S. 101–110 u. 117–122. 48 Flitner: Europäische Gesittung (wie Anm. 46), S. 271–273 u. 275 f.

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teil“.49 Die Neuzeit generierte dann aus der Mitverantwortung des Volkes für „eine Ordnung rechtsstaatlicher Art im Sinne eines genossenschaftlich-freiheitlichen Gemeinwesens“ das „Staatsbürgertum“.50 IV. Projekte für die Gegenwart: Konsens, Erziehung und die Infragestellung der Weltanschauungen Flitner denkt auch darüber nach, wie der Zusammenhalt der abendländischen Kulturgemeinschaft angesichts zentrifugaler und pluralistischer Tendenzen erhalten werden kann. Er empfiehlt, dem einmal eingeschlagenen Weg der Gottes- und Nächstenliebe weiter zu folgen – ein großes Ansinnen und Vorhaben, das Flitner auf ein realisierbares, der Eigenart Europas entsprechendes Programm ermäßigt. Von der Voraussetzung der „personalen Existenz“ ausgehend, hat das Ringen um „Einvernehmen“ und „freie Angleichung“, das schon in der Respektierung der „Libertäten“ der „selbständigen Herren, freien Städte, unabhängigen Klöster“ und auch der miteinander rivalisierenden Dynastien sichtbar wurde, dem Abendland sein Gesicht verliehen; damit entfernte sich Alteuropa von den Formen des „ostasiatischen Feudalismus“.51 Eine zeitgemäße Fortsetzung dieser spezifischen Kondition wäre das Bemühen um einen „sittlichen Konsensus“, um einen dialogischen Ausgleich der gesellschaftlichen und individuellen Interessen. Flitner erwartet von den „großen sittlichen Gemeinschaften“ – er versteht darunter die „Kirchen, Staaten, Nationen“, die „wissenschaftlichen Korporationen“, die Lehrerschaft“, die „Publizistik“- und von den „rechtlich und geistig mündigen Personen“, dass sie nicht nur ihr eigenes „Ethos“ pflegen, sondern sich darüber hinaus zum beständigen Gespräch und zur gegenseitigen Übereinkunft bereitfinden. Während Flitner in mehr allgemeinen Formulierungen auf die nachhaltige, kulturprägende Wirkung alt- und neueuropäischer Umgangsformen vertraut, melden andere Autoren materielle Forderungen an. So verlangt Ivar Lissner, ein Schriftsteller mit etwas zwielichtiger Vergangenheit,52 den Schülern „westlicher Schulen“ Wissen über die eigene „unbekannte Kultur“ zu vermitteln. Er will so die Grundlage für die Selbständigkeit des Denkens schaffen, die der Bereitschaft und Befähigung des Abendlands zur Erneuerung entspricht. Er warnt vor der Vernachlässigung der eigenen Herkunft und Kultur ebenso wie vor dem Hochmut gegenüber anderen Kulturen.53 49 Flitner: Europäische Gesittung (wie Anm. 46), S. 271 u. 277 ff.; ähnlich Hollnsteiner: Abendland (wie Anm. 36), S. 64 f. 50 Flitner: Europäische Gesittung (wie Anm. 46), S. 411 ff. 51 Flitner: Europäische Gesittung (wie Anm. 46), S. 12–15, 516–521 u. 527. 52 Er lebte von 1909 bis 1967, war im Zweiten Weltkrieg in Ostasien tätig. Lissner, Ivar: Mein gefährlicher Weg. Vergeben aber nicht vergessen, München u. Zürich 1975. 53 Lissner, Ivar: Wir sind das Abendland. Gestalten, Mächte und Schicksale Europas durch 7000 Jahre, Stuttgart u. Hamburg 1966, S. 15 u. 11–17.

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Während Lissner die Überlegenheit des Abendlands vor allem auf dessen technisch-industrielle Vorreiterrrolle zurückführte, brach die Zeitschrift „Neues Abendland“ eine Lanze für die Erhaltung des Lateinunterrichts und der altsprachlichen Gymnasien, um den gelehrten Zugang zur geistigen Welt der Antike und des Mittelalters offenzuhalten. Sie kritisierte 1954, dass Cambridge das Latein als sprachliche Voraussetzung für das Geschichtsstudium abschaffte. Auf deutschen Gymnasien blieben das Fach Latein und ein damit verbundenes Studium der antiken Schriftsteller noch jahrzehntelang verpflichtend, ebenso die Bedingung von Lateinkenntnissen für das Studium der neueren Geschichte. Da Schulen und Universitäten das Bildungsgut der ,klassischen‘ Antike gewohnheitsmäßig weiterhin in den Vordergrund stellten, dürfte allerdings der Aufruf, an Hand der Lektüre der theologisch-philosophischen Texte des Mittelalters „die Entwicklung des antiken Gedankengutes und Formschatzes unter dem hinzukommenden Einfluß des Christentums aufzuzeigen“,54 wenig Wirkung gezeigt haben. Ein Plädoyer für die intensive Verbindung der Erziehung mit der Wissensvermittlung legt Kroll ab. Er plädiert für eine – wohl schon zu seiner Zeit auf Widerstände stoßende – Rangfolge des Wissens. An der Spitze der Wissensvermittlung soll das „Glaubenswissen“, das „ethische Wissen“ oder „Kulturwissen“ stehen, verbunden mit der harmonischen Entfaltung der individuellen Anlagen und mit der „Charakterbildung“ der Schüler.55 Man kann dies im Zusammenhang sehen mit der Absicht Naumanns, den Prinzipien der „Humanitas“ und des Rechts wieder Geltung zu verschaffen. Gefordert wird die Rückkehr zu einer alle Lebensbereiche umfassenden „Humanität“. Sie wirkt aber nur dort glaubhaft, wo sie gründet in der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen als Person, der vom Schöpfer mit der „Geistsubstanz“ der Seele ausgestattet wurde. Naumann greift hier auf eine Anthropologie zurück, die vor allem von den Philosophen Jacques Maritain und Theodor Haecker entwickelt worden ist. Seinen „Personalismus“ platziert Naumann in einer Mitte des Ausgleichs zwischen dem „Individualismus“ und dem „Kollektivismus“. Er besteht darauf, die „gegenseitige Achtung“, das personale Prinzip, auch auf das Verhältnis zwischen den Staaten und Völkern zu übertragen.56 Das Recht, gemäß dem Prinzip „Justitia fundamentum regnorum“ allgemeinverbindlich aufgefasst, soll von einem metaphysischen Untergrund getragen sein, der sich bis in das Leben der „primitiven Völker“ zurückverfolgen lässt. Die „abendländische Völkergemeinschaft“ verlangt gebieterisch nach der Wiedergewinnung des Einheitsbewusstseins in Gestalt einer für alle geltenden „Einheit des Rechts“. Denn der Zusammenbruch hat seinen letzten Grund darin, dass die Völker die „Rechtsidee ihrer Gemeinschaft“

54 Frohn, Robert: Sprachunterricht und Europa-Bewußsein, in: Neues Abendland, 10, 1955, S. 657–664. 55 Kroll: Grundlagen (wie Anm. 32), S. 138–140. 56 Naumann: Abendland (wie Anm. 35), S. 60–73.

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einer gescheiterten Koalitions- oder Gleichgewichtspolitik oder gar einer nackten Interessenpolitik geopfert haben. Diese abendländische Deutung birgt eine Abkehr von monokausalen und oberflächlichen Schuldzuweisungen für das Verhängnis der jüngsten Gegenwart. Die Verabschiedung des Machiavellismus früherer Zeiten geht für Naumann einher mit dem Bekenntnis zur Idee des Universalismus. „Neues Abendland ist nicht ein geographischer Begriff, sondern die Besinnung aus der Geschichte für die Geschichte. Es ist die Freiheit des Denkens im Universalismus des Christentums“.57 Die „Freiheit des Denkens“ gilt als ein auch im Inneren der Staaten zu befolgender Grundsatz. Nicht nur die Erfahrungen mit der NS-Diktatur haben gezeigt, dass sich der Staat aus der „inneren Entwicklung der Kulturgebilde“ heraushalten muss. Gleichwohl soll er sich der Aufgabe widmen, die gesetzlichen Grundlagen für ein blühendes Kulturleben zu schaffen. Dieses erwächst erst aus den vielfältigen Regungen und Aktivitäten der Gesellschaft. Naumann betont die „kulturelle Selbstverwaltung“ der Verbände, der Kirchen, der Bildungswerke und der nach 1945 neu gegründeten Akademien. Er nennt auch die Kulturinstitute von Wirtschaft und Industrie, die Caritas und die Publizistik in ihrer Breite und Vielfalt, von der Tagespresse bis zum Buchmarkt.58 Waren damit Sprachrohre ausersehen, die eine neue abendländische Weltanschauung oder Ideologie verkünden sollten? Einiges spricht für die überraschende These: Die abendländische Kritik an den geschilderten weltanschaulichen und historischen Fehlentwicklungen grub so tief, dass es ihren Vertretern nicht mehr angebracht schien, eine neue Weltanschauung an die Stelle der früheren zu setzen.59 So lassen sich jedenfalls die geschichtsphilosophischen Einsichten von Erich Przywara und Peter Wust interpretieren. Für Przywara entfaltete sich der „Sinn abendländischer Philosophie“ als die spezifische geistige Bewegung eines Kulturkreises, deren Gang sich von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart nachzeichnen lässt. Sie ging aus vom Mythos und von der Kosmogonie, das heißt von der frühen Reflexion über die Entstehung des Weltalls. Sie bildete dann – von Aristoteles bis Hegel – die rationalistischen Systeme aus und mündete in die existenzialistische Demaskierung und Vernichtung des Seins. Dieser Ausgang begrub die früheren Lösungsansätze unter sich. Das erkennende Subjekt, der Mensch („Anthropos“) der Gegenwart sieht sich gleichsam am Ende seiner philosophischen Denkbemühungen angekommen. Er findet sich in die Situation der „Aporetik“ versetzt, „des vor dem Unzugänglichen verlegenen Stehens (Aporie)“.60 Einen ähnlichen Bogen beschrieb der Gang 57

Ebd. S. 72. Naumann: Abendland (wie Anm. 35), S. 110–120. 59 Vgl. die Selbstzeugnisse bei Conze: Europa (wie Anm. 33), S. 177. 60 Przywara, Erich: Logos. Logos – Abendland – Reich – Commercium, Düsseldorf 1964, S. 76–79; der Philosoph und Theologe E. Przywara SJ (1889–1972) suchte den 58

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der abendländischen Theologie. Er begann mit der „Schrift-Theologie“, der Betrachtung der Bibelworte, führte dann über die „philosophische Theologie“ des Mittelalters zu der „Theologie des Glaubens“. Das theologische Denken der Gegenwart bewegt sich vornehmlich im Bannkreis des Glaubens, verweilt im Glauben, wird „zu einem Wissen innerhalb des Glaubens“. Es distanziert sich zumindest vom Hauptstrom der Philosophie, der sich als tragende Stütze des Glaubens nicht mehr begreifen kann.61 Aber mit ihrem Abgesang auf letzte Wahrheiten im 19. und 20. Jahrhundert hat die Philosophie den Weg für das unmittelbare Ergreifen der Glaubenswahrheiten frei gemacht. Im Rückblick auf die geistige Entwicklung des Abendlands wird der denkende Mensch eingestehen, dass er in ein unaufhebbares Dilemma geraten ist, wenn er die Welt nur aus seiner Vernunft erklären will. Daraus lässt sich aber positiv folgern: Das Scheitern der früheren Erklärungsansprüche und der autonomistischen Philosophie der Neuzeit vermag dem modernen Menschen die Bahn zum Glauben wieder zu öffnen. Wust will zwar an der ontologischen Dimension des Denkens, der „veritas ontologica“, festhalten.62 Aber auch für ihn ist das abendländische Denken „durch den Zweifel“ und durch die Prozesse der Aufklärung hindurchgegangen. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem „aufgeklärten“ westlichen und dem in sich ruhenden orientalischen Denken, das Wandlungen kaum durchgemacht hat, das sich so seine „Unangefochtenheit“, „Abgeklärtheit“ und sein Seinsbewusstsein erhalten hat. Das abendländische Denken hat hingegen „die Öde, die Leere, die Langeweile, die spezifisch moderne Ernüchterung“ erfahren, das Nichts entdeckt, aber danach „eine zweite Naivität erreicht. Es fragt sich, ob wir Abendländer nicht vielleicht doch durch das alles, was wir jetzt erleben, hindurchgehen müssen, damit die Menschheit als Ganzes reif wird für die christliche Welt des Geistes“.63 Die Begegnung mit Paul Claudel, Francis Jammes und anderen französischen Freunden, mit Hermann Platz und mit dessen Bonner Romanisten-Kollegen Ernst Robert Curtius, bestärkte Wust darin, von der „Kulturfreude und Formliebe zur wahren Wirklichkeit des Glaubens, der Gnade, der eigentlichen übernatürlichen Realität“ vorzudringen.64 Denn die Kultur ist für den Christen ein eher sekundäres Phänomen. Das „christliche Heilswerk“ kann sich Dialog mit der geistigen Kultur seiner Zeit und war von Edmund Husserl und Max Scheler beeinflusst. Vgl. auch Bruckberger, Raymond Léopold: Stirbt Europa?, in: Neues Abendland, 10, 1955, S. 707–722: über den Philosophen Albert Camus. 61 Przywara: Logos (wie Anm. 60), S. 84–94, hier S. 94. 62 Peter Wust an Paul Petit, Münster 3. Januar 1933, in: Wust: Gesammelte Werke (wie Anm. 39), Bd. IX, Briefe von und nach Frankreich, Münster 1967, S. 400. 63 Peter Wust an André Préau, Münster 24. Dezember 1931. Ebd. S. 434 f. 64 Wust: „Pariser Rechenschaft“, in: Bendiek/Huning: Ein deutsch-französisches Gespräch (wie Anm. 17), S. 488–491; Lohner, Alexander Fr.: Gott und die Menschen. Letzte Fragen und letzte Antworten des Philosophen Peter Wust, in: Rest, Walter (Hrsg.): Peter Wust. Reflexionen und Vorträge zum 50. Todestag des Philosophen, Münster 1991, S. 17–50, hier S. 46.

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aller Kulturen bedienen und sogar Abschied vom zerfallenden Abendland nehmen; es ist auch „nicht bloß eine Weltanschauung nach subjektivem Belieben“.65 Es bezeugt sich vor allem im „praktischen Handeln“, „durch unsere eigene Tat und durch unser eigenes Opfer“. Wust selbst gab ein Beispiel. Er sprach in seinen regelmäßig von 400–500 Hörern besuchten Vorlesungen über den christlichen Gott, obwohl an der Universität Münster ein skeptischer Geist vorherrschte,66 und rief die kleine Schar der katholischen Intellektuellen dazu auf, Stellung im modernen Kampf der Geister zu beziehen.67 Seine Betrachtung der europäischen Geistesgeschichte führte ihn zu der Erkenntnis, die metaphysische Antwortlosigkeit der Moderne für die befreiende Kraft des Glaubens zu nutzen – ohne sich aus der modernen Geistes-, Wirtschafts- und Staatenwelt in die Thebais zurückzuziehen. Als Eingeständnisse der Aporie, in die das philosophische und weltanschauliche Denken geführt hatte, lassen sich auch andere Äußerungen interpretieren. Der Dichter Reinhold Schneider bemühte keine geistesgeschichtlichen Herleitungen, um die Schuld am Nationalsozialismus zu erklären, sondern führte den Ursprung der Tragödie lakonisch auf den breiten Abfall des Volkes vom christlichen Gewissen zurück.68 Teilhard de Chardin gewann aus der Naturbeobachtung seinen Neuansatz, die Evolution mit dem christlichen Glauben in Einklang zu bringen.69 Papst Pius XII. verwies auf die „christliche Botschaft“ als das ausschlaggebende Wachstumselement, aus dem er die Hoffnung auf „glänzendere und fruchtbarere Zivilisationen“ der Zukunft nährte.70 Am Vorabend der unglücklichen Märzwahlen von 1933 sprach Adenauer mit dem Lothringer de Pange über die Möglichkeit einer neuen Parteibildung auf der Grundlage christlicher Inspiration – nur eine von mehreren Initiativen dieser Art.71 Das Ende der weltanschaulichen Entwicklungen, die beim Agnostizimus oder bei den intoleranten und zer65 Wust: Krise des abendländischen Menschentums (wie Anm. 39), S. 310, 295 f. u. 300 f. 66 Peter Wust an Jacques Maritain, Münster 21. Mai 1932, in: Wust: Gesammelte Werke (wie Anm. 39), Bd. IX, S. 205–207. 67 Wust, Peter: Nochmals „Pariser Rechenschaft“, in: Bendiek/Huning: Ein deutschfranzösisches Gespräch (wie Anm. 17), S. 501–507. 68 Schneider, Reinhold: Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte, in: Neues Abendland, 1, 1946, S. 12–20. 69 François-Albert Viallet, Versuch eines persönlichen Universums, in: Neues Abendland, 10, 1955, S. 565–567. 70 Ansprache am 13. Juni 1957, in: Schwarz, Jürgen/unter Mitarbeit v. Schawohl, Peter/Tagliacarne, Pierfelice (Hrsg.): Katholische Kirche und Europa. Dokumente 1945–1979, München u. Mainz 1980, Nr. 22, S. 39. 71 Jean de Pange an Peter Wust, Broglie 15. August 1933, in: Bendiek/Huning: Ein deutsch-französisches Gespräch (wie Anm. 17), S. 151–153. Entsprechende Angaben bei Hagen-Dempf, Felicitas: Alois Dempf – ein Lebensbild, in: Berning, Vincent/Maier, Hans (Hrsg.): Alois Dempf 1891–1982. Philosoph, Kulturtheoretiker, Prophet gegen den Nationalsozialismus, Weißenhorn 1992, S. 7–24, hier S. 11.

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störerischen Ideologien des 20. Jahrhunderts angelangt waren, legte gerade die Notwendigkeit neuer, auf der Grundlage des Glaubens und der Gegenwartsnähe vorzunehmender geistiger, politischer und sozialer Standortbestimmungen nahe.

V. Weitere Projekte: Der „abendländische Staatenbund“, globale Kulturkreise und ein demokratisch-föderalistisches Deutschland Wie einige der bereits betrachteten Autoren zeigt sich auch Hollnsteiner fasziniert von der Einheit des mittelalterlich-abendländischen Universalismus.72 Die hier bestehenden Bindungen im Sinne der „re-ligio“ sind dem modernen, ziellos schweifenden, schon im Nominalismus73 grundgelegten „Autonomiewillen“ 74 verloren gegangen. Aber sein Zukunftsoptimismus ist groß: Das Abendland kann sich nach dem Vorbild des vor 300 Jahren „zwischen den abendländischen Staaten und Kirchen“ geschlossenen Westfälischen Friedens zu einem „Zeitalter der Synthese“ aufschwingen. Es soll „aus christlicher Verantwortung oder ethischer Verpflichtung“ die Aufgabe übernehmen, einen den Kalten Krieg überwindenden „Spannungsausgleich zwischen Ost und West, zwischen extremem Kapitalismus und totalitärem Kollektivismus“ zu erreichen.75 Ein „abendländischer Staatenbund“, geeint durch die Gemeinsamkeit der Religion und die Verwandtschaft seiner „Rassen“, könne eine Mittlerrolle zwischen den auseinanderdriftenden Weltverbünden in Ost und West übernehmen und so den bedrohten Frieden erhalten. Innenpolitische Voraussetzungen dafür waren für Hollnsteiner die Abkehr des Sozialismus vom revolutionären Marxismus, der Übergang zu einem „organischen Sozialismus“, der die Rechte der Persönlichkeit achten würde, und die Stärkung des Christentums durch eine selbstbewusste Laienbewegung und einen die Orthodoxie einschließenden Ökumenismus. Hollnsteiners kühner Konstruktivismus verkannte die Schwerkraft der machtstaatlichen und ideologischen Realitäten nach 1945. Er fand eine Art Nachblüte, als, eine Generation später, österreichische Politiker den Eisernen Vorhang durch ein schwer definierbares „Mitteleuropa“ überwinden wollten, das zur Brücke zwischen Ost und West werden sollte. Die Erwägungen Hollnsteiners waren zwar hochgestimmt und idealistisch. Doch die Notwendigkeit solcher Grundlegungen zeigte sich wieder, als nach der Wende von 1990 ein noch ungestillter Bedarf an Neuorientierung im ehemaligen Osten wie im Westen aufbrach. Bundeskanzler Adenauer zog aus den „Prinzipien, wie sie sich auf der Grundlage des Christentums in einer Jahrhunderte langen Entwicklung in Europa he72 73 74 75

Hollnsteiner: Abendland (wie Anm. 36), S. 86–91 u. 123–127. Ebd. S. 127–137. Kroll: Grundlagen (wie Anm. 32), S. 145. Hollnsteiner: Abendland (wie Anm. 36), S. 20 f. u. 307–331.

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rausgebildet haben“, ganz andere politische Schlussfolgerungen.76 Das realpolitische Faktum, dass die Sowjetunion bis zur Mitte des Kontinents vorgestoßen war,77 ließ für ihn nur die Bildung einer Westdeutschland, Frankreich und England mit dem Rückhalt der USA einbeziehenden Schicksalsgemeinschaft zu, die „Gründung der Vereinigten Staaten von Europa“.78 Adenauer wollte, noch beeinflusst von Vorstellungen der Zwischenkriegszeit, England die Führungsrolle dieses Bundes übertragen wissen. Als „Deutscher, Europäer und Christ“ fühlte er allerdings eine größere Verbundenheit mit Frankreich und bezog sich dafür auf die vor dem „nationalsozialistischen Krieg“ gemeinsam erlebte Geschichte.79 Deutschlands Eingliederung in die westeuropäische Staatengemeinschaft sollte zugleich der Wiedergewinnung der Selbstbestimmung, aber weniger der früheren außenpolitischen Koalitionsfreiheit dienen.80 Die Schaffung einer europäischen Union besaß für Adenauer Vorrang vor der Durchsetzung maximaler kirchlicher Forderungen im Grundgesetz,81 während Kroll den Staat grundsätzlicher auf die Prinzipien des Christentums festlegen wollte.82 Man kann sagen, dass Adenauers Realismus die Abendlandidee politisch geerdet hat. Adenauer wie Kroll bereicherten die Verfassungsdebatte um den Vorschlag eines Zweikammersystems. Friedlaender entwickelte 1947 die Theorie übernational organisierter „repräsentativer Völkergemeinschaften“.83 Er stand damit in der Tradition von Entdeckungen des „deutschen Idealismus“ und der Romantik, einer Reflexion, die den historisch verschiedenen Ausprägungen des Geisteslebens der Völker und zumindest allen Hochkulturen „Gleichrangigkeit“ zuerkannte – nach Alois Dempf „zweifellos das größte geistesgeschichtliche Ereignis des 19. Jahrhunderts“.84 Wesentliche Grundzüge von Friedlaenders Schrift lassen sich knapp zusammen76 Konrad Adenauer an Karl Scharnagl, 21. August 1945, in: Mensing: Hans Peter (Bearb.), Adenauer. Briefe 1945–1947 (Adenauer, Rhöndorfer Ausgabe), Berlin 1983, Nr. 65, S. 77. 77 Konrad Adenauer an William F. Sollmann, 16. März 1946 in: Mensing: Adenauer (wie Anm. 76), Nr. 187, S. 191. 78 Konrad Adenauer an Ulrich Noack, 8. April 1946, in: ebd. Nr. 201, S. 210. 79 Konrad Adenauer an Pater Paul Schulte, 15. September 1946, in: ebd. Nr. 340, S. 328; Konrad Adenauer an Dr. Elsaesser, 18. Februar 1947, in: ebd. Nr. 475 B, S. 435. 80 Erläuterungen zur Berliner Rede Adenauers vom 23. November 1948, 18. Januar 1949, in: Mensing, Hans Peter (Bearb.): Adenauer. Briefe 1947–1949 (Adenauer, Rhöndorfer Ausgabe), Berlin 1984, Nr. 1062 A, S. 387; auch Adenauer, Konrad: Der richtige Weg, 9. Juni 1949, in: ebd. Nr. 1169, S. 671. 81 Konrad Adenauer an Josef Kardinal Frings, 7. Februar 1949. Mensing: Adenauer (wie Anm. 80), Nr. 1077 A, S. 397. 82 Kroll: Grundlagen (wie Anm. 32), S. 58. 83 Friedlaender, Ernst: Das Wesen des Friedens, Hamburg 19472, S. 197–215, hier S. 204–207, 211 u. 213, auch zum Folgenden. 84 Dempf, Alois: Die Rolle des Humanismus in der kommenden Zeit (1956), in: Berning/Maier: Alois Dempf (wie Anm. 71), S. 294–303, hier S. 295.

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fassen: Um Frieden und Gerechtigkeit auf internationaler Ebene zu gewährleisten, reichen die bekannten Instrumente des Völkerrechts, Konventionen, Verträge und Allianzen, nicht aus. Auch das Vertrauen „auf die Menschheit oder die Weltvölkergesellschaft“ blieb wirkungslos, wie das negative Beispiel des Völkerbunds gezeigt hat. Zwischen einer kraftlosen Weltvölkergemeinschaft und den einem unverbindlichen Völkerrecht ausgelieferten Einzelstaaten siedelt Friedlaender seine „Kulturkreise“ an, die er auch „Individualeinheiten“ nennt. Diese „Völker- und Staatengemeinschaften“ sollen von unten wachsen und eine Fortsetzung der in den Familien und Völkern bereits antreffbaren „Gemeinschaftsform“ darstellen. Die „Kulturkreise“ unterscheiden sich von bloßen „Raumbegriffen“ oder von den rein geographischen Größen der Erdteile. Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit, historische „Geschehniseinheiten“ durchlebt: zum Beispiel die Renaissance, die Reformation oder gemeinsame Kunststile wie die Gotik und den Barock.85 Nun verpflichten sie sich zur gegenseitigen Achtung ihrer „Volksindividualitäten“ und kulturellen Eigenarten. Unter solchen Voraussetzungen sollen „ein abendländischer“, ein „ostasiatischer, arabisch islamistischer“ und „indischer Kulturkreis“ gebildet werden. Diese Staatengemeinschaften übernehmen die Außenpolitik und die „nationale Militärmacht“ der ihnen eingegliederten Völker in ihre Regie. So können die „Intoleranz“, die „Gier“, die „nachbarliche Macht“ oder der „Bruderzwist“, die erfahrungsgemäß auch das Verhältnis zwischen kulturell miteinander verwandten Staaten und Völkern vergiften, neutralisiert werden. Friedlaender sprach sich später noch deutlicher gegen den souveränen Nationalstaat aus.86 Alle abendländischen Gruppen teilten eine föderalistische Programmatik. Das „Neue Abendland“ erinnerte an einen lange verkannten Kronzeugen des Föderalismus, Konstantin Frantz, und nahm einen Essay Wilhelm Hausensteins über das dem Bismarckreich vorangegangene „föderative Deutschland“ auf.87 Der „Landschaft“, dem von stammlichen, sprachlichen und volkstümlichen Eigenarten geprägten Raum wurde die Bedeutung eines „Kulturfaktors“ beigemessen.88 Ein Quartalsheft des „Neuen Abendland“ (1958) hob Österreichs Vergangenheit als Träger der „römisch-christlichen alten Reichsidee“ hervor89 und bedauerte

85 Zum slawischen Barock, der länger dauerte als im Westen (16.–20. Jahrhundert), Matl, Josef: Reformation und Gegenreformation als Kulturfaktoren bei den Slawen, in: Mezler-Andelberg, Helmut (Hrsg.): Festschrift Karl Eder zum siebzigsten Geburtstag, Innsbruck 1959, S. 101–117. 86 Würdigung des Hertensteiner Programms der europäischen föderalistischen Gruppen vom September 1946. Friedlaender, Ernst: Wie Europa begann, Köln 1965, S. 56 f. 87 Pfaff, Karl: Der Staatslehrer Konstantin Frantz, in: Neues Abendland, 1, Heft 4, 1946, S. 26–28. 88 Naumann: Abendland (wie Anm. 35), S. 79. 89 Ludwig, Heinrich: Traditionslandschaft Baiern, in: Neues Abendland, NF 13, 1958, S. 303–325, hier S. 305 u. 291–301.

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das historische Scheitern der während „nahezu eines Jahrtausends immer wieder gegebenen Ansätze zur Wiedervereinigung der beiden bayerischen Stammeszweige, des altbayerischen und des bajuwarisch-österreichischen“.90 In Südwestdeutschland entstanden detaillierte Pläne über eine „Union alpine“, eine stammes-föderalistische Neugliederung der um „Alemannien“ gelagerten Alpenländer; sie genossen Förderung seitens der französischen Besatzungsmacht.91 Das doppelte Gedenkjahr 1955 (955 Schlacht auf dem Lechfeld, 1555 Augsburger Religionsfriede) wertete Augsburg zum „ideellen Ort des ,Abendlandes‘“ auf.92 Die „Natur, Kultur“ und die Menschen des Rheinlandes erschlossen sich Platz und Wust als zur französisch-deutschen Begegnung inspirierende, die nationalistischen Prioritäten früherer Zeiten in Frage stellende Faktoren.93 Im Geiste „christlicher Grundanschauung“ und der „schicksalsmäßigen Verbundenheit aller westeuropäischen Länder“ wurde 1948 das Kölner Dombaufest gefeiert.94 Der Historiker Hans Rothfels wandte sich allerdings gegen die Vereinnahmung des Abendlandgedankens durch ein „gutes“ Westdeutschland. Er reklamierte abendländische Herkunft auch für die föderativen Elemente der Minderheitspolitik, die in Ost-Mitteleuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert befolgt worden war und die noch in den Ideen des Kreisauer Kreises Widerhall fand.95 Der Föderalismus als Konzeption einer gegliederten Gesellschaft durchdrang auch die innen- und sozialpolitischen Vorstellungen der Abendland-Protagonisten. Als Gegenbild erschien der totale Staat nationalsozialistischer oder kommunistischer Prägung; die Ahnherren des ersteren wurden historisch weit zurückverfolgt.96 Bei aller heftigen Ablehnung des „Bolschewismus“ galt der nicht-sozialistische Gemeinschaftsgedanke als das Gebot der Stunde. Besonders Naumann

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Franzel, Emil: Bayerns Aufgabe, in: Neues Abendland, NF 13, 1958, S. 291–301. Beteiligt waren ansässige Publizisten und Adlige: u. a. Walter Ferber, Otto Färber, Bernhard Dietrich, der Archivar Otto Feger. Klöckler, Jürgen: Abendland-AlpenlandAlemannien. Frankreich und die Neugliederungsdiskussion in Südwestdeutschland 1945–1947, München 1998, S. 123–197. 92 Seefried, Elke: Abendland in Augsburg. Zur Renaissance eines katholischen Deutungsmusters nach 1945 auf lokaler Ebene, in: Fassl, Peter/Jehl, Rainer (Hrsg.): Schwaben im Hl. Römischen Reich und das Reich in Schwaben. Studien zur geistigen Landkarte Schwabens. Historische Tagung anlässlich des Endes des Hl. Römischen Reiches vor 200 Jahren am 20./21. Oktober 2006, Augsburg 2009, S. 165–210, hier S. 198. 93 Wust: „Pariser Rechenschaft“, in: Bendiek/Huning: Ein deutsch-französisches Gespräch (wie Anm. 17), S. 487–489. 94 Beitrag Adenauers zum Domfest, 16. August 1948, in: Mensing: Adenauer (wie Anm. 80), Nr. 926, S. 593. 95 Rothfels, Hans: Ostdeutschland und die abendländische politische Tradition (Eine Antwort an Prof. Toynbee), in: Aubin, Hermann (Hrsg.): Der deutsche Osten und das Abendland. Eine Aufsatzreihe, München 1953, S. 193–208, hier S. 207 f. 96 Siehe oben S. 510–513. Vgl. Meissner, Erich: Zwiespalt im Abendland. Ein Kommentar zur deutschen Geschichte 1517–1939, Stuttgart 1949, S. 8 f. u. 225 f.: „Nihilismus“ als Folge der Verweltlichung des Lebens. 91

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und Kroll brandmarkten den „Materialismus“. Sie unterstrichen die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, forderten soziale Reformen, die Verbesserung der Lebensverhältnisse und die breite Streuung des Eigentums. Die Nachwirkung christlichsozialen Denkens aus der Zwischenkriegszeit ist hier deutlich spürbar. Naumann prophezeite wie Jakob Kaiser das Ende des bürgerlichen Zeitalters. Berufsständische Ideen fanden Fürsprecher im „Neuen Abendland“; aber auch beredte Anhänger der repräsentativen Demokratie wie der Würzburger Staatsrechtler Wilhelm Laforet kamen hier zu Wort.97 Kroll übte Kritik am Parteiwesen, obwohl er selbst als Parteiprogrammatiker hervortrat. Eine starke Regierung und funktionsfähige Mehrheiten hielt er nach dem unglücklichen Ausgang der Weimarer Republik für ganz unerlässlich und plädierte darum für die Einführung des Mehrheitswahlrechts. Frühzeitig erkannte er, dass die von ihm geforderte theonome Ausrichtung des Staates in der „Massendemokratie“ großen Vorbehalten begegnen würde. Er wollte darum die geschrumpfte Zahl gläubiger Christen durch die Hinzuziehung ähnlich denkender „Nichtchristen“ gestärkt wissen.98 Wie in einem Zirkel sahen sich die Abendland-Publizisten also wieder auf ihren Bildungsauftrag zurückverwiesen, Sinn und Verständnis für die trotz Spaltungen und Krisen bewahrte Einheit der europäischen Kultur zu wecken, ihre Ideen an Schulen und Universitäten, durch Ausstellungen und Publikationen aller Art zu verbreiten und ihnen einen Platz neben den wiederauflebenden (,konservativen‘) Traditionen nationalstaatlichen Denkens zu verschaffen. Sie fanden Unterstützung beim deutschen und beim österreichischen Bundespräsidenten. Theodor Heuss bekannte sich zu dem „ewigen Auftrag“ der Erhaltung europäischer Identität, Rudolf Kirchschläger zur Vorbildfunktion der Patrone Europas, Benedikt von Nursia, Kyrill und Method: Lehrten diese doch die Rückkehr zum „rechten Maß“ in allen Dingen, „im persönlichen, im wirtschaftlichen und im politischen Leben“ und gäben so Anleitung zur Überwindung auch der gegenwärtigen „Krise der abendländischen Gesellschaft und Kultur“.99 Schon Hermann Platz hatte das Maßhalten, das ordnungsbezogene und zweckgerichtete Handeln sowie die Bereitschaft zum Dienst zu tragenden Kategorien des abendländischen Denkens und Sozialverhaltens erklärt.

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Vgl. Stützer, Herbert A.: Nation-Abendland-Welt, Bonn 1946, S. 51 f. Kroll: Grundlagen (wie Anm. 32), S. 145–147. Die unklare Qualifizierung der „Abendländler“ als ständisch und „rechtskonservativ“, so auch Großmann: Europa (wie Anm. 23) S. 311 f. u. 329, ist nicht weiterführend. 99 Vorwort von Heuss zu: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.): Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr. Ausstellung in der Villa Hügel, Essen. 18. Mai bis 15. September 1956, Essen [o. J.], S. 1; Kirchschläger, Rudolf: Patrone und Symbole Europas. Rede vom 24. Oktober 1989 im Bischöflichen Palais Klagenfurt, in: Pühringer, Josef/Slapnicka, Harry (Hrsg.): Immer den Menschen zugewandt. Reden von Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger aus den letzten 25 Jahren, Wien 2000, S. 167–172, 171 f. – Heuss war FDP-Mitglied, Kirchschläger parteilos. 98

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VI. Resümee und Ausblick 1. Geschichte und Geschichtsschreibung nehmen bei den Abendland-Autoren eine zentrale Stellung ein. Sie werden nach der Katastrophe von 1945 als Instanzen der Legitimation und Sinnstiftung bemüht. Das konnte nicht eigentlich Aufgabe einer methodisch-kritisch verfahrenden Geschichtswissenschaft sein, wie schon der Pädagoge Flitner zugab.100 Aber die ,zünftige‘ Geschichtsforschung dürfte dennoch davon profitiert haben: Die abendländische Wertschätzung von Antike und Mittelalter schlug sich noch lange im dreistufigen Aufbau des Geschichtsstudiums in Deutschland nieder, das vom Altertum über das Mittelalter zur Neuzeit aufstieg. Wenn der Geschichte ein hoher Orientierungswert für die Gegenwart und Zukunft zugebilligt wurde, so steigerte dies die Attraktivität des Studienfaches. Gegen die professionell motivierte Reserve von Fachhistorikern gegenüber der Abendlandidee ist einzuwenden: Die Ausrichtung auf kultur- und geistesgeschichtliche Fragen und der integrierende Blick auf die Gemeinsamkeiten der europäischen Geschichte waren nach den früheren nationalen Fokussierungen und den jüngsten ideologischen Verirrungen der deutschen Geschichtsschreibung mehr als überfällig. 2. Die Vorkämpfer der Abendlandidee sind im Grunde Revisionisten. Sie stellen eine geistesgeschichtliche Entwicklung und einen Geschichtsverlauf in Frage, die ein umgreifendes Sein, eine Objekthaftigkeit der Welt, die realen Bezugspole der Allgemeinbegriffe und zugleich die Annahme einer Übernatur, den Gottesbegriff, theoretisch und praktisch aufgegeben haben. Abgelehnt werden einige das wissenschaftliche Denken beeinflussende Weltanschauungen; sie werden definiert als Agnostizismus, Nationalismus, Rationalismus, Nihilismus oder als ein irdische Heilslehren entwerfender Autonomismus und Totalitarismus. Die Kritiker bewegten sich selbst sehr wohl in den Erkenntniskategorien der Rationalität, der Empirie oder der Synthese. War diese Auffassung der Abendland-Autoren antiquiert, wenn der französische Historiker, Politik- und Kulturwissenschaftler Emmanuel Todd noch 1990 die kantige Feststellung traf: „La mort de la religion permet la naissance de l’idéologie“ 101? Als Fehlentwicklung charakterisiert wird auch die schier unüberbrückbare Kluft, die sich in der Neuzeit aufgetan hat zwischen Glauben und Wissen, zwischen säkularer Kultur und transzendenter Orientierung. 3. War der Abendlandgedanke selbst eine Weltanschauung wie die von ihm missbilligten Weltanschauungen? Wust und Przywara weisen das selbsterklärte Ende einer Philosophie auf, die in Abkehr von antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Traditionen die Suche nach dem Woher und Wohin des Menschen aufgegeben hat. Beide finden die angemessene Antwort auf die Aporie, ja die Ver100 101

Flitner: Gesittung (wie Anm. 46), S. 5. Todd, Emmanuel: L’invention de l’Europe, Paris 1990, S. 193 ff.

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zweiflung, die den Menschen angesichts der unlösbaren letzten Fragen seiner Existenz überfällt, in der Rückkehr zum christlichen Glauben. Dieser Weg steht aber dem Angehörigen jedes Kulturkreises offen. So gerät die Abendlandidee selbst in die Aporie. Denn die Entscheidung für den christlichen Glauben ergibt sich aus der Autonomie des mündigen Subjekts, nicht aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis. Hier setzt Wusts „zweite Naivität“ des durch die Aufklärung hindurchgegangenen Abendlands an. Der Abendländer betätigt selbst, als der Gläubige vor Gott stehend, die subjektive Freiheit und Autonomie, die vormals die philosophischen Verneiner der Sinngebung für sich beansprucht haben. Freiheit ergibt sich dann nicht direkt aus einem „institutionellen System“ 102, sondern aus personalen Entscheidungen und aus den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten. Aber der Gebrauch der Freiheit, so lässt sich folgern, muss von einem staatlichen und kulturellen System auch erlaubt werden; und als solches kommt Abendland-Europa nach seiner historischen Gestalt und Vergangenheit in Frage. Heers Plädoyer für den christlichen Nonkonformismus ließe sich hier widerspruchsfrei einfügen – das „Experiment Europa“, von dem er spricht, wäre dann nicht beendet; das gälte ebenso für Wusts und Przywaras neuen Subjektbezug des Glaubens: Das Abendland würde sich dann als ein neu zu nutzender Freiraum darstellen, die Abendlandidee nicht als neue Weltanschauung oder Ideologie im engeren Sinne,103 sondern als eine historische Kultur- und Identitätstheorie. Sie böte den Rahmen für auf innere Stimmigkeit und Fortsetzung angelegte Diskurse104 sowie für motivierte Projekte zur Gestaltung von Verfassung und Gesellschaft unter den Prämissen eines erinnernden Rückgriffs, einer Bewusstmachung spezifischer kultureller Identitätskriterien. 4. Wenn es auf die freie Entscheidung der Person, auf ihr Gewissen und auf ihre Schuldfähigkeit ankommt,105 dann soll dieser auch das nötige Orientierungswissen vermittelt werden, dann ist es nur ein logischer Schritt zu dem pädagogischen Eros, den die Verfechter der Abendlandidee entwickeln. Zwar sind die Publikationen über das Abendland den westlichen Besatzungsmächten offenbar erwünscht, sie werden mehrfach lizenziert. Doch schon diese Art und Ausrichtung einer Publizistik, die in der Phase der „Umerziehung“ mit demokratischen Mitteln den vielen desorientierten Menschen der zweiten Nachkriegszeit Halt 102 Mirgeler, Albert: Rückblick auf das abendländische Christentum, Mainz 1961, S. 162–166. 103 „Politische Ideologie“ (die auf Adenauers Westpolitik nur bedingt gepasst habe) laut Schildt, Axel: Das „christliche Abendland“ als Zentrum politischer Integration in der Frühzeit der Ära Adenauer, in: Mayer, Tilman (Hrsg.): Medienmacht und Öffentlichkeit in der Ära Adenauer (Rhöndorfer Gespräche, 23), Bonn 2009, S. 39–54, hier S. 41. 104 Dazu Belafi, Matthias: Die christliche Identität Europas. Die Anerkennung einer Tatsache und ihr Nutzen für die Gesellschaft, in: Krienke, Markus/Belafi, Matthias (Hrsg.): Identitäten in Europa – Europäische Identität, Wiesbaden 2007, S. 47–76. 105 Siehe oben Anm. 68.

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und Richtung zu geben versuchte, erlaubt es nicht, die Abendlandidee in die Nähe der nationalsozialistischen Ideologie zu rücken oder sie als „grundsätzliche Antithese zur Moderne“ beziehungsweise als geistiges Erbe des „deutschen Konservatismus“ – was immer damit gemeint sein soll – zu begreifen.106 Zwar ist eine Linie europäischer „Ideologie“ von den 1920er- und 1930er-Jahren über den „européisme nazi“ bis zu den Einigungsinitiativen der frühen 1950er-Jahre aufgezeigt worden. Doch werden die ideellen, inhaltlichen Gemeinsamkeiten der hier ausgewählten Autoren nicht genügend nachgewiesen, christliche Begründungszusammenhänge einer vorwiegend als technizistisch hingestellten „Ideologie“ nicht ermittelt, demokratische und liberale Orientierungen zu nationalstaatlichen Errungenschaften erklärt; die Europaidee erscheint demgegenüber als diffus und illusionär.107 Der seit den 1920er-Jahren pro-europäisch eingestellte Diplomat Werner von Rheinbaben, den der NS-Staat in den Dienst seiner Propaganda stellte, erwartete 1932/33 die Stabilisierung Europas von einem aus Deutschland, Frankreich, England und Italien bestehenden Mächtekonzert und propagierte im Februar 1939 die „collaboration franco-allemande“, die für Frankreich angeblich unumgängliche Zusammenarbeit mit einem unter dem Nationalsozialismus zur Wirtschaftsmacht aufgestiegenen Deutschland, die den Kern einer handlungsfähigen Großmacht bilden sollte.108 Rheinbaben rückte wirtschaftliche und machtmäßige Gesichtspunkte in den Vordergrund, während Jörg in den 1850er-Jahren ein deutsch-französisches Kerneuropa aus grundsätzlichen, kirchen- und kulturpolitischen Gründen befürwortet hatte. 5. Die Kontinuitätsanmutung mit nationalistischem Konservativismus beziehungsweise Nationalsozialismus und Faschismus trifft auch für die inhaltliche Seite und die Gegenwartsprojekte der Abendlandidee nicht zu, griff deren historische Reflexion doch weit vor das nationale Zeitalter zurück. Der Nationalsozialismus sowie die ihm zugeschriebenen historischen Wurzeln und geistigen Verwandtschaften wurden vielmehr im gleichen Atemzug mit dem Kommunismus und den totalitären Ideologien wiederholt und ausdrücklich abgelehnt.109 Wo direkte politische Folgerungen aus der Abendlandidee gezogen wurden, konnten sie sehr differieren: Das Abendland oder Europa mit seiner christlichen Vergangen106 Dies sei festgehalten gegen Conze: Europa (wie Anm. 33), S. 57 ff. u. 147 f.; gegen Jost, Jonas: Der Abendland-Gedanke in Westdeutschland nach 1945. Versuch und Scheitern eines Paradigmenwechsels in der deutschen Geschichte nach 1945, Phil. Diss. Hannover 1994, S. 412–415; und Faber: Abendland (wie Anm. 17). 107 Prévotaux, Julien: Un européisme nazi. Le Groupe Collaboration et l’idéologie européenne dans la Seconde Guerre mondiale, Paris 2010, S. 130 ff., 164 f. u. 191–209. 108 Ebd. S. 138 f., 245 u. 252 f., zitiert nach (hier als Annexe abgedruckt): Rheinbaben, Werner von: Vers une nouvelle Europe. Les conférences du Groupe „Collaboration“. Conférence donné le 19 avril 1941 à la Maison de la Chimie à Paris, Paris Avril 1941. 109 Artikel im Neuen Abendland; Meissner: Zwiespalt (wie Anm. 96), S. 226–232; Schubart, Wilhelm: Christentum und Abendland, München 1947, S. 392–395.

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heit dient Hollnsteiner als Berufungsinstanz für die Blockfreiheit im Kalten Krieg, Emil Franzel als „Brücke“ zwischen den katholischen Ländern West-, Mittel- und Südeuropas und dem zum Neutralismus tendierenden „protestantischen Nordeuropa“,110 Adenauer zur Begründung des westlichen Bündnisses. Hollnsteiner, der einzige unter den hier behandelten Abendland-Autoren, der sich notgedrungen näher mit dem NS-Regime (in Österreich) eingelassen hat, übernimmt gerade nicht den Antikommunismus als angeblich zentrale Erbschaft des Nationalsozialismus. Allgemein gilt für die hier betrachteten Autoren: Die abendländischen Vorstellungen über den friedlichen Ausgleich zwischen den Staaten und Kulturkreisen, über den Föderalismus und über die Dignität der einzelnen Kulturlandschaften, über die in der „Libertät“ wurzelnde Pluralität des Staates und über die der Gesellschaft aufgegebene Konsensfindung (Flitner), zuletzt die dezidierte Einbeziehung der religiös-christlichen Dimension in die historischpolitische Philosophie und Urteilsbildung widersprachen diametral den auf Zentralisierung und Gleichschaltung drängenden Praktiken, den ersatzreligiösen Tendenzen und den rassistischen Weltherrschaftsplänen des Nationalsozialismus. Aus einer historischen, über zeitgeschichtliche Stereotypen hinausblickenden Sichtweise lässt sich zudem bezweifeln, ob aus den bei einigen Abendland-Protagonisten auftauchenden „ständischen“ oder „organischen“ Ideen ein symptomatischer Rückstand gegenüber dem westlich-liberalen Demokratieverständnis konstruiert werden kann,111 bildeten doch die in der Magna Charta libertatum (1215) oder die in den „Grundgesetzen“ des Alten Reiches ausgehandelten Freiheitsverbriefungen, Mitbestimmungs-, Widerstands-, Repräsentations- und Föderativrechte als Systeme des Machtausgleichs zwischen dem Königtum und den Ständen integrierende Bestandteile der europäischen Freiheitsgeschichte. Gänzlich abwegig ist darum auch die Konstruktion einer „frappanten Kontinuität“ zwischen den im Deutschland des 19. Jahrhunderts gehegten regionalistisch-föderalistischen Ideen, den Vorstellungen der Waffen-SS über ein aus ethnisch-rassischen Einheiten aufgebautes Europa und der bundesdeutschen Politik der Jahre nach 1949, weil diese den regionalen Belangen Europas aufgeschlossen gewesen sei.112 Allerdings ist den Kritikern der Abendlandidee einzuräumen: Viele ihrer Protagonisten bewegten sich zu selbstreferentiell auf einer Alteritäts-Ebene, hielten weiten und bewussten Abstand von einem angeblich zu vordergründigen und liberalen Demokratieverständnis, lehnten Kompromisse mit noch fortdauernden nationalen und insofern konservativen Einstellungen ab. Sie bezogen ihren Ordnungsbegriff zu sehr auf die Mächte des Staates und der Kirche statt auf die Ver110

Schildt: Das „christliche Abendland“ (wie Anm. 103), S. 51. Seefried: Abendland (wie Anm. 92), S. 181, 188–190 u. 210; so auch Schildt: Das „christliche Abendland“ (wie Anm. 103), S. 41, 43 u. 54. 112 Prévotaux: Un européisme (wie Anm. 107), S. 188 f. u. 262, unter Berufung auf die Werke von Bernard Brunetau und Pierre Hillard. 111

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antwortung der Einzelnen, ihre Kulturkritik klang zuweilen gegenwartsfremd. Zu dem raschen Niedergang der Abendlandkreise hat aber auch die harte und ungerechte mediale Kritik an angeblich fehlender Verfassungstreue beigetragen. Und nach den ersten großen Grundsatzentscheidungen, die die Weichen für eine ungeahnte Aufwärtsentwicklung stellten, eilte die materielle Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit einem weltanschaulichen Niemandsland, einer angeblich ideologiefreien, säkularisierten Zone zu, so als ob das eine die Voraussetzung für das andere sein müsse und umgekehrt.

Staatszweck Sicherheit: Reichweite und Grenzen Risiken, Gefahren und der Wunsch nach Sicherheit Klaus Stüwe Im ersten Aufzug der Oper „Die Zauberflöte“ kommt es gleich am Anfang zu folgender Szene: Tamino, ein Königssohn, wird in einer wilden Felsengegend von einer Riesenschlange verfolgt. Zwar ist Tamino mit einem Bogen bewaffnet, doch hat er im Kampf schon alle seine Pfeile vergeblich verschossen und ist nun der Schlange wehrlos ausgeliefert. Tamino erkennt den Ernst seiner Lage: Die Riesenschlange ist stark und gefährlich. Sie stellt eine existenzielle Bedrohung dar. Der Königssohn kann unbewaffnet nicht mehr für seine eigene Verteidigung sorgen. In der Erkenntnis seiner Schwäche ruft er eine höhere Macht zu Hilfe, die ihm Schutz und Sicherheit bieten soll. In dieser aussichtlosen Lage erscheinen plötzlich drei Damen, die Dienerinnen der geheimnisvollen Königin der Nacht, die das Ungeheuer mit silbernen Wurfspießen töten. Die Eröffnungsszene der berühmten Oper Mozarts ist gut geeignet, symbolhaft eines der Urbedürfnisse des Menschen vor Augen zu führen: Sicherheit. So wie Risiken und Bedrohungen schon immer zu den Bedingungen menschlicher Existenz gehörten1, so war es zu allen Zeiten das Bestreben des Menschen, sich vor Gefahren zu schützen und einen Zustand der Freiheit von Angst und Furcht zu erreichen2. In der menschlichen Gesellschaft können Bedrohungen und Gefahren durch die unterschiedlichsten Faktoren entstehen.3 Zum einen sind wir Risiken ausgesetzt, die durch äußere Einflüsse gewissermaßen schicksalhaft entstehen. Dazu gehören Naturkatastrophen, Hungersnöte und Krankheiten. Andere Gefahren entstehen durch gezielte Übergriffe anderer Menschen: durch Einbrecher, Computerhacker, Terroristen oder durch Angriffskriege. Eine dritte Kategorie von Risiken wird durch menschliche Fehler verursacht, zum Beispiel durch den Sicherheitstechniker, der den Riss in der Turbine eines Verkehrsflugzeugs übersieht. 1

Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft, Frankfurt am Main 2007, S. 19. Kaufmann, Franz-Xaver: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970, S. 11. 3 Zum Folgenden Stüwe, Klaus: Sicher – unsicher. Zur Dynamik des Sicherheitsbegriffs im modernen Staat, in: Akademische Monatsblätter, 123, Heft 9, 2011, S. 220– 224. 2

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Schließlich sind es manchmal die Menschen selbst, die sich bewusst riskant verhalten und dabei sich oder andere gefährden. Dazu gehört der Raser auf der Autobahn, aber auch der Kettenraucher, der die Folgen seines Nikotinkonsums in Kauf nimmt. Der französische Soziologe David Le Breton diagnostizierte darüber hinaus bereits vor zwanzig Jahren eine zunehmende „Lust am Risiko“ auch beim Durchschnittsbürger und benannte dabei „Bungee-Jumping“ und andere Arten, das Schicksal herauszufordern.4 Die Aufzählung dieser Risikofaktoren macht deutlich, dass Bedrohungen und Gefahren unvermeidlich zur menschlichen Existenz gehören. Hieraus erwächst letztlich das elementare Bedürfnis der Menschen, sich vor diesen Gefahren zu schützen, ohne Furcht leben zu können und damit einen Zustand der Sicherheit zu erreichen.5 In der modernen Gesellschaft ist es vor allem der Staat, der dieses Sicherheitsbedürfnis seiner Bürger befriedigen soll. Die Gewährleistung von Sicherheit kann als raison d’être des modernen Staates bezeichnet werden.6 Diesem Sicherungszweck wohnt eine gewisse Dynamik inne: Der moderne Verfassungsstaat, wie wir ihn heute kennen, beruht auf einer immer weiter voranschreitenden und immer mehr Bereiche erfassenden Fortentwicklung staatlicher Sicherungsaufgaben. I. Der Staat als Gewährleister innerer und äußerer Sicherheit Bereits in der Zeit des römischen Imperiums begegnet uns der Sicherheitsbegriff als politische Kategorie des äußeren Friedens, der inneren Ordnung und der Stabilität. „Securitas“, die lateinische Wurzel unseres deutschen Wortes Sicherheit, wurde seit der Zeit Kaiser Neros (37–68) bis in das 4. Jahrhundert auf römischen Münzen durch eine Frauengestalt personifiziert, der als Attribute abwechselnd Speer, Füllhorn, Ölzweig, Palmzweig oder Lorbeerkranz beigegeben waren.7 Mit diesen Attributen werden schon in der Antike die verschiedenen Deutungsebenen des Begriffs „Sicherheit“ sichtbar: Während der Speer auf eine Verteidigungs- und Schutzdimension verweist, sind mit dem Füllhorn wohl eher materielle Sicherheitsaspekte verbunden. Die Münzen trugen darüber hinaus häufig die Aufschrift „Securitas Augusti“ (Sicherheit des Kaisers), was auf die Sicherheit gewährende Rolle der Person des Kaisers verweisen sollte. Da Rom auch in der Kaiserzeit formal weiterhin Republik blieb und die Kaiser somit auf 4

De Breton, David: Passions du risque, Paris 1991. Zum Begriff der Sicherheit Kaufmann, Franz-Xaver: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 19732, S. 6 ff. 6 Stüwe, Klaus: Innere Sicherheit im Bundesstaat, in: Detterbeck, Klaus/Renzsch, Wolfgang/Schieren, Stefan (Hrsg.): Föderalismus in Deutschland. München 2010, S. 293. 7 Dazu ausführlich Instinsky, Hans Ulrich: Sicherheit als politisches Problem des römischen Kaisertums, Baden-Baden 1952, S. 15 ff. 5

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Zustimmung oder zumindest Duldung durch eine Bevölkerungsmehrheit angewiesen waren8, war securitas offensichtlich zugleich eine Quelle von Legitimität. Ideengeschichtlich betrachtet, war es vor allem der politische Theoretiker Thomas Hobbes (1588–1679), der uns an der Wende zur Neuzeit die Augen dafür öffnete, dass es der Basiszweck des Staates ist, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu sichern. In seinem Hauptwerk Leviathan9 von 1651 geht Hobbes davon aus, dass die politische Ordnung durch einen rational begründeten Vertrag geschaffen wird, um den Krieg aller gegen alle, der im Naturzustand herrschte, zu überwinden. Der Staat ist nach seiner Auffassung nicht – wie die antike Philosophie geglaubt hatte – Folge der natürlichen Geselligkeit der Menschen, sondern Ergebnis einer Nutzenabwägung und der Furcht vor der Unsicherheit des Naturzustands. Durch den Gesellschaftsvertrag übertragen nach Hobbes alle Individuen ihre Rechte auf einen Souverän, der unabhängig von ihnen regieren kann, solange er ihnen Sicherheit garantiert. Dieser Souverän bekommt alle Macht. Durch die ihm zuerkannte Autorität ist er in der Lage, „alle Bürger zum Frieden und zu gegenseitiger Hilfe gegen auswärtige Feinde zu zwingen.“ Er herrscht mit uneingeschränkter Gewalt, der sich alle zu unterwerfen haben. Der moderne, neuzeitliche Staat wird demnach zuallererst durch seine Sicherungsfunktion legitimiert.10 Er ist, in den Worten von Theodor Heuss, der „Domestizierer“ und „Befrieder“ des Menschen.11 Er stellt Regeln auf, die das friedliche Zusammenleben der Menschen garantieren sollen und sieht Sanktionen für den Regelbrecher vor. Er schützt das Leben und die Güter seiner Bürger und unterbindet durch seine Sicherheitsorgane die Androhung und Anwendung von privater Gewalt. Mit Recht wurde daher die Sorge für den inneren Frieden als „primäre Staatsaufgabe“ 12 bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht spricht vom „fundamentalen Staatszweck der Sicherheit“ 13, der Verfassungsrechtler Josef Isensee gar von einem „Grundrecht auf Sicherheit“ 14. Seitens der Vergleichenden Politikwissenschaft wurde der empirische Nachweis erbracht, dass Staa8 Flaig, Egon: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt am Main u. New York 1992. 9 Hobbes, Thomas: Leviathan. Erster und zweiter Teil (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8348), Stuttgart 1998 (übersetzt von Jacob Peter Mayer). 10 Cremer, Wolfgang: Freiheitsgrundrechte. Funktionen und Strukturen, Tübingen 2003, S. 259. 11 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.): Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 5/1, Boppard am Rhein 1993, S. 71. 12 Eichenberger, Kurt: Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staatsaufgabe, in: Eichenberger, Kurt: Der Staat der Gegenwart, Tübingen 1980, S. 73–94. 13 BVerfG, 1 BvR 518/02 vom 4. April 2006, Absatz-Nr. 128. 14 Isensee, Josef: Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin u. New York 1983.

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ten der so genannten Dritten Welt vor allem dann von Zerfall bedroht sind, wenn sie das politische Gut innerer Sicherheit nicht oder nicht mehr gewährleisten können. Robert I. Rotberg, Autor der wichtigsten Bücher zum Problem des Staatszerfalls schreibt dazu: „There is a hierarchy of political goods. None is as critical as the supply of security“ 15. Auch nach außen hat der moderne Staat eine Sicherheitsfunktion. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts stellt Sicherheit einen „Grundbegriff“ der Außen- und Militärpolitik sowie des Völkerrechts dar.16 Der Staat sorgt für die Verteidigung gegen Angriffe anderer Staaten; er betreibt „Sicherheitspolitik“, indem er außenpolitisch agiert; Abkommen und Bündnisse zwischen Staaten sollen „kollektive Sicherheit“ gewährleisten. Je international vernetzter ein Staat ist, desto umfassender wird auch sein außenpolitisches Sicherheitsinteresse. Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck brachte diese Tatsache in einer Regierungserklärung des Jahres 2004 auf den Punkt, als er sagte: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“.17 Das Beispiel Afghanistan zeigt darüber hinaus, dass unsere Sicherheit seit einigen Jahren noch anderen Bedrohungslagen ausgesetzt ist. Der internationale Terrorismus ist zu einer großen Herausforderung für die Gefahrenabwehrfunktion des Staates geworden. Dass der Staat in erheblichem Umfang als Gewährleister innerer und äußerer Sicherheit fungiert, wird vor allem auch in den finanziellen Ausgaben sichtbar, die er in diesem Aufgabenbereich tätigt. So sieht etwa der Bundeshaushalt 2012 bei einem Gesamtvolumen von 306 Milliarden Euro Ausgaben in Höhe von 31,7 Milliarden Euro für Verteidigung und 5,5 Milliarden Euro für innere Sicherheit vor. Zusammen sind dies 12 Prozent des Budgets. Da der Schwerpunkt der Polizeiaufgaben in Deutschland bei den Bundesländern liegt, muss man deren Ausgaben für die innere Sicherheit noch hinzurechnen. Bayern zum Beispiel gibt rund 20 Prozent seines Staatshaushalts für den Bereich Innere Sicherheit aus. Im Gegensatz zu den Verteidigungsausgaben sind die Ausgaben der öffentlichen Haushalte für Innere Sicherheit, das heißt für Polizei, Ordnungsverwaltung, Gerichte und Justizvollzug, nach Angaben des Bundesamts für Statistik von 23,0 Milliarden Euro im Jahr 1992 kontinuierlich auf rund 32,4 Milliarden Euro im Jahr 2004 gestiegen.18 Man kann davon ausgehen, dass sich dieser Anstieg in den vergangenen fünf Jahren weiter fortgesetzt hat.

15 Rotberg, Robert I.: Failed States, Collapsed States, Weak States: Causes and Indicators, in: Rotberg, Robert I.: When States Fail. Causes and Consequences, Princeton 2004, S. 1–25, hier S. 3. 16 Conze, Werner: Sicherheit, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1984 (Ausgabe 2004), S. 834. 17 Struck, Peter: Regierungserklärung, Berlin, 11. März 2004. 18 Schulze-Steikow, Renate: Öffentliche Ausgaben für Äußere und Innere Sicherheit 2004, in: Wirtschaft und Statistik, 5, 2007, S. 499–505, hier S. 500.

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30

Milliarden €

25 20 Äußere Sicherheit 15 Innere Sicherheit 10 5

19 9

2 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04

0

Entwicklung der Ausgaben für Innere und Äußere Sicherheit 1992–200419

1,8 2 1,3

3,1

Verteidigung 2,4

3,3 7,8 1 0,8

Öffentliche Sicherheit und Ordnung, Rechtsschutz Schulen, Hochschulen, übriges Bildungswesen Wissenschaft, Forschung, Entwicklung außerhalb der Hochschulen Kultur, kirchliche Angelegenheiten Soziale Sicherung Gesundheit, Umwelt, Sport und Erholung Wohnungswesen, Städtebau, Raumordnung Wirtschaftsförderung

55,5 Verkehrs- und Nachrichtenwesen

Öffentliche Ausgaben in Deutschland 2008 in % 20

19 Eigene Darstellung nach: Schulze-Steikow: Öffentliche Ausgaben für Äußere und Innere Sicherheit 2004 (wie Anm. 18), S. 500. 20 Eigene Darstellung nach: Statistisches Bundesamt: Ausgaben der öffentlichen Haushalte – Ausgaben der öffentlichen Haushalte nach ausgewählten Aufgabenbereichen: URL https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Oeffentliche

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II. Der Staat als Gewährleister von Rechtssicherheit Der hobbesianische Staat kann zwar seine Bürger vor Gefahren schützen, aber er kann auch selbst zu einer Bedrohung werden. Selbst demokratische Verfassungsstaaten sind ständig in Versuchung, die Freiheit ihrer Bürger unter Berufung auf Sicherheitszwecke unangemessen einzuschränken und zu gefährden. Im Gegensatz zu Hobbes erkannte der Politiktheoretiker John Locke (1632–1704) diese Ambivalenz des Staatszwecks Sicherheit. In seinem Second Treatise of Government (1689) geht er ebenfalls davon aus, dass die Menschen durch Vertrag „politische oder bürgerliche Gesellschaften“ 21 gründen, damit ihre Freiheit, ihr Leben und ihr Eigentum gegenüber den Übergriffen anderer verteidigt werden. Da aber die größte Gefahr, die dem neu gegründeten Gemeinwesen droht, der Missbrauch der übertragenen Macht ist, schlägt Locke eine Aufteilung staatlicher Gewalt auf mehrere Träger vor. Dieser Gedanke der Gewaltenteilung wurde von Charles de Montesquieu (1689–1755) ein Jahrhundert später in seinem Werk „De l’esprit des lois“ (1748) aufgegriffen und in die bis heute vertraute Form gebracht. Legislative, Exekutive und Judikative teilen sich demnach die Staatsgewalt und kontrollieren sich gegenseitig. Während also der Staat des Thomas Hobbes Sicherheit garantiert, indem er Macht bei sich konzentriert und monopolisiert, wird bei Locke und Montesquieu die Macht des Staates zur Vermeidung von Missbrauch „eingehegt“ 22 und kontrolliert. Der Einzelne soll nicht nur vor Übergriffen durch seine Mitmenschen geschützt werden, sondern auch vor Übergriffen des Staates selbst. Durch diese Konstruktion soll der Staat selbst zum Garanten der Freiheit werden. Der Sinn des auf Rechtsschutz angelegten Zwecks des liberalen Rechtsstaats wurde bereits im 19. Jahrhundert durch den Begriff der „Rechtssicherheit“ wiedergegeben. So hieß es in Meyers Konversationslexikon des Jahres 1858: „Die rechtliche Sicherheit ist einer der großen Hauptzwecke des Staates, ja in gewisser Hinsicht sein Hauptzweck selbst. Die Rechtssicherheit in ihrem ganzen Umfange wird stets nur das Eigentum freier Staaten sein.“ 23 Diese Annahmen fanden freilich erst im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts Eingang in konkrete politische Praxis. Eine gewaltenteilige Staatsorganisation und insbesondere die Gewährleistung von Menschen- und Bürgerrechten als Abwehrrechte gegen den Staat sollen in den modernen Verfassungsstaaten das Bedürfnis des Einzelnen nach Sicherheit gegenüber staatlichen Eingriffen gewährFinanzenSteuern/OeffentlicheFinanzen /AusgabenEinnahmen /Tabellen /Ausgabenausge waehlteAufgabenbereiche.html [Zugriff am 28. Mai 2012]. 21 Locke, John: Über die Regierung, Stuttgart 1974, S. 67. 22 Gläßner, Gert-Joachim: Sicherheit in Freiheit, in: APuZ B 10–11, 2002, S. 2–13, hier S. 7. 23 Meyer, Hermann Julius (Hrsg.): Neues Conversations-Lexikon für alle Stände, Band 38, Hildburghausen 1858, S. 1279, Art. „Sicherheit“.

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leisten.24 Manifest wird dies zum Beispiel in der Festschreibung der Gewaltenteilung und des Rechtsstaatsprinzips in Art. 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Institutionell gewährleistet werden soll die Staatsaufgabe Rechtssicherheit in erster Linie durch die Gerichte. In Deutschland existiert eine breit ausgebaute Gerichtsorganisation mit dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an der Spitze. Dazu kommen der Bundesgerichtshof in Karlsruhe und vier weitere oberste Gerichtshöfe des Bundes: das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, der Bundesfinanzhof in München, das Bundesarbeitsgericht in Erfurt und das Bundessozialgericht in Kassel. In den Ländern sind entsprechend dem Gerichtsverfassungsgesetz zahlreiche Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte eingerichtet. Allein in Bayern gibt es 93 Amts- und Landgerichte sowie drei Oberlandesgerichte und einen Verfassungsgerichtshof. Alle diese Gerichte sollen Rechtssicherheit garantieren, und sie tun es, jedenfalls quantitativ, in einem erheblichen Umfang. Die Justizgeschäftsstatistik offenbart, dass in fast allen Gerichtszweigen in den vergangenen Jahren eine stetige Zunahme der Verfahrenseingänge zu beobachten war. Blicken wir allein auf das Bundesverfassungsgericht, dann wird die steigende Zahl der Verfahrenseingänge in jeder Jahresstatistik aufs Neue eindrucksvoll erkennbar.

19 5 19 1 53 19 5 19 5 57 19 5 19 9 6 19 1 63 19 6 19 5 6 19 7 69 19 7 19 1 7 19 3 7 19 5 7 19 7 7 19 9 8 19 1 83 19 8 19 5 87 19 8 19 9 9 19 1 9 19 3 9 19 5 9 19 7 9 20 9 0 20 1 03 20 0 20 5 07 20 09

7.000 6.500 6.000 5.500 5.000 4.500 4.000 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0

Verfahrenseingänge beim Bundesverfassungsgericht 1951–201025 24 Gläßner: Sicherheit in Freiheit (wie Anm. 22), S. 3; auch Denninger, Erhard: Sicherheit – Vielfalt – Solidarität: Ethisierung der Verfassung?, in: Preuß, Ulrich K. (Hrsg.): Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 95–132, hier S. 115. 25 Eigene Darstellung nach: Bundesverfassungsgericht: URL: http://www.bundes verfassungsgericht.de/organisation/gb2010/A-I-2.html [Zugriff am 28. Mai 2012].

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Über 90 Prozent dieser Verfahren sind Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger. Auch die für Strafsachen zuständigen Senate des BGH und die bayerischen Gerichte verzeichnen einen ähnlichen Trend. 3.300 3.200

Zahl der Verfahren

3.100 3.000 2.900 2.800 2.700 2.600 2.500

20 11

20 10

09 20

08 20

07 20

06 20

05 20

04 20

03 20

20

02

2.400

Verfahrensneueingänge (Strafsachen) beim Bundesgerichtshof 2002–2011 26

III. Der Staat als Gewährleister sozialer Sicherheit Mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung entstand eine neue Gefährdungslage. Nun galt es, der Furcht der Menschen vor den wirtschaftlichen und sozialen Risiken des Lebens zu begegnen. Der moderne Staat nahm auch dieses Verlangen nach Sicherheit auf: Er wandelte sich zum Sozialstaat. Die Ursachen und Motive für den Beginn sozialpolitischer Aktivitäten durch den Staat waren vielfältig. Die Modernisierung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht nur zur politischen und ökonomischen Emanzipation vor allem bürgerlicher Bevölkerungsschichten geführt. Mit dem Untergang der alten ständischen Ordnung gingen auch traditionelle Fürsorgestrukturen verloren wie die Großfamilie, das Zunftwesen oder die Bindung an den Gutsherrn. Das machte Risiken wie Alter, Krankheit, Unfall oder Behinderung zu einer unmittelbaren Existenzbedrohung. Zugleich brachte der ökonomische und gesellschaftliche Transformationsprozess neue soziale Probleme in 26 Eigene Darstellung nach Bundesgerichtshof: Übersicht über den Geschäftsgang bei den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs im Jahre 2011. Jahresstatistik, S. 16: URL: http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/DerBGH/StatistikStraf/ jahresstatistikStrafsenate2011.pdf?__blob=publicationFile [Zugriff am 28. Mai 2012].

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Form von Massenarbeitslosigkeit, Massenarmut, miserablen Arbeitsbedingungen und extremer Wohnungsnot. Die Politisierung dieser sozialen Probleme und die Mobilisierung der Arbeiter in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien führten zu einer Sensibilisierung der politischen Eliten. Als erstes Land reagierte das Deutsche Reich unter Reichskanzler Bismarck auf die neuen Bedingungen, indem es in rascher Folge Pflichtversicherungen gegen Krankheit (1883), industrielle Unfälle (1884) sowie Invalidität und Alter (1889) errichtete. In anderen Ländern Europas fasste der moderne Sozialstaat nur wenig später Fuß. Die Einführung der sozialen Sicherungssysteme folgte meist einem bestimmten Rhythmus: Zunächst wurde die Unfallversicherung errichtet, anschließend der Schutz gegen Risiken des Alters, der Krankheit und Invalidität, sodann mit erheblicher Zeitverzögerung die Arbeitslosenversicherung und mit meist noch größerem Abstand die Sozialpolitik für Familien. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam in einigen Ländern der Aufbau einer Pflegeversicherung hinzu.27 Zu den Nachzüglern der Sozialpolitik zählten die USA. Die Amerikaner entschlossen sich erst in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre mit der Politik des „New Deal“ zu ersten Ansätzen des Aufbaus von sozialen Sicherungssystemen auf nationaler Ebene. Präsident Franklin D. Roosevelt verwendete im Jahr 1934 in einer Botschaft an den amerikanischen Kongress erstmals die Formel von der „Social Security“: „These three great objectives – the security of the home, the security of livelihood, and the security of social insurance – are, it seems to me, a minimum of the promise that we can offer to the American people“.28 Dieser ursprünglich rein US-amerikanische Begriff der „Sozialen Sicherheit“ setzte sich vom Ende der 1930er-Jahre an auch international sehr schnell durch. Roosevelt hatte mit der Politik der sozialen Sicherheit großen Erfolg – nicht nur bei der Bekämpfung der sozialen Not, sondern auch politisch. Seine Sozialpolitik machte ihn so populär, dass ihn das amerikanische Volk insgesamt vier Mal in das Präsidentenamt wählte. Schon damals zeichnete sich ab, dass das Thema soziale Sicherheit in den Demokratien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem politischen Argument werden würde: Mit dem Versprechen sozialer Sicherheit waren Wahlen zu gewinnen.

27 Zur Entwicklung des Sozialstaats Kaufmann, Franz-Xaver: Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 2003; zur Typologie moderner Sozialstaaten die einflussreiche Arbeit von Esping-Andersen, Gösta: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990. 28 Roosevelt, Franklin D.: Message to Congress Reviewing the Broad Objectives and Accomplishments of the Administration, June 8, 1934.

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Schon aus diesem Grund hatte der Sozialstaat in den westlichen Demokratien eine gleichsam automatische Expansionstendenz. Die staatliche Sozialpolitik, die im 19. Jahrhundert als eng begrenzte Arbeiter- und Armenpolitik begonnen hatte, differenzierte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts in zahlreiche Teilbereiche. Im Ergebnis entstand ein weit ausgreifendes System der sozialen Sicherung, das nicht erst bei existenzbedrohenden Notlagen eingreift, sondern Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen umfassend sichert.29 Die quantitative Sozialausgabenforschung hat dies auch empirisch bestätigt. Der Anteil der Sozialausgaben am BIP ist in allen westlichen Demokratien seit Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen.

19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02 20 04 20 06 20 08

750 700 650 600 550 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0

Entwicklung der Sozialausgaben in Deutschland in Milliarden30

Waren es in Deutschland im Jahr 1960 noch rund 20 Prozent, so liegt die Sozialleistungsquote aktuell bei über 30 Prozent des BIP. Im Jahr 2008 erfolgten 70 Prozent der Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden im Bereich der sozialen Sicherheit. Erst seit Mitte der 1970er-Jahre begannen Politik und Wissenschaft sich mit den Grenzen des Sozialstaats zu beschäftigen. Lang anhaltende Arbeitslosigkeit, geringere Wachstumsraten der Wirtschaft, Finanzierungsprobleme in den Sozialversicherungen, hohe Staatsverschuldung sowie hohe Belastungen von Wirtschaft 29 Bäcker, Gerhard/Naegele, Gerhard/Bispinck, Reinhard/Hofemann, Klaus/Neubauer, Jennifer: Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Wiesbaden 20003, S. 35. 30 Eigene Darstellung nach: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Sozialbudget 2010, S. 7.

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und Arbeitnehmern durch Steuern und Beiträge führten zu einem Ende der Expansionsphase und zum Beginn einer Stagnations- oder sogar partiellen Kürzungsphase. Dies lässt sich freilich weniger an den Sozialausgaben messen – diese Werte blieben fast unverändert –, sondern, wie Allan/Scruggs und Korpi/ Palme nachweisen konnten, eher an Leistungskürzungen in den Bereichen Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung.31 Sozialleistungen, die große und für den Ausgang von Wahlen relevante Bevölkerungsgruppen betreffen – wie etwa Renten – dürften hingegen auch in Zukunft ziemlich resistent gegen Kürzungen bleiben. Der amerikanische Politikwissenschaftler Paul Pierson konnte diesen Zusammenhang bereits 1996 darstellen32: Aufgrund starker Interessengruppen und der Effekte von Wahlen sind Wohlfahrtstaaten widerstandsfähig gegen Kürzungen. IV. Neue Sicherheitsaufgaben des Staates Mit dem Fortschreiten der Modernisierung können inzwischen noch weitere Entwicklungsstufen der sicherheitsorientierten staatlichen Aufgabenstellung beobachtet werden. Der moderne Staat nahm und nimmt sich neu entstandenen Sicherheitsbelangen nämlich genauso an, wie er sich den vorgelagerten elementaren Sicherheitsbedürfnissen zu widmen hat. Ich kann dies hier aus Zeitgründen nur andeuten. So geht es seit langem auch um Ressourcen- und Rohstoffsicherheit. Bereits in vormoderner Zeit hatten politische Gemeinwesen für die Versorgung ihrer Bürger mit lebenswichtigen Ressourcen gesorgt. Doch seit etwa 40 Jahren lösen die immer knapper werdenden fossilen Energieträger in denjenigen Staaten, deren Wohlstand und Lebensstil maßgeblich von ihnen abhängen, zunehmende Bedrohungsängste aus. Staaten reagieren darauf, indem sie ihre Außen- und Verteidigungspolitik verstärkt auch auf die Sicherung der Rohstoffversorgung ausweiten. Eng damit verknüpft ist die Problematik der Energiesicherheit, die sich ebenfalls zu einer bedeutenden Staatsaufgabe entwickelt hat. In den nächsten Jahren werden die Industriestaaten und erst recht die Schwellenländer trotz aller Sparziele weiterhin einen enorm hohen Energieverbrauch haben. In Deutschland besteht hier durch den Anfang 2011 beschlossenen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie besonderer Handlungsbedarf.

31 Dazu Allan, James P./Scruggs, Lyle A.: Political Partnership and Welfare State Reform in Advanced Industrial Societies, in: American Journal of Political Science, 48, Heft 3, 2004, S. 496–512. Korpi, Walter/Palme, Joachin: New politics and class politics in the context of austerity and globalization: Welfare state Regress in 18 Countries, 1975–95, in: American Political Science Review, 97, Heft 3, 2003, S. 425–446. 32 Pierson, Paul: The New Politics of the Welfare State, in: World Politics, 48, Heft 2, 1996, S. 143–170.

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Von der Frage der Energiesicherheit nicht zu trennen ist eine weitere Sicherungsaufgabe des Staates, nämlich der Umweltschutz. Im Angesicht der Furcht vor ihrer irreversiblen Zerstörung sorgt der Staat heute auch für die Erhaltung und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. In der Bundesrepublik besitzt diese Aufgabe seit 2002 sogar Verfassungsrang.33 Der technologische Fortschritt der Moderne machte schließlich auch Sicherheitsaktivitäten des Staates im Bereich der technischen Sicherheit notwendig.34 Vor allem der zunehmende Verkehr erforderte Sicherheitsvorkehrungen. Immer mehr und schneller fahrende Kraftfahrzeuge zwangen den Staat, regulierend in den Verkehr einzugreifen und für Verkehrssicherheit zu sorgen. Staatliche Vorschriften zur Beherrschung und Minimierung technischer Risiken sind heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Ob in der Luftfahrt, beim Arbeitsschutz oder im Haushalt – überall ist der Staat an der Gewährleistung von technischer Sicherheit durch die Aufstellung von technischen Standards und durch Sicherheitskontrollen aktiv beteiligt. Auch die Produktsicherheit ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Zu einem immer bedeutenderen Handlungsfeld des Staates hat sich schließlich die Informations- und Datensicherheit entwickelt. Mit dem rasanten Wachstum der Informationstechnologie ist in den vergangenen Jahren eine bis dahin unbekannte Bedrohungslage entstanden. Ein Aspekt ist die Internetkriminalität. 35 Computerviren, Trojaner und Würmer drohen die auf Computer gespeicherten Daten und Programme zu löschen, Rechner zu lähmen oder außer Betrieb zu setzen; durch Phishing täuschen Hacker eine falsche Identität vor, spionieren persönliche Daten aus und greifen auf Bankkonten zu. Aber das IT-Zeitalter kennt auch globale Bedrohungslagen. Mit den seit 2005 zunehmenden, zielgerichteten elektronischen Angriffen auf Behörden und Wirtschaftsunternehmen werden ganze Staaten bedroht. Zur Abwehr solcher Gefahren des Computerzeitalters wird Schutz ebenfalls allenthalben durch den Staat erwartet. In Deutschland wurde deshalb bereits im Jahr 1991 das „Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik“ in Bonn eingerichtet, im April 2011 zudem ein „Nationales Cyber-Abwehrzentrum“. V. Sicher – unsicher. Grenzen der Sicherheitstätigkeit des Staates Der menschliche Wunsch, sich sicher fühlen zu können, steht in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung, Entwicklung und Ausweitung des modernen Staates. Doch die dem Sicherungszweck des Staates innewohnende Dynamik hat ihre Grenzen. Diese sollen abschließend in drei Thesen angesprochen werden. 33

Art. 20a GG. Kaufmann, Franz-Xaver: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970, S. 76. 35 Thiel, Markus: Die Entgrenzung der Gefahrenabwehr, Tübingen 2011, S. 6 ff. 34

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Erstens: „Die Erweiterung der staatlichen Zweckordnungen und Zweckdimensionen darf (. . .) in keinem Fall zur Aufgabe der elementaren Sicherungszwecke führen“ 36. Mit Recht plädierte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, dafür, dass der Sicherheitszweck des Staates „nicht gegen den liberalen, staatsbegrenzenden und freiheitsverbürgenden Zweck des Rechtsstaats ausgespielt werden“ dürfe. Gerade unter dem Aspekt terroristischer Bedrohung kann diese Grenze jedoch leicht überschritten werden. Die politische und rechtliche Debatte um die so genannte Vorratsdatenspeicherung zeigt freilich, wie schwierig die konkrete Grenzziehung ist. Im Jahr 2007 hatte die damalige Große Koalition ein Gesetz verabschiedet, das Telekomunikationsfirmen verpflichtete, alle Telefon- und Internetverbindungen bis zu sieben Monate lang zu speichern. Sie sollten bei Bedarf von Sicherheitsbehörden abrufbar sein, um Terrorismus und Kinderpornographie zu bekämpfen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die deutschen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung mit Urteil vom 2. März 2010 für verfassungswidrig und nichtig. Das Urteil verpflichtete deutsche Telekommunikationsanbieter zur sofortigen Löschung der bis dahin gesammelten Daten. Zur Begründung gab das Gericht an, dass das Gesetz zur anlasslosen Speicherung umfangreicher Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste keine konkreten Maßnahmen zur Datensicherheit vorsehe und zudem die Hürden für staatliche Zugriffe auf die Daten zu niedrig seien.37 Mit diesem Urteil behielt das Karlsruher Gericht eine alte Rechtsprechungslinie bei. Es hatte zwar schon früh festgestellt: „Der Staat darf und muss terroristischen Bestrebungen (. . .) mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegentreten“ 38. Bei der Wahl der Mittel zur Erfüllung dieser Schutzpflicht ist der Staat jedoch auf diejenigen Mittel beschränkt, „deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht“ 39. Staatliche Maßnahmen zur Terrorabwehr, wie sie nach dem 11. September 2001 auch in Deutschland beschlossen wurden – etwa der Große Lauschangriff, das Luftsicherheitsgesetz, die Antiterror-Datei –, stehen deshalb stets unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Sicherheit darf nicht zu Lasten der Freiheit gehen. Zweitens: Sicherheit hat ihren Preis. Dies gilt für innere und äußere Sicherheit, aber mehr noch für soziale Sicherheit. Sicherheit kostet Geld, und mit der Ausdehnung der Sicherheitsaufgaben des Staates sind parallel auch die Ausgaben des Staates angestiegen – und zwar geradezu exponentiell. In Zeiten zurückgehender Steuereinnahmen, von Haushaltsdefiziten und Finanzkrisen können Staaten je36 Papier, Hans Jürgen: Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint, in: Die Welt, 1. Juni 2008. 37 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08. 38 BVerfG 49, 24 (56). 39 BVerfG, 1 BvR 518/02 vom 4. April 2006, Absatz-Nr. 130.

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doch nicht unendlich Ausgaben tätigen, sondern müssen über eine verantwortliche Begrenzung nachdenken. Dies ist bekanntlich eine schwierige Aufgabe: Gerade im Bereich der Verteidigung können Sparmaßnahmen schnell die Einsatzbereitschaft gefährden. Die Ausgaben für Innere Sicherheit steigen ohnehin seit Jahren. Und im Bereich der Sozialpolitik ist – wie gezeigt – zu beobachten, dass in Wohlfahrtsstaaten, die zugleich Demokratien sind, aufgrund der Effekte von Wahlen allenfalls partielle Leistungskürzungen durchzusetzen sind. Angesichts der breiten politischen Basis der bisherigen sozialstaatlichen Entwicklung erscheint ein über solche partiellen Leistungskürzungen hinausgehender Abbau sozialpolitischer Programme wenig wahrscheinlich. Alles deutet demnach darauf hin, dass wir uns Sicherheit auch in Zukunft etwas kosten lassen werden. Drittens: Totale Sicherheit gibt es nicht. Bedrohungen und Gefahren gehören eben unvermeidlich zur menschlichen Existenz. Der Soziologie Ulrich Beck hat aufgezeigt: Je moderner und komplexer Gesellschaften werden, desto größer werden die Risiken.40 Diese kann der Staat zwar möglicherweise minimieren, aber ganz beseitigen kann er sie nicht. So wie im Straßenverkehr das Nullrisiko nur zu erreichen wäre, wenn wir das Geschwindigkeitslimit auf null Kilometer reduzierten, so könnte das Risiko eines Terroranschlags letztlich nur ausgeschlossen werden, wenn der Staat jedem einzelnen Bürger einen Überwacher zuteilen würde.41 Eine solche Vorstellung ist absurd und wäre mit den Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie nicht zu vereinbaren. Darüber hinaus müssen wir immer damit rechnen, dass nach der Beseitigung von alten Bedrohungen neue Risiken entstehen können. Inzwischen ist der Kalte Krieg zu Ende und der Sozialstaat hat ein beachtliches Niveau erreicht, aber auch das 21. Jahrhundert wird trotz aller Sicherheitsanstrengungen von Unsicherheit geprägt sein. Globale Probleme wie der Klimawandel und die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus stellen neue Gefährdungslagen dar. Und auch mit materiellen Existenzängsten werden weiterhin viele Menschen konfrontiert bleiben. Gerade dieser letzte Aspekt verweist darauf, dass Sicherheit als normativer Begriff stets eine psychologisch-subjektive Dimension besitzt. Die Reichweite des Staatszwecks Sicherheit ist in den vergangenen Jahrzehnten ständig gewachsen. Dabei wurden zum Teil auch Grenzen überschritten, rechtliche ebenso wie finanzielle. Doch fühlen wir uns dadurch auch sicherer? Die Demoskopie sagt: nein. Im Juli 2011 stellte Allensbach die Frage: „Wie ist Ihr Eindruck: Leben wir heute in einer besonders unsicheren Zeit, ich meine, dass alles weniger kalkulierbar und planbar ist als früher, oder würden Sie sagen, vor 20, 30 Jahren war alles

40 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. 41 Dobelli, Rolf: Warum wir für das Nullrisiko zu viel bezahlen, in: FAZ, 7. März 2011.

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genauso unsicher?“. 44 Prozent der Befragten meinten, dass wir heute in einer besonders unsicheren Zeit leben. 18%

unentschieden / keine Angabe

38%

Besonders unsichere Zeit war vor 20, 30 Jahren genauso unsicher 44%

Gefühlte Unsicherheit42

Es wird offensichtlich immer eine Kluft geben zwischen objektiv bestimmbarer und vom Staat herstellbarer Sicherheit und der subjektiven Empfindung praktischer Unsicherheit. Wir müssen damit leben, dass hier auf Erden immer ein Rest Unsicherheit bleibt.

42

Eigene Darstellung nach: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10075 (Juli 2011).

Sektion IV: Politisch-soziale Bewegungen und Parteiengeschichte

Adolf Hitler and the 1932 Presidential Elections A Study in Nazi Strategy and Tactics Larry Eugene Jones For all of the excitement that they generated in their own time and space, the 1932 presidential elections have attracted surprisingly little in the way of serious scholarly attention.1 Not even the superbly documented Hindenburg biography by Wolfram Pyta2 deals with the 1932 presidential campaign in sufficient depth or detail, focusing upon the campaign primarily from the perspective of the Reich president without exploring the broader strategic context in which the elections took place. No less surprising is the fact that despite all that has been written about Hitler’s rise to power and the series of events that culminated in his installation as chancellor on 30 January 19333 the strategy and tactics of the Nazi party leadership in the period between the sensational Nazi victory in the 1930 Reichstag elections and the appointment of the Papen cabinet in June 1932 has received little more than scant attention in the existing body of secondary literature on the Nazi party leader. Not even the existing Hitler biographies, including 1 Exceptions to this deficit in the existing body of secondary literature on the late Weimar Republic are Berghahn, Volker R.: Die Harzburger Front und die Kandidatur Hindenburgs für die Reichspräsidentenwahlen 1932, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 13, Heft 1, 1965, pp. 64–82; and Jones, Larry Eugene: Hindenburg and the Conservative Dilemma in the 1932 Presidential Elections, in: German Studies Review, 20, Heft 2, 1997, pp. 235–259; as well as the excellent statistical study of the elections results by Falter, Jürgen W.: The Two Hindenburg Elections of 1925 and 1932. A Total Reversal of Voter Coalitions, in: Central European History, 23, Heft 2–3, 1990, pp. 225–241. See also the two articles written from the perspective of communication and mass media theory by Schmolke, Michael: Reden und Redner vor den Reichspräsidentschaftswahlen im Jahre 1932, in: Publizistik, 4, 1958, pp. 97–117; and Wilke, Jürgen/Sprott, Christian: “Hindenburg wählen, Hitler schlagen!” Wahlkampfkommunikation bei den Reichspräsidentenwahlen in der Weimarer Republik, in: Kaspar, Hanna/ Schoen, Harald/Schumann, Siegfried/Winkler, Jürgen (Hrsg.): Politik – Wissenschaft – Medien. Festschrift für Jürgen Falter zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2010, pp. 277– 306. 2 Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007, pp. 645–684. 3 The classic study on the processes that culminated in Hitler’s appointment as chancellor is still Bracher, Karl Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen im Schwarzwald 19603. For a more recent contribution to this body of literature, see Turner, Henry Ashby, Jr: Hitler’s Thirty Days to Power: January 1933, Reading, MA 1996.

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what has emerged as the standard Hitler biography by Ian Kershaw,4 have done little more than touch upon the whirlwind campaign that Hitler conducted by air in the runoff elections of 10 April as an example of how the Nazis were adapting themselves to the most modern techniques of political mobilization. As a result, the significance of the 1932 presidential elections as a discrete moment in the evolution of Hitler’s strategic objectives and the tactics by which they were to be pursued has largely escaped the attention of biographers and historians alike. At this point it is necessary to introduce the major protagonists. To be sure, Hitler was not exactly a known quantity in 1932. Let it suffice to say that when Hitler reestablished the National Socialist German Workers’ Party (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei or NSDAP) in 1925, he foreswore the putschism that had led to disaster in the beer hall fiasco of November 1923 and publicly committed himself to the pursuit of power by legal means only.5 Precisely what this was supposed to mean and the extent to which the Nazi party leader was genuinely committed to the policy of legality, however, remained unclear to Hitler’s political rivals, if not to members of his own party. Of the other major figures, there is first of all Paul von Hindenburg, the venerable hero of World War I who had been elected to the Reich presidency in 1925 and whose term would expire in early May 1932. The eighty-four-year-old Hindenburg was a monarchist and arch conservative who had performed the duties of his office in strict compliance with the Weimar Constitution but who, now in the last years of his life, sought to extend the base of the national government to include the forces on the anti-parliamentary German Right.6 Then there was Heinrich Brüning from the German Center Party (Deutsche Zentrumspartei), who had been tapped as chancellor in March 1930 and who, with Hindenburg’s full support, had undertaken a silent revision of the Weimar Constitution aimed at decoupling the exercise of executive authority from the constantly shifting vicissitudes of party political alliances in the Reichstag.7 Behind both stood the enigmatic military strategist Kurt von Schleicher, who since the spring of 1931 at the latest had searched for a formula that would extend the base of the Brüning cabinet to include the radical Right in pursuit of a strategy that would “tame” the Nazis, deprive them of the advantage they enjoyed as a radical opposition party, and trans4

Kershaw, Ian: Hitler, 1889–1936. Hubris, New York 1998, pp. 360–365. In this respect, see the account of Hitler’s meeting with the Bavarian Minister President Heinrich Held on 4 January 1925, Kershaw: Hitler (see n. 4), pp. 262–263. 6 This has been argued most forcefully in a forthcoming essay by Pyta, Wolfram: Hindenburg and the German Right, in: Jones, Larry Eugene (Hrsg.): The German Right in the Weimar Republic. Studies in the History of German Conservatism, Nationalism, and Antisemitism from 1918 to 1933, New York and Oxford 2013. 7 On Brüning see the two excellent studies by Patch, William L., Jr., Heinrich Brüning and the Dissolution of the Weimar Republic, Cambridge 1998, pp. 231–247, and Hömig, Herbert: Brüning – Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie, Paderborn 2001, pp. 486–525. 5

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form them into a responsible member of the governmental coalition.8 Then there was Alfred Hugenberg, chairman of the right-wing German National People’s Party (Deutschnationale Volkspartei or DNVP) since the fall of 1928 who sought more effective ways to bind the Nazi movement to the goals and objectives of the so-called “national opposition.” 9 And lastly there was the Stahlhelm, a conservative paramilitary veterans’ organization with several hundred thousand members headed by the diumvirate of Franz Seldte and Theodor Duesterberg.10 For all intents and purposes the story begins in the fall of 1931 when Hugenberg and the leaders of the Stahlhelm succeeded in securing Nazi participation for a major rally in the small resort town of Bad Harzburg for what they hoped would be the first step toward the transfer of governmental power into the hands of the national opposition.11 But rather than celebrate the unity of the national front in its bid for power, the Harzburg rally of 11 October 1931 revealed just how badly divided the forces of the national opposition were in their struggle for political power. On the eve of the rally Schleicher had arranged a meeting between Hitler and the Reich president in an attempt to assess the extent to which the Nazi party leader was sincere in his commitment to the policy of legality and if he and his party were prepared to accept a responsible role in a reorganized national government that included the forces of the national opposition.12 While the meeting ended inconclusively, it nevertheless had the effect of inflating Hitler’s sense of importance to the point that when the national opposition con8 The most authoritative study of Schleicher’s activities in the last years of the Weimar Republic is still Vogelsang, Thilo: Reichswehr, Staat und NSDAP. Beiträge zur Deutschen Geschichte 1930–1932, Stuttgart 1962, esp. pp. 147–156. See also Hayes, Peter G.: A “Question Mark with Epaulettes”? Kurt von Schleicher and Weimar Politics, in: Journal of Modern History, 52, Heft 1, 1980, pp. 35–65. 9 The Hugenberg biography by Leopold, John A.: Alfred Hugenberg. The Radical Nationalist Campaign against the Weimar Republic, New Haven, Ct. 1977 is badly outdated. For a valuable update on the DNVP in the last years of the Weimar Republic, see Terhalle, Maximilian: Deutschnational in Weimar. Die politische Biographie des Reichstagsabgeordneten Otto Schmidt(-Hannover) 1888–1971, Köln, Weimar and Wien 2009, pp. 293–304. 10 On the Stahlhelm the best study is still Berghahn, Volker R.: Der Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten 1918–1935, Düsseldorf 1966, esp. pp. 195–210. 11 For a brief overview, see Jones, Larry Eugene: Nationalists, Nazis, and the Assault against Weimar: Revisiting the Harzburg Rally of October 1931, in: German Studies Review, 29, Heft 3, 2006, pp. 483–494. 12 A protocol of this meeting prepared by Meissner and dated 10 October 1931 has survived in in the unpublished Nachlaß of Magnus von Eberhardt, Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg, 35. See also the account of this meeting in the unpublished memoirs of Hindenburg’s second adjutant Wedige von der Schulenburg, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Militärgeschichtliche Sammlung 1-2779, 65–68, and Levetzow to Donnersmarck, 14 October 1931, BA-MA Freiburg, NL Levetzow, 83/124–32, reprinted in Granier, Gerhard: Magnus von Levetzow. Seeoffizier, Monarchist und Wegbereiter Hitlers. Lebensweg und ausgewählte Dokumente, Boppard am Rhein 1982, pp. 307–311. See also Pyta: Hindenburg (see n. 2), pp. 235–237.

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vened in Harzburg on the following day he insulted Hugenberg and the leaders of the Stahlhelm by refusing to participate in a number of activities where he would have been required to share the podium with the more conservative members of the national opposition.13 As a result, Hugenberg and his associates were deeply embittered by Hitler’s antics at Harzburg and attributed Brüning’s survival in a parliamentary vote of no-confidence two days later to the way in which the Nazi party leader had sabotaged the unity of the national front.14 In a way, Hitler’s behavior at Harzburg was only a harbinger of what was to happen in the deliberations that preceded the presidential elections in the spring of 1932. For his own part, Hitler disclaimed any interest in the Reich presidency and insisted that it would be demeaning – “beneath his worth” was the phrase he used – for himself or any other member of his party to assume a title and office that had been created by the “criminal” revolution of 1918. The ideal solution, as the Nazi party leader confided to retired admiral Magnus von Levetzow in a private conversation in mid-November 1931, would be for Hindenburg to remain in office and give him the task of forming a new government with authorization to dissolve the Reichstag so that he and his party could proceed with the “public strangulation” of those who had betrayed Germany in its hour of need.15 All hyperbole aside, what this suggests is that Hitler had already settled on the strategy that would serve him so well in January 1933. Schleicher, on the other hand, remained committed to his goal of bringing the National Socialists into the government and arranged a meeting between Hindenburg and the NSDAP’s Hermann Göring on 11 December 1931. In September 1930 Hitler had appointed Göring as his “political deputy” (politischer Beauftragter), and it was his task to 13 On the developments at Harzburg, see Blank to Reusch, 12 October 1931, RWWA Cologne, Abt. 130, NL Reusch, 4001012024/9, as well the report by Heine, “Die Harzburger Tagung,” 12 October 1931, and the correspondence between Heine and Wagner, 14–22 October 1931, all in the unpublished Nachlass of Heinz Brauweiler, Stadtarchiv Mönchen-Gladbach, 109. On Hugenberg’s intervention with Hitler, see the aide de memoir by one of Harzburg’s principal organizers Oskar Werdemann, “Weitere Notizen über Harzburg,” 18 December 1953, in the unpublished Nachlass of Otto-Schmidt-Hannover, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Schmidt-Hannover), 78. For the Nazi perspective on these developments, see Levetzow to Donnersmarck, 14 October 1931, in the unpublished Nachlass of Magnus von Levetzow, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (hereafter cited as BA-MA Freiburg, NL Levetzow), 83/ 124–32. 14 For an indication of the bitterness that Hugenberg and his entourage felt towards Hitler for having supposedly sabotaged the unity of the national opposition and its chances of assuming power in the aftermath of the Harzburg rally, see the correspondence between Salm-Horstmar and Claß, 26–30 October 1931, in the unpublished records of the Alldeutscher Verband, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Bestand R 8048 (hereafter cited as BA Berlin, R 8048), 454/62–71, as well as the letter from Wegener to Donnersmarck, 26 December 1931, BA-MA Freiburg, NL Levetzow, 83/218–20. 15 Levetzow to Donnersmarck-Henckel, 20 November 1931, BA-MA Freiburg, NL Levetzow, 83/159–63.

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nurture closer ties between the Nazi party leadership and the different sectors of Germany’s conservative elites.16 Winning the tolerance, if not the support, of Germany’s conservative elites was an important component of Hitler’s political strategy ever since he had pledged to pursue the conquest of power by legal means and legal means only at the Leipzig trial of three junior Reichswehr officers for high treason in the fall of 1930.17 In his meeting with Hindenburg Göring immediately reassured the Reich President that his party was unequivocally committed to the principle of legality in its pursuit of power and that it would faithfully abide by the constitution in the event that it was asked to assume power. In response to Hindenburg’s query as to why the National Socialists refused to support Brüning in the Reichstag, Göring replied that he and his colleagues had high praise for the chancellor’s character and love of nation but would remain political opponents as long as Brüning could not sever his ties to the Social Democrats. Göring then volunteered that his party would welcome Hindenburg’s reelection to the Reich presidency or a long extension of his term in office but without attaching conditions to its support of his candidacy. The meeting then ended on an amiable note that could only have reassured the Reich president about the sincerity of Hitler’s pledge and the prospects of closer cooperation in the future.18 The moderate and circumspect tone that Göring adopted in his meeting with the Reich president confirmed Schleicher’s contention that the Nazi party leader was indeed sincere in his pledge to use constitutional means in his party’s quest for power.19 The meeting – and particularly Göring’s statement that the Nazis would welcome Hindenburg’s retention in office – also removed one of the most important obstacles that had thus far kept the Reich president from giving his consent to a parliamentary initiative on his behalf. In early January Hitler summoned Otto Meissner, the state secretary in the Bureau of the Reich President, to meet with him and several of his closest associates in what served as his Berlin headquarters, the Hotel Kaiserhof. Here Hitler announced that the NSDAP, DNVP, and Stahlhelm were willing to support Hindenburg as a unity candidate of the national opposition but only if the Reich president would agree to three 16 For further details, see Tyrell, Albrecht: Der Wegbereiter – Hermann Göring als politischer Beauftragter Hitlers in Berlin 1930–1932/33, in: Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf/Knütter, Hans-Helmuth/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, pp. 178–197. 17 Kershaw: Hitler (see n. 4), pp. 337–338. 18 Meissner’s memorandum of the conversation between Hindenburg and Göring, 11 December 1931, BA Koblenz, NL Pünder, 97/275–77. 19 For further evidence of Schleicher’s positive assessment of Hitler’s political intentions, see the entry in the diary of Baron Kurt von Lersner, 24 November 1931, in Lersner’s unpublished Nachlass, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Lersner), 8/148–51.

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conditions. Hindenburg would have to dispose of Brüning as chancellor, appoint a new national government that would presumably include the forces of the extreme Right, and bring about new elections not just in the Reich but also in Prussia. The newly elected Reichstag would then extend Hindenburg’s term of office by the two-thirds majority such an action would require. When Meissner responded that the Reich president had no intention of making his retention in office contingent upon the acceptance of these or any other conditions from any party or faction, the meeting ended on a decidedly strained note as Hitler threatened to run for the presidency himself should Hindenburg become a candidate of the Left.20 Anxious to spare the Reich president the unwelcome rigors of a full-fledged presidential election, Brüning and Schleicher as well as Defense Minister Wilhelm Groener met with Hitler and the DNVP’s Alfred Hugenberg on several occasions over the next four days in an attempt to enlist their support for a parliamentary initiative that would extend Hindenburg’s term of office. Although Hitler had dropped his party’s demand that Hindenburg dispose of Brüning as chancellor, he now insisted that the government officially recognize the legality of the Nazi party and end the restrictions on its members and activities throughout the country, that the Prussian Landtag elections that were set for later in the spring take place on schedule and without a postponement that would allow the coalition of Social Democrats and Center to remain in power, and lastly that the Reichstag be dissolved immediately so that a newly elected and presumably more representative parliament could approve the extension of Hindenburg’s term as Reich president. While neither of the first two conditions posed a serious problem for the government, Hindenburg remained adamantly opposed to any stipulations that the Nazis or anyone else might attach to their support for an extension to his term of office.21 Subsequent efforts by first Groener and then Schleicher to soften Hitler’s opposition to a parliamentary extension of Hindenburg’s presidency proved to no avail.22 In one last attempt to secure Hitler’s cooperation, Brüning met with the Nazi party leader late on the morning of 10 January in a conference attended also by the NSDAP’s Wilhelm Frick and Brüning’s close associate G. R. Treviranus. Although Hitler proved far more obliging than Brüning had anticipated, the Nazi party leader refused to commit himself or his party to the proposed extension of Hindenburg’s term of office, something the

20 Meissner, Otto: Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler. Der Schicksalsweg des deutschen Volkes von 1918–1945, wie ich ihn erlebte, Hamburg 1950, p. 216. 21 Memorandum by Pünder, 8 January 1932, BA Berlin, R 43 I, 583/222–23. See also the entry in Pünder’s diary, 7 January 1932, in: Vogelsang, Thilo (Hrsg.): Hermann Pünder: Politik in der Reichskanzlei. Aufzeichnungen aus den Jahren 1929 bis 1932, Stuttgart 1964, pp. 110–111. 22 Undated addendum from 13 January 1932 to Pünder’s memorandum of 8 January 1932, BA Berlin, R 43 I, 583/222–28.

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chancellor’s entourage attributed to dissension among the ranks of Hitler’s own followers.23 If those close to the chancellor saw Hitler as the soft spot in the national opposition and believed that he was more amendable to the proposed legislation than his more conservative allies,24 this rested upon a fundamental misreading of Hitler’s intentions and negotiating tactics. In point of fact, Hitler was simply playing for time and had no intention of supporting the proposed legislation in the Reichstag. As an entry in Goebbels’ diary for 8 January 1932 aptly put it: Everything is moving again. Yesterday morning with Hitler. Groener tried to persuade him to support an extension of Hindenburg’s term of office. He [Hitler] sent him on his way. But gracefully. Ostensibly to think it [Groener’s proposal] over. Used constitutional reservations as a pretext. Brüning wants a great triumph. But he will miss the mark [danebenschießen]. I strengthened Hitler in his refusal to compromise. We will remain firm.

As Goebbels continued, the disdain in which he and the Nazi party leaders held their opponents became even more clear: . . . The chief [Hitler] was with Brüning. He grovels for his life. We draw everything out. The press is down on its knees. The old man [Hindenburg] as a bargaining piece [Schacherobjekt]. He is furious with the Wilhelmstraße [the Reich chancery], which got him in this mess [ihm das eingebrockt hat]. That’s good.25

As Goebbels’ remarks clearly reveal, the Nazis had little interest in an accommodation with Brüning but hoped instead to drive a wedge between the chancellor and the Reich president. In the meantime, Brüning had opened up lines of communication with the Nationalists through the mediation of Reinhold Quaatz, a Hugenberg closest associates who enjoyed close ties to Meissner.26 To no one’s surprise, Hugenberg proved far more intractable than the Nazi party leader and 23 Ebd. For Brüning’s account of the meeting, see his Memoiren: Brüning, Heinrich: Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, pp. 504–06. 24 For example, see Westarp to Hiller von Gaertringen, 26 January 1932, in the unpublished Nachlass of Kuno Graf von Westarp, Archiv der Freiherren Hiller von Gaertringen (hereafter cited as NL Westarp, Gärtringen), II/51. 25 Entry in Goebbels’ diary, 8 January 1932, in: Fröhlich, Elke (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1, Bd. 2/II, München 2004, pp. 190–91. 26 On Quaatz’s role in the negotiations on the proposal to extend Hindenburg’s term of office, see the eleven-page memorandum by Quaatz, “Betrifft: Wahl des Reichspräsidenten durch den Reichstag,” n. d. [January 1932], in Quaatz’s unpublished Nachlass, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Quaatz), 17, reprinted in Weiß, Hermann/Hoser, Paul (Hrsg.): Die Deutschnationalen und die Zerstörung der Weimarer Republik. Aus dem Tagebuch von Reinhold Quaatz 1928–1933, Stuttgart 1989, pp. 170–173. See also the undated addendum from 13 January 1932 to Pünder’s memorandum of 8 January 1932, in the unpublished records of the Reich Chancery, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (hereafter cited as BA Berlin, R 43 I), 583/223–28. See also the entry for 7 January 1932, in: Pünder: Politik in der Reichskanzlei (see n. 21), p. 111.

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remained irrevocably opposed to any compromise with the chancellor. Hugenberg and the leaders of the Stahlhelm had agreed at a meeting in Magdeburg on 8 January that their support for a possible Hindenburg candidacy would require a fundamental change in the course and direction of the national government, a stipulation that in Hugenberg’s mind presupposed Brüning’s dismissal as chancellor.27 For his own part, Hugenberg was indignant that the government had initiated negotiations with Hitler and not with him as the presumptive head of the national opposition,28 and a meeting with the chancellor two days later the DNVP party leader launched into a full-scale attack against Brüning’s performance as chancellor and demanded, among other things, a clear timetable for the resignation of the current government. Not only did Hugenberg refuse to consider any arrangement with Brüning that might extend his tenure as Reich chancellor, but he insisted that the forces of the national opposition should give their assent to Hindenburg’s continuation in the office of the Reich president only in return for a reorganization of the national government that included Brüning’s dismissal as chancellor and the transfer of executive power into the hands of the radical Right. But all of this amounted to far more than either Hindenburg or Schleicher was prepared to accept, with the result that the government’s negotiations with the DNVP ended in deadlock.29 In the meantime, the government continued to harbor hopes that it still might be possible to drive a wedge between Hitler and his more conservative allies. These hopes, however, stood little chance of realization. In a meeting on the morning of January 9 Hitler and Hugenberg agreed that they would both reject the proposed extension of Hindenburg’s term of office if it came up for a vote in the Reichstag.30 The two party leaders met again in Hugenberg’s Berlin offices on the afternoon of 11 January, at which time they agreed not only to reject Brüning’s request for support but also to communicate this to the Reich chancellor in separate letters that were to be dispatched simultaneously.31 The first sign of a possible rift in relations between the two party leaders, however, came later 27 On the meeting with the leaders of the Stahlhelm, see the thirty-page confidential memorandum “DNVP und nationale Organisationen” that Schmidt-Hannover sent to the leaders of the DNVP district organizations in June 1932, BA Berlin, R 8048, 219/ 124–54. 28 Comments by Quaatz and Doehle from the Reich president’s personal staff to Groener, n. d. [ca. January 1932], as reported in the addendum to Pünder’s memorandum of 8 January 1932, BA Berlin, R 43 I, 583/223–28. 29 On the breakdown of negotiations between the government and the DNVP, see the memorandum on Hugenberg’s meetings with Brüning, 10 January 1932, in Hugenberg’s unpublished Nachlass, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Hugenberg), 192/10–12, as well as the undated addendum from 13 January 1932 to Pünder’s memorandum of 8 January 1932, BA Berlin, R 43 I, 583/223–28. 30 Quaatz, “Betrifft: Wahl des Reichspräsidenten durch den Reichstag”, n. d. [January 1932], BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 31 Ebd.

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that evening when a chance encounter between Hugenberg and an obviously agitated Hermann Göring produced the revelation that Hitler planned to meet with Hindenburg himself in an attempt to persuade the Reich president to publicly reprimand Brüning with a public statement affirming that he shared the national opposition’s reservations about the constitutional implications of the chancellor’s proposal to extend his term of office as Reich president by a special vote in the Reichstag. Hugenberg and his associates immediately interpreted this as evidence that the Nazi party leader sought to outflank his allies in the national opposition by initiating an action that, if successful, would have allowed the Nazis to claim credit for having driven Brüning from office.32 Despite his pique at Hitler Hugenberg agreed to postpone the release of his letter to Brüning announcing his rejection of a parliamentary extension of Hindenburg’s term of office until late the following afternoon.33 As it was, Hugenberg’s letter left little to imagination. In sharp and uncompromising language Hugenberg not only rejected the proposal to extend Hindenburg’s term as Reich president on the grounds that this would only prop up governments in the Reich and Prussia that no longer enjoyed the confidence of a majority but insisted that this maneuver was inconsistent with the principles of constitutional government. The practical effect of Hindenburg’s election by the Reichstag, Hugenberg argued, would be to provide a vote of confidence not for the person of the Reich president but for the existing national government.34 In contrast, Hitler’s letter from the following day was much more respectful in tone and simply addressed the constitutional issues that had led his party to reject the proposal to extend Hindenburg’s term of office by parliamentary initiative.35 Brüning’s associates were immediately struck by the differences in tone between the two letters, one acerbic and polemical, the other detached and factual.36 In assuming from this, however, that the Nazi party leader was somehow more favorably disposed to the proposed extension of Hindenburg’s term of office than his Nationalist counterpart, Brüning and his circle of advisors could not have been more mistaken. In point of fact, Hitler and his entourage had never had any intention of supporting Brüning’s proposal in the Reichstag. For the Nazis it was always a question of timing

32 Brosuius to Hugenberg, 16 January 1932, BA Koblenz, NL Hugenberg, 192/7–9. See also the entry in Quaatz’s diary, 12–14 January 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 33 Quaatz, “Betrifft: Wahl des Reichspräsidenten durch den Reichstag,” n. d. [January 1932], BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 34 Hugenberg to Brüning, 11 January 1932, in the unpublished Nachlass of Hermann Pünder, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Pünder), 97/266–67, also in BA Koblenz, NL Hugenberg, 36/37–38, reprinted in: Unsere Partei, 15 January 1932. 35 Hitler to Brüning, 12 January 1932, BA Koblenz, NL Pünder, 87/265. 36 Undated addendum from 13 January 1932 to Pünder’s memorandum of 8 January 1932, BA Berlin, R 43 I, 583/223–28.

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and how to extract maximum propaganda advantage from their rejection, but never the rejection itself, that were in question. Nowhere was the cynicism with which the Nazi leadership approached the presidential elections more candidly revealed than in the following entry in Goebbels’ diary for 11 January. On Saturday morning he [Hitler] had a conversation with Brüning. Very cool. Br[üning] has never shown much skill as a tactican. [He] wants to turn the presidency into a bargaining tool. If we go along, we will be declared legal. The chief and [Wilhelm] Frick stood up and left. Br[üning] wanted to repair the damage [revozieren], but it was too late. Now everybody is running around like startled mice [aufgescheuchten Mäuse]. Br[üning’s] office is at stake. The old man [Hindenburg] is furious. His family wants him to hang on – for the sake of the money. Thousand other forces are in play, but we hold the trump cards. Meissner, Schleicher, everybody is waving in the wind that we are blowing. Hindenburg has to decide today. Perhaps Br[üning] will go, then the Reichstag will be dissolved, and we are next in line. Hitler is very optimistic, but I warn him that on the other side stand only pigs [Schweinehünde], opportunists [Geschäftemacher], Jesuits.37

What this suggests is that the Nazis were using the issue not simply to discredit the Reich chancellor but, more importantly, to assert their claim to leadership over the forces of the national opposition. The rivalry between Hitler and Hugenberg was never more intense than it was in the spring of 1932 as the two jockeyed for advantage in the struggle for leadership of the national movement.38 As Goebbels noted in his diary after Hitler’s meeting with Hugenberg earlier in the day, “He [Hugenberg] is the odd man out [spielt das fünfte Rad am Wagen]. Worn out. The reaction must be smashed to pieces.” 39 Without so much as consulting his allies in the national opposition, Hitler went ahead with his plans to send Hindenburg a eight-page long position paper, or Denkschrift, outlining his party’s constitutional objections to the proposed extension of his term of office in the hope that the Reich president would give its arguments his public imprimatur and thus seal the fate of the Brüning cabinet.40 When the presidential palace notified Hitler on 13 January that the Reich president would not attach his signature to

37 Entry for 11 January 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, pp. 193–94. 38 This is particularly apparent in the entry in Quaatz’s diary, 14 January 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 39 Entry for 11 January 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, pp. 193–94. 40 Entry for 12 January 1932, in: ebd. pp. 194–195. For the text of Hitler’s Denkschrift, see the enclosure to Pünder’s letter to Groener, 17 January 1932, BA Koblenz, NL Pünder, 97/224–37.

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Hitler’s dispatch,41 Goebbels dutifully recorded this as a defeat for the movement and a victory, though perhaps the last, for the “Jesuit” in the Reich chancery.42 Two days later Hitler gave vent to the frustration and anger he felt over this turn of events in an open letter to the Reich chancellor in which he not only spelled out all of the constitutional objections to a parliamentary extension of Hindenburg’s term of office but attacked Brüning personally for having subscribed to a policy of illusions that only propped up a political system that had led to ruin at home and weakness abroad.43 Hitler’s broadside and the acrimony that followed torpedoed the last hopes of a compromise between the government and the national opposition in the search for a parliamentary extension of Hindenburg’s term of office. Tortured as they were, the negotiations over whether or not Hindenburg’s term of office should be extended by a special vote in the Reichstag not only exposed the cracks that existed within the ranks of the national opposition but further strained relations between Hindenburg and his chancellor. At eighty-four, Hindenburg had no desire to subject himself to the rigors of a full-scale election campaign and had hoped that he would be able to avoid running for office through a parliamentary maneuver that would make an election unnecessary. In this respect Hindenburg had trusted the counsel of his chancellor, and now he blamed Brüning both for his failure to deliver on what the Reich president had assumed was a foregone conclusion.44 Irritated by Brüning’s failure to secure an extension of his term of office by a special vote in the Reichstag, Hindenburg continued to make his willingness to stand for reelection contingent upon the support of at least some of those who belonged to the national opposition.45 Once it became clear that neither the DNVP nor the NSDAP was likely to support Hindenburg’s bid for reelection, attention now shifted to Germany’s paramilitary Right and to two organizations in particular, the Stahlhelm and the German Reich Warriors’ Kyffhäuser League (Deutscher Reichskriegerbund Kyffhäuser). What followed was a series of three-sided negotiations in the first half of February 1932 between the government – represented in this case by Brüning, 41 Communiqué from the office of the Reich presidency, 12 January 1932, BA Koblenz, NL Pünder, 97/264. 42 Entry for 13 January 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, p. 195. 43 See the correspondence between Hitler and Brüning, 15–25 January 1932, in: [Adolf Hitler]: Hitlers Auseinandersetzung mit Brüning, Kampfschrift, Broschürenreihe der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP, München 1932, pp. 73–94. 44 Westarp to Hiller von Gaetringen, 14 January 1932, NL Westarp, Gärtringen, II/ 51. See also the report of Meissner’s remarks in a conversation with Quaatz, 11 January 1932, in: Quaatz, “Betrifft: Wahl des Reichspräsidenten durch den Reichstag,” n. d. [January 1932], BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 45 Hindenburg to Brüning, 28 January 1932, reprinted in: Brüning: Memoiren (see n. 23), pp. 518–519.

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Schleicher, Groener, and Meissner – Hitler and the Nazi party leadership with Hermann Göring frequently filling in for Hitler, and the leaders of the two veterans’ organizations, Seldte and Duesterberg for the Stahlhelm and retired artillery general Rudolf von Horn for the Kyffhäuser League.46 For Hitler and the Nazi party leadership two questions were of paramount importance. First, would they be able to leverage promises of support for Hindenburg into a decisive hand in the formation of a new government, a government in which they would hold absolute power? And second, how would they respond to efforts by Hugenberg to restore the unity of the Harzburg Front by nominating a single candidate to oppose Hindenburg’s bid for reelection if negotiations with the government remained deadlocked? In light of the fact that Hindenburg, Brüning, and Schleicher remained strongly opposed to granting the concessions that would have made it possible for the Nazis to support the Reich president’s bid for reelection, Hitler and the Nazi party leadership addressed the question of what they hoped to accomplish in the upcoming presidential campaign at a meeting with party officials in early February 1932. The notes that the NSDAP’s Reich propaganda leader Joseph Goebbels scribbled in his diary later that night are particularly revealing: . . . [Hitler] explained the entire situation. With fabulous logic. Everything comes together. Brüning must be checkmated. The severity of the situation is clear to us. It is a matter of our future and that of the nation. Hindenburg must be beaten down [niedergeboxt werden]. He must get rid of Brüning and then Groener. Then he will get the boot. The DNVP and Stahlhelm will be held at bay. Our candidate will come in only at the last moment. In case of danger Hitler in the first round. Otherwise only in the second. Complete unanimity . . .47

What this reveals is that from the very beginning Hitler himself was contemplating a run for the Reich presidency. For Hitler and his associates it was first and foremost a matter of timing. All the Nazis had to do was to wait for Hindenburg to announce his candidacy and then for the Social Democrats and Center, as the parties most closely identified with the hated Weimar system, to declare their support for the aging Reich president so that then Hitler could present himself as the candidate around whom all of those who had been victimized by the corruption, ineffectiveness, and mismanagement of the existing governmental system

46 For the most detailed account of these negotiations, see the position paper drafted by Horn, “Kyffhäuserbund und Stahlhelm in der Reichspräsidenten-Frage,” n. d. [February 1932], in the NSDAP Hauptarchiv, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Bestand NS 26 (hereafter cited as BA Berlin, NS 26), 930. For further details, see Führer, Karl: Der Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser 1930–1934. Politik, Ideologie und Funktion eines “unpolitischen Verbandes”, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 36, Heft 2, 1984, pp. 57–76, here pp. 63–65, and Berghahn: Harzburger Front (see n. 1), pp. 70–81. 47 Entry for 3 February 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, pp. 209–210.

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could unite.48 In the meantime, the Nazis would play for time by tossing out the names of a number of individuals whom they would be willing to support as a unity candidate of the national opposition, candidates like Franz von Epp, a decorated veteran of the Great War who had served the NDSAP in a number of different capacities before and after joining the party in 1928.49 But all of this was little more than a disingenuous ploy to disguise their real intentions, the nomination of Adolf Hitler. Admittedly, this was fraught with great risk for Hitler and his party. For not only was Hitler uneasy at the prospect of taking on the venerated hero of Tannenberg in a head-to-head contest for the Reich presidency,50 but if Hitler were to declare himself as a candidate and then go down to defeat, it was possible that his movement would lose all of the momentum it had built up since its victory in the 1930 Reichstag elections and that Hitler would fall behind the DNVP and Stahlhelm in his bid for the leadership of the national opposition. In light of what was at stake, defeat was not an option. It is not the purpose of this essay to reconstruct the negotiations between 6 February when Schleicher resumed his efforts to reach an accommodation with the forces of the national opposition and Goebbels’ announcement of Hitler’s candidacy in the Berliner Sportpalast on the evening of 22 February. Let it suffice to say that the idea of a Hitler candidacy met with little enthusiasm from Hugenberg and the Stahlhem when Göring first floated it on 13 February.51 When it became clear that neither Hugenberg nor the Stahlhelm was likely to support a Hitler candidacy, Göring insisted that the NSDAP reserved the right to nominate its own candidate and even suggested that it might be best if each of the three pillars of the national opposition – the DNVP, Stahlhelm, and NSDAP – fielded its own candidate on the grounds that this would not only produce a much larger anti-Hindenburg vote than a single candidate but would also give the three pillars of the national opposition an opportunity to assess their strength vis-à-vis each other.52 Hugenberg would make one more last-ditch effort to dissuade the Nazis from fielding their own candidate in a face-to-face meeting with Hitler on 48

Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, pp. 209–210. [Wagner], “Beurteilung der Lage zur Reichspräsidentenwahl”, n. d. [January 1932], in the unpublished records of the Stahlhelm, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Bestand R 72 (hereafter cited as BA Berlin, R 72), 295/25–40. 50 Entries for 21–22 February 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, pp. 223–224. 51 Entry in Quaatz’s diary, 13 February 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. See also Wagner’s handwritten notes, 13 February 1932, BA Berlin, R 72, 296/134–35a, as well as his account of the meeting in Stahlhelm, Rundschreiben no. 44, 24 February 1932, in the unpublished records of the Bavarian Stahlhelm, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Munich, Abteilung IV (hereafter cited as BHStA Munich, Abt. IV, Stahlhelm), 78/III. 52 Stahlhelm, Führer-Briefe. Politik – Wirtschaft – Technik, 19 February 1932, BHStA Munich, Abt. IV, Stahlhelm, 137. See also Gilsa to Reusch, 22 February 1932, in the unpublished Nachlass of Paul Reusch, Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Cologne, Abteilung 130, 400101290/4b. 49

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the afternoon of 20 February, that is, five days after Hindenburg had announced his candidacy and after the DNVP and Stahlhelm had agreed to unite behind Duesterberg if the Nazis stuck by their plan to run a candidate of their own.53 But Hitler remained adamant that the NSDAP would nominate a candidate of its own for the upcoming presidential election and that its support for any other candidate whom the non-Nazi elements of the national opposition might propose was out of the question.54 Hitler’s rebuff came as no surprise to the embittered Hugenberg, who felt betrayed by the Nazi party leader and what he perceived as Hitler’s deliberate sabotage of Harzburg unity.55 Hugenberg and the leaders of the Stahlhelm were thus left with no alternative but to proceed with the nomination of Duesterberg but withheld making this official until Hitler’s candidacy had been announced.56 Two days later Nazi propaganda leader Joseph Goebbels proclaimed Hitler’s candidacy at a rally filled to overflowing in Berlin’s Sportpalast. Goebbels used the occasion not only to present a blistering indictment of the last thirteen years of German martyrdom but also to remind his audience that the Hindenburg who had signed the Young Plan was not the Hindenburg of Tannenberg, that the Hindenburg who now governed in league with Brüning and the Social Democrats was not the Hindenburg for whom they had voted in 1925. At the same time, Goebbels used unabashedly messianic tones to portray Hitler as the candidate who had risen from the anonymity of the trenches of the Great War to assume leadership of the greatest people’s movement in the history of the German nation in its struggle for freedom and dignity.57 Goebbels resumed his attack from the 53 On the arrangements between the DNVP and Stahlhelm, see Hugenberg to Wagner, 16 February 1932, BA Berlin, R 72, 296/137, as well as the agreement bearing the signatures of Hugenberg, Seldte, Duesterberg, 18 February 1932, BA Koblenz, NL Schmidt-Hannover, 29. On the negotiations themselves, see the entry in Quaatz’s diary, 18 February 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 54 Wagner, circular no. 44, 24 February 1932, BHStA Munich, Abt. IV, Stahlhelm, 78/II. See also Seldte and Duesterberg to Hugenberg, 24 February 1932, BA Berlin, R 72, 26/167, and Wagner to Wächter, 24 February 1932, ebd., 295/108–09, as well as the circular from Schmidt-Hannover to the leaders of the DNVP’s parliamentary delegations and regional organizations, 24 February 1932, in the unpublished Nachlass of Luitpold von Weilnböck, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Weilnböck), 38b. For Hitler’s reaction to Hugenberg’s proposal, see the entry in Goebbels’ diary, 22 February 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, p. 224. 55 For an indication of the bitterness that Hugenberg felt towards Hitler, see his letter to the Nazi party leader, 20 March 1932, BA Koblenz, NL Hugenberg, 37/38–47, published in: Eiserne Blätter, 22 May 1932, pp. 241–46. 56 In this respect, see the account in Duesterberg’s unpublished memoirs in the Nachlass of Theodor Duesterberg, Bundesarchiv Koblenz (hereafter cited as BA Koblenz, NL Duesterberg), 47/171. 57 Goebbels, Joseph: Schluß jetzt! Das Deutsche Volk wählt Hitler. Rede im Berliner Sportpalast am 22. Februar 1932, in: Kampfschrift, Broschürenreihe der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP, no. 8, München 1932, pp. 19–21, 24–26.

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floor of the Reichstag the following day. Here Goebbels showed no scruple about drawing the president’s name into the debate and lashed out against Hindenburg for having betrayed the very voters who had put him in office in 1925 by accepting the support of the Social Democrats and those who defended the existing political system. Then, with particular vehemence, Goebbels challenged Hindenburg with words that stung the aging Reich president to the very core: “We National Socialists have a saying which has never failed to prove true. Tell me who praises you, and I tell you who you are! Praised by the asphalt press, praised by the party of the deserters . . .” Before Goebbels could finish his sentence, he was censured by the chair and banned from the proceedings for the remainder of the day.58 Hitler opened the campaign for the Reich presidency with an open letter to Hindenburg on 28 February 1932 in which he took issue with the allegedly unfair charges that the Social Democrats had leveled against the Nazi party leader a day earlier in their declaration of support for Hindenburg’s candidacy.59 This was a clear attempt to embarrass the Reich president and his more conservative supporters for having accepted the support of the Social Democrats, one of the parties that had opposed his election in 1925 but now embraced his candidacy as the last reliable bulwark against the rising tide of German fascism.60 In the ensuing campaign the Nazis wasted little time on attacks against the Social Democrats or Communists but concentrated instead on Duesterberg, the candidate of the DNVP and Stahlhelm. Duesterberg, who had tried to portray himself as a Volksführer who transcended the various cleavages within the national opposition was thus preeminently qualified to lead the nation in the final and decisive stage of its struggle for the restoration its political and military sovereignty,61 was immediately dismissed as “the candidate of national disunity” who had no chance of being elected and whose only purpose was to siphon votes away from Hitler, the candidate around whom what Goebbels called “the national Germany” should unite.62 In his own speeches Hitler was careful in his references to 58 The full text of Goebbels’ speech can be found in Heiber, Helmut (Hrsg.): Goebbels-Reden, 2 vols., Düsseldorf 1971–1972, here vol. 1, pp. 4–21. 59 Hitler to Hindenburg, 28 February 1932, reprinted in: Institut für Zeitgeschichte (München) (Hrsg.): Adolf Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, 5 volumes in 12 parts, München, London, New York and Paris, 1992–1998, here V/3, pp. 145–150. 60 For the SPD’s declaration of support, see “Schlagt Hitler!”, in: Vorwärts, 27 February 1932, quoted at length in Winkler, Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin and Bonn 1987, pp. 512–513. 61 “Warum Duesterberg?”, n. d. [February–March 1932], Stahlhelm-Flugblatt, no. 2, BA Koblenz, NL Weilnböck, 38b. See also Seldte, “Parole Duesterberg!,” Der Stahlhelm, 28 February 1932, no. 8. 62 Goebbels, Rundschreiben der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP an alle Gauund Gaupropaganda-Leitungen, 25 February 1932, BA Berlin, NS 26, 287.

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Hindenburg or in challenging the historic stature of who had served Germany so nobly during the Great War. Speaking in Munich in one of his earliest campaign speeches, Hitler declared: “The general field marshal of the World War I revere; the Reich president von Hindenburg I do not judge; the candidate for the future I reject.” 63 Repeatedly evoking his own pedigree as one who had been transformed by his baptism of fire in the trenches of World War I and who had built out of seven men the greatest mass movement in the history of the German people,64 Hitler asked who was better suited to rescue the German nation from the thirteen years of misery and humiliation it had suffered at the hands of the existing political system: he who had allowed his name and reputation to be used to prop up the existing political system or he who personified the spirit of Germany’s rebirth.65 Nowhere was the moral bankruptcy of Hindenburg’s claim to leadership more apparent, as Hitler and the Nazis never ceased to remind the German public with imagery than was often explicitly antisemitic,66 than in the support he received from the Social Democrats in what was a last, desperate attempt to salvage the system to which they and the criminals of November 1918 had given birth.67 Hitler, Goebbels, and the leaders of the Nazi movement entered the campaign with every expectation of defeating Hindenburg and remained euphoric about their prospects of electing Hitler right up until the first round of voting on 13 March.68 From the beginning to end, the Nazis waged a thoroughly modern and highly centralized campaign that relied upon the most sophisticated political organization in all of Germany to carry their message to all corners of the Third Reich,69 and there was good reason to believe that in the final analysis Hitler 63 Text of Hitler’s speech at a Nazi party rally in Hamburg, 1 March 1932, reprinted in: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen (see n. 59), IV/3, pp. 153–164, the quote from p. 161. 64 This was a recurrent theme in many of Hitler’s campaign speeches in both the first and second rounds of voting. For example, see the text of Hitler’s speeches in Bad Blankenburg, 5 March 1932, and Nuremberg, 7 March 1932, in: ebd. pp. 183 and 192. 65 For example, see the text of Hitler’s speech in Breslau, 3 March 1932, in: ebd. 169–170. 66 Handbills circulated by the NSDAP Reich Propaganda Leadership, particularly one depicting Jews spitting upon the wounded war veteran Hitler and another bearing the title “Auch ein Hindenburg-Wähler,” are to be found in BA Berlin, NS 26, 287. 67 In this respect, see the text of Hitler’s speeches in Hamburg, 1 March 1932, and Bad Blankenburg, 5 March 1932, in: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen (see n. 59), IV/3, pp. 157 and 180–182. 68 Entry for 13 March 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 3/II, pp. 240–241. 69 On the national coordination of the Hitler campaign with particular emphasis on the role of the NSDAP Reich Propaganda Leadership (Reichspropagandaleitung der NSDAP), see Mühlberger, Detlev: Central Control versus Regional Autonomy: A Case Study of Nazi Propaganda in Westphalia, 1925–1932, in: Childers, Thomas (ed.): The Formation of the Nazi Constituency, 1919–1933, Totowa, NJ 1986, pp. 64–103, esp. pp. 86–91, as well as two older studies by Orlow, Dietrich: The History of the Nazi

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would prevail over his more poorly organized and badly divided opponents. But the Nazi expectations of a clear and decisive victory were rudely dashed by the verdict at the polls. For although Hindenburg had been denied the majority he needed to be elected without the runoff election that had been set for 10 April, Hitler received less than a third of the total popular vote and trailed Hindenburg’s tally by nearly twenty percentage points. Hindenburg received over 18 million votes – or 49.6 percent of the popular vote and just 200,000 votes short of an absolute majority – while Hitler, despite Goebbels’ enthusiastic prognostications, received slightly more than 13.3 million votes. Duesterberg, on the other hand, received approximately 2.56 million votes – or 6.8 percent of the total popular vote – and Ernst Thälmann, the Communist Party candidate, received 13.2 percent of the popular vote with only a few less than five million votes cast on his behalf.70 A close examination of the election results reveals that the Reich president received the overwhelming bulk of his support from constituencies that had opposed his election in 1925, while approximately half of the 14.7 million Germans who had voted for him in 1925 voted for Hitler in 1932. Assuming that the vast majority of the 2.5 million voters who voted for Duesterberg had supported Hindenburg in 1925, this meant that the Reich president had retained the support of less than a third of those who had voted for him seven years earlier.71 Outside of Bavaria where Hindenburg had received endorsements from the locally influential Bavarian People’s Party (Bayerische Volkspartei or BVP) in both the 1925 and 1932 elections, this figure plummeted to less than 30 percent if one assumes that most of the 600,000 loyalists who supported Hindenburg in 1925 did so again in 1932.72 Given the fact that the Social Democrats, the two Catholic parties, and the German State Party (Deutsche Staatspartei) had polled slightly more than 15 million votes in the 1930 Reichstag elections, at least 3.5 million of Hindenburg’s more than 18 million votes must have come from those who were either voting for the first time or who had voted for one of the parties on the moderate Right in 1930. At the same time, the fact that the parties of the middle and moderate Right that were affiliated with the United Hindenburg Committees (Vereinigte Hindenburg-Ausschüsse) in the 1932 presidential elections had polled Party, 1919–1933, Pittsburgh, PA 1969, pp. 248–49, and Horn, Wolfgang: Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP, Düsseldorf 1972, pp. 340–353. The extraordinary efficiency of the Nazi campaign has been underscored in the regional study by Noakes, Jeremy: The Nazi Party in Lower Saxony, 1921–1933, Oxford 1971, pp. 210– 215. 70 Milatz, Alfred: Das Ende der Parteien im Spiegel der Wahlen 1930 bis 1933, in: Matthias, Erich/Morsey, Rudolf (Hrsg.): Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, pp. 741–793, here pp. 761–766. 71 See Falter: Two Hindenburg Elections (see n. 1), p. 236. 72 For further details, see Schönhoven, Klaus: Die Bayerische Volkspartei 1924– 1932, Düsseldorf 1972, pp. 125–126 and 270.

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nearly 5.5 million votes in the 1930 Reichstag elections suggests that Hindenburg’s conservative supporters were only partly successful in their efforts to mobilize the anti-Hugenberg Right and that at least half of those to whom they had addressed their appeal ended up for voting for one of the candidates of the national opposition. Stunned by the shock of defeat, Hitler and his supporters quickly regrouped for the runoff election that had been scheduled for the second week in April, although this time it was clear from the outset that Hindenburg’s reelection was a foregone conclusion.73 In the meantime, the dilemma in which the non-Nazi elements of the national opposition only became more difficult when Duesterberg announced that he was abandoning his bid for the Reich presidency and would not be taking part in the second round of voting. Then, after a stormy meeting of its regional and provincial leaders on 19–20 March,74 the Stahlhelm announced that it would not be playing an official role in the upcoming runoff elections and that it was terminating its alliance with the DNVP for the upcoming state elections in Prussia, Bavaria, Württemberg, and elsewhere.75 All of this placed the leaders of the DNVP, Stahlhelm, and other organizations on the radical Right in a difficult situation, for now they had to choose between supporting a Hitler from whom many had become profoundly disaffected as a result of his tactics ever since the Harzburg rally the preceding fall and a Hindenburg whom they regarded as a symbol and instrument of the political system they sought to destroy and yet to whom, particularly within the Stahlhelm, many felt a deep and abiding respect and affection. Given the impossibility of defeating Hindenburg, the DNVP’s Hugenberg proposed to the great jubilation of those in the Hindenburg campaign that the runoff election be cancelled and that Hindenburg be reappointed to office by a special vote in the Reichstag.76 Given the fact that Duesterberg had already withdrawn his candidacy, this would have spared the non-Nazi elements of the national opposition the difficult and potentially disastrous choice between Hitler and Hindenburg at a time when Hugenberg at least was already beginning to focus his party’s attention on the upcoming state elections in Prussia, Bavaria, Württemberg and several smaller German states. Hitler and the Nazi party 73 Entries for 14–16 March 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/ II, pp. 241–243. 74 For an indication of unrest at the state and provincial levels of the Stahlhelm’s national organization, see the detailed letter from Bruch to Friese, 27 March 1932, BA Berlin (formerly BA Koblenz), R 72/16. 75 Seldte and Duesterberg to Hugenberg, 20 March 1932, BA Koblenz, NL SchmidtHannover, 29. See also the memorandum on subsequent negotiations between the leaders of the Stahlhelm and DNVP, BA Berlin, R 72, 296/169–70. 76 For the rationale behind his proposal, see Hugenberg to Grimm, 30 March 1932, in the unpublished Nachlass of Hans Grimm, Deutsches Literatur-Archiv, Marburg (hereafter cited as DLA Marburg, NL Grimm), A34. For a similar proposal from the ranks of the Hindenburg campaign, see Batocki to Meissner, 14 March 1932, appended to Wilhemini to Westarp, 14 March 1932, NL Westarp, Gärtringen, VN 18.

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leadership, on the other hand, were determined to use the election as the next step in their mobilization of the German electorate and rejected Hugenberg’s proposal out of hand.77 All of this created great confusion within the ranks of the non-Nazi elements of the national opposition. Duesterberg revealed just how deep the fissures within the national opposition ran by encouraging his supporters to cast their ballots for Hindenburg in the second round of voting despite the fact Hitler enjoyed widespread support among the Stahlhelm rank-and-file.78 Hugenberg, in turn, had become so embittered by Hitler’s political tactics that he instructed his party’s faithful to sit out the run-off election despite the increasing isolation in which he found himself both inside and outside the party.79 Both organizations faced a growing mutiny among their rank-and-file on the part of those who clearly favored Hitler over the aging Reich president.80 The same was true of other organizations on the non-Nazi German Right like the Pan-German League (Alldeutscher Verband or ADV), the United Patriotic Leagues (Vereinigte Vaterländische Verbände Deutschlands or VVVD), and the National Rural League (Reichs-Landbund or RLB), all of which had urged their membership to support either Duesterberg or Hitler in the first round of voting. Now, much to Hugenberg’s great consternation,81 the Pan-German League under the leadership of his close friend and associate Heinrich Claß proceeded to endorse Hitler’s candidacy not so much out of any affection for the Nazi party leader as out of a deep-seated and unrelenting hostility toward the person of the Reich president.82 Count Rüdiger von der Goltz and the leaders VVVD, who were generally more favorably disposed to Hitler’s candidacy than the Pan-Germans,83 remained strongly op77 For Hitler’s rejection of Hugenberg’s proposal, see the entry for 18 March 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, p. 244. 78 Duesterberg, Theodor: Stahlhelm und Hitler, Wolfenbüttel and Hannover 1949, p. 34. For further information, see Berghahn: Stahlhelm (see n. 10), pp. 211–219. 79 For indications of Hugenberg’s plight, see his circular to the chairmen of the DNVP district organizations, 23 March 1932, BA Koblenz, NL Schmidt-Hannover, 39, as well as the entries in Quaatz’s diary, 23 and 25 March 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 80 Lersner, draft of a letter to Bosch, 21 March 1932, BA Koblenz, NL Lersner, 9/ 112–18. 81 For example, see the entry in Quaatz’s diary, 23 March 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. 82 For a defense of this position, see Claß to Hugenberg, 18 and 20 March 1932, BA Koblenz, NL Hugenberg, 36/88–91, as well as his remarks at a meeting of the ADV managing committee, 7 May 1932, BA Berlin, R 8048, 170/19–24. See also Ryneck: Warum können wir Hindenburg nicht wählen?, in: Deutschlands Erneuerung, 16, Heft 3, 1932, pp. 129–134. 83 For example, see Goltz to Klingspor, 11 March 1932, BA Koblenz, Zeitgeschichtliche Sammlung 1, E87. For further insight into the dilemma in which the leaders of the VVVD found themselves, see Friedrichs to Levetzow, 9 March 1932, BA-MA Freiburg, NL Levetzow, 56/55–56.

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posed to Hindenburg’s reelection and formally endorsed the Nazi party leader for the run-off election in a statement released even before the Stahlhelm had announced its position.84 For the National Rural League, on the other hand, the situation was much more complicated. For whereas Count Eberhard von Kalckreuth and the Berlin leadership of the National Rural League were quick to ally themselves with the forces of the national opposition in their determination to unseat Hindenburg,85 the RLB’s regional affiliates in Bavaria, Württemberg, and Thuringia remained bitterly opposed to Hitler’s candidacy and urged their followers to vote for Hindenburg as a bulwark against the social radicalism of Hitler and the Nazi movement.86 For the most part, however, the RLB’s regional affiliates followed the lead of the organization’s national leadership and fell in line with the appeal for Hitler’s election.87 With things tipping in their favor, the Nazis now intensified their efforts to win the vote of the so-called “national Germany,” that is those who had voted for Duesterberg in the first round of voting and who no longer had a clear candidate to support.88 In doing this, the Nazis realized from the outset that they had no chance of preventing Hindenburg’s reelection but sought instead to use the runoff elections on 10 April as a springboard for the state and regional elections that were scheduled to take place in Prussia, Bavaria, Württemberg, and several smaller German states a scant two weeks later, an election that the Nazis clearly hoped to turn to their advantage and that the leaders of Germany’s other political parties, the Communists excepted, faced with great trepidation. If the Nazis could 84 VVVD, resolution of 19 March 1932, appended to Goltz to Mackensen, 19 March 1932, in the unpublished Nachlaß of August von Mackensen, Bundesarchiv Militär-Archiv Freiburg (hereafter cited as BA-MA Freiburg, NL Mackensen), 272/9–12. For a further elaboration of Goltz’s position, see his letters to Grimm, 17 March 1932, DLA Marburg, NL Grimm, A28/1, and Mackensen, 30 March 1932, BA-MA Freiburg, NL Mackensen, 272/3. 85 In this respect, see Kalckreuth to Hugenberg, 11 January 1932, in the unpublished records of the Reichs-Landbund, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Bestand R 8034 I (hereafter cited as BA Berlin, R 8034 I), 146/1–2, as well as Kalckreuth’s report at the meeting of the RLB executive committee, 1 March 1932, ebd. pp. 24–26. 86 For an indication of the dissension among the RLB’s affiliates, see Kriegsheim to the members of the RLB executive committee, 9 April 1932, BA Berlin, R 8034 I, 146/ 68–71, as well as the minutes of the executive committee of the Bavarian Rural League (Bayerischer Landbund or BLB), 20 March 1932, in the Institut für Zeitgeschichte, Munich, BLB-Akte, 159–166. 87 In this respect, see Kalckreuth’s report at the meeting of the RLB executive committee, 22 March 1932, BA Berlin, R 8034 I, 146/43–58. For further information on the RLB and the 1932 presidential campaign, see Merkenich, Stephanie: Grüne Front gegen Weimar. Reichs-Landbund und agrarischer Lobbyismus 1918–1933, Düsseldorf 1998, pp. 300–352, esp. pp. 310–312. 88 Goebbels, Rundschreiben der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP an alle Gauund Gaupropaganda-Leitungen, 23 March 1932, BA Berlin, NS 26, 288. See also Lehmann, J. F.: Warum wählt das nationale Deutschland im zweiten Wahlgang Adolf Hitler?, in: Deutschlands Erneuerung, 10, Heft 4. April 1932, pp. 193–196.

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score a decisive victory on 24 April, this would then set the stage for their bid for control of the national government.89 Not even the last-minute candidacy of Crown Prince Wilhelm could deter the Nazis from their pursuit of power. For the Nazis the key objective remained the removal of Hindenburg from office, and toward this end Hitler intimated that he was fully prepared to withdraw from the campaign and support the Crown Prince as a candidate around which the entire German Right could unite. All of this was based upon the assumption that the Reich president would be unwilling to run against the Hohenzollern claimant to the throne and would end his bid for reelection should such an eventuality materialize. Hitler thus chose to bide his time without committing himself to step down as a candidate until he had had an opportunity to survey all of his options. But all of this would prove moot when on the early afternoon of 31 March the Crown Prince received instructions from the imperial household in Doorn to drop all plans for a run at the Reich presidency.90 With the Crown Prince’s candidacy effectively out of the way, the Nazis returned to their preparations for a campaign that would begin when an Easter moratorium on all campaign activities ended on 3 April.91 This time around the NSDAP’s attacks on Hindenburg were much more personal than they had been in the first campaign, so much so that at least one Nazi strategist expressed concern that all of this ran the risk of alienating potential Hitler supporters among the non-Nazi elements of the radical Right.92 In one pamphlet by Nazi propagandist Heinz Franke, for example, Hindenburg was denounced for having betrayed his mandate from 1925 by having become the pawn of those Catholic, Marxist, and Jewish interests that had so vigorously opposed his election seven years earlier.93 For his own part, Hitler kept his references to Hindenburg to a minimum and concentrated his fury instead against the system of government he held responsible for the misery in which the German people found itself. In his campaign 89 On the connection between the two elections in the mind of Nazi strategists, see Rosenberg, Alfred: Die Entscheidung vom 10. und 24. April. Reichspräsidentenwahl und Landespolitik, in: Nationalsozialistische Monatshefte, 3, 1932, pp. 146–161. 90 For further details, see Stribrny, Wolfgang: Der Versuch einer Kandidatur der Kronprinzen Wilhelm bei der Reichspräsidentenwahl 1932, in: Heinen, Ernst/Schoeps, Hans Julius (Hrsg.): Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen zu seinem 60. Geburtstag, Paderborn 1972, pp. 199–210, esp. pp. 205–207. For the impact of Wilhelm’s candidacy on the Hindenburg campaign, see Pyta: Hindenburg (see n. 2), pp. 673–678. 91 On the Nazi preparations for the second round of voting, see the circular cited in n. 88 as well as the directive from the NSDAP-Reichsleitung, Anordnung für die Werbeaktion der nationalsozialistischen Presse für den 2. Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl, 23 March 1932, BA Berlin, NS 26, 289. 92 Willikens to the Reichsleitung der NSDAP, 1 April 1932, in Sammlung Schumacher, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Bestand R 187, 319. 93 Franke, Heinz: Warum Hindenburg?, in: Kampfschrift, Broschürenreihe der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP, no. 7, München n. d. [1932].

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declaration of 2 April, for example, Hindenburg’s name appeared only once and then as part of a diatribe against the parties and individuals who now sought shelter behind the very man they had pilloried and rejected so disgracefully seven years before.94 As Hitler said in one of his few direct references to the Reich president in a speech later that week in Würzburg, “I do not fight against Hindenburg but against the parties that seek cover behind him.” 95 Throughout the campaign it was the system with which Hindenburg had allowed himself to become identified and not the man himself that was the target of Hitler’s invective. By the same token, Hitler was careful to steer clear of the “Jewish question” in his speeches and public pronouncements despite the fact that Nazi campaign literature was laced with a virulent antisemitism that stereotypically portrayed his opponents – and particularly the Social Democrats – as Jews or as agents of the Jewish cabal to destroy the German nation. Here the Nazis alleged that these interests, united by their fierce and unremitting hatred of Adolf Hitler, were doing their best to arouse totally unwarranted fears of what the Nazi party leader might do if he were indeed elected to the high office to which he aspired.96 The party moved quickly to counter these charges with yet another pamphlet that not only defended the character and political qualifications of the Nazi party leader against the lies and misinformation of his opponents but portrayed him as a man of selfless devotion to the German nation who alone was capable of rescuing it from the internal divisiveness and impotence that currently besieged it.97 But by far the most sensational aspect of Hitler’s campaign in the run-off election scheduled for 10 April was the first of his “Deutschlandflüge,” those celebrated flights across Germany that saw him crisscross the nation with an average of three to four speaking engagements a day in a regimen that must have been exhausting for even the most energetic of men.98 What was most important about this was not what Hitler had to say or even the fact that he was able to address more than a million Germans who otherwise would not have had an opportunity to see him but a visual image of energy and dynamism that highlighted the promise of his leadership more powerfully than words themselves could have done. In the meantime, Hindenburg’s more conservative supporters intensified their attacks against Hitler in an attempt to prevent the defection of the more moderate 94 Hitler, Mein Programm, 2 April 1932, in: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen (see n. 59), V/1, p. 14. 95 Report of Hitler’s speech in Würzburg, 6 April 1932, in: ebd. pp. 33–34. 96 For example, see Fiehler, Kurt: Wenn Hindenburg wiedergewählt wird, dann . . ., ja, was dann?, in: Kampfschrift, Broschürenreihe der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP, no. 10, München n. d. [1932]. 97 Tatsachen und Lügen um Hitler, in: Kampfschrift, Broschürenreihe der Reichspropaganda-Leitung der NSDAP, no. 9, München n. d. [1932]. 98 Kershaw: Hitler (see n. 4), p. 363.

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elements on the non-Nazi radical Right to the Hitler candidacy. In the campaign for the first round of voting on 13 March, Hindenburg’s conservative supporters had shown considerable restraint in their treatment of Hitler and never disputed – at least in public – his selfless idealism or the sincerity of his love for Germany.99 But whatever positive statements Hindenburg’s conservative supporters might have made about Hitler’s person were almost invariably tempered by sharp attacks against his party and all it purportedly stood for.100 In the campaign for the run-off elections on 10 April, however, Count Kuno von Westarp and his associates in the United Hindenburg Committees threw caution to the wind to portray Hitler as a party candidate whose anti-system rhetoric was a disingenuous ploy to disguise the fact that the NSDAP was as much a “system party” as those it was attacking.101 At the same time, they highlighted the ideological differences that separated the two candidates by contrasting Hindenburg’s deep and abiding Christian faith with the indifference, if not hostility, that Hitler and many of those in his entourage manifested toward organized religion and the claims it made upon the spiritual dimension of human life.102 This was then complemented by an equally sharp attack against the NSDAP’s social and economic program. Here the Nazis were portrayed as crypto-socialists whose crusade against Marxism was little more than a cynical ploy to disguise their antipathy toward the free enterprise system and the capitalist foundations of German economic life. As long as the NSDAP remained hostage to demands for a revolutionary reorganization of the German economic life, it could never, Hindenburg’s supporters argued, assume its proper place in the struggle for Germany’s national regeneration.103 In the final analysis, the hopes of Hindenburg’s supporters that the majority of those who had voted for Duesterberg on 13 March would support the Reich president in the run-off election four weeks later failed to materialize. For although Hindenburg was reelected by a wide margin and, with 700,000 more votes than he had received in the first ballot, saw his share of the popular vote increase from 49.6 to 53.0 percent, Hitler received over two million votes more than he 99 For example, see Reisinger, Ernst: Hindenburg und das deutsche Volk. Rede gehalten zur Reichspräsidentenwahl am 13. March 1932, München, n. d. [1932], pp. 8–9. 100 Ebd. pp. 10–11. 101 Westarp, Kuno von: Staatsoberhaupt, in: Westarp, Kuno von/Dryander, Gottfried von/Rademacher, Walther: Hindenburg und seine Wähler von 1925. Zum zweiten Wahlgang, N. p., n. d. [1932], pp. 9–12. 102 Dryander, Gottfried von: Die Reichspräsidentenwahl im Kampf der Weltanschauungen, in: Westarp, Kuno von/Dryander, Gottfried von/Rademacher, Walther: Hindenburg und seine Wähler von 1925. Zum zweiten Wahlgang, N. p., n. d. [1932], pp. 13–17. In a similar vein, see Müller (Hauptgeschäftsstelle der Hindenburg-Ausschüsse) to Mumm, 22 March 1932, in the unpublished Nachlass of Reinhard Mumm, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, 258/68. 103 Rademacher, Walther: Die wirtschaftliche Lehre des Nationalsozialismus, in: Westarp/Dryander/Rademacher: Hindenburg (see n. 101), pp. 18–22.

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had received in March and increased his share of the popular vote from 30.1 to 36.8 percent. Given the fact that defections from the Communist candidate Ernst Thälmann counted for less than 15 percent of the latter’s gains at the polls, the majority of Hitler’s new support could only have come from the ranks of those who had supported the Stahlhelm’s Duesterberg in the first round of voting.104 Of the 2.5 million voters who had supported Duesterberg in March, approximately half voted for Hitler four weeks later, while less than a third followed Duesterberg’s instructions and voted for Hindenburg. Confronted by the choice between Hitler and Hindenburg, the rest of those who had supported Duesterberg simply abstained.105 Not only would Hindenburg’s failure to attract more than token support among those who had voted for Duesterberg in the first round of voting aggravate the strain that had developed in his relations with the chancellor Heinrich Brüning during the course of the campaign,106 but it would provide Schleicher with the opening he needed to undercut the chancellor’s relationship to the Reich president and thus set in motion the series of events that would culminate in Brüning’s dismissal as chancellor at the end of May 1932.107 The Nazis, on the other hand, were elated over the outcome of the enormous gains that Hitler had recorded in the second ballot and felt poised on the threshold of power with their faith in the wisdom of Hitler’s political leadership confirmed.108 The 1932 presidential campaign represented a pivotal turning point in the history of the Weimar Republic and in the series of events that culminated in Hitler’s installation as chancellor on 30 January 1933. In the first place, it left an irreparable breach in the relations between Hindenburg and his chancellor that would culminate in the resignation of the last chancellor who was committed, though admittedly with substantial reservations, to the preservation of the basic institutions of Weimar democracy and whose resignation in May 1932 would remove one of the most formidable obstacles standing in the way of Hitler’s rise to power.109 Second, it would leave the various organizations on the German Right 104

Milatz: Ende der Parteien im Spiegel der Wahlen (see n. 70), pp. 761–766. Falter: Two Hindenburg Elections (see n. 1), pp. 239–241. In his analysis of voting patterns in selected urban areas, Richard Hamilton has argued that, in light of the fact that the Hitler vote in the second election almost equaled the combined HitlerDuesterberg vote in the first election, virtually all of those who had initially supported Duesterberg switched their allegiance to the Nazi party leader in the run-off election on 10. April. See Hamilton, Richard: Who Voted for Hitler?, Princeton, N. J. 1982, pp. 77– 80, 113–114. Falter’s computations would suggest that on the national level the switch from Duesterberg to Hitler was not as pronounced as it was it the cities analyzed by Hamilton. 106 Pyta: Hindenburg (see n. 2), pp. 681–683. 107 Vogelsang: Reichswehr, Staat und NSDAP (see n. 8), pp. 185–186. 108 For example, see the entry for 11 April 1932, in: Fröhlich: Goebbels Tagebücher (see n. 25), 2/II, p. 259. 109 On Brüning’s fall from grace and resignation as chancellor, see Patch: Brüning (see n. 7), pp. 247–271, and Hömig, Brüning (see n. 7), pp. 525–575. 105

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thoroughly exhausted from the internal fighting within their own ranks, with the result that their ability to resist the rise of Nazism had been severely compromised. Nowhere was this more true than in the case of Hugenberg, who seriously considered stepping down as DNVP party chairman in the aftermath of the April 1932 state elections,110 or in that of the Stahlhelm, whose leaders were deeply stunned by their initiation into the realities of German party politics and sought refuge in a return to the nonpartisan status they had enjoyed before 1932.111 By the same token, those forces in the middle and moderate Right that had rallied behind Hindenburg’s candidacy were unable to transform the sense of nonpartisanship that had inspired their campaign involvement into anything permanent and emerged from the undertaking as badly divided as they had been beforehand. Perhaps the most important consequences of the 1932 presidential elements, however, lay in the effect they had upon Hitler and the Nazi strategy for the seizure of power. Here two things are apparent. First, in his negotiations with Schleicher and other representatives of the Brüning government at the very beginning of the campaign Hitler made it seem as if he was fully prepared to accept a share of power in return for his party’s support of Hindenburg’s candidacy. That he might have been dissuaded from this course of action both by Hugenberg and the more radical elements within his own party – for example, Goebbels and Göring – was only part of the larger web of confusion that the Nazis tried to spin about their true intentions in the 1932 presidential campaign. In the negotiations that preceded both his and Hindenburg’s declaration of candidacy Hitler came to understand more clearly than ever before that his goal and the goal of his party should be nothing less than absolute power unhampered by any sort of commitments to either the entourage around Hindenburg or his supposed allies on the radical Right. Second, Hitler also realized not only that Hugenberg and the Stahlhelm had very little to offer him in his party’s bid for power but also that they too would have to be crushed like the parties of the middle and moderate Right in the Nazi march to power. As Goebbels’ diaries clearly indicate, Hitler and the Nazi party elite looked upon the non-Nazi elements of the national opposition with disdain and in fact disliked the very idea of the national opposition as an umbrella under which all of those opposed to the hated Weimar system could unite. These would be insights that would remain at the heart of his political strategy in the negotiations that culminated in his installation as chancellor in January 1933. All of this suggests that the period between the Harzburg rally in October 1931 and the presidential elections the following spring constituted a phase that was far more important in Hitler’s political apprenticeship and in the development of his strategy for achieving power than the existing body of literature on his rise to power has been willing to recognize. 110 111

Entry in Quaatz’s diary, 28 April 1932, BA Koblenz, NL Quaatz, 17. Berghahn: Stahlhelm (see n. 10), pp. 219–229.

War Fritz Gerlich für seinen „Geraden Weg“ 1932/33 auf Informationen des Nachrichtenhändlers Georg Bell angewiesen? Ein Beitrag zur Gerlich-Forschung Rudolf Morsey Seit der Vorbereitung meiner Edition „Fritz Gerlich – Ein Publizist gegen Hitler. Akten und Briefe 1930–1934“ 1 beschäftigte mich dessen Zusammenarbeit mit dem Nachrichtenhändler Georg Bell. Dieser politische Abenteurer stand von Anfang 1931 bis Ende April 1932 im Dienst des Stabschefs der SA, Ernst Röhm, wechselte Anfang Oktober 1932, nach seinem Austritt aus der NSDAP, zu Gerlich und versorgte den Herausgeber und Chefredakteur des „Geraden Weges“ bis zum 7. März 1933 mit Interna über innerparteiliche Auseinandersetzungen im Führerkreis der NSDAP und der SA sowie mit Berichten über die politische Lage in Berlin. Bisher waren von den zahlreichen Artikeln Gerlichs im „Geraden Weg“ nur zwei, vom 26. Februar und 1. März 1933, bekannt, die auf Bell-Informationen beruhten, sich jedoch als Fälschungen erwiesen. Hingegen fehlte jede Kenntnis darüber, in welchem Umfang der Agent, von dem kein Nachlass existiert, den Münchner Publizisten informiert hat, wie glaubwürdig seine Berichte waren und in welcher Form Gerlich sie für seine Kampfpublizistik im „Geraden Weg“ genutzt oder nicht genutzt hat. Diese Fragen lassen sich jetzt beantworten, weil der lange Zeit unbekannt gebliebene Nachlass Gerlich2 auch Informationsberichte Bells für den genannten Zeitraum enthält. I. Zum Leben und Werk Gerlichs Fritz Gerlich zählt zu den frühen – und auch deswegen lange Zeit vergessenen – Opfern des Hitler-Regimes. 1883 in Stettin geboren, war der als Naturwissen1 Morsey, Rudolf: Fritz Gerlich – Ein Publizist gegen Hitler. Akten und Briefe 1930– 1934, Paderborn 2010 (Künftig zitiert: Gerlich-Edition). Der Text ist eine erweiterte und mit Belegen versehene Fassung meines Referats vom 17. Dezember 2011 in Eichstätt. 2 Der Nachlass befindet sich im Besitz des Unternehmers Dr. Max A. Hoefter in Wollerau (Schweiz), dem ich auch an dieser Stelle für großzügige Benutzungsmöglichkeit und Unterstützung danke. Der Bell-Briefwechsel liegt in: Ordner 32.

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schaftler und Historiker ausgebildete bayerische Staatsarchivar seit Herbst 1930 im ,Nebenamt‘ Mitbesitzer, Herausgeber und Chefredakteur der Münchner Wochenschrift „Illustrierter Sonntag“, seit Januar 1932 unter dem programmatischen Namen „Der gerade Weg“.3 In seinem Blatt bekämpfte er den Nationalsozialismus „mit einem Mut und einer kompromißlosen Schärfe, die im damaligen Deutschland ohne Beispiel dastehen“.4 Dabei verurteilte Gerlich den Totalitarismus der völkischen Bewegung genauso wie schon vorher den des Bolschewismus. Zudem griff er unablässig den Anführer der braunen „Massenwahn-Bewegung“ als „Massenwahnhetzer“ und dessen engste Mitarbeiter frontal an. Zugleich enthüllte er „den kriminellen Charakter erheblicher Teile der braunen Führungsschicht“.5 Gerlichs Ablehnung auch des weltanschaulichen Liberalismus, der das „christliche Erbgut noch weiter abgebaut“ habe6, kann hier außer Betracht bleiben. Die Antwort der braunen Machthaber erfolgte bereits am Abend des 9. März 1933, während der auf revolutionärem Wege erfolgten Machtübernahme in Bayern. SA-Horden schlugen in den Räumen des Verlags und der Redaktion des „GW“ in der Hofstatt 5–7 alles kurz und klein und verschleppten einen Teil des von ihnen geraubten Aktenmaterials. Dabei misshandelten sie – darunter Max Amann, Direktor des Eher-Verlags in München – Fritz Gerlich, auch dessen Mitarbeiter Josef Hell und Ludwig Weitmann, und lieferten ihn in das Polizeigefängnis in der Ettstraße ein. Dort blieb der Publizist fast 16 Monate lang in „Schutzhaft“. Er wurde im April 1933 aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen und wenig später ein Dienststrafverfahren gegen ihn eingeleitet, aber keine Anklage erhoben. Am späten Abend des 30. Juni 1934 wurde Gerlich in das KZ Dachau

3 Dazu das Kapitel „Verlauf der Gerlich-Forschung“ bei Morsey, Rudolf, in: GerlichEdition (wie Anm. 1), S. 13–16. Ferner Morsey, Rudolf: Publizist und Prophet. Fritz Gerlichs Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus, in: Jahrbuch der HambachGesellschaft, 18, 2010, S. 217–239; Morsey, Rudolf: Fritz Gerlich (1883–1934) – Publizist aus Stettin, in: Baltische Studien, 97, 2011, S. 157–179. Weiterhin unverzichtbar: Aretin, Erwein Freiherr von: Fritz Michael Gerlich. Prophet und Märtyrer. Sein Kraftquell. Zum 100. Geburtstag Gerlichs und zur 50jährigen Wiederkehr seiner Gefangennahme und seines Todes herausgegebene Zweitauflage mit einem zeitgeschichtlichen Kommentar von Karl Otmar Freiherr von Aretin, München u. Zürich 1983. Die Erstauflage erschien 1949 mit dem Untertitel „Ein Martyrer unserer Tage“. Dazu unten Anm. 103. Gerlichs Vita bis 1927 wird im Folgenden nur knapp referiert und „Der gerade Weg“ abgekürzt: „GW“. 4 So Aretin, Karl Otmar von: Gerlich, Albert Fritz, in: Neue Deutsche Biographie, Band 6, Berlin 1964, S. 307 f. Bereits 1947 hatte Bernhard Schwertfeger Gerlichs Publizistik als den „wohl stärksten und gefährlichsten geistigen Angriff gegen Hitler und seine Irrlehre, der in Deutschland erfolgt“ sei, bewertet. Schwertfeger, Bernhard: Rätsel um Deutschland, Heidelberg 1947, S. 344. 5 Selig, Wolfram: Gerlich, Fritz Michael, in: Benz, Wolfgang/Graml, Hermann (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 104 f. 6 „Schicksalsstunde der katholischen Parteien“, in: „GW“ vom 5. Februar 1933.

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gebracht und dort, im Zuge des „Röhm-Putsches“, ermordet, seine Leiche verbrannt und die Asche an unbekannter Stelle beigesetzt. Seit 1928/29 war der Publizist in einen Eichstätter Arbeits- und Freundeskreis eingebunden, der sein öffentliches Wirken begleitete und unterstützte. Dazu gehörten der Eichstätter Kapuziner P. Ingbert Naab, ein bekannter Jugendseelsorger und Schriftsteller, der Bibelwissenschaftler Franz Xaver Wutz und der Kanonist Franz Lechner, beide von der Philosophisch-Theologischen Hochschule, sodann die Äbtissin des Benediktinerinnen-Klosters St. Walburg in Eichstätt, Maria Anna Benedicta Freiin Spiegel von und zu Peckelsheim. Hinzu kam aus Oberschwaben der damals 30jährige Erich Fürst von Waldburg-Zeil, Unternehmer und Großgrundbesitzer.7 Die spätere (1997) Mitteilung von Ferdinand Neumann (1911–1999) – einem jüngeren Bruder von Therese Neumann (1898–1962) –, dass auch der (seit September 1932 amtierende) Bischof von Eichstätt, Konrad Graf v. Preysing, regelmäßig an Treffen dieses Kreises teilgenommen habe8, halte ich für einen Erinnerungsfehler. Bezeugt ist, dass sich Preysing, seit 1935 in Berlin, der als einer der ersten im Episkopat die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus erkannte, „dankbar der Informationen aus dem [Eichstätter] Kreis erinnerte, die ihn vor jeder Täuschung über das Hitlersystem bewahrt hatten“.9 II. Gerlich und Waldburg-Zeil: Publizistik als Missionsaufgabe Ausgangs- und Bezugspunkt des Eichstätter Kreises blieb Therese Neumann in Konnersreuth/Oberpfalz, seit 1926 mit den Wundmalen Christi stigmatisiert. Ihr Wohnort entwickelte sich zu einer Wallfahrtsstätte, nachdem ein entsprechender 7 Dazu Klöckner, Jürgen: Waldburg-Zeil und Trauchburg, Erich Fürst von, in: Ottnad, Bernd/Sepaintner, Fred Ludwig (Hrsg.): Baden Württembergische Biographien, Band III, Stuttgart 2002, S. 433 f. 8 Nach mündlicher Mitteilung zitiert bei Schäfer, Michael: Fritz Gerlich 1883–1934 – Publizistik als Auseinandersetzung mit den Politischen Religionen des 20. Jahrhunderts, Diss. München 1998, S. 211, Anm. 15. Ferdinand Neumann wohnte 1930–1935, zusammen mit seinem Bruder Hans (1912–1984), während ihrer Gymnasialschuljahre in Eichstätt, bei Prof. Wutz, dem ihre Schwester Ottilie (1902–1963) dessen Haushalt führte. Preysings Teilnahme an Besprechungen des Eichstätter Kreises ist in keiner anderen Quelle erwähnt, belegt hingegen sind seine häufigen Besuche bei dem von Ende Dezember 1932 bis Ende Januar 1933 schwerkranken P. Ingbert Naab. Neumayr, Maximilian: Pater Ingbert Naab. Seher, Kämpfer, Beter, München 1947, S. 353 f. Ferner Witetschek, Helmut: Pater Ingbert Naab O.F.M. Cap. (1885–1935). Ein Prophet wider den Zeitgeist, München u. Zürich 1985, S. 155. Zuletzt Naab, Erich: Ingbert Naab, in: Bagorski, Barbara/Brandl, Ludwig/Heberling, Michael (Hrsg.): 12 Männerprofile aus dem Bistum Eichstätt, Regensburg u. Eichstätt 2010, S. 188–205. 9 So Adolph, Walter: Hirtenamt und Hitler-Diktatur, Berlin 1965, S. 119. Bereits vorher hatte Bernhard Schwerdtfeger (Ordinariat Berlin) erwähnt, dass Gerlich und Naab dem Bischof „wertvolle Informationen“ vermittelt hätten. Schwerdtfeger, Bernhard: Konrad Kardinal von Preysing, Bischof von Berlin, Berlin 1950, S. 54.

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Bericht des Redakteurs der „Münchner Neuesten Nachrichten“ Erwein v. Aretin am 1. August 1927 in deren Beilage „Die Einkehr“ ein weltweites Echo gefunden hatte. Es ließ ihrem Hauptschriftleiter (seit 1920) Fritz Gerlich, einem fanatischen Wahrheitssucher, „keine Ruhe“, so dass er sich „aus Berufspflicht“ entschloss, den dortigen „groß angelegten Schwindel zu entlarven“, dem er mit seiner Zeitung „zum Opfer gefallen“ sei.10 Das Gegenteil aber geschah: Der im Calvinismus aufgewachsene, aber kirchlich nicht gebundene pommersche Preuße erlebte bei seinem ersten Besuch Mitte September 1927 in Konnersreuth, den er zusammen mit Wutz unternahm, ein religiöses Erweckungserlebnis, nach Karl Alexander von Müller „die Wirklichkeit eines Wunders“.11 Im Februar 1928 schied Gerlich – unfreiwillig – aus den „Münchner Neuesten Nachrichten“ aus. Deren Besitzern, einem Konsortium der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie mit deutschnationaler Grundierung, hatte er sich inzwischen politisch und, durch die Veränderung seiner Persönlichkeitsstruktur und Lebensweise seit der Konnersreuth-Wende, auch persönlich entfremdet. Seitdem trat er in Wort und Schrift für Therese Neumann ein, über deren Lebensgeschichte und Glaubwürdigkeit er 1929 das schon zitierte Werk veröffentlichte. Ende dieses Jahres kehrte der Archivar – durch eine von Michael Kardinal von Faulhaber bei Ministerpräsident Heinrich Held unterstützte Entscheidung – in den Staatsdienst in München (Hauptstaatsarchiv) zurück, aus dem er sich hatte beurlauben lassen. Noch während er seine, von P. Ingbert Naab begleitete Konversion zum Katholizismus vorbereitete, suchte er nach einer neuen publizistischen Herausforderung, zumal ihm Therese Neumann im Frühjahr 1928 versichert hatte, dass er „wieder einmal in eine Zeitung kommen“ werde. Im Frühjahr 1930 entstand im Eichstätter Kreis der Plan, auf der Grundlage der naturrechtlich begründeten katholischen Staats- und Soziallehre zur Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens beizutragen. Durch eine „Neuheiden-Mission“ sollte das deutsche Volk aus seiner „jetzigen trostlosen Lage herausgeführt“ werden, mit Hilfe einer von Gerlich herausgegebenen und geleiteten Zeitung. Die Anregung dazu stammte von Waldburg-Zeil, der inzwischen in Zeil bei Leutbach eine „Katholische Tat-Gemeinschaft“ (KTG) – im Sinne der „Katholischen Aktion“ Papst Pius XI. – mit jungen Standesgenossen begründet hatte, für die er Schulungskurse organisierte. Ihn beeindruckte die Konsequenz, mit der Gerlich seine naturrechtliche Position vertrat. Im September bot sich ihnen die Möglichkeit, das unbedeutende und defizitäre Münchner Wochenblatt „Illustrierter Sonntag“ zu erwerben. Es wurde in derselben Firma in der 10 Gerlich, Fritz: Die stigmatisierte Therese Neumann von Konnersreuth. Erster Teil: Die Lebensgeschichte der Therese Neumann. Zweiter Teil: Die Glaubwürdigkeit der Therese Neumann, München 1929, hier I, S. IX. 11 Müller, Otto Alexander von (Hrsg.): Karl Alexander von Müller. Im Wandel einer Welt. Erinnerungen, Band 3: 1919–1932, München 1966, S. 298. Grundlegend: Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), S. 52–59.

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Schellingstraße 39 gedruckt wie Hitlers „Völkischer Beobachter“ und war deren Besitzer verpfändet. Den Kauf des Blattes, den für seine Herausgabe (über zwei Strohmänner) gegründeten Naturverlag und dessen laufende Kosten finanzierte Waldburg-Zeil. Gerlich erhielt für seine „geistige Einlage“ die Hälfte der Gesellschafteranteile, die ihm auch seine publizistische Freiheit sicherte. Da der ursprünglich geplante Zukauf der auflagenstärkeren Münchner Zeitung „Welt am Sonntag“, die das Unternehmen rentabel gemacht hätte, nicht gelang, blieb der Naturverlag strukturell defizitär. Nachdem Gerlich im September 1931 seine Auseinandersetzung mit dem totalitären Nationalsozialismus begonnen hatte, wurde die für den Erwerb der Wochenschrift benutzte Tarnbezeichnung des Unternehmens (Naturverlag) ab Januar 1932 zugunsten des ursprünglich bereits vorgesehenen Namens – Naturrechts-Verlag – aufgegeben und gleichzeitig der „Illustrierte Sonntag. Das Blatt des gesunden Menschenverstandes“ in „Der gerade Weg. Deutsche Zeitung für Wahrheit und Recht“ umbenannt. Mitte Februar verließen Verlag und Redaktion – da Hitler gedroht hatte, andernfalls dem Drucker den Auftrag für den „Völkischen Beobachter“ zu kündigen – die Schellingstraße und zogen in Räume der katholischen Verlagsanstalt Manz AG in der Hofstatt. Die in den Jahren der Weltwirtschaftskrise von Waldburg-Zeil für den Verlag geleisteten Zahlungen brachten „ihn und sein Haus an den Rand des Ruins“ und führten zu Schwierigkeiten mit seiner Familie und den Agnaten seines Fideikommisses.12 Auch weiterhin bildete Therese Neumann den Ausgangs- und Bezugspunkt des Eichstätter wie auch des – um den Konnersreuther Pfarrer Joseph Naber erweiterten – Konnersreuther Kreises. Sie hatte das Zeitungsunternehmen gebilligt und erteilte auch künftig Auskünfte und Antworten auf schriftliche wie mündliche Fragen und/oder sprach Warnungen – nicht Prophezeiungen – aus. Das geschah jeweils nach ihren ekstatischen Schauungen, während ihres „erhobenen Ruhezustands“. Ihre Auskünfte, an die sie sich anschließend nicht mehr erinnern konnte, erfolgten teils in bestimmter Form, teils in umschreibenden beziehungsweise vagen Formulierungen, blieben aber auch aus. Vielfach waren es allgemein gehaltene Ratschläge, die von den Petenten weder hinterfragt noch diskutiert wurden. Sie mussten von ihnen jeweils in selbstverantwortetes Handeln umgesetzt werden. Die Stigmatisierte galt Gerlich und seinen Mitstreitern als quasi „übernatürliche Auskunftsstelle“ (M. Schäfer). Der Publizist wandte sich in geschäftlichen Fragen wie in privaten Anliegen häufig an Therese Neumann, sowohl mündlich in Konnersreuth wie schriftlich 12 Beck, Rudolf: Widerstand aus dem Glauben. Zum Verbot der katholischen Wochenzeitung ,Der gerade Weg‘ am 13. März 1933, in: Allgäuer Geschichtsfreund, Nr. 93, 1994, S. 135–157, hier S. 155.

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über Pfarrer Naber. Das allerdings tat er nicht wegen der Zielsetzung und des Inhalts seiner Artikel, offensichtlich jedoch häufiger wegen der Schärfe, mit der er auch die katholischen Parteien – Bayerische Volkspartei (BVP) und Zentrum –, sowie insbesondere Reichskanzler Heinrich Brüning attackierte. Diese Kritik wurde im Eichstätter Kreis wiederholt als überzogen beanstandet.13 Im September 1931 wurde Gerlich von P. Ingbert Naab im Eichstätter Kapuzinerkloster sub conditione getauft und seine Ehe kirchlich eingesegnet. Daran nahm Therese Neumann ebenso teil wie im November an Gerlichs Firmung durch Kardinal von Faulhaber in dessen Privatkapelle. Seinen Taufnamen (Michael) führte der Publizist jedoch weder in seinen Publikationen noch in seiner privaten Korrespondenz, entgegen zahlreichen anderslautenden Buch- und Aufsatztiteln. III. Der Weg Bells bis zum Frühjahr 1932 In allen Würdigungen Gerlichs als Herausgeber und Chefredakteur des „GW“ spielt der schon eingangs genannte Georg Bell eine Rolle. Sie war ihm allerdings offensichtlich so wenig durchsichtig wie seinen Mitstreitern und ist in der Gerlich-Literatur 14 keineswegs geklärt. Das gilt (1.) für die 1993 von den Münchner Journalisten Hans-Günter Richardi und Klaus Schumann veröffentlichte „Geheimakte Gerlich/Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne Hitler“ 15, (2.) für die im selben Jahr erschienene Dissertation von Andreas Dornheim, „Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische 13 Neumayr: Pater Ingbert Naab (wie Anm. 8), S. 314 f. Johannes Steiner, Geschäftsführer des Natur- bzw. Naturrechts-Verlags, ist „mehrmals“ nach Konnersreuth gefahren, um „in der Ekstase Anfragen zu stellen“. Therese Neumann habe keine „bestimmten Aufträge“ erteilt, „aber Einblicke, Hinweise, die ihn [Gerlich] dann selbst die Entscheidung treffen ließen“. Am 3. Juni 1997 erklärte Neumann, dass er und Dr. Ludwig Weitmann – Gerlichs Neffe und Verlagsmitarbeiter – wiederholt Artikel Gerlichs in Konnersreuth hätten bestätigen lassen. Diesen Kurierdienst habe auch Gerlichs Sekretärin im Hauptstaatsarchiv, Maria Karl, geleistet. Therese Neumann habe die betreffenden Texte (in verschlossenen Umschlägen) erkannt und Gerlichs schärfere Tonart stets gebilligt. Das habe sie auch – nach Aussage Neumanns vom 29. Juni 1981 – im November 1932 in einem Gespräch bei Bischof Michael Buchberger in Regensburg getan, an dem er und Prof. Wutz teilgenommen hätten. Dabei hätte der Bischof zu Mäßigung gegenüber Angriffen auf die BVP geraten. Nachlass Gerlich (wie Anm. 2). 14 Zitiert in Anm. 15–17. 15 Richardi, Hans-Günter/Schumann, Klaus: Geheimakte Gerlich/Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne Hitler, München 1993. – Dazu kritisch Süss, Winfried: Über Röhms angebliche Pläne ,für ein Reich ohne Hitler‘, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 486–490. Nach Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) war der reißerische Buchtitel „Teil eines breit angelegten Konzeptes zur Vermarktung des Stoffes“; weder habe es die genannte „Geheimakte“ gegeben noch auch Röhm ein „Reich ohne Hitler“ geplant. S. 13 u. 187. Ebenfalls gegen die zentrale These von Richardi/Schumann wendet sich Dimitrios, Alexander: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘. Eine politische Biographie [des „Fememörders“ und Führers der SA-Gruppe Ost in Berlin, Paul Schulz], 4 Bände, Band II/2: Soldat zwischen den Fronten, Ulm 2009, S. 683 f. Dimitrios ist ein Sohn von Paul Schulz, den er zu rehabilitieren sucht.

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Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil“ 16 und (3.) für Dornheims 1998 publizierte Studie „Röhms Mann fürs Ausland. Politik und Ermordung des SA-Agenten Georg Bell“.17 Bell ist allerdings als „Gerlichs Agent“ ermordet worden. Unstrittig ist, dass der Publizist für seine seit 1931 ausgesprochenen Warnungen vor Hitler und der „geistigen Pest“ des Nationalsozialismus nicht auf Informationen des früheren NSDAP-Aktivisten und „gerichtsbekannten Mehrfachagenten“ 18 Bell angewiesen war. Er entwickelte seine Verurteilung der völkischen „Massenwahn-Bewegung“ aus dem Vergleich mit dem roten Totalitarismus (Marxismus/Kommunismus), mit dem er sich bereits früh auseinandergesetzt hatte.19 Der 1898 in Nürnberg geborene Georg Bell war im Ersten Weltkrieg, u. a. in der Türkei, eingesetzt. Während seines 1919 begonnenen viersemestrigen Studiums der Elektrotechnik in Nürnberg gehörte Bell der schlagenden Verbindung „Bayern“ und dem in Nürnberg aktiven fränkischen Heimatschutzbatallion Adolf Heiß an. Dieser Vorläufer des Wehrverbands „Reichsflagge“, in deren Reihen Bell auch Ernst Röhm kennenlernte, zählte zum Landesverband der von Georg Escherich geleiteten bewaffneten Einwohnerwehren Bayerns. Bell arbeitete anschließend als Elektroingenieur in Nürnberg, Ulm und München. Etwa Mitte der zwanziger Jahre wechselte er in eine – für die Weimarer Instabilitäts-Republik durchaus nicht untypische – „Agentenkarriere“ 20 mit antibolschewistischer Zielsetzung. 16 Dornheim, Andreas: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris u. Wien 1993, mit einem Kapitel „Der Nachrichtendienst des ,Geraden Wegs‘“, S. 315–320. 17 Dornheim, Andreas: Röhms Mann fürs Ausland. Politik und Ermordung des SAAgenten Georg Bell, Münster 1998. Mit einem Kapitel „Georg Bell und ,Der Gerade Weg‘“, S. 142–150. Rezensionen des Buches, in dem über Bells Auslandstätigkeit so gut wie nichts mitgeteilt wird, lassen sich nicht nachweisen. Dornheims Darstellung wird durch die von Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15) aus dem Nachlass der von Paul Schulz veröffentlichten Stücke von Bells Briefwechsel wesentlich ergänzt. Dallera, Ovidio/Brandmair, Ilsemarie: Tödliche Schlagzeilen. Fritz Michael Gerlich, Journalist und Widerstandskämpfer, München 2009 (Erstdruck: Milano 2008), ist schon wegen der hohen Fehlerquote kein Forschungsbeitrag. 18 So Süss: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), S. 488. Zu dessen vernichtender Kritik ist noch zu ergänzen, dass Richardi/Schumann die zahlreichen Namen aus dem „Anhang“ nicht in das Personenregister aufgenommen und falsch geschriebene Namen in Bell-Texten nicht korrigiert haben. Richardi/Schumann: Anmerkungen und Dokumente (wie Anm. 15), S. 189–224. 19 Gerlich, Fritz: Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich, München 1920. 20 So Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 18. Paul Hoser bezeichnet Bell als „zwielichtigen Nachrichtenhändler“. Hoser, Paul: Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe der Münchner Tagespresse zwischen 1914 und 1934, 2 Teile, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris u. Wien 1990, S. 712. Bereits 1938 urteilte Glyn Roberts: „Bell was also one of those extraordinary political adventurers with whom Central Europe teemed during the post-war decades.“

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1927 beteiligte er sich, von Bulgarien, der nördlichen Türkei und Georgien aus, an dem abenteuerlichen Versuch, zusammen mit georgischen („weißrussischen“) Emigranten die Südstaaten von der Sowjetunion zu trennen und deren Währung durch Einschmuggeln großer Mengen von falschen Geldnoten („Tscherwonzen“) zu unterminieren. In diese Aktion, die durch die Weltpresse ging, war auch der britisch-holländische „Petroleumkönig“ Sir Henri Deterding involviert. 1928 wurde Bell in Berlin in einem spektakulären „Tscherwonzen-Fälscher-Prozess“, nach zweimonatiger Untersuchungshaft, auf Grund einer Amnestie freigesprochen, in einem Berufungsverfahren Anfang 1930 jedoch zu einer Geldstrafe von 300,– RM verurteilt. In diesem Verfahren machte er widersprüchliche Aussagen und erklärte, kein Nationalsozialist, „nur Antibolschewik“, auch „kein Ehrhardt-[Freikorps-]Mann und eigentlich Sozialdemokrat“ zu sein.21 Bells damaliger Strafverteidiger, Dr. Alfons Sack, hat damals – nach seiner späteren Erklärung im Reichstagsbrand-Prozess in Leipzig am 16. Dezember 1933 – sein Mandat niedergelegt; denn bei Bell habe es sich statt des vermeintlichen „Idealisten“ um einen „gesinnungs- und gewissenlosen Abenteurer“ gehandelt, der ihn in der „übelsten Weise angelogen“ und sein Vertrauen missbraucht habe.22 Diese Aussage – nach der inzwischen erfolgten Ermordung Bells (3. April 1933) – ist jedoch unglaubwürdig; denn ein Briefwechsel zwischen Bell und Sack aus dem Mai 1932, in dem auch von ihrer „Unterredung“ am 4. April 1932 in der Berliner Kanzlei des Anwalts die Rede ist23, lässt keineswegs auf ein Roberts, Glyn: The most powerful Man in the World. The Life of Sir Henri Deterding, New York 1938, S. 298 f. Bei Roberts ist Bell zur Karikatur überzeichnet. Einige neue Erkenntnisse über Bell bei Hancock, Eleanor: Ernst Röhm. Hitler’s Chief of Staff, New York 2008. 21 Kirsch, Egon Erwin: Mein Leben für die Zeitung 1926–1947, Band 2, Berlin (Ost) u. Weimar 1983, S. 382. Dazu das Kapitel „Die Tscherwonzenaffäre“ bei Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 25–37. Nach Friedrich Wilhelm von Oertzen war Bells „ganze Existenz“ bis zu seinem Tod „in ein mystisches Dunkel gehüllt gewesen“. Oertzen, Friedrich Wilhelm von: Im Hintergrund das Ölkapital. Der Prozess der Tscherwonzen-Fälscher, in: Oertzen, Friedrich Wilhelm von: Im Namen der Geschichte! Politische Prozesse der Nachkriegszeit, Hamburg 1934, S. 155–175, hier S. 167. Dornheim: Röhms Mann (wie Anm. 17), hat Oertzen nicht erwähnt. 22 In seinem Plädoyer für Ernst Torgler, den letzten Vorsitzenden der KPD-Fraktion im Reichstag. Sack, Dr. [Alfons]: Der Reichstagsbrand-Prozess, Berlin 1934, S. 90 u. 276. (Die Angabe auf S. 90 auch zitiert bei Tobias, Fritz: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962, S. 578). Dieser Hinweis von Sack, der sich bei dieser Gelegenheit als „alter nationalsozialistischer Kämpfer“ bezeichnete (Horkenbach, Cuno: Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Band 4: 1933, Berlin 1935, S. 678), fehlt bei Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) und bei Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15). Hingegen kennen wiederum Bahar, Alexander/Kugel, Wilfried: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, Berlin 2001, in dem Kapitel „Der Fall Georg Bell“ (S. 653–660), nicht Dornheims Darstellung. 23 Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. III: Dokumente, S. 274 f.

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getrübtes Verhältnis zwischen ihnen schließen. Dabei erwähnte Bell am 17. Mai 1932, dass sein „Steckenpferd doch eigentlich die Außenpolitik“ sei, wie Sack ja „selbst am besten“ wisse.24 Im November 1930 traf Bell in München zufällig den aus Bolivien zurückgekehrten, ihm aus den frühen 1920er-Jahren bekannten Ernst Röhm, der ihn wenig später als Mitarbeiter gewann. Zunächst erledigte Bell für den Stabschef der SA (seit Januar 1931) nicht näher bekannte „Spezialaufträge“ in der Schweiz und in Berlin. Am 21. März 1931 vereinbarten sie ein festes Arbeitsverhältnis „auf Lebensdauer“. Bell erhielt eine monatliche Entschädigung von 350,– RM plus Reisekosten und Spesen und am 22. April 1931 von Röhm eine Denkschrift zur Information im Ausland.25 Er machte seine neue Funktion der Presse und auch Korrespondenten in Berlin bekannt.26 Der Agent sollte im In- und Ausland die „Wahrheit“ über die SA verbreiten, einen „großen Nachrichtendienst“ für die SA und eine eigene Propagandastelle für die „Person Röhms“ aufbauen, zudem „finanzielle Hilfsquellen“ erschließen, um dadurch die SA von den „Demagogen“ der NSDAP unabhängig machen zu können. Dabei war Deterding als ein möglicher Sponsor nicht ausdrücklich genannt. Über Bells Agententätigkeit in Berlin, London, Paris, Genua, Zürich, Bern und Genf sowie über seine Gesprächspartner und die Ergebnisse seiner Verhandlungen fehlen konkrete Informationen. Der Agent belieferte auch, mit Zustimmung Röhms, das von Sozialdemokraten dominierte „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner e. V.“, gegen ein monatliches Entgelt von 300,– RM. Diese Verbindung war über dessen führendes Mitglied Karl Mayr in Magdeburg zustande gekommen, den Bell ebenfalls aus den frühen 1920er-Jahren kannte. Ob der Agent daneben Kontakte auch zur Reichswehr und 24 Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), S. 275. Nach den Erinnerungen von Paul Schulz aus den 1950er-Jahren („Der Nachrichtenagent Georg Bell“) soll Bell mit Sack befreundet gewesen sein. Ebd., Bd. I, S. 667. Major a. D. Josef Hell, bis 1933 Schriftleiter des „GW“, beurteilte den Agenten als „eine Art Abenteurer“, insgesamt jedoch eher positiv. Hell, Josef: Zum Gedächtnis von Ingenieur Bell (1946?). Institut für Zeitgeschichte (künftig: IfZ), München, Gt 01.02. 25 Druck: Vogelsang, Thilo: Reichswehr, Staat und NSDAP, Stuttgart 1962, S. 422– 426. Ebd. S. 120 f. der Zusatz, dass Röhm seinen Agenten „fernmündlich dirigiert“ habe. Die Denkschrift ist ebenfalls gedruckt („bisher unveröffentlicht“[!]) bei Richardi/ Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 206–214, ohne Beleg. In beiden Fällen fehlt ein Hinweis auf den bereits am 17. Mai 1933 auszugsweise veröffentlichten Abdruck im Pariser „Oeuvre“, in dem Röhms Begleitschreiben als Faksimilie abgebildet ist (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 100199). 26 Dazu Delmer, Sefton: Die Deutschen und ich, Hamburg 1963, S. 105 f. Der britische Journalist charakterisiert Bell als „billigen Doppelagenten und einen noch billigeren Verräter“. S. 126. Dazu Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 52. Umgekehrt bezeichnete Bell am 1. Februar 1933 Delmer in einem Bericht an Gerlich als „Revolverjournalisten“. Nachlass Gerlich (wie Anm. 2).

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selbst zu Kommunisten gesucht hat, erscheint fraglich.27 Seine Gegenleistung bestand in Informationen aus der in sich zerstrittenen Reichsleitung der NSDAP und der mit ihr rivalisierenden SA-Führung. Dabei spielte die Homosexualität Röhms eine Rolle, die durch einen Artikel der „Münchener Post“ (SPD) vom 22. Juni 193128 bekannt, aber zunächst wenig beachtet wurde. Im Februar 1932 hielt sich Bell „ca. drei Wochen“ in Genf auf, um während der dort tagenden Abrüstungskonferenz mit den deutschen Regierungsvertretern „Fühlung zu suchen zwecks einer ev[entuellen] Koalition Röhms (d.i. der S.A. und nicht der Partei)“ mit den Deutschnationalen und mit dem Stahlhelm. Über eine solche „neue Allianz“ hatte er bereits im Januar zwei Wochen lang in Berlin und Innsbruck verhandelt, um mit deren „Unterstützung gegen Hitler Front machen zu können“.29 Auch diese Verhandlungen sind bisher aus anderen Quellen nicht zu belegen. Eine Reise Bells nach Großbritannien im März 1932 endete nach der Ankunft in Harwich mit seiner Ausweisung, deren Gründe ihm nicht mitgeteilt wurden, auch nicht dem Auswärtigen Amt. Anfang März 1932 wurde Röhms Homosexualität durch Presseberichte zu einem Politikum. Deren Ziel war es (auch), die Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten durch „Desavouierung Röhms zu verhindern“.30 Versuche Bells, seinen innerhalb der NSDAP-Führung inzwischen angefeindeten Chef durch Ablenkungsmanöver in der „Münchener Post“ (SPD) aus der Schusslinie zu bekommen – der Agent kannte deren Chefredakteur Erhard Auer, den Vorsitzenden der SPD in Bayern –, misslangen. Röhm soll seinen Agenten deswegen als „Stümper“ bezeichnet haben, da er es nicht geschafft habe, „diese Sache“ zu unterdrücken.31 27 Noch im Januar 1933 soll Bell – so in einem zweiseitigen Flugblatt „Wer war Bell?“ eines unbekannten Kommunisten, wohl aus dem Sommer 1933 – die „Bekanntschaft Thälmanns, Torglers und Münzenbergs“ gesucht haben. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 184, 286, Anm. 689. Die Gegenposition – Bell als einer der „Dunkelmänner der deutschen Konterrevolution“ – enthält die 1933 in Moskau gedruckte KPD-Propagandaschrift „Glück und Ende des Nationalsozialisten Bell. Von der Brandstiftung [des Reichstagsbrands] zum Fememord“ (Nachdruck Saarbrücken 1934). 28 Druck: Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 677–679. 29 So in Bells „Rechenschaftsbericht“ aus dem Herbst 1932 für einen von Bell gegen Röhm vorbereiteten Prozess. Druck: Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 214–221, hier S. 219. 30 So Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 117. 31 Nach der in Anm. 27 zitierten KPD-Broschüre, S. 21. Ernst Hanfstaengl, seit 1932 Auslandspressechef der NSDAP, berichtet, dass Hitlers Behauptung nach dem „Röhm-Putsch“, er sei „von Röhms Homosexualität völlig überrascht und entsetzt“ gewesen, eine „glatte Lüge“ gewesen sei: „Schon im Sommer 1932 [. . .] hatte ein Journalist namens Bell, der sich bei Röhm eingeschmeichelt hatte, genaue Einzelheiten über die Lebensführung des SA-Chefs veröffentlicht.“ Am folgenden Tage habe Hitler im Braunen Haus in München mit Röhm einen „Krach“ gehabt, bei dem Hitler „stundenlang gebrüllt habe, daß die Fenster klirrten“. Hanfstaengl, Ernst: Zwischen Weißem Haus und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außenseiters, München 1970,

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IV. Ende April 1932: Röhm trennt sich von Bell Im Dschungelkampf im Braunen Haus versuchte Bell zunächst seinen unmittelbaren Vorgesetzten, Leon Graf v. Du Moulin Eckardt, auszuschalten. Am 15. März 1932 teilte er dem Stabschef der SA mit, dass er sich „heute“ von Du Moulin Eckardt „verabschiedet“ habe, wegen ihrer „grundverschiedenen“ Auffassungen vom „Wesen und der Behandlung eines wirklichen Nachrichtendienstes sowie von der Art der Erledigung der gestellten Aufgaben“. Der Agent bat Röhm, dem für ihn „unerquicklichen Zustand abzuhelfen“ oder ihn „anderweitig zu verwenden“.32 Daran lag Röhm jedoch umso weniger, als jetzt ein Komplott von SA-Führern zur Ermordung Hitlers bekannt wurde, in das auch Bell verwickelt war. Es flog ebenso auf wie die daraufhin von ihm und von seinem Chef und ihm befürchtete „Liquidierung der Röhm-Clique“ durch eine Gruppe um den NSDAP-Richter Walter Buch.33 Diese undurchsichtige „Tscheka-Affäre“ soll im Braunen Haus eine „wahre Panikstimmung“ ausgelöst haben und Röhm wegen des gegen ihn geplanten Mordanschlags „schwer erschüttert“ gewesen sein.34 Auch wegen seines inzwischen innerparteilich kritisierten Lebenswandels suchte er seine geschwächte Position zu sichern. Zu diesem Zweck informierte er am 2. April 1932 in Berlin bei einem Treffen, das Bell arrangiert hatte, Karl Mayr über den gegen ihn geplanten Mordanschlag. Über diesen Reichsbanner-Politiker suchte der Stabschef der SA Rückhalt gegenüber Presseangriffen aus der SPD, attackierte dabei aber auch Hitler und dessen Reichsleitung und erbat Material gegen seinen SA-Chef-Konkurrenten Paul Schulz.35 S. 341 f. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 131 f., verlegt diesen „Krach“ vermutlich zutreffend in den Oktober 1932. Dazu auch Anm. 45. 32 Druck: Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 271. 33 Über dieses „Mordkomplott“, das in der Forschung „bisher kaum zur Kenntnis genommen worden“ sei, vgl. die ausführliche, aber unübersichtliche Darstellung Dornheims: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 117–141. Frühere Hinweise bei Vogelsang: Reichswehr, Staat und NSDAP (wie Anm. 25), S. 308 f. und Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 74 f. Wesentliche Ergänzungen zur „Tscheka-Affäre“ von Paul Schulz bei Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 664–668. Zu Mayrs Aussage im Münchner Prozess am 3. Oktober 1932 über sein Gespräch mit Röhm am 2. April 1932 Anm. 45. 34 So in Bells „Rechenschaftsbericht“ aus dem Herbst 1932 (wie Anm. 29), S. 220. 35 Zu Röhms „Flucht“ (dazu s. Anm. 45 und 47), die ihn in NSDAP- und SA-Führerkreisen belastete, vgl. die (Tendenz-)Broschüre: KPD (Hrsg.): „Die Geheimverhandlungen zwischen Nazi-Röhm und Reichsbanner Mayer [richtig: Mayr]“, Berlin 1932, S. 3 f. Nach Delmer: Die Deutschen und ich (wie Anm. 26), S. 126, hat Bell Röhm an das Reichsbanner „verraten“. Dort ist dieses Treffen falsch in den „Herbst 1932“ verlegt. Ferner Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 128–132, und Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 665 f.,

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Am 8. April 1932 machte die „Münchener Post“ auf der Grundlage der von Röhm Major a.D. Mayr gelieferten Informationen die Meuchelmordaffäre gegen die „Röhm-Clique“ bekannt. Dasselbe tat Bell, einen Tag später, im Auftrag Röhms, in der Redaktion des SPD-Zentralorgans „Vorwärts“ in Berlin. Dabei suchte er – vergeblich – für den Stabschef der SA auch Kontakte zur SPD-Führung herzustellen.36 Bell konnte oder wollte jedoch den Auftrag Röhms, „unter allen Umständen“ Paul Schulz zu „erledigen“ 37, nicht ausführen. Stattdessen beschuldigte er seinen Vorgesetzten Du Moulin Eckart am 16. April 1932, dass er ihn – durch dessen Anzeige wegen des Mordkomplotts gegen die „Röhm-Clique“ – in eine „mehr als heikle Situation gebracht“ habe. Dabei bescheinigte er ihm „Unfähigkeit auf dem Gebiet des Nachrichtendienstes“.38 (Röhm musste wegen Du Moulins Anzeige seinen „Offizier z.b.V.“ auf Druck Hitlers ablösen. Der Anfang Juli in München stattfindende Prozess zur „Tscheka-Affäre“ führte zur geringfügigen Verurteilung eines NSDAP-Mitglieds, nicht aber zur Klärung der Vorwürfe.) Mitte April scheint Bell vorübergehend die Nerven verloren zu haben, aber auch sein bisheriges Vertrauen zu Röhm. Immerhin erreichte der Agent am 19. April 1932 eine „große Aussprache“ mit dem Stabschef der SA, dem das sechs Tage zuvor erfolgte reichsweite Verbot seiner Schlägertruppen schwer zu schaffen machte. Dabei soll Röhm ihm nicht nur seine „größte Dankbarkeit für die ihm geleisteten Dienste“ versichert, sondern ihn neuerdings aufgefordert haben, ihm in seinem eigenen „schärfsten Kampf gegen die Reichsleitung“ der NSDAP beizustehen.39 Am folgenden Tag drohte Bell dem inzwischen bereits abgelösten Du Moulin Eckardt, da er Röhm „ungünstig beeinflusst“ habe, ihn bei weiterem „Intrigiren rücksichtslos“ anzugreifen. Dessen Antwort vom 22. April 1932 war voll ironischer Nachsicht: Er habe keinen Grund, dem „lieben Schursch“ aus dem Weg zu gehen, aber den „Stand des Mondes“ festgestellt und daraufhin „die Lösung“ ge-

671 u. 681 f. sowie Rieß, Rolf/Landau, Peter (Hrsg.): Philipp Loewenfeld: Recht und Politik in Bayern zwischen Prinzregentenzeit und Nationalsozialismus. Die Erinnerungen, Ebelsbach 2004, S. 531 f. Rechtsanwalt Loewenfeld vertrat die Münchener Post. 36 Stampfer, Friedrich: Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 251–253; Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 128. 37 Erwähnt in Bells Austrittserklärung aus der NSDAP vom 8. Oktober 1932 (s. im Text nach Anm. 45) und in seinem „Rechenschaftsbericht“ aus dem Herbst 1932 (wie Anm. 29), S. 219. 38 Druck: Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 271. Eine Abschrift dieses Schreibens und weitere Bell-Korrespondenz mit Röhm und Du Moulin Eckardt hat Paul Schulz „später“ von Rechtsanwalt Sack erhalten. Ebd. Bd. II/2, S. 665. 39 Nach Bells „Rechenschaftsbericht“ vom Herbst 1932 (wie Anm. 29), S. 220. Dazu auch Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 136 f.

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funden – offensichtlich hielt er Bell für wetterwendig und entsprechend partiell unzurechnungsfähig. Der Adressast knickte auch postwendend ein und gestand Differenzen über die „Wahl der Mittel und Wege“ ihrer Zusammenarbeit zu, nicht aber über deren „Ziel und Zweck“.40 Während Bell noch am 21. April 1932, wie er aus Rosenheim einem Freund mitteilte, auf das „Einlösen der mir gemachten Versprechen“ wartete, schaltete er am 30. April 1932 „wieder“ Rudolf Hess in seinen Kleinkrieg ein und drängte wegen der von verschiedenen Seiten der NSDAP gegen ihn betriebenen „grundlosen Hetze“ auf eine Rechtfertigung seiner Tätigkeit in deren Dienst. Als Grund für Röhms inzwischen erkennbare Distanzierung nannte Bell seine Weigerung, dessen „Todfeind“ Paul Schulz „zu vernichten“. Da er niemals „selbständig Politik getrieben“, sondern stets nur nach Weisungen des Stabschef gehandelt habe, bat er Hess, ein innerparteiliches Verfahren gegen ihn, Bell, zu beantragen, um den „wahren Tatsachenverhalt“ festzustellen. Eine Kopie dieses Briefes schickte Bell am selben Tage an Röhm und informierte ihn zugleich von „andauernden Verdächtigungen“ Rosenbergs gegen ihn, die er sich nicht mehr länger bieten lassen werde, „und wenn ich einen öffentlichen Skandal daraus machen muss“. Der Agent bejammerte die „Undankbarkeit der Partei“ und war nicht bereit, nach seinen „gefährlichen und aufreibenden Spezialaufträgen“ nunmehr „spurlos“ zu verschwinden. Er fand es „einfach unerhört“, dass man ihn, „ohne jeden Beweis einer Schuld“, verurteile, obwohl er für die NSDAP mehr getan habe „wie 90 Prozent des ganzen Braunen Hauses“; er sei schon Nationalsozialist gewesen, „als die heutigen meisten Gehaltsempfänger der NSDAP überhaupt [noch nicht] gewusst haben, was und wer Hitler ist“. Deswegen bat Bell den Stabschef, ihm eine Unterredung mit Hitler zu ermöglichen, in der er die gegen ihn „getriebene schamlose Hetze erklären“ könne; im „Weigerungsfalle des Führers oder ev. seines Sekretärs Hess“ werde er seine „Rechtfertigung erzwingen“.41 Nach diesem Auftrumpfen seines Untergebenen trennte sich Röhm einige Tage später abrupt von Bell, teilte ihm diesen Schritt aber nur durch einen Adjutanten mit, noch dazu ohne Begründung. A. Dornheim geht davon aus, dass Bells Ausscheiden „auf Druck Hitlers“ und durch Mitwirkung Rosenbergs erfolgt sei42, A. Dimitrios hingegen von Röhms Furcht vor einer Ablösung durch Paul Schulz, „auf dessen Seite er Bell vermutete“. Dieser habe sich seit März von Röhm „in 40 Erwähnt bei Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 59. Siehe auch Anm. 45. 41 Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 273 f. u. 276 f. 42 Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 141. Bells frühere Verlobte, Hildegard Wieland geb. Huber, erklärte am 9. Mai 1947 in einem Prozess in Traunstein wegen des „Fememordes der SA“ an Bell: Röhm und Bell hätten 1932 ihre Beziehungen infolge von „Meinungsverschiedenheiten“ abgebrochen. IfZ, Gt. 01.02.

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einer Schärfe“ abgesetzt, auf die sein Chef nur mit dem von seinem Agenten provozierten „totalen Bruch der Beziehungen“ habe antworten können.43 Das NSDAP-Mitglied Nr. 290 055 hatte (zu) hoch gepokert. Das von ihm beantragte Verfahren wurde ihm verweigert –, ebenso ein Gespräch mit Hitler. Bell erhielt nicht einmal die noch ausstehende Restzahlung (1.050,– RM plus Spesen). Nachdem er sie mehrfach vergeblich angemahnt hatte, verklagte er Röhm deswegen beim Landgericht München I, allerdings erst Ende des Jahres.44 Ob und gegebenenfalls welche Tätigkeit Bell ab Mai 1932, neben der für das „Reichsbanner“, ausgeübt hat, ist bisher nicht bekannt. (Das SA-Verbot war am 13. Juni 1932 aufgehoben worden.) Am 3. Oktober 1932 war er Hauptzeuge in einem Beleidigungsprozess in München, den die NSDAP-Politiker Franz Xaver Schwarz und Paul Schulz gegen die „Münchener Post“ angestrengt hatten, weil das Blatt im April („Tscheka-Affäre“) beide mit der Existenz eines „Mordkommandos im ,Braunen Haus‘“ in Verbindung gebracht hatte – was für Schulz nicht zutraf. Bell belastete dabei Röhm – der auf Befehl Hitlers als Zeuge ebenso wenig erschienen war wie drei andere SA-Führer – derart, dass der Prozess für Röhm „einfach vernichtend“ war.45 Dazu trug auch die Aussage Karl Mayrs über sein Gespräch am 2. April 1932 in Berlin mit dem Stabschef der SA bei, der in „Todesangst“ wegen des gegen ihn beabsichtigten Attentats zu ihm gekommen 43 Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 669 u. 671. Am 30. Mai 1932 teilte Bell einem Bekannten mit, dass er sich „nun in schärfstem Gegensatz zu Röhm“ befände, der ihm vorwerfe, „selbständig Politik getrieben“ zu haben. Ebd. S. 277 f. 44 Am 23. Dezember 1932. Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft (wie Anm. 16), S. 317 u. 341, Anm. 107. Bells „Rechenschaftsbericht“ (s. Anm. 29) diente der Vorbereitung des Verfahrens. In Gerlichs Artikel im „GW“ vom 11. Januar 1933 „Sittliche Erneuerung Deutschlands durch Kleingeld“ – eine ironische Antwort auf die Frage, wer Hitler das ihm derzeit fehlende „Großgeld“ zahlen werde – hieß es: „Zum wievielten Male verhandelt eigentlich Röhm die Hitlersche SA und an wen?“ Über diese Frage dürfte ein „demnächst stattfindender Prozeß [. . .] recht weitgehende Aufschlüsse bringen“. 45 So später Paul Schulz, der auch das „Erscheinen“ von Bell erwähnt, der sich inzwischen mit Röhm „verkracht“ habe. Wohl bei diesem (nicht datierten) Zusammentreffen soll Bell gegenüber Schulz „furchtbar auf Hitler geschimpft“ und ihn „einen ,Deep‘ [wohl: ,Depp‘] genannt haben, mit dem er nichts zu tun haben wolle“. Diese Einschätzung habe er, Schulz, Hitler am 5. Oktober 1932 mitgeteilt und ihn vor Bell gewarnt, Hitler ihn jedoch an Röhm verwiesen, den er auch entsprechend unterrichtet habe. Dann allerdings habe Hitler seine Ansicht, dass Röhm „den Bell wegen Meineids verklagen“ müsse, wegen der bevorstehenden Reichstagswahlen (6. November 1932) revidiert. Der ausführliche Bericht über den Prozess in der „Münchener Post“ vom 4. Oktober 1932 war überschrieben: „Hitlers Stabschef Röhm sucht Zuflucht beim Reichsbannerführer Major Mayr“. Über den Prozess Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 631, 665, 674 f. u. 684 f., in Ergänzung zu Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 126–128, ferner Loewenfeld: Recht und Politik in Bayern (wie Anm. 35), S. 533–536, mit Bells Äußerung: „Ich weiß, dass ich umgebracht werde, ob das nun wenig früher oder später geschieht, ist schließlich egal.“ S. 536. Dazu auch Anm. 123.

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sei. Vor Gericht bezeichnete sich Bell „theoretisch“ noch als Mitglied der NSDAP. Durch die Berichterstattung kam sein Name (wieder) in die Öffentlichkeit. Offensichtlich hatte der Agent seinen Absprung aus der NSDAP längst vorbereitet. Am 8. Oktober 1932 begründete er seinen Austritt gegenüber ihrer Reichsleitung mit „unwahren“ Presseerklärungen Röhms – als Antwort auf Bells Aussagen im jüngsten Beleidigungsprozess – über seine, Bells, Rolle; denn er habe „stets und allein“ in dessen Auftrag gehandelt. Der Stabschef der SA habe sich von ihm getrennt, „als ich ihn darauf aufmerksam machen mußte, daß ich nicht ebenfalls homosexuell bin; seinen intimen Freund Graf Du Moulin Eckart (der selbst für Herrn Hitler tabu ist) einer vernichtenden Kritik als ,Chef des Nachrichtendienstes‘ unterzog; mich weigerte, dem SA-Stabschef Röhm den Kopf des Parteigenossen Schulz vor die pp. Füße zu legen“. Bell verwies darauf, dass Hitler, der die „unglaublichen Zustände in seiner Reichsleitung“ seit langem kenne, nicht einmal den Versuch mache, „in seinem eigenen Haus Ordnung und Sauberkeit“ zu schaffen. Deswegen ergäbe sich „für jeden denkenden Menschen die zwingende Notwendigkeit, solange [!] aus der NSDAP auszutreten, als solche ,Führer‘ Form und Inhalt der Partei bestimmen“.46 Wohl wegen dieses Vorbehalts – der bisher nicht beachtet worden ist – erklärte der NSDAP-Reichsschatzmeister, Schwarz, eine Wiederaufnahme Bells für „ausgeschlossen“.47 Trotz seiner Vorwürfe gegen Hitler und Röhm fiel es deren Absender offensichtlich schwer, sich gänzlich von seiner braunen Vergangenheit zu lösen.48 An seiner antibolschewistischen Einstellung hielt er fest. Viele Zeitungen druckten Bells – bedingte – Austrittserklärung, darunter die kommunistische „Welt am Abend“ in Berlin, andere berichteten darüber. Auch das „Rosenheimer Tagblatt Wendelstein“ publizierte sie am 17./18. Oktober 1932 („Ein Rosenheimer nimmt Abschied – Bei den Kommunisten gelandet?“). Dazu hieß es im Vorspann dieses nicht gezeichneten Artikels, dass „wir ihm [Bell] in Rosenheim früher öfter begegnet sind“, Bell jedoch, „als er bei der Hitler-Partei gelandet war, uns armselige Presse-Sünder nur noch mit Verachtung“ gestraft habe. Der mit „Sprachentalenten“ versehene Ingenieur sei im Braunen Haus ein „gern gesehener Gast“ gewesen. Bereits am folgenden Tag druckte der „Rosenheimer Anzeiger“ eine Berichtigung Bells („als Abonnent Ihres Blattes“), da er in keiner Weise „mit den Kom46 Druck: Tobias: Der Reichstagsbrand (wie Anm. 22), S. 695 f. (ohne Beleg) und Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. II/2, S. 278 f. 47 Tobias: Der Reichstagsbrand (wie Anm. 22), S. 696. Seine Austrittserklärung teilte Bell auch Mayr mit, der öffentlich von Röhms „Flucht zum Reichsbanner“ sprach. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 131. 48 Nach dem in Anm. 28 erwähnten Flugblatt eines unbekannten Kommunisten von 1933 soll Bells Austritt aus der NSDAP nur ein „Trick“ gewesen sein. Ebd., S. 184. Siehe dazu auch Anm. 52 und 54.

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munisten sympathisieren könnte“. Nach seiner Annahme war seine Austrittserklärung aus der NSDP, die er „vertraulich“ behandelt habe, „aus dem Braunen Haus in die Hände der Kommunisten gekommen“. Drei Monate später stellte der „Rosenheimer Anzeiger“ Bell einen Ausweis aus49, der ihn berechtigte, an den Pressekonferenzen der Reichsregierung teilzunehmen. V. Seit Oktober 1932: Nachrichtenbeschaffer für Gerlich Vermutlich hat Karl Mayr den bereits für ihn tätigen Agenten, der einen neuen Auftrag- und Geldgeber suchte, Gerlich empfohlen.50 Dass Bell sich, wie H.-G. Richardi/K. Schumann vermuten, vornehmlich aus verletzter Ehre wegen seiner abrupten Entlassung durch Röhm, „schließlich Gerlich zugewendet“ habe51, ist kaum anzunehmen, eher schon wegen seiner finanziellen Lage und vielleicht auch der Möglichkeit zu – anonymer – publizistischer Rache. Nach den 1941 verfassten Erinnerungen von Erich Fürst v. Waldburg-Zeil ist Bell, der für ihn undurchsichtige Leiter des „Nachrichtendienstes [des ,GW‘] bezüglich NSDAP“, im Frühjahr (richtig: Oktober) 1932 „zum Zwecke einer häßlichen Provokation gemeinster Art“, wie für Röhm, auch zu Gerlich gekommen. Dessen „tatsächliche politische Linie aus einer klaren Grundhaltung“ und lange Gespräche mit dem Publizisten hätten auf Bell einen „ungeheuren Eindruck“ gemacht, so dass er sich schließlich „ganz auf die Seite des ,GW‘“ gewandt habe, ohne jedoch „seine Beziehungen zur NSDAP“ abzubrechen.52 Im Mai 1946 ergänzte Waldburg-Zeil diese – nicht eindeutig zu entschlüsselnde – Einschätzung mit dem Hinweis, dass Gerlich eine „Reihe wichtiger Verbindungen zu oppositionellen Persönlichkeiten“ der Hitlerpartei gehalten habe, die „zum Teil durch die Hände“ Bells gegangen seien.53 Nun sind allerdings keine anderen „Verbindungen“ Gerlichs zu NS-Oppositionellen (Gregor Stras49

Siehe Anm. 76. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 15, Anm. 31. 51 Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 75. Nach Hermann Lutz soll Bell („around 1932“) aus noch unbekannten Gründen Gerlich Material „about the underworld activities“ der NSDAP geliefert haben. Lutz, Hermann: GermanFrench Unity. Basis for European Peace, Chicago 1957, S. 114. 52 Waldburg-Zeils Einschätzung folgte 1949 Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3): „seltsame Gestalt, . . . doch etwas allzu schillernde Persönlichkeit“. S. 87. Neumann hat Bell als „eine sehr zwiespältige Gestalt“ und als Gerlichs teuersten Mitarbeiter bezeichnet. Steiner nannte Bell „Verbindungsmann von Waldburg-Zeil und Gerlich zu den Nationalsozialisten“. Zitiert bei Bender, Oskar: Der gerade Weg und der Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur katholischen Widerstandspresse vor 1933, Diss. München 1953, S. 466. Amalie Breit, 1932/33 Sekretärin im Naturrechts-Verlag, erklärte am 7. Oktober 1986: Bell „war in beiden Lagern, sowohl bei Hitler wie bei Dr. Gerlich. [. . .] Ich hatte Angst, wenn ich ihn sah.“ Der Zweimeter-Mann habe mit Gerlich am Telefon „verschlüsselt“ gesprochen. Nachlass Gerlich (wie Anm. 2). 53 Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 341. 50

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ser?) bekannt. Zudem unterschied Gerlich in seiner Kampfpublizistik, anders als Bell, auch nicht zwischen einzelnen Flügeln innerhalb der völkischen Bewegung. Die Redakteure des „GW“ kannten Bell nur unter dem Namen „Konrad“.54 Bisher ist eine bereits 1935 veröffentlichte Aussage des „GW“-Mitarbeiters Curt Graf v. Strachwitz unbeachtet geblieben.55 Danach hat Gerlich „in den letzten Monaten vor dem nationalen Umsturz einen nationalsozialistischen Spitzel“ in die Redaktion aufgenommen, obwohl er „von verschiedenen Seiten hinsichtlich der Gesinnung dieses Menschen gewarnt worden war“. Da Strachwitz die Entscheidung Gerlichs für den – namentlich nicht genannten – „Spitzel“ als Folge eines Konflikts zwischen der „Gutherzigkeit“ und „Menschenkenntnis“ des Publizisten begründete, scheint bei Bells Wahl dessen prekäre finanzielle Lage eine Rolle gespielt zu haben. Strachwitz’ Kommentar: „Vielleicht hat diese übelangebrachte Güte ihm [Gerlich] das Leben gekostet.“ Belegt ist, dass Gerlich seinen Nachrichtenbeschaffer einige Male an Wochenenden mit nach Eichstätt genommen hat – vermutlich als Fahrer seines PKW –, wo Prof. Wutz das Gespräch mit Bell wegen dessen Türkisch-Kenntnissen geschätzt haben soll. Es gibt keinen Beleg, dass der Agent an Besprechungen des Freundeskreises teilgenommen hat. Wie E. Fürst v. Waldburg-Zeil (1941) hielten auch J. Steiner (1946), E. v. Aretin (1949/1983) und O. Bender (1953) Bells „Nachrichtendienst“ für „immer zuverlässig“. Als Beleg für diese Aussage galten die schon erwähnten Artikel Gerlichs vom 26. Februar und 1. März 1933 im „GW“, die jedoch auf gefälschten, von Bell übermittelten Informationen beruhten. Davon wird ebenso noch die Rede sein wie von weiterem „wichtigen und bedeutenden Material“, das Bell nach den Memoiren von Erich Fürst v. Waldburg-Zeil noch Anfang März 1933 lieferte.56 Während Dornheim 1993 den Beginn von Bells Tätigkeit für Gerlich „etwa seit Anfang 1932“ ansetzt, variierte er ihn 1998: „April oder Mai“ 1932, „Spätsommer“, „spätestens Oktober“.57 Nach Richardi/Schumann hat Bell im „Herbst 1932“ den Weg zu Gerlich gefunden.58 Dieser Hinweis trifft zu, der weitere, dass 54

Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 55. Verus: Vom Preußen zum Großdeutschen. Gespräche Dr. Gerlichs mit Verus [= Strachwitz], Innsbruck 1935, S. 11. 56 Siehe Anm. 105. 57 Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft (wie Anm. 16), S. 319; Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 148 u. 200. 58 Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 55. – Hell erklärte in seiner Vernehmung am 4. April 1933 in Kufstein, dass er den am Tage zuvor ermordeten Bell „im Laufe der letzten 4 Monate“ durch Gerlich kennengelernt habe. Dabei bezeichnete sich der Schriftleiter des „GW“ fälschlich („seit 4 Jahren“) als dessen „Chefredakteur“. IfZ, Gt 01.02. Hildegard Wieland erklärte 1947 (wie Anm. 42): Bell habe „seit Ende 1932, Anfang 1933“ für den „Geraden Weg“ gearbeitet. 55

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er ihm seit November regelmäßig „Tatsachenmaterial über die Nationalsozialisten“ geliefert habe, allerdings nur unter Streichung der „Tatsachen“ und der Ersetzung von „November“ durch Oktober. Der verbleibende Rest besteht aus zwei von ihnen zitierten – authentischen – Berichten Bells aus Berlin vom 5. Dezember 1932 und 1. Februar 1933, die Richardi/Schumann allerdings nur durch Verweis auf eine Photokopie, ohne Bestandsangabe, belegen. Zudem war die Schilderung im zweiten Bericht über den Ablauf der ersten Sitzung der Regierung Hitler am Nachmittag des 30. Januar 1933 Spekulation59, wie sich aus einem Vergleich mit dem Protokoll dieser Sitzung ergibt.60 Im Übrigen zitierten die Verfasser nur einen Bruchteil dieses langen Bell-Schreibens, in dem die Vorgeschichte der Kabinettsbildung märchenhaft ausgeschmückt ist. Gesicherte Erkenntnisse über die Rolle Bells als Informant des „GW“ lassen sich aus neuem Quellenmaterial gewinnen. Dabei handelt es sich um mehr als 20 – ganz überwiegend: handschriftliche, teilweise lange – Berichte des Agenten an Gerlich, meist in Briefform, fast ausschließlich aus Berlin. Sie beginnen Anfang Oktober 1932 und befinden sich im Nachlass Gerlich. Aus ihnen hat ihr Adressat, in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlichen Zeitabständen, Informationen für seine Artikel entnommen, bisweilen Passagen abgedruckt, auch unter Verweis auf „unseren Berliner Mitarbeiter“ oder „Aus absolut zuverlässiger Quelle“. Weitere von Bell stammende Informationen in „GW“-Artikeln Gerlichs, für die entsprechende Vorlagen fehlen, lassen sich aus der Wiedergabe seiner eigenwilligen Wortwahl, eingeschlossen unverkennbarer Kraftausdrücke, erschließen.61 Als ich 1994 aus dem Gerlich-Nachlass erstmals Dokumente für einen Beitrag „Fritz Gerlich – der Publizist als Prophet. Die Voraussetzungen seines Kampfes gegen Hitler 1931–1933“ zitieren konnte62, erwähnte ich, dass sich Bells Infor59 Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 56 u. 192, Anm. 18, der erstgenannte Bericht (ohne Datierung) Ebd. S. 78 u. 195, Anm. 20. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) vermerkte in diesem Zusammenhang, dass Richardi „jegliche Zusammenarbeit und jeden gegenseitigen Informationsaustausch“ abgelehnt habe. S. 272, Anm. 573. 60 Minuth, Karl-Heinz (Bearb.): Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler 1933–1934, Boppard 1983, S. 2–4. 61 Demgegenüber ging Bender: Der gerade Weg und der Nationalsozialismus (wie Anm. 52) 1953 davon aus, dass sich „nicht mehr feststellen ließe, welche und wie viele seiner Informationen der ,GW‘ durch Bell erhalten habe“. S. 504. Inzwischen sind der „GW“ und dessen Vorgänger (bis Ende 1931) „Illustrierter Sonntag“ im Internet im Volltext zugänglich. Ausgewählte Artikel Gerlichs und Naabs enthält die Dokumentation: Steiner, Johannes (Hrsg.): Prophetien wider das Dritte Reich. Aus den Schriften des Dr. Fritz Gerlich und des Paters Ingbert Naab O.F.M.Cap, München 1946. Zur Problematik dieser Sammlung Anm. 97. 62 Morsey, Rudolf: Fritz Gerlich – der Publizist als Prophet. Die Voraussetzungen seines Kampfes gegen Hitler 1931–1933, in: Kleindienst, Eugen/Glatzel, Norbert

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mationen – entgegen der bisherigen Einschätzung – keineswegs immer als zuverlässig erwiesen hätten. 2010 ergänzte ich, dass noch zu klären bleibe, in welcher Form sie der Publizist verwendet habe.63 Da einige Bell-Berichte fehlen, ist nicht auszuschließen, dass Gerlich sie zerschnitten und Passagen daraus in seine Manuskripte übernommen hat. Vermutlich sind erste Mitteilungen des Agenten in Gerlichs Artikel vom 9. Oktober 1932 eingeflossen „Ist die Hitlerpartei pleite? Reichsfeldzeugmeisterei zahlungsunfähig – Private Villen wachsen“. Beschrieben waren darin Hitlers Landhaus in Berchtesgaden und, ebenfalls mit Fotos illustriert, das „luxuriöse Wochenendhaus“ des Direktors des Eher-Verlags der NSDAP in München, Max Amann, sowie die Baustelle der von ihm und dem NSDAP-Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz erstellten Villa in St. Quirin am Tegernsee. Weiter hieß es, dass die Partei vor der Pleite stehe, nicht aber deren Führertum.64 Ein zweiter Artikel des Chefredakteurs in derselben Ausgabe („Die Aufgabe der Gegenwart“) enthält Einschätzungen, die ebenfalls von Bell stammen könnten: Die Führung der NSDAP „besteht bekanntlich aus Bankrotteuren, Desperados, in ihrer Klasse Entwurzelten, vielen Kriminellen, Perversen und Demagogen ohne Fähigkeit, einen ernsthaften Beruf“ auszuüben. Gerlich warnte vor dem Einzug des „größten Gesindels, das z. Z. in Deutschland herumläuft“, in den Reichstag bei dessen Wahl am 6. November 1932. Die in der folgenden „GW“-Nummer vom 16. Oktober 1932 („Papens Heiliges Reich“) publizierte Einschätzung der Hitlerpartei als „nichts anderes als ein Wiederaufleben des liberalen Aufklärichts“ entsprach Gerlichs Ablehnung des weltanschaulich-antikirchlichen Liberalismus. Er hatte bereits am 1. Mai 1932 die Auflösung des politischen Liberalismus seit 1912 und den späteren Übergang seiner Anhänger in die NSDAP begründet65 und ergänzte sie jetzt mit der – vermutlich von Bell stammenden – Information, dass nach Röhms

(Hrsg.): Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. Festschrift für Anton Rauscher, Berlin 1993, S. 529–548, hier S. 530, Anm. 7. 63 Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 15, Anm. 31. 64 Nach Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15) bezog sich Amanns „Wut“, mit der er Gerlich am 9. März 1933 misshandelt habe, auf das Foto der Amann-Villa in diesem Artikel. S. 125. Die Autoren erwähnen nicht, dass diese Vermutung Johannes Steiner bereits am 9. März 1958 ausgesprochen hatte: Steiner, Johannes: In memoriam Dr. Fritz Gerlich, in: „Echo der Zeit“ (Recklinghausen). 65 In einem Artikel „Nationalsozialismus: Zersetzter Liberalismus“. Ähnlich am 30. November 1932 („Die nächsten 60 Tage“) und am 12. Februar 1933 („Die ,Schwarzbraune‘ Koalition“): „Der Umschichtungsprozeß der Wähler seit 1919 ist ein Prozeß der Auszehrung der grundsätzlich liberalen Parteien durch die NSDAP.“ Ähnlich am 15. Februar 1933 („Hitler und das Ausland“) und zugespitzt in einem zweiten Artikel dieses Tages („Rundfunk-Kritik“): „Der Hausphilosoph des preußischen Liberalismus und des Moskauer Bolschewismus ist der gleiche Hegel.“

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Aussage „mindestens 30 Prozent der SA aus ehemaligen Rotfrontleuten“ bestünden.66 Eine „Berichtigung“ der „Reichszeugmeisterei (nicht: Reichsfeldzeugmeisterei)“ der NSDAP zu Gerlichs Behauptung vom 9. Oktober 1932, wonach sie keineswegs zahlungsunfähig sei, veröffentlichte der Chefredakteur im „GW“ am 23. Oktober 1932 („Hitlerpleite und Reichskassen“), blieb aber dabei, dass die Partei Schulden habe. Deswegen begleite ihr Reichsschatzmeister („wie man sich im Braunen Haus erzählt“) den „Führer“ auf dessen kostspieligen Wahlreisen in Deutschland, um auf diese Weise jeweils die „Kasseneinnahmen“ seiner Versammlungen „sofort sicherstellen“ zu können. Weitere Informationen Bells in derselben Ausgabe enthält der nicht gezeichnete Artikel „Gleicher Sold und gleiches Essen“ über den Luxus und die hohen Monatsbezüge der „SA- oder SS-Oberführer“: 650,– RM, Himmler: 1.000,– RM, Röhm „noch eine Kleinigkeit mehr“. Dagegen stehe die Notlage vieler der „unseres Wissens“ 70 Prozent Arbeitslosen unter den 500.000 SA-Männern. Ihnen würden zudem „allmonatlich unerbittlich, bei Androhung sofortigen Ausschlusses, 80 Pfg. Beitrag und 20 Pfg. Versicherung abgeknöpft“. Außerdem müssten sie sich ihre „gesamte Ausrüstung“ sowie die Kosten der Teilnahme an Aufmärschen von ihrer Arbeitslosenunterstützung „buchstäblich abhungern“. Nach der Aufzählung weiterer Beispiele des „Sozialismus“ der NSDAP – den Gerlich auch künftig ironisierte – hieß es: Da die „braunen Soldaten“ weiter auf die ihnen versprochene „Erfüllung ihrer Wunschträume“ warteten, träten „immer häufiger“ SA-Männer zu den Kommunisten über, was zeige, „dass vom Nationalsozialismus zum Kommunismus nur mehr ein Schritt“ sei. Mitte Oktober dürfte das Treffen Gerlichs mit Bell erfolgt sein, auf das sich der Agent in einem Brief vom 26. Oktober 1932 aus Krottenmühl am Simssee bezog. Darin bat er ihn, unter Hinweis auf ihr vorangegangenes (nicht datiertes) Gespräch in München, um Vermittlung bei Rechtsanwalt Pestalozza wegen seines früheren Spionage-Prozesses.67 Weiter informierte er Gerlich darüber, dass er seine – wohl mündlich mit ihm erörterte – Verbindung zum „Heimatschutz Bayern“ inzwischen bereits wieder abgebrochen habe.68 (Danach hatte Bell offen66 Das hatte Röhm am 2. April 1932 Karl Mayr mitgeteilt. Anm. 33 und 45. Vermutlich kannte Gerlich nicht Hitlers Aussage vom 9. Februar 1932 in einer Rede im Berliner Sportpalast, dass zwei Drittel der SA-Leute „frühere Proleten des Roten Frontkämpferbundes seien“. Diese Information hatte der preußische Ministerpräsident Otto Braun (SPD) am 4. März 1932 Reichskanzler Brüning mitgeteilt. Koops, Tilman (Bearb.): Akten der Reichskanzlei. Die Kabinette Brüning I und II, Band 3: 10. Oktober 1931 bis 30. Mai 1932, Boppard 1990, S. 2355. 67 Siehe Anm. 21. – Anton Graf v. Pestalozza war Gerlichs Rechtsanwalt. 68 Bei diesem Treffen dürfte Bell Gerlich auch die Abschrift eines Briefes von Oberstleutnant a. D. Julius v. Reichert, Sekretär des Vorsitzenden des „Heimatschutzes Bayern“, Escherich, vom 3. Oktober 1932 an Herbert v. Bose, Reichspressestelle in Ber-

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sichtlich versucht, auch mit diesem konservativen Wehrverband, den Georg Escherich 1929 gegründet hatte und leitete, ins Geschäft zu kommen.) Nach Agentenmanier verschlüsselte er in diesem Brief an Gerlich einen Namen („M.M.M.“) und entstellte einen anderen durch das pejorative „Mosessohn“.69 Gemeint war Arno v. Moyzischewitz, Leiter einer Ende September 1932 in Berlin errichteten privaten Werbezentrale der Regierung v. Papen.70 In einem nicht gezeichneten, aber von Bell bestückten Artikel „Berliner Bilderbogen“ im „GW“ vom 30. Oktober 1932 war die Rede von den neuerdings in Berlin aufgetauchten SA-Posten, die für den Wahlkampf sammeln müssten: „Der Hitler-Circus hat seine Clowns auf die Straße geschickt.“ Hingegen stellten sich Röhm und Himmler nicht auf die Straße, sondern seien stattdessen mit ihrem „Nazifreund“ Werner v. Alvensleben auf der Jagd gewesen. Dieser Vertrauensmann Schleichers solle ihnen die „Nazis in die Hand spielen“. Gleichzeitig arbeite Papen weiterhin mit seinem „Reklamechef “, dem „Kapp-Putschisten Moyzischewitz (auf deutsch Mosessohn)“.71 lin, übergeben haben, aus dem Gerlich vier Wochen später in einem „GW“-Artikel zitierte (s. Anm. 71 f.). Darin teilte v. Reichert mit, dass er „vor einigen Tagen“ in München mit Bell gesprochen habe, „der das Herz des bayerischen Volks an seinen Wurzeln, nicht auf dem Weg über die Bürokratie, studieren“ wolle. Bell habe ihn zu diesem Brief veranlasst, da er, Reichert, von ihm „Dinge“ erfahren habe, „von denen er glaubt, dass sie in Berlin nicht oder nicht hinreichend bekannt“ seien. Das beträfe den Gegensatz zwischen dem „überparteilichen und reichsfreudigen Heimatschutz Bayern“ und der „Bayernwacht“ der „hochschwarzen [Georg] Heim/Schäffer-Richtung“. Letztere verfüge, im Gegensatz zum „Heimatschutz Bayern“, über reichliche Mittel, so dass der „Heimatschutz“ in die Defensive gedrängt werde. Wenn er aber „unterläge“, wäre die Reichsregierung (Papen) „um eine ihrer sichersten Positionen in Bayern gebracht“. Nach dem Tenor dieses Schreibens zu urteilen, war Bell in der Reichspressestelle bekannt. Der Hinweis in den Erinnerungen von Erich Fürst Walburg-Zeil, dass auch Papen mit Bell „gearbeitet“ habe (Gerlich-Edition [wie Anm. 1], S. 330), könnte sich auf Bells Verbindung mit der Reichspressestelle beziehen. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 272, Anm. 573. Als Vizekanzler Hitlers übernahm Papen 1933 Bose, der 1931 den Nachrichtendienst des Stahlhelms geleitet hatte, in sein Büro. Der Oberregierungsrat wurde am 30. Juni 1934 im Zuge des „Röhm-Putsches“ ermordet. 69 So habe ihm Reichert jetzt geschrieben, „er könne auf Grund besonders gelagerter Verhältnisse mit mir nicht zusammen arbeiten“ und „Mosessohn“ mitgeteilt, dass dieser „einen andern Herrn als Aushängeschild benennen möge, damit er [Reichert] besser im Dunkeln arbeiten könne, und zwar für Schleicher“. Inzwischen jedoch zeigten Escherich und Reichert „eine veränderte Auffassung“ und sähen „das Heil Deutschlands in einer Schleicher-Hitler-Diktatur“. 70 Der Generalstabsoffizier a. D. v. Moyzischewitz, ein Bekannter Schleichers aus dem Ersten Weltkrieg, war 1920–1932 in führenden Positionen deutscher Wirtschaftsunternehmen tätig, bevor er von September 1932 bis Januar 1933 die „Volksdienst GmbH“ in Berlin leitete. Die Tätigkeit dieser Werbezentrale (erwähnt bei Vogelsang: Reichswehr, Staat und NSDAP [wie Anm. 25], S. 283 f.) ist bisher noch nicht untersucht worden. 71 Gemeint war dessen Einsatz im „Heimatschutzbataillon Heiß“ in Nürnberg „gegen demonstrierende Arbeiter im Umfeld des Kapp-Putsches im März 1920“. Hübner, Christoph: Reichsflagge, 1919–1927, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL (2010).

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VI. Bell am 20. November 1932: „Wir stehen also heute vor dem endgültigen Zusammenbruch der Nazis“ Am 6. November 1932 veröffentlichte Gerlich („Stabschef Röhm: ,Mögen Sie junge Neger in Uniform?‘“) als Faksimile die von Bell besorgte Rechnung des Berliner Hotels „Kaiserhof“ („4.048,– RM“) für einen zehntätigen Aufenthalt Hitlers und elf seiner „Bonzen“, mit einem entsprechend ironischen Kommentar. In Berichten des Agenten vom 20., 22. und 23. November – eine weitere Information vom 21. November 1932 ist erwähnt, liegt aber nicht vor – glossierte er Hindenburgs Bemühungen um eine Regierungsbildung nach der Reichstagswahl vom 6. November 1932. (Dabei waren die Stimmen für die NSDAP von 37,4 Prozent auf 33,1 Prozent zurückgegangen, ihre Fraktion aber weiterhin die stärkste im Reichstag.) Danach habe Hitler, weil er am 19. November 1932 die ihm von Hindenburg gestellten Bedingungen zur Bildung eines regierungsfähigen Präsidialkabinetts nicht erfüllen konnte oder wollte, mit seinen „Trabanten“ im „Kaiserhof“ einen „ersten Krach“ gehabt: „Es muß ein Saustall ohnegleichen gewesen sein“ (20. November 1932). Bells anschließende Prophetie, dass Röhm „erledigt“ sei, traf ebenso wenig zu wie die von ihm erwartete Spaltung der NSDAP und die Rückkehr Papens als Regierungschef. Da „Adolf niemals den Auftrag zur [Regierungs-]Bildung“ erhalten werde, folgerte Bell: „Wir stehen also heute vor dem endgültigen Zusammenbruch der Nazis.“ Bereits am 20. November 1932 hatte Gerlich („Ob Papen oder Bracht: Schaffung eines neuen Mitteleuropas!“) „aus absolut zuverlässiger Quelle“ die Fehlprognose übernommen, dass eine Ernennung Hitlers durch Hindenburg „unter gar keinen Umständen in Frage“ komme. Auch künftig hielt Bell an seiner Unterschätzung des NSDAP-Führers fest und titulierte ihn als „Hanswurstl“ (20. und 28. November sowie 16. Dezember 1932) oder „Hanswurscht“ (18. Januar; „Hanswurstiade“, 26. Januar 1933). Gerlich blieb von dieser Linie nicht unbeeindruckt und rechnete im „GW“ vom 27. November 1932 („Das Ergebnis der Berliner Verhandlungen“) mit der Wiederkehr Papens, nicht aber mit einem Auftrag zur Regierungsbildung an Hitler. Er hielt eine solche Lösung für das deutsche Volk jedoch „nicht ganz so schlimm, als wenn Hitler und die Subjekte, aus denen sich seine Parteiführung zumeist zusammensetzt, zur Macht gekommen wären“. In dieser Ausgabe des „GW“ („Reichskommissar von Bayern?“) warnte der Publizist ohne erkennbaren Anlass vor den Ambitionen des Forstrats a.D. Escherich, der sich in Berlin die Stellung eines Reichskommissars für Bayern „zu verschaffen“ suche. Aus dem ihm von Bell gelieferten Schreiben v. Reicherts („Bayerischer Heimatschutz“) an v. Bose vom 3. Oktober 193272 übernahm er dessen Warnung vor den „schwarzen Parteibonzen“, der „Bayernwacht“, und In72

Siehe Anm. 68.

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nenminister Karl Stützel (BVP). Gerlich musste jedoch nach einem Dementi Escherichs über dessen vermeintliche Ambitionen in der nächsten Ausgabe des „GW“ vom 4. Dezember 1933 („Nochmals ,Escherich Reichskommissar für Bayern‘?“) zurückstecken. Er verschleierte seinen Rückzug mit „besonderen Gründen“, die „uns veranlassen, in der Angelegenheit gerade jetzt nicht mehr sagen“, aus „pflichtgemäßer Sorge des Publizisten um das Schicksal seiner engeren Heimat“.73 Am selben Tag wies Escherich in einer Kundgebung des von ihm geleiteten Bayerischen Heimatschutzes in München alle Vorwürfe, er wolle Reichsoder Staatskommissar werden, zurück. In seinem zweiten Artikel „Der Nachfolger Hindenburgs“ im „GW“ vom 4. Dezember 1932 warnte der Chefredakteur den Reichspräsidenten davor, die NSDAP „an den Staat heranzubringen“. Sie sei zu „positiver Arbeit unbrauchbar“ und werde zerfallen, „sobald dieser Massenwahn aus den Hirnen seiner Anhänger verschwunden“ sei. Er übernahm die schon zitierte Bell-Information, dass es im „Kaiserhof toll zugegangen“ sein müsse, als „die Unterführer“ erkannt hätten, daß sie nicht zur Verteilung der Ministersessel, „sondern zur Beratung über ein sachlichen Arbeitsprogramm sich zusammensetzen sollten“. Dieser Hinweis bezog sich auf Hitlers zweiten Empfang durch Hindenburg am 21. November 1932, bei dem sich der Reichspräsident noch geweigert hatte, dem NSDAP-Führer die Regierungsgewalt zu übergeben, da sich ein von ihm geführtes Präsidialkabinett „zwangsläufig zur Parteidiktatur mit all ihren Folgen entwickeln“ würde.74 Trotz dieser Abfuhr hielt sich Hitler beim Reichspräsidenten nicht nur in Erinnerung, sondern spekulierte sogar, wie Gerlich mutmaßte, auf dessen Nachfolge. Wegen Gerlichs Warnung vor einem „Reichskommissar“ Escherich drängte Bell – aus nicht erkennbaren Gründen – auf ein Gespräch mit ihm, das am 7. Dezember 1932 stattfand. Darin berichtete ihm Gerlich nicht näher beschriebene Details aus seiner Bekanntschaft mit Escherich („seit etwa Mai 1919“), dessen Einwohnerwehren er unterstützt habe. Bell revanchierte sich mit – ebenfalls nicht vermerkten – „Einzelheiten“ über den Forstrat a.D., „die mir früher leider unbekannt waren“, wie Gerlich in einem Vermerk über den Verlauf dieses Gesprächs festhielt – übrigens die einzige bisher bekannte Niederschrift über eine solche Besprechung. Er schloss sie mit der Versicherung, dass er für seine „Kenntnisse über die politischen Vorgänge in Berlin nicht auf Herrn Bell angewiesen“ sei. 73 Am 7. Dezember 1932 empörte sich der Chefideologe des „Bayerischen Heimatschutzes“, Karl Krazer, über die Escherich „beleidigenden Artikel“ Gerlichs, ohne jedoch darauf einzugehen. Nußer, Horst G. W.: Konservative Wehrverbände in Bayern, Preußen und Sachsen 1918–1933. Mit einer Biographie von Forstrat Georg Escherich 1870–1941, München 1973, S. 349. 74 Horkenbach: Das Deutsche Reich von 1918 bis heute (wie Anm. 22), S. 388. Dazu Fröhlich, Elke (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Band 2/III: Oktober 1932–März 1934, München 2006, S. 63–66.

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Unbeschadet dieser betonten Distanzierung gab es keinen weiteren Nachrichtenlieferanten in der Reichshauptstadt, auch wenn Waldburg-Zeil von mehreren „Leuten“ des Nachrichtendienstes spricht.75 Gerlich, der umfassendes Wissen und zudem Erfahrung in der Beurteilung politischer Entwicklungen besaß, bezog seine Informationen aus verschiedenen Zeitungen, aus denen er häufig zitierte, auch aus früheren eigenen Artikeln. Von ausländischen Blättern erwähnte er oft die „Neue Zürcher Zeitung“. VII. „Krampf“ – Bells Antwort auf „Die Männer um Hitler“ Nach dem Gespräch mit Bell über Escherich am 7. Dezember 1932 setzte Gerlich seine Kampagne gegen den früheren Führer der Einwohnerwehren am 11. Dezember 1932 („Noch einmal der ,Fall Escherich‘“) fort. Er zitierte nunmehr aus dem bereits erwähnten Brief Reicherts vom 3. Oktober 1932 an Bose, erklärte sich jedoch zum Einlenken bereit, wenn ihm die betreffende Korrespondenz zur Veröffentlichung freigegeben würde – was er schwerlich ernsthaft erwartet hatte. In derselben Ausgabe des „GW“ („Das Kabinett Schleicher“) variierte Gerlich („Papen – warum nicht?“) aus einem langen Bericht Bells vom 5. Dezember 1932 dessen Ausdruck „Theaterdonner“, mit dem der Agent die Agitation der NSDAP gegen ihre eigenen Anhänger gekennzeichnet und Hitler einen „staatspolitisch so hilflosen Menschen“ genannt hatte, zu „demagogisches Theaterspiel“. Der Publizist übernahm jedoch nicht Bells Einschätzung Hitlers („Adolf der Vorbeigekommene“) und die der SA als „uniformierter Sauhaufen“ und „parteiische Räuberbande“. Offensichtlich für den „Rosenheimer Anzeiger“ hielt sich Bell Anfang Dezember 1932 in Genf auf. Dort waren nach längerer Unterbrechung die Abrüstungsverhandlungen (Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, USA) wieder aufgenommen worden, die zur Anerkennung der Gleichberechtigung des Reiches führten. Am 10. Dezember 1932 schickte Bell von Krottenmühl aus Gerlich „die besprochenen Aufsätze für den ,Rosenheimer Anzeiger‘ über Genf“, die er „nach Kenntnisnahme“ zurückerbat. Sie liegen nicht vor.76 Einen Tag später ging 75 Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 335. Darin könnten die „Lieferanten“ von Gerlichs „Russenberichten“ (Anm. 77) einbezogen sein. Nach Breit (wie Anm. 52) war Bell der einzige „Lieferant“. Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft (wie Anm. 16), S. 316 nennt Bell den „Hauptinformanten“ Gerlichs, jedoch keinen anderen Namen. Vorgänger Bells von Januar bis Ende Juni 1932 war ein bisher nicht identifizierter „Schriftsteller“ Max Weber in Berlin (stets nur mit der Anschrift: „postlagernd“), von dem Informationen in einzelne Artikel Gerlichs aus diesen Monaten eingeflossen sind. Webers Berichte enthielten jedoch, anders als die von Bell, keine Informationen aus Führungskeisen der NSDAP und der SA, sondern aus deren ,Niederungen‘ in SA-Kasernen und Kantinen. Sie befinden sich im Nachlass Gerlich (wie Anm. 2). Von Weber ist in der Gerlich-Literatur bisher nicht die Rede. 76 Während seines Februar-Aufenthalts in Genf im Auftrag Röhms soll Bell einige „humorvoll-zynische Artikel“ geschrieben und gemeinsam mit seinem Freund Albert

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Gerlich im „GW“ („Das Kabinett Schleicher“) davon aus, dass Papen, nicht aber Schleicher, weiterhin Hindenburgs Vertrauen besitze, während sich die NSDAP inzwischen für die Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten „freihalte“. Deren Führer mit einer „maßgeblichen Stellung“ in der Reichsregierung zu betrauen, würde allerdings – womit er sein Urteil vom 27. November 1932 wiederholte – eine „nicht zu verantwortende Gefahr für Deutschland“ bedeuten. Am 16. Dezember 1932 – seit dem 14. Dezember 1933 erschien der „GW“ zweimal in der Woche, mittwochs und sonntags – schickte Bell, noch aus Krottenmühl, „die Produkte angestrengter Geistesarbeit zur gefl. Kenntnisnahme und Verwertung“. Bei diesem zwanzigseitigen handschriftlichen Manuskript handle es sich, wie er erläuterte, um den Entwurf für eine von ihm und seinem Freund Albert Joseph Aschl beabsichtigte Streitschrift „Krampf“, die sie nach Gerlichs „Disposition“ bearbeiten würden. Sie sollte eine Antwort auf das in diesem Jahr erschienene Buch „[Die] Männer um Hitler“ sein, an dessen Verfasser sich der Agent allerdings nicht erinnern konnte (Edgar v. Schmidt-Pauli). Der „Krampf“ war ein einziges Pamphlet mit variationsreichen Beschimpfungen Hitlers und seiner Umgebung. Es begann mit einer Charakterisierung des „Führers“: „Hanswurstl“, „Salzknabe“, „größter aller Demagogen“, „verrückter Schreihals“, „redender Minderwertigkeitskomplex“ und „arisch-braunauischer Edelmensch“. Entsprechende Zensuren erhielten auch „Adolfs Trabanten“, angefangen mit Rosenberg („geistiger Nährvater Hitlers“), dessen „Mythos“ [richtig: „Mythus des 20. Jahrhunderts“] eine „Fundgrube zur Erforschung von Geisteskrankheiten“ sei. Weiter negativ tituliert wurden Himmler („oberster Zuchtwart der Nazis“), Gregor Strasser („durchschnittlicher politischer Spießbürger“, „verspäteter 1848er“), Otto Strasser („Salonbolschewist“), Goebbels („Levante-Kreuzung zwischen einem Semiten und einer farbigen Mumienbandage“, „dunkler Fleck im Rassenzuchtprogramm Himmlers, Darrés u.s.w.“), Göring („größenwahnsinnig“, „Morphinist im rotseidenen Schlafrock“) und Hess („ganz gehorsamer Privatsekretär“, „wie aus dem Drehbuch der Thea v. Harbou“). Dann kam das „politische Mondkalb“ Röhm an die Reihe. Dieser „moralisch anormale“ und „politische Lump“ habe seine Partei, seinen Brotgeber und seine Freunde „ununterbrochen verraten“ – hier dürfte Bell sich eingeschlossen haben – und die SA „buchstäblich“ verkauft: „an die Engländer, an die Deutschnationalen, an die Sozialdemokraten, an die Reichswehr und an Noch-Unbekannt“. Dennoch sei dieses „politische und menschliche Schwein“ immer noch „oberster OfJoseph Aschl im „Rosenheimer Anzeiger“ veröffentlicht haben. So Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 93. Nach seiner Ermordung wurde bei Bell der in Anm. 49 erwähnte Presseausweis des „Rosenheimer Anzeigers“ vom 10. Januar 1933 gefunden. Erwähnt in einem Bericht der Sicherheitsdirektion für Tirol in Innsbruck vom 26. Juni 1946 über den „politischen Fememord“ an Bell vom 3. April 1933 an die Stadtpolizei Rosenheim. IfZ, Gt 01.02.

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fizier Hitlers“ und bilde die Spitze des „braunen Augiasstalls“, dessen „Hackenkreuz[!]-Edelmenschen vor nichts graust, wenn sie Gehaltsempfänger sind“. Ähnlich abwertend beschrieb Bell in diesem „Krampf“ das persönliche Umfeld Hitlers, das „Partei-Panoptikum“, in dem „die Schakale vom Tische des Herrn direkt die Abfälle beziehen“: Hermann Hoffmann („Hofphotograph“), Adjutant Wilhelm Brückner („Leibmameluck“) und andere. Bell hielt es für einen „Verstoß gegen jedes Naturgesetz und gegen das Gesetz der Logik“, wenn die aus „Geisteskranken und Verbrechern“ bestehende „Clique um Adolf tatsächlich die Macht in Deutschland übernehmen und behaupten könnte“. Zudem gehe Hindenburgs Forderung, die NSDAP „in den Staat einzubauen“, von falschen Voraussetzungen aus: „denn andernfalls wäre eine Forderung, die Irrenanstalten in den Staat einzubauen“, ebenso berechtigt wie eine weitere, „die höheren Beamtenstellen im Reich mit Geisteskranken oder Verbrechern“ zu besetzen. Aber selbst eine derartige „Katastrophe“ erschien Bell noch erträglich, wenn nicht damit zu rechnen wäre, „daß 50 Prozent, und zwar die aktivsten Elemente der [NS-]Partei, sofort ins kommunistische Lager übergehen“ und damit der KPD das „entscheidende Übergewicht im bolschewistischen Sinne geben“ würden: „So kann man mit Recht sagen, daß Hitler auch heute bereits der Wegbereiter des Bolschewismus ist.“ 77 Ein Kommentar Gerlichs zu diesem verbalen Rundumschlag fehlt. Es ist nicht anzunehmen, dass er diesen „Krampf“ für Bell „bearbeitet“ hätte. Der Publizist behielt gegenüber Reichskanzler v. Schleicher sein „absolutes Mißtrauen“ – so am 18. Dezember 1932 („Schleichers Rundfunkrede: War es sein Schwanengesang?“) –, das er seit dessen Intrigen beim Sturz Brünings (30. Mai 1932) wiederholt geäußert hatte. In diesem Zusammenhang erwähnte er den „Herausschmiss“ von Gregor Strasser (8. Dezember 1932, formal war es ein Rücktritt) aus der NSDAP und übernahm eine Formulierung von Bell: „In dieser Partei geht zur Zeit alles drunter und drüber; denn es hat der Kampf [. . .] nach dem Kleingeld begonnen, das sehr knapp geworden ist.“ Nach Ansicht des Agenten könne Frick von der derzeitigen NS-Führung – Goebbels, Röhm und Göring 77 Mit der Gleichsetzung von „Hitlerbolschewismus“ („GW“ vom 5. Juni 1932) und NSDAP als „Wegbereiter des Bolschewismus in Deutschland“ – durch revolutionäre Unruhen bis hin zum Bürgerkrieg – kommentierte Gerlich seit Anfang 1932 Stalins Deutschlandpolitik. Deren Grundlage bildeten die von Januar 1932 bis März 1933 im „GW“ in 42 Folgen abgedruckten „Russenberichte“. Sie enthielten wörtlich wiedergegebene Auszüge von Sitzungsprotokollen der obersten Gremien der KPdSU und ihrer Internationale in Moskau, die jedoch als gefälscht gelten. Am 11. Januar 1933 berichtete der Ende November 1932 aus bisher unbekannten Gründen entlassene „GW“-Mitarbeiter Wilhelm Kiefer (s. Anm. 137) Waldburg-Zeil von „phantastischen Summen“, die der Verlag für „angebliche Geheimberichte von Bolschewiki verschwende“, die „aus ihrem politischen Abenteuer ein gutes Geschäft“ machten. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 32 u. 259, Anm. 499. Eine Untersuchung über die Authentizität dieser „Russenberichte“ ist ein Desiderat.

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– „nicht hinausgeschmissen werden“, weil dann die Partei niemanden mehr mit „Erfahrung in Staatsverwaltungsangelegenheiten“ besäße. Gerlich registrierte, dass Papens Aktien in letzter Zeit „außerordentlich gestiegen“ seien. Am 24. Dezember 1932 bedankte sich Bell aus Krottenmühl bei Gerlich für eine ihm übermittelte – nicht beschriebene – „große Überraschung“ zum Weihnachtsfest, die ihm „ganz besondere Freude gemacht“ habe. Gerlichs Artikel „Krise im Januar“ im „GW“ vom 28. Dezember 1932 enthielt zwei Fehleinschätzungen, vermutlich aus Bell-Berichten: Danach seien (1.) „heute“ Goebbels und Göring – dieses Mal fehlte Röhm – „die eigentlichen Machthaber“ der NSDAP, Hitler aber „wirklich nur mehr der ,Trommler‘“. Demgegenüber schwanke (2.) die SA, die weder Röhm noch Hitler mehr gehorche, „führerlos hin- und her“, existiere „völlig anarchisch“ und bleibe nur beisammen, „weil sie anderswo keinen Unterschlupf“ finde. Der Publizist sah, mit Bells Worten, Gregor Strassers „Treuegelöbnisszenen“ gegenüber Hitler – nach dessen „Hinauswurf“ aus der NS-Führung – mit der „Regie einer Vorstadtschmiere in Rührstücken aufgeführt“. Er erwartete den Sturz Schleichers bereits im Januar 1933. Am 7. Januar 1933 schickte Bell aus Krottenmühl Gerlich einen „kurzen Entwurf zu einem weiteren politischen Leitartikel“ und gab seiner Freude Ausdruck, „daß Sie auch meine letzte Mitteilung, die sich ja als 100 Prozent richtig erwiesen hat, ebenfalls verwerten konnten“. Er fügte eine „politische Mitteilung ,An Alle!‘“ bei, die er veranlasst habe. Sie liegt ebenso wenig vor wie sein „Entwurf“ und ist von Gerlich offensichtlich nicht verwertet worden. VIII. Die „Gefechtslage in Berlin“ spitzt sich zu Am 1. Januar 1933 wiederholte Gerlich im „GW“ („Wird Straßer Minister?“) seine Annahme, dass Hitler auf das Amt des Reichspräsidenten hoffe, das er im April 1932 nicht erreicht hatte; denn mit dem zu erwartenden Eintritt Gregor Strassers in die Regierung Schleicher werde die NSDAP gespalten, ihr Anführer „auf das tote Geleise geschoben“ und der „Zerfall seiner Partei Tatsache“. In einem zweiten Artikel in dieser Ausgabe („Zur Jahreswende 1932/33“) be- beziehungsweise verurteilte der Chefredakteur einmal mehr die politisch und moralisch verkommenen Gestalten der NS-Führung, mit denen sich – in Übernahme einer Bell-Formulierung – „eigentlich nur die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei abgeben“ dürften. Vier Tage später erwartete Gerlich im „GW“ („Der Sturm bricht los!“) den „seit langem“ vorbereiteten Ausbruch des „Sturms“, in dessen Windschatten Hitler sich „dem Wahne“ hingäbe, „sogar Reichspräsident werden zu können“, zur Mitte des Monats. Seine Information, dass „große Teile der SA“ aus Geldmangel aufgelöst und deren oberste Führung „abgelöst“ oder „ausgewechselt“ werden müsste, dürfte von Bell stammen. Gerlich verband sie mit der (eine Woche später

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wiederholten) Aufforderung, Schleicher möge weiterhin, wie schon Papen, auf „Großindustrie und Hochfinanz“ einwirken, ihre Subventionen für Hitlers kostspielige „sozialistische Arbeiterpartei“ drastisch abzubauen. Im „GW“ vom 15. Januar 1933 war schon die Überschrift seines Artikels „Straßer fordert: Göring und Dr. Goebbels müssen entlassen werden!“ einem – vier Tage zuvor verfassten – Bericht Bells über die „Lage der Hitlerpartei“ entnommen.78 Darin häuften sich Vermutungen über die – wie Gerlich formulierte – „Politik auf kurze Sicht“, wobei die Gefahr bestehe, dass Schleichers „Druckpunkt bei der Hitlerpartei, nämlich die Sperrung des Kleingeldes seitens der Großfinanz, versagen könnte“. Vom stillen Ringen zwischen Schleicher und Papen profitiere der Exkanzler. Hingegen beweise „Adolf der Einzigartige die innere Geschlossenheit seines Ladens“ dadurch, dass er „täglich eine andere SA[-Gruppe] wegen Meuterei“ auflöse oder langjährige, „zumeist auch vorbestrafte Unterführer hinausschmeißt“, nicht aber „die Kriminellen in der Oberführung“. Gerlich kaschierte seine Unsicherheit über die unübersichtliche Lage in Berlin mit der Versicherung, dass „wir im allgemeinen über das Spiel hinter den Kulissen nicht gerade schlecht unterrichtet sind“. Diesem indirekten, aber keineswegs zutreffenden Kompliment für Bell widersprach schon dessen Information vom 15. Januar 1933 aus Berlin, dass sich „kein Mensch mehr ein Bild der Situation machen“ könne, da Schleicher sich „zu Tod“ verhandle und Papen an seine „Wiederkehr“ glaube. Aus diesem Bericht übernahm Gerlich für den „GW“ vom 18. Januar 1933 („Neuwahlen am 26. Februar?“) keine Passage: Weder Bells wiederholte Titulierung Hitlers als „dummer Hanswurscht“, der noch an den „ihm ins Ohr gesetzten Floh“ glaube, Reichspräsident werden zu können, noch die Vermutung, dass sich Schleicher als Reichskanzler – nach Aufnahme Strassers in seine Regierung und mit Hilfe des Zentrums – „noch einige Monate lang“ werde halten können. Ungedruckt blieb auch Bells Version vom 17. Januar 1933: „Man weiß absolut nicht, was werden wird, auch der liebe Gott nicht.“ Während das Zentrum Schleicher halten wolle, „balgen sich die Nazis [. . .] wie das Affenvolk“. Zwei Tage später meldete der Agent jedoch, höchst erstaunt, das „Gerücht“ von Hitlers Kanzlerschaft; dabei stehe dieser „lebende Minderwertigkeitskomplex restlos“ unter dem Einfluss von Goebbels und Göring. Am 22. Januar 1933 sah auch Gerlich („Hitler Reichskanzler? Bericht über die Gefechtslage in Berlin“) die Gefahr einer Kanzlerschaft Hitlers, mit Alfred Hu78 Darin gab Bell folgende Berliner Adresse an: „z. Hd. Herrn Adolf Aich, Gleditschstr. 37“ und bat, etwaige Antworten in einem „2. Umschlag mit: Herrn Bell“ zu schicken: „Bitte nur mit Maschinenschrift und ohne Unterschrift.“ In einem undatierten Schreiben hatte er als Adresse angegeben: „Albrecht-Schillerstr. 9/Mitte, Berlin-Wilmersdorf“. Seit November 1932 schrieb Bell seine Berichte auf Kopfbogen „Hotel Habsburger Hof Fritz Otto, Berlin SW 11, Askanischer Platz 1“.

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genberg als Krisenminister und Papen als Außenminister, bedrohlich nähergerückt. Von dieser „Art nationaler Konzentration“ und dem Ergebnis einer anschließenden Neuwahl des Reichstags – mit einer möglichen absoluten Mehrheit NSDAP/DNVP – befürchtete er die (schon wiederholt beschriebene) Einführung einer „privatkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“. Mehr noch: Gerlich hielt es „nicht für unmöglich“, dass ein solches „Kampfkabinett der altpreußischen Tradition für einige Zeit Grabesruhe in Deutschland herbeizuführen vermag“; es sei „die Verkennung des einzig möglichen außenpolitischen Zieles für das deutsche Volk, nämlich die Wiederbelebung des alten heiligen Reiches“.79 Der Publizist wiederholte seine „schon vor längeren Monaten“ ausgesprochene Befürchtung, dass das Schicksal des deutschen Volkes, „das heißt die Gewinnung einer besseren Zukunft, offenbar über einen furchtbaren Zusammenbruch, nämlich über den der preußischen Geschichtslegende und des kleindeutschen Reiches“, führen müsse. (Gerlich warnte seit 1931 von der vom preußisch-militaristischen Chauvinismus ausgehenden Gefahr für das deutsche Geschichtsbild.) Ein Kabinett Papen–Hitler–Hugenberg bedeute „nichts weiter, als den Übergang vom schleichenden zum offenen Zusammenbruch des jetzigen Deutschen Reiches. Wir endeten damals mit den Worten: ,Gott sei uns gnädig‘; wir haben heute dem nichts hinzuzufügen.“ Gegenüber dieser Besorgnis des Publizisten hielt Bell an der Verharmlosung Hitlers und der NSDAP fest. Im „GW“ vom 25. Januar 1933 („Berlin völlig eingegast. Letzte Meldungen vom innerpolitischen Kriegsschauplatz“) verarbeitete Gerlich dessen Mitteilung, dass Hitlers Aktien bei Hindenburg beträchtlich gestiegen seien, während Papen „endgültig erledigt“ sein dürfte. Noch aber habe eine Kombination Zentrum – NSDAP mit Unterstützung anderer Parteien „für einige Zeit starke Aussicht, Deutschland zu regieren“. Auch ein daran anschließender Artikel Gerlichs („Bülowplatz und Staatsidee“) basierte auf einem Bericht Bells über den am 23. Januar 1933 „unter Schutz der Berliner Polizei“ erfolgten SA-Aufmarsch über den Bülowplatz in Berlin – vorbei an der dortigen KPD-Zentrale „Karl Liebknecht-Haus“. Gerlich referierte die Einschätzung des Agenten von einer „lächerlichen Angelegenheit“ und militärisch wertlosen „Hanswurstiade des Hitlerschen Militarismus“, die jedoch – hier widersprach er Bell – keine Demonstration gegen die Kommunisten, sondern gegen Schleicher gewesen sei. Er übernahm schließlich Bells Einschätzung als 79 Seit August 1931 hatte Gerlich wiederholt eine Aussöhnung mit Frankreich, als Voraussetzung eines föderalistisch gegliederten Mitteleuropas und als Sicherheitspakt für den entsprechenden Staatenverbund, gefordert, dabei auch auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verwiesen. (So am 20. November 1932: „Schaffung eines neuen Mitteleuropas!“) Diese Zielsetzung griff Gerlich im „GW“ vom 29. Januar 1933 („Rußland braucht Deutsche Revolution“) und 22. Februar 1933 („Deutschland isoliert“) erneut auf.

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„Komödie“, nicht aber dessen Formulierung vom „braunen Sauhaufen“, vor dem „höchstens die Heilsarmee erbeben“ werde, und auch sie nur „vor Mitleid“.80 Im Vorspann seines Artikels „Scheinwerfer im Berliner Nebel“ im „GW“ vom 29. Januar 1933 bescheinigte Gerlich seiner Zeitung eine „objektive Berichterstattung auf Grund einer genauen Personalkenntnis“. Deswegen sei die derzeitige „Verwirrung in Berliner politischen Kreisen für den wirklich Eingeweihten gar nicht so unverständlich, als es auf den ersten Blick“ erscheine. Diese – unrealistische – Einschätzung sollte ein beigefügter Artikel „aus Kreisen der Opposition in der Hitlerpartei zu unseren bisherigen Veröffentlichungen dieser Art“ belegen. Er bestand vornehmlich aus Allgemeinplätzen, da es noch schwierig sei, „endgültig“ zu entscheiden, wer das Zünglein an der Waage sein werde. Vermutlich stammte der Artikel von Bell, denn er enthielt neben dessen Standardformel von „Adolf, dem personifiziertem Minderwertigkeitskomplex“, belanglose NS-Interna: So habe Gregor Strasser „vor ungefähr eineinhalb Jahren“ seinen Austritt aus der NSDAP erklärt, diese „deutsche Eiche“ sich jedoch drei Tage später „den bezüglichen Schreibebrief“ heimlich vom Schreibtisch Hitlers im Braunen Haus in München „wiedergeholt“; Hitler übrigens werde von seiner intrigierenden Umgebung nur noch als „Füllmaterial betrachtet“ und stelle keinen Faktor in Deutschland“ mehr dar. Sodann habe Röhm bereits vor acht Monaten einem „sozialdemokratischen Führer“ (Karl Mayr) mitgeteilt, „dass mindestens 30 Prozent seiner Leute Kommunisten“ seien.81 Angesichts der sich gegenseitig neutralisierenden Kreise werde der listenreiche Schleicher „für absehbare Zeit im Amt bleiben“. IX. 30. Januar 1933: Gerlich prophezeit „Deutschlands Leidensweg“ – Bell fabuliert über Hitlers Unfähigkeit Als die „GW“-Ausgabe mit diesem verworrenen Artikel am 29. Januar 1933 erschien, war Schleicher bereits gestürzt und „Adolfs“ Kanzlerschaft beschlossene Sache. Gleichwohl kommentierte Bell den Machtwechsel weiterhin aus sei80 Dazu das Kapitel „Der SA-Marsch über den Bülow-Platz“ bei Becker, Alois: Der Dritte Weg. Erinnerungen eines Rheinländers aus fünf politischen Systemen, Heusenstamm 1989, S. 74. – Becker, Referent im preußischen Innenministerium, hatte diesen Aufmarsch genehmigt, da sich seine Vorgesetzten vor dieser Entscheidung gedrückt hätten. Er datierte allerdings diesen „Marsch“, bei dem 40 Personen verletzt und 78 verhaftet wurden, irrtümlich auf den 22. Februar 1933. Nach der NS-Interpretation brachte dieser Aufmarsch „die Eroberung Berlins durch den Nationalsozialismus sichtbar zum Ausdruck“. Engelbrechten, Julius K. von/Volz, Hans (Bearb.): Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin. Ein Führer durch die Gedenkstätten des Kampfes um die Reichshauptstadt, Berlin 1937, S. 67. Im Dauerwahljahr 1932 starben im Reich bei bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, hauptsächlich zwischen NSDAP und KDP, mehr als 170 Menschen. 81 Dazu Anm. 66.

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nem Agentenblickwinkel und vermengte Falsch- und Fehlinformationen in einem zweiten Bericht vom 31. Januar 1933 – als Nachtrag zu einem mit „Eilbrief“ nach München geschickten ersten, der nicht vorliegt. Danach hätten Hugenberg und Schleicher, die „erbittertsten Gegner“, gemeinsam Hitler „eingeschüchtert“ und zur Annahme der Kanzlerschaft gedrängt, nachdem Goebbels sie abgelehnt habe. Bei Hindenburgs Drängen auf Vereidigung des Kabinetts habe „Adolf furchtbar dumm geschaut und war gänzlich fassungslos und verdattert“.82 Einen Tag später fabulierte Bell weiter: Als Folge der Regierungsübernahme würde die NSDAP „zerschlagen“ oder aber „Adolf wieder aus der Regierung austreten“; ausschlaggebende Kraft sei das Zentrum, das die Regierung solange tolerieren werde, „als es braucht, um die Unfähigkeit Hitlers und Papens im Volke nachzuweisen“; „Adolf“ habe sich „zur Teilnahme an der Regierung hereinlegen lassen“; die „Nazi in der obersten Führung“ kämen „langsam dahinter, daß es doch eigentlich ein furchtbarer Blödsinn“ gewesen sei, in die Regierung hineinzustolpern“. Keine dieser Spekulationen übernahm Gerlich. Er erkannte sofort die Gefährlichkeit der neuen Regierung und fasste seine Besorgnis im „GW“ vom 1. Februar 1933 in die Schlagzeile: „Deutschlands Leidensweg“ mit dem Untertitel: „Es bleibt uns nur eines: Die Hoffnung“. Der Publizist sah in der von Hitler „zur angeblichen Befreiung und Erneuerung Deutschlands großgemachten“ Bewegung („Wir haben nie ein Hehl daraus gemacht“) die „offenbar unvermeidliche offene Loslösung von der menschlichen Kultur der letzten zwei Jahrtausende“, einen „Schritt in die Barbarei“. Er hielt es allerdings noch für möglich, dass der „vollständig vom antikatholischen Affekt beherrschte“ Hugenberg das deutsche Schicksal“ bestimme und sogar „Herr über Hitler“ werden könne. In einem zweiten Artikel in dieser Ausgabe („Was nun? – Bemerkungen zur Lage“) erklärte Gerlich Hitlers „Unsicherheit“ über die künftige Entwicklung aus der „inneren Auflösung“ seiner Partei. Da diese – eine Bell-Information – noch „viel stärker sei“, als man von außen her vermute, benötige der Parteiführer ein „hervorragendes staatliches Amt“; der „innere Kampf“ in der Regierung dauere noch an. Für die Zeit vom 2. bis einschließlich 24. Februar 1933 fehlen Berlin-Berichte des Agenten. Gerlich hielt sich in der Kommentierung der legalistisch verbrämten Verordnungspolitik der Hitler-Regierung, die von offenem SA-Terror sowie Entlassungen von NS-Gegnern, Verhaftungen und zahlreichen Zeitungsverboten 82 Am 12. Februar 1933 kam Gerlich im „GW“ („Die ,Schwarz-Braune‘ Koalition“) auf diese Bell-Version – Hitler sei im Palais des Reichspräsidenten Kanzler „gewesen, ehe er sich ganz darüber klar war, was denn nun mit ihm geschehen sei“ – zurück. Er verharmloste sie nunmehr allerdings als „Anekdote“, wohl um ein Verbot seines Blattes zu verhindern. Zur Atmosphäre des Terrors und der Willkür in dem inzwischen begonnenen neuen Wahlkampf. Morsey, Rudolf: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und ,Nationaler Erhebung‘ 1932/33, Stuttgart 1977, S. 105–113.

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begleitet war, spürbar zurück.83 Gleichwohl übernahm er im „GW“ vom 5. Februar 1933 („Regierungsaufruf und Wahrheit“) die Spekulation seines Agenten, dass dieses Kabinett „in sich praktisch arbeitsunfähig“ sei, es sei denn, dass sich Hitler mit der „Auflösung seiner Partei infolge der angestrebten Regierungsmaßnahmen“ abfinde. Allein der antikatholische Affekt halte die Regierungsmitglieder „innerlich“ zusammen, mit Papen als „Feigenblatt“. Im Blick auf die inzwischen angekündigte Reichstagswahl sah Gerlich die „Schicksalsstunde für die katholischen Parteien“ gekommen. Drei Tage später prophezeite er im „GW“ („Und dennoch: Die Wahrheit“), dass die NSDAP ihre Macht „rücksichtslos“ ausüben und dass sich ein „neuer Kulturkampf gegen das Christentum mit aller Schärfe“ entwickeln werde. Gleichwohl referierte der Publizist am 12. Februar 1933 („Die ,SchwarzBraune‘ Koalition“) die Bell-Mär von „starken Rissen“ in der Koalition. Drei Tage später („Rundfunk-Kritik: 4 Reden über Liberalismus“) sah er „bereits so manche Illusion verflogen“, setzte jedoch – unter dem Einfluss von Bell – auf „Versöhnung“ zwischen Hitler und Gregor Strasser; denn der Reichskanzler habe das Bedürfnis, zu dem „prominentesten Vertreter des ,Sozialismus‘ in seiner Partei wieder Anschluß zu finden“. Seine Annahme im „GW“ vom 19. Februar 1933 („Deutschland erwacht!“) – die Führung der NSDAP sei „heute bereits von ihrer SA abhängig“ – entsprach noch der Bell-Linie, ebenso die nicht minder falsche Einschätzung, dass Zentrum und BVP, trotz ihrer „ziffernmäßig hoffnungslosen Minderheit [bei der Reichstagswahl am 6. November 1932: zusammen 15 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen] doch die Zukunft tragen“ würden. Gleichsam zur Bekräftigung dieser Einschätzung hatte Gerlich einen Tag zuvor die Aufnahme in die BVP beantragt.84 Zur Unterstützung von Zentrum und BVP veröffentlichte der „GW“ vom 22. Februar 1933 bis zum 5. März 1933 (Neuwahl des Reichstags) in jeder Ausgabe einen ganzseitigen Aufruf: „Nein! Kein Katholik darf nationalsozialistisch wählen.“ Eine vergleichbar eindeutige und zudem ausschließlich mit NS-Zitaten belegte Kampfansage dürfte in keinem anderen den beiden Konfessionsparteien nahestehenden Blatt erschienen sein.

83 Steiner: Prophetien wider das Dritte Reich (wie Anm. 61) machte 1946 darauf aufmerksam, dass Gerlich angesichts der Pressezensur „in der Form vorsichtiger“ geworden sei, im Inhalt aber „in nichts nachgegeben“ habe. S. 552. Am Schluss seines Artikels „Deutschland isoliert!“ im „GW“ vom 22. Februar 1933 bezweifelte Gerlich den Zusammenhalt der Regierungskoalition auch deswegen, weil inzwischen alle wichtigen Polizeipräsidenten-Ämter mit Nationalsozialisten besetzt seien: „Eine derart deutliche Sprache dürfen wir selbst gar nicht mehr führen.“ 84 Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 265 f. Seinen Antrag, dessen Annahme er am 3. März 1933 dem Ortsverein München der BVP bestätigte (ebd. S. 268), teilte Gerlich der Öffentlichkeit nicht mit.

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X. Dokumente aus der „Fälscherwerkstatt“ Münzenbergs? Am 26. Februar 1933 bekräftigte Gerlich im „GW“ seine bereits am 15. Mai 1932 und am 1. Februar 1933 ausgesprochene Überzeugung, dass die völkische Bewegung ein „Rückfall in die Barbarei“ sei. Unter der Überschrift „Provokateure in der S.A. Röhm Generalstaatskommissar und Landeskommissare“ warnte er die Reichsregierung – nach Bell-Informationen85 – vor einem Putsch durch die SA: Danach strebe Röhm das Amt eines Generalstaatskommissars an, suche durch Einsetzung von „Unterkommissaren“ in den süddeutschen „Bundesländern“ 86 die Polizeigewalt zu übernehmen und nach deren „legaler“ Ausschaltung die Alleinherrschaft auszuüben; Hitler habe diesen von Röhm stammenden Plan bereits gebilligt, der Hindenburg vorliege. Der Publizist sicherte sich allerdings für den Wahrheitsgehalt dieses Berichts87, angesichts der inzwischen bereits erfolgten Zeitungsverbote, dadurch ab, dass er Hitlers Zustimmung dazu für „ausgeschlossen“ hielt und den Aufruf zum Putsch „Provokateuren innerhalb der SA und SS“ zuschrieb. Zugleich spielte er die davon ausgehende Gefahr, die er als realistisch einschätzte, herunter („Gerüchte“), teilte sie jedoch „aus vaterländischer Sorge“ – wie er dreimal versicherte – der Regierung mit, um ihr die Möglichkeit zu verschaffen, „sie in ihrer 85 Nach der Erinnerung von Ludwig Weitmann soll Bell Ende Februar in Berlin, „u. a. im Herren-Club Gespräche mit von Papen und von Schleicher“ geführt haben. Wolff, Richard: Der Reichstagsbrand. Ein Forschungsbericht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 6, Heft 3, 1956, S. 25–52, hier S. 33. – Vermutlich hat Bell mit Persönlichkeiten aus dem Umfeld der beiden Exkanzler gesprochen. Belegt ist (Anm. 68 und 108), dass er Mitglieder des Herrenclubs kannte. 86 Mehrfach in Artikeln der letzten Monate, so auch am 13. November 1932, sprach Gerlich sogar von „Bundesstaaten“ statt von „Ländern“. 87 Am 24. Februar 1933 hatte der BVP-Vorsitzende Fritz Schäffer aus München Vizekanzler v. Papen, mit dem zusammen er am 17. Februar 1933 bei Hindenburg gewesen war – um ihn vor der Einsetzung eines Reichskommissars in Bayern zu warnen, „der an der Landesgrenze festgenommen werden“ würde –, berichtet, „daß in den Kreisen der SA-Führer ganz bestimmte Pläne auf Gewaltakte nach dem 5. März bestehen“. Danach sei in einer „SA-Führerbesprechung“ unter Leitung Röhms am 19. Februar 1933 in Berlin beschlossen worden, nach dem Wahltag einen Reichskommissar (Röhm) für die außerpreußischen Länder einzusetzen. Auf Bitten Papens nannte Schäffer ihm am 27. Februar 1933 auch die Namen der (zehn) an dieser Konferenz beteiligten SAFührer. Volk, Ludwig: Der bayerische Episkopat und der Nationalsozialismus, Mainz 1965, S. 56; Altendorfer, Otto: Fritz Schäffer als Politiker der Bayerischen Volkspartei 1888–1945, Teilband II, München 1993, S. 709–711 u. 726 f. Altendorfer, der Volks Arbeit nicht kennt, ergänzte diese Information mit dem Hinweis: „Einen ähnlichen Bericht, wie ihn Schäffer am 24. Februar 1933 Papen gesandt hatte, veröffentlichte flankierend am 26. Februar 1933 der ,Gerade Weg‘.“ S. 727. Schäffer erklärte im Wahlkampf weiterhin, dass ein Reichskommissar für Bayern an der Grenze verhaftet werden würde. Ebd., S. 713 f. Nach Falk Wiesemann stammten „aller Wahrscheinlichkeit nach“ die von Schäffer an Papen weitergeleiteten Informationen von Gerlich. Wiesemann, Falk: Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/1933, Berlin 1975, S. 204, Anm. 91.

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Wirkung unschädlich zu machen“ 88, und erweckte schließlich den Eindruck, als erwarte er für diese Information entsprechenden Dank.89 Nach einem nur teilweise überlieferten Informationsbericht Bells von Ende Februar 1933 – dem letzten bisher bekannten – hat wegen Gerlichs „Provokateure“-Artikel, der in „allen Ministerien besprochen worden“ sei, „ein Krach zwischen Göring und Röhm stattgefunden“; Göring habe sich von Papen „einschüchtern lassen“ und ein Verbot des „GW“ abgelehnt, Röhm hingegen wegen dieses Artikels auf „Losschlagen der SA“ gedrängt.90 Für Bell lag der „Drehpunkt“ innerhalb der Regierung immer noch bei Papen. In einem zweiten Artikel der „GW“-Ausgabe vom 26. Februar 1933 („Hitler– Mussolini. Der Unterschied“) unterstrich Gerlich seine Warnung vor einem Putsch der SA durch einen Vergleich mit der faschistischen Miliz. Diese habe „niemals versucht, Politik auf eigene Faust zu treiben“. Hingegen seien die 500.000 Mann starken SA- und SS-„Söldnertruppen“ inzwischen zu einer „öffentlichen Gefahr“ geworden; denn sie warteten auf die Einlösung von Versprechungen, die ihnen für die „Machtergreifung durch die NSDAP gemacht worden“ seien: Dieser Augenblick sei „nun eingetreten“ und zu gewärtigen, dass Röhm die „fälligen Wechsel zur Einlösung präsentieren wird“. Ungedruckt blieben Spekulationen Bells vom 25. Februar 1933, nach denen Papen von der Idee „geradezu besoffen [sei], diesen ganzen nationalen Laden Hitlers [. . .] in Deutschlands Staatswesen irgendwie einzubauen“. Auch suche der Vizekanzler weiterhin, die BVP in das Kabinett „reinzukriegen“, mit Schäffer als (Post-)Minister, um dadurch eine absolute Mehrheit zu erreichen; Rosenberg werde voraussichtlich Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Hjalmar Schacht Finanzminister; Göring kümmere sich „den Teufel um Vorstellungen Papens und Hindenburgs“ und arbeite „mit der Drohung: ,Die SA wird meutern!‘“

88 Waldburg-Zeil kommentierte 1941, dass dieser Artikel schon so hätte getarnt werden müssen, „als glaube man an den guten Willen der Führung“. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 334. Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3) sprach von Gerlichs „ironischen [Schluss-]Worten“. S. 112. 89 Nach Steiner: Prophetien wider das Dritte Reich (wie Anm. 61), beruhte dieser Artikel (S. 553–558) auf „Tatsachenmaterial“, das Bell geliefert habe. Die Wut darüber sei im Braunen Haus „ungeheuer“ gewesen: Vermutlich sei „nur [!] durch die Aufdeckung der Putschabsicht durch den ,GW‘ die Entwicklung nicht ganz so“ verlaufen, „wie es hier von Röhm geplant war“. S. 552. Nach Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/ Bell (wie Anm. 15) hat Gerlich in diesem Artikel eine (nicht datierte) Meldung der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Nr. 315) aufgegriffen, wonach am 5. oder 6. März 1933 „auch in Bayern ein ,Putsch‘ [. . .] mit 50 000 SA-Leuten durchgeführt werden soll“. S. 78. Der zitierte Gerlich-Artikel enthält allerdings keine „NZZ“-Meldung. 90 Vermutlich bildete dieser Gerlich-Artikel „den [letzten?] Anstoß für Himmler, am 13. März 1933 den bereits zerschlagenen „GW“ zu verbieten. Wiesemann: Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern (wie Anm. 87), S. 204, Anm. 91. Im Nachlass Gerlich (wie Anm. 2) fehlt zugehörige Korrespondenz.

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Weiter fabulierte Bell über eine Versöhnungsszene zwischen Hitler und Papen („Beide fielen sich in die Arme“), rechnete aber „wohl kaum“ noch damit, dass sich der Vizekanzler durchzusetzen versuche: „Es wird immer bei einer kopfschüttelnden Mißbilligung des bösen Knaben Adolf bleiben, wenn der Sauhund wieder etwas anstellt.“ Derzeit sah der Agent „Adolf allerdings restlos“ in den Händen von Göring und Frick – und Goebbels inzwischen in den Hintergrund getreten. In der nächsten Nummer des „GW“, am 1. März 1933 („Fragen an Herrn von Papen“), suchte Gerlich (erstmals unter einem Pseudonym: „Catholicus“) Papen zu selbständigem Handeln zu drängen. Er hielt ihn immer noch – in einem weiteren (diesmal anonymen) Artikel („Der positive Katholik wählt grundsätzlich“) – für den „stärksten Faktor“ der Koalition. In einem dritten, nun wiederum gezeichneten Artikel („Aufmarschbefehl der SA. gegen Berlin“)91 warnte der Publizist erneut die Reichsregierung vor der gewaltbereiten SA, die unter Führung Röhms „jetzt die Entscheidung“ betreibe. Als Beleg dafür druckte Gerlich einen Befehl ihrer „Untergruppe Ost der Gruppe Berlin-Brandenburg“ vom 22. Februar 1933 zum Losschlagen am 5./6. März 1933, erwähnte jedoch nicht den – ihm inzwischen nachgelieferten – Hinweis von Bell, dass dieses „Losschlagen“ auf den 19. März 1933 verschoben worden sei. Wiederum hielt Gerlich es „für ausgeschlossen“, dass Hitler von diesen „eigenmächtigen Maßnahmen“ der SA Kenntnis habe, mit denen Röhm versuche, sich auf dem „Weg der Gewalt in der Macht“ zu erhalten.92 Nun berichtete der „Völkische Beobachter“ am selben 1. März 1933, dass sich unter dem inzwischen beschlagnahmten „Material“ aus der Berliner KPD-Zentrale auch „gefälschte Befehle von Polizeioffizieren und von Führern der SA und SS“ befunden hätten. Deren „geistiger Leiter“ sei der KPD-Agitator und Propagandist Willi Münzenberg.93 Am Abend dieses Tages erwähnte auch der preußische Innenminister, Hermann Göring, in einer Rundfunkrede zahlreiche im KarlLiebknecht-Haus aufgefundene „gefälschte Befehle“ von SA-Führern zur Vorbereitung eines Bürgerkriegs. Danach sollte sich die SA besonders für die Nacht vom 5. zum 6. März bereithalten, „Berlin zu besetzen“ und dabei auch von der Waffe Gebrauch zu machen.94 Münzenberg war nicht genannt. 91

Druck: Steiner: Prophetien wider das Dritte Reich (wie Anm. 61), S. 565–568. Dieser Satz fehlt: Ebd. S. 567. 93 Babette Gross zitiert die entsprechende „Meldung“ aus dem „Völkischen Beobachter“ nur mit dem Kommentar, dass sie „offensichtlich die Polizei in ihren Bemühungen um Münzenbergs Verhaftung anspornen sollte“. Münzenberg, Willi: Eine politische Biographie, Stuttgart 1967, S. 248. Harald Wessel übernahm die „Meldung“ als Zitat von Gross und hielt sie für „hanebüchen“. Wessel, Harald: Münzenbergs Ende. Ein deutscher Kommunist im Widerstand gegen Hitler und Stalin, Berlin 1991, S. 16 f. 94 Druck: Horkenbach: Das Deutsche Reich von 1918 bis heute (wie Anm. 22), S. 75–77; Friedrichs, Ariel (Bearb.): Die nationalsozialistische Revolution 1933, Berlin 19427, S. 25–31. 92

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Die Fälschung des „Aufmarschbefehls“ bestätigte am 3. März 1933 im „Völkischen Beobachter“ der Berliner SA-Führer Karl Ernst – der ihn unterzeichnet haben sollte – mit einleuchtenden Argumenten.95 Gerlich ging jedoch in den beiden noch erscheinenden Ausgaben des „GW“ weder auf Görings Schuldzuweisung an die KPD noch auf das Dementi von Ernst ein. Er befürchtete einen SAAufstand und fuhr – nach einer Warnung von Therese Neumann – am 4. März 1933 mit seiner Frau über die österreichische Grenze nach Kufstein. Am folgenden Tag gaben beide ihre Stimmen zur Reichstagswahl in Kiefersfelden ab, kehrten – entgegen der Warnung aus Konnersreuth – nach Kufstein zurück und von dort am 6. März 1933 nach München. 1962 bezeichnete auch Fritz Tobias die vor der Reichstagswahl „umlaufenden Gerüchte“ über einen Putsch als Produkte der „Fälscherwerkstatt“ Münzenbergs. Dafür bezog er sich auf die eben zitierte Meldung des „Völkischen Beobachters“ vom 1. März 1933 sowie die folgenden Erklärungen von Göring und Ernst. Tobias zitierte sie96, kannte aber nicht den Abdruck der beiden Gerlich-Artikel in Steiners Sammlung „Prophetien wider das Dritte Reich“.97 Bisher ist nicht bekannt, ob auch andere Periodica den SA-„Aufmarschbefehl“ abgedruckt haben. Das KPD-Blatt „Berlin am Morgen“, dem er ebenfalls (am 24. Februar 1933) zugespielt worden war, hat ihn nicht veröffentlicht, wie ihr Chefredakteur später mitteilte.98 Auf die von F. Tobias 1962 registrierten Fälschungen bezogen sich 1993 H.-G. Richardi/K. Schumann – („wie sich bald [!] herausstellte“)99 – und 1998 A. Dornheim („der Bericht, der sich aber später [!] als Fälschung der Agitprop-Abteilung Münzenberg entpuppte“).100 Sie ließen jedoch die Frage unbeantwortet, was deren Weitergabe für die Möglichkeiten und Grenzen von Bells Informa95

Druck: Tobias: Der Reichstagsbrand (wie Anm. 22), S. 198 f. Ebd. S. 197–199. Dieser Vorgang ist nicht erwähnt bei McMeekin, Sean: The Red Millionaire. A Political Biography of Willi Münzenberg, New Haven u. London 2003. 97 Zu dieser Dokumentation Steiner. Prophetien wider das Dritte Reich (wie Anm. 61), deren Auswahl nicht begründet, deren erhebliche Kürzungen nicht gekennzeichnet und in der einzelne Wörter (zum Beispiel „Bolschewismus“) gemildert worden sind („Radikalismus“), Morsey, Rudolf: Auswirkungen der Zensurpolitik der US-Besatzungszone. Wie Zeitungsartikel von Fritz Gerlich und Ingbert Naab aus den Jahren 1931–1933 in einem Nachdruck von 1946 verändert worden sind, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 17, 2010, S. 269–277. 98 Bruno Frei: Der „Befehl“ sei in keiner Zeitung erschienen, aber „auf mysteriösem Wege allgemein bekanntgeworden“; ausländische Journalisten, die Botschafter sowie „die maßgebenden Parteipolitiker“ hätten davon erfahren. Frei, Bruno: Hanussen. Ein Bericht, Strasbourg 1934, S. 174. Nahezu wortgleich bei Frei, Bruno: Der Papiersäbel. Autobiographie, Frankfurt am Main 1972, S. 159. Gedruckt ist der „Geheimbefehl der SA“ auch von Grunenberg, Antonia (Hrsg.): Bruno Frei: Der Hellseher. Leben und Sterben des Erik Jan Hanussen, Köln 1980, S. 113 (ohne Kommentar). 99 Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 81 f. 100 Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 184 f. 96

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tionsbeschaffung und -kontrolle sowie für seine Glaubwürdigkeit bedeutete. Dessen Agentenmentalität im Blick zu behalten, ist umso notwendiger, als er Gerlich weiterhin zuarbeitete. In der am Tag der Reichstagswahl (5. März 1933) erschienenen „GW“-Ausgabe verwandte ihr Chefredakteur für seinen Artikel „Politische Clubgespräche in Berlin“ wiederum ein Pseudonym: K.A. Deinhardt.101 Der darunter im Vorspann als „gut unterrichteter Berliner Schriftsteller“ bezeichnete Autor warnte die BVP vor einem Beitritt zur Hitler/Hugenberg-Koalition, um ihr auf diese Weise die absolute Mehrheit zu verschaffen – die sie durch die Reichstagswahl am selben Tag erreichte. Für „Deinhardt“ führte der „Weg zur Gesundung Deutschlands“ auch weiterhin „nur über die Brechung des nationalsozialistischen Massenwahns“. Gleichzeitig berichtete er über einen – vermutlich von Bell gelieferten – „neuen Plan“ der NSDAP. Danach wolle sie, um für den Fall einer Wahlniederlage dem Reichspräsidenten die Entlassung Hitlers „unmöglich zu machen“, die Hohenzollernmonarchie mit dem ehemaligen preußischen Kronprinzen an der Spitze ausrufen. Noch in der Ausgabe des „GW“ vom 8. März 1933, zum Ausgang der Reichstagswahl, überschätzte Gerlich, der wieder mit seinem Namen zeichnete („Das Mandat der 52 Prozent“ = NSDAP und DNVP/Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“) den Einfluss von Papen und Hugenberg in der Hitler-Regierung. Er jedenfalls, so lautete sein resignativer Schluss, wolle „nicht zu denjenigen gehören, die die ,Wechsel‘ – gemeint waren die Stimmzettel der Wahlmehrheit – einzulösen verpflichtet sind“.102 XI. Weiteres „brisantes Material“ gegen Hitler – aber keine Beweise Ohne zu ahnen, dass diese Ausgabe die letzte des „GW“ sein würde, unternahmen Gerlich, Fürst v. Waldburg-Zeil und Bell am Abend des 8. März 1933 eine politische Verzweiflungstat in Stuttgart, die sie am Vortag gemeinsam vorbereitet 101 Zu diesem Pseudonym („Karl Deinhardt“) Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), S. 130 f. Falsch ist der Hinweis von Altendorfer (wie Anm. 87), dass ,Deinhardt‘ der Name des „Berliner Korrespondenten“ des „GW“ gewesen und sein Bericht von der Redaktionsleitung „als fast der Wahrheit entsprechend kommentiert worden“ sei. S. 725. 102 In derselben Ausgabe des „GW“ gab sich Curt von Strachwitz („Ende der Demokratie“) noch der Illusion hin, dass die jüngsten Stellungnahmen von Held und Schäffer gegen eine Gleichschaltung Bayerns die Gewähr für die Entschlossenheit der Staatsregierung böten, ihre Stellung zu wahren. Auch Gerlich hatte die von Held mehrfach bekundete Bereitschaft zum Widerstand gegen eine NS-Gleichschaltung ernstgenommen. Strachwitz ging noch im Juli 1934 davon aus, dass für die „Bluttaten der letzten Tage“ („Röhm-Putsch“) und die „Judenverfolgungen“ nicht Hitler, sondern seine „Unterführer“ verantwortlich seien. [Strachwitz, Curt von]: Was wird aus Deutschland? Die Voraussagen des Dr. Gerlich erfüllen sich. Zusammengestellt von Spectator [= Strachwitz]. Innsbruck 1934, S. 14 f.

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hatten. (Dabei lernte Waldburg-Zeil den Agenten kennen.) Sie legten Staatspräsident Eugen Bolz (Zentrum) vermeintlich „unschätzbare Dokumente“ 103 vor, die Hitler und andere NSDAP-Führer politisch und moralisch belasteten. Mit Hilfe dieser Unterlagen, so ihre Absicht, sollte der württembergische Regierungschef durch eine sofortige Intervention bei Hindenburg die befürchtete Gleichschaltung Süddeutschlands – durch Übertragung der vollziehenden Gewalt an die Reichswehr – verhindern. Dazu jedoch konnte sich Bolz – ebenso wie Held, den Waldburg-Zeil deswegen kurz vor dem Wahltag aufgesucht hatte – nicht entschließen, auch nicht nach einem zweiten Gespräch am Morgen des 9. März 1933, in Anwesenheit von Justizminister Josef Beyerle. Inzwischen begann bereits die NS-Machtergreifung in Stuttgart, am Abend auch die in München, zum selben Zeitpunkt, an dem Gerlich und Bell wieder in München eintrafen.104 Bei dem Bolz vorgelegten Material105, das überwiegend Bell beschafft hatte, handelte es sich 1. um einen von Deterding mit Röhm geschlossenen Vertrag über die Finanzierung der SA gegen die Zusicherung der „Bevorzugung“ seiner Öl-Interessen nach einer Machtergreifung der NSDAP, den Bell aus dem „Braunen Haus“ in München „beiseite gebracht“ hatte, 2. um die Nennung der Kronzeugen für die im September 1931 in München erfolgte Ermordung von Angela Raubal durch ihren Onkel Adolf Hitler, 3. um die Pläne zur Vernichtung der Kirchen und deren Vorbereitung durch diffamierende Propaganda, 4. um die Unterlagen für die Geschichte des Reichstagsbrandes und schließlich 5. um die Unterlagen für die Absicht Röhms, Hitler nach der Machtergreifung zu beseitigen und selbst eine auf SA-Terror gestützte Herrschaft auszuüben. 103 So Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), S. 120, mit dem Zusatz, dass sie von Waldburg-Zeil stammten, der Aretins Manuskript vor der Drucklegung „überarbeitet“ hatte. Beck: Widerstand aus dem Glauben (wie Anm. 12), S. 136, Anm. 7. In seinen Erinnerungen von 1941 hat Waldburg-Zeil, aus naheliegenden Gründen, den Inhalt der „Dokumente“ nicht mitgeteilt. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 336. 104 Steiner: Prophetien wider das Dritte Reich (wie Anm. 61) erwähnte 1946, dass Gerlich am 9. März 1933 von einer „größeren Reise“ zu Bolz zurückgekommen sei, nannte aber weder deren Zweck und die für das Gespräch vorbereiteten Unterlagen noch das Scheitern der Aktion, nicht einmal Gerlichs Begleiter. S. 581. 1958 erwähnte Steiner die Anwesenheit von Waldburg-Zeil in Stuttgart, nicht aber die von Bell. Nach dieser Version hätten Bolz und Held gleichzeitig in Berlin „eingreifen“ sollen. Wie Anm. 64. Noch ungeklärt ist, ob und gegebenenfalls mit welcher Begründung Gerlich für diese Reise wie für die nach Innsbruck (4.–6. März 1933, Anm. 95) Urlaub beantragt hatte. 105 Druck: Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), S. 120 f. und danach bei Bender: Der gerade Weg und der Nationalsozialismus (wie Anm. 52), S. 466 f.; Wolff: Der Reichstagsbrand (wie Anm. 85), S. 133; Beck: Widerstand aus dem Glauben (wie Anm. 12), S. 149; Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft (wie Anm. 16), S. 343, Anm. 123 (S. 321 mit falschem Datum der Reise nach Stuttgart); Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 159; Bahar/Kugel: Der Reichstagsbrand (wie Anm. 22), S. 658, und Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 11.

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Diese „Dokumente“ beruhten, abgesehen vom Deterding-Röhm-Vertrag106 – der aber auch nur eine „Absichtserklärung“ des Ölmagnaten enthalten konnte107 – auf Auskünften Dritter, nicht jedoch auf solchen von Augenzeugen. Das galt für die von Bell stammende Version, „daß Goebbels den Reichstagsbrand inszeniert und Göring diese Ideen verwirklicht“ hatte – was bis heute nicht belegbar ist108 –, wie für die andere, von einem „Dr. F. H.“ mitgeteilte – aber falsche –, 106 Waldburg-Zeil hatte bereits am 16. März 1933 seine „Akten in Sicherheit“ gebracht (Gerlich-Edition [wie Anm. 1], S. 270) – darunter offensichtlich sämtliche Unterlagen zum Komplex „GW“ und Reste der beim Sturm auf den Naturrechts-Verlag am 9. März 1933 geretteten Bestände. Er deponierte sie in seiner Fa. Eisen-Fuchs in München und kurz darauf in deren Stammhaus in Stuttgart. Dort sind sie 1938 entdeckt und verbrannt worden. Beck: Widerstand aus dem Glauben (wie Anm. 12), S. 152, Anm. 32. Noch im März 1933 ließ Waldburg-Zeil aus dem Stuttgarter Bestand den DeterdingRöhm-Vertrag von seinem Bruder Graf Konstantin von Waldburg-Zeil zurückholen und von ihm in einem Banksafe, „vermutlich in Zürich oder Chur“, deponieren. Ebd. S. 150, Anm. 30 u. 152, Anm. 32. Das Dokument ist nach 1945 nicht wieder aufgetaucht. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) vermutet es in amerikanischen Archiven. S. 163 u. 200. Nach Peter Ferdinand Koch ermächtigte der Berner Bundesrat am 30. November 1945 die Schweizer Banken, Schließfächer von deutschen Mietern – gegebenenfalls auch zwangsweise – öffnen zu lassen: „Bis heute steht nicht fest, was mit diesen Werten geschehen ist“. Koch, Peter Ferdinand: Geheim-Depot Schweiz. Wie Banken am Holocaust verdienen, München u. Leipzig 1997, S. 277. Demgegenüber publizierte Wolff: Der Reichstagsbrand (wie Anm. 85) 1956 folgende Information von Konstantin Graf Waldburg-Zeil aus einem Gespräch mit ihm im Juli 1955: Sein Bruder Erich habe ihm die „hochgefährlichen Dokumente“ mit dem „Ersuchen übergeben, sie umgehend nach der Schweiz zu bringen“. Er habe sie, „etwa am 10. März 1933“, der Redaktion der „Neuen Zürcher Zeitung“ angeboten: „Sie sollte einen warnenden Artikel erscheinen lassen, um den Nationalsozialisten vor Augen zu führen, daß die Zeitung im Besitz hochwichtiger Dokumente sei, die der Partei und der Regierung außerordentlich schaden könnten. Die Zeitung ließ jedoch einen solchen Artikel nicht erscheinen. Der Fürst Waldburg-Zeil, der am nächsten Tag ebenfalls nach Zürich kam, nahm die Papiere wieder mit. Die Papiere sind heute verschollen.“ S. 33. Gegen diese Version spricht, dass sich Erich Fürst Waldburg-Zeil vom 10.–12. März 1933 in München aufgehalten hat (Gerlich-Edition [wie Anm. 1], S. 337), sowie seine Erklärung vom 12. Mai 1946, nach der er den Vertrag Deterding-Röhm im März 1933 durch seinen Bruder Konstantin in einer Schweizer Bank („in Zürich oder in Chur“) habe deponieren lassen: „Ich wollte selbst den Aufbewahrungsort nicht wissen, wegen der Gefahr eines peinlichen Verhörs.“ Weitere Exemplare des strittigen Vertrags habe Ludwig Weitmann vor der Besetzung des Naturrechts-Verlags vernichten können. Ebd. S. 341. Danach auch Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), S. 121 mit dem Zusatz „die in Frage kommenden Dokumente“. Nach Auskunft des Bundesarchivs in Bern vom 2. Mai 2012 gehörten von den Schließfächern, die durch den Bundesrats-Beschluss vom 30. November 1945 geöffnet werden konnten bzw. geöffnet worden sind, keines Waldburg-Zeil. 107 So Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 200 f. Lutz: German-French Unity (wie Anm. 51) hält es für gesichert, dass ein entsprechender „contract“ zwischen beiden Partnern diskutiert, wenn nicht gar geschlossen worden sei. S. 115 f. Den Vertrag erwähnt nicht Hendrix, Paul: Sir Henri Deterding and Royal Dutch-Shell. Changing Control of World Oil 1900–1940, Bristol 2002. 108 Giebler, Marcus: Die Kontroverse um den Reichstagsbrand, München 2010, S. 238. Nach Hans Graf von Lehndorff ist Bell („der Bär“) wenige Tage nach dem Reichstagsbrand „zu später Stunde bei Jordans“ in Berlin erschienen und habe erklärt, „er fürchte um sein Leben, weil ihm die näheren Umstände des spektakulären Reichs-

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dass Hitler „mit eigener Hand seine Nichte erschossen“ habe. Die unter Punkt 5 erwähnten Unterlagen über Röhms Absicht, Hitler zu beseitigen, konnten auch aus der Feder Bells stammen109, während die Nationalsozialisten aus dem von ihnen beabsichtigten Kirchenkampf kein Geheimnis gemacht hatten. Seine Annahme über die Täter des Reichstagsbrands und den Raubal-Mord teilte Gerlich am 12. März 1933, am dritten Tag seiner Gefängnishaft, dem Mithäftling Stefan Lorant mit, ebenso am 6. August 1933. Dabei beschwor er diesen ihm bekannten Münchner Journalisten ungarischer Herkunft („Ich weiss [von Bell], man wird mich ermorden“), sie an die Öffentlichkeit zu geben, falls er „lebend aus dieser Hölle komme“.110 Das tat Lorant – dessen Gefängnis-Tagebuch eine erstrangige Quelle auch für Gerlichs Haftzeit ist111 –, der Anfang 1934 emigrieren konnte, bereits am 5. August 1934, fünf Wochen nach Gerlichs Ermordung. Sein anonymer Bericht erschien im „Neuen Wiener Journal“ und wurde von Blättern in Österreich, der Schweiz und den Niederlanden übernommen.112 Darin war der Informant für Hitlers Mordtat als „Dr. F. H.“ bezeichnet und mit folgender „Anmerkung des Autors“ versehen: „Dr. F. H. ist seit dem Umsturz März 1933 in führender Position des dritten Reiches“ 113 – im Nachdruck des Artikels im „Bündner Tageblatt“ (Chur) vom 16. August 1934: „Dr. F. Hl.“ 114

tagsbrands in allen Einzelheiten bekannt seien“. Lehndorff, Hans Graf von: Menschen, Pferde, weites Land. Kindheits- und Jugenderinnerungen, München 1980, S. 159. Carl von Jordans, führendes Mitglied des „Herrenclubs“, unterhielt in Berlin eine Art von politischem Salon. 109 So Süss: Über Röhms angebliche Pläne (wie Anm. 15), S. 488. 110 Siehe die folgende Anm. Lorant war seit 1932 Chefredakteur der „Münchner Illustrierten Zeitung“. 111 Lorant, Stefan: Ich war Hitlers Gefangener. Ein Tagebuch 1933, München 1985, passim. Die Erstausgabe, I was Hitler’s Prisoner. Leaves From A Prison Diary, war 1935 in London und New York sowie, in französischer Übersetzung, in Paris erschienen. Es folgten Übersetzungen in weitere Sprachen. Dazu Willimowski, Thomas: Stefan Lorant. Eine Karriere im Exil, Berlin 2005. 112 Druck: Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 314–316, mit Nachweisen von Nachdrucken. Lorants Artikel wurde auch in Flugblättern verbreitet, deren Besitzer und/oder Verteiler noch Jahre später strafrechtlich verfolgt worden sind. Ebd. 113 Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), der den (Lorant-)Bericht nach dem Ausschnitt aus einer nicht erkennbaren Zeitung vom 9. August 1934 zitiert, bedauert, dass der „anonyme Autor den Namen dieses Mannes [Dr. F. H.] nicht genannt“ habe. S. 128. Nach Bender: Der gerade Weg und der Nationalsozialismus (wie Anm. 52) ist „F. H.“ nicht bekannt geworden. S. 506. Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15) und Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) übergehen den Komplex „Dr. F. H.“ und den Lorant-Artikel. 114 So auch im Nachdruck dieses Artikels bei Carnot, Maurus: Fritz Gerlich, ein Blutzeuge für Glauben und Heimat, Wien 19352, S. 16–18. Der Benediktiner und Volksschriftsteller P. Maurus (Disentis) war kurz vor dem Erscheinen der 2. Auflage seines Beitrags (Erstauflage ebenfalls 1935, 23 Seiten), der ersten separaten Würdigung Gerlichs, verstorben.

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Beide Abkürzungen passen, wie ich 2010 entschlüsselt habe115, auf den Münchner Kaufmann Dr. rer. pol. Franz Hayler, einen „alten Kämpfer“ und – zeitweilig ausgetretenes – Mitglied der NSDAP. Bisher fehlt allerdings der Nachweis einer Bekanntschaft Gerlichs mit diesem Mitinhaber des Lebensmittelgeschäfts Florian Silberbauer in München-Schwabing. (Hayler wechselte noch 1933 nach Berlin, war dort ein vielbeschäftigter Wehrwirtschaftsführer mit hohem SS-Rang und wurde noch 1944 stellvertretender Reichswirtschaftsminister. Er starb 1972 in Aschau.) Am Abend des 9. März 1933, kurz nach dem Eintreffen von Gerlich und Bell in der Redaktion, verwüsteten SA-Horden – wie eingangs erwähnt – die Verlagsund Redaktionsräume des „GW“ in der Hofstatt 5–7 in München und verhafteten Gerlich. Georg Bell entkam aus dem Gebäude durch Flucht über die Dächer des Hauses und eines Nachbarhauses. XII. Bell als politischer Flüchtling in Österreich, 10. März bis 3. April 1933 Noch am 10. März 1933 setzte sich Waldburg-Zeil, begleitet von Hell, der sichtbare Spuren seiner Misshandlung trug, beim neuen NS-Staatsminister Hermann Esser – vergeblich – für Gerlich ein.116 Hell und Verlagsleiter Steiner informierten den Redakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“, v. Aretin, über die „Vorgänge“ des Vorabends, Waldburg-Zeil berichtete ihm zudem über das Gespräch bei Bolz und die Rolle von Bell.117 Am Abend dieses Tages – Bayern war inzwischen „gleichgeschaltet“ – drängte Waldburg-Zeil, der die verstörten Mitarbeiter des Verlags „am Hauptbahnhof sammelte“, den „vollkommen kopflosen“ Bell zur Flucht nach Österreich, die er sofort antrat. Der Mitbesitzer des Naturrechts-Verlags schickte aber auch Josef Hell „über die Grenze“ und machte ihn „dafür verantwortlich“, dass Bell, der als Hitzkopf galt, „keinen Unfug stifte“.118 Sie trafen sich fünf Tage später in Kuf115

Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 315, Anm. 609. Ebd. S. 338. 117 Buchheim, Karl und Aretin, Karl Otmar von (Hrsg.): Erwein von Aretin: Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, München 1955, S. 157 f. u. 161, ohne weitere Angaben. 118 Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 337 f. Im Druck dieses Satzes aus den Erinnerungen Waldburg-Zeils heißt es bei Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft (wie Anm. 16), S. 324, und Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) fälschlich „Unsinn“ statt „Unfug“, S. 171. In seiner Vernehmung am 4. April 1933 in Kufstein (wie Anm. 58) verschwieg Hell den ihm von Waldburg-Zeil erteilten Auftrag. Er erklärte vielmehr, dass sich Bell am 10. März 1933 „offenbar [!] nach Österreich“ begeben habe, wo er, Hell, ihn fünf Tage später [dazu die folgende Anm.] in Kufstein getroffen und sich entschlossen habe, „vor allem im Interesse seiner Braut, da ich bei dem ungezügelten Temperament Bells Exzesse bei ihm befürchtete, vorläufig bei ihm zu bleiben“. 116

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stein und blieben, abgesehen von einem Abstecher Hells nach München (19.–21. März 1933), bei häufig wechselnden Aufenthalten in Österreich und kurz auch in der Schweiz, bis zum Attentat auf Bell (3. April 1933) zusammen.119 Der bisher so selbstbewusste Agent hatte seine „Arbeitgeber“ – das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und den Naturrechts-Verlag – verloren, nicht jedoch sein Selbstbewusstsein. So bagatellisierte er bereits am 12. März 1933 in Innsbruck, gegenüber einem dorthin gereisten alten Freund aus Garmisch, seine „Differenzen mit Röhm“, die „jederzeit zu bereinigen wären“.120 Andererseits soll er „in ständiger Todesangst“ gelebt und „reichsdeutschen Flüchtlingen gegenüber, mit denen er ins Gespräch kam“, geäußert haben, „er wisse, daß ihn Röhm verfolgen lasse und in seine Gewalt bekommen wolle“.121 Für diese Vermutung spricht, dass Bell über Bekannte seine Gefährdung abzuschätzen suchte. Am 18. März 1933 beklagte er sich aus Salzburg bei Gottfried Zarnow darüber, dass „ein paar übereifrige beschränkte SA-Männchen“ am 9. und 10. März 1933 das Haus der Mutter seiner Verlobten in Krottenmühl verwüstet und ihn „lahmgelegt“ hätten. Er verstand die Welt nicht mehr: „Da läuft man zuerst vier Jahre in einem Krieg herum, als diese braunen Lausbuben von heute noch in die Hosen gemacht haben, dann schlägt man sich 12 Jahre gegen den Bolschewismus und ist ebensolang Nazi, wo die Rotzlöffel noch garnicht wussten, was Nationalsozialismus und Bolschewismus überhaupt bedeutet, dann wird man sooo behandelt!“ Der Flüchtling rechnete weiterhin – in Verkennung der Machtverhältnisse – damit, dass Gregor Strasser zu seinen Gunsten „eingreifen“ werde; denn spätestens dann, wenn sich Hitler und Göring in ihren „Polizeimaßnahmen erschöpft“ hätten, werde ihnen „nichts anderes mehr übrig bleiben, wie zu regieren“.122 Nach einer Mitteilung Bells gegenüber dem Münchner Rechtsanwalt Loewenfeld – der inzwischen in die Schweiz emigriert war – am 20. März 1933, bei 119 Hingegen heißt es in einer Aufzeichnung Hells von 1946 „Der Sturm auf den ,Geraden Weg‘“ – als Ergänzung eines gleichnamigen Artikels von Johannes Steiner in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 8. März 1946 –, dass er Bell, der sich „eindeutig in Röhm getäuscht“ habe, bereits am 11. März 1933 in Innsbruck getroffen habe, wiederum ohne Erwähnung der ihm von Waldburg-Zeil aufgetragenen Mission. IfZ, Gt 01.02. Noch ungeklärt ist, wodurch der arbeitslos gewordene Hell, der geschieden war und in München wohnte, zu diesem Beistand – auf welche Dauer, auf wessen Kosten und unter welcher Gefährdung – in der Lage gewesen ist. 120 Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 136. Bell protestierte auch in einem (nicht datierten) Telegramm-Entwurf an Röhm gegen dessen „persönliche Racheaktion“ in Krottenmühl und behielt sich „alle Schritte“ vor: „Sie allein veranlaßten meine Oppositionsstellung.“ Ebd. S. 134. 121 Zitiert nach „Glück und Ende des Nationalsozialisten Bell“ von 1933 (wie Anm. 27), S. 26. Dieser Satz fast wörtlich (ohne Beleg) bei Delmer: Die Deutschen und ich (wie Anm. 26), S. 126. 122 Druck: Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ (wie Anm. 15), Bd. III, S. 249 f.

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einem zufälligen Treffen im Zug in Innsbruck, hätten „die Nazis sofort nach der Machtergreifung Adolfs eine Kopfprämie von 10 000 Mark auf seine Ergreifung“ gesetzt. Er sei deswegen auch in Tirol nicht sicher und übernachte jeden Tag an einem anderen Platz. Loewenfelds Warnung, sich nicht in die Nähe der bayerischen Grenze zu begeben – um dort, wie Bell vorhatte, in der Nähe von Krottenmühl zu sein –, wollte der Flüchtling „soweit als möglich“ befolgen.123 Dessen Versuch, über den Münchner Rechtsanwalt Franz Mayr Kontakt zu Röhm zu bekommen, blieb zunächst ohne Antwort und eine Vorsprache seiner Braut, Hildegard Huber, bei der Mutter des Stabschef der SA in München ebenso ohne Erfolg wie eine über Ilse Hess.124 Offensichtlich nach Mitte März teilte der Flüchtling Waldburg-Zeil mit, dass er nunmehr von Hess erfahren habe, „sein Fall sei entschieden“.125 Vermutlich bewog diese Auskunft Bell zu einer erneuten politischen Kehrtwende, zu einer Kapitulation vor Röhm. In einem langen Schreiben an ihn vom 24. März 1933 aus Bregenz126 beklagte sich Bell zunächst „nochmals“ über die ihm nach wie vor unerklärliche abrupte Beendigung ihrer Zusammenarbeit („die größte Erschütterung meines Lebens“), da er in „grenzenloser Hingabe“ für Röhm „buchstäblich alles geopfert“ habe. Der Agent gestand zwar „gewisse Fehler“ zu, erinnerte aber an seine vom „sehr verehrten Herrn Oberstleutnant“ seinerzeit „anerkannten wertvollen Leistungen“. Da es ihm jedoch nicht gelungen sei, Röhm auf den „verschiedensten Wegen“ seine „wahren Absichten“ mitzuteilen, wolle er nunmehr als „letzten Versuch“ ein „Netz von Wiedersprachen und Missverständnissen erklären“. Nachdem Bell einige solcher „Missverständnisse“ aufgeführt hatte, erklärte er sich – obwohl nicht mehr NSDAP-Mitglied – mit einem Partei-Verfahren gegen ihn bereit, wollte allerdings zunächst die „erforderliche Beruhigung abwarten“, 123 Loewenfeld: Recht und Politik in Bayern (wie Anm. 35), S. 538. Ferner teilte Loewenfeld mit, dass Bell schon vor Monaten in seiner Kanzlei eine vor einem Notar in Rosenheim abgegebene eidesstattliche Erklärung hinterlegt habe, „in der er in allen Einzelheiten schilderte, was er über seine künftige Ermordung erfahren hatte. Es war in diesem Affidavit unter anderem gesagt, dass die Mörder versuchen würden, ihn in einem bestimmten Haus an der österreichischen Grenze zu überfallen, die Wachhunde dieses Hauses zu vergiften, die Telefondrähte abzuschneiden.“ Bell sei in der Tat in „jenem Haus [. . .] ermordet aufgefunden worden. Die Telefondrähte waren durchschnitten, die Hunde vergiftet.“ Die Auskunft über die Telefondrähte stimmte, die über die Hunde allerdings nicht. 124 Nach der in Anm. 58 zitierten Aussage Hells am 4. April 1933. 125 So Waldburg-Zeil, ohne genauere Datierung. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 338. 126 Dessen Durchschlag wurde nach Bells Ermordung in Durchholzen gefunden. Aus diesem fast fünfseitigen Schreiben zitierte Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) nur Bruchstücke, zudem an unterschiedlichen Stellen. S. 100, 172, 252, Anm. 382 u. 387 u. 269, Anm. 532. Dornheims Vermutung, dass Bell bereits seit seiner Flucht versucht habe, „eine Aussöhnung mit Röhm zu erreichen“ (S. 172), widerspricht dessen in Anm. 120 zitiertem Telegramm an Röhm.

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die wohl „in absehbarer Zeit“ eintreten werde. Der Flüchtling empfand es als „besonders schmerzlich“, mit seinen Fähigkeiten und Verbindungen seiner Heimat bei der Bekämpfung des Bolschewismus nicht helfen zu können, da das entsprechende „Hindernis“ ausgerechnet in Röhms „Umgebung zu suchen“ sei. Aus „Sorge um die Heimat“ bat er ihn um „Liquidierung des Vergangenen“ und erklärte sich dazu ebenso bereit wie zur „Wiedergutmachung tatsächlicher Fehlgriffe“. Zu dieser Kapitulation Bells hatte ihn sein ,Aufpasser‘ Josef Hell „dringend“ gedrängt.127 Am 1. April 1933 beklagte sich Bell bei seinem Freund Hans Kesel in Garmisch – in einem Schreiben, das er allerdings nicht abschickte – dass Röhm, „der Einzige, der alles aufklären könnte“, ihn „scheinbar wiederum im Stich“ lasse, trotz seiner Verdienste um die NSDAP. Am selben Tag erhielt Bell vom Münchner Rechtsanwalt Franz Mayr eine bereits vom 25. März 1933 datierte Warnung vor baldiger Rückkehr und den Rat, seinen Gegnern die „Friedenspfeife“ anzubieten. Seine Bereitschaft dazu teilte der Adressat postwendend Mayr mit, wenngleich er nicht wisse, auf welchem Wege. (Sein sechs Tage zuvor abgeschicktes Schreiben an Röhm erwähnte er nicht.) „Man“ weigere sich, ihm, den „man stets [!] zurückgestossen“ habe, die Chance zu geben, sich zu rehabilitieren. Bell wollte, so schrieb er weiter, im Ausland „die nötige Beruhigung der verhetzten jungen Leute“ abwarten, erklärte sich jedoch bereit, vor einem ordentlichen Gericht – also nicht vor einem NS-Parteigericht – jede Auskunft zu geben.128 Dazu erhielt er keine Gelegenheit mehr. Statt der von ihm erwarteten schriftlichen Antwort Röhms erschien am Nachmittag des 3. April 1933 im „Gasthaus Blattl“ in Durchholzen bei Kufstein, Gemeinde Walchsee, in dem er und Hell sich seit vier Tagen aufhielten, ein SA- und SS-Rollkommando aus München, beauftragt vom Chef der Bayerischen Politischen Polizei, Reinhard Heydrich. In einem Schnelleinsatz wurden Bell erschossen und Hell schwer verletzt.129 Der Major a.D. schilderte in den folgenden Tagen wiederholt der österreichischen Polizei und auch Journalisten den Ablauf des Attentats, bei dem er „nur ein zufälliger Zeuge“ gewesen sei.130 Dabei stellte er seinen Aufenthalt in Österreich als Erholungsreise dar und seine Anwesenheit bei 127 Nach Aussagen Hells am 4. April 1933 in Kufstein (wie Anm. 58) und zwei Tage später in Innsbruck. Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Archiv der Republik. Östa1004525/0002-ADR/2009. Auch die folgenden Zitate aus dem Wiener Bestand. Hell hat sein Drängen auf eine Kapitulation Bells vor Röhm in späteren Äußerungen verschwiegen. 128 Auch Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 280, Anm. 638. 129 Die ausführlichste Darstellung über die Mordaktion enthält der in Anm. 127 zitierte Wiener Bestand. Dazu Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 139–144; Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 172– 175. Ferner zahlreiche Zeitungsberichte im Stadtarchiv Rosenheim. Personen: Bell. 130 Nach dem Bericht „Das Ende eines politischen Abenteurers“, in: „Münchner Neueste Nachrichten“ vom 5. April 1933.

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Bell als ein eher zufälliges Zusammentreffen.131 Soweit Hell seine Tätigkeit beim „GW“ erwähnte, bezeichnete er sich als dessen unpolitischen Mitarbeiter („für Illustrationen und Belletristik“) und distanzierte sich von Gerlichs Kampfpublizistik gegen die NSDAP.132 Bell, der „Protestant (Calviner)“ war, wurde am 5. April 1933 auf dem katholischen Friedhof in Durchholzen bei Walchsee beerdigt.133 Dabei versah der evangelische Pfarrer aus Innsbruck „die kirchliche Zeremonie“.134 Eine Reaktion Gerlichs auf Bells Ermordung ist nicht bekannt. – Josef Hell, der vorübergehend seinen Namen änderte135, blieb bis zum Herbst 1934 in Südtirol.136 Ein anderer Mitarbeiter des „GW“, Wilhelm Kiefer, war be131 Nach Berichten des „Rosenheimer Anzeigers“ vom 5. und 7. April 1933. In dem Artikel „Das Ende eines politischen Abenteurers“ im „Rosenheimer Tagblatt Wendelstein“ vom 5./6. April 1933 hieß es, dass Bell „gerne geheimnisvolle Andeutungen (auch an seinem Rosenheimer Stammtisch) über seine umfangreichen Beziehungen zu politischen Kreisen des In- und Auslandes“, und selbst solchen von „entgegengesetzter Weltanschauung“, gemacht und seine „politische Einstellung wiederholt gewechselt“ habe. Die „Innsbrucker Zeitung“ vom 6. April 1933 erwähnte Berichte Bells im „GW“ über Putschvorbereitungen der SA, die sich auch „mit Röhm befaßten“. Man nähme an, dass Bell „Briefe und Aktenmaterial“ aus der SA-Führung publiziert habe, mit Hell Mitarbeiter des „Rosenheimer Anzeigers“ gewesen sei und „nach dem Umsturz“ München verlassen habe. 132 Am 7. April 1933 berichtete der „Rosenheimer Anzeiger“, Hell habe gegenüber der Tiroler Presse „vor allem betont, daß er kein politischer Flüchtling sei, nie einer politischen Partei angehört habe. Auch als verantwortlicher Schriftleiter des ,GW‘ habe er mit politischen Fragen nicht das Geringste zu tun gehabt.“ Ähnlich in einer „opportunistischen Erklärung“ Hells vom Januar 1934 aus Brixen, in der er sich für seine NSNähe auf eine Aussprache mit Hitler 1922 in München berief und sich von Gerlichs Anti-Hitler-Publizistik distanzierte. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 181. Am 21. April 1933 polemisierten die „Münchner Neuesten Nachrichten“ („Ein Mann namens Bell . . .“) ausführlich gegen „grausame Schauermärchen“ in österreichischen Zeitungen über das Attentat auf Bell. Danach hätten „schwerbewaffnete S.A.-Männer“ einen „armen, gehetzten Verräter niedergeschossen“. Der Bericht machte dessen Leser geradezu auf die bisher in der deutschen Presse nicht genannten Attentäter aufmerksam. 133 Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 205, Anm. 18. Nach einer Mitteilung von Simon Schofer, dem Generalbevollmächtigten von Erich Fürst von Waldburg-Zeil, vom 8. Mai 1945 aus Schloss Zeil an J. Steiner soll sich Bell „beim Pfarrer von Durchholzen zum Konvertiten-Unterricht gemeldet haben. Er wollte katholisch werden. Den Anstoß hierzu hatte eine Unterredung mit Wutz in Eichstätt (Ende 1932) gegeben, bei der er (Bell) nach seiner eigenen Aussage das erstemal von der Existenz Gottes und gott-menschlicher Beziehungen hörte.“ Zitiert bei Aretin: Fritz Michael Gerlich (wie Anm. 3), S. 146 f. Auch nach der Aussage eines alten Bell-Freundes von 1947 soll der Agent erwogen haben, „zum Katholizismus überzutreten“. Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 148. Nach der Erinnerung Neumanns (wie Anm. 8) hätte Bell am Tage seines Todes „die ersten Religionsstunden beim Pfarrer in Kufstein“ gehabt, Hell jedoch dessen „Willen zur Konversion“ nicht bestätigt. 134 Nach dem „Rosenheimer Anzeiger“ (wie Anm. 132). Wenige Tage später besuchte Waldburg-Zeil Bells „einsames Grab“. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 338. 135 So Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 180.

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reits am 12. März 1933 – da er offensichtlich einen Anschlag von Röhm befürchtete –, in die Schweiz emigriert.137 Von Basel aus regte er am 18. Dezember 1933 beim dortigen Bischof Joseph Ambühl eine Intervention zugunsten des in München inhaftierten Fritz Gerlich an, der Ambühl zustimmte und für die er auch die Bischöfe Laurenz Matthias Vincenz von Chur und Alois Scheiwiler von St. Gallen gewann. Sie ging bereits am 21. Dezember 1932 ab, allerdings nicht – wie Kiefer vorgeschlagen und ausführlich begründet hatte –, an Hindenburg und Reichsstatthalter v. Epp, sondern an Nuntius Cesare Orsenigo in Berlin.138 Dieser 136 Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17), S. 180 f. Während es bei Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15) heißt, „die Nationalsozialisten“ hätten Hell die Pension gesperrt (S. 167, ohne Beleg), soll er 1941, nach Waldburg-Zeils Erinnerungen, NSDAP-Mitglied gewesen sein. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 338. 1936 war Hells Antrag auf Aufnahme in die Berufsliste der Schriftsteller vom Landesverband Bayern im Reichsverband der deutschen Presse abgelehnt worden. Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945. Archiv-Inventar, Band 6/1. München 1977, S. 384. 137 Kiefer war nach Wehrdienst im Ersten Weltkrieg und anschließender Tätigkeit in den Bayerischen Einwohnerwehren an der Beendigung der Räteherrschaft im Mai 1919 in München beteiligt. Im März 1920 bereitete er als Anhänger Kapps und Ludendorffs deren Putsch in München vor. Aus dieser Zeit kannte er auch Karl Mayr. 1921 leitete Kiefer im Freikorps Oberland einen Nachrichtendienst in den Kämpfen um Oberschlesien. Später zeitweilig freier Mitarbeiter der „Münchner Neuesten Nachrichten“ und der „Frankfurter Zeitung“, kam Kiefer im Mai 1932 zu Gerlich, wurde aber bereits Ende November wieder entlassen (Anm. 77). Daraufhin suchte Kiefer seine Dezember-Bezüge einzuklagen, erfuhr jedoch Ende Januar 1933 von seinem Anwalt, dass er seine Interessen selbst vor dem Arbeitsgericht vertreten müsse. Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 297, Anm. 583. Vermutlich hat Kiefer die Klage vor seiner Emigration nicht mehr eingereicht. Als Publikation von ihm ist nur nachweisbar: Kiefer, Wilhelm: Augusta Van Dorpe. Zwei Novellen, Köln 1933. Waldburg-Zeil beurteilte Kiefer, dessen Einfluss auf Gerlich „geradezu verderblich“ gewesen sei, ebenso negativ wie dessen Arbeit für den „GW“. Am 26. Dezember 1932 ging Waldburg-Zeil (an Gerlich) davon aus, dass sie Kiefer „wohl bald im gegnerischen Lager wiederfinden“ würden. Der Schriftteller habe Gerlich „immer wieder dadurch gewonnen, daß er vorgab, ebenfalls konvertieren zu wollen, denn er wußte, daß das seine schwache Stelle war“. Ebd., S. 328. Kiefer ist, vermutlich Anfang 1933, zum Katholizismus konvertiert. Er hat allerdings nicht, wie Waldburg-Zeil annahm, Gerlichs Verbindung mit Bell vermittelt. 138 Erwähnt bei Richardi/Schumann: Geheimakte Gerlich/Bell (wie Anm. 15), S. 165 u. 204, Anm. 46; Gerlich-Edition (wie Anm. 1), S. 297, Anm. 583. Zu dieser Bischofsaktion: Bernold, Patrick: Der schweizerische Episkopat und die Bedrohung der Demokratie 1919–1939. Die Stellungnahme der Bischöfe zum modernen Bundesstaat und ihre Auseinandersetzung mit Kommunismus, Sozialismus, Faschismus, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris u. Wien 1995, S. 375–378. Bernolds Teildruck der von Kiefer angeregten Eingabe ist von Dornheim: Röhms Mann fürs Ausland (wie Anm. 17) übersehen worden, auch von mir (Gerlich-Edition, wie Anm. 1), so dass mein Hinweis auf Bankdirektor Joseph Riklin (St. Gallen) als Initiator (S. 295, Anm. 580) entsprechend zu korrigieren ist. Kiefer, den Bernold nicht identifizieren konnte, spielte in der deutschsprachigen Emigration in der Schweiz seit 1937 eine zwiespältige politische (nachrichtendienstliche?) Rolle. Er wurde von der Politischen Polizei überwacht, 1939 kurzzeitig verhaftet – 1942 zwei Monate lang auch von der Gestapo in Lörrach – und 1945 ausgewiesen. Dazu Lämmert, Eberhard (Hrsg.): Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945, Band 4, München 1990, S. 232–239; Kraus, Marita: Das Europa der

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folgte dem Rat des von ihm befragten Münchner Nuntius, Alberto Vassallo di Torregrossa, und reichte die Eingabe nicht weiter.139 Der freie Mitarbeiter des „GW“ Curt v. Strachwitz wurde am 13. März 1933 in München verhaftet und blieb bis Ende 1933 im Polizeigefängnis. Dann kehrte er nach Österreich zurück und veröffentlichte 1934/35 in Innsbruck unter zwei Pseudonymen die schon erwähnten Schriften „Was wird aus Deutschland? Die Voraussagen des Dr. Gerlich erfüllen sich“ und „Gespräche Dr. Gerlichs mit Verus“.140 Strachwitz musste 1938 emigrieren. Gerlichs Neffe und Mitarbeiter Dr. Ludwig Weitmann, der sich 1931 für seine Tätigkeit in dessen Verlag aus dem Justizdienst hatte beurlauben lassen, trat 1933 wieder in den bayerischen Staatsdienst ein, emigrierte aber 1938 in die Schweiz. Er gelangte nach Stationen in Frankreich und Großbritannien nach Australien (als Kriegsinternierter), von wo aus er noch Ende 1944 gegen seine inzwischen erfolgte Ausbürgerung Einspruch erhob. Weitmann kehrte 1945 nach München zurück und rückte dort im städtischen Polizeidienst auf.141 Dr. Johannes Steiner musste im Sommer 1933 den Naturrechts-Verlag auflösen und gründete, nach kurzer Arbeitslosigkeit, zu Ende dieses Jahres mit Dr. Hugo Steiner – der wegen seiner Aktivität für die „Bayernwacht“ in Waldsassen kurze Zeit in „Schutzhaft“ gewesen war –, den Verlag Schnell & Steiner in München.142 Außenseiter. Friedrich Wilhelm Foerster, Wilhelm Kiefer und die Exilzeitung Europa (1935/36), in: Grunewald, Michel/Bock, Manfred: Le discours européen dans les revues allemandes (1933–1939)/Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933– 1939), Bern u. New York 1999, S. 95–115; Seefried, Elke: Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933–1938. Düsseldorf 2006, S. 206 f., 334 u. 338. In allen drei Beiträgen fehlen Hinweise auf umfangreiche KieferUnterlagen bzw. Briefwechsel in Akten des Bundesarchivs in Bern und des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts in Berlin. In einem Schreiben vom 9. Juni 1954 an Heinrich Brüning behauptete Kiefer, den „GW“ mit Gerlich zusammen „geleitet“ (!) zu haben. Bundesarchiv, Abt. Koblenz; Nachlass Johannes Maier-Hultschin 3. Kiefers spätere Aussage, dass er, nach seinem Eintritt in die Redaktion des „GW“, im Mai 1932, dessen Auflage bis Juli auf 110.000 Exemplare gebracht habe (Fürst Erich und der „GW“, in: Schwarz-Gelbe Blätter. Sonderausgabe zum Gedenken des 10. Todestages des Fürsten Erich zu Waldburg-Zeil. Leutkirch [1963], S. 20–25, hier S. 23) – in einem Schreiben vom 21. September 1955 an Andreas Hermes: 120 000 Exemplare (Archiv für Christliche Demokratie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin, I-090104/02) – trifft nicht zu. Kiefers dicht belegte, aber undurchsichtige Tätigkeit in der Schweiz ist bisher ebenso wenig bekannt wie seine spätere Aktivität in der Bundesrepublik Deutschland, wo er sich in den 1950er-Jahren für eine Verständigung mit der UdSSR einsetzte. In Kiefers Kurzvita von Helmut Bender ist davon ebensowenig die Rede wie von seiner national-revolutionären Vergangenheit. Bender, Helmut: Wilehelm Kiefer, in: Ottnad, Bernd (Hrsg.): Badische Biographien, NF, Band III, Stuttgart 1990, S. 151 f. 139 Dazu Morsey, Rudolf: Eine erfolglose Interpellation von drei Schweizer Bischöfen im Dezember 1933 zugunsten des verhafteten Münchner Publizisten Fritz Gerlich, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 19, 2012, S. 289–304. 140 Siehe Anm. 55 u. 102. 141 Unterlagen dazu im Stadtarchiv München.

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XIII. Ergebnisse Die eingangs gestellte Frage lautete: War Gerlich für seine Kampfpublizistik im „GW“ gegen den Nationalsozialismus von Informationen Georg Bells abhängig, beziehungsweise in welcher Form hat er sie übernommen oder nicht übernommen? Ich fasse die Antwort in sechs Punkten zusammen: 1. Die Informationstätigkeit Bells für Gerlich begann nicht, wie bisher überwiegend angenommen, im Frühjahr oder Sommer 1932, sondern Anfang Oktober, im Zusammenhang seines – zudem bedingten – Austritts (8. Oktober 1932) aus der NSDAP. Der politisch ,heimatlose‘ Agent suchte einen neuen Auftragund Geldgeber neben dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. 2. In der Literatur sind bisher nur zwei Artikel Gerlichs bekannt, die auf Informationen von Bell beruhten: „Provokateure in der S.A.“ vom 26. Februar 1933, der offensichtlich den (letzten?) Anlass zum Verbot des „GW“ bildete und „Aufmarschbefehl der S.A.“ vom 1. März 1933. Beide allerdings sollen – nach der von Fritz Tobias 1962 referierten (und bisher nicht widerlegten) Meldung des „Völkischen Beobachters“ vom 3. März 1933 – aus der „Fälscherwerkstatt“ Münzenbergs stammen. Diese Einschätzung übernahmen Richardi/Schumann und Dornheim, zogen daraus jedoch keine Folgerungen für den Nachrichtenwert von Bells Berichten und/oder für seine Glaubwürdigkeit. 3. Beide waren jedoch – entgegen auch der Annahme Gerlichs – gering: Bell lieferte farbige Schilderungen über Prestigekämpfe und Intrigen innerhalb der rivalisierenden Führungsspitzen der NSDAP und der SA, häufiger jedoch Spekulationen über die wechselnden Kräfteverhältnisse im Machtdreieck Papen–Hindenburg–Schleicher. Seine Berichte waren Ausdruck einer begrenzten Realitätswahrnehmung, vermutlich auch eine Form seiner anonymen Abrechnung mit Röhm. 4. Für einen professionellen Nachrichtenhändler war ein politischer Seitenwechsel keineswegs untypisch. Er führte bei Georg Bell zu einer damals zwar verbreiteten, in ihrem Ausmaß jedoch ungewöhnlichen Unterschätzung und Verharmlosung Hitlers, seiner Zielsetzung und seines Machtwillens. Entsprechend überschätzte der Agent Goebbels und Göring, Strasser und Röhm. Dabei verkannte er die Möglichkeiten, aber auch die Bereitschaft Röhms für einen Putsch der SA, den Gerlich hingegen im März 1933 befürchtete.143 142 Dazu Wittmann, Reinhard: Der gerade Weg. Katholische Verlage in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Verlag Schnell & Steiner (Hrsg.): 75 Jahre Schnell und Steiner. Kunst und Kultur, Regensburg 2009, S. 29–40, hier S. 34. 143 Schon im Februar/März 1932, im Vorfeld der Wahl des Reichspräsidenten, hatte Gerlich einen von der SA ausgelösten Bürgerkrieg befürchtet (Gerlich-Edition [wie Anm. 1], S. 178, 184, 186 u. 190), am 15. März 1932 auch Ministerpräsident Held gegenüber Reichskanzler Brüning seine Besorgnis vor „Revolution und Bürgerkrieg“ geäußert. Akten der Reichskanzlei (wie Anm. 67), S. 2368.

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5. Der Chefredakteur veröffentlichte seit Oktober 1932 im „GW“ Fehlprognosen über die politische Entwicklung in Berlin, die von Bell stammten, wiederholt als „Mitteilungen unseres Berliner Mitarbeiters“. Gerlich übernahm jedoch nicht dessen Verbalinjurien über die Führungsspitzen der NSDAP und SA sowie die erstaunliche Verharmlosung Hitlers. Er blieb vielmehr davon überzeugt, dass die Herrschaft der völkischen „Massenwahn-Bewegung“ eine tödliche Gefahr für das deutsche Volk bedeuten würde. Bereits einen Tag nach Hitlers „Machtergreifung“ prophezeite er den Beginn eines Zeitalters der Barbarei. 6. So zutreffend Fritz Gerlich die Folgen der Hitler-Diktatur – die ihn, wie ihm bewusst war, sein Leben kosten sollte – erkannte, so falsch hat er Bells AgentenMentalität eingeschätzt. Sie hinderte den Flüchtling nicht daran, bereits im März 1933, allerdings vergeblich, eine Aussöhnung mit Röhm anzustreben, den er noch vier Monate zuvor als „politisches und menschliches Schwein“ tituliert hatte. Auch Bell büßte mit seinem Leben144, schließlich ebenfalls, ein gutes Jahr später und aus gänzlich anderen Gründen, Röhm.145 Diese Feststellungen oder Thesen zu rektifizieren oder zu falsifizieren, über diese Zwischenergebnisse hinaus, bleibt Aufgabe künftiger Forschung.

144 Nach Paul Schulz war es ein „persönlicher Racheakt des Stabschefs der SA“ (Dimitrios: Weimar und der Kampf gegen ,rechts‘ [wie Anm. 15], Bd. II/2, S. 667), während Rudolf Diels nicht glaubte, „daß Röhm an dem Mord mitschuldig gewesen ist“. Diels, Rudolf: Lucifer ante portas. . . . es spricht der erste Chef der Gestapo, Stuttgart 1950, S. 123. 145 Dazu Wolfram Selig: „Es ist eine bittere Ironie des Schicksals, daß Gerlich im Zusammenhang mit der Vernichtung seines Erzfeindes Röhm ermordet wurde.“ Selig, Wolfram: Ermordet im Namen des Führers. Die Opfer des Röhm-Putsches in München, in: Becker, Winfried/Chrobak, Werner (Hrsg.): Staat, Kultur, Politik. Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht, Kallmünz in der Oberpfalz 1992, S. 341–356, hier S. 351.

Paradigmenwechsel oder Ausdruck nationalsozialistischer Polykratie? „ZIEL UND WEG“ der Protagonisten des NSDÄB Markus Herbert Schmid Am 15. Dezember 1935 schrieb der damalige Propagandaminister Joseph Goebbels in sein Tagebuch: „Dieser Wust von Organisationen ist ekelhaft. Jeder will Reichsführer sein.“ 1 Damit umschrieb Goebbels eine nationalsozialistische Herrschaftsform, die von heutigen Historikern mit verschiedenen Attributen belegt wird. Unter anderem ist die Rede von einer gelenkten Polykratie, von einer autoritären Anarchie, von Kompetenzverwirrung, aber auch von Machtpluralismus oder Ämter-Darwinismus ist zu lesen. Man verweist dabei auf das Nebenund Gegeneinanderregieren von konkurrierenden Institutionen und Hoheitsträgern, die auf unterschiedliche Weise vom viel umschriebenen „Führerwillen“ 2 abhängig waren und ihrerseits wieder weitgehend unabhängige Machtzentren herausbildeten, die einen geradezu „halbfeudalen Status“ einnahmen.3 Unter diesen Aspekten stellen sich im Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB), einer Institution, die auf dem Gebiet der NS-Forschung bislang eine marginale Rolle spielte und schon während ihres Bestehens (1929–1945) in der Wahrnehmung damaliger Zeitgenossen ein Schattendasein führte,4 verschiedene Fragen: Inwieweit konnte 1 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 15. Dezember 1935, in: Fröhlich, Elke (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I (Aufzeichnungen 1923–1941), Band 3/I. München 2005, S. 347. 2 Kershaw, Ian: Hitler. 1889–1936, Stuttgart 1998, S. 666. 3 Rebentisch, Dieter: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989, S. 15. 4 Für den relativ geringen Bekanntheitsgrad des NSDÄB in der breiten deutschen Öffentlichkeit gibt es eine plausible Erklärung. Seine Kundgebungen stellten in erster Linie ein Forum für die programmatischen Erklärungen des NSDÄB dar und wandten sich zwar nicht nur, aber dennoch explizit an die Ärzteschaft. Das trifft vor allem für die rednerische Kleinarbeit und die NSDÄB-Sprechabende in den Jahren 1929 bis 1932 zu. Nach 1933/1934 identifizierte man die Gesundheitspropaganda (Aufklärungsveranstaltungen, Plakatwerbung, Ausstellungen u. a.) wesentlich mit dem übergeordneten Hauptamt für Volksgesundheit. Ob das gesundheitspolitische Wirken des Ärztebundes deshalb beim Rest der Bevölkerung auf großen Widerhall stieß, wurde selbst in den eigenen Reihen bisweilen kritisch hinterfragt; Pakheiser, Theodor: Gesundheitspropaganda, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 12, 1940, S. 443– 445, hier S. 444.

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der jeweilige Vorsitzende, quasi der kleine Unterführer, nach dem Führerprinzip agieren? Trug der damalige Handlungsrahmen zu einem Paradigmenwechsel bei? Und welche Rolle spielte der Faktor Adolf Hitler? Will man diese Fragen beantworten, steht man vor einer mangelhaften und über das normale Maß hinaus sehr dislozierten Überlieferung in verschiedenen deutschen Archiven. Größtenteils dürfte die Zersplitterung des deutschen Gesundheitswesens die Ursache sein, dass kein wesentlicher zentraler Aktenbestand vorhanden ist. Das Deutsche Reich hatte schon vor dem „Dritten Reich“ keine Bürokratie mit umfassender Kompetenz für das Gesundheitswesen entwickelt. Gesundheitspolitik entstand aus einem Agglomerat aus verschiedenen Reichsund Landesbehörden, kommunalen Trägern, berufsständischen und gemeinnützigen Organisationen. Diese Mixtur aus verschiedenen vertikalen und horizontalen Ebenen im Gesundheitswesen wurde seit 1933 durch die Errichtung paralleler NSDAP-Ämter zusätzlich aufgespalten. Ausgehend von dieser Aktenlage und basierend auf dem NS-Herrschaftssystem, das in hohem Maße auf personalisierten Machtbeziehungen fußte, wird im Folgenden der Fokus auf die Lebenswege und Charaktere der Vorsitzenden, deren potentiellen Möglichkeiten und tatsächliches Wirken gerichtet. I. ZIEL UND WEG – Die Ideologisierung der Ärzteschaft Als am 3. August 1929 der NSDÄB in Nürnberg gegründet wurde, waren laut Protokoll lediglich 42 Ärzte und zwei Ärztinnen im Hotel Deutscher Hof anwesend.5 Es wurde eine Kommission von vier Ärzten gewählt, die in engem Kontakt mit der obersten Parteileitung stehen sollte. Die Hauptgeschäftsstelle des Bundes befand sich in München. Zum Vorsitzenden wählte man den Ingolstädter Sanitätsrat Dr. Ludwig Liebl, unter dessen Leitung die Gründungsversammlung stattgefunden hatte. Statutengemäß konnten dem Bund Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker mit reichsdeutscher oder einer dieser gleichgestellten Approbation angehören. Das Besondere an dieser Gründung war, dass nun zum ersten Mal eine politische Bewegung die Bedeutung des Ärztestandes erkannte und versuchte, diesen für die eigenen ideologischen Zwecke einzunehmen. Die Gründung des NSDÄB stand unter dem großen Leitspruch VOM ARZT DES INDIVIDUUMS ZUM ARZT DER NATION.6 Schon in den ersten Veranstaltungen, die für den Eintritt warben, kam offen zu Tage, um was es den Gründungsmitgliedern bei dieser Devise ging. Für Ärzte setzte man Vorträge „über die 5 Anonymus: Bund nationalsozialistischer Ärzte, in: Völkischer Beobachter, 6. August 1929. Und: Anonymus, Hakenkreuzlerischer Deutscher Aerztebund, in: Münchener Post, 27. August 1930. Und: Abschrift. Der Polizeipräsident, Berlin, den 13. April 1931 in: BArchB, R1501/126101. 6 Lang, Theobald: Der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund, S. 38 f., in: Nationalsozialistische Monatshefte, Nr. 1, 1930, S. 39.

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Bedeutung der Rasse“ zielbewußt an die erste Stelle und schlug im selben Atemzug einen Bogen zur „Verjudung einflußreicher wissenschaftlicher Kreise, die deutschen strebsamen Wissenschaftlern völlig den Weg versperren“ würden.7 Derartige Formulierungen konnten von Anfang an kaum verhehlen, dass die Neustrukturierung des Heilwesens nur über eine bewußt nationalsozialistische Umsetzung geplant war, an deren Ende zumindest berufliche Zulassungsbeschränkungen für Juden stehen sollten. Ludwig Liebl trat schon im September 1932 auf der dritten Reichstagung in Braunschweig als Erster Mann im NS-Ärztebund ab und wurde fortan als Ehrenvorsitzender geführt.8 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht nur maßgeblichen Anteil an der Gründung, sondern auch an der agitatorischen Ausrichtung, zu der u. a. die Herausgabe einer eigenen Publikation mit dem Titel ZIEL UND WEG (ab 1939: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG) gehörte.9 Bereits in der ersten Ausgabe dieser radikalen „Aufklärungs“-Schrift definierte Liebl den NSDÄB nicht als politisch ausgerichtete Standesorganisation, wie es zum Beispiel die zuvor entstandenen Parteigliederungen des NS-Studentenbundes (NSDStB, 1926), des NS-Juristenbundes (BNSDJ, 1928) oder des NS-Lehrerbundes (NSDLB, 1929) waren. Der NSDÄB sollte – im Rang der SA und der SS gleichgestellt – als Teil der Kampforganisation der NSDAP seine Wirkung entfalten: „seine Mitglieder sind zuerst Nationalsozialisten und dann Ärzte,“ wie Liebl schrieb.10 Dieses Postulat wurde 1932 in die Satzung unter § 2 (Zweck und Ziel des Bundes) aufgenommen.11 Neben pseudo-wissenschaftlichen Beiträgen aus dem akademischen Mediziner-Milieu lancierte man in ZIEL UND WEG den üblichen Radau-Antisemitismus im Stil von Julius Streichers „Stürmer“.12 Die Publikation verstand sich 7 Die Rassenfrage vor dem richtigen Forum. Eine anregende Tagung des NS-Aerztebundes, in: Der Angriff, 2. Februar 1931. 8 Auf dieser 3. Reichstagung sollen bereits über 1000 Ärzte teilgenommen haben; Dr. Groß, Braunschweig. Bericht und Sinndeutung, in: ZIEL UND WEG, Nr. 5, 1932, S. 3–8, hier S. 6. 9 Am 2. Juni 1939 verfügte Leonardo Conti, dass ZIEL UND WEG das Erscheinen einstellte und mit der von Gerhard Wagner begründeten GESUNDHEITSFÜHRUNG zusammengelegt wurde. Herausgegeben wurde die Publikation ab 1. Oktober 1939 in dem neugegründeten Reichsgesundheitsverlag Berlin-Wien unter dem Titel DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG vom Hauptamt für Volksgesundheit, dem Sachverständigenbeirat und dem NSDÄB unter der Hauptschriftleitung des stellvertretenden Vorsitzenden des NSDÄB (Dr. Kurt Blome); Der Hauptschriftleiter im Reichsverband der Deutschen Presse: An alle Leser und Mitarbeiter!, in: ZIEL UND WEG, Nr. 16, 1939, S. 493–494, hier S. 493. 10 Liebl, Ludwig: Nationalsozialistischer Deutscher Ärzte-Bund und ärztliche Standesorganisation, in: ZIEL UND WEG, Nr. 1, 1931, S. 4–6, hier S. 4. 11 § 2 (Zweck und Ziel des Bundes), in: Satzung des NSDÄB e.V. in der Fassung von September 1932, in: BArchB, NS 22/440. 12 Z. B. der Eugeniker und als „Rassepapst“ bezeichnete Prof. Dr. Hans Friedrich Karl Günther sowie Prof. Dr. Martin Staemmler, Prof. Dr. Wilhelm Hildebrandt, Prof.

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folglich nicht nur als medizinische Fachzeitschrift, sondern primär als „Sprachrohr“ des NSDÄB.13 Sie diente als wirksames Instrument der weltanschaulichen Beeinflussung und parteiintern stand man ZIEL UND WEG deswegen überwiegend wohlwollend gegenüber. Das heißt, dass die Partei gegen die politische Einstellung der Zeitschrift erwartungsgemäß nichts einzuwenden hatte, zumal sie angeblich ein Bindeglied dargestellt hätte, das den räumlich getrennten Einzelpersonen die geistige Fühlung untereinander und mit der Reichsleitung sicherte. Nichtsdestotrotz war man sich nach Herausgabe der ersten Exemplare (herausgegeben seit 1931) bewusst, dass es sich dabei lediglich um ein kleines „Außenseiterblättchen“ in der ärztlichen Presse handelte.14 Abgesehen von wenigen allgemeinen Beiträgen, zum Teil aus der Feder höherer Beamter, betrachtete man ZIEL UND WEG als medizinisch belanglose Publikation. Die Reichsorganisationsleitung monierte deshalb, dass die Schrift kaum wissenschaftliche Beiträge enthielt: „Es erscheint so gut wie ausgeschlossen, mit ihr in die Kreise des höheren Beamtentums einzudringen.“ 15 Dementsprechend begnügte man sich damit, dass ZIEL UND WEG mehr den medialen Teil eines politischen Konzepts übernahm, das alle kulturell Unerwünschten und gesundheitlich Schwachen einer Lösung zuführen sollte, was Jahre später unter den Schlagworten EUTHANASIE und ENDLÖSUNG firmierte beziehungsweise in verschiedene Vernichtungsprogramme mündete. Diese Frühphase des nationalsozialistischen deutschen Ärztebundes respektive seine sowohl antisemitischen als auch radikal-darwinistischen Veröffentlichungen sind deshalb als Einbruch der Pervertierung des Arztberufes in die Sozialgeschichte der Medizin anzusehen. Die „Rasse“ wurde von den Autoren der Artikel höher als der Mensch eingestuft. In den Postulaten des NSDÄB verlor damit auch das Ideal der christlichen Nächstenliebe als Grundlage ärztlicher Ethik seine ureigenste Bedeutung: „Wenn es uns ernst ist mit der Forderung der Gesunderhaltung des Volkes und der Rasse, . . . dann müssen wir diese Haltung der Caritas überwinden, die nicht nur unterschiedslos Wertvollem und Minderwertigem zugute kommt, sondern sogar ausgesprochene Förderung alles Minderwertigen auf Kosten des Gesunden bedeutet hat.“ 16 (ZIEL UND WEG, 1933). In solchen oder ähnlichen Formulierungen rezipierte man biologistisches Gedankengut aus dem völkischen Lager, wie es schon seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die sozialen Verwerfungen einer als krisenhaft Dr. Karl Kötschau, Professor Dr. Ludwig Schmidt-Kehl, Prof. Dr. Franz Wirz oder Prof. Dr. Erich Jaensch. 13 Blome, Kurt: [o. Ü.], in: ZIEL UND WEG, Nr. 16, 1939, S. 492. 14 Anonymus: Ein Wort pro domo, in: ZIEL UND WEG, Nr. 9, 1933, S. 236–237, hier S. 236. 15 Schreiben. Reichsorganisationsleiter, Hauptabteilung III. Innenpolitische Abteilung. An den Hauptabteilungsleiter III im Hause. München, den 9. September 1932, in: BArchB, NS 22/440. 16 Anonymus: Zur Berufsethik des Arztes, in: ZIEL UND WEG, Nr. 7, 1933, S. 157– 159, hier S. 158.

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erfahrenen Moderne entworfen wurde. Der NSDÄB vertrat die Ideologie, dass gewisse Bevölkerungsteile aufgrund ihres genetischen Bestandes nicht nur ungleichwertig seien, sondern aufgrund dieser vermeintlichen Ungleichheit auch verantwortlich wären für die krisenhaften Begleiterscheinungen der Moderne. Negative Zeiterscheinungen wie die Zunahme von Klassenkonflikten oder abweichendes Sozialverhalten interpretierten die Vertreter des NSDÄB als Folge genetischer Degeneration und rassischer Vermischung. Bei dieser Art der „Krisendiagnose“ blieb es jedoch nicht. Konsequenterweise sollte sich in der Behandlung der Patienten ein Wandel vollziehen, weg vom Individuum und hin zum „Volkskörper“.17 Unter dem Druck knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen bedeutete dies auf der Ebene der Versorgung die Konzentration der Fürsorgeleistungen auf ausgewählte „Wertvolle“. Damit stand plötzlich die reine Wertigkeit des Hilfsobjekts im Vordergrund. Bezogen auf einzelne Personalien in der deutschen Ärzteschaft versprach diese Denkart und Anprangerung von „Gemeinschaftsfremden“ beziehungsweise „Fremdrassigen“ (beides vorwiegend synonym verwendet für jüdische Standesgenossen) die Eliminierung einer unliebsamen Standeskonkurrenz.18 Das heißt, die Veröffentlichungen des NSDÄB bedienten sich nicht nur diffamierender antisemitischer Klischees, sondern gaben auch sehr konkrete Handlungsorientierungen gegenüber derartigen „Fremdrassigen“: Abgrenzung, Ausgrenzung bis hin zum Berufsverbot. Um dieses Fernziel zu erreichen, sollte sich der NSDÄB zu einer „scharfen Waffe gegenüber dem Überhandnehmen der rassischen Versäuchung (sic) des Ärzteberufes“ entwickeln.19 Die mit vierzehn Paragraphen nicht allzu umfangreich ausgefallene Satzung aus dem Nürnberger Gründungsprotokoll konkretisierte die Zielsetzung des NSDÄB für die Praxis: Zusammenschluss sämtlicher Ärzte, um in ihren Standesvereinigungen und im Berufsleben nach den Grundsätzen der NSDAP als politische Kampforganisation zu handeln. Das deutsche Heilwesen sollte mit nationalsozialistischem Geist durchdrungen werden, wobei man u. a. Vorträge über Rassenkunde, Eugenik und die Mitarbeit im Sanitätsdienst der SA als selbstverständlich betrachtete.20 Neben der gegenseitigen Beratung und Hilfe in Standes17 Dazu das Publikationsorgan des NSDÄB: „Wir haben vom ersten Tage an darauf hingewiesen, daß die große weltanschauliche Umstellung unserer Tage, die zu einem wesentlichen Teil die Ueberwindung des Individuums durch das Erlebnis ,Volk‘ ist, auch Moral und Ethik des ärztlichen Berufes entscheidend beeinflussen muß.“ Anonymus: Zur Berufsethik des Arztes (wie Anm. 16), S. 157. 18 Schon in der Erstausgabe von ZIEL UND WEG proklamierte Ludwig Liebl eine Ärzteschaft, die „– frei von jüdischem Einfluß in seinen eigenen Reihen –“ sein sollte; Liebl: Nationalsozialistischer Deutscher Ärzte-Bund und ärztliche Standesorganisation (wie Anm. 10), S. 5. 19 Abschrift. Schreiben von Gauobmann Dr. Dr. Kartz (Gau Rheinland). NSD.-Ärztebund. Gau Rheinland. An die OGL des NSD.-Ärztebundes-Gau Rheinland. Köln, den 1. März 1931, in: BArchB, R1501/126101. 20 Lagebericht Nr. 91 vom 1. September 1930, in: BArchB, R1501/126101.

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angelegenheiten kam der Anwerbung des nationalsozialistischen medizinischen Nachwuchses eine ganz besondere Bedeutung zu. Dies sollte in Zusammenarbeit mit einer entsprechenden Fachgruppe des Nationalsozialistischen Studentenbundes auf Hochschulebene gewährleistet werden. Ausserdem zog der Ausschluß eines NSDÄB-Mitgliedes aus der NSDAP automatisch den Ausschluß aus dem Ärztebund nach sich.21 Und im Fall der Auflösung des eingetragenen Vereins sollte das gesamte Vermögen des Ärztebundes obligatorisch der Parteileitung der NSDAP zufließen.22 II. Die Gründungsphase (1929–1932) unter dem „Pogromarzt“ 23 Dr. med. Ludwig Liebl Wer war der Anführer der „Pogromärzte“,24 der sich zuvor in Ingolstadt nicht zu schade dafür war und persönlich vor örtlichen Frauengruppen die Werbetrommel gerührt hatte, um sie für die Partei Adolf Hitlers zu gewinnen?25 Wer war der „Judenfresser“,26 der den NSDÄB stringent an die Partei des Führers anlehnen wollte, um dem Nationalsozialismus zum Sieg zu verhelfen? Als Sohn eines Landgerichtsassessors im Bayerischen Wald geboren,27 schloß Dr. med. Ludwig Liebl nach dem Abitur in Passau an der Universität in München sein Medizinstu21 § 5 (Erlöschen der Mitgliedschaft), in: Satzung des NSDÄB e.V. in der Fassung von September 1932, in: BArchB, NS 22/440. 22 § 14 (Auflösung des Vereins), in: Satzung des NSDÄB e.V. in der Fassung von September 1932, in: BArchB, NS 22/440. 23 In einer Erklärung der Ärztlichen Mitteilungen (abgekürzt: ÄM, herausgegeben vom Verband der Ärzte Deutschlands, dem sogenannten Hartmannbund, mit der Ausgabe Nr. 25 im Jahr 1933 eingestellt und anschließend mit dem Deutsche Ärzteblatt, abgekürzt DÄ, fusioniert), ließ Ludwig Liebl seinem Unmut über diese Betitelung freien Lauf und drohte seinen politischen Gegnern, dass er sich „zu gegebener Zeit ihrer erinnern“ werde; u. a. Liebl, Ludwig/Hörmann, Bernhard: Erklärung, in: ÄM, Nr. 51, 1930, S. 1061. 24 Mit Begriffen wie „Pogromärzte“, „Judenfresser“, „Hakenkreuzärzte“ etc. wurden Liebl und die NSDÄB-Mitglieder in der Entstehungsphase des Ärztebundes häufiger verbal angegriffen; Klauber, Leo: Sozialistische Ärzte, Ärzteverband und Gewerkschaft, in: ÄM, Nr. 47, 1930, S. 988–989, hier S. 988. 25 U. a. Ankündigung einer Versammlung der Völkischen Frauengruppe der NSDAP für Dienstag, den 11. Oktober 1927, in: Donaubote, Organ für nationale und soziale Politik im Kampf um die Wahrheit, 8. Oktober 1927. 26 Klauber: Sozialistische Ärzte, Ärzteverband und Gewerkschaft (wie Anm. 24), S. 988. 27 Liebl, Ludwig Dr. med., geb. 13. November 1874 in Waldkirchen, gest. 11. Februar 1940 in Ingolstadt; 1911–1919 im Kollegium der Gemeindebevollmächtigten und 1919–1926 Mitglied im Ingolstädter Stadtrat, 1922 Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Marktgemeinde Waldkirchen, Mitglied des Oberbayerischen Kreistages, Eintritt in die NSDAP am 12. Mai 1925, 1927 Verleihung des Titels Sanitätsrat, 1934 Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Stadt Ingolstadt; StAM, SpkA K 2869 Liebl, Ludwig. Und BArchB, Zentralkartei, MFOK, N 0037 (Liebl, Dr. Ludwig).

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dium mit der ärztlichen Approbation ab. Nach dem medizinischen Staatsexamen spezialisierte er sich auf Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe. Um sich existentiell abzusichern, war er in den Jahren 1905 bis 1909 gezwungen, zahlreiche kurzfristige Assistenzstellen und Vertretungen zu übernehmen. Diese Lehr- und Wanderjahre führten ihn von Milbertshofen nach Ingolstadt und über Kirchart (Schwarzwald) nach Neunkirchen (Saarland), von Chemnitz bis nach Norddeutschland (u. a. Hamburg) und schließlich an die Charité in Berlin. Nach der Promotion ließ sich Liebl in Ingolstadt nieder, weil er glaubte, in der Donaustadt bessere Erwerbsmöglichkeiten zu haben und eröffnete dort im Jahr 1909 eine Praxis mit dazugehöriger Privatklinik. Die anschließende Verbindung mit einer vermögenden Gutsbesitzertochter ermöglichte ihm eine bedeutende Erweiterung und Modernisierung seiner Klinik. Drei Jahre später gründete er eine Partei, deren Mitglieder sich überwiegend aus einem bürgerlichen Milieu rekrutierten und sich deshalb „Bürger-Vereinigung“ bezeichneten. Liebl hatte diese Vereinigung aus einer schon 1894 bestandenen Wählerinitiative der bürgerlich Unzufriedenen reaktiviert.28 Zum Ärger der großen Mehrheit der eingesessenen Lokalpolitiker gewann er bei den Kommunalwahlen 1912 ein Mandat. Bis dahin hatte er sich bereits mit dem Großteil der Ingolstädter Ärzteschaft verfeindet, was auf eine Prügelaffäre und sein allgemein wenig kommentmäßiges Vorgehen beim raschen Aufbau seiner Klinikpraxis zurückzuführen war. Durch diese Auseinandersetzungen, die in Ehrengerichtsverfahren des lokalen Ärztevereins und der Ärztekammer mündeten, verschlimmerte sich Liebls berufsständische Außenseitersituation und der ärztliche Lokalverband brach durch Vereinsbeschluß jeden dienstlichen und persönlichen Verkehr mit ihm ab. Auf politischer Ebene griff ihn das Organ der Ingolstädter Arbeiterbewegung, die „Freie Presse“, nach dem Ersten Weltkrieg wortstark an und bezeichnete ihn als „Heim- und Hinterfrontkrieger“.29 In Anspielung auf Liebls Privileg, nahezu die gesamte Kriegszeit in seiner Heimatstadt Dienst machen und daneben seine Privatpraxis weiterbetreiben zu dürfen, warf man ihm vor, dass er weder um Leben noch um seine Gesundheit fürchten musste, sondern einer der wenigen Kriegsgewinnler gewesen sei. Tatsächlich beschränkte sich sein Kriegseinsatz auf Untersuchungs- und Gutachtertätigkeiten bei Musterungen und Versorgungsangelegenheiten. Bis zu seiner Quittierung des Militärdienstes blieb Liebl allerdings der ewige Oberarzt, worüber er sich einmal heftig beklagte. Gleichzeitig wurden seine jüdischen Standeskollegen aus dem militärischen Umfeld – Dr. Silbergleit, Dr. Kohnstam, Dr. Mantel, Dr. Bacherach und Dr. Aronade – angemes28

Straub, Theodor, Sanitätsrat Dr. Ludwig Liebl, in: StAIN, A III 6i. Bleier, Georg: An die Adresse der Herren Krauß – Bruckmayer – Dr. Liebl, in: Freie Presse für Ingolstadt u. den Donaugau. Organ für das werktätige Volk, 21. März 1923. 29

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sen befördert. Diese sollen alle „entgegenkommend und angemessen befördert“ worden sein,30 weswegen Liebl die eigene Nichtberücksichtigung als eine besondere persönliche Zurücksetzung empfand. Dies war eine typische Begleiterscheinung jener Zeit. Denn in Gruppen, die sich im Prozess des beschleunigten sozialen Aufstiegs befanden, wozu Liebl mit seiner rasch florierenden Klinikpraxis definitiv dazu gehörte, nahmen damals Vorurteile und zwischen-ethnische Feindseligkeit besonders häufig zu.31 Ludwig Liebl war schon früh dafür bekannt, ein niemals ruhender Zeitgenosse zu sein.32 Und „Wenn die Nazi was ham, ist er da,“ so charakterisierte man seine Gründungsinitiativen für die Partei.33 Es hatte dennoch einiger Zeit bedurft, bis sich Liebl für den Weg rechter Ideologien öffnete. Nach dem Heeresdienst schloss er sich 1918 zuerst einmal dem Ingolstädter Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat an, bis er 1919 seine Bürger-Vereinigung mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) fusionierte. Es wäre falsch zu glauben, Liebl hätte nach dem verlorenen Krieg zu den Repräsentanten des vom sozialen Abstieg bedrohten und deshalb radikalisierten Kleinbürgertums gehört. Liebl verkörperte mehr den Typus aus dem gehobenen Mittelstand, der aufwärts strebte und sich in fortgeschrittenem Alter nun endlich im städtischen Establishment positionieren wollte. Doch im Angesicht des allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Durcheinanders fürchtete er um seine Zukunftschancen und versuchte aus diesem Grund umso mehr in das gesellschaftspolitische Leben der Stadt Ingolstadt zu drängen, selbst auf die Gefahr hin, dass dabei seine bürgerliche Reputation Schaden nahm. So war spätestens seit der Niederschlagung der Münchener Räterevolution und dem Kapp-Putsch bei Liebl und seinen Parteifreunden ein politischer Klimawandel eingetreten. Er verurteilte wie viele seiner Zeitgenossen den Versailler „Schmachfrieden“ und zur Akzeptanz der Dolchstoßlegende gesellte sich die Schuldzuweisung an das demokratische Parteienspektrum. Im Sommer 1923 bereitete Liebl deshalb in mehreren Mitgliederversammlungen den Parteiübertritt vor und es begann die Zeit, in der er mit Wort und Feder für „völkisches“ Gedankengut kämpfte. Seit seinem persönlichen Besuch bei Adolf Hitler in der Festungshaft Landsberg tief beeindruckt, vollzog Liebl 1924 den fast geschlossenen Übertritt der Ingolstädter DDP zum VÖLKISCHEN BLOCK, einer Ausweich-

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Straub (wie Anm. 28) Aly, Götz: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt am Main 2011, S. 222. 32 Eidesstattliches Gutachten (sic) von Dr. Anton Killermann. Eichstätt, 24. März 1948, in: StAM, SpkA K 2869 Liebl, Ludwig. 33 Anonymus: Der Dichter Ludwig Liebl, in: Sonderausgabe Donaubote, in: StA IN, A III 6i. 31

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vereinigung der seit dem Hitlerputsch verbotenen NSDAP, und wurde dessen erster Vorsitzender in Ingolstadt. 1925 gründete Liebl (NSDAP-Mitgliedsnummer: 4388)34 – nach München und Landshut – die dritte NSDAP-Ortsgruppe in Deutschland seit ihrer Wiederzulassung und wurde ebenfalls ihr erster Ortsgruppenleiter.35 Da der offizielle Kurs der Bayerischen Volkspartei (BVP) seit dem 9. November 1923 gegen die NSDAP gerichtet war und der politische Katholizismus in Ingolstadt seit Jahren die stärkste Kraft war, wurde Liebls Situation noch prekärer. Als 1926 der Geschäftsgang und die Ertragslage seiner Privatklinik unter seiner politischen Außenseiterrolle zu leiden begannen, nahmen seine Ausdrucksformen aggressivere Töne an. Liebl lies seinen Ressentiments freien Lauf und klagte öffentlich, er sei durch „jüdische Agitation“, wie er es nannte, empfindlich geschädigt geworden, indem die Bevölkerung zu einem „Boykott“ seiner Heilanstalt aufgefordert worden wäre.36 Nicht zuletzt die linke Journaille hätte sich an „unberechtigten persönlichen Anpöbelungen“ geradezu überboten.37 Um propagandistisch gegenzusteuern, folgte 1927 die Gründung einer eigenen nationalsozialistischen privaten Lokalzeitung („Donaubote“), die nach längeren parteiinternen Besprechungen persönlich von Adolf Hitler abgesegnet worden war. Dieser „Donaubote“ agierte im Stil des „Völkischer Beobachter“ und wurde in der Endphase der Weimarer Republik, als die politische Radikalisierung zunahm, insgesamt viermal für mehrere Tage verboten.38 Liebls polemische Artikel waren geprägt von außerordentlicher Schärfe und Härte gegen politische Gegner und wiesen ihn als wahren „Sohn des Bayerischen Waldes“ aus.39 Zwei Jahre nachdem er besagte NS-Zeitung ins Leben gerufen hatte, kam es zu Liebls bedeutendsten und wirkungsgeschichtlich umfassendsten politischen Schöpfung, als er es war, der die Initiative ergriff und anlässlich des vierten NSDAP-Reichsparteitags eben jenen NS-Ärztebund ins Leben rief. 34

BArchB, Zentralkartei, MFOK, N 0037 (Liebl, Dr. Ludwig). StAM, SpkA K 2869 Liebl, Ludwig. 36 Straub (wie Anm. 28). 37 Auf der Reichstagung 1932 in Braunschweig ließ man Liebls Schwierigkeiten in der einstmaligen BVP-Hochburg Ingolstadt noch einmal Revue passieren; vgl. Anonymus, Beginn der Reichstagung der nationalsozialistischen Aerzte. Schon der Auftakt ein voller Erfolg – Führende Mitglieder des Aerztebundes über Ziel und Weg, in: Völkischer Beobachter, 17. September 1932. 38 Neuberger, Christoph: Tonnenmacher, Jan, Nationalsozialistische Presse und „Gleichschaltung“ der Tageszeitungen in Ingolstadt, in: Stadtarchiv Ingolstadt (Hrsg.), Ingolstadt im Nationalsozialismus. Eine Studie. Dokumentation zur Zeitgeschichte, Ingolstadt 1995, S. 260–273, hier S. 261 ff. 39 „Wuchtig wie Keulenschläge gehen seine Anklagen auf die Gegner nieder, wuchtig wie die Knüttel der Eichen, die auf den Bergen dort an der bayerischen Ostgrenze wachsen.“ So beschrieb man Liebls Beiträge im Donaubote; Anonymus: Eilt sehr! Zeitungsausschnitt, in: StA IN, A III 6i. 35

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Die Geschichte dieses Bundes begann mit einer „stillen Gründung“,40 wie man die damalige Situation beschönigend umschrieb. Ursprünglich hätte Adolf Hitler die politische Betätigung von Ärzten überhaupt nicht gerne gesehen.41 Andererseits hatte Liebl die Führung über den „Verband der Hitler-Ärzte“ 42 zu einer Zeit übernommen, als der NSDAP-Führer noch um jeden neuen Anhänger der Bewegung froh war und es für einen Arzt noch ein unüberschaubares Wagnis darstellte, öffentlich für die nationalsozialistische Bewegung einzutreten.43 Drei Jahre lang leitete Liebl diese neue Parteiorganisation, deren Schlagworte (zum Beispiel „Aufrassung“, „Entjudung der Ärzteschaft“ oder „Sterilisation Minderwertiger“) seitdem immer aggressiver durch den NS-Ärztebund verbreitet wurden. Dabei scheinen nicht nur ideologische Zielsetzungen hinter der Forderung gesteckt zu haben, jeglichen jüdischen Einfluß in der Medizin zu beseitigen. In den ersten beiden Satzungen des NSDÄB, die unter Ludwig Liebl ausgearbeitet worden waren, wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es das Ziel des Ärztebundes sei, den nationalsozialistisch gesinnten „Nachwuchs unterzubringen.“ 44 Das ökonomische Interesse scheint demnach in der Frühphase des Ärztebundes eine nicht unwesentliche Triebfeder gewesen zu sein,45 das bevölkerungsstatistische Argument von der jüdischen Überrepräsentation in der Medizin zu thematisieren.46 Mit Beginn der Wirtschaftskrise herrschte besonders unter 40 Noch ein Jahr später, in der ersten Tagung 1930 in Nürnberg, hätten sich auch nur 200 Ärzte eingefunden; Anonymus: Beginn der Reichstagung der nationalsozialistischen Aerzte. Schon der Auftakt ein voller Erfolg – Führende Mitglieder des Aerztebundes über Ziel und Weg, in: Völkischer Beobachter, 17. September 1932. 41 Baur, Hans: Ich flog Mächtige der Erde, Kempten 1956, S. 122. 42 Eine in der Gründungsphase häufig verwendete Bezeichnung für den NSDÄB; Klauber: Sozialistische Ärzte, Ärzteverband und Gewerkschaft (wie Anm. 24), S. 988. 43 Wie problematisch eine öffentliche Bekundung zum Nationalsozialismus von deutschen Medizinern bis 1933 angesehen wurde, verdeutlicht der Umstand, dass es neben den sich offen zum Nationalsozialismus und seiner Kampforganisation bekennenden Ärzten eine zweite Kategorie von Mitgliedern gab, die aus beruflichen oder sonstigen persönlichen Gründen offiziell nicht als NSDÄB-Mitglieder in Erscheinung treten wollten. Für diese ganz speziellen Mitglieder war ein um zehn Reichsmark erhöhter Monatsbeitrag vorgesehen; Abschrift. Der Polizeipräsident, Berlin, den 13. April 1931, in: BArchB, R1501/126101. Sogenannte „Sympathisierende“ wurden ebenfalls separat geführt, bezahlten einen besonderen Beitrag und erhielten einen speziellen Ausweis; Wagner, Gerhard: Anordnung, in: ZIEL UND WEG, Nr. 2, 1934, S. 37. 44 Lagebericht Nr. 91 vom 1. September 1930, in: BArchB, R1501/126101. Und: § 2 (Zweck und Ziel des Bundes), in: Satzung des NSDÄB e.V. in der Fassung von September 1932, in: BArchB, NS 22/440. 45 In dieser Frühphase kam es zu einer „Inflation“ von Medizinstudenten. Die Reichsnotgemeinschaft deutscher Ärzte forderte deswegen von der Reichsregierung und den Regierungen der Länder, den wachsenden Zustrom der Medizinstudenten gesetzlich einzudämmen; Haedenkamp, Carl: 27. Hauptversammlung des Hartmannbundes und 49. deutscher Ärztetag, in: ÄM, Nr. 27, 1930, S. 585–589, hier S. 589. 46 Gerade Ärzten mit NSDAP-Mitgliedschaft sollte ZIEL UND WEG eine Art Stellenbörse sein. Der NSDÄB kritisierte die vermeintliche Parteinahme seitens des Leip-

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den jungen Ärzten große Arbeitslosigkeit und unbezahlte Arbeit an den Krankenhäusern war an der Tagesordnung. Kassenarztstellen waren schwer zu bekommen und auf Betreiben der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften entstanden Polikliniken, die von den niedergelassenen Ärzten als zusätzliche wirtschaftliche Bedrohung empfunden wurden. So verwundert es nicht, dass die Anfang 1933 arbeitslosen 10 Prozent der deutschen Ärzte bis 1938 wieder in Brot und Stellung kamen, denn jüdische Ärzte wurden bis dahin aus ihrem Beruf verjagt beziehungsweise unter Verlust ihres Arzttitels zu „Krankenbehandlern“ herabgewürdigt.47 Gesundheitliche Gründe sollen 1932 ihren Tribut gefordert haben, dass Liebl seine weitreichenden Aktivitäten ausklingen ließ und die Führung des Ärztebundes in andere Hände abgab.48 Tatsächlich forderte der groß gewordene Bund zunehmend eine ständig verfügbare Leitung, die nun vom Hauptquartier der NSDAP, dem sogenannten BRAUNEN HAUS in München, ausgehen sollte. Dort gab es seit 1931, zumindest auf dem Papier, ein fast lückenloses System von Arbeitsbereichen, das jedoch nur so lange überzeugend wirkte, wie man nicht in Verlegenheit geriet, sein Funktionieren in der täglichen Praxis zu erproben. Dann entpuppte sich die ganze Apparatur als „Leerlaufgebilde“, das zumeist nur „Makulatur“ produzierte.49 So verhielt es sich jedenfalls in Bezug auf den NSDÄB. „Papa Liebl“, wie der Gründervater im NS-Medizinerkreis genannt worden war,50 wurde mit Amtsübergabe an Gerhard Wagner zwar zum Ehrenvorsitzenden ernannt, doch hinter den Kulissen rumorte es schon seit geraumer Zeit beziger Verbandes zugunsten jüdischer Ärzte und verkündete unter der Rubrik „Stellenvermittlung“: „Getreu dem Beispiel unserer jüdischen Kollegen müssen auch wir Nationalsozialisten in wirtschaftlichen Dingen zusammenhalten und uns nach Möglichkeit unterstützen. Es kommt dazu, daß der Stellennachweis unseres ,neutralen‘ Leipziger Verbandes bekanntlich Inserate, in denen ein jüdischer Kollege gesucht wird, ohne weiteres aufnimmt, dagegen Anzeigen, in denen das ominöse Wort ,arisch‘ vorkommt, glatt ablehnt, um, wie wörtlich erklärt wird, eine gefährliche Spaltung innerhalb der Ärzteschaft zu verhüten und Schwierigkeiten mit dem jüdischen Kollegen innerhalb des Leipziger Verbandes zu vermeiden.“; Anonymus: Stellenvermittlung, in: ZIEL UND WEG, Nr. 1, 1931, S. 30 f. 47 Am 30. September 1938 erloschen per Gesetz alle Approbationen jüdischer Ärztinnen und Ärzte im Deutschen Reich. Die Maßnahme, stellte nicht nur deren gesellschaftlichen Status in Frage, sondern war die entscheidende Existenz vernichtende Maßnahme der Nationalsozialisten, die zu einer letzten großen Auswanderungswelle der Betroffenen führte. Ab Herbst 1938 durften sich nur noch wenige der verfolgten Ärzte „Krankenbehandler“ nennen und ausschließlich jüdische Patienten behandeln; Kater, Michael: Die soziale Lage der Ärzte im NS-Staat, in: Ebbinghaus, Angelika/Dörner, Klaus (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 51–67, hier S. 59. 48 Anonymus: Ein Kranz Adolf Hitlers lag an seinem Grab, in: Donaubote, Organ für nationale und soziale Politik im Kampf um die Wahrheit, 14. Februar 1940. 49 Hanfstaengl, Ernst: 15 Jahre mit Hitler. Zwischen Weißem und Braunem Haus, München 19802, S. 219. 50 Straub (wie Anm. 28).

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trächtlich. Man warf Liebl vor, der NSDÄB sei ohne Leben und bestünde lediglich auf dem Papier.51 In einem Schreiben an Liebl wurde unverhohlene Kritik an dessen Führungsstärke geübt: „Der Nationalsozialistische Deutsche Aerztebund, der seinerzeit von Ihnen gegründet wurde, . . ., hat versagt. [. . .], weil der Aerztebund keine, aber auch gar keine Bedeutung hat, keinerlei Einfluss besitzt, vor allen Dingen dort nicht, wo er nach 2jährigen Wirken und Bestehen Einfluss haben sollte und Einfluss haben müsste: Nämlich bei unserer Reichsleitung und bei unserem Führer. [. . .]. Das Versagen des NSD-Aerztebundes liegt in seiner Führung begründet. Sie persönlich haben nicht die Zeit, um dem Aerztebund die Führung zu geben, die er braucht, [. . .]“ 52 Im Folgenden wurde kritisiert, dass der NSDÄB bis dato keinerlei Richtlinien für eine Neugestaltung der Sozialversicherung ausgearbeitet hätte und über das Stadium der reinen Mitglieder-Werbung nicht hinausgekommen wäre. Außerdem mangele es an der Durchsetzungskraft gegenüber solchen Standesorganisationen wie dem Hartmannbund,53 dem bis dahin größten Verband der deutschen Ärzte. Ludwig Liebl war ein typischer Interventionsmediziner, eine Synthese aus Mediziner und politischem Aktivisten. Und dessen Devise zuerst Nationalsozialist dann Arzt war ein deutlicher Beleg für Liebls Selbstverständnis. Dennoch musste er sich den Vorwurf gefallen lassen, kein tragfähiges Programm an die Parteileitung herangetragen zu haben, um sich auf diese Art die gesundheitspolitische Führung zu sichern. Der Berliner Gauobmann des Ärztebundes, Leonardo Conti,54 kritisierte ebenfalls die fehlende Sachkunde in Berufsfragen und die eklatanten administrativen Fehler beim Organisationsaufbau. Es hatte überhaupt den Anschein, dass bei allen Versammlungen des Berliner Ärztebundes von Conti ständig der Kampf gegen Liebls verfehlte Politik gepredigt würde. In der Praxis bewirkte der auf personaler Ebene ausgetragene Dissens,55 dass man jegliche Konsensbereitschaft oder funktionale Zusammenarbeit zwischen den beiden ersten und größten NSDÄB-Gauen, München und Berlin, vermissen ließ. Conti griff Liebl in schar51 So resümierte Martin Borman vierzehn Jahre nach Gründung des NSDÄB; Bormann, Martin: Unser Gerhard Wagner, in: Conti, Leonardo (Hrsg.): Reden und Aufrufe. Gerhard Wagner 1888–1939, Berlin 1943, S. 5–7, hier S. 5. 52 Schreiben von Dr. Wegner. An Sanitätsrat Dr. Liebl. Kirchberg/Sa., den 12. August 1932, in: BArchB, NS 22/440. 53 Ebd. 54 Conti, Leonardo Georgio Ambrogio Giovanni Dr. med., geb. 24. August 1900 in Lugano, gest. 6. Oktober 1945 in Nürnberg; Schmuhl, Hans-Walter: Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, 7), Köln 2008, S. 101–117. 55 Eidesstattliche Erklärung von August Winter. Ingolstadt, 22. März 1948, in: StAM, SpkA K 2869 Liebl, Ludwig.

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fer Weise an und legte dem bis zuletzt von Ingolstadt aus agierenden Gründungsvater in deutlicher Sprache den Rücktritt nahe: „Nötig ist m. E. ein arbeitsfähiger und arbeitswilliger Leiter des Bundes, der am besten in Mchn (sic) selbst wohnen müsste oder durch Reichstagsmandat freibeweglich ist.“ 56 Dieses Schreiben und Contis weitere schroffe Vorgehensweise wurden in höchsten Führer-Kreisen allerdings äußerst negativ aufgenommen.57 Seine späteren parteiinternen Attacken mündeten nicht nur in einer Aufforderung zum Duell mit Dr. Hans Deuschl,58 dem ersten Geschäftsführer unter Ludwig Liebl,59 sondern gingen auch soweit, dass sie Conti ein Verfahren vor dem Obersten Parteigericht einbrachten.60 Dass diese Grabenkämpfe in der Gründungsphase es erschwerten, den NS-Ärztebund auf Reichsebene eine ordnende und flächendeckende Struktur zu geben,61 liegt auf der Hand. Das trifft umso mehr zu, wenn man berücksichtigt, dass die folgenden NSDÄB-Gau-Gründungen mehr von München beziehungsweise Berlin autarke und bisweilen relativ spät erfolgende Gründungsinitiativen waren.62 Lud56 Abschrift. Schreiben von Dr. Conti an Dr. Wagner, Berlin, den 24. Juli 1932, in: BArchB, NS 22/440. 57 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 15. September 1943, in: Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil II: Diktate 1941–1945, Band 9, München 1993, S. 512. 58 Deuschl, Hans Dr. med., geb. 21. Juli 1891 in Marktgrafing, gest. 27. April 1953 in Starnberg; Deuschl studierte von 1911 bis 1914 Medizin in München. Nach seiner Teilnahme am Zweiten Weltkrieg war er 1919 als Medizinalpraktikant an der Heil- und Pflegeanstalt Regensburg tätig. 1920 folgten die ärztliche Approbation und Promotion zum Dr. med. Von 1925 bis 1930 war Deuschl als praktischer Arzt in Gräfing und als Assistenzarzt in München tätig. Nach seinem Eintritt in die NSDAP (1. August 1929) wurde er 1931 SS-Mitglied und Geschäftsführer des NSDÄB. Von Reichsärzteführer Gerhard Wagner zum stellvertretenden Führer des NSDÄB ernannt, übernahm Deuschl 1935 die Leitung der Führerschule der Ärzteschaft in Alt-Rhese (Mecklenburg); Ebbinghaus, Angelika/Roth, Karl Heinz: 545 Kurzbiographien zum Ärzteprozeß, in: Dörner, Klaus/Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hrsg.): Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47, Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld. Im Auftrag der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Erschließungsband zur Microfiche-Edition, München 2000, S. 71–158, hier S. 88. 59 Schreiben von SS-Standartenführer i. S. Dr. L. Conti an die Rechtsabteilung Ost, Reichsabteilung. Berlin, den 10. Oktober 1934, in: BArchB, OPG, C 0027 (Conti, Leonardo). 60 VAbschrift. Schreiben von Dr. Scholten (Vorsitzender des Disziplinargerichtshofs des NSDÄB an Staatsrat Dr. Conti. München, den 4. Oktober 1934, in: BArchB, OPG, C 0027 (Conti, Leonardo). 61 Der stellvertretende Leiter des NSDÄB, Dr. Kurt Blome, räumte 1941 ein, dass die Mitgliederzahl im Dezember 1931 noch sehr gering war. Mancher Gau hatte noch keinen Gauobmann zur Verfügung. Und in einigen Landesteilen (zum Beispiel Gau Mecklenburg-Lübeck) trat der NSDÄB überhaupt noch nicht in Erscheinung; Blome, Kurt: Arzt im Kampf. Erlebnisse und Gedanken, Leipzig 1942, S. 249 f. 62 Die Phase der Gründung zog sich in den ersten Monaten sehr schleppend hin, auch wenn die NS-Presse vereinzelt von überraschenden Steigerungen der NSDÄB-Mitgliederzahlen berichtete, die sich tatsächlich aber erst gegen Mitte des Jahres 1931 eingestellt haben dürften. So hielt der NSDÄB die erste einberufene Mitgliederversammlung unter Anwesenheit von Prinz August Wilhelm erst am 7. Dezember 1930 in Nürn-

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wig Liebl hatte offensichtlich den finanziellen, personellen und organisatorischen Aufwand, den man benötigte, um den NS-Ärztebund reichsweit auf ein festes Fundament zu stellen, gewaltig unterschätzt. Zunächst aber löste 1932 der ehemalige Frontsoldat des 1. Weltkriegs, Gerhard Wagner,63 den Gründervater ab, der bei Hitlers Ernennung zum Reichskanzler nur noch die kleine NSDÄB-Ortsgruppe Ingolstadt leitete. Was seine Rolle im Reichsbund betraf, so stilisierte man Dr. Liebl in den folgenden Jahren bei bestimmten Parteijubiläen zu einem Heroen aus der Gründerphase des Ärztebundes. Er selbst lehnte jegliche aktive Mitarbeit im Führungsstab ab und begnügte sich bis zu seinem Tod im Jahr 1940, dem NSDÄB nur noch bei wichtigen Veranstaltungen als altgedientes und honoriges „Dekorationsstück“ zur Verfügung zu stehen.64 Angeblich soll sich Liebl in den 1930er-Jahren aus Enttäuschung über gewalttätige Begleiterscheinungen im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ immer mehr aus dem politischen Leben zurückgezogen haben. Seitdem hätte er gewisse Parteiinstanzen nur noch als „Bolschewisten im braunen Gewand“ betrachtet.65 Sogar die Verantwortung an seinem parteiorienberg ab. Dabei sollen noch nicht mehr als 80 Personen anwesend gewesen sein; vgl. Lagebericht vom 18. Dezember 1930 in: BArchB, R1501/126101. Eine sehr frühe Formatierung des NSDÄB, die allerdings bis 1931 nicht sonderlich in Erscheinung trat, wurde am 15. November 1929 in Köln gegründet; vgl. Abschrift. Der Oberpräsident der Rheinprovinz. Betrifft: National-sozialistischer Deutscher Ärztebund der N.S.D.A.P. Berichterstatter: Regierungsassessor Dr. Gotthardt. Koblenz, den 8. April 1931, in: BArchB, R1501/126101. Eine als „Arbeitsgemeinschaft“ der nationalsozialistischen Ärzte bezeichnete Gruppe des NSDÄB gründete der spätere Obmann des Gaues GroßBerlin, Dr. Leonardo Conti, am 10. Dezember 1930 in der Reichshauptstadt; vgl. Abschrift. Der Polizeipräsident. Berlin, den 13. April 1931, in: BArchB, R1501/126101. Und der Gau Westfalen-Nord des NSDÄB wurde erst im Jahr 1932 gegründet; Anonymus: Aktuelle Rundschau. Abschied von Gauamtsleiter Dr. Vonnegut, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 8, 1941, S. 282–283, hier S. 282. 63 Wagner, Gerhard Dr. med., geb. 18. August 1888 in Neu-Heiduk (Oberschlesien), gest. 25. März 1939 in München, seit 1912 in München, ab August 1914 Kriegsfreiwilliger im 18. Königlich-Bayerischen Infanterieregiment Prinz Ludwig-Ferdinand, bis zu seinem Ausscheiden im Dezember 1918 Feldhilfsarzt, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse (EK I), Approbation am 7. Juli 1919, nach der Teilnahme an den Kämpfen in Oberschlesien war Wagner bis 1924 Leiter der Deutschtumsverbände in Oberschlesien, am 17. Mai 1929 Eintritt in die NSDAP (Mitglieds-Nr.: 129008), er gehörte dem „Zentralkomitee zur Abwehr jüdischer Greuel- und Boykotthetze“ an, Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens der Partei (9. November 1936), als „Reichsärzteführer“ (seit 1934) war der ehemalige Hausarzt von Rudolf Hess gleichzeitig Beauftragter der NSDAP für Hochschulfragen, 1937 Beförderung zum SA-Obergruppenführer, seit der 9. Wahlperiode 1933 Mitglied des Reichstags; vgl. BArchB, PK, S 105, BArchB, 31XX, T 0019 (Dr. Gerhard Wagner). Und: vgl. Anonymus, Reichsärzteführer Dr. Wagner am 18. August fünfzig Jahre alt, in: Völkischer Beobachter, 18. August 1938. Und: Kienast, Ernst (Hrsg.): Der Deutsche Reichstag 1936, Berlin 1936, S. 343. 64 Eidesstattliche Erklärung von Dr. Josef Listl (Oberbürgermeister der Stadt Ingolstadt a. D.). Ingolstadt, 30. März 1948, in: StAM, SpkA K 2869 Liebl, Ludwig. 65 Zitat aus dem posthum gegen Dr. Ludwig Liebl durchgeführten Spruchkammerverfahren, in: StAM, SpkA K 2869 Liebl, Ludwig.

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tierten „Donaubote“ ging partiell in die Hände seiner Tochter Elin Reißmüller (geb. Liebl) und seines Schwiegersohnes Dr. Wilhelm Reißmüller über.66 III. Die Gleichschaltungsphase, die Phase des Dualismus (1932–1939) unter der „Führerpersönlichkeit“67 Dr. med. Gerhard Wagner In der völkischen Bewegung war Dr. med. Gerhard Wagner (NSDAP-Mitgliedsnummer: 129008)68 kein unbeschriebenes Blatt. Er stellte den typischen nationalsozialistischen „alten Kämpfer“ dar, der jederzeit für seine Überzeugung mit der Waffe in der Hand eintrat. Sein kämpferisches Gepräge rührte nicht nur aus der Teilnahme am Weltkrieg her. Als seine Heimat Oberschlesien nach dem verloren gegangenen Krieg von Deutschland getrennt werden sollte, meldete sich Wagner umgehend zum Freikorps Epp. Wenig später kam er zum Stab des Freikorps Oberland und nahm 1921 an der Erstürmung des Annaberges teil. Wieder zurückgekehrt nach München und mit den politischen Verhältnissen unzufrieden trat er im Mai 1929 in die NSDAP ein. Bereits auf der Gründungsveranstaltung des Ärztebundes im gleichen Jahr wurde er in der Funktion eines dritten Vorsitzenden zum Schatzmeister ernannt. Mit zwei wesentlichen Schachzügen hatte sich Wagner, „diese geborene Führerpersönlichkeit“,69 die Grundlage geschaffen, um innerhalb aller Gaue des NSDÄB möglichst reibungslos arbeiten zu können: Abschaffung jeglicher parlamentarisch-demokratischer Grundsätze bei gleichzeitiger Einführung des FührerAbsolutismus. Beide Axiome waren für Wagner in der Folgezeit sowohl innerhalb alter als auch neugeschaffener Institutionen im Gesundheitswesens richtungsweisend.70 Die Vorgehensweise entsprach auch ganz Wagners Naturell, der sich von so etwas Überkommenem wie den Vereinsstatuten des Hartmannbundes auf gar keinen Fall in Schranken weisen lassen wollte. Und was die Übernahme der Leitung des NSDÄB durch Wagner betraf, meinte schon Bormann, dies sei

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StAM, SpkA K 2879 Reissmüller, Elin. Nachruf von Dr. Carl Haedenkamp, in: DÄ Sonderausgabe, Nr. 14, 1939. 68 Zu folgendem biographischem Abriss: BArchB, Ortskartei, T 0019 (Wagner, Dr. Gerhard). Und: Anonymus: Der Mann und sein Werk, in ZIEL UND WEG, Nr. 16, 1938, S. 420–421, hier S. 420. Und: BArchB, PK, S 105. 69 Nachruf von Dr. Carl Haedenkamp (wie Anm. 67). 70 Im Sinn einer einheitlichen „Gleichschaltung“ und reibungslosen Durchführung der „autoritären Umgestaltung“ der ärztlichen Organisationen setzte Wagner im Frühjahr 1933 seine Vertrauensmänner (in aller Regel Funktionsträger des NSDÄB) als „Beauftragte“ für die verschiedenen Landesverbände der ärztlichen Spitzenverbände ein. Diese waren ihm persönlich verantwortlich und weisungsgebunden. Wagners Vorgehensweise war durch die Statuten der ärztlichen Standesvereine natürlich nicht legitimiert; Wagner, Gerhard: Verfügungen des Kommissars der ärztlichen Spitzenverbände Dr. Wagner, in: ÄM, Nr. 18, 1933, S. 395–396, hier S. 395. 67

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eine reine Formalität gewesen. Denn dieser sei von Anfang an der „einhellig anerkannte Führer“ der nationalsozialistischen Ärzteschaft gewesen.71 Er hätte sich nicht nur durch Autorität, sondern auch durch sein besonderes Organisationstalent ausgezeichnet. Signifikant dafür war, wie er sich 1934 innerhalb des NSDÄB den unumschränkten Führungsanspruch erwarb. Hierzu ließ Wagner durch seinen Stellvertreter Dr. Hans Deuschl im Kampfblatt ZIEL UND WEG zur satzungsgemäßen Mitgliederversammlung am 5. März 1934 nach München einladen. Als einziger Punkt stand die Änderung der NSDÄB-Satzung auf der Tagesordnung. Entgegen bisheriger Gepflogenheiten, die Mitglieder auf Tagungen möglichst zahlreich zu versammeln, wollte Wagner eine echte Vollversammlung vermeiden und es wurde auf den „nur formellen Charakter“ der Veranstaltung hingewiesen: es sei „zwecklos, daß Mitglieder des N.S.D.-Aerztebundes nur wegen dieser Versammlung hierher kommen und sich dadurch unnötige Kosten verursachen.“ 72 Zweck der Satzungsänderung war, jegliche Reste demokratischer Züge wie Beschlussfassungen oder Mehrheitsentscheidungen in der alten Satzung zu eliminieren und stattdessen das Führerprinzip zu verankern, so dass Wagner personaliter die Macht beanspruchen konnte. Dementsprechend wurde die alte Satzung um drei Paragraphen verkürzt,73 wobei dem Leiter des NSDÄB allumfassende Befugnisse eingeräumt wurden.74 Des Weiteren schuf sich Gerhard Wagner innerhalb des Ärztebundes eine Art Pressemonopol, indem er ZIEL UND WEG zur einzig vom Ärztebund abgesegneten Hauspostille ausrief. Damit konnte er dem Problem der Zersplitterung in den Gauen des NSDÄB offensiv gegenübertreten. Informationen, Schulungen und nicht zuletzt organisatorische Abläufe sollten ab diesem Zeitpunkt nur noch nach seinen persönlichen Richtlinien erfolgen. Zu diesem Zweck war es ab 1934 untersagt, neben ZIEL UND WEG neue NSDÄB-Zeitschriften zu gründen. „Im Interesse der Stoßkraft“ ordnete Wagner an, dass alle zur Verfügung stehenden

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Bormann: Unser Gerhard Wagner (wie Anm. 51), S. 5. Deuschl, Hans: Einladung zur satzungsmäßigen Mitgliederversammlung des nationalsozialistischen Deutschen Aerztebundes e.V., in: ZIEL UND WEG (1934), Nr. 5, S. 153. 73 Satzung des NSDÄB e.V. in der Fassung von September 1932, in: BArchB, NS 22/440. 74 In der neuen Fassung von 1934 existierte der NSDÄB laut § 1 nicht mehr als eingetragener Verein (e.V.), sondern wurde als eine Gliederung der politischen Organisation der NSDAP geführt. Viel wesentlicher jedoch war, dass die Organe VORSTANDSCHAFT und MITGLIEDERVERSAMMLUNG ihre Bedeutung verloren. An deren Stelle hieß es im neuen § 8: „Der Leiter des Bundes ist der vom Führer der N.S.D.A.P. ernannte Amtsleiter . . . Er vertritt den Bund . . . Er ist der Vorstand . . . „Darüber hinaus waren nun Stellungnahmen in grundsätzlichen Fragen und alle programmatischen Erklärungen dem Leiter des NSDÄB vorbehalten (§ 9). Ebenso stand es im Ermessen des Leiters, Mitgliederversammlungen einzuberufen (§ 10), ohne jedoch an sie gebunden zu sein, und Satzungsänderungen zu verfügen (§ 11); Anonymus: Nationalsozialistischer Deutscher Aerztebund Satzung, in: ZIEL UND WEG, Nr. 6, 1934, S. 189–192. 72

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Kräfte für die alleinige Verbreitung von ZIEL UND WEG eingesetzt werden mussten.75 Anders als Ludwig Liebl scheint Wagner in dem Berufsbild des praktizierenden Arztes keine vollständige Befriedigung gefunden zu haben. Der fast vierzehn Jahre jüngere Wagner fühlte sich generell mehr zum politischen Leben hingezogen. Schon sehr früh stieß er zu Martin Bormann als dieser in das Korps der Politischen Leiter übernommen wurde und erwies sich bereits 1931 als rigoroser Umsetzer für die Interessen der Münchner Parteileitung.76 Zwei Jahre später konnte er sich in der Stunde der „Nationalen Revolution“ damit bewähren, dass er die staatliche Medizinalverwaltung, die Standesverbände und die Ärztekammern des Deutschen Reiches unter die Obhut der NSDAP brachte. Wagners „Verdienst“ war es, dass er mit propagandistischer Schubkraft des NSDÄB in wenigen Monaten die gesamte deutsche Ärzteschaft gleichschaltete. Als Beginn des Gleichschaltungsprozesses wählte sich Wagner taktisch klug den Abend des 21. März 1933 aus, den „Tag von Potsdam“. In einer Versammlung „Deutscher Ärzte“ in München forderte Wagner den sofortigen Rücktritt aller Juden in den Vorständen der ärztlichen Organisationen.77 Dem folgte Wagners Reise nach Nürnberg, um mit dem Vorsitzenden des Hartmannbundes, Geheimrat Dr. Alfons Stauder, bezüglich der Gleichschaltung zu verhandeln. Von freiwilligen Verhandlungen zwischen dem Führer des NS-Ärztebundes und dem Vorsitzenden des Hartmannbundes konnte in Wahrheit natürlich keine Rede sein, so dass Alfons Stauder unter den veränderten politischen Umständen damals gar keine andere Möglichkeit sah, als seine Posten an den neuen Kommissar Wagner auf diesem pseudo-gesetzlichen Weg zu übertragen. „. . . wo es nötig war, half ein

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Wagner: Anordnung (wie Anm. 43), S. 37. „Dank der Tätigkeit Wagners“, lobte Martin Bormann den späteren Reichsärzteführer, konnten Betrüger unter den SA-Männern entlarvt werden und der ungerechtfertigten Inanspruchnahme der NSDAP-Hilfskasse ein Riegel vorgeschoben werden; Lang, Jochen von: Der Sekretär. Martin Bormann: Der Mann, der Hitler beherrschte, Herrsching 1990, S. 61. 77 In einer öffentlichen Kundgebung hielt Gerhard Wagner eine programmatische Rede und gab den Funktionären der ärztlichen Spitzenverbände zu verstehen, dass man seitens des NSDÄB auch vor Anwendung von Gewaltmaßnahmen nicht zurückschrecken werde: „. . . wir machen keinen Hehl daraus, daß wir, falls die ärztlichen Spitzenverbände und Organisationen sich gegen uns stellen sollten, uns nicht scheuen werden, andere uns zur Verfügung stehenden Druck- und, wenn es sein sollte, Zwangsmittel anzuwenden.“ (Die deutschen Aerzte stellen sich hinter die Regierung des Volkskanzlers. Beseitigung der jüdischen Vertrauens- und Versorgungsärzte, in: BArchB, R1501/ 126101). Kurz darauf ordnete Wagner an, „im Sinne der Forderung der deutschen Aerzteschaft beschleunigt dafür Sorge zu tragen, daß aus Vorständen und Ausschüssen die jüdischen Mitglieder ausscheiden und . . . ersetzt werden.“ Wagner, Gerhard/Stauder, Alfons: Die Säuberungsaktion innerhalb der deutschen Aerzteschaft. An die Mitglieder des Hartmannbundes und des Deutschen Aerztevereinbundes, in: Völkischer Beobachter, Beiblatt, 27. März 1933. 76

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freundschaftlicher Druck unseres N.S.D.Ä.B. zweckentsprechend nach,“ schrieb man sarkastisch in ZIEL UND WEG wenig später.78 Und Gerhard Wagners militante Töne ließen keine Zweifel aufkommen, dass für ihn nur „die Gesetze der nationalen Revolution“ galten.79 Damit war es innerhalb weniger Tage zu einer bedingungslosen Kapitulation der Ärzteschaft unter Wagners Führung gekommen.80 Bei alledem muss betont werden, dass während dieses Gleichschaltungsprozesses die scheinbare Schlüsselstellung des NSDÄB lediglich auf die Person ihres Vorsitzenden überging. Dieser übernahm seit Frühjahr 1933 in Personalunion ein führendes Amt nach dem anderen. Es war die Phase der Institutionalisierung der Reichskommissare zur Erfüllung von Sonderaufgaben, die im Wesentlichen darin bestanden, die vollständige Personalhoheit im Staat zu erlangen. Diese Funktion als Kommissar mit besonderem Auftrag gestattete es Wagner, in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität zu operieren. Wie der Titel „Kommissar“ zum Ausdruck brachte, repräsentierte Wagner damit eine Person, die mit dem besonderen Vertrauen Adolf Hitlers ausgestattet war und damit über „Führer“-Vollmachten verfügte. So wurde Gerhard Wagner bereits am 24. März 1933 Kommissar der ärztlichen Spitzenverbände,81 des Deutschen Ärztevereinbundes und des Hartmannbundes. Bis zur Neuordnung der ärztlichen Organisationen richtete Wagner als beratende Körperschaft einen „Führerrat“ ein, dem u. a. Dr. Hans Deuschl (vormals Ludwig Liebls Stellvertreter als NSDÄB-Vorsitzender) als Wagners Stellvertreter angehörte.82 Alfons Stauder, der einstweilen die Geschäfte der ärztlichen Spitzenverbände pro forma als Vorsitzender weitergeführt hatte, legte im Sommer 1933, nach „wiederholter kollegialer Aussprache“ mit Gerhard Wagner, sein Amt nieder; als Grund führte Stauder das „Duumvirat“ aus Kommissar und Vorsitzendem an, das im Interesse der Neuordnung des ärzt-

78 Anonymus: Das Erwachen in der Aerzteschaft, in: ZIEL UND WEG, Nr.3/4, 1933, S. 36. 79 Wagner, Gerhard: [o. Ü.], in: ÄM, Nr. 25, 1933, S. 511. 80 Am 2. April 1933 fand in Leipzig eine Sitzung der ärztlichen Spitzenverbände statt, an der die meisten NSDÄB-Gauobleute teilnahmen. Die Sitzung war von Geheimrat Dr. Alfons Stauder einberufen worden, um das „Abkommen“ zwischen den Spitzenverbänden und dem NSDÄB, das heißt die Übernahme der Führung durch Gerhard Wagner, durch eine Pseudo-Abstimmung zu legalisieren. Die Sitzung war deswegen so bedeutungsvoll, weil letztmals innerhalb der Spitzenverbände, wenigstens dem Schein nach, durch Abstimmung und Majorität entschieden wurde. Dem folgte am 5. April 1933 eine Zusammenkunft aus Vertretern der ärztlichen Spitzenverbände mit Adolf Hitler im Beisein des Kommissars Gerhard Wagner, um dem vorangegangenen Prozedere nachträglich einen offiziellen Anstrich zu geben; Anonymus: Vom neuen Aufbau, in: ZIEL UND WEG, Nr. 5, 1933, S. 78–79, hier S. 78. 81 Wagners Bestellung wurde staatlicherseits erst nachträglich legalisiert durch ein Schreiben vom 29. April 1933 von Staatssekretär Hans Pfundtner (Reichsinnenministerium); Pfundtner, Hans: [o. Ü.], in: ÄM, Nr. 19, 1933, S. 415. 82 Wagner, Gerhard: Verfügung, in: ÄM, Nr. 19, 1933, S. 416.

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lichen Standes beseitigt werden müsse, um einer „einheitlichen autoritären Führung“ den Weg zu ebnen.83 Stauders Rücktritt folgten wenig später Wagners Leitung des neugeschaffenen Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP (ebenfalls 1933), Wagners Ernennung zum „Reichsärzteführer“ (1934), außerdem wurde er Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands und Leiter der Reichsärztekammer (1935). Als ihn Adolf Hitler Anfang 1936 zum Hauptdienstleiter im Stab des Führer-Stellvertreters ernannte, war der Mediziner auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Auch nach Schaffung des Hauptamtes für Volksgesundheit erhöhte sich die Mitgliederzahl des NSDÄB. Das dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass viele politische „Konjunkturritter“ auf den NSDÄB-Zug aufspringen wollten. Die Berliner Ortsgruppe hielt es zum Beispiel nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten für erforderlich, eigens einen vorläufigen Aufnahme-Stop auszurufen.84 Das heißt, unter Wagners Führung stieg die Anzahl der Mitglieder von knapp 3.000 auf bis zu 30.000 Mitglieder zwar voluminös an,85 aber in der Praxis lief der NSDÄB ab 1934 nur noch nebenher. Mit Wagners plötzlichem Krebstod im Jahr 1939 übernahm Leonardo Conti, der aus dem mitgliederstarken Berliner Verband kam, die Führung des Ärztebundes. In Anspielung auf die Zeit unter Gerhard Wagner versuchte Leonardo Conti die Bedeutung der Kampforganisation nochmals hervorzuheben und wies auf die Vorreiterrolle des NSDÄB und Wagners Weichenstellung im Gesundheitssystem hin: „Aus ihm entwickelte sich das Hauptamt für Volksgesundheit als Führungsamt, aus diesem gingen das Amt Gesundheit und Volksschutz der Deutschen Arbeitsfront, das Amt Gesundheit der NS.-Volkswohlfahrt und das Amt Gesundheit der Hitler-Jugend hervor, heute wichtigste Durchführungseinrichtungen für die Volksgesundheit.“ 86 Die Worte stammten aus einer Zeit als der Ärztebund schon kurz vor seiner Auflösung87 stand und Conti praktisch über keinerlei Hausmacht im Gesundheitswesen mehr verfügte. Die Zahl der NSDÄB-Mitglieder unter Contis Führung stieg zwar von über 30.000 nochmals bis auf rund 46.000 im

83 Stauder, Alfons: An die Mitglieder des Deutschen Ärztevereinsbundes und des Verbandes der Ärzte Deutschlands (Hartmannbund), in: ÄM, Nr. 24, 1933, S. 498–499, hier S. 499. 84 Anonymus: Wochenschau, in: ÄM, Nr. 19, 1933, S. 420–422, hier S. 420. 85 Stand am 30. Januar 1933: 2.786 ordentliche Mitglieder und 344 Anwärter; Anonymus: Der Mann und sein Werk (wie Anm. 68), S. 420. 86 Conti, Leonardo: Nationalsozialismus und Volksgesundheit. Zum 30. Januar 1943, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 2, 1943, S. 29–31, hier S. 30. 87 Abschrift. Anordnung A 13/43. Der Leiter der Partei-Kanzlei. Führerhauptquartier, den 27. Februar 1943, gez. M. Bormann, in: BArchB, NS 53/3.

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Jahr 1942 an,88 sie stand damit dennoch im Widerspruch zur Passivität des Ärztebundes. Warum konnte es aber überhaupt soweit kommen, dass der Ärztebund nur noch für gelegentliche Fachvorträge herhalten sollte? Lag es an der Frage, wozu es überhaupt noch eines NS-Ärztebundes bedurfte, nachdem alle Ärzteverbände gleichgeschaltet worden waren? Warum verlor der NSDÄB ab 1934 derart an Bedeutung? Die Gründe dafür sind vielfältig und gehen partiell auf Ludwig Liebls Versäumnisse in der Frühphase zurück. Der NS-Ärztebund wurde allerdings nicht nur ein Opfer von Liebls organisatorischer „Laissez-Faire-Haltung“. Gerade mit steigender Mitgliederzahl wäre eine große Anzahl von hauptberuflich tätigen Funktionärs-Ärzten erforderlich gewesen. Dazu hätte allerdings eine ganze Reihe der ersten Gauobmänner ihren bisherigen praktischen ärztlichen Beruf aufgeben müssen. Die wenigsten dieser Ärzte wollten dies beziehungsweise sie konnten mit ihrer Praxis eine ausgedehnte politische Tätigkeit kaum vereinigen, wenn sie nicht eine erhebliche Einschränkung ihrer Patientenzahl in Kauf nahmen. Dieses aus der Gründerphase übernommene und auch von Liebls Nachfolgern nie aufgelöste Problem stellte ein kaum zu unterschätzendes Hindernis für eine größere Machtposition des NSDÄB dar. Abgesehen davon, dass Liebl den Ärztebund noch 1931 mehr als „Fachberater“, wie er es nannte, der NSDAP angesehen hatte und keine offizielle Kampfstellung gegen die etablierten Standesorganisationen einnehmen wollte. Vielmehr forderte er von den Mitgliedern – im Zuge einer Art Unterwanderung – sich aktiv in den Standesorganisationen zu betätigen.89 Sicherlich war der Ärztebund niemals eine Vereinigung von typisch standesorganisatorischer Prägung. Doch allein die Beschränkung auf die Berufsgruppe der Mediziner war bereits eine derart nachteilige Einengung, dass eine spätere exponierte Stellung als großer Aufgabenträger oder Ordnungsfaktor im zersplitterten deutschen Gesundheitswesen unrealisierbar erschien. So lässt es sich erklären, dass der Ärztebund ein leichtes Opfer der nach 1933 folgenden Flut von NSInstitutionen werden konnte, die ihrerseits zudem mit dem Prädikat des „Amts“Charakters aufwarten konnten. Die NSDAP baute unter Wagners Führung vor allem mit dem gesundheitspolitisch wesentlich breiter ausgelegten Amt für Volksgesundheit, aus dem das RASSENPOLITISCHE AMT und das AMT FÜR SIPPENPFLEGE hervorgingen, eine Institution auf, die eine „Synthese“ in der staatlichen Gesundheitsführung bewirken sollte.90 Damit wurde der Ärztebund 88 Rüther, Martin: Ärztliches Standeswesen im Nationalsozialismus 1933–1945, in: Jütte, Robert (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 143–193, hier S. 165. 89 Liebl: Nationalsozialistischer Deutscher Ärzte-Bund und ärztliche Standesorganisation (wie Anm. 10), S. 6. 90 Conti, Leonardo, Zehn Jahre Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 6, 1944, S. 109–112, hier S. 112.

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jedoch gleichzeitig sehr schnell in den Hintergrund gedrängt. Wagner machte keinerlei Vorstöße, um dem NSDÄB zum Beispiel gegenüber dem Amt für Volksgesundheit gewisse Vorteile zu verschaffen, geschweige denn den Ärztebund zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz aufzubauen. Das Gegenteil war der Fall. Nachdem der NSDÄB mit dem Hauptamt für Volksgesundheit bereits in Personalunion verschmolzen wurde, mutierte er satzungsgemäß zu einer „vom Amt für Volksgesundheit . . . betreute[n] Organisation.“ 91 In volksgesundheitlichen Fragen war – abgesehen von gewissen Bereichen des truppenärztlichen Dienstes – seit 1935 das Hauptamt für Volksgesundheit „die allein zuständige Stelle“.92 Die Konsequenz dieser eindeutigen Formulierung war, dass der Ärztebund zu einer fachlich nachgeordneten Dienststelle gewissermaßen degradiert worden war. Denn jegliche Weisungen des Hauptamtes galten somit als verbindlich. Der NSDÄB hatte folglich sowohl in personeller als auch in fachlich kontrollierender Hinsicht den Primat verloren. Nach den ersten Kriegsmonaten war das Hauptamt für Volksgesundheit ganz offiziell zuständig geworden für die einheitliche Gesundheitsführung und Gesundheitserziehung, um „jeder Zersplitterung vorzubeugen“ und alle vorhandenen Kräfte im Gesundheitswesen zu bündeln.93 Gegen Ende des Krieges war nur noch von der Funktion eines „Vorläufers“ des Hauptamtes für Volksgesundheit die Rede.94 Während Wagner den zwischen den heterogenen Gauen oftmals uneinigen und auf Reichsebene lange Zeit desorganisierten NSDÄB kaum eine Förderung zukommen ließ, nahm die Personalstärke in der Ministerialbürokratie stetig zu. Wirft man einen Blick auf die Gesundheitsabteilung im Reichsinnenministerium, so zählte diese nach 1933 zu den am stärksten expandierenden Teilen der inneren Verwaltung. Ihre Personalstärke wuchs seit Oktober 1933 von sieben Beamten im Ministerialdienst auf 26 im April 1939.95 Einige Monate vor seinem Tod zog Gerhard Wagner Bilanz seiner bisherigen Amtszeit als Reichsärzteführer. Das „nationale Versagen der deutschen Hochschulen“, an denen man die „geistigen Führer“ der deutschen Medizin ausbilden 91 Im Einvernehmen mit der Parteireichsleitung wurde der NSDÄB am 16. Januar 1935 wieder in das Vereinsregister eingetragen und Satzungsänderungen verfügt; Wagner, Gerhard: Bekanntmachungen, in: ZIEL UND WEG, Nr. 2, 1935, S. 52–54, hier S. 52. Und: § 2 (Zweck), in: Satzung des NSD-Aerztebundes e.V. vom 14. Januar 1935, in: ZIEL UND WEG, Nr. 14, 1935, S. 293–295, hier S. 293. 92 Ley, Robert: Organisationsbuch der NSDAP. Herausgegeben von der Reichsorganisationsleitung der NSDAP, München 1938, S. 234. 93 Laut Anordnung des Führerstellvertreters vom 1. Mai 1940; Anonymus: Aufsichtsrechte und -pflichten des Hauptamtes für Volksgesundheit, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 6, 1940, S. 232. 94 Conti: Zehn Jahre Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP (wie Anm. 90), S. 110. 95 Zusammenstellung der Kopfstärke der Gesundheitsabteilung vom 20. Oktober 1933–April 1939, in: BArchB, R 18/5583, Bl. 149–155.

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müsse,96 würde nun der Vergangenheit angehören. Aber nicht nur die deutsche medizinische Wissenschaft sei endgültig vom jüdischen Geist befreit worden, sondern auch der gesamte ärztliche Berufsstand.97 Der Entzug der Approbation für jüdische Ärzte sei deshalb die wichtigste Maßnahme des vergangenen Jahres gewesen. Doch er warnte davor, nachlässig zu werden. Die „Nürnberger Blutschutzgesetze“ von 1935 seien zwar eine „weltgeschichtliche Tat“,98 allerdings habe sich bei der Anwendung dieser „Gesetze“ gezeigt, dass hier jede Milde gegenüber dem „jüdischen Feinde“ fehl am Platz sei und Gefängnisstrafen nicht ausreichten: „Das Blutschutzgesetz ist vorhanden. Seine rücksichtslose Anwendung, seine unerbitterliche Handhabung . . . ist die Forderung, die die Partei zum Schutze des deutschen Volkes erheben muß.“ 99 Besonders bei der „Lösung der Judenfrage“ 100 wollte Wagner jeglichen Kompromiss kategorisch ausschließen, weil er beim „Kampf mit dem Juden“ nur auf „Sieg oder Niederlage“ setzte: „. . . wir werden siegen! Nicht mit Gesetzen und Verordnungen, denn damit ist der Jude noch nie auf die Knie gezwungen worden . . .“, wie er auf dem Reichsparteitag verkündet hatte.101 Es ist bekannt, dass manche Personalentscheidung nicht selten aufgrund eigenmächtigem Betreiben von Parteistellen eine Entwicklung annahm, die mit Hitlers eigenen Absichten ursprünglich nicht in Einklang stand.102 In solchen Fällen soll der nach außen hin omnipotent wirkende Führer mehr der Getriebene als die trei96 Stark, Johannes: Die Verjudung der deutschen Hochschulen, in: Nationalsozialistische Monatshefte, Nr. 8, 1930, S. 360–370, hier S. 362. 97 Gerhard Wagner, zitiert in: Hannemann, Karl: Die Rassenlehre ist die Grundlage unserer völkischen Weltanschauung. Zur der Rede des Reichsärzteführers Dr. Wagner auf dem Reichsparteitag in Nürnberg 1938, in: BArchB, PK, S 105. 98 Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ untersagte jüdischen Familien, weibliche Angestellte „deutschen oder artverwandten Blutes“ unter 45 Jahren in ihrem Haus zu beschäftigen. Das bedeutete, dass jüdische Ärzte langjährige Angestellte entlassen mussten, ohne dass sie dafür einen adäquaten Ersatz fanden; § 3 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Vom 15. September 1935, S. 1146/1147, in: RGBl., Teil I, 1935, Nr. 100, S. 1147. 99 Gerhard Wagner, zitiert in: Hannemann, Karl, Die Rassenlehre ist die Grundlage unserer völkischen Weltanschauung. Zur Rede des Reichsärzteführers Dr. Wagner auf dem Reichsparteitag in Nürnberg 1938, in: BArchB, PK, S 105. 100 Der in ZIEL UND WEG häufig konstruierte Gegensatz zwischen hehrem deutschen Wesen und jüdischem Charakter sollte beweisen, dass hinter allen zerstörerischen „Modernismen“ ein Jude als Person steckte: „Allgemein ist heute der Jude als menschlicher Parasit erkannt worden. [. . .] Wir müssen daher . . . die Gesetze mit fortschreitender Gesundung unter schmiegsamer Anpassung an die jeweiligen Machtverhältnisse dauernd verschärfen.“; Böttcher, Alfred: Die Lösung der Judenfrage, in: ZIEL UND WEG, 1935, Nr. 11, S. 225–227. 101 Wagner, Gerhard: Die Ziele der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik. Rede auf dem Reichsparteitag 1937, in: Conti: Reden und Aufrufe (wie Anm. 51), S. 218– 235, hier S. 222. 102 Hossbach, Friedrich: Zwischen Wehrmacht und Hitler. 1934–1938, Hannover 1949, S. 35.

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bende Kraft gewesen sein. So lässt es sich erklären, dass sich Hitler nach Wagners überraschendem Tod im Jahr 1939 notgedrungen auf Leonardo Conti als Nachfolger festlegte. In diesem Fall scheint die Sukzessions-Regelung durch Druck aus dem Berliner Gau zustande gekommen zu sein. Dort stand die Berliner Ärzteschaft geschlossen hinter ihm und in Berlin hatte er sich den Ruf erworben, Preußens Gesundheitswesen von Juden und Marxisten gesäubert zu haben.103 Obgleich Conti grundsätzlich dazu neigte, sich sprichwörtlich „zwischen alle Stühle“ zu setzen und „menschlich“ dabei einen unsympathischen Eindruck hinterließ,104 ernannte Hitler ihn zum Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit und somit auch zum Leiter des NSDÄB. Das Wort des Führers dürfte ausschlaggebend gewesen sein, dass Wagners Stellvertreter Dr. Hans Deuschl anlässlich Contis Amtseinführung am 22. April 1939 mit deutlichen Worten signalisierte, alte Differenzen über Bord werfen zu wollen, um absolute Loyalität zu demonstrieren: „Hier stehe ich . . . und gebe Ihnen die feierliche Versicherung ab, daß wir . . . unbeschadet früherer Meinungsverschiedenheiten . . . Ihnen als dem Manne, der auf Befehl des Führers das Kommando über die deutsche Ärzteschaft übernimmt, treue Gefolgsmänner sein werden.“ 105 Tatsächlich traten die alten Differenzen weitgehend in den Hintergrund. Es sollte sich jedoch für Leonardo Conti in der Folgezeit ganz neues Konfliktpotential anbahnen. IV. Die Auflösungsphase (1939–1943) unter dem „Landarzt“ 106 Dr. med. Leonardo Conti Dr. med. Leonardo Georgio Ambrogio Giovanni Conti war als Sohn eines Schweizer Beamten und einer deutschen Mutter am 24. August 1900 in Lugano (Schweiz) geboren. 1903 ließen sich seine Eltern scheiden und Conti ging mit seiner Mutter nach Berlin. Nach seiner Einbürgerung 1915 und dem Notabitur 1918 wurde Conti noch militärisch ausgebildet, ohne jedoch an der Front eingesetzt zu werden. Vor Aufnahme seines Medizinstudiums war Conti in der Novemberrevolution einer antirevolutionären Schützendivision beigetreten und beteiligte sich an der Niederschlagung des „Spartakusaufstandes“ in Berlin. Auch während seines Studiums engagierte sich Conti in verschiedenen antirepublikanischen Organisationen. Er war bereits im November 1918 Mitbegründer des antisemitischen „Deutscher Volksbund“ (später: „Deutschvölkischer Schutz- und 103 Grote, Heinrich: Zur Berufung Dr. Contis zum Reichsgesundheitsführer, in: DÄ, Nr. 18, 1939, S. 322. 104 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 20. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/9, S. 317. 105 Deuschl, Hans, zitiert in: Anonymus: Lebenslauf und Amtseinführung, in: DÄ, Nr. 18, 1939, S. 324–325, hier S. 325. 106 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 10. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/9, S. 259.

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Trutzbund“), gehörte 1921 bis 1923 dem „Wikingbund“ an und nahm als technischer Nothelfer am Kapp-Putsch teil. Sein jugendlicher Aktivismus, gepaart mit antirepublikanischer Gesinnung, führte Conti auch parteipolitisch sehr früh in das äußerste rechte Spektrum. Bereits 1919 war er der DNVP beigetreten, die er aber schon 1922 wieder verließ, weil die Partei seinen Forderungen in der „Judenfrage“ zu wenig Beachtung schenkte.107 Bis dahin hatte er sich in Berliner studentischen Kreisen einen gewissen Ruf erworben. Conti war Vorsitzender der „Deutschen Finkenschaft“ und musste als Studiosus die Universität verlassen, nachdem er bei der Vertreibung eines jüdischen Professors in besonders ehrverletzender Weise hervorgetreten war. Nach der Verweisung von der Universität setzte Conti sein Studium in Erlangen fort und legte dort sein Examen ab. Nach Berlin zurückgekehrt und zum Doktor der Medizin approbiert (1924), wirkte er dort von 1924 bis 1926 als Ortsgruppenleiter der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung bis er am 2. Dezember 1930 in die NSDAP eintrat (NSDAP-Mitgliedsnummer: 72225).108 Die Jahre in der Reichshauptstadt waren für Contis Lebensweg in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Schon 1930 ereignete sich im Krankenhaus Friedrichshain „eins der heiligsten Erlebnisse aus der Kampfzeit“, wie die Propaganda dieses wahrscheinlich eher zufällige Zusammentreffen zweier Personen hochstilisierte.109 Damals kreuzte sich Contis Weg mit dem NS-Märtyrer Horst Wessel, dem Conti als Vertrauter bis zum Tod im städtischen Krankenhaus zur Seite gestanden haben soll. Von Zufall wird man deshalb sprechen müssen, da Conti zu diesem Zeitpunkt das berufliche Schicksal zahlreicher anderer junger Berufskollegen teilte. Bedingt durch einen Überhang an Ärzten, hatte sich die Lage nach Kriegsende durch die Rückkehr zahlreicher Ärzte aus dem Heer noch zusätzlich verschärft. Dazu kamen Ärzte, die während des Krieges approbiert beziehungsweise notapprobiert wurden oder aus den Gebieten umsiedelten, die man infolge des Krieges von Deutschland abgetrennt hatte. Darum musste sich Conti ab 1925 als praktischer Arzt ohne Ortskrankenkassenzulassung, als Arztvertreter und nebenamtlicher Hilfsarzt in verschiedenen Arbeitsverhältnissen durchschlagen. Eine Anstellung als Assistenzarzt an einem städtischen Krankenhaus verweigerte man ihm anfangs wegen seiner „völkischen“ Gesinnung. Nachdem er im Dezember 1930 den Gau Berlin des NSDÄB gegründet hatte, kandidierte er 1931 erfolg107 Anonymus: Lebenslauf und Amtseinführung, in: DÄ, Nr. 18, 1939, S. 324–325, hier S. 324. 108 Obwohl die Berliner NSDAP 1927 von dem dortigen Polizei–Vizepräsidenten Isidor Weiß verboten worden war, soll Contis erster Eintritt in die NSDAP am 20. Dezember 1927 erfolgt sein. In den SS-Akten des Bundesarchivs Berlin wurde als Eintrittsdatum hingegen der 2. Dezember 1930 vermerkt. Hierzu: Anonymus: Lebenslauf und Amtseinführung (wie Anm. 107), S. 324. Und: BArchB, SSO/SS 131 (Conti, Dr. Leonardo). 109 Anonymus: Lebenslauf und Amtseinführung (wie Anm. 107), S. 325.

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reich für einen Sitz in der Berliner Ärztekammer und erhielt erst im Jahr darauf die Kassenarztzulassung. Aus Berlin rührte auch seine Bekanntschaft mit dem dortigen Gauleiter Joseph Goebbels und der Kontakt mit Martin Bormann her, dessen Freundschaft es ihm ermöglichte, Wagners Nachfolger zu werden.110 Nachdem Conti im Mai 1932 in den Preußischen Landtag gewählt worden war und sich seine Ambitionen immer mehr auf den öffentlichen Gesundheitsdienst richteten, berief ihn Ministerpräsident Göring am 13. Februar 1933 zum Sonderkommissar zur „Säuberung“ des Gesundheitswesens ins Preußische Innenministerium.111 Dort war Conti seit 1. April 1933 als ordentlicher Ministerialrat in der Medizinalabteilung tätig. Nach der Auflösung des Preußischen Innenministeriums übernahm Conti das Amt eines Referatsleiters im Reichsinnenministerium bis er am 1. November 1936 auf den Posten des Stadtmedizinalrates von Berlin wechselte, womit ihm die Leitung des Gesundheitswesens der Reichshauptstadt übertragen und er gleichzeitig Beigeordneter in der Hauptverwaltung von Berlin wurde. Für seine Verdienste als Organisator des Gesundheits- und Sanitätsdienstes bei den XI. Olympischen Spielen 1936 in Berlin wurde Conti 1937 zum Präsidenten des Internationalen Sportärzteverbandes ernannt und 1939 in diesem Amt bestätigt. Im selben Jahr, nach Wagners Ableben und ausgestattet mit dem Titel REICHSGESUNDHEITSFÜHRER, wurde Conti im Alter von erst 39 Jahren zum Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit berufen (20. April 1939).112 Gleichzeitig trat er damit an die Spitze des NSDÄB, der Reichsärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung. Vier Monate später war er auf Vorschlag von Innenminister Dr. Frick zum Staatssekretär und somit zum Leiter des staatlichen Gesundheitswesens bestimmt worden. Die offizielle Version dieser Ämterkumulation in der Person Conti lautete, man wolle damit die Einheit von Partei und Staat auf dem Gebiet der Volksgesundheit herbeiführen.113 Augenscheinlich wären dies und der Umstand, dass Conti als Gauobmann in Berlin der staatlichen Macht sehr nahe war, insbesondere, wenn man bedenkt, dass er aus dem Innenministerium heraus operieren konnte, optimale Bedingungen gewesen, die bestimmende Funktion im deutschen Gesundheitswesen einzu110 Als Leiter der Berliner SA-Hilfskasse arbeitete Martin Bormann mit Leonardo Conti eng zusammen. Contis Ehefrau, die Ärztin Elfriede Conti, wurde ebenso eine verantwortliche Mitarbeiterin unter Martin Bormann; Lang: Der Sekretär (wie Anm. 76), S. 61 u. 73. 111 In der Folgezeit mussten ab 1933 zum Beispiel in der Berliner Charité ein Drittel der Ärzte ausscheiden; Jaeckel, Gerhard: Die Charité. Die Geschichte des berühmtesten deutschen Krankenhauses, Bayreuth 1963, S. 349. 112 Schmuhl, Hans-Walter: Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti, in: Henke: Tödliche Medizin im Nationalsozialismus (wie Anm. 54), S. 101–117. 113 Anonymus: Staatssekretär Dr. Conti. Leiter des staatlichen Gesundheitswesens, in: DÄ, Nr. 36, 1939, S. 561.

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nehmen. Doch Conti machte sich nicht nur mit seiner früheren Kritik an Ludwig Liebl und seinen Denunziationen im Zuge des Röhm-Putsches auf höchster „Führer“-Ebene unbeliebt. Conti legte sich auch mit der Clique um Gerhard Wagner an. Allein aufgrund der Speerspitzen gegen den NSDÄB-Gau Bayern hatte Wagner seinerzeit alles darangesetzt, um Conti von der bedeutenden Funktion als Gauobmann in Berlin demissionieren zu lassen, indem er rigide darauf verwiesen hatte, dass es nur in Ausnahmefällen gestattet sei, dass Beamte gleichzeitig ein Parteiamt bekleideten.114 Obwohl Conti noch Reichstagsmitglied (seit 27. August 1941) wurde und man ihn bis 1944 zum SS-Obergruppenführer beförderte, war spätestens Ende 1939 seine Führungsschwäche offenkundig geworden. Contis exponierte Stellung relativierte sich zunehmend durch den Aufstieg von Hitlers Begleitarzt Karl Brandt (NSDAP-Mitgliedsnummer: 1009617)115. In ihm stand Conti ein Widersacher gegenüber, gegen den er keine Chance hatte, um im Kampf um die führende Rolle im Gesundheitswesen bestehen zu können. Als Sohn eines preußischen Majors am 8. Januar 1904 in Mühlhausen geboren, nach dem Abitur in Jena, Freiburg, München und Berlin Medizin studiert, machte Brandt 1928 in Berlin das Staatsexamen. Im Sommer 1929 erlangte er die ärztliche Approbation und erhielt noch im selben Jahr eine Assistenzstelle in Bochum. Brandt engagierte sich dort als Reichsschutzbund-Leiter in der Ortsgruppe sowie in der SA-Gruppe Westfalen. Ab 1934 begann seine steile Karriere. Nachdem er im Juli 1934 als Untersturmführer von der SA zur SS übergetreten war, brachte er es bis zum 9. November 1937 zum SS-Sturmbannführer beim Stab des SS-Hauptamtes. Nach dem Überfall auf Polen wurde Brandt als SS-Obersturmbannführer der Waffen-SS zur LEIBSTANDARTE ADOLF HITLER versetzt. Kurz nach seiner Ernennung zum Professor kommandierte man ihn im Mai 1940 für die Dauer des Krieges zu Adolf Hitler.116 Conti und Brandt stritten sich laut Goebbels „wie die Kampfhähne um ihre Kompetenzen,“ 117 doch schon früh deutete sich ab, wer der Überlegenere sein sollte. Brandt war einer jener Sonderbeauftragten, die signifikant für Hitlers chaotischen Regierungsstil waren, und im Bereich des Gesundheitswesens eine zerstörerische Dynamik erzeugten. Bei Hitlers Art des Regierens besaß die persönliche Loyalität den Vorrang vor bürokratischen Strukturen und ein formeller 114 Schreiben von Dr. Wagner an den Stellvertretenden Gauleiter von Berlin. München, den 28. August 1934, in: BArchB, OPG, C 0027, Conti, Leonardo. 115 Beitrittserklärung/Fragebogen des NSDÄB (Brandt, Dr. Karl), in: BArchB, R 1501/3810. 116 Brandt, Karl Dr. med., geb. 8. Januar 1904 in Mühlhausen (Elsaß), gest. 2. Juni 1948 in Landsberg; Ebbinghaus/Roth: 545 Kurzbiographien zum Ärzteprozeß (wie Anm. 58), S. 83 f. 117 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 20. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/13, S. 317.

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Status konnte sehr schnell durch den persönlichen Rang im Gefolge des obersten Führers ersetzt werden.118 Eben dieser Brandt war seit 1934 Hitlers Begleitarzt gewesen. Und seit er sich ständig in Hitlers Nähe aufhielt, gehörte er nicht nur zum innersten Zirkel der getreuen Paladine um Adolf Hitler, sondern konnte sich auch auf kürzestem Dienstweg Gehör („das Ohr des Führers“ 119) beim Führer verschaffen. Brandts früher Kontakt zu Hitler rührte aus einem Unfall des Chefadjutanten Wilhelm Brückner her, den Brandt 1934 anlässlich eines schweren Autounfalles persönlich betreut hatte. Hitler imponierte dessen Notfallversorgung und kam danach auf die Idee, dass er ständig einen Chirurgen wie Brandt in seiner Nähe brauchen könnte. Seitdem gehörte dieser zu Hitlers Entourage. Hitler scheute keine Mühe, ihn ständig in seiner Nähe zu haben. Brandts Anwesenheit war immer dann erforderlich, wenn sich der Führer auf den Berghof zurückzog, Baustellen besuchte, Ausstellungen eröffnete. Brandt begleitete Hitler bei dessen Spaziergängen am Obersalzberg und zu den Bayreuther Festspielen.120 Er fuhr mit Hitler zu Parteikundgebungen und er gehörte bei Staatsbesuchen seiner „Chauffeureska“ an, wie Ernst Hanfstaengl es einmal nannte.121 Über dieses personale Treueverhältnis, das seit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler auch immer mehr zu einem bestimmenden Prinzip im Staat geworden war, konnte sich Brandt schließlich zum größten Konkurrenten von Leonardo Conti entwickeln. Für Joseph Goebbels war dieser Begleitarzt ein „ehrgeiziger Jüngling“, der den Führer permanent beschwatzte und dabei keinerlei Rücksichten nahm, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.122 Ebenso konnte Brandt ein „versierter Schauspieler“ sein,123 wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen ging. Martin Bormann soll Brandt sogar einmal als Intriganten bezeichnet haben, mit dem er nicht an einem Tisch sitzen wollte.124 Nichtsdestotrotz stand Karl Brandt ab Mitte der 1930er-Jahre überaus hoch in der Gunst von Adolf Hitler.125 Sein gro118 Kershaw, Ian: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992, S. 248. 119 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 1. September 1944, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/13, S. 380. 120 Schroeder, Christa: Er war mein Chef. Aus dem Nachlaß der Sekretärin von Adolf Hitler, München 19854, S. 174. 121 Hanfstaengl: 15 Jahre mit Hitler (wie Anm. 49), S. 332. 122 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 23. August 1944, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/13, S. 297. 123 Linge, Heinz: Bis zum Untergang. Als Chef des persönlichen Dienstes bei Hitler, München 1980, S. 183. 124 Lang: Der Sekretär (wie Anm. 76), S. 314. 125 Laut Hitlers Sekretärin Christa Schroeder schlug Hitlers frühere Sympathie für Brandt erst kurz vor Kriegsende in das Gegenteil um. Karl Brandt war aufgrund defaitistischer Äußerungen in Ungnade gefallen. Die Evakuierung seiner Frau Anni Brandt (geb. Rehborn) aus Berlin soll Hitler schließlich als einen Akt des Hochverrats

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ßes, schlankes Erscheinungsbild und das selbstsicher-eloquente Auftreten verfehlten ihre Wirkung auf Hitler nicht. Bezeichnenderweise lieh Hitler sein Ohr viel lieber Individuen, die nicht nur die hohe Kunst des Schmeichelns beherrschten, sondern auch mit großer Überzeugungskraft in seinem engsten Umfeld ein hohes Ansehen genossen. So half Hitler dem „jungen sympathischen Arzt“, der immerzu „von griechischer Heiterkeit umflossen“ war,126 u. a. mit einem Scheck von 50.000 Reichsmark aus, die Brandt aufgrund seines aufwändigen Lebensstiles angehäuft hatte.127 Ebenso war Hitler als Ehrengast eingeladen und stellte sich zusammen mit Hermann Göring als Trauzeuge zur Verfügung als Brandt seine Verlobte, die mehrfache deutsche Schwimm-Meisterin Anni Rehborn, ehelichte.128 Und als deren einziges Kind geboren wurde, machte Hitler den Taufausgelegt und ihn letztlich dazu bewegt haben, ein Standgericht gegen Karl Brandt zu verfügen. Am 17. April 1945 zum Tod verurteilt, wurde Brandt in den folgenden Wochen noch mehrfach verlegt und auf Albert Speers Veranlassung hin am 3. Mai 1945 in Flensburg freigelassen. Dort wurde Karl Brandt am 23. Mai 1945 zusammen mit der „Regierung Dönitz“ von britischen Alliierten verhaftet. Im Zuge des sogenannten Ärzteprozesses vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 in Nürnberg wurde SS-Obergruppenführer Prof. Dr. Karl Brandt als ranghöchster noch lebender NS-Mediziner zum Hauptangeklagten erklärt. Brandt war als Hitler-Bevollmächtigter (seit dem 28. Juli 1942) bzw. dem „Führer und Reichskanzler“ direkt unterstellter Generalkommissar (seit dem 5. September 1943) für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Leonardo Conti übergeordnet. In dieser Position hatte Brandt auch starken Einfluß auf den militärmedizinischen Bereich. Außerdem fungierte Karl Brandt als „Euthanasiebeauftragter“. So war die AKTION BRANDT ein nach ihm benanntes nationalsozialistisches Programm, das ab ca. 1943 dazu diente, Bettenplätze für Ausweichkrankenhäuser und Lazarette zu schaffen. Hierzu wurden Patienten von Heil- und Pflegeanstalten verlegt oder getötet. Die AKTION BRANDT trat damit die Nachfolge der AKTION T4 an, bei der unter der euphemistischen Bezeichnung „Euthanasie“ ab Anfang 1940 geistig und psychisch kranke Menschen getötet wurden. Nachdem Brandt am 25. August 1944 zum Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen ernannt worden war, wurde er im letzten Kriegsjahr noch als Sonderbeauftragter für chemische Kriegsführung tätig. Nach der Urteilsverkündung (Tod durch den Strang) am 20. August 1947 wurde Brandt nach Landsberg am Lech überführt. Das Todesurteil wurde nach mehreren vergeblichen Gnaden-Petitionen seines Anwalts Dr. jur. Robert Servatius und vielfachen öffentlichen Protesten am 2. Juni 1948 im Hof des Kriegsverbrechergefängnisses Landsberg vollstreckt. Zuvor hatte Brandt den Versuch gemacht, sich einem medizinischen Versuch ohne jede Überlebenschance zu unterziehen, „um so die Vollstreckung des Todesurteils über die Erfüllung eines juristischen Prinzips zu einem sinnvollen Ereignis im Interesse und zum Wohle der Menschheit zu erheben.“; Schroeder: Er war mein Chef (wie Anm. 120), S. 202 u. 208. Und: Ebbinghaus, Angelika/Roth, Karl Heinz: Ausgewählte Kurzbiographien zum Ärzteprozeß, S. 617–645, in: Ebbinghaus, Angelika/Dörner, Klaus (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 625 f. Und: Ebbinghaus/Roth: 545 Kurzbiographien zum Ärzteprozeß (wie Anm. 58), S. 63 ff. 126 Adolf Hitlers Sekretärin schilderte Karl Brandt als einen großen Sympathieträger im persönlichen Umfeld des „Führers“; Schroeder: Er war mein Chef (wie Anm. 120), S. 174. 127 Schmidt, Ulf: Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich, Berlin 2009, S. 107. 128 Schroeder: Er war mein Chef (wie Anm. 120), S. 174.

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paten für den Brandtschen Filius. Das Taufgeschenk für seinen Paten, den kleinen Karl-Adolf, war ein schwarzer Mercedes-Sportwagen.129 Am 28. Juli 1942 gab Hitler den ersten Erlass über das Sanitäts- und Gesundheitswesen heraus, der Brandt mit umfangreichen Befugnissen über das deutsche Gesundheitswesen ausstattete.130 Während Conti sich anfangs noch durch die Zusammenarbeit mit Brandt den direkten Zugang zu Hitler erhoffte, musste er wenig später in der Praxis feststellen, dass es zu Spannungen und Überschneidungen zwischen den verschiedenen administrativen, militärischen und parteipolitischen Institutionen gekommen war. Das heißt, obwohl es Hitlers erklärtes Ziel war, den idealen Führerstaat aufzubauen, war es in der Praxis zu einem vollendeten Führungschaos gekommen. Die Situation im Gesundheitssektor schien Conti derart verfahren zu sein, dass er unbedingt eine „Führerentscheidung“ erzwingen wollte,131 damit die angebahnte Desorganisation ein Ende nahm. Conti erging sich dabei allerdings in einem „fruchtlosen Papierkrieg“ und kam immer wieder auf „kleinliche Stänkereien“ zurück,132 die seine Stellung mehr verschlechterten als verbesserten. Mit Hitlers Erlass aus dem Jahr 1942 wurde Conti zwar die Leitung des zivilen Gesundheitswesens bestätigt,133 doch gleichzeitig hieß es in selbigem Erlass: „Für Sonderaufgaben und Verhandlungen zum Ausgleich . . . zwischen dem militärischen und dem zivilen Sektor des Sanitäts- und Gesundheitswesens bevollmächtige ich Prof. Dr. med. Karl Brandt, der nur mir persönlich unterstellt ist und von mir unmittelbar Weisungen erhält. [. . .] Er ist berechtigt, sich verantwortlich einzuschalten.“ 134 Mit solchen Formulierungen, die eine eindeutige Zuordnung von Kompetenzen unmöglicht machten und damit völlig unklare Verhältnisse schufen, war der Kampf um die führende Position zwangsläufig vorprogrammiert. Conti trieb von Anfang an die große Sorge, durch Ressort-Überschneidungen würde seine Position im Krieg noch mehr geschwächt werden. Und er sollte Recht behalten, denn bürokratische Herrschaft wirkt in der Regel meist statisch und funktioniert nur unter Normalsituationen wirklich optimal. Für die Ausnahmesituation und den gesteigerten Handlungsdruck in den Kriegsjahren ab 1939 war sie jedoch kaum geeignet, angemessen zu reagieren. Dazu kam, dass Gerüchte hinsichtlich einer Reihe von Unzulänglichkeiten im zivilen Gesundheits129

Schmidt: Hitlers Arzt Karl Brandt (wie Anm. 127), S. 110. Anlage 5. Abschrift! Erlaß zur Ergänzung des Erlasses über das Sanitäts- und Gesundheitswesen vom 28. Juli 1942, in: BArchB, R 1501/3810. 131 Schreiben. Dr. Leonardo Conti an Prof. Karl Brandt. Berlin, den 1. Juni 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 132 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 20. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/9, S. 317. 133 Erlaß des Führers über das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Vom 28. Juli 1942, in: RGBl., Teil I, 1942, Nr. 87, S. 515. 134 Ebd. 130

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bereich gestreut worden waren, die angeblich auf Conti zurückzuführen seien. Nur aufgrund von Intrigen hätte Adolf Hitler Karl Brandt zum Generalkommissar ernannt, wie Conti meinte. Conti sah sich aus diesem Grund veranlasst, sich an zwei Personen zu wenden, die ihm für eine persönliche Intervention beim Führer die Tür öffnen konnten. Zuerst schrieb Conti einen harschen Brief an Martin Bormann, den Leiter der Parteikanzlei. Dieser Bormann war nicht nur Rudolf Heß’ Nachfolger und Adolf Hitler persönlich unterstellt,135 auch die Bearbeitung von Personalien war per Verordnung seit Januar 1942 „ausschließlich“ Bormann vorbehalten.136 Mit der Zeit avancierte dieser zum „Wächter am Tor zum Allerheiligsten“,137 durch dessen Zensur jedes Schriftstück ging, ehe es Hitler erreichte. Und Conti war sich Bormanns Stellung bei Hitler bewusst. Der Führer hatte mehr als einmal auf die Wertschätzung seines Kanzleileiters hingewiesen (Adolf Hitler: „Wer gegen Bormann ist, . . ., der ist gegen mich.“ 138). Ausgestattet mit den Befugnissen eines Reichsministers und am 12. April 1943 zum „Sekretär und Persönlichen Adjutanten des Führers“ ernannt,139 war Martin 135 Erlaß des Führers über die Stellung des Leiters der Partei-Kanzlei. Vom 29. Mai 1941, in: RGBl., Teil I, 1941, Nr. 60, S. 295. 136 Eine Durchführungsverordnung bestätigte Bormanns Monopol, in derart gelagerten Fällen der alleinige Ansprechpartner zu sein; § 1 Verordnung zur Durchführung des Erlasses des Führers über die Stellung des Leiters der Partei-Kanzlei. Vom 16. Januar 1942, in: RGBl., Teil I, 1942, Nr. 6, S. 35. 137 Lang: Der Sekretär (wie Anm. 76), S. 10. 138 Adolf Hitler, zitiert in: Hoffmann, Heinrich: Das Hitler-Bild. Die Erinnerungen des Fotografen Heinrich Hoffmann, St. Pölten 2008, S. 149. Ähnlich: „Wer gegen Bormann stänkert, der ist gegen mich, und ich werde jeden erschießen lassen, der sich gegen diesen Mann auflehnt.“ Adolf Hitler, zitiert in: Schirach, Baldur von: Ich glaubte an Hitler, Hamburg 1967, S. 282 f. 139 Bormann, Martin, geb. 17. Juni 1900 in Halberstadt, gest. 2. Mai 1945 in Berlin. 1906–1909 Private Lehranstalt in Eisenach, danach Realgymnasium (bis Obersekunda) in Weimar, 1918/19 Kanonier im Königlich-preußischen Feldartillerie-Regiment Nr. 55 (Naumburg), 1919/20 landwirtschaftlicher Eleve in Mecklenburg, 1920 Mitgliedschaft im Verband gegen die Überhebung des Judentums, 1920–1924 Viehinspektor und Geschäftsführer eines Gutes, 1922/23 Deutsch-Völkische Freiheitspartei, nach Untersuchungshaft in Schwerin und Leipzig wegen Anstiftung zum Fememord 1924 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, 1925 Frontbann, 1926–1928 Mitarbeiter der Wochenzeitschrift DER NATIONALSOZIALIST in Weimar, am 27. Februar 1927 in die NSDAP eingetreten (Mitglieds-Nr.: 60508), 1927/28 Gaupressewart der Gauleitung Thüringen der NSDAP, 1928–1930 Leiter der SA-Versicherung im Stab der OSAF (München), 1930–1933 Leiter der Hilfskasse der NSDAP (SA-Versicherung), 1933 Reichsleiter der NSDAP, 1933–1941 Persönlicher Sekretär und Chef der Stabskanzlei des Stellvertreters des Führers, Mitglied des Reichstags 1933–1945, 1938–1945 Mitglied des persönlichen Stabes des Führers, 1940 SS-Obergruppenführer, 1941–1945 Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP, 1941–1945 ständiges Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung und damit einem Reichsminister gleichgestellt, 1943/44 Mitglied des „Dreimännerkollegiums“ zur Organisation des „totalen Krieges“, vom 12. April 1943 bis zum Ende des Krieges Sekretär und Persönlicher Adjutant des Führers, 1944 Leiter des Deutschen Volkssturms, am 29. April 1945 Trauzeuge von Adolf Hitler und Eva Braun sowie unterzeichnender Zeuge des politischen und privaten Testaments von Adolf Hitler. Bormann wurde von Hitler als Testamentsvollstrecker ernannt und in dessen Testament zum

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Bormann „die graue Eminenz des Dritten Reiches“ geworden,140 die größtenteils über die Einbeziehung Hitlers bei strittigen Fragen entschied und vor allem in dem Chaos der Zuständigkeiten als bürokratische Koordinierungsstelle hervorragte. In der Hoffnung, eine Veränderung der Machtverhältnisse zwischen Karl Brandt und ihm herbeiführen zu können, beschwerte sich Conti deshalb bei Bormann, dass seinem Arbeitsgebiet empfindlich geschadet würde: „Es kann neben dem Reichsgesundheitsführer nicht einen Generalkommissar des Führers geben, der sich überall einschalten kann. [. . .] Das an und für sich schon so zersplitterte Gesundheitswesen wird durch die neue Sachlage einem Chaos und einer Auflösung zugetrieben. [. . .] Jeder Tag, der verstreicht, bevor eine eindeutige Klärung erfolgt, schädigt mein Aufgabengebiet . . . [. . .] Ich bitte Sie daher, auf eine möglichst rasche und alle Zweifel beseitigende Klärung zu drängen.“ 141 Conti ließ nichts unversucht und wandte sich auch an den Leiter der Reichskanzlei, Dr. Hans Heinrich Lammers.142 Dieser war seit Einstellung der Kabinettssitzungen mit der Koordination der Regierungsgeschäfte betraut worden. Er hatte ebenfalls eine einflussreiche Schlüsselstellung im unmittelbaren Umfeld des Diktators insbesondere dadurch gewonnen, dass er den persönlichen Zugang zu Hitler ermöglichen konnte. Und seit Mitte 1936 verfügte der Chef der Reichskanzlei über eine Art letztinstanzliches Prüfungs- und Vortragsrecht in allen Gesetzgebungsangelegenheiten, worauf Conti seine letzten Hoffnungen setzte: „Vor nunmehr 6 Wochen habe ich Ihnen in Berchtesgaden über den verheerenden Dualismus, hervorgerufen durch Eingriffe Professor Brandts in mein Arbeitsgebiet, an Hand einer Reihe von Unterlagen eingehend Vortrag gehalten. [. . .] Es ist vorgekommen, daß Sonderdienststellen beziehungsweise Außenstellen des Herrn Prof. Brandt errichtet wurden, . . . [. . .] Das sind keine ,Ressortstreitigkeiten‘ oder Reichsparteiminister bestimmt. Angeblich kam Bormann bei den Kämpfen in Berlin um. 1954 wurde er vom Amtsgericht Berchtesgaden für tot erklärt; Lilla, Joachim (Bearb.): Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933–1945. Ein biographisches Handbuch. Herausgegeben von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 2004, S. 55 f. 140 Guderian, Heinz: Erinnerungen eines Soldaten, Heidelberg 19512, S. 408. 141 Schreiben von Dr. Leonardo Conti. An den Reichsleiter Martin Bormann Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP. Persönlich! Vertraulich!. Ohne Ortsangabe, den 31. Mai 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 142 Lammers, Hans Heinrich, geb. 27. Mai 1879 in Lublinitz (Oberschlesien), gest. 1. April 1962 in Düsseldorf. Lammers studierte Rechtswissenschaften an der Universität Breslau und wurde 1912 Landrichter in Beuthen. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Entlassung als Hauptmann der Reserve und Lammers begann eine Karriere im Reichsinnenministerium (ab 1922 Ministerialrat). Von der DNVP wechselte er 1932 zur NSDAP. Am 30. Januar 1933 wurde er von Adolf Hitler zum Staatssekretär in der Reichskanzlei ernannt. Im November 1937 folgte seine Ernennung zum Reichsminister und Chef der Reichskanzlei. Lammers wurde am 11. April 1949 im WilhelmstraßenProzeß zu 20 Jahren Haft verurteilt. Nach der Strafherabsetzung auf zehn Jahre wurde er am 16. Dezember 1954 auf Bewährung entlassen Ebbinghaus/Roth: 545 Kurzbiographien zum Ärzteprozeß (wie Anm. 58), S. 115 f.

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,Kompetenzstreitigkeiten‘ mehr, das ist das Ende jeder autoritären Führung und der Beginn eines Chaos!“ 143 Und Conti ging sogar soweit, dass er mit Rücktritt drohte.144 Er hatte nun Brandts unschlagbaren Vorteil erkannt, der darin lag, immer und überall direkten Zugang zu Adolf Hitler zu haben. In einem weiteren überlieferten Schreiben wird Contis Außenseiterrolle deutlich, wenn er schreibt: „Während Prof. Brandt sozusagen täglich die Möglichkeit hat, den Führer zu sprechen, ist es mir nach über 4-jähriger Tätigkeit als Reichsgesundheitsminister noch nicht einmal möglich gewesen, dem Führer Vortrag zu halten . . . Warum hat man mich 4 Jahre vom Führer ferngehalten? Es muß doch jedem vollkommen klar sein, daß ein Reichsgesundheitsführer, der seit seiner vor mehr als 4 Jahren erfolgten Ernennung noch nie dem Führer Vortrag gehalten hat, eben keine Resonanz und Durchschlagskraft gegenüber den anderen maßgeblichen Personen und Dienststellen haben kann. [. . .] Meine eigene Stellung ist nach wie vor völlig ungeklärt. Daher muß ich die Bitte aussprechen, nun einmal den Führer wirklich sprechen zu dürfen. [. . .] Ich bitte Sie sehr darum.“ 145 Brandt selbst, der ebenfalls von Conti auf die Missstände hin angeschrieben worden war, gab nicht klein bei und ging auch nicht im geringsten auf Contis Lamentieren ein, denn er war sich natürlich seiner Stellung bei Hitler bewusst. Karl Brandts Antwort auf Contis Vorwürfe war dementsprechend kurz und bündig: „Die Zeit ist nicht zum Disputieren geeignet. [. . .] . . . ich werde meinen Weg mit klarem Ziel weitergehen. Mich kann davon nur der Befehl des Führers abhalten.“ 146 Die Historiker-Meinungen in der Frage, ob die Spannungen und die Zerstrittenheit in dem vermeintlich monolithischen Führerstaat als Stärke beziehungsweise als Schwäche im Führersystem zu werten sind, gehen bis heute auseinander. Nach Hans Mommsens These vom „schwachen Diktator“ gehörte zu Hitlers Regierungsstil das Unvermögen, sich für die eine oder andere Seite auszusprechen oder bei Personalfragen klare Entscheidungen zu treffen.147 Doch bereits Zeitgenossen vertraten die Ansicht, der Diktator hätte den Machtpluralismus vielerorts nach der Methode divide et impera herbeigeführt, weil Hitler erkannt hätte, dass er in einem intakten Staatswesen niemals die absolute Macht erlangen 143 Abschrift. Schreiben ZG 799/43 von Dr. Leonardo Conti. An den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Dr. Lammers. Berlin, den 7. Juni 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 144 Ebd. 145 Abschrift. Schreiben von Dr. Leonardo Conti. An den Reichsleiter Martin Bormann Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP. Persönlich! Berlin, den 23. Juni 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 146 Abschrift. Schreiben von Karl Brandt an Leonardo Conti. Berghof, den 28. Mai 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 147 Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten Reich (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 13), Stuttgart 1966, S. 98.

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beziehungsweise erhalten konnte. Hitler hätte konsequent Doppelbesetzungen vorgenommen und sich überschneidende Führungsaufträge ohne jede Abgrenzung der Kompetenzen erteilt.148 Aus diesem SYSTEM HITLER, das aus „Irreführen und Verwirrungstiften“ bestand, ergaben sich in der Regel dauernde Kontroversen.149 Goebbels, der seinerseits keinesfalls in die Konflikte zwischen Brandt und Conti hineingezogen werden wollte,150 überließ Bormann und Lammers die unsägliche Aufgabe, zwischen Conti und Brandt zu vermitteln. Durch verschiedene Entwürfe, versuchten diese, „dem mutmaßlichen Willen des Führers“ im Wesentlichen zu entsprechen, wie es in einem Schreiben an Reichsinnenminister Dr. Frick hieß.151 Und wegen Contis Rücktrittsdrohungen schrieb Bormann, der nach Goebbels Ansicht Leonardo Conti tatkräftig protegiert haben soll:152 „Lieber Parteigenosse Dr. Conti! [. . .]; dringend muss ich von einer Weitergabe dieser Mitteilung an einen grösseren Kreis abraten, denn diese Weitergabe würde den Eindruck erwecken, als wenn Sie an Minderwertigkeitskomplexen litten.“ 153 Diese Bemerkung war durchaus als freundschaftlicher Hinweis aufzufassen. Andere Parteigenossen, die Conti weitaus weniger schätzten, kamen zu drastischeren Diagnosen, wenn sie Contis Verhalten gegenüber potentiellen Konkurrenten zum Beispiel als „pathologischen Verfolgungswahn“ bezeichneten.154 Doch selbst Bormanns Warnung nützte nichts, denn wer im darwinistischen Dschungel des „Dritten Reiches“ zu einer Machtposition gelangen wollte, der musste, ohne lange auf Anweisungen zu warten, die Initiative ergreifen, um die von Hitler definierten Ziele möglichst schnell umzusetzen. Ein Machttechnokrat vom Typ Conti, der langatmig herum lavierte und sich erst larmoyant auf die Suche nach bürokratischer Rückendeckung begeben musste, passte nicht in das nationalsozia-

148 Hitlers ehemaliger Reichspressechef Dr. Otto Dietrich verglich diesbezüglich die politischen Methoden des italienischen Duce mit der Taktik des deutschen Führers: „Mussolini hatte das Prinzip der ,Ablösung der Wache‘; Hitler bediente sich des Systems der Doppelbesetzung und der Kompetenzkonflikte.“ Dietrich, Otto: 12 Jahre mit Hitler, Köln 1955, S. 129. 149 Schacht, Hjalmar: Abrechnung mit Hitler, Hamburg 1948, S. 39. 150 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 7. Dezember 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/10, S. 435. 151 Abschrift. Rk-7830 A. Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei (Dr. Lammers). An den Reichsminister des Innern Herrn Dr. Frick. Betrifft: Gesundheitswesen. Berlin, den 30. Juni 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 152 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 10. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/9, S. 259. 153 Schreiben. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Partei-Kanzlei. Leiter der Partei-Kanzlei (gez.: M. Bormann). Persönlich! Streng vertraulich! Herrn Reichsgesundheitsführer Dr. Conti. Betrifft: Stellung des Reichsgesundheitsführers. Führerhauptquartier, den 27. September 1943, in: BArchB, R 1501/3810. 154 Schreiben von Dr. Wagner an den Stellvertreter des Führers, Braunes Haus. München, den 28. August 1934, in: BArchB, OPG, C 0027 (Conti, Leonardo).

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listische Weltbild vom Führerwesen. Deshalb überrascht es nicht, dass Bormanns Versuche, für Conti eine „Audienz“ beim Führer zu bekommen, äußerst kläglich scheiterten.155 Ein Jahr nach Contis Beschwerdebriefen unterschrieb Hitler den zweiten Erlass für Karl Brandt, in dem dieser als Generalkommissar beauftragt wurde, das gesamte Sanitäts- und Gesundheitswesen „zentral“ zu steuern, das heißt Brandt durfte nun in Eigenregie „besondere Beauftragte“ ernennen und selbständig bevollmächtigen.156 Nachdem Brandt nicht nur gegenüber Conti weisungsberechtigt war, sondern auch noch ermächtigt wurde, an alle Stellen von Staat, Partei und Wehrmacht Anweisungen geben zu dürfen, vermerkte Joseph Goebbels in seinen Tagebuchaufzeichnungen, wie dieser Erlass zustande gekommen war und ging auf dessen Konsequenzen ein: „Dr. Brandt hat ihn sich richtig im Vorzimmer ersessen. Für Conti ist damit natürlich ein solides Arbeiten unmöglich gemacht.“ 157 Damit war nicht nur der letzte Rest administrativer Strukturen in der Gesundheitsführung einer Demontage ausgeliefert, sondern auch Contis Bedeutungslosigkeit besiegelt. Für den Ärztebund, dem er vorstand, hatte das zu diesem Zeitpunkt allerdings gar keine Bedeutung mehr, denn dieser war zuvor bereits durch Anordnung aus der Parteikanzlei,158 und zwar im Zuge der Ausrufung des „totalen Krieges“ durch Goebbels, im Februar 1943 de facto eingestellt worden.159 Nachdem vorhandenes Personal an kriegswichtige Einrichtungen abgegeben werden musste, sollten die verbliebenen haupt- und nebenamtlich Beschäftigten des NSDÄB ab 1. Oktober 1944 noch vierteljährlich im voraus bezahlt werden.160 Den förmlichen Schlusspunkt für den NSDÄB setzte schließlich das 155

Lang: Der Sekretär (wie Anm. 76), S. 314. Zweiter Erlaß des Führers über das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Vom 5. September 1943. Führer-Hauptquartier, den 5. September 1943, abgedruckt in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 10, 1943, S. 240. 157 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 31. August 1944, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/13, S. 371. 158 Conti, Leonardo: Nationalsozialistischer deutscher Ärztebund. Bekanntmachung. Betrifft: Durchführung des Erlasses des Führers über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 3, 1943, S. 79. 159 In der Praxis bedeutete dies, dass Neuaufnahmen nicht mehr durchgeführt wurden. Alle Personal- und sonstigen Veränderungen der vorhandenen Mitglieder, Anwärter und Angemeldeten in den Karteien wurden bis auf weiteres nicht mehr vermerkt. Außerdem stellte man die Erhebung von Mitgliedsbeiträgen und die Disziplinargerichtsbarkeit des NSDÄB ein; vgl. Rundschreiben Ä 2/43. Gauamt für Volksgesundheit. An die Gau- und Kreisobmänner des NSD.-Ärztebundes. Betrifft: Anordnung A 13/43 des Leiters der Partei-Kanzlei. Durchführung des Erlasses des Führers über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung. München, den 5. März 1943, in: BArchB, NS 53/3. 160 Rundschreiben Ä 7/44. Gauamt für Volksgesundheit. An die Gauobmänner des NSD.-Ärztebundes. Betrifft: Verwaltungsvereinfachungsmassnahmen im Verfolg des Führererlasses über den totalen Kriegseinsatz vom 25. Juli 1944. München, den 23. September 1944, in: BArchB, NS 53/3. 156

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Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 (Artikel I)161 – vier Tage nach Leonardo Contis Suizid in amerikanischer Haft.162 V. Resümee Den Titel der NSDÄB-Publikation ZIEL UND WEG aufgreifend, lässt sich ein durchgehendes Muster in der Zielsetzung der drei NSDÄB-Vorsitzenden feststellen: Die Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie auf dem breiten Feld der Medizin. Der Weg, den man hierbei bestritt, war allerdings von zwei Zäsuren (1933 und 1939) gekennzeichnet. Sowohl in personeller als auch in institutioneller Hinsicht kann man einen Paradigmenwechsel feststellen. Dabei kristallisieren sich drei Phasen in der Entwicklungsgeschichte des Ärztebundes heraus: Eine Gründungsphase unter Ludwig Liebl, eine Gleichschaltungsphase mit einem sich etablierenden Dualismus unter Gerhard Wagner, und schließlich eine Auflösungsphase unter Leonardo Conti. Frühe Quellen aus den Anfangsjahren (1929 bis 1932) belegen, dass man befürchtete, der NS-Ärztebund würde gleich wieder eingestellt werden, wenn er sich nicht selbst tragen könnte, das heißt wenn er von der Parteileitung finanzielle Unterstützung einfordern würde. Liebls Handlungsspielraum in der Aufbauphase war demnach monetär viel zu eingeschränkt, um zum Beispiel ein dringend nötiges Verwaltungspersonal mit Hilfe der Partei aufzubauen. Abgesehen davon, dass sich viele Jungärzte auf der Suche nach einem sicheren Einkommen weniger für die aufopfernde Parteiarbeit interessierten, war „Papa Liebl“ die treibende Kraft, der den Gedanken fasste, die nationalsozialistischen Ärzte in einer Art Kampfgemeinschaft zusammenzuschließen. Er besaß nicht nur die Mitgliedsnummer 1 des NSDÄB, sondern „. . . einzig Liebl war es, der aktiv handelte . . .“ als es darum ging,163 eine Institution für die umfassende ideologische Propagan161 Mit dem vom Alliierten Kontrollrat am 10. Oktober 1945 erlassenen Kontrollratsgesetz Nr. 2 (Law No 2, Providing for the Termination and Liquidation of the Nazi Organisations, in: Allied Control Council, Official gazette of the Control Council for Germany. Berlin 1945, p. 19) wurde die NSDAP einschließlich ihrer angeschlossenen Organisationen (Anhang: Nr. 26 NSD-Ärztebund) verboten und deren Neubildung für ungesetzlich erklärt. Gleichzeitig wurde das gesamte Eigentum der betreffenden Einrichtungen beschlagnahmt; Gesetz Nr. 2, Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen, in: Alliierter Kontrollrat: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Berlin 1945, S. 19 ff. 162 Nachdem Leonardo Conti noch am 3. März 1945 zum Honorarprofessor ernannt worden war, wurde er wenig später von den Alliierten verhaftet und in das Militärgefängnis in Nürnberg eingeliefert. Dort wollte man ihn im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses zur Rechenschaft ziehen. Einer Verurteilung konnte er sich jedoch am 6. Oktober 1945 entziehen, indem er sich in seiner Arrestzelle an einem Pullover erhängte; Schroeder: Er war mein Chef (wie Anm. 120), S. 242. 163 Conti, Leonardo: Dr. Ludwig Liebl schied am 11. Februar 1940 im Alter von 65 Jahren für immer von uns, in: DIE GESUNDHEITSFÜHRUNG – ZIEL UND WEG, Nr. 3, 1940, S. 83–84, hier S. 84.

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darisierung der deutschen Mediziner ins Leben zu rufen und den ärztlichen Berufsstand ein spezifisch nationalsozialistisches „Ethos“ zu geben. Und die „Saat des mutigen Mannes“ war nicht nur in der „schwarzen Hochburg“ Ingolstadt aufgegangen, wie der „Völkische Beobachter“ einmal zutreffend feststellte.164 Liebls mühevolle propagandistische Kleinarbeit „lohnte“ sich insofern, als dass die frühen NSDÄB-Kampagnen gegen jüdische Ärzte staatlicherseits schließlich am 25. Juli 1938 in die „Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ mündeten, mit der die staatlichen Berufszulassungen aller jüdischen Ärztinnen und Ärzte mit dem 30. September 1938 als erloschen erklärt wurden.165 Darüber hinaus fand das als „rassehygienisch“ bezeichnete Programm von Professor Staemmler seine wesentliche Verbreitung in der Ärztebund-Publikation ZIEL UND WEG beziehungsweise auf verschiedenen Fachtagungen des NSDÄB und wurde inhaltlich weitgehend in dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und in den späteren sogenannten „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 übernommen.166 In einer zweiten Phase, also vom Herbst 1933 bis Frühjahr 1939, überlagerte der Konflikt zwischen einem nationalsozialistischen Gesundheitswesen die parteiinterne Konkurrenz auf dem staatlichen Gesundheitssektor. Hierbei eröffneten sich theoretisch die größten individuellen Gestaltungsmöglichkeiten, um das Pouvoir des NSDÄB zu vergrößern. Doch praktisch wurden unter Wagners Führung die richtungsweisenden Weichen in der Weise gestellt, dass der Ärztebund schließlich ein Opfer der nationalsozialistischen Polykratie werden sollte. Mit der Gründung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (1933) und der Schaffung der Reichsärztekammer (1935/1936) zum Beispiel entstand für den NSDÄB ein zusätzliches Identitätsproblem. Für viele Ärzte war der Ärztebund damit mehr oder weniger überflüssig geworden. So diente er ab 1935 nur noch vereinzelt propagandistischen Zwecken, selbst wenn er als angeblich wichtige Abteilung des Hauptamtes für Volksgesundheit bis zum Ende des Krieges auf dem Papier weiterbestand.167

164 Anonymus: Beginn der Reichstagung der nationalsozialistischen Aerzte. Schon der Auftakt ein voller Erfolg – Führende Mitglieder des Aerztebundes über Ziel und Weg, in: Völkischer Beobachter, 17. September 1932. 165 § 1 Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Vom 25. Juli 1938, S. 969/970, in: RGBl., Teil I, 1938, Nr. 122, S. 969. 166 Staemmler, Martin: Rassenhygiene im Dritten Reich. Vortrag, gehalten am 6. Dezember 1931 auf der 2. Reichstagung des NSDÄB in Leipzig, in: ZIEL UND WEG, Nr. 1, 1932, S. 7–22, hier S. 18. Und: Blome: Arzt im Kampf (wie Anm. 61), S. 250. 167 Zu den Aufgaben und Zuständigkeiten des NSDÄB nach Kriegsbeginn hieß es 1941: „1. Verantwortlich für die Bereitstellung von Ärzten und Fachleuten für die Partei, ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände. 2. Vertiefung einer Berufsauffassung im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung innerhalb der deutschen Ärzteschaft und der sonstigen Heilberufe. 3. Verantwortlich für die Heranbildung eines nationalsozialistischen Nachwuchses und Erziehung des Nachwuchses zu einer nationalsozialistischen Berufsauffassung.“ BArchB, NS 22/401.

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Die letzte Phase begann nach Gerhard Wagners Tod, als sich die Mehrheit der gesundheitspolitischen Kompetenzen in den Händen von Leonardo Conti befand. Letzterer konnte seinen Machtanspruch nicht behaupten. Einerseits fragmentierte sich ab 1939 die gesundheitspolitische Herrschaft in den Wirren der Kriegsjahre noch zusätzlich,168 andererseits war Conti seinem persönlichen Konkurrenten Karl Brandt deutlich unterlegen, „weil er sich des uneingeschränkten Vertrauens des Führers erfreut und wohl auch die größere Persönlichkeit ist“, wie Joseph Goebbels konstatierte.169 Conti war lediglich ein Karrierist in Parteiuniform, der nie den unmittelbaren Zugang zu Adolf Hitler fand, wie er sich das gewünscht hätte und wie es für eine Stärkung des NSDÄB gegenüber Reichssicherheitsamt oder staatlichen Stellen erforderlich gewesen wäre. Besonders wären hierbei Görings Luftwaffe und Himmlers SS zu nennen, mit denen es seit Kriegsbeginn immer wieder zu Überschneidungen im militärischen Sektor kam. Gründe für Contis schwache Stellung bei Hitler gab es verschiedene. Abgesehen davon, dass Contis Kritik an seinen Vorgängern als Intrigenpolitik und „kleinliche Stänkereien“ eingestuft wurde,170 war Conti bei Amtsantritt noch keine 40 Jahre alt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gehörte er damit einer ganz anderen Generation als Hitler an, was einen direkten Draht, eine persönliche Annäherung zu ihm erschwerte. Auch der Umstand der italienisch-schweizerischen Wurzeln mag dazu beigetragen haben, dass Conti niemals das Vertrauen entgegengebracht wurde wie dem Reichsdeutschen Wagner oder dem aus bajuwarischen Gefilden stammenden Liebl. Die reale Machtposition im „Dritten Reich“ hing von drei Faktoren ab: Der absoluten Übereinstimmung mit der NS-Ideologie, der Absenz jeden Hauches von Verwaltungsgeruch und der persönlich engen Bindung zu Hitler. Der letzte Punkt wurde durch die abschließende Bewertung in dem von den Alliierten Mächten gegen Karl Brandt u. a. durchgeführten Ärzteprozess unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: „Seine engen Beziehungen zum Führer erklären seinen schnellen Aufstieg zur Macht.“ 171 Betrachtet man die drei NSDÄB-Vorsitzenden unter diesem Aspekt, so stellt man fest, dass besonders Liebl und Wagner allein dadurch wesentliche Vorteile hatten, weil sie sich schon sehr früh im oberbayerischen Umfeld Hitlers bewegten und beide somit zu Exponenten der Partei werden konnten. So zum Beispiel verkehrte Adolf Hitler bereits in den 168 Süß, Winfried: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945 (Institut für Zeitgeschichte, München. Studien zur Zeitgeschichte, 65), München 2003, S. 43 f. 169 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 20. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/9, S. 317. 170 Ebd. 171 Militärgerichtshof NO. I. Fall Nr. 1 Zusammenfassender Schriftsatz fuer die Vereinigten Staaten von Amerika – gegen – Karl Brandt. Nürnberg 6 June 1947. (Microfiche-Ausgabe, Fiche Nr. 202, Zusammenfassender Schriftsatz zu Karl Brandt).

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20er-Jahren samt Parteistab mehrere Male im Hause von Liebl,172 weswegen im Volksmund sogar die Rede war von der „Adolf-Hitler-Villa“ in Ingolstadt.173 Contis NSDÄB-Karriere vor 1933 spielte sich hingegen ausschließlich im fernen Berlin ab. Und danach suchte er sein Tätigkeitsfeld zuerst beim Staat und erst dann in der Partei. Das heißt, ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Liebl beziehungsweise Wagner zu Conti war die ihnen eigene Agitation innerhalb der NSDAP, die sich dementsprechend auch im Ansehen bei den Parteigenossen und nicht zuletzt bei Adolf Hitler niederschlug. Liebls Nimbus basierte auf den zahlreichen Gründungsinitiativen für die Partei.174 Wagners Respekt gründete sich auf die Zielstrebigkeit der Gleichschaltung in den Jahren 1933/1934.175 Und in den folgenden Jahren erwies Wagner sich als gnadenloser Vollstrecker der NS-Rassenpolitik.176 Contis vermeintliche Autorität hingegen 172 Auszug aus dem Donaubote (Sondernummer) vom 11. Dezember 1937: Fünfzehn Jahre NSDAP. in Ingolstadt. Der Führer schrieb ins Gästebuch. San.-Rat Dr. Liebl und seine Begegnungen mit dem Führer. Aus der Abschrift: Spruchkammer IngolstadtStadtkreis. Ingolstadt, 30. März 1948, in: StAM, SpkA K 2869, Liebl, Ludwig. 173 Straub (wie Anm. 28). 174 StAM, SpkA K 2869, Liebl, Ludwig. 175 Die Wertschätzung, die Adolf Hitler für den 51jährig verstorbenen Reichsärzteführer empfand, wird u. a. durch die ihm zur Ehre vollzogene Namensgebung bzw. Umbenennung deutlich. Anlässlich der Grundsteinlegung des neuen Krankenhauses im Verwaltungsbezirk Prenzlauer Berg wurde Gerhard Wagner zum Namensträger („Gerhard Wagner-Krankenhaus“) auserkoren. Und die SA-Standarte „Isartal“ wurde auf „auf Befehl des Führers“ umbenannt. Adolf Hitler verlieh ihr die Bezeichnung Standarte „Gerhard Wagner“; Anonymus: Gerhard Wagner-Krankenhaus. Feierliche Grundsteinlegung in Berlin am 19. April 1939, in: DÄ, Nr. 18, 1939, S. 327–330. Und: Anonymus: SA.-Standarte „Gerhard Wagner“, in: DÄ, Nr. 23, 1939, S. 419. Ebenso: Anonymus: Arzt und SA.-Mann Gerhard Wagner, DÄ, Nr. 36, 1939, S. 570. 176 Wagners unerbittliche Haltung offenbarte sich besonders in Fragen der Rassenpolitik. Als 1938 einige Gauobmänner bei der Reichsleitung in Erfahrung bringen wollten, ob „jüdische Mischlinge“ (das heißt sogenannte „Halb-, Viertel-, Achtel-Juden“ usw.) Mitglieder oder Anwärter des NSDÄB werden könnten, zeigte er sich absolut unnachgiebig. Die Schreiben entbehrten nicht einer juristischen Brisanz. Denn die gleichen Anfragen waren der Reichsleitung des Ärztebundes auch von unmittelbar Betroffenen zugegangen. Dabei hatte man sich auf das Erläuterungswerk von Lösener-Knost zu den „Nürnberger Gesetzen“ (Nr. 23 der Sammlung Vahlen Berlin 1937) bezogen. Dort war ausgeführt, dass die höheren Anforderungen an die „Reinheit des Blutes“, die für Mitglieder der Partei und ihrer Gliederungen galten, auf Mitglieder der der Partei angeschlossenen Verbände, wozu u. a. auch der Ärztebund gehörte, keine Anwendung finden würden. Wagner antwortete mit einem Rundschreiben an die Gaue. Selbst das „vorläufige Reichsbürgerrecht“ würde nicht einmal für den Status eines Anwärters genügen. Mit dem Hinweis auf § 3 der Satzungsbestimmungen und „die erhöhten Anforderungen“ teilte er den Obmännern mit, der Ärztebund stelle „eine Auslese-Organisation“ dar, welche die Ziele der nationalsozialistischen Weltanschauung auf dem Gebiete der Volksgesundheit zu verfolgen hätte und deswegen könne der Kreis der im NSDÄB zusammengeschlossenen Ärzte „nur ein eng begrenzter sein und bleiben.“ Wagners Schreiben endete mit einer unmissverständlichen Diktion: „Über die Aufnahme als Mitglied oder als Anwärter entscheidet der Leiter des Bundes. Die Ablehnung der Aufnahme erfolgt ohne Angabe von Gründen.“ Für dieses strikte Aufnahmeverbot jüdischer

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stützte sich weitgehend auf bürokratische Befugnisse, die in erster Linie auf die Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums zurückzuführen waren. Nicht zuletzt deswegen blieb Contis Verhältnis zu Hitler über die provisorische Stilllegung des NSDÄB im Jahre 1943 hinaus ausgesprochen distanziert. Und ohne eine von Hitler persönlich verliehene Autoritätsgeste – dem „Führerwillen“ – konnte ihm trotz des Titels REICHSGESUNDHEITSFÜHRER die Stellung als bestimmender Faktor im Gesundheitswesen nichts anderes als verwehrt bleiben. Dementsprechend zeichnete Goebbels im Sommer 1943 ein wenig schmeichelhaftes Charakterbild über Leonardo Conti: „Auch der Führer teilt mein Urteil über Conti. Conti ist ein hochgekommener Landarzt, mehr nicht. Wir werden uns von ihm nicht viel erwarten können.“ 177

Mischlinge hatte sich Wagner mit einer ausdrücklichen Bestätigung des Führerstellvertreters abgesichert; vgl. Rundschreiben Ä 4/38. Dr. Gerhard Wagner. An die Gauobmänner des NSD.-Ärztebundes. Betrifft: Anträge jüdischer Mischlinge auf Aufnahme als Mitglieder bezw. Anwärter in den NSD.-Ärztebund. München, den 11. Juni 1938, in: BArchB, NS 53/1. 177 Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 10. August 1943, in: Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 57), II/9, S. 259.

Der Zwischenruf „Der Bundeskanzler der Alliierten!“ und die parlamentarische Beilegung des Konfliktes zwischen Konrad Adenauer und Kurt Schumacher im Herbst 1949 Michael F. Feldkamp In der 18. Plenarsitzung des erst elf Wochen zuvor konstituierten 1. Deutschen Bundestages bezeichnete der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Kurt Schumacher den CDU-Bundestagsabgeordneten und Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauer in einem Zwischenruf als „Bundeskanzler der Alliierten“. Schon deswegen zählt bis heute diese Sitzung vom 24./25. November 1949 zu den bekanntesten Plenarsitzungen des Bundestages; ferner aber auch, weil sie einschließlich der Sitzungsunterbrechungen die längste Plenarsitzung in der Geschichte des Deutschen Bundestages ist1; und schließlich, weil in dieser Sitzung zum ersten Mal das Verhalten eines Abgeordneten – eben das von Schumacher – mit Sitzungsausschluss geahndet wurde2. Der SPD-Abgeordnete Johann Cramer, von 1949 bis 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages, berichtete noch 1982 in seinen Lebenserinnerungen im Zusammenhang mit dem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum vom 27. April 1972 gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD): Dieser Tag „ist mir ebenso frisch in Erinnerung wie jene Nacht, als die Kontroverse zwischen Adenauer und Kurt Schumacher mit dessen Zwischenruf ,Kanzler der Alliierten‘ endete“ 3. Bis heute ist die „Zwischenruf-Affäre“ 4 einer der emotional bewegendsten Momente in der Geschichte des Bundestages und unvergessen. Umso erstaunlicher, wenn offenbar wegen mangelnder Kenntnisse über die näheren Umstände

1 Die Plenarsitzung am 24. November 1949 wurde um 10:20 Uhr eröffnet und endete am 25. November 1949 um 6:23 Uhr. Sie dauerte abzüglich der Sitzungsunterbrechungen immerhin noch 814 Minuten. Feldkamp, Michael F.: Der Deutsche Bundestag – 100 Fragen und Antworten, Baden-Baden 2009, S. 122 f. 2 Schindler, Peter: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999. Gesamtausgabe in drei Bänden. Eine Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Baden-Baden 1999, Band II, S. 1989. 3 Deutscher Bundestag (Hrsg.): Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Aufzeichnungen und Erinnerungen, Band 1: Josef Felder, Hans Dichgans, Johann Cramer Emilie Kiep-Altenloh, Boppard am Rhein 1982, S. 296. 4 Erich Ollenhauer am 27. November 1949 auf der Kundgebung für Schumacher in Hannover. „Demonstration für Dr. Schumacher“, in: Neuer Vorwärts, 3. Dezember 1949.

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das in die Geschichte eingegangene Verdikt Schumachers nicht selten unvollständig oder falsch wiedergegeben wird. Es beginnt damit, dass der Zwischenruf statt „Der Bundeskanzler der Alliierten“ 5 häufig mit „Der Kanzler der Alliierten“ 6 zitiert wird; es führt so weit, dass die Anzahl der Sitzungstage, für die Schumacher ausgeschlossen worden ist, mal mit 207 und mal mit 308 Sitzungstagen beziffert wird; schließlich bleibt oftmals unerwähnt, dass der Sitzungsausschluss schon während der darauffolgenden Bundestagssitzung aufgehoben wurde und somit faktisch nur für eine halbe Plenarsitzung wirksam war9. Das ist ausreichender Anlass – zumal die Fraktionsprotokolle inzwischen wissenschaftlich erschlossen und publiziert worden sind10 und manch andere Dokumentationen11 vorliegen –, sich einmal gründlicher mit den von Zeitgenossen als „dramatisch“ empfundenen Vorgängen in der Nacht vom 24./25. November 194912 und dem Konflikt zwischen „dem Alten“ und seinem großen parlamentarischen Gegner gründlicher zu befassen – nicht zuletzt, um weiteren13 Legendenbildungen, die naturgemäß politischen Zwecken dienen, entgegenzuwirken.

5 So richtig das stenographische Protokoll des Deutschen Bundestages vom 24./25. November 1949, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 1. Wahlperiode 1949, S. 525. 6 So falsch u. a.: Presse- und Informationsamt des Deutschen Bundestages (Hrsg.): Chronik. Debatten, Gesetze, Kommentare. Deutscher Bundestag 1949–1953, 1. Legislaturperiode. Eine Dokumentation, Stuttgart [o. J.], S. 36; Schulz, Klaus-Peter: Adenauers Gegenspieler. Begegnungen mit Kurt Schumacher und Sozialdemokraten der ersten Stunde, Freiburg im Breisgau 1989, S. 134. 7 So das Stenographische Protokoll der Sitzung vom 24./25. November 1949 (wie Anm. 5), S. 526. 8 Z. B. Chronik (wie Anm. 6), S. 36. 9 So z. B. Appel, Reinhard: Innerer Friede, in: Barzel, Rainer (Hrsg.): Sternstunden des Parlaments, Heidelberg 1989, S. 332–382, hier S. 335; „O tempora, o mores“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. September 2010. 10 Heidemeyer, Helge (Bearb.): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 4. Reihe: Deutschland seit 1945, 11/I), Düsseldorf 1998; Weber, Petra (Bearb.): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949– 1957 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 4. Reihe: Deutschland seit 1945, 8/I), Düsseldorf 1993. 11 Z. B.: Küsters, Hanns Jürgen (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik, II. Reihe, Band 2: Die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 7. September bis 31. Dezember 1949, veröffentlichte Dokumente, München 1996. 12 Scholz, Günter: „Die dramatische Nachtsitzung des Bundestages“, in: Süddeutsche Zeitung, 26./27. November 1949. 13 Einen Höhepunkt der Legendenbildung um den Zwischenruf sind die einschlägigen Passagen in den Lebenserinnerungen von Schumachers Weggefährtin Annemarie Renger; dazu unten bei Anm. 160.

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I. Das Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 In der 18. Plenarsitzung des 1. Deutschen Bundestages wurden zwei Tagesordnungspunkte behandelt. Der erste Tagesordnungspunkt sah die erste Lesung einer vorläufigen Regelung der Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes stehenden Personen vor. Der zweite Tagesordnungspunkt war eine „Erklärung der Bundesregierung“ mit anschließender Aussprache und Abstimmung. Diese Regierungserklärung betraf das Petersberger Abkommen vom 22. November 194914. Das Abkommen war die erste vertraglich vereinbarte Revision des Besatzungsstatuts vom 10. April 1949, das die Rechtsverhältnisse zwischen der Bundesrepublik und den drei westlichen Alliierten Siegermächten verbindlich festschrieb15. Das Petersberger Abkommen war zwischen Bundeskanzler Adenauer und den Alliierten Hohen Kommissaren im Geheimen geschlossen worden. Die Bundesrepublik gewann mit dem Abkommen erheblich an Souveränität, weil in folgenden Punkten, wie Adenauer im Plenum ausführte, Übereinstimmung mit den Alliierten erzielt worden war: • Zukünftige Mitgliedschaft der Bundesrepublik in internationalen Organisationen; • Beitritt zur Internationalen Ruhrbehörde; • Erklärung der Bundesregierung hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Entmilitarisierung des Bundesgebietes; • Austilgung „aller Spuren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus dem deutschen Leben [. . .] und das Wiederaufleben totalitärer Bestrebungen welcher Art auch immer, zu verhindern“ 16; • Gesetzgebung auf dem Gebiet der Dekartellisierung;

14 „Niederschrift der Abmachungen zwischen den Alliierten Hohen Kommissaren und dem Deutschen Bundeskanzler auf dem Petersberg am 22. November 1949.“ Hierzu grundlegend: Lademacher, Horst: Zur Bedeutung des Petersberger Abkommens vom 22. November 1949, in: Foschepoth, Josef (Hrsg.), Kalter Krieg und Deutsche Frage. Deutschland im Widerstreit der Mächte 1945–1952, Göttingen u. Zürich 1985, S. 240–265; Lademacher, Horst/Mühlhausen, Walter (Hrsg.), Sicherheit – Kontrolle – Souveränität. Das Petersberger Abkommen vom 22. November 1949. Eine Dokumentation, Melsungen 1985. 15 Das Besatzungsstatut vom 10. April 1948 wurde am 12. Mai 1949 mit der Genehmigung des Grundgesetzes promulgiert und trat am 21. September 1949 in Kraft. Für den Wortlaut Amtsblatt der Hohen Alliierten Kommission in Deutschland, Nr. 1, 23. September 1949, S. 13–15. Abdruck in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.)/ Wolfram, Werner (Bearb.): Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Band 4: Ausschuß für das Besatzungsstatut, Boppard am Rhein 1989, S. 54–61; Feldkamp, Michael F.: Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949. Eine Dokumentation (Reclams Universal-Bibliothek, 17020), Stuttgart 1999, S. 164–168. 16 Stenographische Berichte, 1. WP 1949, 17. Plenarsitzung, S. 474.

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• Lockerung der Beschränkungen beim deutschen Schiffbau; • Verzichtleistungen auf verschiedene Reparationszahlungen; • Einstellung der Demontage in weiten Teilen; • schrittweise Wiederaufnahme von konsularischen und Handelsbeziehungen.17 Der vereinbarte Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Internationalen Ruhrbehörde18 mit Sitz und Stimme brachte den lang ersehnten Demontagestopp der deutschen Schwerindustrie mit sich, was die deutsche Wirtschaft zukünftig enorm begünstigte. Zwar war, wie Adenauer konstatierte, die herbeigesehnte Beendigung des Kriegszustandes immer noch nicht erreicht, aber mit Entschiedenheit wies Adenauer am Ende seiner Regierungserklärung zugleich darauf hin, dass „ein sehr großer Teil unserer Wünsche erfüllt worden“ war.19 II. Die Debatte um das Ruhrstatut vom 28. Dezember 1948 im Parlamentarischen Rat Mit der Diskussion um den deutschen Beitritt zur Internationalen Ruhrbehörde war kein politisches Neuland betreten worden. Bereits am 7. Januar 1949 hatte sich der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in einer eigens vereinbarten Debatte fast drei Stunden ausschließlich mit dem Ruhrstatut vom 28. Dezember 1948 befasst.20 Eigentlich war der Parlamentarische Rat einberufen worden, um das Grundgesetz zu verfassen. Doch in Ermangelung eines nationalen Parlamentes hatte der Parlamentarische Rat unter der Führung seines ambitionierten Präsidenten Konrad Adenauer zum Ärgernis der Alliierten Westmächte wiederholt auch ohne ein Mandat generelle politische Themen zum Gegenstand seiner Beratungen gemacht.21 17

Nach: Chronik 1949–1953 (wie Anm. 6), S. 35 f. Das am 28. Dezember 1948 veröffentlichte „Abkommen über eine internationale Kontrolle der Ruhr“ (sog. „Ruhrstatut“) wurde am 28. April 1949 von den Beneluxstaaten, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten unterzeichnet. Es sah die Errichtung einer „Internationalen Behörde für die Ruhr“ mit Sitz in Düsseldorf vor, die die Kontrolle der Kohlen-, Koks- und Stahlproduktion des Ruhrgebiets gewährleisten sollte. Die Bundesrepublik Deutschland trat dem Ruhrabkommen am 30. November 1949 bei. Für den Wortlaut des Ruhrstatuts: Europa-Archiv, 4, 1949, S. 2197–2204. Auszugsweise gedruckt in: Archiv der Gegenwart 1948/49, S. 1751–1754; Lademacher/ Mühlhausen: Sicherheit – Kontrolle – Souveränität (wie Anm. 14), S. 74–86. 19 Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 476. 20 Für den Wortlaut der 31. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 7. Januar 1949: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.)/Feldkamp, Michael F. (Bearb.): Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Band 14: Hauptausschuß, Teilband II, München 2009, S. 925–964. 21 Dazu einschlägig Feldkamp, Michael F.: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2008. 18

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Der Hauptausschuss war der einzige Ausschuss des Parlamentarischen Rates, der im Beisein von Pressevertretern tagte; er erhielt für seine Beratung über das Ruhrstatut breite Resonanz in der Öffentlichkeit. Dadurch dass Öffentlichkeit hergestellt war, nutzten alle Fraktionen im Parlamentarischen Rat die Gelegenheit, sich zur alliierten Besatzungspolitik in Deutschland grundlegend zu positionieren. Carlo Schmid (SPD) beklagte in der Diskussion, dass in der zu schaffenden Ruhrbehörde ein Verhältnis von drei deutschen Stimmen gegen 12 nichtdeutsche Stimmen bestünde. Bei ihm hätte sich der Eindruck verstärkt, dass die „Wiederkehr einer möglichen neuen Prosperität der deutschen Wirtschaft“ verhindert und so „eine lästige deutsche Konkurrenz auf dem Weltmarkt“ ausgeschaltet werden sollte22 Gleichzeitig rief Schmid dazu auf, ausgehend von einem veränderten Ruhrstatut und der Hoffnung, „dass dieses Statut einer anderen Ordnung Platz machen wird“ 23, eine „,europäisierte‘ europäische Wirtschaft“ zu schaffen, auf der sich auch ein politisches Europa errichten lasse24. Auch die CDU wünschte, dass das Ruhrstatut „nur eine schmerzliche Übergangslösung“ 25 sein würde. Die FDP fürchtete, dass die politische Abgrenzung des Ruhrgebietes damit entschieden sei26. Allen demokratischen Parteien war klar, dass das Ruhrstatut eine Folge des von Deutschland ausgegangenen Unheils und ein unausweichlicher Bestandteil des zukünftigen Besatzungsrechts war; und sie erkannten in der zukünftigen deutschen Mitwirkung in der Ruhrbehörde die Chance, sich aktiv an der engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Völkern Europas zu beteiligen. Nur die Kommunisten lehnten das Ruhrstatut entschieden ab. Ohne sich zwar offen für eine sowjetische Mitbeteiligung auszusprechen, beklagten die Kommunisten mit der Schaffung der Ruhrbehörde „einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Zerreißung der Einheit Deutschlands“, der aufs neue das Potsdamer Abkommen27, „das uns die wirtschaftliche und politische Einheit zusichert“, verletze28. 22 Feldkamp, Michael F.: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2008, S. 929. 23 So die Erklärung der SPD zum Ruhrstatut im Hauptausschuss am 7. Januar 1949; Feldkamp: Der Parlamentarische Rat, S. 935. 24 Ebd. S. 933. 25 Ebd. S. 942. 26 Ebd. S. 949. 27 Die Konferenz von Potsdam vom 17. Juli–2. August 1945 war die letzte von drei Gipfelkonferenzen der Regierungschefs von Großbritannien, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika zur Regelungen von grundsätzlichen Fragen einer gemeinsamen Nachkriegspolitik. Hauptpunkte des Potsdamer Abkommens dem sich Frankreich mit Vorbehalt anschloss waren: Bildung eines Rates der Außenminister Chinas, Frankreichs, Großbritanniens, der UdSSR und den USA zur Vorbereitung von Friedensverträgen; Einsetzung eines Kontrollrates für Deutschland; Entmilitarisierung Deutschlands, Beseitigung des Nationalsozialismus; Ahndung der Kriegsverbrecher;

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Die Debatte zum Ruhrstatut im Parlamentarischen Rat fand übrigens in jenen Tagen statt, in denen Konrad Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates mit Mühe ein Misstrauensvotum überstanden hatte29. Adenauer hatte Mitte Dezember 1948 die westlichen Alliierten in die Arbeit am zukünftigen Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland eingebunden und gemeinsame Beratungen angestrebt, um eine mögliche spätere Ablehnung des Grundgesetzes durch die Alliierten zu vermeiden. Doch von der SPD wurde Adenauer vorgeworfen, er habe die Alliierten als „Schiedsrichter“ gerufen, weil sich die Auffassungen der CDU/CSU zu Fragen des Föderalismus und der zukünftigen Finanzverfassung am weitgehendsten mit denen der Alliierten deckten. Carlo Schmid hatte Adenauers Taktieren als die „Politik eines Hasardeurs“ gegeißelt und von „nationalem Verrat“ gesprochen30. Der Vorwurf der Kollaboration mit den Alliierten stand seitdem im Raum; Adenauer und andere Vertreter der CDU/CSU-Fraktion wurden als „Knechte der Alliierten“ beschimpft31. Für die SPD war Adenauer damit als zukünftiger Bundeskanzler diskreditiert32. Wenige Tage nachdem auch das Ruhrstatut im Parlamentarischen Rat im Januar 1949 behandelt worden war, beschimpfte der kommunistische Abgeordnete Max Reimann in einer öffentlichen Versammlung die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auch noch als „Quislinge“. Damit verglich er den hitlerfreundlichen norwegischen Politikers Vidkun Quisling aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs mit den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates. Gleichzeitig hatte er die britische Besatzungsmacht mit dem nationalsozialistischen Verbrecherregime gleichgesetzt. Reimann hatte die Grenzen der Geschmacklosigkeit und der politischen Inkorrektheit überschritten und wurde dafür von einem britischen Militärgericht am 1. Februar 1949 zu drei Monaten Haft verurteilt. Schon an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass die Aussage „Bundeskanzler der Alliierten“ vom November 1949 eine noch kein ganzes Jahr zurückliegende Vorgeschichte im Parlamentarischen Rat hatte und derartige FormulieWiederherstellung demokratischer Freiheiten und Zulassung demokratischer Organisationen in Deutschland; Bildung zentraler Verwaltungsinstanzen; Beschränkung der deutschen Wirtschaft; Reparationen; Festsetzung der Oder-Neiße-Linie; Ausweisung von Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei. Für den Wortlaut des Schlusskommuniques (sog. Potsdamer Abkommen) vom 2. August 1945. Bundesministerium des Innern (Hrsg.)/Biewer, Gisela: Dokumente zur Deutschlandpolitik. II. Reihe/Band 1: Die Konferenz von Potsdam, Neuwied u. Frankfurt am Main 1992, S. 2101–2148. 28 Feldkamp: Hauptausschuss (wie Anm. 20), Teilband II, S. 955. 29 Hierzu Feldkamp: Der Parlamentarische Rat (wie Anm. 21), S. 131–138. 30 Feldkamp: Der Parlamentarische Rat (wie Anm. 21), S. 136. 31 Ebd. S. 137 f. 32 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.)/Feldkamp, Michael F. (Bearb.): Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Band 8: Die Beziehungen des Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen, Boppard am Rhein 1995, S. XXXIX.

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rungen längst zum Repertoire antidemokratischer und kommunistischer Agitation gegen bürgerliche Parteien und westdeutsche Regierungen gehörten. Nicht zuletzt während des Wahlkampfes zum ersten Deutschen Bundestag im Sommer 1949 übertrafen sich die Parteien gegenseitig mit Vorwürfen, Handlanger oder Erfüllungsgehilfen der westlichen Alliierten zu sein. – So gesehen war der Zwischenruf von Kurt Schumacher vom November 1949 noch nicht einmal besonders originell. In diesem Zusammenhang wirft auch die Darstellung in den Lebenserinnerungen von Carlo Schmid ein besonderes Licht auf die Diskussion um den deutschen Beitritt zur Ruhrbehörde im November 1949. Er schildert, dass sich im Laufe des Jahre 1949 die französischen Sozialisten vergeblich bemüht hatten, die deutschen Sozialdemokraten dafür zu gewinnen, „die Internationalisierung des politischen Status der Ruhr und die ,kommunitäre‘ Ausbeutung ihrer Bodenschätze und ihrer schwerindustriellen Anlagen als Vorleistung für das künftige Europa hinzunehmen“. Derartige Bemühungen waren vergebens, wie Schmid mit Befriedigung festhielt: „Gerade weil wir Sozialdemokraten waren“ – so Schmid wörtlich – „mußten wir uns mit aller Kraft jedem Versuch widersetzen, den deutschen Arbeitern die Verfügung über den letzten Reichtum ihres Landes vorzuenthalten.“ 33 Jedoch war der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Ruhrbehörde im November 1949 unausweichlich gewesen; das wusste auch Carlo Schmid, der die Ruhrbehörde fast ein Jahr zuvor, im Januar 1949, selbst als einen Schritt hin zu einem wirtschaftlich und politisch geeinigten Europa sah. III. Die Debatte um das Petersberger Abkommen im Bundestag Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte die mit Regierungsbeginn aufgenommenen Verhandlungen mit den Alliierten über das Petersberger Abkommen aus drei Gründen ohne die Einbindung des Bundestages betrieben; nicht einmal der geheim verhandelnde „Ausschuss für das Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten“ – so der eigentliche Name des umgangssprachlich nur „Auswärtiger Ausschuss“ genannten Gremiums – war informiert oder gar beteiligt worden: 1. Adenauer hatte schon am 15. November 1949 in einer Plenarsitzung den Vorsitzenden des „Ausschusses für Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten“ Carlo Schmid (SPD) bezichtigt, dass sich unter seinem Vorsitz der Ausschuss „als Auswärtiges Amt“ etabliere34. Adenauer unterstrich den eindeutigen Vorrang der Exekutive auf dem Gebiet der auswärtigen Politik und entschied sich darüber hinaus für eine restriktive Informationspolitik gegenüber dem Ausschuss, weil dort vorgetragene vertrauliche Mitteilungen entgegen bestehenden Vereinbarungen an die Presse gelangt waren35. 33 34

Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern, München u. Wien 1979, S. 418 u. 419. Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 444.

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2. Die von Adenauer angeführte Regierungskoalition war vor allem der Auffassung, dass das Petersberger Abkommen nicht in die Zuständigkeit des Bundestages fiel, und deswegen von diesem nicht beraten und auch nicht ratifiziert werden musste. Die Annahme des Petersberger Abkommens war reine Regierungsangelegenheit. Adenauer wies Jahre später in seinen Lebenserinnerungen sogar ausdrücklich darauf hin, dass auch das französische, englische sowie US-amerikanische Parlament das Abkommen nicht ratifiziert hatten36. 3. Mit den drei Westmächten wurde während der gesamten Verhandlungen größte Vertraulichkeit vereinbart: Der Wortlaut des Petersberger Abkommens sollte erst am Donnerstag, den 24. November 1949, um 17:00 Uhr Bonner Ortszeit im Bundestag verlesen werden und vor Freitagnachmittag, den 24. November, sollte Adenauer auch keine Pressekonferenz abhalten, weil zuvor am Freitagvormittag die Alliierten Hohen Kommissare selbst in Frankfurt eine Pressekonferenz hierüber anberaumt hatten.37 In seinen Lebenserinnerungen wies Adenauer darauf hin, dass auch vereinbart worden war, den Text des Abkommens am Donnerstag um 17:00 Uhr gleichzeitig in den westalliierten Hauptstädten Paris, London und Washington sowie in Bonn zu veröffentlichen.38 Adenauer resümierte später in seinen Lebenserinnerungen darüber: „Der Bundestag war ein sehr junges Parlament, und viele seiner Mitglieder bemühten sich, überall in der Exekutive etwas zu tun, wo sie nichts verloren hatten. Die Bundesregierung mußte nach unserer Überzeugung strikt darauf achten, daß Executive und Legislative getrennt blieben. [. . .] Die SPD versuchte, auf dem Wege über den Auswärtigen Ausschuß, dessen Vorsitzenden39 sie stellte, die auswärtige Politik entscheidend zu beeinflussen. Die KPD suchte durch alle möglichen Anfragen zu stören, wo sie konnte. Das war der Grund dafür, daß die Regierungskoalition, die die Mehrheit im Parlament besaß, ausdrücklich erklärte, daß das Petersberger Abkommen nicht zur Zuständigkeit des Bundestages gehörte und auch nicht dem Bundestag zum Beschluß unterbreitet werden sollte.“ 40 35 Hölscher, Wolfgang: Einleitung, in: Hölscher, Wolfgang (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1949–1953, Band 1/1: Oktober 1949 bis Mai 1952 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien IV. Reihe, 13/I), Düsseldorf 1998, S. LXXXI, 22 u. 28 f. 36 Adenauer, Konrad: Erinnerungen 1945–1953, Stuttgart 1965, S. 285. 37 Foreign Relations of the United States 1949, Band III: Council of Foreign Ministers; Germany and Austria, Washington 1974, S. 350. 38 Adenauer: Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 285. 39 Vorsitzender des „Ausschusses für Besatzungsstatut und auswärtige Angelegenheiten“ war Carlo Schmid. 40 Adenauer: Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 284 f. Zur Entscheidung der Regierung auch Kabinettsitzung vom 23. November 1949; Booms, Hans/Enders, Ulrich/Reiser, Konrad (Hrsg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 1: 1949, Boppard am Rhein 1982, S. 219.

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IV. Die Plenarsitzung am 24./25. November 1949 Nach diesem parteitaktischen Streit über die Frage der Beteiligung des Bundestages fiel die Kritik der SPD, der größten Oppositionspartei im Bundestag, an Adenauer entsprechend heftig aus, als dieser am 24. November 1949 ab 17:11 Uhr41 in seiner Regierungserklärung das Petersberger Abkommen ausführlich läuterte und schließlich als großen Erfolg seiner Regierung pries. Um 17:56 Uhr wurde aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung die Sitzung unterbrochen; die Fraktionen sollten Gelegenheit erhalten, sich intern abzustimmen, um dann im Plenum auf die Regierungserklärung antworten zu können. Um 20:43 Uhr begann die Aussprache. Adolf Arndt (SPD) warf Adenauer vor, den Bundestag ausgeschaltet zu haben und bemühte sogar einen Vergleich mit der NS-Zeit – was damals recht häufig geschah und nicht jene Reflexe hervorrief wie heutzutage –, indem er behauptete: „Die Bundesregierung nimmt also ihre Zuflucht zum Besatzungsrecht und behandelt das Besatzungsrecht als eine Art Ermächtigungsgesetz ohne Ermächtigung“ 42. Im Übrigen wies der promovierte Jurist Arndt unter Berufung auf ein Gutachten43 des Justizministers Thomas Dehler (FDP) vom 21. November 194944 auf zahlreiche Unzulänglichkeiten des Petersberger Abkommens hin. Arndt prangerte Übersetzungsfehler an und stellte die juristische Merkwürdigkeit fest, dass die Bundesrepublik als Mitglied der Ruhrbehörde an den späteren möglichen Änderungen des Ruhrstatuts nicht mitwirken dürfte45. Besonders lebhaft wurde die Debatte, als Arndt der Europapolitik der Alliierten die Tendenz unterstellte, „ein autoritatives Regime Adenauer eher zu stützen, als es durch ein demokratisches Regime ablösen zu lassen“. Und so sah er die junge Bundesrepublik statt auf dem Wege zu einer parlamentarischen Demokratie „auf dem Weg zu einer Monarchie ohne Konstitution“ 46. Danach sprach Justizminister Dehler, der empört fragte, wie die SPD an sein Gutachten gekommen war, und unterstellte, dass es wohl „gestohlen“ worden sei. Auch verwahrte er sich gegen den Vorwurf, Adenauer habe in einem „autoritären Handstreich“ 47 das Parlament ausgeschaltet. Dehler stellt danach das Ruhrstatut in den Kontext des Besatzungsrechts und betonte: „Der Beitritt hat in keiner 41 CDU/CSU-Fraktion, Sitzungsprotokolle 1949–1953 (wie Anm. 10), S. 104, Anm. 6. 42 Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 477. 43 Ebd. S. 481, zitiert Dehler: „Er [Arndt] operiert mit einem Gutachten von mir.“ Auch ebd. S. 485. 44 Für den Wortlaut des „Gutachten über die Frage, ob der Beitritt zum Ruhrstatut der in Art. 59 des Grundgesetzes vorgesehenen Gesetzesform bedarf“ Lademacher/ Mühlhausen: Sicherheit – Kontrolle – Souveränität (wie Anm. 14), S. 459–462. 45 Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 479. 46 Ebd. S. 480. 47 So Dehler ebd. S. 481. Auch Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 285.

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Weise Vertragscharakter. Es ist vielmehr ein ganz abweichendes Rechtsgebilde, ein Rechtsgebilde der einseitigen Wahrnehmung einer Rechtsmöglichkeit innerhalb einer einseitig durch Besatzungsrecht geschaffenen Reglung.“ 48 In diesen Rahmen sollte sich die Bundesregierung selbstverständlich entsprechend einbringen. Um die Demontagepolitik der Alliierten in Deutschland anzuprangern, hatte Fritz Baade (SPD) führende ausländische Stimmen zitiert, darunter den jüdischbritischen Verleger Victor Gollancz, den ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover und die American Federation of Labor. Nach Baades Meinung hatte Adenauer mit seinem viel zu früh erfolgten Beitritt zur Ruhrbehörde sich nun an dieser unglücklichen Politik beteiligt. Die bestehe auch daraus, dass der Stopp der Demontage mit dem „bedingungslosen Beitritt“ zur Ruhrbehörde „erkauft“ worden sei49. Die Ruhrbehörde selbst bezeichnete Baade „als ein Institut zur kalten Demontage“ 50. Für die CDU/CSU-Fraktion sprach danach der begnadete Rhetoriker Kurt Georg Kiesinger. Statt sich in juristischen und völkerrechtlichen Details zu verlieren, kündigte er mit dem Petersberger Abkommen „eine neue Epoche der Beziehungen des Deutschen Volkes zur Welt“ 51 an. Baade hielt er entgegen, dass es bei den von ihm zitierten ausländischen Stimmen um Einzelmeinungen handele, die sich offenbar auch nicht hätten durchsetzen können. Auf Zwischenrufe „von Links“, dass es sich bei dem Petersberger Abkommen und ein „Ermächtigungsgesetz“ handele52, erwiderte Kiesinger, dass davon nicht die Rede sein könne, denn sonst hätte es nicht einmal diese offene Plenardebatte geben können. Er pries die Politik Adenauers mit der Bemerkung, „dass hier in der Tat eine bedeutende politische Persönlichkeit sich nun auf deutscher Seite endlich in das weltpolitische Gespräch mit unserer Unterstützung eingeschaltet hat“ 53. Josef Gockeln (CDU) beschrieb hoffnungsvoll die Entwicklungen, die sich mit dem Petersberger Abkommen für den Arbeiter im Ruhrgebiet ergeben werden. Der Abgeordnete Hermann Schäfer (FDP) redete schließlich beschwichtigend auf die Parlamentarier ein und unterschied zwischen einer „autoritären Regierungsweise“, wie sie Adenauer vorgeworfen worden war, und einer funktionierenden „Leistungsdemokratie“, die darin bestehe, „Vertrauenspersonen zu beauftragen, etwas Positives zu beginnen“ 54.

48 49 50 51 52 53 54

Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 484. Ebd. S. 485. Ebd. S. 490. Ebd. S. 491. Ebd. S. 494. Ebd. S. 496. Ebd. S. 498.

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Danach sprach Bundeskanzler Adenauer erneut und überraschte insbesondere die Abgeordneten der SPD mit einem Telegramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), in dem dieser das Petersberger Abkommen als „nicht in allen Teilen“ befriedigend würdigte, aber die deutsche Mitarbeit in der Ruhrbehörde für „richtig“ hielt55. Die Bestürzung war geradezu überwältigend, weil der DGBVorsitzende Hans Böckler noch bis zuletzt seine sachlichen Bedenken gegen „gewisse“ Bestimmungen des Ruhrstatuts vorgebracht hatte56. Mit der neuen Stellungnahme des DGB löste Adenauer eine tumultartige Unruhe aus, denn der SPD-Fraktionsvorsitzende Kurt Schumacher bezweifelte die Echtheit des Textes; er wollte nicht wahrhaben, dass sich der Gewerkschaftsbund so deutlich von der Position der SPD-Fraktion entfernt hatte bzw. der SPD faktisch in den Rücken gefallen war. Wörtlich rief Schumacher: „Nein, die Meldung [. . .] ist objektiv und subjektiv unwahr!“ 57 Der KPD-Abgeordnete Walter Fisch hatte in seiner Rede das Abkommen als „klares Diktat“ der Alliierten gegeißelt, das den „Ausverkauf der deutschen Industrie“ mit sich bringe. Dafür, dass von Moskau erst jüngst der DDR „Souveränitätsrechte eingeräumt worden“ seien, hätten die Westalliierten Adenauer „als scheinbar Gleichberechtigten seine Unterschrift neben die Unterschrift der alliierten Kommissare setzen“ lassen. Der Vertrag wurde von Fisch als Verfassungsbruch angeprangert58 und war für den Kommunisten die „Gegenleistung“ „zur Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands“ und damit eine „Preisgabe wesentlicher deutscher Interessen“ 59. Bereits während der Rede des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer wuchs die Unruhe im Raum. Wiederholt forderte Bundestagspräsident Erich Köhler (CDU/CSU) die Abgeordneten auf oder ihre Sitzplätze einzunehmen und Ruhe zu bewahren, was wiederum hämisch kommentiert wurde. Ollenhauer versuchte, die von Adenauer vorgelesene Erklärung des DGB kleinzureden und als eine unbedeutende Privatmeinung darzustellen. Auch behauptete er, dass Adenauer die Pressemeldung falsch wiedergegeben habe.60 Schließlich bekräftigte Ollenhauer, dass er für das Parlament keine Möglichkeit sehe, das Petersberger Abkommen zu billigen.61

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Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 16), S. 501. Dazu das Schreiben von Hans Böckler an Bundeskanzler Adenauer vom 21. November 1949 und die Stellungnahme des DGB vom 21. November 1949; abgedruckt bei Lademacher/Mühlhausen: Sicherheit – Kontrolle – Souveränität (wie Anm. 14), S. 454–459. 57 Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 502. 58 Ebd. S. 506 f. 59 Ebd. S. 509. 60 Ebd. S. 523. 61 Ebd. S. 524. 56

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Entgegen der Behauptung von Ollenhauer und Schumacher hatte Adenauer aber sehr wohl die Meldung des DGB korrekt verlesen.62 Was aber auch Adenauer zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war die Tatsache, dass die Erklärung des geschäftsführenden DGB-Vorstands erst am 19. Dezember 1949 nachträglich vom Gesamtvorstand des DGB gebilligt werden sollte.63 Adenauer erhielt im Anschluss an Ollenhauers Rede erneut das Wort, um sich zu verteidigen. Er stellte heraus, dass der Bundestag über die Ruhrbehörde gar nicht zu entscheiden habe, da es diese längst gebe; vielmehr stelle sich heute lediglich die Frage: Ist die Opposition „bereit, einen Vertreter in die Ruhrbehörde zu schicken, oder nicht? Und wenn sie erklärt: nein, – dann weiß sie auf Grund der Erklärungen, die mir der General Robertson abgegeben hat, daß die Demontage bis zu Ende durchgeführt wird.“ Nach diesen Worten entstand jener Tumult und stürmische Protest, der den Präsidenten Köhler zwang, mit der „Glocke des Präsidenten“ für Ruhe zu sorgen, und in deren Verlauf Schumacher den Zwischenruf äußerte: „Der Bundeskanzler der Alliierten!“ Fried Wesemann berichtete 1952 in seiner Schumacher-Biographie über den Zwischenruf selbst: „Dieser dem vorher von Sozialdemokraten gemachten Zwischenrufen folgende Satz fiel in eine sekundenlange Stille mit einer verhältnismäßig leisen Stimme, die wie ein Echo zu dem Chor der Zwischenrufer klang. Nun setzte ein unbeschreiblicher Lärm ein“ 64. Journalisten berichteten in den nächsten Tagen, was im stenographischen Bericht nur angedeutet werden kann, dass sich nämlich bei den „Regierungsparteien und weiter rechts“ stürmische Protestrufe erhoben hatten: „Der Lärm der von den Abgeordneten auf- und niedergeschlagenen Pultdeckel mischte sich mit der Glocke des Präsidenten und Pfui-Rufen. Abgeordnete der SPD und CDU hatten sich von ihren Sitzen erhoben und standen sich drohend gegenüber.“ 65 Köhler rief Schumacher nach dem Zwischenruf zur Ordnung und forderte den Bundeskanzler zunächst auf, mit seiner Rede fortzufahren. Doch der Lärm hatte ein Ausmaß erreicht, dass die Fortsetzung der Sitzung undenkbar wurde. Ollenhauer schrie dazwischen, dass Adenauer den Oppositionsführer Schumacher „herausgefordert“ habe. Nun unterbrach Präsident Köhler die Sitzung am Freitag um 3:21 Uhr und berief – wie von Fritz Oellers (FDP) in einem Zwischenruf unmittelbar zuvor gefordert – den Ältestenrat ein. 62 Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 16), S. 524. Auch: Lademacher/ Mühlhausen: Sicherheit – Kontrolle – Souveränität (wie Anm. 14), S. 472. 63 Stenographische Berichte, 1. WP 1949 (wie Anm. 15), S. 514–516. 64 Wesemann, Fried: Kurt Schumacher. Bildnis eines politischen Menschen, Frankfurt am Main 1952, S. 188. 65 „Dr. Schumacher für zwanzig Sitzungstage aus dem Bundestag ausgeschlossen“, in: Frankfurter Rundschau, 26. November 1949.

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V. Die Verhandlungen im Ältestenrat und den Fraktionen am 25. November 1949 Nur wenige Minuten nach Unterbrechung der Plenarsitzung trat um 3:30 Uhr der Ältestenrat zusammen66. An der Sitzung nahmen auch Bundeskanzler Konrad Adenauer und die CDU-Bundesminister Jakob Kaiser und Gustav Heinemann teil. Das ist in höchstem Maße ungewöhnlich und möglicherweise nur den besonderen Umständen geschuldet. Es verwundert in der Rückschau aber umso mehr, weil gerade Adenauer auf die Trennung von Legislative und Exekutive so großen Wert legte. Hinzu kam, dass Gustav Heinemann in dieser Wahlperiode nicht einmal Mitglied des Deutschen Bundestages war. – Da kein Wortprotokoll erhalten ist, ist auch nicht festzustellen, ob sich der Bundeskanzler oder einer seiner Minister in die Diskussion eingeschaltet hat, oder ob alle nur als stille Zuhörer anwesend waren, was aber ohnehin völlig ungewöhnlich war und heute nahezu undenkbar. Gleich zu Beginn der Ältestenratssitzung beantragte der Abgeordnete August Euler (FDP), Schumacher für seinen Zwischenruf gemäß § 91 der „vorläufigen Geschäftsordnung“ 67 für 30 Sitzungstage von den Verhandlungen des Bundestages auszuschließen. Präsident Köhler hatte inzwischen dafür gesorgt, dass der Stenographische Dienst die betreffenden Passagen mit dem Zwischenruf zur Verfügung stellte, und ließ den vervielfältigten Text an die Mitglieder des Ältestenrates verteilen. Nachdem es auch nach einstündiger Beratung nicht gelang, Einigkeit in der Sache zu erzielen, schlug Präsident Köhler vor, die Sitzung des Ältestenrates für eine Stunde zu unterbrechen, um Gelegenheit zu informellen Beratungen zu geben. In der nun folgenden Stunde, in der der Ältestenrat seine Sitzung unterbrochen hatte, beobachtete Peter Kindler das dramatische Treiben bei der SPD-Fraktion im Bundestag und berichtete wenige Tage später im „Münchner Merkur“ 68:

66 Sitzung des Ältestenrates vom 25. November 1949, in: Deutscher Bundestag, Parlamentsarchiv, Protokolle des Ältestenrates, 1. Wahlperiode. 67 § 91 der vorläufigen Geschäftsordnung des Bundestages vom 20. September 1949 bestimmte: „[1] Wegen gröblicher Verletzung der Ordnung kann der Präsident ein Mitglied bis zu dreißig Sitzungstagen von der Teilnahme an den Verhandlungen ausschließen. [. . . 2] Das Mitglied hat den Sitzungssaal sofort zu verlassen. Tut es das trotz der Aufforderung des Präsidenten nicht, so wird die Sitzung unterbrochen oder aufgehoben, und das Mitglied zeiht sich dadurch ohne weiteres den Ausschluß von weiteren dreißig Sitzungstagen mit den in Abs. 1. bezeichneten Folgen zu. [3] Der Präsident stellt diese Folgen bei Wiedereröffnung der Sitzung oder bei Beginn der nächsten fest. [4] Das Mitglied darf während der Dauer der Ausschließung auch an den Ausschusssitzungen nicht teilnehmen.“ Sänger, Fritz (Hrsg.): Die Volksvertretung. Handbuch des Deutschen Bundestags, Stuttgart 1949, S. 92. 68 Hier zitiert nach: Frankfurter Allgemeine, 9. Dezember 1949.

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„In den frühen Morgenstunden des 25. November saß im Fraktionszimmer der Sozialdemokratischen Partei im Bonner Bundeshaus ein Mann ganz allein und starrte zur Decke. Ringsum standen Gruppen von Abgeordneten, eifrig gestikulierend oder mit betrübt hängenden Köpfen untereinander tuschelnd. Aber keiner von ihnen ging zu dem einsamen Manne hin, der mit einem verfallenen, übernächtigten und nervös zuckenden Gesicht dumpf vor sich hinbrütete. Es war, als ob eine unsichtbare Mauer der Isolierung um ihn herum errichtet wäre, die niemand zu überschreiten wagte. Dieser Mann war Dr. Kurt Schumacher, Präsident und bis dahin unbestrittener (wenn auch nicht unumstrittener) Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Chef der Opposition im Bundestag, Kriegskrüppel und 10 Jahre lang Hitlers Konzentrationslager-Häftling, Deutschlands scharfzüngigster und gefürchtetster Debatter und einer der mächtigsten Männer der deutschen Politik. Niemand wußte in diesem Augenblick, wie lange er das noch sein würde. Denn er hatte soeben, weniger als eine Stunde zuvor, vier Worte gesprochen, die die neue Deutsche Bundesrepublik in ihre erste große Krise zu stürzen drohten: ,Der Bundeskanzler der Alliierten!‘ hatte er seinem alten Gegner Konrad Adenauer zugerufen, als er sich von diesem in der Debatte über das deutsch-alliierte Protokoll vom Petersberg erbarmungslos in die Enge getrieben sah, und diesem Zwischenruf war auf der rechten Seite des Hauses ein wilder Aufruhr, auf der linken ein lähmendes Entsetzen gefolgt. Man war von dem Mann mit den scharfen, vom Leiden geprägten Zügen, der in der ersten Reihe der Abgeordneten saß, vieles gewöhnt. In diesem Moment aber war er auch nach der Meinung seiner besten Freunde zu weit gegangen – so weit, daß er über seine eigenen Worte zu straucheln schien. Als er nach der Aufhebung der Sitzung den Saal verließ, wie immer auf die Schulter eines Kollegen gestützt, sah der Vierundfünfzigjährige aus wie ein Greis. Und nun saß er da, allein, düster in Gedanken versunken, mitten unter seinen Parteifreunden und doch von ihnen getrennt durch die dünne Eisschicht der allgemeinen Mißbilligung.“

Der SPD-Abgeordnete Erik Nölting beobachtete ebenfalls die Niedergeschlagenheit seiner ganzen Fraktion und deren „Empörung über die Unbeherrschtheit Schumachers“ 69. Der Generalsekretär des wenige Wochen zuvor aufgelösten Länderrats des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Heinrich Troeger (SPD) schrieb am 26. November 1949 in seinem Tagebuch von der großen Empörung in der SPD-Fraktion über „Schumachers Entgleisung“ 70. Für die „Süddeutsche Zeitung“ fasste Günter Scholz seine Beobachtungen während der unterbrochenen Parlamentssitzung zusammen71. Demzufolge wechselte die Stimmung offenbar zwischen Verärgerung und Galgenhumor: Ein Journalist habe in der Nacht beobachtet, wie der „ehemalige Reichsstudentenführer“ Gerhard Krüger und der niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Kopf (SPD), 69 Aus dem Tagebuch von Nölting, zitiert nach: SPD-Fraktion, Sitzungsprotokolle (wie Anm. 10), S. 57. 70 Ebd. auch: Benz, Wolfgang/Goschler, Constantin (Hrsg.): Heinrich Troeger. Interregnum. Tagebuch des Generalsekretärs des Länderrates der Bizone, München 1985, S. 143. 71 Der folgende Absatz nach Scholz, Günter: „Die dramatische Nachtsitzung des Bundestages“, in: Süddeutsche Zeitung, 26./27. November 1949.

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mit den Abgeordneten Fritz Dorls (DRP) und Heinrich Leuchtgens (DRP) in bereits „angeregter Stimmung“ ins Abgeordnetenrestaurant gezogen seien. – Bundesminister Fritz Schäffer (CSU) hatte den FDP-Abgeordneten und Schriftführer Walter Zawadil gebeten, „auf seine Verantwortung hin“ den Klingelknopf zu drücken, der sonst betätigt wird, um die Plenarsitzung einzuberufen. – Auf den Fluren sprach man davon, dass die Verhandlungen im Ältestenrat sich offenbar schwierig gestalten würden. Klagen wurden laut, dass man als Abgeordneter noch nie „so früh“ im Bundestag gewesen sei. Es wurde der Vorschlag unterbreitet, den Mitgliedern des Ältestenrates für 30 Tage die Diäten zu sperren. – Inzwischen hatte der Abgeordnete Loritz (WAV) die Ältestenratssitzung verlassen und wutgeladen gerufen: „Hier hat mal eine blinde Henne einen guten Antrag gestellt“. Das bezog er auf sich, weil er vorgeschlagen hatte, sich auf den nächsten Tag, wenn alle ausgeschlafen sind zu vertagen. Die Abgeordnete Margot Kalinke (DP) machte sich über Loritz lustig und bemerkte: „Loritz hat seine große Stunde. Er rettet die Demokratie“. Worauf Loritz in bayerischer Mundart konterte: „Nehmt mir’s net übel, ich geh’ jetzt spazieren, und außerdem hätten’s den Genuß von Alkohol bei solchen Gelegenheiten verbieten sollen.“ Um 5:30 Uhr trat der Ältestenrat erneut zusammen und beschloss, die unterbrochene Plenarsitzung unter allen Umständen um 6:00 Uhr fortzusetzen. Trotzdem trat nach Ende der Ältestenratssitzung die SPD-Fraktion um 5:45 Uhr zusammen und entschied gleich zu Beginn, an den Beratungen der unterbrochenen Plenarsitzung nicht mehr weiter teilzunehmen72. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ollenhauer berichtete der Fraktion über die Ergebnisse der Verhandlungen im Ältestenrat. Schnell war sich die SPD-Fraktion einig, dass sie „Schumacher auf alle Fälle decken müsse“. Strittig diskutiert wurde die Frage, ob die SPD demonstrativ zu dem Zwischenruf Schumachers stehen oder aber eine „offene Staatskrise“ vermieden werden sollte. Insbesondere Schumacher drängte auf ein einheitliches und geschlossenes Vorgehen der Fraktion und bat, seine „Äußerung“ im Plenum „nur“ im Kontext der „Adenauer-Provokation“ zu sehen. Einig waren sich die Teilnehmer darin, offensiv die Sache anzugehen und zu diesem Zweck umgehend zu einer Pressekonferenz einzuladen. VI. Fortsetzung der unterbrochenen 18. Plenarsitzung Noch während die SPD-Fraktion tagte, wurde die unterbrochene Plenarsitzung um 6:11 Uhr wieder fortgesetzt. Präsident Köhler gab im Plenum bekannt, dass „wiederholte Versuche gemacht“ worden waren, Schumacher zur Zurücknahme dieser „schweren Beleidigung“ zu bewegen. Ferner teilte Köhler mit, dass Adenauer, wenn eine Entschuldigung erfolge, im Laufe dieses Tages gern bereit 72 Protokoll der SPD-Fraktionssitzung vom 25. November 1949, in: SPD-Fraktion (wie Anm. 10), S. 57 f.

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ist, sich mit Herrn Dr. Schumacher „zu unterhalten“ 73; deutlicher konnte Köhler die Weigerung Schumachers, sich bei Adenauer zu entschuldigen, nicht benennen. Die Mitglieder der SPD-Fraktion waren, wie in der Fraktionssitzung beschlossen, nicht zu der wiedereröffneten Plenarsitzung erschienen, sondern tagten hinter verschlossenen Türen weiter, was ein zusätzlicher Affront gegen das Parlament war. Schumacher wurde somit in Abwesenheit „wegen gröblicher Verletzung der Ordnung für die Zeit von 20 Sitzungstagen von der Teilnahme an den Verhandlungen des Bundestags“ ausgeschlossen. Danach gab namens der CDU/CSU-Fraktion Paul Bausch eine kurze Erklärung ab, die mit der klaren Loyalitätsbekundung schloss. „Wir haben das Bedürfnis, dem Kanzler vor diesem Hohen Hause zu sagen, daß wir ihm auf diesem Wege folgen und daß nach unserer Überzeugung nicht kleine, sondern weite Teile des deutschen Volkes begriffen haben, daß es um Leben, Freiheit und Zukunft unseres Volkes geht“. Etwas lakonisch schrieb Paul Weymer in der autorisierten Adenauer-Biographie zusammenfassend: „Unter dem Eindruck dieses bösen Rückschlages, den das junge Parlament in der Unheilsnacht erlitten hat, und der nicht minder unheilvollen Zuspitzung des sachlichen und persönlichen Gegensatzes zwischen Adenauer und Schumacher löste sich die Sitzung recht formlos auf.“ 74 Wenige Tage nach der Sitzung hatte Adenauer übrigens die Gelegenheit genutzt, sich bei Paul Bausch für sein Engagement zu bedanken. Als Bausch ihm auch im Namen der Fraktion zum Namenstag gratuliert, bemerkte der Bundeskanzler in seinem Antwortschreiben, „daß die schweren Stunden der letzten Tage und Nächte uns auch noch menschlich näher gebracht haben als bisher“ 75. Schließlich endete die 18. Plenarsitzung noch mit einem weiteren Eklat. Ein Missbilligungsantrag der KPD gegen Bundeskanzler Adenauer sollte zunächst nicht behandelt werden. Darauf hin zog die KPD-Fraktion geschlossen aus. Als Bundestagspräsident Köhler diesen Antrag dann schließlich doch zur Abstimmung brachte, wurden dieser und ein weiterer Antrag der KPD einstimmig abgelehnt.76

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Wie Anm. 5, S. 525. Weymar, Paul: Konrad Adenauer. Die autorisierte Biographie, München 1955, S. 486. 75 Adenauer an Bausch am 26. November 1949, in: Mensing, Hans Peter (Bearb.): Konrad Adenauer, Briefe 1949–1951, Rhöndorfer Ausgabe, Berlin 1985, S. 139. 76 Stenografische Berichte (wie Anm. 5), S. 526, sowie Protokoll der Sitzung des Ältestenrates vom 25. November 1949 (wie Anm. 66). 74

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VII. Pressekonferenz der SPD am 25. November 1949 Der Journalist Peter Kindler schrieb wenige Tage später im „Münchner Merkur“ 77 einfühlsam von den „übernächtigten und mit dem Schlaf kämpfenden Bundeshaus-Journalisten“ die zu der improvisierten Pressekonferenz der SPD gerufen worden waren. Ein Protokoll der Pressekonferenz, die für ca. 7:00 Uhr einberufen worden war, ist nicht bekannt. Immerhin war sich die SPD-Fraktion von vornherein einig, dass auf dieser Pressekonferenz vor allem drei Dinge vermittelt werden müssten: 1. Die Äußerung Schumachers können nur im Zusammenhang mit Adenauers Erklärung gesehen werden; 2. Schumacher sei immer zu einer Verständigung mit Adenauer bereit gewesen; 3. Mit der überzogenen Reaktion des Bundestagspräsidenten und der CDU/CSU sei von Anfang an „nicht nur eine Diffamierung Schumachers, sondern der ganzen Fraktion beabsichtigt“ gewesen78. In der Pressekonferenz hatte zunächst der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Erich Ollenhauer darauf hingewiesen, dass Adenauer eine persönliche Aussprache abgelehnt und stattdessen auf eine formelle Entschuldigung im Plenum des Bundestages bestanden habe. Adenauer habe in seiner Plenarrede die SPD als „Demontage-Partei“ abgestempelt und somit den Konflikt überhaupt erst provoziert. Das „brutale Vorgehen der Mehrheit im Bundestag“ habe die innere Geschlossenheit der SPD-Fraktion nur gestärkt79. Schließlich habe Bundestagspräsident Köhler die unterbrochene Plenarsitzung wieder einberufen, obwohl die SPD-Fraktion noch getagt habe. An dieser Stelle sprang dann Carlo Schmid, der ja immerhin Bundestagsvizepräsident war, seinem Parteifreund Ollenhauer bei und beklagte, dass Köhler darüber hinaus die Geschäftsordnung verletzt habe, wenn er Schumacher erst einen Ordnungsruf erteilt und später zusätzlich den Sitzungsausschluss verfügt habe.80 Danach sprach Schumacher selbst und erklärte: Die Beleidigungen seien „Zug um Zug entstanden“, und er sei nur gewillt, sie in dieser Reihenfolge auch zu erledigen. Mit anderen Worten: Nach Schumachers Auffassung sollte sich Adenauer als erster entschuldigen, dann würde auch er sich für seinen Zwischenruf entschuldigen. Schumacher war ferner der Meinung, dass sein Zwischenruf nicht erfolgt wäre, wenn Köhler die SPD vorher gegen die Verunglimpfungen durch Adenauer 77

Hier zitiert nach: Frankfurter Allgemeine, 9. Dezember 1949. Dazu das Protokoll der SPD-Fraktionssitzung vom 25. November 1949, in: SPDFraktion (wie Anm. 10), S. 57 f. 79 „Demonstration für Dr. Schumacher. Protestwellen gegen die Willkürherrschaft der Bundestagsmehrheit“, in: Neuer Vorwärts, 3. Dezember 1949. 80 „Zuerst von Adenauer beleidigt“, in: Frankfurter Allgemeine, 26. November 1949. 78

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„geschützt hätte“. Denn – so Schumacher fast wörtlich – für die Sozialdemokraten „gebe es keine schlimmere Diffamierung als die Unterstellung, daß sie die Interessen der arbeitenden Menschen nicht mit aller Leidenschaft vertreten“ 81. Gegen die „Unzulänglichkeiten des Präsidenten“, so Schumacher weiter, „könne er sich eine parlamentarische Einheitsfront aller Deutschen vorstellen“. Ironisch fügte Schumacher an, dass die Position des Präsidenten stärker werde, „denn wo findet man seinesgleichen?“ Abschließend führte Schumacher aus: „Die Weiterarbeit im Parlament sei im jetzigen Stadium sehr gefährdet. Die Vermutung der Sozialdemokraten, daß es zu einer Kette von Verfassungskrisen kommen könne, scheine sich zu bewahrheiten. Verfassungskämpfe müssten aber ausgetragen werden, wenn nicht auf beiden Seiten der Wille zum Kompromiß bestehe“ 82. Aufgrund von Presseveröffentlichungen kann auf weitere Inhalte geschlossen werden. So hatte der SPD-Fraktionsvorstand in der Pressekonferenz mitgeteilt, gegen die Erklärung des Bundeskanzlers und gegen Adenauers Unterschrift unter das deutsch-alliierte Protokoll beim noch zu schaffenden Bundesverfassungsgericht schriftlich Klage zu erheben83. Auch hatte die SPD in ihrem Informationsdienst SOPADE entschieden das Vorgehen des Parlamentspräsidenten Köhler kritisiert und erneut bekräftigt, dass der Zwischenruf „mit den schwerwiegenden Beschimpfungen der Sozialdemokratie durch Bundeskanzler Adenauer ein zusammenhängendes Ganzes“ bilde84. Ausweislich des Kurzprotokolls der SPD-Fraktionssitzung muss sich auf der Pressekonferenz offenbar der Abgeordnete Heinrich Georg Ritzel fehlverhalten haben. Im Fraktionsprotokoll wurde nebulös festgehalten: „Ollenhauer spricht über das Verhalten Ritzels während der Pressekonferenz.“ 85 Welcher Gestalt das „Verhalten Ritzels“ war, konnte nicht ermittelt werden. Allerdings hatte er als einer der ganz wenigen SPD-Abgeordneten wenige Tage später öffentlich in der „Marburger Presse“ vom 30. November 1949 die Formulierung gewagt, dass Schumacher „das Ansehen des deutschen Parlaments und der deutschen Demokratie in einer tief bedauerlichen Weise geschädigt“ habe86. So ist auch zu erklä81 Zitiert nach: „Für zwanzig Tage ausgeschlossen“, in: Hannoversche Presse, 26. November 1949. 82 „Für zwanzig Tage ausgeschlossen“ (wie Anm. 81). 83 So u. a.: „Schriftliche Klage“, in: Frankfurter Allgemeine, 26. November 1949; „SPD: Ausschluß Schumachers. Bruch der Geschäftsordnung“, in: Frankfurter Rundschau vom 26. November. 84 Für den Wortlaut der Presseerklärung der SPD: Fraktionsitzung der SPD vom 25. November 1949, in: SPD-Fraktion (wie Anm. 10), S. 57 f. 85 Protokoll der SPD-Fraktionssitzung vom 25. November 1949 (vormittags), in: SPD-Fraktion (wie Anm. 10), S. 59 f. 86 Dazu den Beleg in: SPD-Fraktion (wie Anm. 10), S. 59, Anm. 1.

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ren, dass Ritzel sein „Verhalten“ damit entschuldigte, „dass kein Beschluß auf Solidarität vorgelegen habe“ 87. In seinem Kommentarbeitrag im „Nordwestdeutschen Rundfunk“ (NWDR) warb am 25. November 1949 der Journalist Walter Steigner88 „um Verständnis für die Heftigkeit des Konfliktes“ – ganz so wie es in der SPD-Fraktionssitzung zu Ausdruck gebracht worden war. Steigner forderte dazu auf, „ein wenig im Geschichtsbuch“ zurückzublättern. Der Fraktionsvorstand hatte demnach offenbar in der Pressekonferenz an den Bundestagswahlkampf erinnert, in dem die Sozialdemokratie die CDU als „lediglich und ausschließlich eine Partei der Besitzbürger“ diskreditierte, die „nur darauf bedacht [sei], eine Diktatur des Kapitals zu erreichten“ und „das werktätige Volk zu versklaven“. Umgekehrt hätte die CDU die Sozialdemokratie der Einführung der „Zwangswirtschaft“ bezichtigt, die „durch eine rücksichtslose Sozialisierung jede Initiative zu zerstören [suche] und die deutsche Wirtschaft zu ruinieren“ beabsichtige. Adenauer und Schumacher hätten „kaum eine Gelegenheit ausgelassen, sich gegenseitig etwas vorzuwerfen. So habe Adenauer schon im Jahre 1947 Schumacher als „Lakai der Engländer“ bezeichnet. „Niemand“ – so Steigner weiter – „wird bestreiten wollen, dass die vier Worte des Zwischenrufes eine Beleidigung Adenauers, vor allem aber eine Beleidigung des Bundeskanzlers“ waren89. Möglichweise hatte Steigner hier Informationen publiziert, die auf der Pressekonferenz in Erinnerung gerufen worden waren. Im „Münchner Merkur“ schrieb Peter Kindler von der Pressekonferenz90 dass Schumacher, der drei Stunden zuvor noch den Eindruck erweckt hatte, dass die Partei ihn im Stich lassen würde, nun „wieder der Alte“ war: „scharf, manchmal schroff in den präzis wie mit dem Messer geschnittenen Formulierungen, immer kaustisch und öfters gallig, ein gewandter Fechter im Hin und Her der Fragen, auftrumpfend, selbstbewußt und seiner Sache anscheinend völlig sicher.“ „Seine Partei“, „die einen Augenblick lang den Bannkreis der Isolierung um ihn gelegt hatte“, stand wieder geschlossen hinter ihm. Die Sozialdemokraten hatten es geschafft, sich auf der Pressekonferenz nach außen hin hinter Schumacher zustellen. Doch im Innern der Fraktion brodelte es. Die Unzufriedenheit über Schumacher innerhalb der Fraktion war unübersehbar. Wie der Generalsekretär des wenige Wochen zuvor aufgelösten Länderrats des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Heinrich Troeger am 26. November 1949 in seinem Tagebuch notierte, feixte so mancher SPD-Abgeordnete: „Leider kann Schu-

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Protokoll der SPD-Fraktionssitzung vom 25. November 1949 (wie Anm. 85). Nach: Informationsdienst – Inland Nr. 63 vom 26. November 1949, vervielfältigte Umdrucksache des Bundespresseamtes. 89 Informationsdienst (wie Anm. 88). 90 Hier zitiert nach: Frankfurter Allgemeine, 9. Dezember 1949. 88

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macher nicht dauernd aus dem Bundestag ausgeschlossen werden – so dumm würde die CDU auch nicht sein“ 91. VIII. Pressekonferenz der Alliierten Hohen Kommissare am 25. November 1949 Am Freitag, den 25. November 1949, um 11:00 Uhr, hatten die Alliierten Hohen Kommissare unabhängig von den Vorfällen im Bundestag ihre angekündigte Pressekonferenz abgehalten. General Sir Brian Hubert Robertson erklärte in seiner Eigenschaft als monatlich wechselnder Sprecher der drei Alliierten Hohen Kommissare u. a., dass es Ziel der Alliierten sei, das Ansehen und die Autorität der Bundesorgane zu fördern. Von einer Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses seien die Verhandlungen getragen gewesen, was wiederum eine Ermutigung für zukünftige Gespräche sei92. Befragt nach Schumachers Zwischenruf in der Bundestagsdebatte in der Nacht zuvor, erklärte Robertson: „[. . .] die Frage der Autorisation des Bundeskanzlers zu den Petersberger Verhandlungen betrachten die Hohen Kommissare als eine deutsche Angelegenheit. Zu den Vorgängen im Bundestag werden sie nicht Stellung nehmen. Sie sehen in Dr. Adenauer den rechtmäßigen Vertreter des deutschen Volkes.“ Wenig später – auf die Frage eines Journalisten – bekannte Robertson, nicht ausreichend informiert zu sein, „bemerkte aber, dass die Möglichkeit, einen Abgeordneten von einer Reihe von Sitzungen auszuschließen, in den meisten Parlamenten, so auch im britischen, gegeben sei und dass dieser Vorgang also nicht im Widerspruch zu den von Dr. Adenauer gegebenen Zusicherungen zu stehen brauche. Ob der Ausschluss zu Recht erfolgt sei, das sei eine Frage, zu der er sich nicht äußern wolle. Er wolle aber hinzufügen, dass Dr. Adenauer nicht versprochen habe, dass er diese Zusicherung alsbald werde erfüllen können“. Zum Aufsichtsrecht der Hohen Kommissare schloss General Robertson wörtlich an: „Es ist Aufgabe der Hohen Kommission darauf zu achten, dass das Grundgesetz beachtet wird. Die Hohe Kommission wird sich nicht verpflichtet fühlen, jedes Mal einzugreifen, wenn im Parlament etwas Ungewöhnliches passiert. Wenn ein Fall oder eine Reihe von Fällen passiert, die gegen die Verfassung verstoßen, und wenn diese Fälle ernst genug sind, wird die Hohe Kommission eingreifen“ 93. Der Versuch, die Alliierten Hohen Kommissare zu einer Stellungnahme zu bewegen oder gar unter Berufung auf ihr Kontrollrecht einzugreifen, war auf der Pressekonferenz nicht geglückt. 91

Troeger: Interregnum (wie Anm. 70), S. 143. Maschinenschriftliche Aufzeichnung im Archiv des Bundespresseamtes Bestand F 1/30 (Pressekonferenzen). 93 Ebd. 92

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Übrigens war der Presse verborgen geblieben, dass der amerikanische Verbindungsoffizier der Hohen Kommission in Bonn am Nachmittag und Abend des 25. Novembers 1949 zu Einzelgesprächen mit Adenauers außenpolitischem Berater Herbert Blankenhorn sowie mit den Abgeordneten Carlo Schmid, Eugen Gestenmaier (CDU/CSU), Schäffer (FDP) und sogar Kurt Schumacher zusammengekommen war94. IX. Pressekonferenz des Bundeskanzlers am 25. November 1949 Am Freitagnachmittag, dem 25. November 1949, hatte dann auch Adenauer eine Pressekonferenz einberufen. Er hatte die Verabredung eingelöst, seine Pressekonferenz erst nach der Pressekonferenz der Alliierten Hohen Kommissaren abzuhalten. Trotz der Turbulenzen hatte sich auch Adenauer nicht davon abbringen lassen, das Petersberger Abkommen und seine großartige Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland herauszustellen. Adenauer begrüßte die Zustimmung des DGB; sie beweise, dass große Teile der deutschen Arbeiterschaft das Mitwirken der Bundesregierung in der Internationalen Ruhrbehörde für richtig hielten. Es sei schließlich wichtig, das Frankreich erkenne, dass die Haltung der SPD nicht dem Willen und der Überzeugung der deutschen Arbeitnehmerschaft entspreche. Ferner erläuterte er, dass für ihn der Zwischenfall erledigt sei, wenn Schumacher folgende Erklärung vor dem Plenum des Bundestages abgebe: „Ich habe dem Bundeskanzler folgenden Zuruf gemacht: ,Bundeskanzler der Alliierten‘. Damit habe ich dem Bundeskanzler und der Bundesrepublik Deutschland eine schwere Kränkung zugefügt. Ich bedaure diese Kränkung und nehme sie in aller Form zurück“. Adenauer bekräftigte in der Pressekonferenz sein Unverständnis darüber, dass Schumacher eine derartige Erklärung verweigert hatte. Es sei zu befürchten, dass die Bundesregierung gegenüber dem Ausland nun als nicht mehr verhandlungsfähig dastehe. Adenauer verwahrte sich gegen den Vorwurf Schumachers, er habe vor dessen Zwischenruf die SPD „beleidigt“. Der Verlauf der Plenarsitzung sei der Bedeutung der Sache leider nicht gerecht geworden und die Beleidigungen „ein Beweis der politischen Unreife“. Auf Nachfrage eines Journalisten rechtfertigte Adenauer auch das Vorgehen von Erich Köhler, denn bei „dem ungeheuren Lärm und der Vermutung, dass es zu einer Schlägerei kommen werde, sei dem Präsidenten des Bundestages nichts anderes übrig geblieben, als die Sitzung zu unterbrechen“ 95. 94 Schreiben des US-amerikanischen Hohen Kommissars für Deutschland, John McCloy, an das Foreign Office vom 25. November 1949; FRUS 1949/III (wie Anm. 37), S. 351–353. 95 Für die Pressekonferenz von Adenauer „Ein Beweis politischer Unreife“, in: Frankfurter Allgemeine, 26. November 1949.

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Nachdem die SPD in ihrer Pressekonferenz den Schulterschluss mit Schumacher vollzog, war es nun Adenauer, der für die Einigung in dieser Angelegenheit als Verfahren die förmliche Zurücknahme des Zwischenrufes und eine Entschuldigung einforderte. Adenauer wollte keine Entschuldigung in einem Vieraugengespräch, sondern eine Entschuldigung vor den Vertretern des ganzen Volkes. Damit hatte Adenauer einen Ausweg gezeigt, der allerdings für Schumacher einen Gesichtsverlust bedeutet hätte. X. Misstrauensvotum gegen den Bundestagspräsidenten Schon am Nachmittag des 25. November 1949 kam der Ältestenrat des Bundestages erneut zusammen96. Bundesminister Jakob Kaiser nahm an dieser Sitzung seitens der Bundesregierung teil. Ollenhauer ging – wie in der Fraktion von Anfang an vereinbart – sofort in die Offensive und gab „offiziell bekannt“, dass die SPD-Fraktion Bundestagspräsident Erich Köhler ihr Vertrauen entziehe. Ausdrücklich betonte Ollenhauer, dass man „frühere Bedenken gegen die Amtsführung des Präsidenten stets zurückgestellt“ habe, aber „durch die Vorgänge in der letzten Plenarsitzung“ „gezwungen worden“ sei, zu handeln. Ferner klagte Ollenhauer darüber, dass ihm für seine eigene Rede „nicht der notwendige Schutz durch den Präsidenten gewährt worden“ sei. Umgekehrt habe es der Präsident versäumt, die SPD gegen die Ausführungen des Bundeskanzlers zu schützen. Damit hatte Ollenhauer dem politischen Gegner die Schuld an diesem Eklat zugeschrieben. Sofort bekräftigten CDU-Abgeordnete in der Ältestenratssitzung, dass das Misstrauensvotum gegen Köhler keine Rechtsfolgen hätte. Tatsächlich kannte die Geschäftsordnung die Abwahl eines Bundestagspräsidenten nicht. Vermittelnd setzte sich Euler (FDP) ein; er prangerte das bisherige Verhalten „aller Fraktionen“ an und bekräftigte aber gleichzeitig, dass der Bundeskanzler keine Veranlassung zur Kritik gegeben habe. Im Übrigen sei der Ausschluss Schumachers gemäß den Bestimmungen der Geschäftsordnung erfolgt. Der Abgeordnete Georg-August Zinn (SPD) ging auf die Kritik gegen die Amtsführung des Bundestagspräsidenten ein und rechtfertigte das Fernbleiben der SPD-Fraktion im Plenum im Anschluss an die Ältestenratssitzung. Tatsächlich drängte sich schon bald nach der Konstituierung des Bundestages der Eindruck auf, dass Köhler nicht Herr der Lage war. Wenn er die Leitung der Plenarsitzung an einen seiner Vizepräsidenten abtrat, war Köhler meistens schweißgebadet. Das SPD-Organ „Neuer Vorwärts“ hatte am 1. Oktober 1949 erstmals die Schlagzeile „Köhler hat versagt!“ gebracht. Und am 10. November 96 Protokoll des Ältestenrates vom 25. November 1949 (um 15:15 Uhr), in: Deutscher Bundestag, Parlamentsarchiv, Protokolle des Ältestenrates 1. Wahlperiode (maschinenschriftliches Protokoll).

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1949 beschwichtigte der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Heinrich von Brentano die Mitglieder seiner Fraktion dahingehend, dass „die Disziplinlosigkeit des Parlaments“ schlimmer sei „als das zeitweilige Versagen von Dr. Köhler“ 97. Die Kritik an der Amtsführung des Präsidenten wuchs stetig an – auch in der eigenen Fraktion. Köhler war ein nervöser Mann und hatte sich offensichtlich nicht immer unter Kontrolle. Mit jedem weiteren Konflikt wurde Köhler zusehends kränker, bis er am 18. Oktober 1950 seinen Rücktritt einreichte.98 Die Abgeordnete Helene Wessel (Zentrum) warnte im Ältestenrat – trotz eigener, mehrfach geäußerter Bedenken gegen die Amtsführung des Präsidenten – vor einer „unnötigen Verschärfung der Angelegenheit“. Sie war der festen Überzeugung, dass für die Vorgänge in der unterbrochenen Plenarsitzung der Bundestagspräsident nicht allein verantwortlich zu machen war, und konstatierte in der Ältestenratssitzung bezüglich der fraglichen Nachtsitzung, dass die Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrens wohl keinem Präsidenten möglich gewesen wäre. Schließlich hatte die SPD-Fraktion den Vorschlag unterbreitet, die „aufgetretenen Schwierigkeiten durch eine Aussprache zwischen dem Bundeskanzler und Dr. Schumacher aus der Welt zu schaffen“. Dafür war nach Ansicht Jakob Kaisers jedoch die Zurücknahme des Zwischenrufes unverzichtbar. Gegen Ende der Debatte im Ältestenrat gab Zinn nun auch offiziell bekannt, dass die Fraktion der SPD gegen den Bundestagspräsidenten eine Feststellungsklage bezüglich des Minderheitenrechts gemäß Art. 39 des Grundgesetzes und eine weitere gegen den Bundeskanzler auf Grund des Art. 59 des Grundgesetzes99 vorbereite. In der gleichen Ältestenratssitzung hatte Ollenhauer unter anderem auch darauf hingewiesen, dass der Ausschluss Schumachers geschäftsordnungswidrig erfolgt sei. Die SPD argumentierte mit dem alten Rechtsgrundsatz, dass man für eine Sache nicht zweimal bestraft werden könne. Mit eben dieser Begründung erhob Schumacher noch am gleichen Tage (25. November 1949) gegen den Sit97 Fraktionssitzung der CDU/CSU am 10. November 1949; CDU/CSU-Fraktion (wie Anm. 10), S. 60. 98 Feldkamp, Michael F.: Der noble, aber kranke Präsident. Erich Köhler (1949–50). Er war der temperamentvollen Atmosphäre des 1. Bundestages nicht gewachsen, in: Das Parlament, 20. Dezember 2010, S. 9. Wiederabdruck in: Feldkamp, Michael F. (Hrsg.): Der Bundestagspräsident. Amt. Funktion. Personen. 17. Wahlperiode, München 2011, S. 89–94. 99 Art. 59 Grundgesetz lautet: „(1) Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. (2) Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Für Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend.“

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zungsausschluss gemäß § 92 der Geschäftsordnung Einspruch. Sein Schreiben an Präsident Köhler wurde als Drucksache Nr. 247 vervielfältigt und jedem Abgeordneten zugestellt.100 Tatsächlich rief in der Plenarsitzung nach dem Zwischenruf der Parlamentspräsident Schumacher zunächst nur zur Ordnung und hatte nach der Vereinbarung im Ältestenrat zusätzlich den Sitzungsausschluss ausgesprochen. XI. Pressereaktionen vom 26. November 1949 auf den Zwischenruf Viele Zeitungen, so hieß es im „Informationsdienst“ des Presseamtes der Bundesregierung, hatten sich in der Berichterstattung am 26. November 1949 auf die Anerkennung der außenpolitischen Erfolge des Bundeskanzlers beschränkt. Davon abweichend wurden immerhin einige herausgehobe Pressestimmen aufgefangen: Der konservative „Münchener Kurier“ vom 26./27. November 1949 konstatierte, dass erneut der Eindruck entstehen könne, die Deutschen seien „nicht nur ihre eigenen Feinde, wegen ihrer Uneinigkeit könnten sie auch nicht ernst genommen werden“. Die „Tagespost“ aus Augsburg vom 27. November 1949 fragte, ob „institutionelle Sicherungen“ und „disziplinierte Verhaltungsweisen“ aller Beteiligten ausreichen im Bemühen der jungen Bundesrepublik im ernsten Ringen um ihren inneren Ausgleich. Der Vorfall beleuchtet die gefährlichen innerpolitischen Untergründe, die von der neuen Staatwerdung nur äußerlich überdeckt werden. Für die „Frankfurter Allgemeine“ hatte Erich Dombrowski in seinem Kommentar gleich auf der Titelseite der Ausgabe vom 26. November 1949 herausgestellt, dass Schumacher den Bundeskanzler „als Agenten des Auslands und Landesverräter“ gebrandmarkt habe. Der Zwischenruf habe „wohl alle Anstandsbegriffe“ überstiegen „und findet seine Parallele nur in den einstigen Schmähungen Stresemanns und Brünings durch die deutschnationale und nationalsozialistische Opposition“. So habe Schumacher nicht nur das Parlament, sondern auch die Regierung „schmählich herabgesetzt. Damit wurde das Vertrauen, nach innen und außen erheblich beeinträchtigt“. Jegliche staatsmännische Qualitäten sprach Dombrowski dem Oppositionsführer Schumacher ab und bemerkte: „Bismarck hat mehr als einmal aus seiner Abneigung gegen große parteipolitische Redner kein Hehl gemacht. Um durchschlagende Wirkungen auf die Massen, um durch zugespitzte demagogische Formulierungen Augenblickseffekte zu erzielen, ließen sie, im Rausche dieser rhetorischen Eitelkeit, alle weiterblickende politische Klugheit außer acht, und zurück bleibe ein Haufen Scherben.“ 101 100 Für den Wortlaut des Schreibens von Schumacher an Bundestagspräsident Köhler vom 25. November 1949: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. WP, Drucksache Nr. 247. 101 Dombrowski, Erich: „Die Homöopathen“, in Frankfurter Allgemeine, 26. November 1949.

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Der von Dombrowski gezogene Vergleich mit Stresemann und Brüning lag auf der Hand. Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann wurde für seine außenpolitischen Erfolge wie den Vertrag von Locarno (1926), mit dem Deutschlands Beitritt in den Völkerbund besiegelt worden war, von den Deutschnationalen (DNVP) und Nationalsozialisten (NSDAP) als „Erfüllungspolitiker“ der alliierten Siegermachte verhöhnt. Reichskanzler Heinrich Brüning erfuhr aus der gleichen politischen Ecke derartige Diskriminierungen, weil er alles daransetzte, den Young-Plan (1930) zu erfüllen. Der Young-Plan regelte nach dem Scheitern des Dawes-Plans die Reparationsverpflichtungen Deutschlands gemäß des Versailler Vertrages (1919) neu; der Versailler Vertrag wiederum wurde zeitgenössisch als „Schanddiktat“ der alliierten Siegermächte geschmäht. Allen politischen Akteuren und Beobachtern waren diese Verächtlichmachung der deutschen Politik der Weimarer Jahre hinlänglich bekannt, als Kurt Schumacher 1949 seinen Zwischenruf wagte. Darin lag dann auch der Skandal, dass sich ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Bundestag mit seinem Zwischenruf „Bundeskanzler der Alliierten“ auf das Niveau der politischen Auseinandersetzung von Deutschnationalen und Nationalsozialisten begab, die bekanntlich zum Untergang der Weimarer Republik beitrugen. Viele Zeitgenossen – und eben auch Teile der SPD-Fraktion – haben Schumacher diese politische Instinktlosigkeit übelgenommen. Noch drastischer als die „Frankfurter Allgemeine“ formulierte die Züricher Zeitung „Die Tat“, dass „der Vorwurf des moralischen Landesverrats, der schließlich in der Bezeichnung Adenauers als ,Bundeskanzler der Alliierten‘ liegt, erschütternd an die nationalsozialistische Kampagne nach dem ersten Weltkrieg anklingt, die in Gewaltakten wie den Morden an Erzberger und Rathenau gipfelte“ 102. Für die der SPD-nahe „Frankfurter Rundschau“ hatte auch Karl Gerold den Vergleich mit den Weimarer Verhältnissen nicht gescheut, aber gleich zur Entschuldigung Schumachers dargelegt, dass dieser mit seinem Zwischenruf „keine ehrenrührige Behauptung aufstellen wollte, sondern im Affekt eines schweren innerpolitischen Kampfes zwischen Regierungsmehrheit und Opposition“ agiert habe103. Immerhin konstatierte die „Frankfurter Rundschau“ auch: „Wohin aber soll die kommende deutsche Außenpolitik nach Adenauer führen, wenn der Vertreter des historisch friedliebendsten Teiles des deutschen Volkes – und das ist die Masse der SPD-Wähler – sich schon im Beginn aller außenpolitischen Debatten solche Entgleisung leistet.“

102 „Peinliche Lage der Sozialdemokraten nach dem Zwischenfall Schumachers“, in: Die Tat, 28. November 1949. 103 Gerold, Karl: „Politik im Affekt“, in: Frankfurter Rundschau, 26. November 1949.

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XII. Solidaritätskundgebungen für Schumacher am 27. November 1949 Neben manchen Pressekonferenzen und etlichen Beratungen in Bundestagsgremien über die Frage des Umgangs mit dem Sitzungsausschluss von Schumacher hatte sich die SPD auch an die Öffentlichkeit gewandt und bemüht, wenigstens in den SPD-Hochburgen Solidaritätskundgebungen zu veranstalten. Bereits am Freitagvormittag, dem 25. November 1949, protestierten Arbeiterschaften zahlreicher Betriebe in ganz Westdeutschland gegen den Ausschluss von Schumacher und gegen den Eintritt der Bundesregierung in die Ruhrbehörde. In Hamburg etwa legte die Belegschaft der Deutschen Werft für 15 Minuten die Arbeit nieder, und in Hannover versammelten sich die Betriebsratsvorsitzenden der bedeutendsten Großbetriebe, um gegen den Sitzungsausschluss von Schumacher Stellung zu beziehen104. In Hannover waren nach Zählung des Veranstalters am Samstag, dem 27. November 1949, um 15:00 Uhr über 9.000 Menschen zu einer Protestkundgebung zusammengekommen. In großen Anzeigen warb die SPD-nahe „Hannoversche Presse“ am 26. November 1949 mit dem Slogan: „Dr. Schumacher hinausgeworfen! Dr. Schumacher im Bundestag mundtot gemacht! Warum? Kommt zur Protestkundgebung auf dem Klagesmarkt [. . .]. Da werdet Ihr es erfahren!“

Auf der Veranstaltung titulierte der stellvertretende Parteivorsitzende und Abgeordnete Erich Ollenhauer den Bundestagspräsidenten als „Vollzugsbeamten der Regierung“ und verurteilte den Ausschluss Schumachers als Versuch der „bürgerlichen Mehrheit“, einen unbequemen Gegner ausschalten zu wollen. Der Ausschluss stünde schließlich symbolisch für die Fronten, die sich in Deutschland herauskristallisiert hätten. Gegen Ende der Veranstaltung wurde in einer „Entschließung“ im Namen von 25.000 hannoverschen Wählern die Zurücknahme des Ausschlusses von Schumacher gefordert.105 XIII. Der Bundespräsident als Streitschlichter? Schon in den allerersten Pressebeiträgen über den Zwischenruf wurde der Vorschlag unterbreitet, Bundespräsident Theodor Heuss als Vermittler einzuschalten. Ob dieser Vorschlag schon auf der ersten Pressekonferenz der SPD-Fraktion nach dem Zwischenruf unterbreitet wurde oder ob Journalisten den Vorschlag in die 104 Nach: „Für zwanzig Tage ausgeschlossen“, in: Hannoversche Presse, 26. November 1949. 105 Spieker, Kurt: „Proteste gegen Ausschluß Schumachers“, in: Frankfurter Rundschau, 28. November 1949.

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Diskussion gebracht haben, ist ungewiss. Wenigstens hatte Walter Steigner106 in seinem bereits zitierten Rundfunkbeitrag schon am 25. November 1949 im NWDR formuliert, dass „es vielleicht die Aufgabe des Bundespräsidenten selbst sein“ könnte, einen Ausgleich zu versuchen. Auch die „Neue Zeitung“ vom 26. November 1949 wusste davon zu berichten, dass in den Wandelgängen des Bundestages in der Nacht zuvor die Frage entstanden war , ob es nicht an der Zeit sei, dass der Bundespräsident als das Staatsoberhaupt den Versuch unternehmen solle, die widerstreitenden Persönlichkeiten der deutschen Parteipolitik an die Pflicht zu erinnern, dem Ausland ein Bild der Würde zu bieten. In seinem Gespräch mit Bundespräsident Theodor Heuss hatte Adenauer am 28. November 1949 die Lage sehr nüchtern und nahezu verständnisvoll beurteilt. Adenauer stellte fest, dass die SPD durch die politischen Entwicklungen der letzten Wochen etliche „Enttäuschungen“ habe hinnehmen müssen, und schließlich hatte sich auch noch der Gewerkschaftsbund „von der Politik der SPD“ distanziert und sich für einen Beitritt der Bundesrepublik zum Ruhrstatut ausgesprochen. Damit „sei das Fass übergelaufen“, konstatierte Adenauer107. Von einer Streitschlichtung durch den Bundespräsidenten war zwar ausweislich der Gesprächsnotiz keine Rede, doch in der Kabinettssitzung am darauffolgenden Tag erwähnte Adenauer explizit, dass Heuss ihm zwar „seine Vermittlung angeboten“ hatte, er (also Adenauer) diese jedoch abgelehnt habe108. Am selben Tag hatte das Bundespräsidialamt eine entsprechende Pressemeldung veröffentlicht, derzufolge Heuss „keine Handhabe“ sah, „in den Konflikt zwischen Regierung und Opposition schlichtend einzugreifen“ 109. Den Mitgliedern des Bundeskabinetts war übrigens der Artikel des CDU-Abgeordneten Gerd Bucerius in lebhafter Erinnerung, der Adenauer schon deswegen nicht gefiel, weil Bucerius die Zwischenruf-Affäre gleich als Staatskrise bezeichnet hatte. Bucerius sah übrigens zu einem Zeitpunkt „die Stunde für das Staatsoberhaupt, den Bundespräsidenten, gekommen“, als Adenauer die Vermittlung von Heuss längst abgelehnt hatte110. Das Gespräch zwischen Adenauer und Heuss am 28. November 1949 war der erste persönliche Gedankenaustausch der beiden Staatsmänner, dem in unregel106 Nach: Informationsdienst – Inland Nr. 63 vom 26. November 1949, vervielfältigte Umdrucksache des Bundespresseamtes. 107 Mensing, Hans Peter (Bearb.): Adenauer – Heuss. Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren 1949–1959. Rhöndorfer Ausgabe, Berlin 1997, S. 39. 108 Sitzung des Bundeskabinettes vom 29. November 1949, in: Kabinettsprotokolle 1949 (wie Anm. 40), S. 225–227. 109 „Heuß greift nicht ein“, in: Frankfurter Allgemeine, 29. November 1949. 110 Bucerius, Gerd: „Staatskrise in Bonn. Bundespräsident als Vermittler – Gemeinsame Außenpolitik“, in: Die Welt, 29. November 1949.

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mäßigen Abständen noch viele weitere folgen sollten. So hatte ausgerechnet der Eklat im Bundestag den Anlass gegeben für das Zusammentreffen, das sich schon bald auch in anderen Fragen bewähren sollte. XIV. Kabinettssitzung am 29. November 1949 Am 29. November 1949 tagte morgens ab 9:30 Uhr das Bundeskabinett.111 Selbstverständlich stand der Zwischenruf Schumachers auf der Tagesordnung, denn Adenauer befürchtete, dass die SPD den Ausschluss Schumachers „zum Anlass nimmt, in der Öffentlichkeit gegen die Bundesregierung eine Hetze zu entfachen“. Adenauer schilderte die Vorgänge und den derzeitigen Stand der Konfrontation und resümierte, „daß das Parlament keinen Beschluss zugunsten Dr. Schumachers fassen könne, solange sich dieser nicht entschuldigt habe“. In der anschließenden Aussprache vertrat Bundesminister Franz Blücher (FDP)112 die Auffassung, auf den „desolaten Gesundheitszustand und die lange KZ-Haft Schumachers“ Rücksicht zu nehmen. „Die Höhe der Ordnungsstrafe sei auch gar nicht das Wichtigste“. Für die Beilegung des Konfliktes empfahl er „mit vernünftigen Leuten von der SPD“ zu sprechen „und, falls sich Schumacher zu einer vernünftigen Regelung bereit finde, die Strafe [zu] mildern“. Bundesminister Hans Christoph Seebohm (DP) war hingegen der Ansicht, „daß auf die persönlichen Verhältnisse Schumachers keine Rücksicht genommen werden“ könne und sah dessen „Bestrafung“ als „unbedingt erforderlich“ an. Der Standpunkt der SPD, „daß wegen des vorangegangenen Ordnungsrufes ein Ausschluß nicht habe erfolgen können (ne bis in idem113), sei abzulehnen.“ Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Anton Storch (CDU) war „der Meinung, man müsse versuchen, Schumacher in den Hintergrund zu drängen“. Der Bundesminister der Finanzen Fritz Schäffer (CSU) befürwortete in puncto Ruhrstatut eine enge Fühlungnahme mit den Gewerkschaften und in Hinblick auf die Beilegung des Konfliktes mit Schumacher, es der SPD zu überlassen, „den ersten Schritt zu tun“. Dieser Auffassung schloss sich auch Bundeskanzler Adenauer an, der ankündigte, „zunächst ruhig abwarten“ zu wollen, „welche Schritte die SPD zur Beilegung des Zwischenfalles unternimmt“. Von den Par-

111 Für den Wortlaut des Protokolls: Sitzung des Bundeskabinettes vom 29. November 1949, in: Kabinettsprotokolle 1949 (wie Anm. 40), S. 225–227. 112 Blücher war stellvertretender Bundeskanzler und Bundesminister für Angelegenheiten des Marshall-Plans. 113 Rechtsgrundsatz, nicht zweimal für dieselbe Sache vor Gericht gestellt zu werden.

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teien der Regierungskoalition – so Adenauer weiter – erwartete er jedoch, dass sie „gegen das Vorgehen der SPD in der Öffentlichkeit Stellung nehmen“. Wenn sich Schumacher entschuldige, „sei es Sache des Ältestenrates“, über das weitere Procedere zu entscheiden. Adenauer hatte den Grundtenor in der Angelegenheit Schumacher vorgegeben und das Kabinett auf Linie gehalten. Entsprechend wurde auch der Regierungssprecher Paul Bourdin instruiert. Dieser hatte im Anschluss an die Kabinettssitzung am 29. November 1949 um 15:00 Uhr in einer Pressekonferenz114 zur Überraschung der anwesenden Journalisten sehr detailliert und unmissverständlich erklärte, dass Schumacher sich für die Beleidigung des Bundeskanzlers nur im Parlament entschuldigen könne durch offizielle Zurücknahme seiner Äußerung. Da er nun ausgeschlossen sei, könne er sich nur brieflich an den Parlamentspräsidenten wenden, der dann wiederum den Ältestenrat zu einer Stellungnahme bewegen müsse. Die Erläuterung des Verfahrensweges durch den Pressesprecher überraschte die Journalisten. Der Regierungssprecher wies nun seinerseits daraufhin, dass das Kabinett eine Vermittlung durch den Bundespräsidenten als „einen falschen Weg“ abgelehnt hätte. Die Journalisten setzten ganz im Sinne der Argumentation Schumachers dem Pressesprecher mächtig zu. In der festen Annahme, der Grundsatz, für eine Sache könne man nicht zwei Mal bestraft werden, stamme aus dem Grundgesetz, fragten die Journalisten den Pressesprecher Bourdin, ob der Bundestagspräsident sich über dieses Recht hinwegsetzen könne; zu Unrecht witterten die Journalisten einen Verfassungsbruch. Abgesehen davon, dass im Laufe der Pressekonferenz geklärt worden war, dass es sich hierbei selbstverständlich nicht um einen Grundgesetzartikel handelte, hatte sogar der Vorsitzende der Bundespressekonferenz Alfred Rapp erkannt, dass der Regierungssprecher offenbar zu einer kritischen Aussage gegen Bundestagspräsident Köhler provoziert werden sollte. Dass Adenauer schon in der fraglichen Nacht das Ersuchen Schumachers um ein Gespräch abgelehnt hätte, war dem Regierungssprecher angeblich nicht bekannt. Im Übrigen wies dieser aber daraufhin, dass auch die Alliierten beleidigt worden seien, denn der Zwischenruf insinuiere, dass sich die Alliierten nur einer „Marionettenregierung“ als Instrument ihrer Politik bedienen würden. Schließlich bemerkte der Regierungssprecher kritisch, dass die SPD mit der Durchführung von öffentlichen Kundgebungen „nicht zur Erleichterung der bestehenden Spannungen beigetragen“ habe115.

114 Für den Wortlaut des Protokolls: Archiv des Bundespresseamtes, F 1/30 (Pressekonferenzen) (maschinenschriftlicher Durchschlag). 115 Wie Anm. 114.

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Der Bericht der „Frankfurter Rundschau“ über die Kabinettssitzung und die Pressekonferenz am nächsten Tag erhielt zusammenfassend die Schlagzeile: „Bundesregierung erwartet Initiative von Dr. Schumacher“ 116. Als in der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1949 die Verständigung zwischen Adenauer und Schumacher erfolgt war, hatte Schumacher in einer anschließenden Pressekonferenz die Journalisten wissen lassen, dass mit diesem Auftritt die Bundespressekonferenz „dem Kanzler mehr geschadet als genutzt“ habe. „Sie habe das klassische Beispiel eines Wettlaufes mit zwei linken Füßen geboten, etwa in der flotten Art von der Straßenbahn abzuspringen mit dem linken Fuß am rechten Griff“ 117. XV. Zwischenbilanz: Bewertung des Zwischenrufes Durch die Erklärungen des Regierungssprechers vom 29. November 1949 war der einzuschlagende Weg vorgegeben: Adenauer würde abwarten und Schumacher müsse auf Adenauer beziehungsweise den Bundestag zugehen. Nicht wenige Zeitungen brachten ausweislich der Presseschau des Bundespresseamtes am Morgen des 30. November 1949 Schlagzeilen wie „Schumacherbrief würde genügen“ oder „Entschuldigung einziger Ausweg“ 118. Die CDU/CSU-Fraktion hatte in ihren beiden Fraktionssitzungen am Mittwoch, den 30. November 1949, die Lage recht nüchtern analysiert. Hier wurde konstatiert, dass die SPD sehr bemüht war, erstens Adenauer eine Mitschuld an der Entgleisung Schumachers zu geben und zweitens die Höhe des Strafmaßes als völlig überzogen darzustellen und „als politische Kampfmaßnahme“ zu diskreditieren. Die CDU/CSU-Fraktion war sich darüber im Klaren, „daß es besser sei, diese Auseinandersetzung durchzustehen“. Der SPD „nachzulaufen“ schien ihr nicht opportun, da dieser „jedes Mittel recht“ sei, „ihre Machtübernahme vorzubereiten, und eine Versöhnung würde immer nur äußerlich sein“ 119 und damit allenfalls eine Verständigung oder Einigung der Kontrahenten Adenauer und Schumacher. In ihrer zweiten Sitzung am 30. November 1949 wurde die Analyse noch einmal differenzierter umrissen. So wurde festgehalten, dass Schumacher sich bislang nicht entschuldigt hatte und darüber hinaus die SPD durch ihre Solidaritäts-

116 „Bundesregierung erwartet Initiative von Dr. Schumacher“, in: Frankfurter Rundschau, 30. November 1949. 117 „Schumacher wieder im Bundestag“, in: Frankfurter Allgemeine, 3. Dezember 1949. 118 Nach: Informationsdienst – Inland Nr. 66 vom 30. November 1949, vervielfältigte Umdrucksache des Bundespresseamtes. 119 Für den Wortlaut des Protokolls der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 30. November 1949: CDU/CSU-Fraktion (wie Anm. 10), S. 106.

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bekundungen für Schumacher die beleidigenden Anwürfe gegen Adenauer auch noch bekräftigen würden. Gerade durch die „Mobilisation der Straße“ sei eine neue Schärfe in die ohnehin bestehenden Differenzen gekommen. Adenauer bedauerte in der Fraktionssitzung auch, dass ein Fraktionsmitglied von „Staatskrise“ gesprochen hatte120, dieser Begriff würde ablenken davon, dass es sich doch tatsächlich nur um eine „Hetzpropaganda Schumachers“ handele121. Sehr offen diskutierten die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion in dieser Sitzung übrigens die verfassungsrechtliche Bewertung des Ordnungsrufes und des Ausschlusses von Schumacher. Die Fraktion schien geteilt. Viele vertraten den Standpunkt, dass der Sitzungsausschluss angemessen war und auch der Beschluss auf 20 Tage Sitzungsausschluss nicht nur formal richtig war, sondern auch der Praxis des Reichstages der Weimarer Republik entsprochen hätte. Aber es gab auch Gegenstimmen in der Fraktion, die sich dem juristischen Grundsatz anschlossen, dass man nicht zweimal für die gleiche Sache bestraft werden könne. Die CDU/CSU-Fraktion hatte als jene Partei, die maßgeblich an der Regierungskoalition beteiligt war, ihre staatstragende Funktion erkannt und mit Rücksicht auf die neu zu begründende parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland sogar Sympathien für lediglich aus parteitaktischen Gründen vorgebrachte Argumente der SPD. Seitens der Presse hatte u. a. die „Frankfurter Neue Presse“ in ihrem Leitartikel am 30. November 1949 unter der Überschrift: „Folgen des Erfolges“ betont, dass die SPD um den propagandistischen Erfolg des Demontagestopps betrogen worden war. Die Regierungspartei versuche, das große Verdienst des Bundeskanzlers herauszustellen, um so den Erfolg aus parteipolitischen Erwägungen noch zu vergrößern. Auf beiden Seiten komme man so zu falschen Perspektiven. Das alles entschuldige nicht den unqualifizierten Zwischenruf Dr. Schumachers. Die Fronten hätten sich nun versteift, wie immer, wenn es um das liebe Prestige gehe, und die Vermittler von beiden Seiten wären vorsichtig, weil sie sich nicht der Gefahr einer Abfuhr aussetzen wollen. Zu Schaden gekommen wären dabei, wenn überhaupt, nur die Demokratie und das Parlament. Hatten bisher die Hohen Kommissare sich zu dem Vorfall faktisch nicht geäußert, war die Geduld offenbar inzwischen auch bei ihnen arg strapaziert worden. 120 Der CDU-Abgeordnete Gerd Bucerius veröffentlichte in der Zeitung „Die Welt“ vom 29. November 1949 einen Beitrag, der überschrieben war „Staatskrise in Bonn. Bundespräsident als Vermittler – Gemeinsame Außenpolitik“. Hierin heißt es u. a.: „Eine Staatskrise kommt nicht von ungefähr. Sie hat gewöhnlich ihre Ursache darin, daß die Beteiligten der Größe der Ereignisse moralisch nicht gewachsen sind“. Weiter schlug Bucerius eine Verkleinerung der Anzahl der Bundestagsmitglieder vor und empfahl eine Parlamentsreform nach englischem Vorbild. 121 Protokoll der Fraktionssitzung vom 30. November 1949 CDU/CSU-Fraktion (wie Anm. 10), S. 115 f.

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Am 30. November 1949 hatte der Amerikanische Hohe Kommissar John McCloy auf einer Pressekonferenz in Frankfurt erklärt, dass er „die Angelegenheit von manchem Gesichtspunkt aus für bedauerlich halte“. Weiter führte er aus: „Es ist eine deutsche politische Angelegenheit, und als solche müssen die Deutschen natürlich selber damit fertig werden. Wir können aber nur alle hoffen, Deutsche wie Ausländer, daß dies eine Erfahrung bleiben wird, die größere Klugheit und maßvolleres Benehmen nach sich zieht“ 122. Am 1. Dezember 1949, veröffentlichte das „Journal de Geneve“ einen Beitrag des französischen Deutschlandkorrespondenten Georges Blun, der in der Weimarer Zeit Vorsitzender des Vereins der Ausländischen Presse in Berlin war. Darin heißt es, dass Adenauer „bei den wichtigen Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren einen Sieg davon getragen“ hätte. Ferner schrieb Blun: „Was den Bundeskanzler anbetrifft, so hat er vollkommen die Lage beherrscht und sich als vollendeter Staatsmann erwiesen. [. . .] Das Prestige Konrad Adenauers ist seit der Parlamentsdebatte vom letzten Donnerstag erheblich gestiegen. Im Verlaufe dieser Debatte konnte man dem moralischen Zusammenbruch der Sozialdemokratischen Partei Schumachers beiwohnen, einer Partei, die von einem nervenkranken Führer ruiniert und in Misskredit gebracht worden ist.“ 123 XVI. Brentano vermittelt am 1. Dezember 1949 Abgesehen von einigen Besprechungen in der CDU/CSU-Fraktion, im Ältestenrat und schließlich auch im Bundeskabinett, gab es bis zum 30. November 1949 keine ernsthafte Initiative, die zur politisch dringend notwendigen Beilegung des Konfliktes geführt hätte. Seit dem Zwischenruf aber waren fünf Tage vergangen. Das Warten mag manchem Zeitgenossen auch zermürbend vorgekommen sein. Doch gleichzeitig war das parteipolitische Kräftemessen in vollem Gang und von viel Pressewirbel verfolgt und dokumentiert worden. Zuletzt hatte Schumacher auf einer SPD-Parteiversammlung in Bonn am 30. November 1949 gegen die Regierung zum „Gegenangriff“ gestartet und Adenauer bezichtigt, falsche Angaben zur Demontage gemacht zu haben. Zugleich kündigte er an, dass die Sozialdemokratie „nunmehr eine öffentliche Erörterung“ zu allen Demontagefragen einleiten werde124.

122 Franke, Lothar: „McCloy bedauert Vorgänge im Bundestag“, in: Frankfurter Rundschau, 1. Dezember 1949. 123 Zitiert nach: Informationsdienst – Presse und Rundfunk, Ausland, Nr. 70 vom 5. Dezember 1949, S. 1 f. (Exemplar in: Deutscher Bundestag, Pressedokumentation, Bestand: Adenauer, Konrad, Bd. 1). 124 „Schumacher führt einen Gegenangriff“, in: Frankfurter Allgemeine, 1. Dezember 1949.

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Die CDU bezeichnete den Tag mit Schumachers Entgleisung als einen „Schwarzen Tag“ für die Demokratie und insbesondere aber für die SPD125. In ihrer Fraktionssitzung am Mittwoch, den 30. November 1949, beklagte die CDU/CSU, dass die SPD nun auch die Straße mobilisiere, da hiermit nur eine weitere Verschärfung der Auseinandersetzung betrieben werde. Am darauf folgenden Tag, Donnerstag, den 1. Dezember 1949, fand die erste Plenarsitzung des Bundestages seit dem Sitzungsausschluss Schumachers statt. Bundestagspräsident Köhler wies auf die Drucksache Nr. 247126 hin, auf der Schumachers Einspruch gegen seinen Ausschluss abgedruckt worden war. Köhler erläuterte, dass aufgrund einer Vereinbarung im Ältestenrat127 sich das Plenum am nächsten Morgen damit befassen wollte. Damit war erkennbar Zeit gewonnen, die genutzt werden sollte, sich noch möglichst vor einer Entscheidung im Plenum zu verständigen. Am 1. Dezember hatte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Heinrich von Brentano mit den Berliner SPD-Abgeordneten Franz Neumann128 und Otto Suhr Kontakt aufgenommen und ihnen unterbreitet, dass der Bundeskanzler zu einer Unterredung mit Schumacher in seinem Zimmer im Bundeshaus bereit sei. Darauf hin gingen Neumann und Suhr gemeinsam mit Ollenhauer auf Schumacher zu. Offenbar hatte Adenauer sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Zimmer bereitgehalten und gewartet. Nachdem – ohne dass etwas passierte – einige Zeit verstrichen war, wandte sich Brentano erneut an Suhr. Diesmal wurde Brentano gleich zu Schumacher gebeten, der ihm bei dieser Begegnung um 11:46 Uhr129 auf die „kurze und direkte Frage nach minutenlangem Zögern, während derer er schwerste innere Kämpfe durchzumachen schien“ 130, seine Zusage zu der Unterredung mit Adenauer gab. Auch stellt Brentano Schumacher frei, mit einen Begleiter zu dieser „informatorischen Besprechung“ zu kommen. Schumacher hatte sich zu 12.00 Uhr für das Gespräch bereit erklärt und angekündigt, mit Adolf Arndt, dem Europaexperten der SPD, als Begleiter zu kommen131. 125 Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 30. November 1949 (wie Anm. 121). 126 Für den Wortlaut der Drucksache mit dem Schreiben von Schumacher an Bundestagspräsident Köhler vom 25. November 1949 (wie Anm. 100). 127 Für den Wortlaut der Ältestenratssitzung vom 30. November 1949: Deutscher Bundestag, Parlamentsarchiv, Protokolle des Ältestenrates 1. Wahlperiode (maschinenschriftliches Protokoll). 128 Franz Neumann war ein engerer Vertrauter von Kurt Schumacher, insbesondere im Kampf gegen die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in Berlin. Über ihn u. a. Renger, Annemarie: Ein politisches Leben, Stuttgart 1993, S. 82 f., 110, 128, 149 u. 161. 129 Presseerklärung der SPD-Fraktion vom 1. Dezember 1949, in: CDU/CSU-Fraktion (wie Anm. 10), S. 120, Anm. 5. 130 Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 1. Dezember 1949, in: CDU/ CSU-Fraktion (wie Anm. 10), S. 118 f. 131 Presseerklärung der SPD-Fraktion vom 1. Dezember 1949 (wie Anm. 129).

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XVII. Verhandlungen zwischen Adenauer und Schumacher am 1. Dezember 1949 20 Minuten dauerte die Unterredung, an der Adenauer, Brentano sowie Schumacher und Arndt teilnahmen.132 Das Gespräch wurde ausschließlich vom Bundeskanzler und Schumacher geführt. Als Ergebnis einigte man sich auf eine gemeinsame Erklärung, für die Schumacher folgenden Text vorschlug: „Der Bundeskanzler und Dr. Schumacher sind nach längerer Aussprache übereingekommen zu erklären, dass ihnen bei der Auseinandersetzung in der Sitzung am 24.11. es fern gelegen hat, Parteien oder Personen in ihrer Ehre herabzusetzen.“ 133

In der anschließenden CDU/CSU-Fraktionssitzung machte Brentano keinen Hehl daraus, dass „diese Erklärung auch den letzten Rest des politischen Ansehens von Dr. Schumacher beseitige“: Kein Wort des Bedauerns und keine Entschuldigung war in dieser Erklärung enthalten. Brentano hatte in der Fraktionssitzung offen darüber nachgedacht, ob es sinnvoll sei, den derzeitigen Zustand beizubehalten, oder dafür Sorge trage sollte, dass es der SPD zukünftig unmöglich würde, weiter die Bundesregierung zu beschimpfen. Auch fragte er in der Fraktion, „ob man es sich aus innen- und außenpolitischen Gründen leisten könne, die Opposition zu verschärfen“, denn eine Zurückweisung Schumacher würde diesem ja nur wieder zu Ansehen verhelfen. Während Brentano die Fraktion unterrichtete, hatte Adenauer den Sitzungsraum betreten und deutlich gemacht, dass die vorliegenden Erklärung nur danach zu beurteilen sei, ob sie den notwendigen propagandistischen Erfolg habe. Würde die CDU/CSU auf ihren Standpunkt beharren, könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt werden, „als ob die Schuld nicht bei Dr. Schumacher läge“. In der Folge würde Schumachers Position in der SPD erneut gestärkt und „dieser Gang“ würde ihm in SPD-Kreisen hoch angerechnet werden. Für Adenauer stand außer Zweifel, dass er „als der Beleidigte“ bereit sein müsse, „um der Gesamtverantwortung willen“ die Erklärung zu akzeptieren134. Auch wollte sich Adenauer angesichts des Konfliktes mit Schumacher nicht um den politischen Erfolg bringen, den das Petersberger Abkommen doch mit sich brachte. Selbstverständlich müsste an der Formulierung der Erklärung noch gearbeitet werden. – Die Mehrheit der Fraktion schloss sich der Auffassung Adenauers an. Die Entscheidungen über das weitere Vorgehen sollten Adenauer, Brentano und Bausch überlassen werden.

132 Im Beitrag „Vor der Aussöhnung?“, in: Frankfurter Allgemeine, 2. Dezember 1949 sowie in anderen Zeitungen wurde ein einstündiges Gespräch vermutet. 133 Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 1. Dezember 1949 (wie Anm. 130). 134 Ebd.

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Bis 20 Minuten vor Mitternacht wurde am 1. Dezember 1949 an der gemeinsamen Erklärung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer und des Abgeordneten Kurt Schumacher gearbeitet. Sie hatte nun den Wortlaut: „In der Sitzung des Bundestages vom 24. zum 25. November 1949 war der Bundeskanzler der Ansicht, dass ohne Eintritt in die Ruhrbehörde ein Demontagestopp nicht zu erreichen sei. Die sozialdemokratische Fraktion war der Ansicht, dass ein Demontagestopp auch ohne bedingungslosen Eintritt in die Ruhrbehörde erreicht werden könne. Der Bundeskanzler ist überzeugt, dass die sozialdemokratische Fraktion sich bei der Haltung von der Überzeugung hat leiten lassen, auf diese Weise das Beste für das deutsche Volk zu erreichen, und hält Formulierungen, die anders verstanden worden sind, nicht aufrecht. Dr. Schumacher ist seinerseits der Auffassung, daß der Bundeskanzler überzeugt war, nur durch den Eintritt in die Ruhrbehörde den Demontagestopp erreichen zu können. Er hält daher den Zwischenruf ,Bundeskanzler der Alliierten‘ nicht aufrecht.“ 135

Im Vergleich zur ersten Fassung von Mittags, war diese Version stark erweitert. Wie Adenauer bereits in der Fraktionssitzung zuvor angekündigt hatte, verzichtete er tatsächlich in den weiteren Verhandlungen auf eine Entschuldigung Schumachers. Immerhin erhielt die neue Fassung im vierten und letzten Absatz das Zugeständnis Schumachers: „Er hält daher den Zwischenruf ,Bundeskanzler der Alliierten‘ nicht aufrecht.“ Der zweite Entwurf, so behauptete Schumacher in der Pressekonferenz in der Nacht vom 1./2. Dezember 1949 „unterschiede sich sachlich in keiner Weise von der ersten Formulierung. Der erste Entwurf sei ganz abstrakt gewesen, die endgültige Formulierung nur eine detaillierte Übersetzung mit einer knappen Aufzählung des Ablaufes der Ergebnisse“ 136. XVIII. Die Fraktionen stimmen zu Kaum war der Text in dieser Fassung ausgefertigt, kam am 1. Dezember 1949, noch um 23:45 Uhr, die CDU/CSU-Fraktion zu einer 15-minütigen Besprechung zusammen137, um die Fraktion über den Sachstand zu informieren. Im Fraktionsprotokoll heißt es gleich zu Beginn: Adenauer und Schumacher „sind in der Abendbesprechung davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen, unter denen beide sich zu einer Unterredung bereit erklärt hatten, als nicht eingetreten zu be135 Für den Wortlaut der Gemeinsamen Erklärung vom 1. Dezember 1949: Deutscher Bundestag, Pressedokumentation, Bestand: Schumacher, Kurt, Bd. 1 (maschinenschriftliche Aufzeichnung). 136 „Schumacher wieder im Bundestag“, in: Frankfurter Allgemeine, 3. Dezember 1949. 137 Für den Wortlaut des Protokolls der CDU/CSU-Fraktion vom 1. Dezember (abends), in: CDU/CSU-Fraktion (wie Anm. 10), S. 119 f.

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trachten seien. Dr. Schumacher will der Annahme gewesen sein, daß die Initiative, die zu den Besprechungen geführt hat, von der CDU/CSU-Fraktion ausgegangen sei“. Die sehr umständliche Wortwahl meinte lediglich, dass der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt werden sollte, wer von den beiden Kontrahenten den ersten Schritt gemacht hatte. Brentano unterrichtete ferner die Parteifreunde, dass Schumacher selbst bereits Bedenken gegen die Annahme der Erklärung durch seine eigene Fraktion geäußert hat. Es war damit zu rechnen, dass eine Einigung auf der Basis dieser Erklärung also nicht zustanden kommen würde. Das klang wenig hoffnungsvoll. Und so rechnete man von Seiten der CDU/CSU mit einer Fortsetzung der Gespräche zwischen Bundeskanzler Adenauer und dem SPD-Fraktionsvorsitzendem Schumacher. Doch es kam anders: Parallel zur CDU/CSU tagte die SPD-Fraktion, wo Schumacher den Text der Gemeinsamen Erklärung zur Abstimmung brachte. Schumacher erläuterte, dass der Mittags vorgelegte Entwurf ausreichend sei. Doch Adenauer hätte gewünscht „eine Übersetzung aus dem Abstrakten ins Konkrete“ vorzunehmen. Ausgerechnet Adolf Arndt, der – wie auch Brentano für die CDU – allen Gesprächen zwischen Adenauer und Schumacher beigewohnt hatte, lehnte nun in der SPD-Fraktionssitzung den vierten Absatz der Erklärung („Er hält daher den Zwischenruf ,Bundeskanzler der Alliierten‘ nicht aufrecht.“) ab. Der SPD-Abgeordneten Erwin Schoettle sprach sich jedoch dafür aus, dass die Fassung so bleibt wie sie mit Adenauer abgestimmt worden war. Wenn dann die CDU/CSU-Fraktion Änderungen vornehmen wollte, hätte man eine Veranlassung die Verhandlungen abzubrechen. Die CDU/CSU-Fraktion hatte aber keine Änderungen an der Gemeinsamen Erklärung vorgenommen und so war auch der vierte Absatz der Gemeinsamen Erklärung von Adenauer und Schumacher stehen geblieben. Der schwere innenpolitische Konflikt, der durch den Zwischenruf und den Sitzungsausschluss von Schumacher ausgelöst worden war, wurde in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, den 1./2. Dezember 1949, beigelegt. Schumacher erklärte noch in der Nacht in einer Pressekonferenz auf Nachfrage, dass die Klage der SPD gegen die Bundesregierung und den Bundestagspräsidenten aufrecht erhalten blieben. Dankbar zeigte sich Schumacher, dass Adenauer versprochen hatte, zukünftig die Opposition über Fragen der Außenpolitik vorab zu unterrichten138. In der Aussprache mit Adenauer – so Schu138

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Nach: „Adenauer – nicht mehr geheim“, in: Hannoversche Presse, 3. Dezember

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macher weiter – waren die „sachlichen Gegensätze“ jedoch nicht gemildert. Es war ihm wichtig, dass in dieser Hinsicht keine Illusionen entstehen würden. Ferner bemerkte Schumacher, die SPD werde nun ihre Versammlungskampagnen in verstärktem Maße fortsetzen139. XIX. Formale Beendigung der Zwischenruf-Affäre am 2. Dezember 1949 Gleich am Freitagmorgen, den 2. Dezember 1949, noch bevor das am Tag zuvor unterbrochene Plenum seine Beratungen aufnahm, hatte der Ältestenrat die gemeinsame Erklärung von Adenauer und Schumacher zur Kenntnis genommen140. Präsident Köhler trug im Ältestenrat eine für das Plenum vorbereitete Stellungnahme vor, in der er unter Hinweis auf die Gemeinsame Erklärung den Sitzungsausschluss des Abgeordneten Schumacher aufheben würde. Damit würde auch Schumachers Einspruch gegen den Ausschluss gegenstandslos werden. Der Ältestenrat stimmte der Vorgehensweise zu. Gleich zu Beginn der am Tag zuvor unterbrochenen und nun wieder aufgenommenen Beratungen der 19. Plenarsitzung trug Präsident Köhler die Vereinbarung des Ältestenrats vor141. XX. Wer machte den „ersten Schritt“? Die formale Verständigung zwischen Adenauer und Schumacher vom 1. Dezember 1949 erhielt einen faden Nachgeschmack. Adenauer und Schumacher hatten ursprünglich ja Bedingungen an die Aufnahme von bilateralen Gesprächen gestellt. Adenauer wollte, dass Schumacher sich entschuldigt, Schumacher wiederum hatte gefordert, dass sich zuerst Adenauer für die Diffamierung der SPD entschuldigen müsse, die Anlass für seinen Zwischenruf war. Wer nun „den ersten Schritt“ zur Verständigung am 1. Dezember 1949 gemacht hatte, war offenbar nicht unbedeutsam. Brentano hatte schon in der CDU/ CSU-Fraktionssitzung am Donnerstag, den 1. Dezember 1949 um 23:45 Uhr142 die umständliche Formulierung gewählt, demzufolge Schumacher davon ausgegangen war, dass die Initiative für die Gespräche von der Regierung ausgegangen waren, während Adenauer offensichtlich Umgekehrtes glaubte. 139

„Schumacher wieder im Bundestag“, in: Frankfurter Allgemeine, 3. Dezember

1949. 140 Für den Wortlaut des Protokolls der Ältestenratssitzung vom 2. Dezember 1949 (9:30 Uhr bis 10:00 Uhr): Deutscher Bundestag, Parlamentsarchiv, Protokolle des Ältestenrates 1. Wahlperiode (maschinenschriftliches Protokoll). 141 Stenographisches Protokoll der 19. Plenarsitzung am 2. Dezember 1949, in: Stenographische Berichte, 1. WP 1949, S. 572. 142 Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 1. Dezember (wie Anm. 137).

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Tatsächlich hatte Schumacher in einer Presseerklärung noch in der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1949 „längere Ausführungen“ darüber gemacht, von wem die Initiative zu der Besprechung zwischen ihm und Bundeskanzler Adenauer ausgegangen war. Zur Vorbereitung der Begegnungen zwischen Adenauer und Schumacher am 1. Dezember 1949 waren aber, wie auch oben dargelegt, Abgeordnete beider Fraktion tätig gewesen. Adenauer schlug deswegen vor, man sollte die Verhandlungen des Vormittags als nicht geschehen ansehen, da er wie Schumacher von falschen Voraussetzungen ausgegangen war.143 Regierungssprecher Paul Bourdin hatte entsprechend in einer Presseklärung betont, dass es zu diesem Zeitpunkt „wenig glücklich“ schien, „in eine dialektische Zergliederung der gemeinsamen Erklärung“ einzutreten wie es Schumacher getan hatte144. Schon hier schien sich die Erkenntnis der CDU/CSU-Fraktion vom 30. November 1949 zu bestätigen, die sich darüber im Klaren war: „eine Versöhnung würde immer nur äußerlich sein“ 145 und damit also nie ernst gemeint. XXI. Die Einigung im Urteil der Presse Grundsätzlich war die Verständigung zwischen Adenauer und Schumacher in der Presse positiv aufgenommen worden und dennoch auch sehr unterschiedlich146. Die SPD-nahe Presse betonte die Rolle Schumachers, der zurecht gefordert hatte, künftig stärker informiert zu werden. Das SPD-Organ „Neuer Vorwärts“ kürte Schumacher in seiner Ausgabe vom 3. Dezember 1949 zum „Kopf der Woche“. Die „Frankfurter Rundschau“ schmückte ihren Bericht mit einer Reihe von Spekulationen aus. Der „Mannheimer Morgen“ wusste zu berichten, dass seitens der FDP der Abgeordnete Euler gar nicht mit dem Zustandekommen des „wiederhergestellten parlamentarischen Friedens“ glücklich gewesen war. Euler erinnerte daran, dass die Forderung Adenauers, sich im Plenum und damit ja vor den Volksvertretern zu entschuldigen, ausgeblieben war. Der „Rheinische Merkur“ deutete die trotz Verständigung in der Sache unnachgiebige Haltung Schumachers dahin, dass dieser von der „Erfüllungspolitik“ be143 Presseerklärung des Regierungssprechers Bourdin vom 2. Dezember 1949, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik II/2 (wie Anm. 11), S. 290, Anm. 10. 144 Ebd. 145 Protokoll der CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 30. November 1949 (wie Anm. 119). 146 Ich folge hier den Presseberichten des Bundespresseamtes: Informationsdienst – Inland Nr. 68 und 69 vom 2. bzw. 3. Dezember 1949, vervielfältigte Umdrucksache des Bundespresseamtes.

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herrscht sei. Schon am 21. November 1949 hatte sich der „Mannheimer Morgen“ ähnlich geäußert und gemeint Schumacher lebe in einer „Fixierung der Weimarer Zeit“. Am 3. Dezember 1949 lagen die ersten ausführlichen Zeitungskommentare vor. Etliche Zeitungen zeichneten ein Szenario, in dem die Aggressionen zwischen Regierung und Opposition auch durch die „Versöhnung“ nicht eingestellt werden würden, die nur als eine „äußere Geste der Versöhnung“ gedeutet wurde. Die Ankündigungen Schumachers, seinen Kampf gegen Adenauers Politik weiter zu führen, wurden als unmissverständliches Indiz dafür gesehen, dass Spekulationen über eine große Koalition „Luftblasen-Charakter“ hätten, wie die „Frankfurter Allgemeine“ unter der Überschrift „Neuer Kampf“ schrieb. „Die Neue Zeitung“ zeigte sich amüsiert darüber, dass die Fraktionen des Bundestages nach der Beilegung des Streits allenthalben beteuert hätten, dass die Initiative für die Einigung nicht von ihnen ausgegangen sei. Eher hatte man erwartet, dass die Fraktionen mit Stolz ihren Anteil an der Verständigung herausgestellt hätten. So wurde gerätselt, wer der oder die Vermittler waren. Dass Berliner SPD-Abgeordnete beteiligt waren, war offenbar durchgesickert. „Die Neue Zeitung“ glaubte irrigerweise deswegen schon am 2. Dezember 1949, dass der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter führend beteiligt gewesen sei. Die „Frankfurter Allgemeine“ fragte „Wer war der Stärkere?“. Und die „Rheinische Zeitung“ lies ihre Leser wissen, dass Schumacher ohne Frage einen bedeutenden persönlichen und politischen Erfolg erzielt habe. Der politische Erfolg läge darin, dass durch die Beseitigung des persönlichen Konfliktes nun der Weg frei sei für die politischen Meinungsverschiedenheiten. Entsprechend hatte der „Neue Vorwärts“ am 3. Dezember 1949 noch seitenweise über die Solidaritätskundgebungen für Schumacher am 27. November 1949 in Hannover berichtet und sich hier eines Tones befleißigt, als wenn die Gemeinsame Erklärung vom 1. Dezember 1949 bei der Redaktion noch nicht bekannt gewesen sei147. Umgekehrt hatte beispielsweise die „Frankfurter Allgemeine“ am Freitag, den 9. Dezember 1949, unter der Rubrik „Stimmen der Anderen“ den Beitrag von Peter Kindler „Ein schlechter Psychologe“ aus dem „Münchener Merkur“ abgedruckt, in dem Details bekannt wurden, wie Schumacher von der Fraktion isoliert und fast fallengelassen worden war, und dann in einer erstaunlichen Weise von der Fraktion gestützt wurde, die plötzlich geschlossen hinter ihm stand148. Peter Kindler betonte in diesem Beitrag: Schumacher „hat alle Gaben, die den großen Volkstribunen ausmachen: Temperament, unbändige Energie, Wortgewalt, 147 148

„Demonstration für Dr. Schumacher“, in: Neuer Vorwärts, 3. Dezember 1949. Für Auszüge des Beitrags von Kindler oben bei Anm. 68, 77 und 90.

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ein scharfes Auge für die schwachen Stellungen des Gegners, Selbstsicherheit – und dazu, weit über den Durchschnitt der deutschen Politiker hinaus, einen klugen und klaren Kopf und eine Fähigkeit, Politik nicht nur von Fall zu Fall, sondern aus einer weiten Perspektive und mit einer groß geschauten Konzeption zu treiben. Was ihm fehlt, ist ein Schuß Wärme. Selbst der eiskalte Adenauer wirkt gelegentlich menschlicher als er. [. . .] Was er viel schwerer zugeben wird, ist, daß auch Schumacher sich wenigstens gelegentlich irren kann. Weil er praktisch doch von seiner eigenen Unfehlbarkeit überzeugt ist, liefert er den von ihm mit unendlicher Mühe aufgebauten Parteiapparat doch wieder den subalternen Funktionärtypen aus. Rationalisten sind meist schlechte Psychologen; Schumachers politische Erkenntnis ist besser als seine politische Praxis“ 149. XXII. Juristisches Nachspiel vor dem Bundesverfassungsgericht 1951 Die angekündigte und auch nach der Verständigung zwischen Adenauer und Schumacher ausdrücklich nicht zurückgezogene Verfassungsklage hatte der „Mannheimer Morgen“ schon am 26. November 1949 zu einer ausführlichen Stellungnahme bewegt. Er wies darauf hin, dass das Verfassungsgericht vor Frühjahr 1950 kaum eingerichtet sei. „Diese Zeit bietet auch ausreichende Möglichkeiten, alle auftauchenden Probleme zu prüfen, ehe das Verfassungsgericht eingreifen kann. Hierin liegen Vor- und Nachteile. Die Regierung wird sich die Gelegenheit sicherlich nicht entgehen lassen, in dieser Übergangszeit eine bestimmte verfassungsrechtliche Tradition in ihrem Sinne zu schaffen. Das Verfassungsgericht ist an diese Tradition nicht gebunden, weil es ein unabhängiges Gericht ist. Bei allen seinen Entscheidungen wird es aber doch deren politische Wirkung zu berücksichtigen haben und dementsprechend eine übertriebene konservative Linie ebenso vermeiden wie eine doktrinär-revolutionäre. So könnte es zu einem Faktor der Stabilität in der deutschen Demokratie werden, wenn es die hierfür notwendigen Entschlussfreudigkeit aufbringt“. Noch zwei Jahre sollte es dauern, bis der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 29. Juli 1952 die Politik Adenauers sanktionierte: Weil das Petersberger Abkommen mit den Besatzungsmächten geschlossen worden war und die Bundesregierung deren Kontrolle unterstand, konnte sie mit der Alliierten Hohen Kommission einen Vertrag schließen, der kein Vertrag der Bundesrepublik mit auswärtigen Staaten im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz war. So musste das Petersberger Abkommen auch nicht vom Bundestag ratifiziert werden150.

149

Hier zitiert nach: Frankfurter Allgemeine, 9. Dezember 1949. Zitiert nach: Urteil des Zweiten Senats vom 29. Juli 1952 – 2 BvE 3/51 – in: Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen, Bd. 1, 1952, S. 351. 150

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XXIII. Zur Aktualität von Schumachers Zwischenruf Die Zwischenruf-Affäre ist einer der bekanntesten Ereignisse in der Geschichte des Bundestages geworden. Alleine in der Presse der letzten zehn Jahre gab es für Journalisten reichliche Gelegenheiten an diesen Ausspruch zu erinnern: • Historische Rückblicke auf den Bonner Parlamentsbetrieb und dortige Stilblüten (z. B. anlässlich des Umzuges von Bonn nach Berlin 1999)151. • Erinnerung an den Mauerbau 1961152. • Der Paradigmenwechsel der SPD-Außenpolitik unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Außenminister Joschka Fischer153. • Beschimpfungen von Politikern154, darunter etwa auch der Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die SPD als „Kanzlerin der Konzerne“ wegen ihres Festhaltens an der Atomenergie155. • Historische Vergleiche bei Entscheidungen des Bundestagspräsidenten156. 151 Glotz, Peter: „Vorteil Mittelmaß. [. . .] Ein Nachruf“, in: Die Woche, 9. Juli 1999; Kremp, Herbert: „Grabenkrieg im Reichstag, in: Die Welt, 6. Dezember 2002; Hölscher, Astrid: „Ein Fehlurteil von bleibendem Wert“, in: Frankfurter Rundschau, 16. August 2006; Birkmaier, Werner: „Von Freisprechern und Fensterrednern“, in: Stuttgarter Zeitung, 21. Mai 2008; Harder, Lydia: „Nachruf auf den Zwischenruf“, in: FAZ-Sonntagszeitung, 7. März 2010. Sie behauptet wahrheitswidrig: „Einige Tage später bat Schumacher den Kanzler um Entschuldigung, sein Sitzungsausschluss wurde zurückgenommen“. Sturm, Daniel Friedrich: „Von ,Übelkrähen‘ und ,Hodentötern‘“, in: Welt am Sonntag, 17. Juni 2012 blieb unbekannt, dass der Sitzungsausschluss von 20 Tagen zurückgenommen wurde. Auch weiß er zu berichten, dass Schumacher Adenauer angeschnautzt hätte. Schließlich behauptet er, dass mit dem Petersberger Abkommen Deutschland dem Europarat beigetreten sei. 152 Fuhrer, Armin: „Das Geheimnis hinter der Mauer“, in: Focus, 8. August 2011. 153 Stürmer, Michael: „Außenpolitik im Stande der Unschuld“, in: Die Welt, 29. Mai 2000; Graw, Ansgar: „Klose, Schröder und die Besen“, in: Die Welt, 9. August 2002; Andresen, Karen u. a., „Freund oder Feind?“, in: Der Spiegel, 30. September 2002; Schmidt-Klingenberg, Michael: „Illusion der Macht“, in: Der Spiegel, 26. Mai 2003; Frankenfeld, Thomas/Unger, Christian: „Die Vermessung der Welt“, in: Hamburger Abendblatt, 30. November 2011. 154 Bannas, Günter: „Nicht alles wird allen nachgesehen. Warum es im Streit um Trittins Skinhead-Vergleich so viele Kollateralschäden gibt“, in: FAZ-Sonntagszeitung, 18. März 2001. 155 Bannas, Günter: „O tempora, o mores“, in: Frankfurter Allgemeine, 17. September 2010; Ferber, Martin: „Gabriel kam glatt durch“, in: Mannheimer Morgen, 18. September 2010; Rosen, Paul: „Gabriel lässt die Muskel spielen“, in: Junge Freiheit, 24. September 2010. 156 Brössler, Daniel: „Lammert wirft Linke aus dem Plenarsaal“, in: Süddeutsche Zeitung, 27. Februar 2010; Fleschen, David: „Chronik bisheriger Eklats im Bundestag“, in: Die Welt, 27. Februar 2010; Siepmann, Christian: „Kalkulierter Eklat“, in: Berliner Zeitung, 27. Februar 2010; Kolhoff, Werner „Der kalkulierte Eklat“, in: Saarbrücker Zeitung, 27. Februar 2010; „Der Ordnungshüter des Parlaments“, in: Hamburger Abendblatt, 27. Februar 2010.

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• Geburtstagsjubiläen oder Todestage von Adenauer oder Schumacher157. • Und manche Beiträge sind schließlich für das „Sommerloch“ 158 oder die Weihnachtspause159 verfasst worden. In den allerwenigsten Zeitungsbeiträgen sind die Umstände des Zwischenrufes oder auch seine Folgen zutreffend beschrieben. Das ist deswegen bedauerlich, weil so jeder Vergleich mit Schumachers Ausspruch in eine Schieflage geraten muss. Problematisch aber wird es, wenn Erinnerungen von Zeitzeugen berücksichtigt werden. Annemarie Renger, die den Abgeordneten Schumacher seit Kriegsende begleitete und später Bundestagspräsidentin wurde, gab in ihren Lebenserinnerungen den vermeintlichen Grund an, warum Schumacher das Petersberger Abkommen abgelehnt hätte und ihm schließlich der Zwischenruf rausgerutscht sei. Sie schreibt: „Der Kernpunkt des Gegensatzes war die vorgesehene Internationalisierung der Ruhrbehörde, wodurch der Sowjetunion ein Zugriff auf die westdeutsche Schwerindustrie und die Entnahme aus der laufenden Produktion ermöglicht werden sollte. Kurt Schumacher lehnte dies entschieden ab.“ 160 Solche Äußerungen bedürfen an dieser Stelle wohl keiner Richtigstellung mehr. – Kurz vor ihrem Tod hatte Renger sich in einem Interview mit dem Bonner „GeneralAnzeiger“ vom 7. Oktober 2004 dann als Ratgeberin Schumachers ausgegeben. Wörtlich sagte sie auf die Frage, ob Schumacher auf ihren Rat gehört hätte: „Das will ich hoffen, dass er manchmal darauf gehört hat. Als er das mit dem ,Bundeskanzler der Alliierten‘ (zu Adenauer) gesagt hat, da konnte ich ihn nicht mehr bremsen. Da war es schon ’raus“. Beim Leser entsteht unweigerlich der Eindruck, als wenn Renger in der fraglichen Nacht im Plenarsaal neben Schumacher gesessen hätte. – Und schon im Jahre 2001 hatte Renger im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn berichtet, dass sich Schumacher für den Zwischenruf entschuldigt habe161, auch das entspricht nicht der Wahrheit und trägt erheblich zur Legendenbildung bei. 157 Schmidt, Giselher: „Mitbegründer der Republik“, in: Rheinischer Merkur, 15. August 2002; Meyer, Claus Heinrich: „Ein gebrochener Held“, in: Süddeutsche Zeitung, 20. August 2002; Benger, Anselm: „Die ordnende Kraft im Chaos“, in: General-Anzeiger, 20. August 2002; Birkenmaier, Werner: „Unbeugsam und integer“, Stuttgarter Zeitung, 20. August 2002; Kilz, Hans Werner: „Stark und ganz allein: ein deutscher Patriot“, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Oktober 2006. 158 Günsche, Karl-Ludwig: „Geschickter Schachzug. Schröder und Fischers Kandidatur“, in: Stuttgarter Zeitung, 30. August 2003; Tiesenhausen, Friedericke von: „Im Bundestag, nachts um halb eins“, in: Financial Times Deutschland, 18. Juni 2009. 159 Glotz, Peter: „Linke Selbstbefriedigung. Plädoyer für eine stärkere Beteiligung der Sozialdemokraten an einer Patriotismus-Debatte“, in: Thüringer Allgemeine, 30. Dezember 2003. 160 Renger: Ein politisches Leben (wie Anm. 128), S. 160. 161 Herles, Helmut: „Wo die Bundesrepublik das Laufen lernte“, in: General-Anzeiger, 29. November 2001.

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Manche SPD-nahen Historiker bewerten seit einigen Jahren mit wenig Differenzierungswillen den Zwischenruf neu: Wolfgang Müller z. B. bezeichnete die Respektlosigkeit Schumachers in seiner Studie als „Fauxpas“ 162. Wenn die Entgleisung Schumachers wirklich nur ein „Fauxpas“ gewesen wäre, fragt sich, warum Schumacher sich so lange und hartnäckig weigerte, auf Adenauer zuzugehen und sich zu entschuldigen. Müller verkennt, dass die zeitgenössische propagandistische Begleitung von SPD-nahen Journalisten Schumacher schon damals genutzt hatte und langfristig nicht zuletzt nach seinem bereits 1951 eingetretenen Tod seinen Nimbus vergrößerte, der einzige ernstzunehmende Gegner Adenauers gewesen zu sein. Die Verharmlosung des Diktums als Fauxpas steht im Kontext einer Neubewertung der Geschichte der Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland, die im Kollektiven Gedächtnis bis heute – noch – positiv mit „Adenauer-Ära“ umschrieben wird. XXIV. Resümee Aus heutiger Sicht fragt sich, wer eigentlich der Gewinner und wer der Verlierer in der „Zwischenruf-Affäre“ gewesen war. Zweifelsohne stellte die Affäre Adenauers erfolgreiche Politik in den Schatten, nämlich die Rückkehr Deutschlands auf das diplomatische Parkett, den erfolgreichen Kampf gegen die alliierte Demontagepolitik und die westeuropäische Integration. Die Medien hatten lieber über die Auseinandersetzungen der beiden Streithähne berichtet, als die komplizierten Details aus dem Petersberger Abkommen zu rezitieren und zu bewertet. Adenauers außenpolitischer Berater Herbert Blankenhorn hob schon unter dem 24. November 1949 auf seinen Tagebuchblättern die Bedeutung des Petersberger Abkommens und die Leistungen des Bundeskanzlers hervor und konstatierte: „Leider hat dieses Ereignis im Bundestag nicht die einheitliche positive Resonanz gefunden, die sie verdient hätte“. Aber die internationale Presse hätte „sich überwiegend positiv“ zum Abkommen äußerte und die Bemühungen Adenauers „als eine staatsmännische Leistung“ anerkannt163. Das Schlagwort vom „Bundeskanzler der Alliierten“ gab aber, wie Herbert Kremp ausführte, bis heute „dem Kernstaat-Begriff“ Adenauers „eine Färbung, die am Bild der Deutschland-Politik des ersten Bundeskanzlers bis heute haften

162 Müller, Wolfgang: Die europapolitischen Vorstellungen von Kurt Schumacher 1945–1952, Eine Alternative für Deutschland und Europa? Stuttgart 2003, S. 94. 163 Blankenhorn, Herbert: Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuches 1949 bis 1979, Frankfurt am Main, Berlin u. Wien 1980, S. 84 u. 85–87. Auch die Abbildung von drei Seiten des am 22. November 1949 verfassten handschriftlichen Entwurfes der Regierungserklärung Adenauers vom 24. November 1949 zum Petersberger Abkommen.

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geblieben“ ist164. Die Zwischenruf-Affäre im Herbst 1949 bleibt dann nur eine „überbelichtete Momentaufnahme“. Adenauer deswegen als Verlierer in der Zwischenruf-Affäre bezeichnen zu können, würde aber wohl zu kurz greifen. Schumacher hat die Affäre genutzt. Noch unmittelbar zuvor war er in der eigenen Fraktion in höchsten Maße umstritten und es gab ernsthafte Überlegungen, sich von ihm als Fraktionsvorsitzenden zu trennen. Mit dem Sitzungsausschluss war jedoch die SPD-Fraktion „genötigt“, geschlossen hinter ihrem Vorsitzenden zu stehen. Nur Dank Adenauers Verzicht auf eine förmliche Entschuldigung kam Schumacher aus der Affäre überhaupt heraus, was von der zeitgenössischen Presse kaum aufgegriffen worden war. Sie feierte Schumacher als strahlenden Sieger, obwohl er in der Folge für seine Politik immer weniger Anhänger in Deutschland fand. Im Übrigen gab es langfristig gesehen einen wirklichen Verlierer: Bundestagspräsident Erich Köhler. Bis heute ist er dem Vorwurf ausgesetzt, in der Zwischenruf-Affäre mit 20 Tagen Sitzungsausschluss eine zu harte Strafe verhängt zu haben.165 Nach dem schon seit Oktober 1949 Rücktrittsforderungen laut wurden, saß er nun zusehends auf verlorenem Posten. Mit seiner Verhandlungsführung waren schon bald alle Fraktionen im Bundestag unzufrieden, weswegen er schließlich ein Jahr später, am 18. Oktober 1950, als Bundestagspräsident zurücktrat. Im Bezug auf das Verhältnis von Adenauer und Schumacher wird der Ausruf „Der Bundeskanzler der Alliierten!“ auch zukünftig assoziiert werden, zumal er schlagwortartig die Gegnerschaft dieser beiden Politiker in Erinnerung ruft – auch wenn es völlig falsch wäre, das Verhältnis der beiden allein aus dem berühmten Zusammenstoß der fraglichen Nacht zu erklären166.

164 Kremp, Herbert: Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Provisorium, in: Barzel: Sternstunden des Parlaments (wie Anm. 9), S. 15–42, hier S. 35. 165 Über die Schwierigkeit, als Parlamentspräsident einer Rede zu folgen und gleichzeitig Geschehnisse wie Zurufe aufzunehmen und dann zu ahnden berichtet: Krieger, Ludwig: Die Behandlung von Zwischenrufen in den Stenographischen Berichten, in: Neue Stenographische Praxis, 1, (1953), Heft 3, S. 68–76. 166 Dazu: Schwarz, Hans-Peter: Kurt Schumacher und Konrad Adenauer, in: Krane, Regina (Hrsg.): Nach-Denken. Kurt Schumacher und seine Politik. Haus der Geschichte der Bundesrepublik, Berlin 1996, S. 29–40, hier S. 34.

Der „Manager der Heusteigstrasse“ Der Beitrag Alex Möllers zur Entstehung und Konsolidierung des Südweststaates Michael Kitzing „Der Manager der Heusteigstrasse“, so überschrieb die Stuttgarter Zeitung ein Portrait von Alex Möller in den fünfziger-Jahren – an anderer Stelle war auch von Alex Möller als dem „heimlichen Ministerpräsidenten“ des Landes BadenWürttemberg oder als dem „König des baden-württembergischen Landtages“ die Rede. Diese Einschätzungen in der Presse treffen im Wesentlichen das Selbstverständnis Möllers, der, abgesehen von seiner kurzen Zeit als Bundesfinanzminister, fünfunddreißig Jahre lang vier verschiedenen Parlamenten angehört hat und im Parlament, nicht in der Regierung, den eigentlich gestaltenden Faktor der Politik gesehen hat. So war es für Möller stets selbstverständlich, niemals nur „Nicke-Mann“ zu sein, vielmehr sah er die Aufgabe des Parlamentariers darin, sämtliche Gesetzesvorlagen der Regierung kritisch zu durchleuchten und im gegebenen Fall grundsätzlich zu überarbeiten.1 Genauso selbstverständlich war es für Möller, dass das Parlament und durchaus auch die Fraktionen der Regierungsmehrheit selbst Gesetzesinitiativen erarbeiten und hierbei nicht ausschließlich der Regierungsbürokratie die Initiative überlassen sollten. Schließlich hat Möller den Aspekt der Kontrolle der Regierung ebenfalls nicht nur als Part der Opposition verstanden, sondern auch die Handlungen der u. a. von seiner Fraktion mitgetragenen Regierung stets einer kritischen Überprüfung unterzogen. Der folgende Vortrag möchte nunmehr den Part von Alex Möller zunächst bei der Entstehung des Landes Baden-Württemberg und schließlich bei der Konsolidierung und beim inneren Ausbau des Südweststaates in den 1950er-Jahren hinterfragen. Welchen Beitrag zur Entstehung des Landes konnte Möller leisten? Welche Gestaltungsmöglichkeiten ergaben sich für einen Parlamentarier vom Format Möllers bei der Ausarbeitung der Aufbaugesetzgebung und schließlich bei der Kontrolle von etwaigen Fehlleistungen der Regierung? Welchen Einfluss hatte Möller auf die Regierungsbildungen der 1950er-Jahre und wie gestaltete sich das Verhältnis zu den Regierungsmitgliedern? Wo lagen die Grenzen des 1 Eingehend wird das Selbstverständnis Möllers als Parlamentarier insbesondere bei seiner Darstellung des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes deutlich (hierzu Möller, Alex: Genosse Generaldirektor, München u. Zürich 1978, S. 332 ff.).

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Einflusses von Möller und wie reagierte dieser, als die SPD 1960 durchaus überraschend in die Opposition gedrängt wurde? Neben der Darstellung des politischen Selbstverständnisses von Möller soll schließlich noch ein zumindest knapper Blick auf die Arbeitsweise des SPDFraktionsvorsitzenden geworfen werden. I. Möllers Weg in die südwestdeutsche Landespolitik Alex Möller wurde 1903 als Sohn eines Eisenbahners in Dortmund geboren.2 Sein politisches Engagement beginnt Möller an der Jahreswende 1918/19: Nunmehr hat er seine Schulausbildung mit der Mittleren Reife abgeschlossen und ist in die Jugendorganisation der DDP eingetreten.3 Aufgrund des rasch einsetzenden Bedeutungsverlustes der DDP wechselt Möller jedoch schon 1921 zur Sozialdemokratie über.4 Gleichzeitig ist er in diesen Jahren als Sekretär der Eisenbahnergewerkschaft in Halle tätig und arbeitet darüber hinaus als Journalist. So schreibt er u. a. für das Dortmunder Tageblatt wie auch für die von Ludwig Gerlach herausgegebene Welt am Montag.5 Neben Gerlach lernt der junge Alex Möller bereits Mitte der zwanziger-Jahre zahlreiche Spitzenvertreter des sozialdemokratischen und linksbürgerlichen Lagers kennen, u. a. Rudolf Breitscheid, Ludwig Quidde und Carl v. Ossietzky. Im Jahr 1928 wird Möller als bis dahin jüngster Abgeordneter gegen den Widerstand der örtlichen Parteiführung im Wahlkreis Halle in den preußischen 2 Zur Biografie Möllers Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1); Feuchte, Paul: Alex Möller, in: Ottnad, Bernd (Hrsg.): Baden-Württembergische Biographien I, Stuttgart 1994, S. 240–245; Metzler, Gabriele: Alex Möller, in: Weber, Reinhold/Maier, Ines (Hrsg.): Politische Köpfe aus Südwestdeutschland, Stuttgart 2006, S. 321–331; Fromme, Friedrich Karl: Alex Möller, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister. Biographisches Lexikon der Deutschen Bundesregierung, Wiesbaden 2001, S. 494–497. Eine umfangreichere Arbeit zu Alex Möller liegt bisher noch nicht vor, jedoch die unveröffentlichte Magisterarbeit der Chefsekretärin Möllers Schunck, Winnifred: Alex Möller. Gestaltung durch Mandat. Die Jahre bis 1961, Unveröffentlichte Magisterarbeit an der TH Karlsruhe 2003. Auch: Lange, Dagmar: Die politische Bedeutung und Rolle von Alex Möller in der Landespolitik von Baden-Württemberg. Vorstudien zu einer politischen Biografie, Unveröffentlichte Magisterarbeit Stuttgart 1984. – Die vorliegende Studie ist schließlich Teil eines am Historischen Institut der Universität Stuttgart/Abteilung Landesgeschichte angesiedelten Habilitationsprojektes zur politischen Biografie Möllers. 3 Hammerschmidt, Helmut: Helmut Hammerschmidt im Gespräch mit Alex Möller, in: Schnelting, Karl B. (Hrsg.): Zeugen des Jahrhunderts. Portraits aus Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1981, S. 86–118, hier S. 90 f. 4 Ebd. S. 91. 5 Die Artikel Möllers aus den zwanziger Jahren finden sich in: BA Koblenz, Nachlass Alex Möller Nr. 14; auch Hammerschmidt: Helmut Hammerschmidt im Gespräch mit Alex Möller (wie Anm. 3), S. 95.

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Landtag gewählt.6 Hier hat er u. a. (zumindest parteiintern) an der Ausarbeitung des preußischen Konkordats Anteil, genauso wie er als konsequenter und mutiger Gegner der Nationalsozialisten hervortritt.7 Innerhalb der SPD positioniert sich Möller zunächst auf der Parteilinken: u. a. stellt er die Forderung nach dem Ausscheiden der SPD aus dem Reichsbanner, das er zu sehr durch die „Salonrepublikaner“ aus den Reihen von DDP und Zentrum geprägt sieht, vielmehr so Möller, bedürfe es der Schaffung einer pro-republikanischen Kampfbewegung, ausschließlich aus Vertretern der Arbeiterparteien.8 Folglich kritisiert Möller auch die passive Haltung des SPD-Parteivorstandes beim „Preußenschlag“ Papens überaus scharf, genauso wie er am 30. Januar 1933 unbedingt für die Ausrufung des Generalstreiks eintritt.9 Diese eindeutig pro-republikanische Haltung Möllers sollte eine schlimme Leidensphase in den Jahren des „Dritten Reiches“ zur Folge haben: Im Jahr 1933 wird Möller mehrfach in Schutzhaft genommen und schwer misshandelt.10 In den folgenden Jahren wird Möller immer wieder von der Gestapo zum Verhör vorgeladen, unangekündigt und zum Teil über mehrere Tage. Zudem steht Möller beruflich und wirtschaftlich vor dem Ruin, eher zufällig wird er als Vertreter für die Phönix Versicherungsgesellschaft tätig, um ab 1936 zur Karlsruher Lebensversicherung (KLV) zu wechseln. Obwohl er unter ständiger Beobachtung der Nationalsozialisten steht, gelingt es Möller, bis 1944 zum stellvertretenden Vorstandsmitglied der KLV aufzusteigen. Nach dem Kriegsende und der Besetzung Karlsruhes, wo er seit 1943 wohnt, tritt er (da als einziges Vorstandsmitglied unbelastet) unmittelbar an die Spitze des Konzerns. Gleichzeitig ist er auf Wunsch der Amerikaner mit dem Aufbau des Versicherungswesens in Württemberg-Baden insgesamt betraut worden.11 Politisch engagiert sich Möller ab 1946 erneut in der SPD, für die er noch im gleichen Jahr in die Verfassungsgebende Landesversammlung des Landes Württemberg-Baden gewählt wird. Hat er in dieser nach eigener Einschätzung noch die Rolle eines Hinterbänklers eingenommen,12 so wird er gleichwohl noch im selben Jahr in den ersten Landtag gewählt, in dem er sofort als zweiter Fraktions6 Ernst Hamburger in seinen unvollendeten „Erinnerungen an die Weimarer Zeit“, zit. in: Möller, Alex: Tatort Politik, Zürich u. München 1982, S. 107. 7 Möller: Tatort Politik (wie Anm. 6), S. 108–114. 8 Möller, Alex: Verstärkte Abwehr gegen den Faschismus, in: Der Klassenkampf. Sozialistische Politik und Wirtschaft, 1. November 1930. 9 Möller: Tatort Politik (wie Anm. 6), S. 178 ff. u. S. 240 ff. 10 U. a. Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 26 f. 11 Überblick über die Tätigkeit Möllers im Versicherungswesen seit 1933 in: Möller, Alex: Blick zurück nach vorn. Ein Interview im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart zum Thema Baden-Württemberg. Festgabe des Landtags von Baden-Württemberg aus Anlass des 80. Geburtstages von Bundesfinanzminister a. D. Alex Möller, Stuttgart 1983, S. 7–9. 12 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 35.

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vorsitzender der SPD und zweiter Vorsitzender des Finanzausschusses zu einem der zentralen Akteure der Landespolitik aufsteigt. In seinen Funktionen hat sich Möller mit sämtlichen zentralen Aspekten der Landespolitik beschäftigt, insbesondere mit Fragen der Finanzpolitik. Darüber hinaus ist er allerdings auch nicht vor Kritik an falschen Entscheidungen der Besatzungsmächte zurückgeschreckt. Nachdrücklich hat er immer wieder die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen gefordert, genauso wie er, ohne die deutsche Schuld in irgendeiner Form zu leugnen, doch auch wiederholt darauf aufmerksam gemacht hat, dass Hitlers Aufstieg nicht zuletzt durch die passive, ja in mancher Hinsicht wohlwollende Haltung des Auslandes ermöglicht wurde. Gerade diese Kritik brachte Möller eine Hausdurchsuchung des französischen Sicherheitsdienstes ein.13 Ebenfalls zu den von Möller behandelten Themen gehörte seine Kritik an der Entnazifizierungspraxis der Amerikaner:14 Selbstverständlich hat Möller eine scharfe und unnachgiebige Bestrafung der Schuldigen verlangt,15 wobei er freilich in erster Linie an die Hauptschuldigen und Belasteten gedacht hat. Dagegen warf er der Besatzungsmacht vor, sich viel zu intensiv mit der breiten Masse der Mitläufer auseinander zu setzen, die es jedoch wieder in die Gesellschaft zu integrieren galt und deren Arbeitskraft nunmehr für den Wiederaufbau gebraucht würde. Ebenfalls kritisiert hat Möller an der Politik der Alliierten die hohen Besatzungskosten, die als eine schwere Bürde für eine ja gerade erst im Aufbau begriffene Demokratie angesehen werden mussten.16 II. Vorkämpfer und Gründervater des Südweststaates Zu den von Möller insbesondere behandelten Themen gehörte in diesen Jahren sein Eintreten für den Südweststaat, wobei er, insbesondere im Karlsruher und nordbadischen Raum, zu den „Motoren der Südweststaatsgründung“ gehört hat. Aufgrund des am 21. April 1949 verabschiedeten Neugliederungsgesetzes für Südwestdeutschland musste die Entscheidung über die Gründung des Südweststaates im nordbadischen Raum fallen.17 Indem der Bundestag den Vorschlägen 13 Seine Kritik hat Möller vor allen Dingen im Januar 1946 in der Rede: Gebt unsere Kriegsgefangenen frei, artikuliert – hierzu Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 24 f. 14 Zur Kritik Möllers an der amerikanischen Entnazifizierungspraxis Möller: Blick zurück nach vorn (wie Anm. 11), S. 27 f. 15 Möller, Alex: Der Weg in die Zukunft, Karlsruhe 1945, S. 11. 16 Verhandlungen des Ersten Württemberg-Badischen Landtages, Stuttgart 1947, S. 166, 1765 f., u. 2203–2205, wie auch Möller, Alex: Das Problem der Besatzungskosten, in: Badische Neueste Nachrichten (BNN), 1. Oktober 1948. 17 Überblick über die Entwicklung der Südweststaatsfrage bei Asche, Susanne/ Bräunche, Ernst Otto: Karlsruhe – Die Stadtgeschichte, Karlsruhe 1998, S. 520–526 u. 735–738; Feuchte, Paul: Verfassungsgeschichte von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983, S. 117–164; Matz, Klaus-Jürgen: Grundlagen und Anfänge von Baden-Württem-

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des Weinheimer Fabrikanten und liberalen Abgeordneten Richard Freudenberg folgte, war der südwestdeutsche Raum in vier Abstimmungsbezirke geteilt worden, wobei in drei der vier Abstimmungsbezirke eine Mehrheit für den Südweststaat erforderlich war, damit dieser gegründet werden konnte. Dabei konnte ein positives Votum für die Gründung des Südweststaates sowohl in Nord- als auch in Südwürttemberg-Hohenzollern mit Sicherheit erwartet werden, genauso wie in Südbaden ein klares Votum für die Wiederherstellung der Länder der Weimarer Republik erwartet werden konnte. Ausgeglichen war die Stimmung in Nordbaden: Hier hatte bei einer informatorischen Volksbefragung 1950 eine knappe Mehrheit für den Südweststaat gestimmt, doch gab es gerade in Karlsruhe ein starkes altbadisches Lager, das durch die beiden CDU-Abgeordneten Adolf Kühn und Friedrich Werber angeführt wurde. „In Nordbaden lag in jedem Fall der Schlüssel für die Entscheidung, und hier fochten die Befürworter und Gegner des alten Landes Baden den Kampf um die Stimmen am erbittertsten aus, als im Dezember 1951 die entscheidende Volksabstimmung stattfand“.18 Insbesondere Werber argumentierte überaus emotional: Unter der Überschrift „Wir bleiben Baden treu“ 19 lehnte er sämtliche Vorschläge für eine Gebietsreform in Südwestdeutschland ab und führte seinerseits badische Ressentiments gegenüber Württemberg ins Feld. In Württemberg seien die Badener nach der Evakuierung während des Westfeldzuges 1940 als Westwallzigeuner beschimpft worden: „Heute aber möchte Württemberg nichts anderes, als den badischen Markt für sich zu erobern“.20 Gleichzeitig wußte Werber von einer Fülle von Beispielen zu berichten, gerade auf dem Gebiet der Kulturförderung, bei denen der badische Landesteil im Staate Württemberg-Baden von Stuttgart aus benachteiligt würde.21 Der ausgemachte Gegner Werbers war dabei der „Herr Möller“, der ja auch erst 1943 nach Karlsruhe gekommen sei und dem eine badisch-patriotische Gesinnung kurzerhand abgesprochen wurde.22 Der impulsiven emotionalen Argumentation Werbers trat Möller mit bewußt rationalen Argumenten gegenüber. So zeigte er an zahlreichen Beispielen auf, dass die Zahlen Werbers nicht zutrafen und von einer Benachteiligung Nordbadens von Seiten Stuttgarts keine Rede sein

berg 1948–1960, in: Schwarzmaier, Hans-Martin/Taddey, Gerhard (Hrsg.): Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte. Im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Band 4, Stuttgart 2004, S. 519–549. 18 Asche/Bräunche: Karlsruhe – Die Stadtgeschichte (wie Anm. 17), S. 523. 19 BNN, 28. November 1958: „Wir bleiben Baden treu“. Eine Kundgebung der Badener im überfüllten Studentenhaus. 20 Ebd. 21 Seine Klagen über die Benachteiligung des badischen Landesteils sprach Werber wiederholt im Württembergisch-Badischen Landtag an. Hierzu: Verhandlungen des Zweiten Württembergisch-Badischen Landtages, Stuttgart 1951, S. 1683 f. u. 1686– 1688. 22 BNN, 28. November 1951: „Wir bleiben Baden treu!“

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konnte.23 Dagegen war für Möller Südbaden ein bettelarmes Land, das wirtschaftlich schlicht nicht überlebensfähig war, vor allem aber störte Möller die ganze Argumentation der Altbadener, die nur das Ziel habe, „an der Sache vorbei zu reden, aber den Gegner persönlich zu treffen“. Die Altbadner waren für Möller nichts weiter als selbst ernannte „gelb-rot-gelbe Volkshelden“, denen es darum gehe „die Südweststaatler als schwarz-rot-goldne Landesverräter zu denunzieren“.24 Neben Werber und Kühn war es auch der französische Hochkommissar Francois Poncet, der der Gründung eines Südweststaates Vorbehalte entgegenbrachte und die Entstehung eines vergrößerten südwestdeutschen Bundeslandes direkt an der französischen Grenze an sich ablehnte. Doch auch dem französischen Hochkommissar trat Möller im Rahmen von dessen Besuch im Stuttgarter Landtag nachdrücklich entgegen. So betonte er einerseits, dass Frankreich von einem südwestdeutschen Bundesland nichts zu befürchten habe – die Fronten lägen in den Zeiten des Kalten Krieges nunmehr ganz anders. Vielmehr könnte ein einheitlicher, wirtschaftlich und finanziell ausgewogener Südweststaat „die geeignete Brücke der Verständigung“ zwischen Deutschland und Frankreich für die Zukunft darstellen.25 Alle Argumente, die für die Gründung des Südweststaates sprachen, hat Möller schließlich noch einmal in der Landtagsdebatte vom 25. Januar 1951 zusammengefasst. Politisch sprach er sich dabei gegen jede Kleinstaaterei und für die Bildung von überlebensfähigen Ländern aus, wobei wirtschaftlich der Südweststaat ein solches überlebensfähiges Staatsmodell darstellte, während Möller den beiden südlichen Landesteilen Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern allein keine Überlebenschance gab. In finanzieller Hinsicht habe man im Südweststaat das „Ideal eines Finanzausgleichs auf engem Raum“. In kultureller Hinsicht könne ein Südweststaat aufgrund seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ebenfalls Leistungen von hohem Niveau abliefern. Vor allem aber sei die Gründung eines Südweststaates in verwaltungstechnischer Hinsicht eine Notwendigkeit: Aus jeweils drei Apparaten, Regierungen, Landtagen und Bürokratien „würden eine Regierung, ein Landtag und eine Zentralverwaltung entstehen“ 26. Gerade dieses Argument war für Möller in letzter Konsequenz ausschlaggebend, bildete

23 Verhandlungen des Zweiten Württembergisch-Badischen Landtages, Stuttgart 1951, S. 1684–1686; auch BNN, 6. Dezember 1951: Rededuell Alex Möller – Dr. Werber. Alex Möller verhalf Dr. Werber zum Wort. 24 Die beiden Zitate in BNN, 24. November 1951: Landtagsabgeordneter Alex Möller: „Lasst am 9. Dezember Herz und Verstand sprechen!“ 25 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 121–123. 26 Verhandlungen des Zweiten Württemberg-Badischen Landtages, Stuttgart 1951, S. 96; Möller: Blick zurück nach vorn (wie Anm. 11), S. 32; Feuchte: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 17), S. 138.

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doch die „Frage der Verwaltungsvereinfachung“ 27 das zentrale Anliegen Möllers während seiner gesamten politischen Tätigkeit. Eine schlanke Verwaltung bildete dabei für Möller nicht nur aus finanzpolitischen, sondern auch aus demokratietheoretischen Gründen eine absolute Notwendigkeit. Die Verwaltung, so Möller, habe in erster Linie der Gesellschaft und nicht dem Staat zu dienen, sie sollte den einzelnen Staatsbürgern helfen, ihr Zusammenleben zu regeln und zu erleichtern, niemals jedoch die Führung über den Einzelnen übernehmen. Gerade die jüngste Vergangenheit aber neige dazu, „die dienende Verwaltung zur herrschenden Bürokratie zu erheben, der sich der Einzelne hilflos ausgeliefert fühlt“ 28. Gerade in der NS-Zeit habe man die Bedeutung einer Mammutbürokratie für eine Diktatur kennengelernt, so liege es doch im Wesen eines diktatorischen Staates, „mit Hilfe einer weitreichenden und selbstherrlichen Verwaltung dem Volk seinen Willen aufzuzwingen“ 29. Das Kennzeichen einer Demokratie lag für Möller jedoch gerade darin begründet, dass die Willensbildung des Volkes dem Verwaltungshandeln vorausging. Im Sinne eines demokratischen Staates musste es somit sein, dass die Verwaltungstätigkeit dort ihre Grenze finden müsse, wo die zwingenden und berechtigten Interessen der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen enden. Darüber hinaus betonte Möller, dass auch für die Verwaltung das ökonomische Prinzip gelten müsse und eine gesunde Relation zwischen den Verwaltungskosten einerseits und dem Volkseinkommen andererseits vorhanden sein müsse. Dabei, so Möller, müsse sich der Politiker stets fragen, „ob ein Unterlassen von Aufwendungen für Verwaltungsarbeit im Einzelfall tatsächlich gewichtige wirtschaftliche und soziale Nachteile zur Folge hat“ 30. Hatte Möller somit bereits in den Jahren ab 1946 immer wieder eine Reduktion der Besatzungsverwaltung und der damit einhergehenden Kosten angemahnt,31 so hat er genauso versucht, durchaus im Zusammenspiel mit Finanzminister Heinrich Köhler, einer Aufblähung der württemberg-badischen Verwaltung entgegenzuwirken, wie er auch befürchtete, die Frankfurter Wirtschaftsverwaltung könne einen übermäßigen bürokratischen Apparat hervorbringen.32 Erschöpft waren die Gemeinsamkeiten zwischen Möller und Köhler bei den Bestrebungen Möllers, die badische Landesverwaltung, die Köhler gleichsam die Stellung eines Ministerpräsidenten des nordbadischen Landesteils einbrachte und diesem weitgehende Rechte bei der Beamtenernennung zusicherte, in die Ver-

27 Möller, Alex: Etatdebatte zum Staatshaushalt 1947. Rede im Württemberg-Badischen Landtag am 16. Oktober 1947, Karlsruhe. 1947, S. 11. 28 Möller: Etatdebatte zum Staatshaushalt (wie Anm. 27), S. 12. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Verhandlungen des Ersten Württemberg-Badischen Landtages, Stuttgart 1947, S. 166. 32 Ebd. S. 1764; auch ebd. S. 2206 u. 2515 f.

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waltungsorganisation Württemberg-Badens einzugliedern und dabei den Finanzminister zur Aufgabe seiner Sonderstellung als Bezirkspräsident zu bewegen.33 In der Gründung des Südweststaates sah Möller nun die Chance für einen umfassenden Abbau der Bürokratie innerhalb des Gebietes der drei vormals selbständigen Länder – kurz: Der Aspekt der Verwaltungsvereinfachung wurde von Möller zum wohl wichtigsten Argument für die Gründung des Südweststaates. Aus diesem Grund sollte es zu Möllers zentralem Ziel werden, in den fünfzigerJahren eine umfassende Verwaltungsreform in Baden-Württemberg durchzuführen und genau an diesem Ziel sollte Möller zwei, wenn nicht drei Mal scheitern. Letztlich war Möller mit seinem Werben um eine Mehrheit für den Südweststaat in Nordbaden erfolgreich: Zwar stimmte die alte Landeshauptstadt Karlsruhe für die Wiederherstellung des alten Baden, gleichwohl blieben die Altbadner im gesamten Abstimmungsbezirk Nordbaden in der Minderheit.34 Nach der Gründung des Südweststaates hatte Möller maßgeblichen Anteil an der Bildung der sozial-liberalen Koalition unter Reinhold Maier, die unter Einbeziehung des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) – einer Partei, der Möller sonst nicht viel abgewinnen konnte – im Landtag eine Mehrheit, was gleichzeitig zum Ausschluss der CDU aus der Regierungsverantwortung führte.35 Möller hat die Bildung dieser Koalition noch bis ins hohe Alter verteidigt. Dabei waren vor allem zwei Argumente für ihn maßgeblich: Einerseits das herrische Auftreten von Gebhard Müller und Leo Wohleb, die bei Verhandlungen zur Vorbereitung der Landesgründung mit der Stuttgarter Regierung wenig kompromissbereit gewesen seien. Beide Herren, so Möller, wären es gewohnt gewesen, in ihren Ländern mit absoluten Mehrheiten zu regieren und nicht auf Wünsche politischer Partner einzugehen.36 Vor allem aber erschien Möller die CDU aufgrund des tiefen Risses zwischen Altbadnern und Südweststaatsanhängern im

33 Die von der SPD herausgegebene Broschüre Einheit und Freiheit. Für einen gemeinsamen Staat Württemberg – Baden – Hohenzollern. Reden im Württemberg-Badischen Landtag/Fritz Ulrich; Alex Möller, Stuttgart 1948, S. 33–36. 34 In Karlsruhe sprachen sich 59,5 Prozent der Wähler für die Wiederherstellung des alten Baden und nur 41,5 procent für die Gründung des Südweststaates aus. In Nordbaden votierten jedoch 57,2 Prozent der Stimmberechtigten für die Gründung des Südweststaates. 35 Zur Bildung der Regierung Maier und deren Arbeit Matz, Klaus-Jürgen: Reinhold Maier (1889–1971). Eine politische Biografie. Düsseldorf 1989, S. 398–404; sowie Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 549–559; die Rolle Möllers bei der Regierungsbildung untersucht Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 50– 51. 36 Zur unnachgiebigen Haltung der beiden „CDU-Herrscher aus den südlichen Landesteilen“, die auch bei den ersten Beratungen über die Verfassung des neuen Bundeslandes aus Sicht von FDP und SPD wenig konziliant waren, Möller: Blick zurück nach vorn (wie Anm. 11), S. 34 f.

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Jahr 1952 nicht als zuverlässiger politischer Partner37 – schließlich entsprach die sozial-liberale Koalition der Regierungskonstellation im Lande Württemberg-Baden seit dem Jahr 1951. Klaus-Jürgen Matz hat aufgezeigt, dass die Regierung unter Reinhold Maier keineswegs, wie von CDU-Seite behauptet, eine politische Fehlgeburt darstellte, sondern vielmehr eine ganze Reihe von durchaus erfolgreichen Maßnahmen zum Wiederaufbau des noch immer kriegszerstörten Landes ergriffen hat, genauso wie die Infrastruktur des Landes gestärkt wurde.38 Dennoch ist die Koalition unter Reinhold Maier nach etwas über einem Jahr zerbrochen, wobei Möller am Bruch der Koalition nicht ganz unschuldig war. Zu Verstimmungen zwischen Liberalen und Sozialdemokraten kam es bereits im Mai 1953, als Reinhold Maier sich den Wünschen der FDP-Bundesspitze beugte und im Bundesrat der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Wiederbewaffnung gegen den Willen seines Koalitionspartners zur Mehrheit verhalf.39 Zwar wurde die Koalition fortgesetzt, Probleme standen aber auch ins Haus, da die Koalition mit der Verabschiedung der Verfassung nicht vorankam. Im Juli 1953 kam es schließlich auf Einladung Gebhard Müllers zu einer Zusammenkunft zwischen Möller und dem Fraktionsvorsitzenden der CDU im Ludwigsburger Ratskeller, auf der im Grunde genommen das Ende der Regierung Maiers besiegelt und die Grundzüge zur Klärung der zwischen Regierung und Opposition noch strittigen Fragen bei der Verfassungsgebung abgesteckt wurden.40 Dabei machten sowohl Möller als auch Müller Zugeständnisse: Möller erklärte sich bereit, den Fortbestand der Konfessionsschule in Württemberg-Hohenzollern zu garantieren. Auch willigte Möller vorbehaltlich der Zustimmung seiner Fraktion darin ein, die Lehrerbildung, die seit den zwanziger-Jahren in Baden sowohl an simultanen wie auch an konfessionellen Bildungsanstalten durchgeführt wurde, aufrechtzuerhalten. Auch war Möller nunmehr bereit, die Forderung der CDU nach Anerkennung des Reichskonkordates zu billigen. Im Gegenzug musste Müller gerade in den Fragen der Staatsorganisation dem SPD-Fraktions37 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 126; zu den fraktionsinternen Spannungen in der Südwest-CDU Weinacht, Paul-Ludwig: Kurze Geschichte der CDUFraktion, in: Mappus, Stefan (Hrsg.): Menschen, Werte, Gestaltungskraft. 60 Jahre CDU-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg, Stuttgart 2008, S. 13–102, hier S. 42 f. 38 Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 556–559. 39 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S.131 f.; Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 562 f.; Mann, Hans-Joachim: Die SPD in Baden-Württemberg von 1952 bis zur Gegenwart – Politik, innere Entwicklung, Organisation, in: Schadt, Jörg/Schmierer, Wolfgang (Hrsg.): Die SPD in Baden-Württemberg und ihre Geschichte. Von den Anfängen der Arbeiterbewegung bis heute, Stuttgart 1979, S. 233– 299, hier S. 234 f. 40 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 133; zum Treffen zwischen Möller und Müller im Ludwigsburger Ratskeller Matz: Reinhold Maier (wie Anm. 35), S. 426–429; Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 564 f.

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vorsitzenden in einer Reihe von Punkten nachgeben. So kam es nicht, wie von der CDU gewünscht, zur Schaffung eines Zweikammersystems. Genauso wenig wie für einen Senat war in der baden-württembergischen Verfassung Platz für den von der CDU gewünschten Staatspräsidenten, der direkt vom Volk gewählt werden sollte. Auch in zwei weiteren Punkten konnte sich Möller durchsetzen: So sollte die Verfassung keiner Volksabstimmung unterzogen werden, zudem sollte die verfassungsgebende Landesversammlung noch für knapp zweieinhalb Jahre im Amt bleiben und nicht, wie von der CDU gewünscht, unmittelbar nach der Verabschiedung der Verfassung eine Landtagsneuwahl stattfinden. Entgegen den Forderungen der CDU kam es auch nicht zur Bildung von Landschaftsverbänden mit ausgedehnteren Autonomierechten, da von Möller deren Existenz als kontraproduktiv für den weiteren Zusammenhalt des Landes angesehen worden wäre. Möller hat die nunmehr begründete Zusammenarbeit mit Gebhard Müller damit gerechtfertigt, dass er zu dem Schluss gekommen sei, es sei im Grunde genommen unmöglich, die Verabschiedung der Verfassung gegen den Willen der stärksten landespolitischen Kraft förmlich durchzupeitschen.41 Nachdem Reinhold Maier die Bundestagswahl 1953 schließlich noch zum persönlichen Vertrauensvotum erklärt hatte und damit scheiterte – vielmehr erhielt die CDU die absolute Mehrheit – kam es im November 1953 zur Verabschiedung der Landesverfassung, entsprechend den von Möller und Müller getätigten Absprachen und zur Neuwahl der Landesregierung mit Gebhard Müller an der Spitze. Auch in diesem Fall verzichtete Möller darauf, das Amt des Finanzministers zu übernehmen, sondern sollte sich vielmehr in der Rolle gefallen, als Vorsitzender des Haushaltausschusses wie auch der SPD-Fraktion die Rolle eines Korrektivs, ja einer regierungsimmanenten Daueropposition wahrzunehmen. Zugleich hat Möller jedoch auch seine Position dazu genutzt, um eigene Initiativen zu entfalten, beziehungsweise zwischen widerstreitenden Interessen zu vermitteln, wie dies insbesondere bei der Ausarbeitung des Finanzausgleiches der Fall sein sollte. III. Chancen und Probleme – Erfolge und Scheitern: Zu den parlamentarischen Initiativen Alex Möllers als Vorsitzender des Haushaltsausschusses und der SPD-Fraktion in den Jahren der „Allparteienkoalition“ 1953–1960 1. Finanzausgleich Im Zentrum der Landtagsarbeit der ersten Legislaturperiode standen die so genannten Aufbaugesetze, die der Konsolidierung des Landes beziehungsweise der Ausführung der Bestimmungen der Landesverfassung dienen sollten. Hierzu 41

Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 133 f.

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zählten das Landesverwaltungsgesetz, die Landespolizeiordnung, das Landeswahlgesetz und schließlich das Finanzausgleichsgesetz zwischen dem Land Baden-Württemberg und seinen Kommunen.42 Als Vorsitzender des Finanzausschusses hat sich Möller insbesondere bei der Verabschiedung dieses Gesetzes engagiert und die Rolle eines Vermittlers zwischen unterschiedlichen, ja widerstreitenden Interessen wahrgenommen. Dies war insbesondere in den beiden abschließenden Lesungen des Finanzausgleichsgesetzes am 2. und 3. Juni 1954 der Fall, als innerhalb weniger Stunden vierzig Änderungsanträge eingingen. Möller hat es verstanden, hier die Rolle eines Moderators zu übernehmen, so beispielsweise zwischen den Gemeinden Nordwürttembergs, die erheblich über Härten im Verteilungsschlüssel des Finanzausgleichsgesetzes klagten oder konkreter ausgedrückt: die befürchteten, im Rahmen des Finanzausgleichsgesetzes einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen an die ärmeren südbadischen Gemeinden abzutreten und somit die Kosten für die Bildung des Südweststaates tragen zu müssen.43 Auch in anderen Bereichen galt es für Möller immer wieder einen Mittelweg zu finden, so bei der Verteilung der Einnahmen aus Einkommens- und Körperschaftssteuer zwischen dem Land einerseits beziehungsweise den Kommunen andererseits. Entstanden ist aus der Arbeit Möllers ein Finanzausgleichsgesetz, das gemeinhin in der frühen Bundesrepublik als vorbildlich galt und dessen Bestimmungen hier aus diesem Grund etwas näher erläutert werden sollen.44 Artikel 71 der Landesverfassung berief die Gemeinden dazu, in ihrem Gebiet öffentliche Aufgaben im Rahmen der Gesetze unter eigener Verwaltung wahrzunehmen, wobei das Land die finanziellen Voraussetzungen für die Autonomie der Gemeinden zu schaffen hatte, da diese nur in begrenztem Maße über eigene Einnahmen, beispielsweise aus kommunalem Grundbesitz sowie kommunalen Abgaben, Beiträgen, Gebühren usw., verfügten. Mit anderen Worten: Das Land trug die Verantwortung für die finanzielle Leistungsfähigkeit der Gemeinden, wobei diese Verantwortung in Artikel 73 Abs. 1 der Verfassung ausdrücklich verankert war. Bei der Schaffung eines Finanzausgleichsgesetzes musste nunmehr eine einheitliche Regelung für das gesamte Land geschaffen werden, denn Baden hatte einen Finanzausgleich zwischen Land und Kommunen bisher überhaupt nicht gekannt, Südwürttemberg-Hohenzollern hatte einen solchen Ausgleich nach Bedarf von Jahr zu Jahr geschaffen, lediglich im Lande Württemberg-Baden bestand seit 1946 ein Finanzausgleichsgesetz (das sich wiederum am württembergischen Vor42 Zur Aufbaugesetzgebung Feuchte: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 17), S. 319– 335; Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 575–579; zum Beitrag Möllers auch Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 54–64. 43 Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 58 u. 60. 44 Feuchte: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 17), S. 329 f.; sowie Kübler, Walter: Die finanziellen Beziehungen des Landes zu den Gemeinden und Kreisen, in: Appel, Reinhard/Miller, Max/Schmitz, Jan Ph. (Hrsg.): Baden-Württemberg. Land und Volk in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1961, S. 74–81.

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bild aus dem Jahr 1923 orientierte). Im Rahmen des 1954 geschaffenen Finanzausgleichsgesetzes für Baden-Württemberg wurde nun die Beteiligung der Gemeinden an den Steuereinnahmen des Landes ausdrücklich festgelegt oder anders formuliert: Es wurde ein Steuerverbund zwischen dem Land Baden-Württemberg und seinen Kommunen geschaffen, so dass die Gemeinden nun „nicht mehr passive Empfänger von Finanzzuweisungen, sondern aktive Teilhaber an den Steuereinnahmen des Landes und Teilnehmer an einer vom Land und den Gemeinden durch das gemeinsame Tragen der Risiken eines sinkenden Steueraufkommens gebildeten echten Gefahrengemeinschaft “ wurden45. Heftig gerungen wurde dabei um die Höhe der Beteiligungen der Kommunen an den Einnahmen der Einkommens- und Körperschaftssteuer, wobei Möller für einen Anteil von 19 Prozent der Kommunen plädierte und sich gegen eine allzu spendable Haltung des Landes gegenüber den Kommunen wehrte. Zwar zeigte er Verständnis für die Anliegen der Kommunen, rechnete jedoch auch den Abgeordneten im Landtag vor, dass „jedes Prozent, das wir im kommunalen Finanzausgleich mehr geben, 10 Millionen DM ausmacht“ 46. Dabei ging es Möller auch darum, den Abgeordneten zu verdeutlichen, dass der Finanzausschuss bei der Planung des Haushaltes nur einen äußerst begrenzten Spielraum hatte und eine ganze Reihe der Einnahmen des Landes durch die Beiträge für Lastenausgleich, Gehälter usw. gebunden seien. Nur zu leicht, so die Meinung Möllers, könnte sich das Land bei einer allzu großzügigen Handhabung des Gesetzes gegenüber den Kommunen übernehmen, weshalb Möller die Gemeinden mit lediglich 19 Prozent an den Einnahmen der Einkommens- und Körperschaftssteuer beteiligen wollte, womit er sich am Ende jedoch nicht durchsetzen konnte, vielmehr setzte der Landtag auf Antrag von Finanzminister Karl Frank den Anteil der Kommunen auf 20 Prozent fest.47 Wenn auch Möller sich in diesem Punkt nicht durchsetzen konnte, so hat er gleichwohl großen Anteil an der Erarbeitung eines Ausgleichsgesetzes, das in der Literatur der frühen Bundesrepublik als vorbildlich, ja schulbildend für die Handhabung des Finanzausgleiches in anderen Ländern angesehen wurde.48 Neben der Schaffung des Steuerverbundes zwischen Land und Kommunen regelte das Finanzausgleichsgesetz auch noch die Kompetenz- und Kostenverteilung zwischen dem Land und seinen Kommunen, insbesondere bei der Beteiligung an Kosten im Bildungs- und Polizeiwesen.49

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Kübler: Finanzielle Beziehungen (wie Anm. 44), S. 76. Verhandlungen des Ersten Baden-Württembergischen Landtages, S. 1050; vgl. auch Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 59. 47 Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 59. 48 Feuchte: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 17), S. 330; Kübler: Die finanziellen Beziehungen (wie Anm. 44), S. 75 u. 79. 49 Kübler: Die finanziellen Beziehungen (wie Anm. 44), S. 77 f. 46

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Eine Novellierung des Finanzausgleichsgesetzes erfolgte schließlich im Jahr 1958, wobei Möller auch hier zu den treibenden Kräften gehörte.50 Nunmehr wurde auch mit Blick auf die Kraftfahrzeugsteuer eine Steuergemeinschaft zwischen Land und Kommunen geschaffen, wobei die Kommunen mit 10 Prozent am Aufkommen der Kraftfahrzeugsteuer beteiligt wurden, diese Gelder allerdings zweckgebunden in den Straßenbau investieren mussten. Vor allem kam es aber, und hieran hatte die SPD-Fraktion wieder maßgeblichen Anteil, zur Einführung der so genannten Sockelgarantie. Diese sollte leistungsschwache Gemeinden stärken, indem diesen bereits vorab ein bestimmter Mindestanteil der auf sie im Rahmen des Steuerverbundes zustehenden Verteilungsmasse überwiesen werden sollte. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die Schere zwischen leistungsstärkeren Industriegemeinden mit großem Gewerbesteueraufkommen und ärmeren Wohngemeinden, die einzig auf das Grundsteueraufkommen angewiesen waren, nicht über die Gebühr groß wurde, und leistungsschwächere Gemeinden ihren Bürgern auch Mindeststandards mit Blick auf öffentliche Leistungen garantieren konnten.51 Insgesamt waren die Jahre 1953–56 geprägt durch ein hohes Maß an Effektivität bei der Ausarbeitung der Aufbaugesetzgebung, wobei Möller wie auch sein Widerpart, Ministerpräsident Gebhard Müller, einen betont sachorientierten Kurs steuerten oder, um mit Klaus-Jürgen Matz zu reden, sich fast schon wie Beamte und nicht wie Politiker verhielten und sich jeglicher parteipolitischer Polemik enthielten.52 Dies war einerseits für die Konsolidierung des Landes ein Vorteil, andererseits sollte schon bald in der Presse der Vorwurf auftauchen, dass es in Baden-Württemberg an einer Opposition fehle, die auch stärker die Kontrolle der Regierung wahrnehme – eine Kritik, die keineswegs berechtigt war, denn im Jahr 1955, auf einer gemeinsamen USA-Reise53 mit Gebhard Müller, wurde Möller auf einen erheblichen Missstand aufmerksam, der ihn zu scharfer Kritik an der Landesregierung und insbesondere an Justizminister Haußmann veranlassen sollte. 2. „Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis“ Auf seiner Reise mit Gebhard Müller in die USA im Jahr 1955 traf Möller auch mit Vertretern der „Vereinigung jüdischer Bürger Mitteleuropas“ zusam50 Kübler: Die finanziellen Beziehungen (wie Anm. 44), S. 78–80; ausführlich zu den Änderungen des Jahres 1958 Bleich, Karl: Änderungen im inneren Finanzausgleich für Baden-Württemberg, in: Baden-Württembergische Verwaltungsblätter, 3, 1958, S. 1– 5; zum Engagement der SPD und Möllers, insbesondere für die Belange kleinerer Gemeinden: Leistung und Erfolg. Rechenschaftsbericht der sozialdemokratischen Fraktion des Landtages von Baden-Württemberg, Stuttgart 1960, S. 77–79. 51 Feuchte: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 17), S. 330. 52 Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 570 (Matz attestiert Müller hier das „Ideal einer uneingeschränkt sachorientierten Politik“), auch S. 587. 53 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 137–144.

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men, die ihn auf gravierende Missstände bei der Abwicklung der Entschädigungsverfahren von Opfern des Nationalsozialismus aufmerksam machten.54 Möller hat dieses Thema sofort aufgegriffen und konnte in seiner Etatrede am 30. November 1955 bereits einige Beispiele für maßgebliche Versäumnisse bei der Abwicklung der Entschädigungsverfahren der Öffentlichkeit präsentieren.55 So wusste Möller hier von einem Professor zu berichten, der sich Repressionen der Nationalsozialisten ausgesetzt gesehen hatte und dessen 900 Bände starke Bibliothek von den Nationalsozialisten beschlagnahmt beziehungsweise besser entwendet worden war. Um nunmehr Ersatz für seine Bibliothek zu bekommen, war er aufgefordert worden, über Kaufdatum und Preis jedes einzelnen Buches genau Rechenschaft abzulegen. Für Möller war dies unglaublich und ein Höhepunkt an Bürokratismus, er war hierüber genauso entsetzt wie über den Fall eines ehemaligen Schutzhäftlings, der Entschädigung für die während der Schutzhaft erlittenen Misshandlungen einforderte und von dem verlangt wurde, den genauen Namen seiner Peiniger zu benennen. Schließlich wusste Möller noch von einem jüdischen Arzt zu berichten, der Selbstmord begangen hatte, nachdem er in der NS-Zeit durch die Boykottaktionen der Nationalsozialisten keine Patienten mehr hatte und folglich systematisch wirtschaftlich in den Jahren des „Dritten Reiches“ ruiniert worden war. Als seine Witwe nun eine Entschädigung einforderte, war sie darüber belehrt worden, ihr Mann sei ja nicht verfolgt worden, sondern habe Freitod einzig aufgrund wirtschaftlicher Not begangen. Möller hat diese Fälle schließlich systematisch in zwei Denkschriften zusammengefasst, die er im April und Juni 1956 dem Justizministerium vorgelegt hat.56 Dabei hat Möller vor allem zwei Punkte kritisiert. Zunächst einmal hat er festgestellt, dass die Entschädigungskammern personell stark unterbesetzt waren und bei ihrer Arbeit keineswegs dem § 9 des Bundesentschädigungsgesetzes nachkamen, gemäß dem alle über Sechzigjährigen bevorzugt behandelt werden sollten.57 Vielmehr hatte Möller von einem Karlsruher Rechtsanwalt erfahren, dass die Gruppe der über Sechzigjährigen von den Entschädigungskammern in vier Untergruppen unterteilt worden war und auch nur bedingt bei den über Fünfundsiebzigjährigen von einer bevorzugten Behandlung gesprochen werden konnte. Neben dem schleppenden Arbeitsgang der Entschädigungskammern kritisierte

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Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 145. Ebd. S. 147 – hier auch zum Folgenden. 56 Möller, Alex: Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis, Karlsruhe 1956; Möller, Alex: Erste Ergänzung zur Denkschrift. Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis, Karlsruhe 1956. 57 Hierzu wie auch zum Folgenden Reinhard Anders, Rechtsanwalt und Notar, an Alex Möller, 26. April 1956, hinterlegt in: BA Koblenz, NL Alex Möller Nr. 1224; Möller hat die Argumentation der Anwaltskanzlei Anders/Kersten aufgegriffen, in: Möller: Erste Ergänzung zur Denkschrift. Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis (wie Anm. 56), S. 4. 55

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Möller vor allem die mangelnde Einstellung der dort tätigen Beamten: Denn die Abwicklung der Entschädigung war nach Überzeugung Möllers ein maßgebliches Kriterium für das zukünftige Ansehen Deutschlands in der Welt überhaupt.58 So erwartete Möller vom Justizministerium nicht nur eine objektive Prüfung aller Entschädigungsfälle, sondern vielmehr ein unbedingtes Eintreten für die Interessen der NS-Opfer. Mit großer Empörung reagierte er schließlich, als Justizminister Haußmann im Landtag allzu nachdrücklich auf die finanziellen Belastungen hinwies, die aus den Entschädigungsforderungen resultierten, und darüber hinaus noch darauf beharrte, dass es sich bei vielen Ansprüchen um förmliche Rentenjäger59 handle. Dieser Einstellung des Justizministeriums entsprach es nach Ansicht Möllers auch, wenn die Justizbehörden in zahlreichen Fällen, in denen zu Gunsten des Entschädigungsberechtigten entschieden worden war, gegen den Spruch der Entschädigungskammer Klage einlegten60. Möller forderte demgegenüber den Erlass von Richtlinien, die dem Personal der Entschädigungskammer einschärfen sollten, im Zweifelsfalle immer zu Gunsten des Entschädigungsberechtigten zu entscheiden.61 Anfänglich ist Justizminister Haußmann der Kritik Möllers sehr hinhaltend begegnet, um am Ende jedoch auf dessen Linie einzuschwenken und im Herbst 1956, wie die sozialdemokratische Abendzeitung schrieb, geläutert von einem Besuch bei „United Restitution Organisation“ (URO) in New York heimzukehren.62 Hier hatte Haußmann ausdrücklich die in etwa zum gleichen Zeitpunkt erfolgte Novellierung des Bundesentschädigungsgesetzes, die den Kreis der Entschädigungsberechtigten erweiterte, begrüßt. Zudem hatte Haußmann gegenüber seinen Gesprächspartnern in förmlicher Anlehnung an die Argumentation Möllers nunmehr betont, man müsse im Zweifelsfalle immer den Ansprüchen der NS-Opfer entgegenkommen, auch oder gerade im Falle der Beweisnot. Tatsächlich hat Haußmann das Thema Entschädigung in den nächsten Jahren im Sinne Möllers weiterverfolgt, so dass es zu einem Ausbau der Entschädigungskammern

58 Möller: Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis (wie Anm. 56), S. 3: „Die Durchführung der Wiedergutmachung ist geeignet, der freien Welt als Maßstab zu dienen, inwieweit die Opfer dieser Menschen Einsicht und Erkenntnis des deutschen Volkes mitbestimmt haben, sich endgültig für den Weg des Rechts und der Menschlichkeit zu entscheiden“. 59 Zit. in: Allgemeinen Zeitung (AZ), 1./2. Februar 1956. 60 Alex Möller an Justizministerium Baden-Württemberg, 4. Juni 1956. Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis. „Zur Entgegnung“ des Justizministeriums vom 28. Mai 1956, S. 3, der Schriftsatz ist hinterlegt in BA Koblenz, NL Alex Möller Nr. 1224. 61 Ebd. S. 4. 62 AZ, 1./2. September 1956; Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 153– 155.

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und einer erheblichen Ausweitung der vom Land Baden-Württemberg für Entschädigungsfragen angewiesenen Mittel kam.63 Bemerkenswert an Möllers Engagement in der Frage der Entschädigung sind insbesondere drei Dinge: Erstens: Möller hat den Aspekt der Kontrolle der Regierung überaus ernst genommen und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die SPD selbst Regierungspartei war. Die von Möller ausgeübte Kontrollfunktion beschränkte sich dabei nicht nur auf das Ministerium selbst, sondern auch auf die nachgeordneten Behörden. Möller hat es dabei nicht nur damit belassen, auf Missstände hinzuweisen, sondern hat vielmehr auch ganz praktische Vorschläge zu deren Abstellung gemacht. Beispielsweise stand Möller mit einer ganzen Reihe von Beamten in Korrespondenz, die sich darum bemühten, Anstellung in der Wiedergutmachungsverwaltung zu erhalten. Möller hat deren Anliegen geprüft und hat nicht davor zurückgescheut, Justizminister Haußmann ganz konkrete Personalvorschläge zu unterbreiten64. Darüber hinaus war Möller als Vorsitzender des Finanzausschusses selbstverständlich auch maßgeblich daran beteiligt, die für die Wiedergutmachung notwendigen Mittel in den Haushalt einzuarbeiten und für deren Bereitstellung zu sorgen.65 Zum Zweiten wird an der Frage der Wiedergutmachung die Professionalität deutlich, mit der Möller beziehungsweise sein Büro in der Karlsruher Lebensversicherung bereits in den fünfziger-Jahren gearbeitet hat. So verfügte Möller mit Dr. Ortner und Dr. Schwebler über zwei Mitarbeiter, die für ihn die umfangreiche Korrespondenz mit Opfern des Nationalsozialismus, deren Rechtsbeiständen und schließlich dem Justizministerium führten und Gutachten 63 Der Justizminister sprach nun davon „dass die Wiedergutmachung in erster Linie eine moralische und rechtliche Verpflichtung des deutschen Volkes ist“. Wenn er auch weiterhin betonte, dass es nicht immer leicht sei, die erforderlichen Mittel aufzubringen, so stellte er nunmehr doch „die Verantwortung gegenüber den von einem harten Schicksal betroffenen Empfängern“ in den Vordergrund (Rundfunkansprache von Justizminister Dr. Wolfgang Haussmann im Rahmen der Sendung der Landesregierung Baden-Württemberg im Südwestfunk Baden-Baden am Samstag, den 17. Mai 1958 von 18.50–19.00 h über Mittelwelle und UKW 1 Sendemanuskript S. 4, abgelegt in: BA Koblenz, NL Alex Möller, Nr. 1224). 64 Vgl. den Schriftverkehr bezüglich der Einstellung von Willy Fuchs in der Wiedergutmachungsverwaltung: Perlen an Möller 29. November 1956; Möller an Perlen 11. Juni 1956, 15. Oktober 1956; Möller an Willy Fuchs 28. Juni 1956; 24. Juli 1956, 3. Dezember 1956; Willy Fuchs an Möller 20. Juli 1956 (auch an Justizministerium), 8. August 1956; Justizministerium an Willy Fuchs 6. August 1956; Fuchs an Perlen 30. Juni 1956; Justizministerium an Möller 27. Juni 1956; – zudem den Schriftverkehr bzgl. Einstellung Otto Attinger und Kurt Löffler in die Wiedergutmachungsverwaltung: Möller an Haußmann 15. Dezember 1955; 16. Dezember 1955; Haußmann an Möller 5. Januar 1956. (Beide Schriftwechsel sind hinterlegt in: Bundesarchiv Koblenz, NL Alex Möller Nr. 1224). 65 Frank an Möller 21. Juni 1956: Aufstellung Nachtragshaushalt betr. Mittel für Einstellung Beamter für Wiedergutmachung; Haußmann an Möller 21. Juni 1956 betr. Nachtragshaushalt für die Wiedergutmachung, beides hinterlegt in: BA Koblenz, NL Alex Möller Nr. 1224.

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zur Frage der Entschädigung ausarbeiteten. Möller wies beispielsweise nach Vorarbeiten von Dr. Ortner das Justizministerium darauf hin, dass er es als nicht angemessen betrachte, wenn physische Schädigungen, die aus Misshandlungen der Nationalsozialisten resultierten, in den Entschädigungsverfahren ausschließlich von der Ludolf-Krehl-Klinik in Heidelberg begutachtet wurden. Dies galt umso mehr, da die Gutachten der Krehl-Klinik überaus restriktiv, also häufig zu Ungunsten der Opfer, ausfielen.66 Schließlich hat sich Möller bei den von ihm dem Justizministerium vorgetragenen Fällen für eine Reihe von Opfern eingesetzt, deren Ansprüche in den fünfziger-Jahren noch keineswegs anerkannt wurden. Hier hat Möller im Grunde die spätere Entwicklung antizipiert: Dies galt beispielsweise, wenn er sich für die Belange einer Zigeunerin einsetzte oder auch für die Interessen eines wegen Wehrkraftzersetzung verurteilten Deserteurs. Gerade Sinti und Roma erhielten in den fünfziger und sechziger-Jahren in nur wenigen Fällen eine Entschädigung für die während des „Dritten Reiches“ erlittenen Misshandlungen, zu tief saßen noch die antiziganistischen Vorurteile, die bereits im Kaiserreich wie auch in der Weimarer Republik fest in der deutschen Gesellschaft verwurzelt waren.67 Im konkreten Fall hat Möller sich gegen die Behauptung der Entschädigungsbehörden gewehrt, die Zigeunerin sei nicht aus rassischen Gründen, sondern vielmehr aus kriegswirtschaftlicher Notwendigkeit nach Polen zwangsumgesiedelt worden.68 Möller hat versucht, genau dies zu widerlegen, genauso wie er darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Sinti und Roma häufig ihre berechtigten Ansprüche vorenthalten wurden, weil sie keine genauen Angaben zu den Namen der Konzentrations- oder Arbeitslager, in die sie deportiert worden waren, machen konnten. Die fehlende Schriftkenntnis – und dies sprach Möller offen aus – war hier nichts weiter, als ein willkommener Vorwand, um Ansprüche der Zigeuner abzublocken. In einem zweiten Fall hat Möller sich für die Belange eines Deserteurs stark gemacht und ist damit in gewisser Weise seiner Zeit auch in diesem Fall weit 66 Dr. Ortner an Generaldirektor Alex Möller, 31. Oktober 1956, betr.: die beiden von Herrn Assessor Metzner vorgelegten Schriftsätze; Alex Möller an Justizminister Wolfgang Haußmann, 2. November 1956, hinterlegt in: BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1224. 67 Müller, Roland: Der lange Schatten des Unrechts – Zum Umgang mit Verfolgten und Opfern des NS-Regimes nach 1945, in: Weber, Edwin Ernst (Hrsg.): Opfer des Unrechts. Stigmatisierung, Verfolgung und Vernichtung von Gegnern durch die NS-Gewaltherrschaft an Fallbeispielen aus Oberschwaben, Ostfildern 2009, S. 291–306, hier S. 297 f.; zu den an Sinti und Roma auch in der Nachkriegszeit durch Verweigerung einer Wiedergutmachung an Sinti und Roma neuerlichen verübten Unrecht Zimmermann, Michael J. H.: Vom Schwenninger „Hölzlekönig“ in die Gaskammern von Auschwitz – „Zigeunermord“ am obersten Neckar: Ein überblättertes Kapitel der Heimatkunde, in: ebd. S. 57–106, insbes. S. 96. 68 Möller: Wiedergutmachung – Wunsch und Praxis (wie Anm. 56), S. 16 (Wiedergutmachungssache J. K.).

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vorausgeeilt. Möller versuchte aufzuzeigen, dass auch gerade seitens des Deserteurs, indem er sich dem Totalen Krieg Hitlers verweigerte, ein Akt des Widerstands begangen wurde, ohne dass Möller damit grundsätzlich durchdringen konnte. Vielmehr galten Deserteure noch lange in der Bundesrepublik als Vaterlandsverräter, die ihrer Pflicht nicht nachgekommen seien. Erst Jahrzehnte später wurde gesellschaftlich anerkannt, dass die Verweigerungshaltung eines Soldaten gegenüber Hitlers Totalen Krieg auch als Akt des Widerstandes angesehen werden konnte. Die Auseinandersetzungen zwischen Möller und Justizminister Haußmann über die Frage der Durchführung der Wiedergutmachung markieren in mancher Hinsicht tatsächlich den Höhepunkt der politischen Gestaltungsmöglichkeiten Möllers. Am Ende der ersten Legislaturperiode konnte Möller tatsächlich als der „heimliche Ministerpräsident“ agieren: Bei den Regierungsbildungen der Jahre 1952 wie auch 1953 hatte die Haltung der von Möller geführten SPD-Landtagsfraktion jeweils den Ausschlag gegeben. Möller hatte in beiden Fällen gleichsam die Rolle des Königsmachers übernommen. Dies sollte sich auch nochmals 1958 bei der Wahl Kurt Georg Kiesingers wiederholen. Die Person Kiesingers sollte aufgrund ihrer Haltung in den Jahren des „Dritten Reiches“ und einiger Andeutungen des „Vorwärts“ in dieser Richtung zunächst auf Widerstand stoßen.69 An dieser Stelle sollte es Möller sein, der sich gegen die eigene Parteizeitung wandte und klar zum Ausdruck brachte, dass er die Vorbehalte des „Vorwärts“ gegenüber dem CDU-Politiker nicht teile, zumal die Redaktion des „Vorwärts“ selbst habe einräumen müssen, dass viele ihrer Vorwürfe nur auf Vermutungen beruhten. Möller selbst reiste in der Folge nach Bonn, bat Kiesinger gleichsam zum Interview und einigte sich schließlich mit diesem auf die Fortsetzung der Allparteienregierung – doch zurück in die erste Legislaturperiode: Hier war Möller buchstäblich der „Manager der Heusteigstrasse“, der bei allen zentralen Gesetzesvorhaben beteiligt war, zeitweise die Rolle eines Moderators eingenommen hat. In der Frage der Wiedergutmachung nahm Möller schließlich die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung überaus ernst und entfaltete auch hierbei eigene Initiativen, so wenn er dem Justizminister konkrete Personalvorschläge machte oder aber an den Planungen des Nachtragshaushaltes zur Berücksichtigung der Neueinstellungen in der Wiedergutmachungsverwaltung beteiligt war. Gleichwohl stellt das Jahr 1956 – auch wenn Möller, wie gerade gezeigt, bei der Regierungsbildung 1958 nochmals eine zentrale Rolle zukam – ein Stück weit eine Wende dar. Seit diesem Jahr sollten sich die Misserfolge Möllers häufen, wobei insbesondere dem Scheitern Möllers bei seinen Bemühungen um die Ausarbeitung eines Ministergesetzes eine zentrale Rolle zukommen sollte. 69 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 163–167; eingehend zu den letztlich vagen Anschuldigungen gegen Kiesinger Gassert, Philipp: Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006, S. 333–336.

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3. Das vergebliche Ringen um Ministergesetz und Verwaltungsreform Im Vorfeld der Landtagswahlen des Jahres 1956 hatte sich die SPD entschieden für die Durchführung einer Verwaltungsreform stark gemacht, ja diese zu einem zentralen Wahlziel erklärt.70 Dabei war es vor allem Alex Möller, der im Zusammenspiel mit Ministerpräsident Gebhard Müller eine Verkleinerung des Kabinetts und die Ausarbeitung eines Ministergesetzes als integralen Bestandteil einer derartigen Verwaltungsreform ansah.71 Ermöglicht werden konnte diese nach Ansicht Möllers jedoch nur bei einer Auflösung der Allparteienkoalition und bei Bildung einer großen Koalition. Die Wahlen brachten erhebliche Gewinne der CDU, ein konstantes Ergebnis der Sozialdemokratie und schließlich spürbare Verluste für FDP und BHE.72 Gleichwohl kam es wiederum entgegen der Vorstellung Möllers zur Bildung der Allparteienkoalition – der Fraktionsvorsitzende hatte sich innerhalb seiner eigenen Partei nicht durchsetzen können, vielmehr hatte der Bezirksvorstand Südwest sich ausdrücklich gegen die Bildung einer sozialliberalen wie auch die Bildung einer schwarz-roten Koalition ausgesprochen, also implizit für die Fortsetzung der bisherigen Koalition votiert.73 Auch bei der CDU hatte sich Müller mit dem Gedanken eines schwarz-roten Bündnisses nicht durchsetzen können. Es kam also wieder zur Bildung der Allparteienkoalition, was im Ergebnis dazu führte, dass es zu keiner Kabinettsverkleinerung kam. Möller hatte den Vorschlag ins Spiel gebracht, das künftige Kabinett solle nur noch sechs Mitglieder umfassen (drei CDU, zwei SPD, einer FDP) – ein Vorschlag, der auf massiven Widerstand des liberalen Justizministers Haußmann getroffen war, der unter keinen Umständen sein Amt aufgeben wollte74, genauso wenig wie die FDP Finanzminister Karl Frank aus dem Ministerium zurückziehen wollte.75 Der Gedanke einer Kabinettsverkleinerung unmit70 Zusammenstellung der Wahlkampfziele der SPD bei Mann: Die SPD in BadenWürttemberg (wie Anm. 39), S. 240. 71 Zur Haltung Müllers in der Frage der Verwaltungsreform und zum Ministergesetz Matz, Klaus-Jürgen: Gebhard Müller als erster Oppositionsführer und zweiter Ministerpräsident von Baden-Württemberg, in: Taddey, Gerhard (Hrsg.): Gebhard Müller: Ein Leben für das Recht und die Politik; Symposium anlässlich seines 100. Geburtstages am 17. April 2000 in Stuttgart, Stuttgart 2000, S. 69; zudem arbeitet Matz heraus, dass Müller genauso wie Möller für ein Ende der Allparteienkoalition plädierte, ja dieses als Voraussetzung für eine Verkleinerung des Kabinetts angesehen hat. Mit dieser Haltung ist Müller freilich am Widerstand des CDU-Bundesvorstandes gescheitert, Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 579. 72 Zu den Wahlergebnissen des Jahres 1956: Mann: Die SPD in Baden-Württemberg (wie Anm. 39), S. 239; Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 580. 73 Mann: Die SPD in Baden-Württemberg (wie Anm. 39), S. 239. 74 Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 581. 75 Zur Ablehnung der FDP gegenüber den Plänen Möllers einer Kabinettsverkleinerung: Stuttgarter Nachrichten, 29. Mai 1956. Hier wurde Möller vorgeworfen, der Vorschlag der Kabinettsverkleinerung diene von Seiten der SPD und CDU nur dazu, „um dem dritten Partner ein Bein zu stellen“. Eine schwarz-rote Koalition „mit einem liberalen Feigenblatt“ wurde von der FDP grundsätzlich abgelehnt. Zugleich wurde beklagt,

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telbar nach den Wahlen scheiterte somit. Die SPD konnte noch nicht einmal eine Reduktion der Spitzenbehörde auf zehn Mitglieder durchsetzen, vielmehr blieb es bei einem zwölfköpfigen Ministerium.76 Möller trat daraufhin zeitweilig vom Fraktionsvorsitz zurück, nahm seine Arbeit jedoch wieder auf, nachdem man sich darauf geeinigt hatte, das Ministergesetz im Laufe der Legislaturperiode zu verabschieden und nach den nächsten Landtagswahlen eine Kabinettsverkleinerung durchzuführen.77 Es begann ein eineinhalbjähriges Ringen um die Ausarbeitung des Ministergesetzes – der Entwurf Möllers78 (wie auch der Landesregierung) scheiterte, was zugleich die schwerste politische Niederlage Möllers in den Jahren zwischen 1952 und 1960 bedeutete. Gescheitert ist der Entwurf aus drei Gründen: Zuerst einmal an der Haltung aller beteiligter Parteien, von denen keine ernsthaft gewillt war, ein Ressort abzugeben, insbesondere dann nicht, wenn dadurch ein Gewichtsverlust gegenüber der politischen Konkurrenz drohte. So verteidigte der BHE zäh das Vertriebenenministerium, obwohl dessen weitere Existenzberechtigung von zahlreicher Seite in Frage gestellt wurde.79 Die FDP bemühte sich nun um den Nimbus einer besonders sparsamen Partei, indem Wolfgang Haußmann und Reinhold Maier den Vorschlag ins Spiel brachten, das baden-württembergische Kabinett entsprechend dem württembergischen Ministerium der Weimarer Zeit auf fünf Sitze zu reduzieren80 – dabei wussten die Liberalen genau, dass die CDU niemals bereit war, das Landwirtschaftsministerium aufzugeben, das bei einer Durchführung des FDP-Vorschlages weggefallen wäre.81 Die CDU ihrerseits brachte einen Gesetzentwurf ein, der die Zusammenlegung des Arbeits- und Wirtschaftsministeriums vorsah, wobei man genau wusste, dass dieser Vorschlag auf den Widerstand der Sozialdemokratie treffen bei einer Sechserlösung verfüge insbesondere die SPD mit dem Innen- und dem Wirtschaftsministerium über zwei Schlüsselressorts. Vgl. „liberale Korrespondenz“ Pressedienst der FDP/DVP Baden-Württemberg, 12. April 1956: „So einfach ist die Vereinfachung nicht“, hinterlegt in: BA Koblenz Nachlass Alex Möller Nr. 1258. 76 Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 582 mit FN 258. 77 Stuttgarter Nachrichten, 5. Juli 1956, Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 64; Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 581. 78 Möllers Entwurf für ein Ministergesetz sah ein insgesamt siebenköpfiges Ministerium vor, das aus dem Ministerpräsidenten und einem Innen-, Justiz-, Finanz-, Kultus-, Wirtschafts- und Arbeitsministerium bestehen sollte. Der Entwurf ist abgedruckt bei Leistung und Erfolg (wie Anm. 50), S. 15–19. 79 Erste Öffentliche Informationssitzung des Ständigen Ausschusses des Zweiten Landtages von Baden-Württemberg am Dienstag, 8. November 1956, S. 3–18 (Aufhebung des Ministeriums f. Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte) – hinterlegt in BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1258. 80 Vermerke im NL Alex Möller Nr. 1258: In der Wahlkreiskonferenz der FDP Waiblingen in Endersbach am Samstag, den 22. September 1956, nahm Altministerpräsident Dr. Reinhold Maier u. a. zu der Frage des Ministergesetzes Stellung; Kommunalpolitische Bezirkstagung der FDP Nordwürttemberg 22. September 1956 in Schwäbisch Hall: Justizminister Haußmann plädiert für fünf Minister plus Ministerpräsident; Stuttgarter Zeitung, 24. September 1956: FDP befürwortet fünf Ministerien. 81 Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 582.

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würde.82 Bei allen Parteien wird also klar das Bestreben deutlich, sich einerseits als besonders sparwillig zu präsentieren, andererseits diese Einsparungen, konkret die Streichung eines Ministerpostens auf Kosten eines Koalitionspartners zu vollziehen, sollte dieser dann Widerstand leisten, so hatte man die eigene Bereitschaft zur Einsparung demonstriert, konnte aber getrost alles beim Alten belassen. Neben dem Egoismus der Parteien waren es aber auch die einzelnen Minister, die selbst so gut wie zu keinen Zugeständnissen bereit waren, wobei sich die sozialdemokratischen Minister keineswegs von ihren bürgerlichen Kollegen unterschieden. Mit wortreichen Gutachten, in denen die Notwendigkeit für die Beibehaltung des Arbeitsministeriums begründet wurde, stemmte sich Ermin Hohlwegler gegen eine Zusammenlegung seiner Behörde mit dem Wirtschaftsministerium und damit gegen den drohenden Verlust seines Postens83. Dies galt auch für die beiden CDU-Staatsräte Anton Dichtel und Friedrich Werber84. Darüber hinaus entstanden zwischen den Ministern auch erhebliche Spannungen über den künftigen Zuschnitt ihrer Ressorts: So kam es zwischen dem Arbeits- und dem Justizministerium zur Auseinandersetzung darüber, wer die Rechtsaufsicht über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit übernehmen sollte,85 Wirtschafts- und Innenministerium stritten darüber, wo der Kompetenzbereich Straßenverkehr angesiedelt werden solle86. Wirtschaftsminister Veit drohte Möller sogar offen damit, aus der Fraktionsdisziplin auszubrechen und gegen einen Gesetzesentwurf Möllers zu stimmen, der den Straßenverkehr beim Innenministerium ansiedeln wollte.87 Massiven Druck auf Möller wie auch auf den Ministerpräsidenten übten schließlich die Sozialverbände aus, die sich beispielsweise vehement gegen die Vereinigung von Wirtschafts- und Arbeitsministerium, ja im Gegenzug für die Schaffung eines eigenständigen Sozialministeriums aussprachen88. Die in Er82 2. Landtag von Baden-Württemberg: Entwurf eines Gesetzes über die Zahl der Minister und Geschäftsbereiche der Ministerien, Beilage 344. 83 Betr. Zusammenlegung des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums: Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes über die Zahl der Minister und die Geschäftsbereiche der Ministerien (von Arbeitsminister Ernim Hohlwegler), abgelegt in: BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1258. 84 Matz: Grundlagen und Anfänge (wie Anm. 17), S. 582. 85 Arbeitsministerium Baden-Württemberg an die Mitglieder des ständigen Ausschuss der SPD, 23. November 1956 mit Gutachten u. a. zur Frage der Ressortorientierung der Arbeitsgerichtsbarkeit und zur Dienstaufsicht über die Ländergerichte der Sozialgerichtsbarkeit, hinterlegt in BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1258. 86 Schreiben Wirtschaftsminister Veit an Möller 24. September 1956 mit Begründung für die Notwendigkeit einer Überführung der Landesverkehrsverwaltung in das Wirtschaftsministerium, abgelegt in: BA Koblenz Nachlass Alex Möller Nr. 1258. 87 Schreiben Wirtschaftsminister Veit an Möller 24. September 1956, abgelegt in: BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1258. 88 Verband der Kriegsgeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands, Landesverband Baden-Württemberg e.V., Sitz Stuttgart an Alex Möller,

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wägung gezogene Einsparung des Vertriebenen- wie auch des Landwirtschaftsministeriums rief selbstverständlich die entsprechenden Verbände aufs Feld, die den Parteien implizit mit dem Wegfall von Wählerstimmen drohten.89 Mit anderen Worten: Parteiegoistische Interessen, das Beharrungsvermögen der Mitglieder des Ministeriums und schließlich der von den Verbänden ausgeübte Druck führten dazu, dass Möllers Gesetzesentwurf im November 1957 zurückgezogen wurde. Freilich ergab dies ein negatives Bild in der Presse, in der das Scheitern gerade dieses Entwurfes als Ausdruck eines strukturellen Defizits der Allparteienregierung gewertet wurde, wurde dieser doch klar vorgeworfen, man habe nicht den Mut, einen Parteifreund aus einem Ministerium zu drängen und habe deshalb vor klaren Einschnitten zurückgeschreckt. Im Grunde schwang bei den Pressekommentaren bereits die Forderung mit, den als unnatürlich empfundenen Zustand der Allparteienregierung zu beenden.90 Trotz des Scheiterns des Ministergesetzes 1957 hat Möller den Gedanken einer Verwaltungsreform weiterhin energisch verfochten und musste auf diesem Feld auch fortgesetzt neue Niederlagen hinnehmen. Bereits 1953 bei der Ausarbeitung des Landesverwaltungsgesetzes war Möller mit dem Plan, die Zahl der Regierungspräsidien zu reduzieren genauso gescheitert, wie mit der Forderung nach einer Kreisreform, die sich auf die Auflösung der drei kleinsten Kreise Künzelsau, Müllheim und Tettnang beschränkt hätte.91 Nun in der zweiten Legislaturperiode hat Möller wiederum die Einsetzung einer Kommission, der Kommission zur Vereinfachung, Verbesserung und Verbilligung der Verwaltung, durchgesetzt. Die Kommission sollte erneut prüfen, inwiefern die Beibehaltung der Regierungspräsidien verwaltungstechnisch notwendig sei und – sofern man diese Frage

6. November 1956; VdK (Höhnle/Eidinger) an Möller 21. Mai 1957; Walter Gugeler (ev. Aktionsgemeinschaft für Arbeiterfragen in Württemberg) an Möller 25. Mai 1957; Schriftwechsel Klemp (Verband der Sowjet-Zonen-Flüchtlinge) – Möller 11./13. Juni 1957, hinterlegt in NL Alex Möller Nr. 1258. 89 Erste öffentliche Informationssitzung des ständigen Ausschusses des Zweiten Landtages von Baden-Württemberg am Dienstag 8. November 1956, S. 54, hinterlegt in: BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1258. 90 Zu den Pressekommentaren „Politischer Wochenbericht aus Baden-Württemberg“. In dieser Sendung hören Sie: Ministergesetz vorläufig gescheitert und – Landtag berät Änderung des Finanzausgleichs; Südwestmerkur, 22. November 1957: Bewegung in der Landespolitik. Die Geburt des Zahlenlottos und der Tod des Ministergesetzes; Mannheimer Morgen, 14. November 1957: Vernunft wird Unsinn – Das Sendemanuskript wie auch die genannten Artikel sind hinterlegt in: BA Koblenz NL Alex Möller Nr. 1258. 91 Zum Scheitern der Bestrebungen die Regierungspräsidien aufzulösen im Jahr 1953. Häußermann, Martin Carl: Das Regierungspräsidium Freiburg – Die Geschichte einer staatlichen Mittelinstanz im deutschen Südwesten, in: Weinacht, Paul-Ludwig (Hrsg.): Die badischen Regionen am Rhein. 50 Jahre Baden in Baden-Württemberg – Eine Bilanz, Baden-Baden 2002, S. 193–208, hier S. 98–200; Schulz, Klaus-Peter (Hrsg.): 38 von 121. Die Arbeit der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in vier Jahren Baden-Württemberg. Rechenschaftsbericht der SPD-Landtagsfraktion, Stuttgart 1956, S. 59–62.

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verneinen könne – auf welche Weise die Kompetenzen der Kreise gestärkt werden könnten, so dass diese Aufgaben die Regierungspräsidien übernehmen könnten. Die Ergebnisse dieser Kommission blieben am Ende genauso auf dem Papier stehen wie die Arbeit der ebenfalls auf Druck der SPD-Fraktion eingesetzten Kommission für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung.92 Der hier von Möller angestrebte große Wurf in der Verwaltungsreform sollte erst am Beginn der 1970erJahre unter seinem Nachfolger im Landesparteivorsitz Walter Krause erreicht werden, wenngleich es auch hier nicht zur Auflösung der Regierungspräsidien gekommen ist.93 IV. Die „kleine koalition der verlierer“ des Jahres 1960 – Alex Möller als Oppositionsführer in den Jahren 1960/1961 Die Verwaltungsvereinfachung und insbesondere die Reduktion des Ministeriums von zwölf auf schließlich acht Kabinettsmitglieder sollten 1960 in ganz anderer Weise stattfinden, als dies von Möller intendiert wurde. Der Fraktionsvorsitzende der SPD hatte 1958 maßgeblichen Anteil – dies wurde aufgezeigt – an der Wahl Kurt Georg Kiesingers an die Spitze des Landes Baden-Württemberg, nachdem Gebhard Müller zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts berufen worden war. Während Möller 1956 die Bildung einer schwarz-roten Koalition angestrebt hatte, ging er nunmehr davon aus, dass im Geiste der Einheit des Landes die Allparteienkoalition fortgesetzt würde. In einem privaten Gespräch hatte sich Kiesinger gegenüber Möller auch in diesem Sinne geäußert und sich des Rückhalts Möllers versichert, zumal er fürchtete, dass es bei den Wahlen 1960 zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und SPD kommen werde.94 Tatsächlich endeten die Wahlen mit einem großen Erfolg der von Möller geführten SPD, die ihren Stimmenanteil von 28,9 auf 35,4 Prozent der Stimmen verbessern konnte. Dies bedeutete einen Gewinn von acht Mandaten für die SPD, wobei sie ihre Gewinne zu Lasten von CDU und FDP verbuchen konnte. Diese beiden konkurrierenden Parteien sanken von 42,6 auf 39,5 (CDU) beziehungsweise von 16,6 auf 15,6 Prozent (FDP) herab.95 In seinem Karlsruher Wahlkreis holte Möller in überzeugender Art und Weise das Direktmandat und konnte dabei auch mehr als 7 Prozent der Stimmen hinzugewinnen.96 Die Pressekommentare nach der Wahl 92 Leistung und Erfolg (wie Anm. 50), S. 31–37. Auch Häußermann: Das Regierungspräsidium Freiburg (wie Anm. 91), S. 201 f. 93 Zur Tätigkeit Krauses vgl. Müller, Georg: Walter Krause. Ein Mannheimer für Baden-Württemberg, Ubstadt-Weiher 2003, S. 155–168. 94 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 168. 95 Zum Wahlergebnis 1960 ebd. 96 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 169; Schunck: Gestaltung durch Mandat (wie Anm. 2), S. 65.

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waren allgemein davon ausgegangen, dass nunmehr die SPD verstärkt ihre Position in die Regierung einbringen werde97 – doch das Gegenteil geschah, vielmehr kam es jetzt zur Bildung der „kleinen koalition der verlierer“ zwischen CDU und FDP, in die schließlich noch die Vertriebenenpartei integriert wurde.98 Durchaus richtig analysierte die Hannoversche Presse (18.06.1960) diese Koalitionsbildung: „Der Anstoß zum Ausschluss der SPD kam auch dieses Mal wieder aus Bonn. An der Bundesspitze der CDU rechnet man für die Bundestagswahl im Herbst 1961 zwar mit dem Verlust der absoluten Mehrheit, hofft aber, die stärkste Partei zu bleiben, die dann auf einen echten Koalitionspartner angewiesen wäre. Das aber soll die FDP werden . . .“ Die Regierungsbildung in Baden-Württemberg sollte sozusagen der Testlauf für die Regierungsbildung in Bonn ein starkes Jahr später werden. Folglich hat Kiesinger die Koalitionsverhandlungen mit Möller nur noch zum Schein geführt und bemerkenswerter Weise ließ man die Verhandlungen seitens der CDU mit Möller gerade an der Frage einer Kabinettsverkleinerung scheitern. Die Vorstellung der CDU lief darauf hinaus, dass in einem verkleinerten Kabinett sowohl FDP als auch SPD mit je zwei Ministern vertreten sein sollten, was für die SPD im Grunde eine Zumutung darstellen musste, saßen doch im Landtag 44 Abgeordnete der Sozialdemokratie gerade einmal 18 Liberalen gegenüber.99 Unter diesen Umständen wurde die SPD in die Opposition gedrängt und CDU und FDP bildeten gemeinsam ein nunmehr achtköpfiges Kabinett (5 Mitglieder CDU, 3 FDP, hinzu trat noch ein Vertreter des BHE, der im Range eines Staatssekretärs ebenfalls Kabinettsrang hatte). Mit großer Empörung reagierte die der SPD nahe stehende Presse und betonte dabei, dass die SPD sich in den letzten zehn Jahren durch eine „vorbildliche und hervorragende Arbeit“ ausgezeichnet habe und oft genug parteipolitische und parteitaktische Erwägungen hintan gestellt habe und nunmehr zum Dank aus der Regierung gedrängt werde. Diese Erörterungen der „Schwäbischen Donauzeitung“ (18. Juni 1960) sind durchaus zutreffend. Tatsächlich hatte Möller in den vorangegangenen acht Jahren nur wenig offenkundige Parteipolitik betrieben. Besonders deutlich war dies 1953 bei der Einbeziehung der CDU in die Landesregierung geworden. Hier hatte Möller tatsächlich das Interesse des Landes und die Verabschiedung der Landesverfassung mit einer möglichst breiten Mehrheit in den Mittelpunkt seines Handelns gestellt. Vom parteipolitischen Standpunkt aus gesehen hatte Möller hier einen schweren Fehler begangen. Nicht zu Unrecht hatte ihn Reinhold Maier damals gewarnt, wenn die CDU einmal an die Macht gekommen sei, werde sie die nächsten 100 Jahre in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten stellen. 97

BNN, 16. Mai 1960. Einzelheiten zur Bildung der bürgerlich-liberalen Koalition im Jahr 1960 bei Gassert: Kurt Georg Kiesinger (wie Anm. 69), S. 360–370. 99 Die Antwort auf die Koalition. Rechenschaftsbericht der SPD-Landtagsfraktion 15. Mai 1960/30. Juni 1961, Stuttgart 1961, S. 11. 98

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Wenn es auch keine 100 Jahre geworden sind, so hat Möller dennoch die Chance vergeben, eine sozial-liberale Koalitionstradition, die ja im Südwesten beispielsweise an den badischen Großblock hätte anschließen können, auch in Baden-Württemberg zu begründen. Auch hat Möller übersehen, dass die CDU, sobald sie einmal den Ministerpräsidenten und zugleich die Kabinettsmehrheit stellte, sowohl in personalpolitischer Hinsicht über weitreichende Einflussmöglichkeiten verfügte und schließlich, nachdem in den fünfziger-Jahren der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes merklich an Fahrt gewonnen hatte, von der Mehrzahl der Wähler als Partei des Wiederaufbaus angesehen wurde. Gerade dies versprach der CDU bei künftigen Wahlen einen grundsätzlichen Bonus gegenüber konkurrierenden politischen Angeboten. 1960 war es so weit, dass sich die CDU der Sozialdemokratie entledigen konnte und mit der ungleich schwächeren FDP nun nicht mehr eine Allparteien-, sondern eine Mehrheitskoalition bildete. Als Oppositionsführer hat Möller nur bedingt Wirkung entfaltet, wenn auch sehr bald schon deutlich wurde, dass er eine sehr konsequente und sehr kämpferische Oppositionspolitik einschlagen werde. Dies machte er insbesondere auf dem Landesparteitag in Heilbronn am 25.06.1960 deutlich, als ein vor Wut rasender Alex Möller – Rudolf Schieler, der spätere Justizminister von Baden-Württemberg erinnert sich, er habe den sonst eher ruhigen Möller selten so außer sich vor Wut erlebt100 – erklärte: „Vom 23. Juni ab stehen alle Handlungen der Landesregierung im Scheinwerferlicht der wachsamen SPD-Opposition . . ., die für jede Fehlleistung zum kostenlosen Nachhilfeunterricht bereitsteht“.101 Konsequenterweise kandidierte Möller auch bei der Neuwahl zum Ministerpräsidenten als Gegenkandidat zu Kurt Georg Kiesinger und entwickelte in der Aussprache zur Regierungserklärung ein umfangreiches Programm, das er der Regierungserklärung des neu- beziehungsweise wiedergewählten Ministerpräsidenten entgegensetzte. Die neu gebildete Regierung war für Möller nichts weiter als die „kleine koalition der verlierer“, die nur allzu offensichtlich „zum Stiefelknecht der Unionspolitik im Bunde“ 102 zu werden drohe. Vor allem sah Möller auch die Gefahr, dass durch diese Regierungsbildung es zu „einer fortschreitenden Zurückdrängung und Aushöhlung der Zuständigkeit“ des Bundesrates kommen werde,103 da die Baden-Württembergische Landesregierung in der zweiten Kammer der BRD nicht Landesinteressen, sondern die Interessen der Bundesregierung vertreten werde. Inhaltlich profilierte sich Möller vor allem als Wirtschaftspolitiker. So forderte er die Unterstützung von kleineren und mittleren Gewerben, denen günstige Kredite zufließen sollten, um notwendige Rationalisierungs- und Moderni100

Gespräch des Verfassers mit Rudolf Schieler am 23. August 2010. Die Antwort auf die Koalition (wie Anm. 99), S. 13. 102 Verhandlungen des Landtags von Baden-Württemberg. Dritte Wahlperiode 1960– 1964. Stuttgart 1961, S. 50. 103 Ebd. S. 53. 101

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sierungsmaßnahmen durchzuführen. Gestärkt werden sollte auch die Oberrheinregion. Hier sollte es zu einer planmäßigen Industrieansiedlung kommen, um ein Ost-West-Gefälle innerhalb des Landes zu vermeiden und einen Gegenpol zur französischen Industrieansiedlung am Rhein-Seitenkanal zu bilden. Schwerpunkte setzte Möller zudem in der Sozial- und Bildungspolitik. Hier wurden der Ausbau und die verbesserte Ausstattung von Krankenhäusern gefordert, genauso wie die flächendeckende Einführung des 9. Schuljahres.104 Interessant sind schließlich noch zwei Bemerkungen Möllers. So widmete dieser sich recht ausgiebig Fragen der Landwirtschaft,105 nachdem seitens der CDU der SPD vorgeworfen worden war, diese vertrete gegenüber den Bauern feindliche Standpunkte. Noch bemerkenswerter ist allerdings die nachdrückliche Forderung Möllers, das Kernforschungszentrum in Karlsruhe zu fördern, nachdem sich in den Vorjahren Hermann Veit als Wirtschaftsminister schon für dieses Projekt wiederholt und erfolgreich stark gemacht hatte106. Gerade hier wird ein Paradigmenwechsel zur Gegenwart deutlich. In den fünfziger und sechziger-Jahren galt die friedliche Nutzung der Kernkraft als ein progressives, kurz als ein sozialdemokratisches Projekt. Die Parlamentsarbeit der baden-württembergischen Sozialdemokraten orientierte sich folglich an den von Möller gemachten Vorgaben. Auffällig ist dabei allerdings, dass diese doch eine gewisse Hektik und Nervosität an den Tag legte. So stellte die SPD-Landtagsfraktion zwischen dem 15. Mai 1960 und dem 30. Juni 1961 beispielsweise insgesamt 101 kleine Anfragen und 179 Anträge.107 Diese wurden in einem 111seitigen Rechenschaftsbericht bereits nach einem Jahr zusammengestellt und als „Antwort auf die Koalition“ der Öffentlichkeit übergeben. Möller hatte sich zu diesem Zeitpunkt auf Raten aus der Landespolitik verabschiedet. Sicherlich war er keineswegs so zufällig, wie er dies in seinen Erinnerungen schildert, schon im Herbst 1960 in das Schattenkabinett Willy Brandts berufen worden, in dem er als Finanzminister vorgesehen wurde.108 Damit hatte Möller den Schritt in die Bundespolitik vollzogen, zumal er bei den Bundestagswahlen 1961 erfolgreich in Heidelberg kandidierte.109 Sicherlich sollte sich Möller auch hier den Namen eines hervorragenden Finanzfachmannes machen und neben Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner zu einem der zentralen Akteure der SPD, auch in der Bundespolitik aufsteigen. Dennoch ist dem 104 Zu diesen Forderungen Möllers: Verhandlungen des Landtags von Baden-Württemberg (wie Anm. 102), S. 54–56. 105 Ebd. S. 57. 106 Ebd. 107 Die Antwort auf die Koalition (wie Anm. 99), Auflistung der Anträge und Anfragen Ebd. S. 69–107. Hinzu kamen noch sechs Initiativgesetzentwürfe und neun große Anfragen. 108 Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 200–202. 109 Ebd. S. 202–206.

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Diktum Wilhelm Keils zuzustimmen, dass Möller in der Bundespolitik eben nicht mehr „einer über vielen“, sondern nur noch „einer unter mehreren“ gewesen ist.110 V. Zusammenfassung und Bilanz Zu Recht bezeichnet die Stuttgarter Zeitung Alex Möller in der Mitte der fünfziger-Jahre als den „Manager der Heusteigstrasse“ oder auch den „heimlichen Ministerpräsidenten“ des Landes Baden-Württemberg: Möller hat sich in diesen Jahren große Verdienste um die Konsolidierung und Ausgestaltung des noch jungen Südweststaates erworben. Bereits im Abstimmungskampf des Jahres 1952 war es nicht zuletzt dem Werben Möllers zu verdanken, dass der Gedanke der Südweststaatsgründung auch in Nordbaden maßgeblich an Boden gewonnen hatte, so dass die Südweststaatsbefürworter im Dezember 1951 auch in diesem Landesteil die Mehrheit gewinnen konnten. In den beiden ersten Jahren des Südweststaates hat Möller gleich zwei Mal die Rolle eines „Königsmachers“ eingenommen. Sowohl die Bildung der Regierung unter Reinhold Maier 1952 und schließlich die Einbindung der CDU in die Regierungsverantwortung im darauf folgenden Jahr waren nicht zuletzt das Werk Möllers. Dabei ist es ohne Zweifel sein Verdienst, gemeinsam mit Gebhard Müller die Grundlinien der baden-württembergischen Verfassung ausgearbeitet und sämtliche umstrittenen Punkte geklärt zu haben. Gerade der bürokratische, im Grunde genommen unpolitische Politikstil Müllers, eröffnete dem Parlamentarier Möller bei der Ausarbeitung der Aufbaugesetze weite Spielräume. Besondere Initiativen hat Möller hierbei insbesondere bei der Schaffung des Finanzausgleiches zwischen Land und Kommunen setzen können: Das Finanzausgleichgesetz erfolgte noch, bevor eine entsprechende Regelung seitens des Bundesgesetzgebers vorgeschrieben wurde und diente zahlreichen anderen Ländern als Vorbild. Möller hat bei der Ausarbeitung des Finanzausgleichgesetzes gleichsam als Moderator gewirkt und die zahlreichen Änderungsanträge zur Regierungsvorlage in den Gesetzentwurf eingearbeitet oder auch zurückgewiesen, wenn seiner Meinung nach offensichtlich Partikularinteressen vertreten wurden. Verdient gemacht hat sich Möller auch um die Ausarbeitung der anderen grundlegenden Gesetze wie der Wahlrechtsordnung, der Kommunalordnung oder dem Polizeirecht. Möller begnügte sich jedoch nicht damit, auf gesetzgeberischem Gebiet tätig zu werden, sondern betonte auch die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung überaus stark, und dies obwohl die SPD zu diesem Zeitpunkt selbst Regierungspartei war. Möller hat also gleichsam die Rolle einer Opposition innerhalb der Regierung wahrgenommen. Besonders deutlich wurde dies 1955/56, als Möller nachdrücklich gegenüber Jus110 Wilhelm Keil an Alex Möller 7. Oktober 1961, abgedr. in: Möller: Genosse Generaldirektor (wie Anm. 1), S. 226.

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tizminister Haußmann auf Versäumnisse bei der Frage der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus aufmerksam gemacht hat. Dabei ist deutlich geworden, dass Möller bereits in den fünfziger-Jahren über einen umfangreichen Mitarbeiterstab verfügte, der sich eingehend gerade mit dieser Materie beschäftigt hat und solange „nachgebohrt“ hat, bis im Justizministerium doch ein erheblicher Umdenkprozess eingeleitet worden war und man auch hier in den Entschädigungsberechtigten nicht nur Rentenjäger, sondern vielmehr Opfer gesehen hat, deren Anspruch in jedem Falle Geltung verschafft werden sollte. Ab 1956 geht freilich der Einfluss Möllers erst allmählich, dann aber sichtbar zurück. Immerhin hat Möller noch eine wichtige Rolle bei der nochmaligen Behandlung der Finanzausgleichsgesetze im Jahr 1958 gespielt, genauso wie er 1958 nochmals als „Königsmacher“ fungiert hat und die Wahl Kiesingers zum Ministerpräsidenten (und damit den vorläufigen Verbleib der SPD in der Regierungskoalition) auch gegen Widerstände in der eigenen Partei durchsetzen konnte. Gescheitert ist Möller allerdings in dieser Legislaturperiode mit zwei ganz zentralen Anliegen. Zu einer Verwaltungsvereinfachung, die er zu einem der Zentralanliegen bei der Schaffung des Südweststaates machte, ist es nicht gekommen. Vor allem ist Möller allerdings bei der Durchsetzung des für ihn wichtigen Ministergesetzes gescheitert – gescheitert nicht zuletzt am Beharrungsvermögen auch der SPD-Minister, die unter keinen Umständen eine Auflösung ihres Ministeriums oder auch nur dem Verlust einzelner Kompetenzen zustimmen wollten. Zugleich wurde beim Scheitern des Ministergesetzes auch die Krise der Allparteienregierung insgesamt augenfällig. Aus Gründen des Parteienproporzes war hier eine Reduktion des aufgeblähten Ministeriums schlicht nicht möglich. Bezeichnenderweise ermöglichte erst die Bildung einer neuen liberalkonservativen Koalitionsregierung und somit die Abkehr von der bisher geübten Praxis der Allparteienregierung, den Abbau von vier Ministerstellen und somit die Verwirklichung von Möllers Zielstellung. Das Jahr 1960 bildet folglich in der Landesgeschichte Baden-Württembergs einen klaren Einschnitt. Die erste Phase der Konsolidierung war durchlaufen und abgeschlossen, die Notwendigkeit eines über allen Parteien stehenden Konsenses nicht mehr unbedingt erforderlich. Möller war ein Stück weit Leidtragender dieser Entwicklung, indem er mit seiner Fraktion aus der Regierung gedrängt wurde: Als Oppositionsführer hat er ein sehr offensives und ausgefeiltes Programm verfochten, das allerdings auch in der Fülle von Anträgen hektisch und übermotiviert wirkt. Gleichwohl fällt es schwer, die Tätigkeit Möllers im Jahr 1960/61 zu bewerten, wechselte dieser doch nunmehr in die Bundespolitik. Im Land Baden-Württemberg hatte Möller sehr vieles erreicht. Die Bundespolitik, und hier ist Hans-Joachim Mann zuzustimmen, sollte für ihn eine neue Herausforderung darstellen.111

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Mann: Die SPD in Baden-Württemberg (wie Anm. 39), S. 264 f.

Der Katholizismus und die Durchsetzung der modernen Demokratie Wilfried Loth Das Verhältnis des Katholizismus zur modernen Demokratie ist nicht leicht zu fassen. Otto von Bismarck bezeichnete das Zentrum, die Partei des politischen Katholizismus in Deutschland, einmal als eine Bewegung, in der „nicht [nur] zwei Seelen“ steckten, sondern gleich „sieben Geistesrichtungen, die in allen Farben des politischen Regenbogens schillern, von der äußerste Linken bis zur radikalen Rechten“.1 Eugen Richter, der progressive Parteiführer, sprach von „einer politisch sehr gemischten Gesellschaft, welche die denkbar schroffsten Gegensätze in sich vereinigte“ und nur „in den kirchlichen und religiösen Fragen“ 2 übereinstimmte. Ob der Katholizismus nun reaktionär oder fortschrittlich war, liberal oder sozial, darüber stritten schon die Zeitgenossen; und auch heute noch gibt es dazu unterschiedliche Antworten. Unterdessen liegen freilich so viele weiterführende Einzelstudien vor, dass eine differenzierte Gesamtbetrachtung gewagt werden kann.3 I. Eine grundsätzliche Ambivalenz Um den Beitrag des Katholizismus zur modernen Demokratie zu erfassen, ist es notwendig, von einer grundsätzlichen Ambivalenz auszugehen.4 Auf der einen Seite formierte sich die katholische Bewegung im Laufe des 19. Jahrhunderts gegen die Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen Revolution. 1 Poschinger, Heinrich (Hrsg.): Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Band 3, Breslau 1896, S. 231. 2 Richter, Eugen: Im alten Reichstag. Erinnerungen, Berlin 1894, S. 6. 3 Die Arbeiten von Karsten Ruppert haben zu diesem Forschungsfortschritt wesentlich beigetragen. Ich verbinde diese Gesamtschau aus Anlass seines 65. Geburtstags daher mit meinem herzlichen Dank für alle Anregungen, die er mir im Laufe der Jahre vermittelt hat. 4 Siehe Loth, Wilfried: Katholizismus und Moderne. Überlegungen zu einem dialektischen Verhältnis, in: Bajohr, Frank/Lohalm, Uwe (Hrsg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 83–97; Boyer, John W.: Catholics, Christians and the Challenges of Democracy. The Heritage of the Nineteenth Century, in: Kaiser, Wolfram/Wohnout, Helmut (Hrsg.): Political Catholicism in Europe 1918–1945, London u. New York 2004, S. 7–45.

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Sie verfocht Prinzipien, die den „Ideen von 1789“ diametral entgegengesetzt waren. Gegen die Betonung der menschlichen Vernunft und des Fortschritts propagierte sie die Verbindlichkeit der göttlichen Offenbarung und der Tradition des kirchlichen Lehramts. Gegen die Idee der Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt fest und am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen Ordnung. Gegen die Tendenzen zur Herausbildung einer modernen Industriegesellschaft predigte sie die Einbindung in eine zeitlos harmonische ständestaatliche Ordnung. Gegen die Explosion der modernen Wissenschaften setzte sie auf die Weisheit der mittelalterlichen Scholastik, und gegen den modernen Nationalismus entwickelte sie den Ultramontanismus, die absolute Bindung an den Papst in Rom. Die antimoderne Ausrichtung des Katholizismus ist immer wieder durch päpstliche Erklärungen bestätigt und bekräftigt worden.5 Das begann mit Pius VI., der sich nicht damit begnügte, die Zivilkonstitution der französischen Nationalversammlung zu verurteilen, weil sie die Kirche, gallikanischer Tradition entsprechend, ganz als Staatsinstitution behandelte. Vielmehr lehnte er ausdrücklich die Erklärung der Menschenrechte als mit der katholischen Lehre unvereinbar ab: unvereinbar im Hinblick auf den Ursprung der Staatsgewalt, auf die Religionsfreiheit und auf die gesellschaftliche Ungleichheit. Ihren Höhepunkt erhielt die antimoderne Ausrichtung mit der prägnanten Verurteilung der liberalen Ideen durch Pius IX. 1864 in der Enzyklika Quanta cura und dem beigefügten Syllabus errorum: Sie richtete sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, die Gesellschaft könne ohne Rücksicht auf die Religion und ohne Rücksicht auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionen organisiert werden, und verurteilte dann Volkssouveränität, Glaubens- und Kultusfreiheit, Pressefreiheit, Säkularisierung der gesellschaftlichen Institutionen und Trennung von Kirche und Staat als Ausdruck dieses Irrglaubens, ebenso wie Rationalismus, Ökonomismus und Sozialismus. Die globale Absage des Katholizismus an die Moderne war kein Zufall und auch nicht die Folge unbedachter Eskalation der Gegensätze kirchenpolitischer Auseinandersetzungen. Die Aufklärung stelle einen Angriff auf den Monopolanspruch der katholischen Weltdeutung dar, und die Revolution bedrohte die materiellen Grundlagen der kirchlichen Machtstellung, besonders seit ihre Führer sich zum Zugriff auf die Kirchengüter und die geistlichen Fürstentümer entschlossen hatten. Da war es ganz unwahrscheinlich, dass es der Kirche gelingen würde, sich rechtzeitig von den traditionellen Verhältnissen zu lösen und die christlich gestaltbaren, zum Teil sogar christlich fundierten Momente des Um-

5 Siehe Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven, Göttingen 1987; McLeod, Hugh: Secularisation in Western Europe 1848–1914, London u. New York 2000; Remond, René: Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, München 2000.

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bruchs zur Moderne zu erkennen. Viel näher lag es, sich in der Abwehr von Aufklärung und Revolution mit all jenen Kräften zu verbünden, die gegen die Entwicklung zur Moderne opponierten, und in idealistischer Verklärung der vorrevolutionären Verhältnisse auf die Schaffung eines neuen christlichen Weltreiches zu hoffen. In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen, die auf die Erschütterung durch Revolution und Säkularisierung folgten, hatte der Ultramontanismus darum von vorneherein die besseren Karten; und auch bei der Formierung des Katholizismus im gesellschaftlichen und politischen Raum stand er bald im Vordergrund, während Ansätze zur Bildung eines liberalen Katholizismus immer Episoden blieben.6 Die Frontstellung gegen die Moderne wurde noch dadurch zusätzlich gefördert, dass der Papst als Herrscher über den Kirchenstaat selbst Teil der alten Ordnung war und der Klerus auch in den übrigen italienischen Staaten über starke Machtpositionen verfügte. Das legte es allein schon aus Gründen des Machterhalts nahe, für die Restauration der alten Ordnung zu kämpfen. Es förderte einerseits den Glauben an die Durchsetzbarkeit der theoretischen Visionen und bestärkte andererseits die liberale Bewegung in ihrer Neigung, den Katholizismus pauschal mit der Reaktion zu identifizieren und entsprechend zu bekämpfen. In der Tat nahm der Kirchenstaat nach 1815 bald die Züge eines christlichen Polizeistaates an, der modernem rechtsstaatlichem Empfinden Hohn sprach; und die Päpste wandten sich nach 1848 wie nach 1870 dem Bündnis mit den konservativen Mächten zu, um ihre Herrschaft über den Kirchenstaat wieder herzustellen. Beides stärkte die ultramontanen Positionen und entzog denjenigen den Boden unter den Füßen, die an einem Ausgleich der Kirche mit der modernen Welt arbeiteten.7 Auf der anderen Seite ist der Katholizismus als soziale und politische Bewegung nicht etwa aus Weisungen der kirchlichen Hierarchie hervorgegangen, sondern aus den Initiativen vieler Einzelner und Gruppen, wobei Laien häufiger den Ton angaben als Kleriker. Diese bedienten sich selbst der Mittel des modernen Rechtsstaats, um die Stellung der Kirche zu festigen, soweit sie durch die Auflösung der vorrevolutionären Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Meinungs- und Pressefreiheit, die Parlamente und ihre Mitspracherechte wurden von den Anwälten der katholischen Bewegung dazu genutzt, das katholische Volk für die Anliegen der Kirche und des Papstes zu mobilisieren und die Kirche als 6 Weber, Christoph: Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: Loth, Wilfried (Hrsg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, S. 20–45. 7 Faszinierende Insider-Informationen über die päpstliche Politik dieser Zeit finden sich bei Hasler, August Bernhard: Pius IX. (1848–1878), päpstliche Unfehlbarkeit und I. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und Durchsetzung einer Ideologie, 2 Bände, Stuttgart 1977; Hasler, August Bernhard: Wie der Papst unfehlbar wurde. Macht und Ohnmacht eines Dogmas, München 1979.

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gesellschaftliche Kraft in der nachrevolutionären Ordnung zu verankern. Der Katholizismus stellte damit selbst eine moderne Bewegung dar, deren Existenz an die Errungenschaften der Revolution und der Säkularisierung gebunden war – eine moderne Bewegung gegen die Moderne sozusagen, die aber allein schon aus Eigeninteresse keinen Totalangriff gegen die Moderne führen konnte, vielmehr selbst Elemente der Moderne in sich trug und, indem sie verlorengegangen feudale Stützen durch die gesellschaftliche und politische Mobilisierung der Katholiken ersetzte, die Kirche partiell modernisierte.8 Darüber hinaus verfocht der ultramontane Katholizismus selbst liberale Prinzipien, wenn und soweit die Erben der Aufklärung diese vergaßen. Das galt insbesondere für deren Verbindung mit der staatskirchlichen Tradition im Protestantismus, aber auch für die Tendenz zur Entwicklung moderner Staatsallmacht und für die Verengung der liberalen Bewegung auf die Förderung bürgerlicher Klasseninteressen. Gewiss: Die katholische Kritik an diesen Entwicklungen fußte nicht auf der bewussten Übernahme liberaler Theoreme. Sie gründete vielmehr teils in der Überzeugung von der Unveräußerlichkeit vorstaatlicher Rechte und stellte zum Teil auch nur eine opportunistische Ausnützung der Schwächen der liberalen Gegenspieler dar. Erst recht weitete sie sich nicht zu einer Infragestellung der eigenen Weltordnungsanspruche aus, was ihre Glaubwürdigkeit natürlich von vorneherein stark beeinträchtigte. Dennoch wirkte der Katholizismus mit dieser Kritik bisweilen als liberales Korrektiv, das mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen mitwirkte. Drittens aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, deren Ziele über die Restaurierung kirchlicher Freiheiten und Machtpositionen weit hinausgingen, dabei aber der Bewegung vielfach überhaupt erst die nötige politische Virulenz verschafften. So artikulierten sich im Widerstand gegen die aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik zugleich die Vorbehalte traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat. Katholische Bürger verbanden die Opposition gegen das Staatskirchentum mit dem Kampf für die eigenen Freiheitsrechte im konstitutionellen Staat. Angehörige der traditionellen Unterschichten ließen sich für die katholische Sache gewinnen, weil sie zugleich die Abwehr liberaler Führungs- und Mo8 Dazu und zum Folgenden siehe Loth, Wilfried: Integration und Erosion: Wandlungen des katholischen Milieus in Deutschland, in: Loth: Deutscher Katholizismus (wie Anm. 6), S. 266–281; Loth, Wilfried: Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft, 17, Heft 3, 1991, S. 279–310; Anderson, Margaret Lavinia Windthorst. A Policial Biography, Oxford 1981; Loth, Wilfried: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984; Misner, Paul: Social Catholicism in Europe. From the Onset of Industralization to the First World War, New York 1991.

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dernisierungsansprüche zu vertreten schien. Katholische Arbeiter erlebten den Katholizismus als Zuflucht vor den Zumutungen der industriellen Arbeitswelt und als möglichen Bundesgenossen bei der Abwehr der Ausbeutung durch liberale Unternehmer. In Deutschland, wo sich der Katholizismus zu einer besonders schlagkräftigen Partei verdichtete, kam zu diesen durchaus unterschiedlichen sozialen Interessen dann in der Reichsgründungsära auch noch der latente Protest gegen die meist protestantischen Führungsschichten in Bürokratie, Kultur und Wirtschaft, die Abneigung süddeutscher und welfischer Kreise gegen die preußische Hegemonie und die Opposition von Elsässern, Lothringern und Polen gegen den deutschen Nationalstaat überhaupt. Mit all diesen Momenten entwickelte sich der Katholizismus zu einer politischen Kraft, die zwar in Selbstbindung an den katholischen Glauben wirkte, aber in wachsender Unabhängigkeit von Klerus und kirchlicher Hierarchie, und die damit selbstverantwortetes politisches Handeln ganz im Sinne der Aufklärung ermöglichte.9 Die modernen und modernisierenden Elemente innerhalb des Katholizismus mussten mit der Zeit um so stärker zur Geltung kommen, als die erklärten Hauptziele des Ultramontanismus illusionär waren. Wissenschaftlicher Fortschritt, Säkularisierung und Industrialisierung waren nicht aufzuhalten, und die verschiedenen Emanzipationsbewegungen, die sich daraus entwickelten, konnten wohl für eine gewisse Zeit unterdrückt, aber letztlich nicht mehr rückgängig gemacht oder aufgelöst werden. Eine Rückkehr zur christlichen Fundierung der weltlichen Ordnung war darum ebenso wenig zu erreichen wie eine Verwirklichung der ständestaatlichen Vorstellungen, die man aus einem idealisierten Mittelalter-Bild abgeleitet hatte. Nach 1870 konnte auch nicht länger verborgen bleiben, dass in der Welt der Nationalstaaten und des Imperialismus kein Platz mehr war für die Wiederherstellung des Kirchenstaates. Erreichbar waren allenfalls eine Sicherung der Freiheit der Kirche als einer Gruppe unter vielen und die Unabhängigkeit ihres geistlichen Oberhaupts. Christliches Wirken in diese plurale Welt hinein war nur möglich, wenn und soweit sich die Kirche den nachrevolutionären Verhältnissen stellte. Entsprechend ließ der ultramontane Eifer der Kirche mit der Zeit tatsächlich nach. In gewisser Weise war das schon beim Ersten Vatikanischen Konzil zu spüren: Die Verkündigung des Jurisdiktionsprimats und des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes stellte zwar einen Triumph der Ultramontanen dar und lag auch ganz in der Konsequenz ultramontanen Denkens. Indem sie dem Papsttum die volle Kontrolle über den Gebrauch der bürgerlichen Freiheiten durch die Ka9 Für eine Einschätzung aus jüngerer Zeit siehe Loth, Wilfried: Bismarcks Kulturkampf. Modernisierungskrise, Machtkämpfe und Demokratie, in: Doering-Manteuffel, Anselm/Nowak, Kurt (Hrsg.): Religionspolitik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1999, S. 149–163.

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tholiken sicherte, rüstete sich die Kirche aber gleichzeitig für eine Situation, in der die traditionellen Machtmittel feudaler Prägung nicht mehr zur Verfügung standen. Von den materiellen Machtmitteln der alten Kirche, die noch kurz zuvor im Syllabus eingeklagt worden waren, war nicht mehr die Rede, nur noch von der geistlichen Autorität des Papstes. 1885 ließ Leo XIII. dann in der Enzyklika „Immortale Dei“ eine (wenn auch noch sehr vorsichtige) Distanzierung vom monarchischen Legitimitätsprinzip erkennen. Gleichzeitig hielt er französische Katholiken von der Bildung einer offen gegenrevolutonären Partei ab und drängte sie zur Verständigung, zum „Ralliement“ mit der Republik. Sechs Jahre später, 1891, rückte er in der Enzyklika „Rerum novarum“ auch von der Fixierung auf ein ständisches Gesellschaftsverständnis ab. Nach der Jahrhundertwende folgte, nach vergeblichen Anläufen schon in den 1880er-Jahren, die schrittweise Aufhebung des „Non expedit“, das die italienischen Katholiken bis dahin von einer Beteiligung an den allgemeinen politischen Wahlen der Republik abgehalten hatte.10 II. „Rerum novarum“ und Demokratisierung „Rerum novarum“ hatte insofern eine mobilisierende Wirkung, als der Papst hier neben dem natürlichen Recht auf privates Eigentum auch die Rechte der Armen auf würdige Behandlung und „gerechten Lohn“ betonte und die natürliche Legitimität und Effektivität intermediärer sozialer Organisationen und Kollektive (der Familien, Assoziationen, Kirchen und Bruderschaften) hervorhob. Dem Staat wurde zwar eine soziale Verpflichtung in Krisensituationen auferlegt; in erster Linie wurden aber nach dem Prinzip der Subsidiarität die intermediären Gruppen gefordert, die Lösung der „sozialen Frage“ in die Hand zu nehmen. Das war unterschiedlich interpretierbar und ist auch unterschiedlich interpretiert worden, als Kritik am Kapitalismus ebenso wie als Aufruf zum Kampf gegen den revolutionären Marxismus. Eindeutig war in jedem Fall die Forderung nach Solidarität und Subsidiarität. Indem Leo XIII. sie in den Mittelpunkt seiner Botschaft zum Umgang mit den Realitäten der industriellen Moderne stellte, gab er den Selbsthilfe-Strategien katholischer Reformer und einer katholischen Arbeiterbewegung starken Auftrieb. Das Auftreten sozialreformerischer und christdemokratischer Gruppen wie Marc Sagniers „Le Sillon“ in Frankreich muss in diesem Zusammenhang gesehen werden, ebenso die Entwicklung des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ zu einer mächtigen Reformbewegung, die Bildung christdemokratischer Parteien in Polen, die Entwicklung der katholischen Parteien in Belgien und den Niederlanden zu Volksparteien, die die Emanzipation

10 Siehe die ausgewogene Darstellung bei Oskar Köhler und Roger Aubert in: Jedin, Hubert (Hrsg.): Handbuch der Kirchengeschichte, Band. 6.2, Freiburg, Basel u. Wien 1973, S. 3–27, 195–264, 316–344 u. 391–500.

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der Benachteiligten auf ihre Fahnen schrieben, und das Aufkommen machtvoller christlicher Gewerkschaften in vielen Ländern.11 Im deutschen Kaiserreich führte die Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte im „Kulturkampf“ zu einem aktiven Eintreten der Zentrumspartei für die „bürgerliche Freiheit aller Angehörigen des Reiches“. Unter der Führung des entschieden konstitutionell ausgerichteten Ludwig Windthorst schreckte die Partei nicht davor zurück, bei der Verfechtung rechtsstaatlicher Prinzipien wie der Wahrung der Rechte des Reichstags mit Progressiven wie mit Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten. 1878 lehnte die Zentrumsfraktion im Reichstag Bismarcks Sozialistengesetz geschlossen ab. In den 1890er-Jahren wirkte sie als verlässliche Barriere gegen alle Pläne Wilhelms II. zur Einschränkung der Rechte des Reichstags und Abschaffung des gleichen Wahlrechts bei den Reichstagswahlen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs schickte sie sich im Verein mit den Nationalliberalen an, die Reichsleitung durch schrittweise Stärkung der Reichstagsrechte in dauernde Abhängigkeit von einer parlamentarischen Mehrheit zu bringen.12 Vom Oktober 1918 an arbeitete das Zentrum konstruktiv an der Etablierung der Weimarer Republik mit. Es akzeptierte die Abschaffung der Monarchie ebenso wie die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts einschließlich des Frauenwahlrechts, auch in Preußen. Zusammen mit den ideologischen Hauptgegnern, den Progressiven und den Sozialdemokraten, arbeitete es die Weimarer Reichsverfassung und die republikanischen Länderverfassungen aus und bildete mit ihnen die „Weimarer Koalition“ – die einzige Gruppierung in der deutschen Parteienlandschaft, die uneingeschränkt hinter der Weimarer Demokratie stand. In den zahlreichen Krisen der Weimarer Republik war die Zentrumspartei immer wieder bereit, Regierungsverantwortung entsprechend den Grundsätzen der Verfassung zu übernehmen.13 11 Siehe Molony, John: The Worker Question. A New Historical Perspective on Rerum Novarum, Dublin 1991; McHugh, Francis P./Natale, Samuel M. (Hrsg.): Things Old and New. Catholic Social Teaching Revisited, Lanham 1993; Caron, Jeanne: Le Sillon et la démocratie chrétienne, 1894–1910, Paris 1967; Kaiser, Jochen-Christoph/ Loth, Wilfried (Hrsg.): Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart 1997. 12 Anderson, Margaret L.: The Kulturkampf and the Course of German History, in: Central European History, 10, Heft 1, 1986, S. 82–115; Loth, Wilfried: Zwischen autoritärer und demokratischer Ordnung. Das Zentrum in der Krise des Wilhelminischen Reiches, in: Becker, Winfried (Hrsg.): Die Minderheit als Mitte. Die Deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 1871–1933, Paderborn 1986, S. 47–69; Loth, Wilfried: Der Katholizismus und die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland, in: Lademacher, Horst/Mühlhausen, Walter (Hrsg.): Freiheitsstreben, Demokratie, Emanzipation. Aufsätze zur politischen Kultur in Deutschland und den Niederlanden, Münster 1993, S. 215–243. 13 Ruppert, Karsten: Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923–1930, Düsseldorf 1992; Ruppert, Karsten: Die weltanschaulich bedingte Politik der Deutschen Zentrumspartei in ihrer Weimarer Epoche, in: Historische Zeitschrift, 285, 2007, S. 49–97; Elvert, Jürgen: Gesellschaftlicher

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Ähnlich wirkte die Christlichsoziale Partei in Österreich im Verein mit den Sozialdemokraten an der Etablierung der Ersten Republik mit. Die „Partito Popolare Italiano“ (PPI), die Luigi Sturzo nach der Aufhebung des „Non expedit“ 1919 ins Leben gerufen hatte, wurde mit einem pragmatischen Reformprogramm zur stärksten Kraft in den Regierungen der Endphase des liberalen Staates in Italien. Die kleine „Parti Démocratique Populaire“ (PDP) in Frankreich verfolgte einen ähnlichen Kurs, ebenso die katholischen Volksparteien Mittel- und Osteuropas. Die „Römisch-Katholische Staatspartei“ in den Niederlanden bewegte sich unter heftigen innerparteilichen Spannungen von einer Koalition mit den Protestanten zu einer Koalition mit den Sozialdemokraten; die Katholische Union in Belgien wirkte nach dem Verlust der absoluten Mehrheit 1919 in demokratischen Regierungskoalitionen mit.14 III. Antimodernismus und autoritäre Versuchung Die Abkehr der Kirche von den ultramontanen Weltordnungsvorstellungen ging allerdings nur sehr zögernd vonstatten. Ihre Amtsträger blieben noch lange von der Sehnsucht nach Wiederherstellung vorrevolutionärer Zustände geprägt. Sie betrachteten die moderne Welt mit Misstrauen und zogen sich eher auf den innerkirchlichen Bereich zurück, als neue Ordnungsvorstellungen zu entwickeln, die den Realitäten der Zeit angemessen waren. Auf den Diplomaten Leo XIII., der in seinen Anfangsjahren gehofft hatte, die äußere Machtstellung der Kirche durch eine Verständigung mit den konservativen Regierungen stärken zu können, folgte 1930 der Seelsorger Pius X., der sich unter Vernachlässigung der politischen Ambitionen auf innere Reformen der Kirche konzentrierte. Getragen wurde er dabei von einer breiten religiösen Erneuerungsbewegung, die der religiösen Praxis mit Herz-Jesu-Verehrung, marianischer Frömmigkeit und Eucharistischen Kongressen ein zugleich individualisierendes und weltabgewandtes Gepräge gab. Ansätze zur Rehistorisierung theologischen Denkens, wie sie von einer breiten und vielfältigen Strömung „reformkatholischer“ Theologen seit Mitte der 1890er-Jahre entwickelt wurden, zerbrachen an der Intoleranz sowohl der Mikrokosmos oder Mehrheitsbeschaffer im Reichstag? Das Zentrum 1918–1933, in: Gehler, Michael/Kaiser, Wolfram/Wohnout, Helmut (Hrsg.): Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien 2001, S. 160–180. 14 Wohnout, Helmut: Bürgerliche Regierungspartei und weltlicher Arm der Katholischen Kirche. Die Christlichsozialen in Österreich 1918–1934, in: Kaiser/Gehler/ Wohnout: Christdemokratie (wie Anm. 13), S. 181–207; Maio, Tiziana di: Zwischen Krise des liberalen Staates, Faschismus und demokratischer Perspektive. Die Partito Populare Italiano 1919–1926, in: ebd. S. 122–142; Delbreil, Jean-Claude: Le parti démocrate populaire. Un parti démocrate-chrétien français de l’entre-deux guerres, in: ebd. S. 98–121; Roes, Jan: Ein historischer Umweg. Die Katholische Staatspartei in den Niederlanden vor dem Zweiten Weltkrieg, in: ebd. S. 143–159; Gerard, Emmanuel: The Emergence of a People’s Party: The Catholic Party in Belgium 1918–1945, in: ebd. S. 98–121.

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Masse der Gläubigen als auch der Kirchenleitung. Immer rigidere Maßnahmen gegen eine „modernistische“ Irrlehre (die es in der vermuteten Geschlossenheit gar nicht gab) wirkten als Barrieren gegen eine aktive Auseinandersetzung der Kirche mit den Problemen der modernen Welt.15 Die Angst vor der Moderne ließ die kirchlichen Autoritäten wiederholt intervenieren, wenn sich Gruppierungen des sozialen oder politischen Katholizismus allzu stark für die Sicherung von Freiheitsrechten und Emanzipation engagierten. So sprach Pius X. 1910 ein Verbot des „Sillon“ aus, der in seiner Sicht Religion und Politik allzu sehr vermischte und das Engagement für die soziale und partizipative Demokratie unzulässigerweise religiös begründete. 1912 entgingen die Christlichen Gewerkschaften in Deutschland nur knapp einem päpstlichen Verbot, weil sie auf einer interkonfessionellen Ausrichtung der Arbeitervertretungen und der damit einhergehenden Autonomie beharrten. Nach der Verkündigung der Enzyklika „Singulari quadam“ mussten sie mit dem Stigma leben, vom Papst nur als unvermeidliche Ausnahme geduldet zu werden. Nach dem Ersten Weltkrieg verurteilte der Münchener Kardinal Michael Faulhaber die Weimarer Republik als Kind der Revolution. Papst Pius XI. distanzierte sich von der italienischen Volkspartei und wandte sich gegen eine Zusammenarbeit von „Populari“ und Sozialisten zur Verhinderung des Sieges des Faschismus. Die niederländischen Bischöfe verboten dem Vorstand der Staatspartei die Zusammenarbeit mit den Sozialisten und warnten in Hirtenbriefen regelmäßig vor dem Sozialismus als gefährlichstem Gegner der Kirche und der Religion.16 Ein offensives Eintreten für die parlamentarische Demokratie war den Führern des politischen Katholizismus unter diesen Umständen nicht möglich. Matthias Erzberger, der Hauptarchitekt der Weimarer Koalition, wurde von seiner Partei im Stich gelassen, als er 1920 ins Schussfeld der antirepublikanischen Rechten geriet. Joseph Wirth versuchte vergeblich, das Zentrum in eine republikanische Massenbewegung umzuwandeln und so eine verlässliche Stütze für die Behauptung der Republik gegenüber ihren erklärten Feinden zu schaffen. Die „Republi15 Loome, Thomas Michael: Liberal Catholicism, Reform Catholicism, Modernism. A Contribution to a New Orientation in Modernist Research, Mainz 1979; zur religiösen Erneuerung siehe Blackbourn, David: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, Oxford 1993; Harris, Ruth: Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age, New York 1999; Busch, Norbert: Frömmigkeit als Faktor des katholischen Milieus. Der Kult zum Herzen Jesu, in: Blaschke, Olaf/Kuhlemann, Frank-Michael (Hrsg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 136–165; Blaschke, Olaf: Die Kolonisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager und die Kanäle klerikaler Kuratel, in: ebd. S. 93–135. 16 Poulat, Emile: Catholicisme, démocratie et socialisme. Le mouvement catholique et Mgr. Benini de la naissance du socialisme à la victoire du fascisme, Tournai u. Paris 1977; Loth: Katholiken im Kaiserreich (wie Anm. 8), S. 232–237; Lutz, Heinrich: Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914–1925, München 1963; Di Maio: Partito Popolare Italiano (wie Anm. 14), S. 133–134; Roes: Katholische Staatspartei (wie Anm. 14), S. 154–157.

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kanische Union“, mit der er von 1926 an für die Erneuerung der Weimarer Koalition warb, fand nur bei Teilen des badischen Zentrums, der katholischen Arbeiterbewegung und der Parteijugend Resonanz. Die entscheidenden Führungsgremien und die maßgeblichen Presseorgane der Partei blieben auf Distanz. Die Zentrumsführer begnügten sich damit, ihr Engagement für die Republik defensiv zu rechtfertigen, als notwendig zur Vermeidung von Revolution und Bürgerkrieg.17 In Italien geriet Sturzo bei seinem Versuch, die Partei vor der Vereinnahmung durch die Faschisten zu retten, in die Minderheit. Im Oktober 1922 beschloss die Fraktionsführung gegen seinen Willen die Beteiligung an der ersten Regierung Mussolini; im Juni 1923 sah er sich gezwungen, nicht zuletzt unter dem Druck des Vatikans, von seinem Amt als Parteisekretär zurückzutreten. Prominente Vertreter des konservativen Parteiflügels stimmten für ein Wahlgesetz, das den Faschisten eine Zweidrittel-Mehrheit sicherte; andere traten aus der Partei aus. Vom Papst und den Bischöfen desavouiert, wussten die verbliebenen „Populari“ ihrer Entmachtung und schließlich dem Verbot der Partei 1926 keinen Widerstand mehr entgegen zu setzen.18 Die Integrationsbemühungen der Parteiführer konnten nicht verhindern, dass „Rechtskatholiken“ wie Martin Spahn in Deutschland oder Josef Eberle in Österreich die republikanische Staatsform als „Verfassung ohne Gott“ ablehnten und die Regierungspolitiker heftig angriffen. Mehr noch: Unter dem Eindruck der Mühen parlamentarischer Koalitionsbildung und wirtschaftlicher Bedrängnis der Mittelklassen breitete sich eine inhaltlich diffuse Sehnsucht nach Gemeinschaft aus, die vom Unbehagen an der zunehmenden Entchristlichung und Individualisierung der modernen Welt lebte und die Republik mit dieser Moderne identifizierte. Ihr Ventil fand sie in allerlei Visionen von einer „organischen Demokratie“ und einem neuen „Reich“, die in der Geringschätzung der „westlichen Formaldemokratie“ übereinstimmten und auf eine Entparlamentarisierung der politischen Ordnung hinausliefen.19 Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Entwicklung der offiziellen katholischen Soziallehre. Der deutsche Jesuit Heinrich Pesch baute die Verbindung von Solidaritätsgebot und Forderung nach gesellschaftlicher Selbstorganisation in „Rerum novarum“ zum Programm einer Wirtschaftsordnung aus, die vorwiegend auf körperschaftlich organisierten Berufsständen aufgebaut sein sollte. Seine Schüler Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning entwickelten diesen 17 Loth: Der Katholizismus und die Durchsetzung der Demokratie (wie Anm. 12), S. 238–242. 18 Di Maio: Partito Popolare Italiano (wie Anm. 14), S. 135–138. 19 Breuning, Klaus: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur 1929–1934, München 1969; Clemens, Gabriele: Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983; Wohnout: Die Christlichsozialen (wie Anm. 14), S. 192–193.

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„Solidarismus“ zu einem umfassenden Gesellschaftsmodell weiter, das auf eine korporatistische Neuordnung des Staates hinauslief. Dieses fand Eingang in die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“, mit der Papst Pius XI. 1931 den vierzigsten Jahrestag von „Rerum novarum“ würdigte und die im Wesentlichen von Nell-Breuning verfasst wurde. Obwohl Gundlach und Nell-Breuning in ihren Kommentaren stets betonten, dass die „berufsständische Ordnung“, deren Einrichtung die Enzyklika forderte, mit den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie vereinbar sei, wurde sie vielfach als Alternative verstanden, die an ihre Stelle treten sollte.20 „Quadragesimo anno“ wirkte damit als Katalysator bei der Ablösung parlamentarisch-demokratischer Regime durch neue autoritäre Ordnungen.21 Das Zentrum trug den Versuch Heinrich Brünings mit, mit Hilfe von Präsidialkabinetten zum Regieren „über den Parteien“ zurückzukehren, und plädierte dann für die Schaffung einer nicht näher definierten „autoritären Demokratie“. De facto befand es sich spätestens seit dem nationalsozialistischen Erfolg in den Reichstagswahlen vom September 1930 mit den Nationalsozialisten und diversen anderen Kräften der politischen Rechten in der Konkurrenz um eine autoritäre Lösung der Staatskrise im Zeichen der „nationalen Sammlung“. Dass es dabei letztlich den Kürzeren zog, war zwar nicht notwendig, aber angesichts seiner inneren Spaltungen und der verbliebenen rechtsstaatlichen Skrupel durchaus konsequent. Desorientiert und gespalten, selbst von Sehnsüchten nach Führertum und „organischer“ Gemeinschaft durchzogen, dazu nach wie vor auf Loyalität gegenüber der herrschenden Obrigkeit fixiert, wurde es nach dem 30. Januar 1933 zu einem leichten Opfer nationalsozialistischer Gewaltdrohungen.22 In Österreich arbeitete Parteiführer Ignaz Seipel seit der Mitte der 1920erJahre mehr und mehr auf einen ständestaatlichen Umbau der Republik hin.

20 Siehe Rauscher, Anton: Sozialismus, in: Rauscher, Anton (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803–1963, Band 1, München u. Wien 1981, S. 294–339; Klöcker, Michael: Erneuerungsbewegungen im römischen Katholizismus, in: Krebs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 565–580. 21 Dazu und zum Folgenden siehe Wolff, Richard J./Hoensch, Jörg K. (Hrsg.): Catholics, the State and the European Radical Right 1919–1945, Boulder 1987. 22 Siehe Morsey, Rudolf: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und „Nationaler Erhebung“ 1932/ 33, Stuttgart 1977; Morsey, Rudolf: Das Ende der Zentrumspartei 1933. Forschungsverlauf und persönliche Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit Zeitzeugen, in: Brechenmacher, Thomas (Hrsg.): Das Reichskkonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente, Paderborn 2007, S. 37–54; Becker, Winfried: Die Deutsche Zentrumspartei gegenüber dem Nationalsozialismus und dem Reichskonkordat 1930–1933. Motivationsstrukturen und Situationszwänge, in: Historisch-politische Mitteilungen, 7, 2000, S. 1–37; Schönhoven, Klaus: Zwischen Anpassung und Ausschaltung. Die bayerische Volkspartei in der Endphase der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, 224, 1977, S. 340–378.

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„Singulari quadam“ interpretierte er offensiv als Auftrag zur Beseitigung des bisherigen demokratischen Parteienstaates. Dagegen gab es so gut wie keinen Widerspruch. Engelbert Dollfuß, seit dem Frühjahr 1932 amtierender christlichsozialer Reichskanzler, konnte daher auch nach der Lahmlegung des Parlaments im März 1933 im Amt bleiben und die Durchsetzung einer entschieden antiparlamentarisch-korporatistischen Verfassung in die Wege leiten. Von Mussolini gedrängt und von der Entwicklung in Deutschland fasziniert setzte er nach der Linzer „Schutzbundrevolte“ vom 12. Februar 1934 die Ausarbeitung einer autoritären Verfassung durch, die Parteibildungen ganz verbot. Den Christlichsozialen, soweit sie nicht von sich aus auf die neue autoritäre Linie umgeschwenkt waren, blieb nur noch die Auflösung der Partei.23 In die gleiche Richtung wirkte die Fortentwicklung christdemokratischen Denkens zum „Personalismus“, wie sie junge Intellektuelle wie Raymond de Becker in Belgien und Emmanuel Mounier in Frankreich in den 1930er-Jahren betrieben. Ihre Visionen von einem revolutionären „Dritten Weg“ zwischen liberalem Individualismus und sozialistischem Kollektivismus verbanden die Forderung nach allseitiger Entfaltung der Persönlichkeit in ihrem sozialen Kontext mit vagen Vorstellungen von konstruktiver Zusammenarbeit der sozialen Korporationen, Regionen und Nationen. Entsprechend war de Becker nach der Besetzung Belgiens durch die Deutschen im Juni 1940 bereit, als neuer Herausgeber der führenden Tageszeitung „Le Soir“ an der Propagierung der „neuen Ordnung“ unter nationalsozialistischer Vorherrschaft mitzuwirken. Mounier und führende Theologen des „renouveau catholique“ wie Henri de Lubac engagierten sich als Lehrkräfte in der Kaderschmiede des Vichy-Regimes im Schloss von Uriage, die die künftigen Eliten der „nationalen Revolution“ in Frankreich ausbildete.24 In der Schweiz gewann die jungkonservative Bewegung eine Mehrheit der Konservativen Volkspartei für die Unterstützung des Antrags auf Revision der Schweizerischen Bundesverfassung, mit dem 1935 eine Umwandlung der liberalen Demokratie in einen autoritären korporatistischen Staat durchgesetzt werden sollte. In der Tschechoslowakei fanden sich ständestaatlich orientierte Katholiken bereit, mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten: Deutsche Christlichsoziale schlossen sich der „Sudetendeutschen Partei“ an; die „Slowakische Volkspartei“ unter Jozef Tiso übernahm die führende Rolle bei der Konstituierung des slowakischen Satellitenstaates im März 1939. In Ungarn gehörte die „Christliche Wirtschaftliche und Soziale Partei“ („Keresztény Gazdasági és Szociális Párt“) zu den Stützen des Horthy-Regimes. Erst 1944 bildete sich eine „Christlich-De-

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Wohnout: Die Christlichsozialen (wie Anm. 14), S. 198–203. Hellman, John: Die katholische nationale Revolution in Frankreich 1922–1944, in: Scherzberg, Lucia (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008, S. 78–101; Loth, Wilfried: Französischer Katholizismus zwischen Vichy und Résistance, in: ebd. S. 145–152. 24

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mokratische Volkspartei“ („Kerésztény Democrata Néppárt“), die einen antifaschistischen Reform-Katholizismus vertrat.25 In Spanien schließlich wurden die wenigen sozial oder politisch organisierten Katholiken zusammen mit dem katholischen Klerus durch die antiklerikale Ausrichtung der Verfassung von 1931 in die Opposition gegen das republikanische Regime getrieben. Antiklerikale Übergriffe vor und während des Bürgerkriegs – das Niederbrennen von Kirchen und Konventen sowie die Massaker an Priestern und Nonnen – ließen sie zu natürlichen Stützen des Franco-Regimes werden, von dem sie sich eine Rekatholisierung des Landes nach dem Muster der Gegenreformation erhofften. Die Faschisten der „Falange“ und die prokirchlichen reaktionären Katholiken hielten sich in dem neuen Regime allerdings wechselseitig in Schach, sodass weder seine Umformung zu einem totalitären Staat gelang noch die hegemonialen Ambitionen der kirchlichen Hierarchie aufgingen. Gil Robles, der Führer der kleinen Katholischen Partei (CEDA) bereitete aus dem Exil heraus den Weg für die Restauration der bourbonischen Monarchie.26 IV. Die Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg Eine grundsätzliche Befürwortung der parlamentarischen Demokratie setzte sich im Katholizismus erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Konservative Katholiken wie christliche Demokraten, die zunächst der autoritären Versuchung erlegen waren, lernten in der Konfrontation mit der Praxis diktatorischer Regime vielfach das Prinzip der Machtverteilung und den Wert der personalen Freiheit schätzen. Einzelne und kleine Gruppen, die für ihre Überzeugungen in den Widerstand gingen, entdeckten in der existenziellen Gefahr der Untergrundarbeit, in gemeinsamer Haft oder unter den schwierigen Umständen des Exils das hohe Maß an Gemeinsamkeiten der Demokraten über weltanschauliche Grenzen hinweg. Vor allem aber ließen die Vorgaben der Siegermächte, die mit der Befreiung vom Nationalsozialismus die Durchsetzung der Demokratie in Europa auf ihre Fahnen geschrieben hatten, eine weitere Orientierung an autoritären Ordnungsvorstellungen nicht mehr zu.27 25 Rölli-Alkemper, Lukas: Swiss Conservative Catholics between Emancipation and Integration: The Conservative People’s Party 1918–1945, in: Kaiser/Gehler/Wohnout: Christdemokratie, S. 208–223; Suppan, Arnold: Katholische Volksparteien in Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Tschechen und Slowaken, in: ebd. S. 273–293; Fazekas, Csaba: Collaborating with Horthy: Political Catholicism and Christian Political Organizations in Hungary 1918–1944, in: ebd. S. 224–249. 26 Linz, Juan J.: Staat und Kirche in Spanien. Vom Bürgerkrieg bis zur Wiederkehr der Demokratie, in: Greschat, Martin/Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.): Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 60–88. 27 Siehe Becker, Winfried/Morsey, Rudolf (Hrsg.): Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Köln 1988; Horn, Gerd-Rainer/Gerard, Emmanuel (Hrsg.): Left Catholicism 1943–1955. Catholics and Society in

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Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte die Wiedergründung von Parteien in der Tradition des politischen Katholizismus daher fast ausnahmslos unter christdemokratischen Vorzeichen. In Deutschland war sie mit einem Brückenschlag zu den protestantischen Christen verbunden, wie ihn bürgerliche Modernisierer und katholische Arbeiterführer lange vergeblich verlangt hatten. Auch anderswo ging mit der Neugründung ein weiterer Schritt der Emanzipation von der kirchlichen Obrigkeit und der Öffnung für Andersdenkende einher. In Frankreich konnte die christdemokratische Volksbewegung (Mouvement Républicain Populaire) jetzt die Mehrheit der kirchlich orientierten Katholiken für sich gewinnen. In Polen avancierte die linkskatholisch orientierte Arbeitspartei zur stärksten Kraft der Exilregierung. Angesichts nachlassender kirchlicher Bindungen der Anhänger und Wähler konnte die Kirche diese Emanzipationsbewegungen auch kaum mehr abbremsen. Mit der nunmehr eindeutigen Orientierung an der parlamentarischen Demokratie trugen die christdemokratischen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zur Errichtung stabiler Demokratien in Europa bei. Ihr ideologisches Erbe ließ sie – bei unterschiedlichen, oft einander bekämpfenden Vorstellungen im Einzelnen – für eine soziale Ausgestaltung der Demokratien und für eine Stärkung der dezentralen Einheiten eintreten. Machtpolitisch trug das starke Gewicht katholischer Standesorganisationen wie der Bauernverbände und der Gewerkschaften zur Praxis korporativen Verhandelns im dem demokratischen Rahmen bei. Gleichzeitig führten die Verwurzelung der christdemokratischen Parteien in der katholischen Tradition und das hohe Maß an gemeinsamen Erfahrungen auf dem Weg zur demokratischen Ordnung zu einer besonderen Aufgeschlossenheit für die Idee der europäischen Einigung. Dass der europäische Zusammenschluss zu Beginn der 1950er-Jahre mit jenen sechs Ländern begann, in denen die Christdemokraten entweder die führende Regierungspartei darstellten oder zumindest über eine Schlüsselrolle in der Regierung verfügten, ist darum kein Zufall.28 In allen diesen Ländern arbeiteten christliche Gewerkschafter mit ihren sozialdemokratischen Kollegen zusammen. Sie stärkten dadurch den reformistischen Flügel der sozialistischen Arbeiterbewegung und brachten beide – die Arbeiterorganisationen wie die christ- und sozialdemokratischen Parteien – dazu, mit den jeweiligen Regierungen über den Ausbau des Wohlfahrtsstaats zu verhandeln. Eine theoretische Durchdringung dieser demokratischen Praxis, ein grundsätzliches Bekenntnis zum politischen Pluralismus und zur parlamentarischen Demokratie, ließen freilich weiter auf sich warten. Sie gingen erst mit dem Verblassen Western Europe at the Point of Liberation, Leuven 2001; Gehler, Michael/Kaiser, Wolfram (Hrsg.): Christian Democracy in Europe Since 1945, London u. New York 2004. 28 Kaiser, Wolfram: Christian Democracy and the Origins of European Union, Cambridge 2007.

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der traditionellen Milieubindungen einher, das parallel zum kirchlichen „Aggiornamento“ in den 1960er-Jahren erfolgte. Erst Papst Johannes XXIII. bekannte sich ausdrücklich zum Gleichheitsprinzip und zu seinen politisch-sozialen Konsequenzen. In der Enzyklika „Pacem in terris“ erklärte er, dass „alle Menschen in der Würde ihrer Natur gleich sind“ 29, und zog daraus weitreichende staats- und gesellschaftspolitische Konsequenzen: die Forderung nach Unverletzlichkeit der Grund- und Menschenrechte, insbesondere des Rechtes auf soziale Sicherheit, die Forderung nach Gleichberechtigung von Mann und Frau, Beseitigung von Rassendiskriminierungen, Schutz nationaler Minderheiten und Hilfe für Entwicklungsländer. Die Menschenrechte schlossen für ihn das „Recht auf Irrtum“ ein; damit bekannte er sich implizit auch zum Recht auf Religionsfreiheit und zum Prinzip der Toleranz.30 Für die Praxis der christdemokratischen Parteien war das unterdessen eine Begründung unter vielen; und längst nicht alle Christdemokraten teilten die Forderung nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Mitbestimmung, die Johannes XXIII. in „Mater et magistra“ wie die französischen Personalisten aus dem Recht auf Entfaltung der Person ableitete.31 Die späte Ankunft der katholischen Kirche in der Moderne fiel so mit dem Ausklingen einer Sonderbeziehung zu einer politischen und gesellschaftlichen Formation zusammen. Auf lange Sicht können die Ideen von Solidarität und Subsidiarität in den gegenwärtigen Debatten im kontinentalen Europa über die Zukunft des Sozialstaates als Erbe der katholischen Erfahrung betrachtet werden. Vielleicht helfen sie dabei, einen Ausgleich zwischen Eigeninitiative und staatlicher Unterstützung zu finden und für die schwächer gewordenen nationalen Instrumente Lösungen auf europäischer Ebene zu entwickeln.

29 Zitiert nach Klüber, Franz: Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Bonn u. Bad Godesberg 1974, S. 14. 30 Zur Umsetzung dieser Vorstellungen auf dem II. Vatikanischen Konzil siehe Spieß, Christian: Konfessionalität und Pluralität. Katholische Kirche und religiöser Pluralismus – die Neuorientierung auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Gabriel, Karl/Spieß, Christian/Winkler, Katja (Hrsg.): Modelle des religiösen Pluralismus. Historische und religionspolitische Perspektiven, Paderborn 2012, S. 101–131. 31 Klüber: Katholische Soziallehre (wie Anm. 29), S. 25.

50 Jahre Kommission für Zeitgeschichte Überlegungen zu Problemen der Katholizismusforschung Heinz Hürten Die Kommission für Zeitgeschichte besteht nunmehr seit fünfzig Jahren. Dies soll kein Anlass zu ihrer Würdigung sein, sondern zu einem Versuch, aus der Betrachtung ihrer Arbeit ein Bild von den heute möglichen Zielen der Katholizismusforschung zu gewinnen. Die Kommission entstand aus dem Wunsch, ein zuverlässiges Bild von den Leistungen des deutschen Katholizismus in der Epoche vor und im Auftakt der nationalsozialistischen Herrschaft zu vermitteln. Der bis 1957 andauernde Prozess um die Fortgeltung des Reichskonkordats verstärkte das Verlangen nach zuverlässiger Kenntnis der Zeitumstände und ließ ein wissenschaftliches Zentrum für derartige Fragen vermissen. Dem stand freilich manche Scheu entgegen, historische Vorgänge in so ungewohnt kurzem zeitlichem Abstand untersuchen zu lassen und einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Doch die Forderung vor allem junger Historiker, „die Wahrheit müsse auf den Tisch“, setzte sich schließlich durch. Diesem Verlangen kam zugute, dass ungefähr um die gleiche Zeit sich die Zeitgeschichte als kraftvoller neuer Zweig der Geschichtswissenschaft in Deutschland darstellte; 1950 war das Institut für Zeitgeschichte, damals als Institut zur Erforschung des Nationalsozialismus, gegründet worden; 1959 erschien der erste Band der neuen Reihe „Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“, im gleichen Jahr der epochemachende Band über „Das Ende der Parteien“. Vorangegangen waren bereits Quellensammlungen „Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, Serie A (1950 ff.) wie die „Ursachen und Folgen“ (1958 ff.). Von 1961 an erschienen die „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Das Interesse der deutschen Gesellschaft, Zuverlässiges über die jüngste Vergangenheit zu erfahren, war offensichtlich groß, auch wenn man berücksichtigt, dass der Wille zur reeducation die Bereitwilligkeit der öffentlichen Hände zur Förderung gestärkt haben mag. Seit 1958 war auch die jüngste Vergangenheit des deutschen Protestantismus durch die Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft getreten. Überlegungen, die Erforschung der katholischen Zeitgeschichte durch die 1958 gegründete Katholische Akademie in Bayern zu fördern, erhielten durch den im Februar 1961 im „Hochland“ erschienenen Aufsatz von Werner

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Böckenförde über die Haltung der katholischen Kirche im Jahre 1933 zusätzlichen Antrieb. Hätte es noch einer Rechtfertigung für die 1962 erfolgte Gründung für die „Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern“ (so die ursprüngliche Bezeichnung) bedurft, so lieferte diese die Uraufführung von Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ im Februar 1963. Nach einigen Jahren von der Katholischen Akademie in Bayern gelöst und nach Bonn verlegt, hat die Kommission für Zeitgeschichte als ein Kollegium von heute ca. zwei Dutzend auf Zeit (aber mit der Möglichkeit der Wiederwahl) frei kooptierter Gelehrter, Historiker, Theologen. Soziologen, Politikwissenschaftler, getragen von einem eingetragenen Verein von Persönlichkeiten aus Kirche und Politik, eine Fülle von Editionen hervorgebracht, die nach dem Urteil von Klaus Scholder aus dem Jahre 1977 „nach Umfang, Reichtum und editorischer Qualität kaum einen Vergleich in der Zeitgeschichte haben dürften“. Neben den Quellenveröffentlichungen steht die „Reihe B: Forschungen“, deren Anzahl die der Editionen etwa um das Doppelte übertrifft (2010 = 117 : 56). Ergänzend bleibt noch zu betonen, dass die Kommission für Zeitgeschichte ihre Aufgabe nicht in den zeitlichen Begrenzungen „nach 1917“ oder „Epoche der Mitlebenden“ (so Hans Rothfels) sah und sieht, auch nicht in der Breite des gesamten historischen Geschehens, sondern in der Geschichte des deutschen Katholizismus „mitsamt ihren Wurzeln in 19. Jahrhundert“ 1. Somit war ihr Auftrag von Anfang an nicht beschränkt auf die Epoche des Nationalsozialismus, wie es ursprünglich für die Arbeiten der evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des Kirchenkampfes vorgesehen war. Auch wäre es nicht korrekt, sie als „Kommission für katholische Zeitgeschichte“ zu bezeichnen. Denn es ist das Phänomen des deutschen Katholizismus, und nicht ein bestimmter zeitlicher Abschnitt in der Geschichte der katholischen Kirche, der ihren Gegenstand bildet. Dies setzt begrifflich voraus, dass es möglich ist, im Erscheinungsbild der katholischen Kirche in Deutschland eine gesellschaftliche Größe auszumachen, die von der Kirche moralisch getragen und in ihren Grundlinien gestaltet wird, aber doch nicht mit ihr einfach identisch und darum auch nicht theologisch zu definieren ist; es ist die innerweltliche Aktionsform der Kirche durch ihre sich selbst organisierenden Laien. Katholizismus ist freilich nicht zu beschränken auf Laienorganisationen. Solange diese sich als katholisch verstehen und darum Element von Kirche sind, kommen zwangsläufig auch die kirchlichen Leitungsorgane in den Blick der Katholizismusforschung, soweit diese sich ihrerseits leitend, konform oder, wie gelegentlich, nur hinnehmend in ein Verhältnis zu den Aktivitäten der Laien setzen, 1 Repgen, Konrad: Fünfundzwanzig Jahre Kommission für Zeitgeschichte – ein Rückblick, in: Hehl, Ulrich von/Repgen, Konrad (Hrsg.): Der deutsche Katholizismus in der zeitgeschichtlichen Forschung, Mainz 1988, S. 9–17, hier S. 12.

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also sich Fragen der Gesellschaftsgestaltung zuwenden, das „Mitsein“ der Kirche in der Gesellschaft realisieren, die Kirche orientieren, sich als „Kirche in Gesellschaft“ darstellen. Die Kommission für Zeitgeschichte hat allerdings nicht primär aus solchen Gründen die bislang größte ihrer Editionsreihen den deutschen Bischöfen gewidmet, die „Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche“, zunächst konzipiert und realisiert für die Jahre 1933 bis 1945, in denen durch die Verfolgungspraxis der Nationalsozialisten die Bischöfe fast zu den einzigen Repräsentanten katholischen Lebens in der Öffentlichkeit geworden waren, den Konflikt von System und Kirche somit im Brennpunkt erlebten. Diese Reihe wurde flankiert durch die zweibändige Ausgabe der „Akten, Briefe und Predigten“ des münsterschen Bischofs Galen und die auf drei Bände angewachsene Ausgabe der „Akten Kardinal Michael von Faulhabers“, deren beide erste Bände die Zeit bis 1945 schildern. Dass es sich aber auch hier nicht um eine kurzschlüssige Konzentration auf die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft handeln sollte, erweist die in den gleichen Zeitabschnitt fallende Veröffentlichung der „Akten der Fuldaer Bischofskonferenz“ von 1871 bis 1919. Diese, nun wieder nicht mehr ausschließlich an die Fuldaer Konferenz gebundene Reihe wurde vervollständigt durch einen Band über die Zeit der Weimarer Republik und wird zur Zeit fortgeführt für die Jahre nach 1945, bei denen auch die DDR intensiv berücksichtigt wurde. Editionsleitende Norm war hier wie dort, nicht Kirchengeschichte in ihrer Breite zu treiben, sondern Katholizismusforschung in ihrer eigentümlichen Ausblendung eigentlich theologischer Fragen bei Konzentration auf gesellschaftsgestaltendes Handeln. Einen inzwischen lange abgeschlossenen, wuchtigen Block in den Aktenpublikationen bildeten schon früh die Berichte der Regierungspräsidenten über die kirchliche Lage in Bayern. Bereits 1966 konnte unser Eichstätter Kollege Helmut Witetschek, damals Geschäftsführer der Kommission, seinen ersten Band vorlegen: „Die kirchliche Lage in Bayern nach den Regierungspräsidentenberichten 1933 bis 1943. Bd. I. Regierungsbezirk Oberbayern“. Ein Jahr später legte er den Band über den Regierungsbezirk Ober- und Mittelfranken vor, 1971 den für den Regierungsbezirk Schwaben. Die Berichte aus den Regierungsbezirken Niederbayern/Oberpfalz, Pfalz und Franken wurden bis 1981 von Walter Ziegler, Helmut Prantl und Klaus Wittstadt bearbeitet; im gleichen Jahr brachte Helmut Witetschek einen Ergänzungsband für die von ihm bearbeiteten Regierungsbezirke heraus. Reiz und Bedeutung dieser Reihe liegen in ihrer Schilderung des Alltags unter nationalsozialistischer Herrschaft. Nicht die große Politik ist hier das Thema, sondern die Spannungen zwischen dem Kirchenvolk und dem Regime im Alltag, das Verhalten des Einzelnen, des kleinen Mannes, der sich anpasst oder entzieht, „mitmacht“, wie es im herrschenden Jargon hieß, oder an seinen überkommenen Anschauungen festhält, sich selbst und der Kirche die Treue hält.

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Heinz Hürten

Aufgabe der Kommission für Zeitgeschichte ist die Erforschung des deutschen Katholizismus in seiner Gesamtheit, auch seiner Wurzeln im 19. Jahrhundert, nicht allein, wie man nach dem Gesagten vielleicht vermuten könnte, in der nationalsozialistischen Zeit. So hat Rudolf Morsey schon 1969 zentrale Protokolle der Zentrumsfraktion des Reichstags vor 1933 vorgelegt. (Im zweiten Band dieses Unternehmens, der 1981 erschien, tritt der verehrte Jubilar als zweiter Bearbeiter neben seinem Lehrer Morsey in Erscheinung.) Der 1966 vorgelegte Band 2 der Reihe Forschungen bietet eine Untersuchung über „Die kirchlich-politische Presse der Katholiken in der Rheinprovinz vor 1848“ (Rudolf Pesch). Der Aufgabenbereich der Kommission geht somit weit über den der traditionellen Kirchengeschichte hinaus, wie er andererseits deren Arbeitsrahmen keineswegs ausfüllt. Wie groß das Feld ist, das sich der Katholizismusforschung auftun kann, sei hier mit einer knappen Angabe zentraler Gegenstände versucht, die dem Leser in dem zur Zeit noch neuesten Band der Bischofsakten, dem über die Weimarer Zeit, begegnen. Hier geht es um die staatliche Neuordnung mit ihren Konsequenzen für die gesellschaftliche Position der Kirche nach dem Ende der Monarchien, Verfassung und Staatskirchenrecht, als deren Akteur der päpstliche Nuntius Pacelli, zunächst noch ein wenig skeptisch betrachtet, ebenso erscheint wie die Zentrumspartei, deren Aktivität die Frage aufwirft, ob die strittigen Fragen durch Konkordat oder parlamentarische Entscheidung gelöst werden sollen. Die Bischöfe erscheinen in einer nationalen Rolle, wenn sie als Fürsprecher der geschlagenen Deutschen bei den Siegermächten auftreten und Kontakte zu deren Episkopat zu knüpfen suchen. Innenpolitisch bleiben die Bischöfe ihrer Orientierung auf die Zentrumspartei treu und weisen alle Verlockungen Nationaler Verbände ab. Innenpolitisch bewegt sie die Sorge vor einem Übergreifen von staatlichem Dirigismus in das Feld der Freien Wohlfahrtspflege. Die neue Rolle der Frau in der Gesellschaft erscheint in diesen Akten zweifach: Als Seelsorgehelferin, die in das bislang den Männern vorbehaltene Feld der Seelsorge eindringt, aber doch noch dem überkommenen Ideal der zölibatären Ordensfrau nahebleibt; zaghaft auch in dem erkennbar werdenden Verlangen von Frauen zum Theologiestudium. Drängender schien freilich die moderne Selbstdarstellung der Frau in Kleidung, Sport und Tanz. Hier wurde ein großes moralisches Aufgebot von Richtlinien, Warnungen und Verboten in vergeblichem Kampfe vertan. Katholizismusforschung führt somit, wie sich hier zeigt, tendenziell in die Gesamtheit der inneren Politik und berührt auch die Außenpolitik. Die Aktionsfähigkeit der Kirche auf diesen Feldern setzt einen Ort in der Gesellschaft voraus, der eben von Kräften dieser Gesellschaft gebildet wird, mag dieser Ort konkordatär umschrieben sein oder sich aus der Verteilung der Kräfte über das politische Feld ergeben. Katholizismusforschung geht somit weit über das Feld hinaus, das man als das der „Kirchlichen Zeitgeschichte“ bezeichnen könnte, übergeht je-

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doch alles, was das der Gesellschaft entzogenen innere Leben der Kirche, Theologie, Liturgie, Frömmigkeit ausmacht. Die Entscheidung der Kommission für Zeitgeschichte zu ihren weitgespannten Editionsunternehmen, die bis heute noch nicht abgeschlossen sind, war im Kern nichttheologisch begründet, durch die Absicht, für einschlägige Untersuchungen eine hinreichende Quellengrundlage zu schaffen. Als ersten Band ihrer verschiedenen Quellenreihen legte die Kommission den Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der Reichsregierung (1933–1945) vor, dessen zwei Bände ergänzt wurden um einen weiteren, der die Noten und Demarchen des Berliner Nuntius Orsenigo darbot. Eine besondere Aufgabe ergab sich aus dem kurz zuvor geführten Prozess um die Geltung des Reichskonkordates. In je einem Band wurden die staatlichen wie die kirchlichen Akten zur Entstehung dieses Vertragswerkes präsentiert. Eine Monographie rundete das Vorhaben ab. Neben den groß angelegten und planvoll vorangetriebenen Editionen stand von Anfang an eine beträchtliche Zahl von Einzelquellen, von der Sammlung staatspolizeilicher Berichte über Kirchen und Kirchenvolk und den Dokumentationen einzelner Vorgänge wie der Vertreibung des Bischofs Sproll, Lebensberichte und Erinnerungen von Persönlichkeiten aus dem deutschen Katholizismus wie Muckermann, Jedin oder Peter Hermes. So umfasst die Reihe „Quellen“ sowohl systematisch angelegte Sammlungen wie Einzelstücke, die in ihrer Art aussagekräftig genug sind, um für sich bestehen, interessieren und aufklären zu können. Gelegentlich wird auch die Geschichte der Zentrumspartei berührt, so in der Edition der Protokolle der Reichstagsfraktion oder der Briefen Ludwig Windthorsts. Aber zu einem breiten Forschungsfeld der Kommission ist die Geschichte der Zentrumspartei nicht geworden, wie auch ein Ansatz zur Erforschung der Emigration in der Hitlerzeit in nie diskutierter Überstimmung mit dem main stream der Forschung nicht energisch weiter verfolgt worden ist. Überwiegen in der Reihe „Quellen“ eindeutig die von der Kommission selbst entwickelten Editionsprojekte gegenüber den eher zufällig angebotenen Einzelstücken, so ist es in der Reihe der „Forschungen“ deutlich umgekehrt. Die Kommission ist nicht in der Lage, in großem Umfang Stipendien für bestimmte Forschungsaufgaben zu vergeben, wenn auch einzelne Mitglieder der Kommission im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit Dissertationen bearbeiten lassen, die bei hinreichender Qualität in die Reihe der Kommission aufgenommen werden (wobei die Entscheidung nicht schon bei der Themenformulierung gefällt wird, sondern erst anhand des abgeschlossenen Manuskripts). Betreuer von Dissertationen wie Doktoranden bieten Arbeiten an, aus denen die Kommission in festliegendem Verfahren ihre Auswahl trifft. Diese Reihe der Kommissionsveröffentlichungen ist darum so etwas wie ein Spiegelbild der Forschung zum Thema „deutscher Katho-

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Heinz Hürten

lizismus“, in dem sich – in einer gewissen Unschärferelation – wechselnde Tendenzen zum Verständnis von Katholizismus und Kirche im Publikum erkennen lassen. Naturgemäß standen in den ersten Jahren Themen über die nationalsozialistische Herrschaftspraxis im Vordergrund. In den ersten zehn Jahren wurden etwa das Reichskonkordat, die Sittlichkeitsprozesse gegen die katholische Geistlichkeit, die Wochenzeitung „Junge Front/Michael“, der katholische Jungmännerverband, der katholische Lehrerverband, die Auseinandersetzung mit Alfred Rosenberg und die Situation des Erzbistums Köln von 1933–1945 behandelt. Unter den 23 Bänden der Reihe „Forschungen“, die in den ersten fünfzehn Jahren erschienen, waren somit sieben, die ausschließlich Themen aus der nationalsozialistischen Zeit behandelten. Daneben standen, was die Breite des ursprünglichen Ansatzes verdeutlicht, 16 andere, deren Spannweite von der katholischen Presse im Jahre 1815 an bis zur Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland reicht. Diese Offenheit der Thematik erlaubt es, in gewissem Umfang die Veränderungen des wissenschaftlichen Interesses in unserem Gegenstandsbereich zu beobachten. So zeigt sich eine deutliche Ausweitung des Themenfeldes auf die Zeit vor 1933, die Weimarer Republik und das 19. Jahrhundert, während die Zeit des Nationalsozialismus ein wenig zurückgetreten ist. Aber es ist nicht nur die der Konzeption der Kommission entsprechende Überschreitung der traditionellen Grenzmarken der Zeitgeschichte zu konstatieren. Auch die behandelten Gegenstände sind zu einem Teil andere geworden. Eine Reihe von Untersuchungen ist kirchlichen Institutionen und Aufgaben gewidmet: das Familienideal, der katholische Fürsorgeverein, die Gründung katholischer Akademien, Kirchliche Filmarbeit, das Maximilian-Kolbe-Werk, das Seraphische Liebeswerk, nicht zu vergessen das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Arbeiten solcher Art zeigen nicht nur eine Intensivierung der Forschung, sondern auch deren Konzentration auf kirchennahe Institutionen. Dies könnte, da die von der Kommission veröffentlichten „Forschungen“ nicht unbedingt als repräsentativ gelten dürfen, ein Zufall sein. Aber die von der Kommission veröffentlichten „Akten deutscher Bischöfe“ zeigen ein ähnliches Bild. Seit der Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils füllen sie sich mit theologischen und kirchenrechtlichen Gegenständen, die sich auf das zu erwartende Konzil beziehen, während anderes, nicht zuletzt solches, das Gegenstand der bisherigen Katholizismusforschung war, zurücktritt. Auch Interessen und Aktionsfelder der Laien wandeln sich. Im Verhältnis der Kirche zur Welt vollzog sich eine Achsendrehung, die alte Orientierungen in Frage stellte. Höhepunkt des deutschen Laienkatholizismus nach dem II. Vaticanum war unzweifelhaft die Gemeinsame Synode der deutschen Bistümer in Würzburg, Ausdruck einer neuen Rolle der Laien, die nicht mehr dem überkommenen Bild des deutschen Katholizismus entspricht. Wie tiefgreifend verändert die Stellung der Kirche in der Welt damals empfunden wurde, erhellt aus der Bemerkung eines später zur Kardinals-

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würde aufgestiegenen Bischofs: die Kirchenpresse habe ihren Sinn verloren, weil die mundane Presse nunmehr so ausführlich über die Kirche berichte. In dieser durch das Konzil veränderten Welt ging der Platz verloren, den der alte Katholizismus innegehabt hatte. Der Prozess einer Einschmelzung der früher einmal aus freier Initiative entstandenen Aktionen und Organisationen in ein kirchenamtliches Leitungssystem (besonders deutlich in der Gestalt des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, nachdem Pacelli als Nuntius es noch den einzelnen Verbänden freistellen wollte, ob sie sich der „Katholischen Aktion“ anschließen wollten oder nicht) ist unübersehbar geworden. Ebenso unübersehbar ist die Ausbildung kirchenamtlicher Organe für weltliche Aufgaben. Besonders markant ist hier die Bildung der Katholischen Büros bei den Regierungen in Land und Bund: Was früher von den treuen Söhnen und Töchtern der Kirche im Zuge der Wahrnehmung ihrer politischen Ämter geleistet wurde, macht heute das Arbeitsfeld eines dazu abgeordneten Prälaten aus. Austragungsorte katholischer Diskussion sind nicht mehr von Laien nach eigenem Entschluss und auf eigenes Risiko herausgebrachten Zeitungen und Zeitschriften, sondern vor allem die meist von den Diözesen finanzierten „Katholischen Akademien“. Dieser von den Laien meist fröhlich mitgetragene Einschmelzungsprozess des deutschen Katholizismus in kirchliche Strukturen kann als Verkirchlichung, – ein theologisch zweifellos inkorrekter Ausdruck, der aber den Quellen entstammt und sich eingebürgert hat – als Konzentration auf kirchliche Vorgaben und kirchliches Personal verstanden werden. Ihm entspricht folgerecht ein Verlust an Welt, wie er besonders deutlich im Rückgang früher gehaltener Positionen in Literatur und Presse erkennbar wird. Diesem innerkirchlichen Vorgang korrespondiert ein gesellschaftlicher Vorgang, den Urs Altermatt als Weg ins Ghetto, durch das Ghetto und aus dem Ghetto hinaus, Michael Zöller als „Durchlauferhitzer“ dargestellt hat: einstmals hat das „Milieu“ den Katholiken gedient, in der modernen Gesellschaft ihre Identität zu wahren, durch die Massenbildung in der demokratischen Gesellschaft Einfluss zu gewinnen und politischer Partner zu werden, um schließlich als Teilhaber am bargaining der Kräfte respektiert zu werden wie andere auch, was aber dann der sondergesellschaftlichen Existenz des Katholizismus die Basis nahm. Tendenziell in die Gesellschaft integriert, verlieren die Katholiken ihre durch die Trennung von den anderen gestiftete Gemeinsamkeit. Zum Bilde der erwähnten Achsendrehung gehört auch, das die Lage der Kirche in der deutschen Gesellschaft sich dramatisch verändert hat. Ihr „Mitsein“ in der Gesellschaft“ (G. Gundlach), ihre nicht immer erfolgreiche, aber unübersehbare Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist trotz aller Anstrengungen erheblich geringer geworden. Die Basis für ihr „Mitsein“ in der Gesellschaft, Zahl und Kirchenbindung der Gläubigen, ist heute erheblich schmaler. Die schwindende Zahl der ihr aktiv Angehörenden lässt für die Zukunft sogar befürchten, dass ihre aufs Ganze gesehen glückliche Stellung im deutschen Staatskirchenrecht nicht zu halten sein wird.

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Der Verlust an Kontur und Eigenart macht das Phänomen Katholizismus problematisch und lässt naturgemäß das Feld der Katholizismusforschung kleiner werden. Es verengt sich im Sinne einer Kirchlichen, katholischen Zeitgeschichte, welche sich der Breite der gesamten theologischen Phänomene öffnet und zu einer theologischen Disziplin „Kirchengeschichte der jüngsten Vergangenheit“ wird, darüber aber den Anteil der Kirche an der Gestaltung der Gesellschaft, ihr „Mitsein“ in ihr, und darum auch diese selbst in entscheidenden Sektoren nicht länger mehr als ihr Eigenstes und Eigentliches beschreibt. Die Kommission für Zeitgeschichte wird in naher Zukunft sich zu entscheiden haben, ob sie diesen Weg gehen will.

Anhang

Lebenslauf Prof. Dr. Karsten Ruppert 1946

geboren

1966

Abitur

1967

Seit Sommersemester Studium der Fächer Geschichte, Germanistik Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn

April 1970

„Allgemeine Prüfung in Philosophie und Pädagogik“

Juli 1972

„Erste Philologische Staatsprüfung“ in Geschichte und Deutsch

1972–1977

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der „Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V.“ in Bonn

1977

Promotion an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn

1978–1985

Wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Rudolf Morsey am Lehrstuhl für Neuere Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer

1986–1987

Referent am Forschungsinstitut der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer

1987–1988

Leiter eines EDV-gestützten Projekts des Deutschen Bundestages, die „Lebensschicksale Weimarer Reichstagsabgeordneter nach 1933“ bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bonn

1988–1990

Wissenschaftlicher Bibliothekar

1990

Examen für den höheren Bibliotheksdienst

1990

Habilitation für das Fach „Neuere Geschichte“ an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Technischen Universität Karlsruhe

1990–1994

Vertretungen von Professuren für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig, der Thüringischen Landesuniversität, der Technischen Universität Karlsruhe, der Technischen Universität Chemnitz, der Universität Regensburg

1995–2012

Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt (Nachfolge Heinz Hürten)

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Prof. Dr. Karsten Ruppert I. Monographien und Editionen 1. 19./20. Jahrhundert Die Idee des Fortschritts in der Neueren Geschichte (Eichstätter Antrittsvorlesungen, 1), Wolnzach 2000. Bürgertum und staatliche Macht in Deutschland zwischen Französischer und deutscher Revolution (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 51), Berlin 1997. Die Pfälzische Landesbibliothek vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Übergang an das Land Rheinland-Pfalz (1945–1974) (Pfälzische Arbeiten zum Buch- und Bibliothekswesen und zur Bibliographie, 17), Speyer 1995. Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923–1930 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 96), Düsseldorf 1992. Die Protokolle der Reichstagsfraktion der Deutschen Zentrumspartei 1920–1925. – Zusammen mit Rudolf Morsey (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, 33), Mainz 1981. 2. Frühe Neuzeit Die Kaiserlichen Korrespondenzen, Band 3: 1645–1646 (Acta Pacis Westphalicae, Serie II, Abt. A, 3), Münster 1985. Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1643–1648) (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte, 10), Münster 1979.

II. Aufsätze 1. 19./20. Jahrhundert Interaktionen von Politischem Katholizismus, Kirche und Vatikan während der Weimarer Republik, in: Wolf, Hubert (Hrsg.): Eugenio Pacelli als Nuntius in Deutschland. Forschungsperspektiven und Ansätze zu einem internationalen Vergleich (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Forschungen, 21), Paderborn 2012, S. 215–246. Ist Deutschland wirklich Schuld am Aufstieg Hitlers? Eine Entgegnung, in: Kaiserslauterer Jahrbuch für Pfälzische Geschichte und Volkskunde, 10/11, 2010/2011, S. 405–417.

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Der Untergang der Imperien im Ersten Weltkrieg und die Folgen für Europa, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 13, Heft 1, 2009, S. 11–47. Die Deutsche Zentrumspartei und die Weimarer Demokratie 1918–1933, in: Pyta, Wolfram/Kretschmann, Carsten/Ignesti, Guiseppe/DiMaio, Tiziana (Hrsg.): Die Herausforderung der Diktaturen. Katholizismus in Deutschland und Italien 1918– 1943/45 (Reihe der Villa Vigoni, 21), Tübingen 2009, S. 13–37. Les Églises sous la République de Weimar entre position privilégiée et peur du laïcisme, in: Le Grand, Sylvie (Hrsg.): La Laïcité en Question. Religion, État et Société en France et en Allemagne du 18e siècle à nos Jours, Villeneuve d’Ascq 2008, S. 127–143. Die Anfänge der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, in: Flachenecker, Helmut/Grypa, Dietmar (Hrsg.): Schule, Universität und Bildung. Festschrift für Harald Dickerhof zum 65. Geburtstag (Eichstätter Studien. Neue Folge, 59), Regensburg 2007, S. 295–334. Die weltanschaulich bedingte Politik der Deutschen Zentrumspartei in ihrer Weimarer Epoche, in: Historische Zeitschrift, 285, 2007, S. 49–97. Europa im Zeitalter des Hambacher Festes, in: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft (175 Jahre Hambacher Fest, 1832–2007), 14, 2006, S. 11–41. Politik als Leidenschaft. Die Karriere des Friedrich Daniel Bassermann (1811–1855), in: Löffler, Bernhard/Ruppert, Karsten (Hrsg.): Religiöse Prägung und politische Ordnung in der Neuzeit. Festschrift für Winfried Becker zum 65. Geburtstag, Köln, Weimar u. Wien 2006, S. 257–306. Laudatio auf Prof. Dr. Rudolf Morsey, Emeritus an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt am 11. Februar 2004, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft, 13, 2005, S. 5–13. Europa zwischen den Kriegen (1919–1939). Die gescheiterte Neugestaltung eines Kontinents, in: Michler, Andreas/Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Blicke auf Europa. Kontinuität und Wandel (Eichstätter Kontaktstudium zum Geschichtsunterricht, 3), Neuried 2003, S. 151–187. Zwei Biografien – ein Leben: zu zwei Neuerscheinungen über den Zentrumspolitiker und Reichskanzler Joseph Wirth, in: Historisches Jahrbuch, 121, 2001, S. 513–531. Die politischen Vereine der Pfalz in der Revolution von 1848/49, in: Fenske, Hans/Kermann, Joachim/Schererm, Karl (Hrsg.): Die Pfalz und die Revolution 1848/49, Band 1 (Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde: Beiträge zur pfälzischen Geschichte, 16, 1), Kaiserslautern 2000, S. 57–242. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen 1933–1941 in globaler Perspektive, in: Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Vom Imperium Romanum zum Global Village. „Globalisierungen“ im Spiegel der Geschichte (Eichstätter Kontaktstudium zum Geschichtsunterricht, 1), Neuried 2000, S. 137–159. Protestantismus und Katholizismus in der Weimarer Republik, in: Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.): Kirchen und Staat. Vom Kaiserreich

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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zum wiedervereinigten Deutschland (Zur Diskussion gestellt, 55), München 2000, S. 30–75. Die Ausprägung des Parlamentarismus in den Anfängen des Kaiserreichs, in: Altgeld, Wolfgang/Kißener, Michael/Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): Menschen, Ideen und Ereignisse in der Mitte Europas. Festschrift für Rudolf Lill zum 65. Geburtstag, Konstanz 1999, S. 53–76. Der Nationalismus der systemstabilisierenden Parteien der Weimarer Republik, in: Timmermann, Heiner (Hrsg.): Nationalismus und Nationalbewegung in Europa 1914– 1945 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 85), Berlin 1999, S. 183–234. Der deutsche Katholizismus im Ringen um eine Standortbestimmung des Reiches nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 104, Heft 2, 1993, S. 198–229. Der Einfluß christlich-demokratischer wie christlich-sozialer Ideen und Parteien auf Geist und Politik in der Weimarer Zeit, in: Becker, Winfried/Morsey, Rudolf (Hrsg.): Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, Köln u. Wien 1988, S. 129–152. Die Deutsche Zentrumspartei in der Mitverantwortung für die Weimarer Republik. Selbstverständnis und politische Leitideen einer konfessionellen Mittelpartei, in: Becker, Winfried (Hrsg.): Die Minderheit als Mitte. Die Deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 1871–1933, Paderborn 1986, S. 71–88. Der Politische Katholizismus im Rheinland und in Westfalen zur Zeit der Weimarer Republik, in: Düwell, Kurt/Köllmann, Wolfgang (Hrsg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Band 3: Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Land Nordrhein-Westfalen. Im Auftrag des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen, Wuppertal 1984, S. 76–97.

2. Frühe Neuzeit Die Landstände des Erzstifts Köln in der frühen Neuzeit. Verfassung und Geschichte, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 174, 1972, S. 47–111.

3. Historiografie Der Mensch als Gestalter seines Geschicks in der Geschichtsschreibung der Neuzeit. Eine Betrachtung, in: Fuchs, John/Umland, Andreas/Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Brücken bauen. Analysen und Betrachtungen zwischen Ost und West. Festschrift für Leonid Luks zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2012, S. 43–70. Im Druck: Die Landstände des Erzstifts Köln als Organe politischer Mitbestimmung. Erscheint in einem Sammelband zu einer Tagung des Landtages Rheinland-Pfalz zu den Ständen in den ehemaligen Territorien des Landes Rheinland-Pfalz/hrsg. vom Landtag Rheinland-Pfalz, 2012.

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Anhang

III. Herausgeber Mit Löffler, Bernhard (Hrsg.): Religiöse Prägung und politische Ordnung in der Neuzeit. Festschrift für Winfried Becker zum 65. Geburtstag, Köln, Weimar u. Wien 2006.

IV. Kleinere Beiträge Hans Fenske, in: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft. Sonderband anlässlich des 75. Geburtstages von Hans Fensk, Neustadt 2011, S. 7–10. Würdigung von Prof. Dr. Rainer A. Müller (1944–2004), in: Müller, Rainer A. (Hrsg.)/ Liess, Hans-Christoph/Bruch, Rüdiger vom (Bearb.): Bilder, Daten, Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit (Pallas Athene, 24), Stuttgart 2007, S. 378–381. Regensburger Abkommen, 28. November 1927, in: Historisches Lexikon Bayerns (www.historisches-lexikon-bayerns.de), 2006. Programme des Zentrums, in: Becker, Winfried/Buchstab, Günter/Doering-Manteuffel, Anselm/Morsey, Rudolf (Hrsg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn, München, Wien u. Zürich 2002, S. 626 f. Giesberts, Johann, in: Becker, Winfried/Buchstab, Günter/Doering-Manteuffel, Anselm/ Morsey, Rudolf (Hrsg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn, München, Wien u. Zürich 2002, S. 250. Perlitius, Ludwig, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Neue Deutsche Biographie, Band 20, Berlin 2001, S. 190. Pfeiffer, Maximilian, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Neue Deutsche Biographie, Band 20, Berlin 2001, S. 313 f. Mitarbeit an zahlreichen Artikeln über das Schicksal von Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik nach 1933, in: Schumacher, Martin (Hrsg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Eine biographische Dokumentation, Düsseldorf 1991. Pflege der Demokratie als Gründungsauftrag. 40 Jahre Verwaltungshochschule in Speyer, in: Die Rheinpfalz, 18. Mai 1987. Personalpolitik als Teil der Verwaltungspolitik, in: Böhret, Carl/Siedentopf, Heinrich (Hrsg.): Verwaltung und Verwaltungspolitik. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1983, S. 247–250. 27 Abstracts aus dem Gebiet der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, in: Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg.): Referatedienst „Staat und Verwaltung“, Speyer 1980 ff. Hans Buchheim, Probleme der Juridifizierung des Grundgesetzes, in: Merten, Detlef/ Morsey, Rudolf: 30 Jahre Grundgesetz. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1979, S. 35–39.

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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Verzeichnis der Gutachten zu den kaiserlichen Relationen und Weisungen 1643–1645, in: Engels, Wilhelm (Bearb.): Acta Pacis Westphalicae. Serie II, Abt. A, Band 2, 1644–1645, Münster 1976, S. 607–619. Der amerikanische General Henry T. Allen und die Besatzungszeit im Rheinland nach dem ersten Weltkrieg, in: Jahresbericht des staatlichen Max-von-Laue-Gymnasiums Koblenz, 4, 1964, S. 33–38.

V. Übersetzung Übersetzung von Stehlin, Stewart A.: The Vatican, Germany, and the Diplomacy of Eugenio Pacelli, 1925–1945. Erschienen als: Päpstliche Diplomatie im Zweiten Weltkrieg: Pius XII., Deutschland und die Juden (Eichstätter Universitätsreden, 109), Wolnzach 2002.

VI. Rezensionen 1. 19./20. Jahrhundert Müller, Sven Oliver/Torp, Cornelius: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse Göttingen 2009, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 128, 2011, S. 737–739. Volz, Günther: Kleine Geschichte der Stadt Bergzabern (Regionalgeschichte – fundiert und kompakt), Karlsruhe u. Leinfelden-Echterdingen 2009, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 128, 2011, S. 488– 490. Paravicini, Werner: Die Wahrheit der Historiker, München 2010, in: Das HistorischPolitische Buch, 59, 2011, S. 5 f. Schmitt, Karl/Oppelland, Torsten (Hrsg.): Parteien in Thüringen. Ein Handbuch (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 16), Düsseldorf 2008, in: http://www.koeblergerhard.de/ZRG128Internetrezensionen2011/ ParteieninThueringen-Ruppert.htm. Frank, Tibor (Hrsg.): Zwischen Roosevelt und Hitler. Die Geheimgespräche eines amerikanischen Diplomaten in Budapest 1934–1941, Berlin 2009, in: Das HistorischPolitische Buch, 58, 2010, S. 380 f. Hummel, Karl-Joseph/Kißener, Michael (Hrsg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 2009, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 58, 2010, S. 861–863. Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 741–743. Wirsching, Andreas/Eder, Jürgen (Hrsg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft (Stiftung Bundespräsident-Theodor-HeussHaus. Wissenschaftliche Reihe, 9), Stuttgart 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 811 f.

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Anhang

Haehling von Lanzenauer, Reiner: Der Mord an Matthias Erzberger (Schriftenreihe des rechtshistorischen Museums Karlsruhe, 14), Karslruhe 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 815 f. Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 71), München 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 866–868. Hartmannsgruber, Friedrich (Bearb.): Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933– 1945, Band V: 1938, München 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 912–914. Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): „. . . eifrigster Diener und Schützer des Rechts, des nationalsozialistischen Rechts . . .“ Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit. Ein Tagungsband (Juristische Zeitgeschichte NordrheinWestfalen, 15), Düsseldorf 2007, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 939–942. Blume, Dorlis/Ulrich, Bernd: Im Namen des Freiheit! Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland 1849 – 1919 – 1949. Im Auftrag des Deutschen Historischen Museums, Dresden 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 990 f. Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Liberale Moderne und massendemokratische Postmoderne, Berlin 2007, in: Das HistorischPolitische Buch, 57, 2009, S. 306 f. Hardtwig, Wolfgang: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 22), München 2007, in: Das Historisch-Politische Buch, 57, 2009, S. 307–309. Kratz-Kessemeier, Kristina: Kunst für die Republik. Die Kunstpolitik des preußischen Kultusministeriums 1918 bis 1932, Berlin 2007, in: Das Historisch-Politische Buch, 57, 2009, S. 272. Mülhausen, Walter: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 20072, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 126, 2009, S. 769–772. Wegner, Bernd: Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945. Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite, Paderborn 20088, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 126, 2009, S. 809–811. Blessing, Ralph: Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929 (Pariser Historische Studien, 76), München 2008, in: Das Historisch-Politische Buch, 56, 2008, S. 618 f. Wirsching, Andreas (Hrsg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007 (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, 13), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 57, 2009, S. 272–274.

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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Maier, Franz (Bearb.): Biographisches Organisationshandbuch der NSDAP und ihrer Gliederungen im Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, 28), Mainz 2007, in: Pfälzer Heimat, 60, 2009, S. 29–32. Kraus, Hans-Christof/Nicklas, Thomas: Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (Historische Zeitschrift. Beiheft, 44), München 2007, in: Das Historisch-Politische Buch, 56, 2008, S. 231 f. Guillaume, Sylvie/Garrigues, Jean (Hrsg.): Centre et centrisme en Europe aux XIXe et XXe siècles, Bruxelles u. a. 2006, in: Das Historisch-Politische Buch, 56, 2008, S. 181 f. Taschka, Sylvia: Diplomat ohne Eigenschaften? Die Karriere des Hans-Heinrich Dieckhoff (1884–1952) (Transatlantische Historische Studien, 25), Wiesbaden 2006, in: Das Historisch-Politische Buch, 56, 2008, S. 17 f. Klemke, Ulrich: Die deutsche politische Emigration nach Amerika 1815–1848. Biographisches Lexikon, Frankfurt am Main u. a. 2007, in: Das Historisch-Politische Buch, 56, 2008, S. 49 f. Brandt, Peter/Kirsch, Martin/Schlegelmilch, Arthur (Hrsg.)/Daum, Werner (Mitarb.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Band 1: Um 1800, Bonn 2006, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 125, 2008, S. 832–835. Schwabe, Klaus: Weltmacht und Weltordnung. amerikanische Außenpolitik 1898 bis zur Gegenwart, eine Jahrhundertgeschichte, Paderborn 2005, in: Das Historisch-Politische Buch, 55, 2007, S. 297 f. Leitz, Christian: Nazi Foreign Policy 1933–1941. The Road to Global War. London 2004, in: Das Historisch-Politische Buch, 55 (2007), S. 153 f. Wolf, Hubert (Bearb.): Eugenio Pacelli: Die Lage der Kirche in Deutschland, Paderborn 2006, in: Das Historisch-Politische Buch, 55, 2007, S. 99–101. Chickering, Roger/Forster, Stig (Hrsg.): The Shadows of Total War. Europe, East Asia, and the United States 1919–1939, Cambridge 2003, in: Das Historisch-Politische Buch, 55, 2007, S. 49–51. Nolte, Ernst: Die Weimarer Republik. Demokratie zwischen Lenin und Hitler, München 2006, in: Die Rheinpfalz, 16. Oktober u. 16. November 2007. Grothe, Ewald, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 16), München 2005, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 124, 2006, S. 743–748. Hüls, Elisabeth: Johann Georg August Wirth (1798–1848). Ein politisches Leben im Vormärz (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 139), Düsseldorf 2004, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 69, 2006, S. 739–741. Biefang, Andreas: Bismarcks Reichstag. Das Parlament in der Leipziger Straße. Fotografiert von Julius Braatz (Photodokumente zur Geschichte des Parlamentarismus

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Anhang

und der politischen Parteien, 6), Düsseldorf 2002, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 69, 2006, S. 754–756. Hartmannsgruber, Friedrich (Bearb.): Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933– 1945, Band IV: 1937, München 2005, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 123, 2005, S. 775–778. Bundesministerium des Innern/Bundesarchiv (Hrsg.)/Elzer, Herbert (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. I. Reihe, Band 5: Europäische Beratende Kommission. 15. Dezember 1943–31. August 1945. 2. Halbband, München 2002, in: Das Historisch-Politische Buch, 53, 2005, S. 167 f. Flandreau, Marc/Holtfrerich, Carl-Ludwig/James, Harold (Hrsg.): International Financial History in the Twentieth Century. System and Anarchy (Publications of the German Historical Institute), Cambridge 2003, in: Historische Zeitschrift, 281, 2005, S. 508 f. Volz, Günther: Zur Geschichte der Familie Pistor aus Bergzabern vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. Pfälzer, Patrioten, Europäer (Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft. Sonderband), Neustadt 2002, in: Pfälzer Heimat, 56, 2005, S. 79 f. Hartmannsgruber, Friedrich: Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945, Band III: 1936, München 2002, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 122, 2004, S. 929–931. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.)/Büttner, Edgar/Wettengel, Michael (Bearb.): Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Band 13: Ausschuß für Organisation des Bundes, Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, 2 Teilbände, Boppard u. München 2002, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 122, 2004, S. 961–963. Fattmann, Rainer: Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der „Reichsbund der höheren Beamten“ in der Weimarer Republik, Göttingen 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 145), in: Das Historisch-Politische Buch, 52, 2004, S. 606 f. Blaschke, Olaf (Hrsg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, in: Das Historisch-Politische Buch, 52, 2004, S. 548 f. Reuther, Thomas: „Die ambivalente Normalisierung“. Deutschlanddiskurs und Deutschlandbilder in den USA 1941–1955, Wiesbaden 2000, in: Das Historisch-Politische Buch, 52, 2004, S. 518 f. Mommsen, Hans (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderungen der Politik (Industrielle Welt, 60), Köln 2001, in: Das Historisch-Politische Buch, 52, 2004, S. 165–167. Duppler, Jörg/Groß, Gerhard P.: Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, München 1999, in: Das Historisch-Politische Buch, 52, 2004, S. 98 f. Wilms, Heinrich: Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, Stuttgart 1999. Wilms, Heinrich (Hrsg.): Ausländische Einwirkungen auf die Entste-

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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hung des Grundgesetzes. Dokumente, Stuttgart 2003, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 121, 2004, S. 929–932. Mergel, Thomas: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 135), Düsseldorf 2002, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 121, 2004, S. 873–876. Kirsch, Martin/Schiera, Pierangelo: Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 28), Berlin 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 121, 2004, S. 824–826. Aschoff, Hans-Georg/Heinrich, Heinz-Jörg (Bearb.): Ludwig Windthorst. Briefe, Band 1: 1834–1880, Paderborn u. München 1995. Aschoff, Hans-Georg/Heinrich, HeinzJörg (Bearb.): Ludwig Windthorst. Briefe, Band 2, 1881–1891. Um einen Nachtrag mit Briefen von 1834 bis 1880 ergänzt (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. A, 45, 47), Paderborn u. München 2002, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 56, 2004, S. 189–191. Treichel, Eckhardt (Bearb.): Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. I: Quellen zur Entstehung und Frühgeschichte des Deutschen Bundes 1813–1830, Band 1: Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815, München 1999, in: Das Historisch-Politische Buch, 51, 2003, S. 34 f. Kirsch, Martin: Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp-Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 150), Göttingen 1999, in: Das Historisch-Politische Buch, 51, 2003, S. 35 f. Eichenhofer, Eberhard (Hrsg.): 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Was ist geblieben?, Tübingen 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 120, 2003, S. 827–831. Hartmannsgruber, Friedrich: Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945, Band 2: 1934–35, München 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 120, 2003, S. 854–856. Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hrsg.): Karl August von Hardenberg, 1750–1822. Tagebücher und autobiograophische Aufzeichnungen (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 59), München 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 120, 2003, S. 670–672. Herren, Madeleine: Hintertüren zur Macht: Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865–1914 (Studien zur Internationalen Geschichte, 9), München 2000, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 65, 2002, S. 779–781. Kolb, Eberhard (Hrsg.): Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, 4), München 1997, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 65, 2002, S. 653–655.

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Anhang

Durner, Wolfgang: Antiparlamentarismus in Deutschland, Würzburg 1997, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 65, 2002, S. 651 f. Dahlheimer, Manfred: Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888–1936 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. B, 83), Paderborn 1998, in: Historische Zeitschrift, 273, 2001, S. 532–534. Ruster, Thomas: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn, München, Wien u. Zürich 1994, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 14, 2001, S. 261 f. Feldkamp, Michael F.: Pius XII. und Deutschland, Göttingen 2000, in: Das HistorischPolitische Buch, 48, 2000, S. 606 f. Heideking, Jürgen: Geschichte der USA, Tübingen 19992, in: Das Historisch-Politische Buch, 48, 2000, S. 187 f. Ritter, Gerhard A. (Hrsg.): Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland. von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Bundesrepublik, Düsseldorf 1997, in: Das HistorischPolitische Buch, 48, 2000, S. 37 f. Hagenlücke, Heinz: Deutsche Vaterlandspartei. die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 108), Düsseldorf 1997, in: Historisches Jahrbuch, 119, 1999, S. 481–483. Leeb, Josef: Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz. 1818–1845 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 55), Göttingen 1996, in: Das Historisch-Politische Buch, 46, 1998, S. 540 f. Best, Heinrich/Weege, Wilhelm (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 7), Düsseldorf 1996, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 115, 1998, S. 836–838. Kösters, Christoph: Katholische Verbände und moderne Gesellschaft. Organisationsgeschichte und Vereinskultur im Bistum Münster 1918–1945, Paderborn 1995, in: Das Historisch-Politische Buch, 46, 1998, S. 69. Schmädeke, Jürgen: Wählerbewegung im Wilhelminischen Deutschland. Die Reichstagswahlen von 1890 bis 1912, Band 1: Eine historisch-statistische Untersuchung, Band 2: Wahlergebnisse und Strukturen im Kartenbild, Berlin 1995, in: Historisches Jahrbuch, 117, 1997, S. 505–507. Möller, Horst (Hrsg.): Gefährdete Mitte? Mittelschichten und politische Kultur zwischen den Weltkriegen. Italien, Frankreich und Deutschland (Beihefte der Francia, 29), Sigmaringen 1993, in: Historisches Jahrbuch, 117, 1997, S. 567–569. Oexle, Otto G./Rüsen, Jörn (Hrsg.): Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln 1996, in: Das Historisch-Politische Buch, 45, 1997, S. 270 f. Schumacher, Martin: M.d.L., das Ende der Parlamente 1933 und die Abgeordneten der Landtage und Bürgerschaften der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, politische Verfolgung, Emigration und Ausbügerung (1933–1945), ein bio-

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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graphischer Index, Düsseldorf 1996, in: Das Historisch-Politische Buch, 45, 1997, S. 487 f. Doering-Manteuffel, Anselm/Nowak, Kurt (Hrsg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, Stuttgart1995, in: Das Historisch-Politische Buch, 45, 1997, S. 524 f. Löw, Konrad: Der Mythos Marx und seine Macher. Wie aus Geschichten Geschichte wird, München 1996, in: Historisches Jahrbuch, 117, 1997, S. 479 f. Sheehan, James J.: Der Ausklang des Alten Reiches. Deutschland seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution. 1763 bis 1850 (Propyläen Geschichte Deutschlands, 6), Berlin 1994, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 59, 1996, S. 1039–1041. Heideking, Jürgen (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten. 41 historische Portraits von George Washington bis Bill Clinton, München 1995, in: Historische Zeitschrift, 263, 1996, S. 426–428. Engel, Gerhard/Holtz, Bärbel/Materna, Ingo (Hrsg.): Groß-Berliner Arbeiter und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß, Berlin 1993, in: Historisches Jahrbuch, 116, 1996, S. 262 f. Wette, Wolfram (Hrsg.): Aus den Geburtsstunden der Weimarer Republik. das Tagebuch des Obersten Ernst van den Bergh (Quellen zur Militärgeschichte. Serie A, 1), Düsseldorf 1991, in: Historisches Jahrbuch 116 (1996) S. 263 f. Troeltsch, Ernst: Die Fehlgeburt einer Republik: Spektator in Berlin 1918 bis 1922. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen, Frankfurt am Main 1994, in: Historisches Jahrbuch, 116, 1996, S. 264–266. Stolleis, Michael (Hrsg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon, von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, in: Das Historisch-Politische Buch, 44, 1996, S. 63. Wixforth, Harald: Banken und Schwerindustrie in der Weimarer Republik (Wirtschaftsund Sozialhistorische Studien, 1), Köln u. Wien 1995, in: Das Historisch-Politische Buch, 44, 1996, S. 38 f. North, Michael (Hrsg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, in: Das Historisch-Politische Buch, 43, 1995, S. 277. Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 26), München 1992, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 494–498. Dilcher, Gerhard (Red.): Die Verwaltung und ihre Ressourcen. Untersuchungen zu ihrer Wechselwirkung, Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.3.–15.3.1989 (Der Staat. Beiheft, 9), Berlin 1991, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 112, 1995, S. 457– 459. Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler, München 1991, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 327–329.

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Schambeck, Herbert/Widder, Helmut/Bergmann, Marcus (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1993, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 228 f. Dippel, Horst (Hrsg.): Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1993, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 301 f. Weckerlein, Friedrich (Hrsg.): Freistaat! Die Anfänge des demokratischen Bayern 1918/ 19 (Serie Piper 2126), München u. Zürich 1994, in: Annotierte Bibliographie für die politische Bildung, 1995, S. 146. Hürten, Heinz: Deutsche Katholiken: 1918–1945, Paderborn 1992, in: Das HistorischPolitische Buch, 41, 1993, S. 437 f. Esser, Albert: Wilhelm Elfes 1884–1969. Arbeiterführer und Politiker (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, B, 53), Mainz 1990, in: Historische Zeitschrift, 257, 1993, S. 848 f. Kiefer, Rolf: Karl Bachem, 1858–1945: Politiker und Historiker des Zentrums (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, B, 49), Mainz 1989, in: Historisches Jahrbuch, 112, 1992, S. 257–260. Abramowski, Günter (Bearb.): Die Kabinette Marx III und IV: 17. Mai 1926–29. Juni 1928 (Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik), Boppard 1988, in: Historisches Jahrbuch, 111, 1991, S. 296–298. Vogel, Wieland: Katholische Kirche und nationale Kampfverbände in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, B, 48), Mainz 1989, in: Historisches Jahrbuch, 111, 1991, S. 300–302. Mommsen, Hans: Die verspielte Freiheit: der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933 (Propyläen Geschichte Deutschlands, 8), Berlin 1989, in: Historisches Jahrbuch, 111, 1991, S. 304–307. Mönch, Walter: Weimar: Gesellschaft, Politik, Kultur in der Ersten Deutschen Republik, Frankfurt am Main 1988, in: Das Historisch-Politische Buch, 38, 1990, S. 208. Mann, Bernhard (Bearb.)/Doerry, Martin/Rauh, Cornelia/Kühne, Thomas (Mitarb.): Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus. 1867–1918 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 3), Düsseldorf 1988, in: Historisches Jahrbuch, 110, 1990, S. 282 f. Loth, Wilfried: Katholiken im Kaiserreich: der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 75), Düsseldorf 1984, in: Theologische Revue, 85, 1989, Sp. 396 f. Grupp, Peter: Deutsche Außenpolitik im Schatten von Versailles 1918–1920. Zur Politik des Auswärtigen Amts vom Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrags, Paderborn 1988, in: Das Historisch-Politische Buch, 37, 1989, S. 49. Schadt, Jörg (Hrsg.): Mit Gott für Wahrheit, Freiheit, Recht. Quellen zur Organisation und Politik der Zentrumspartei und des politischen Katholizismus in Baden 1888–

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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1914 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim, 11), Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1983, in: Historisches Jahrbuch, 106, 1986, S. 211 f. Buchheim, Hans: Theorie der Politik, München u. Wien 1981, in: Historisches Jahrbuch, 10, 1985, S. 472 f. Evans, Ellen Lovell: The German Center Party 1870–1933. A Study in Political Catholicism, Carbondale u. Edwardsville 1981, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 314 f. Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 16), München 1984, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 309 f. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. 3 Bände, München 1978–1982, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, 22, 1983, S. 471 f. Schulze, Hagen: Weimar: Deutschland 1917–1933 (Die Deutschen und ihre Nation, 4), Berlin 1982, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 32, 1983, S. 339–341. Schneider, Michael: Christliche Gewerkschaften 1894–1933 (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Politik und Gesellschaftsgeschichte, 10), Bonn 1982, in: Historisches Jahrbuch, 103, 1983, S. 492 f. Stürmer, Michael (Hrsg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein 1980, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 21, 1982, S. 236–239. Hillgruber, Andreas: Die gescheiterte Großmacht. eine Skizze des Deutschen Reiches 1871–1945, Düsseldorf 1980, in: Historisches Jahrbuch, 102, 1982, S. 283–285. Erdmann, Dietrich Karl/Schulze, Hagen (Hrsg.): Weimar: Selbstpreisgabe einer Demokratie, eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands, 30, 1981, S. 205–208.

2. Frühe Neuzeit/Mittelalter Hohensee, Ulrike/Lawo, Mathias/Lindner, Michael (Hrsg.): Die Goldene Bulle. Politik, Wahrnehmung, Rezeption (Berichte und Abhandlungen. Sonderband 13). 2 Bände, Berlin 2008, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 128, 2011, S. 569–571. Hausmann, Andreas (Bearb.): Acta pacis Westphalicae, Serie II A, Band 7: Die kaiserlichen Korrespondenzen 1647–1648; Schmitt, Sebastian (Bearb.): Acta pacis Westphalicae, Serie II A, Band 8: Die kaiserlichen Korrespondenzen Februar–Mai 1648, Münster 2008, in: Das Historisch-politische Buch, 58, 2010, S. 145–147. Fried, Johannes: Das Mittelalter: Geschichte und Kultur, München 20093, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 491–494. Schmid, Josef J. (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Zwischen Prager Frieden und Westfälischem Frieden (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 21), Darmstadt 2009,

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in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 127, 2010, S. 649–651. Rebitsch, Robert: Matthias Gallas (1588–1647). Generalleutnant des Kaisers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, eine militärische Biographie (Geschichte in der Epoche Karls V., 7), Münster 2006, in: Das Historisch-Politische Buch, 55, 2007, S. 572 f. Kodek, Ilse: Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz. Die Autobiographie Mercurino Gattinaras aus dem Lateinischen übersetzt (Geschichte in der Epoche Karls V., 4), Münster 2004, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 122, 2005, S. 656–658. Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 120, 2003, S. 441–444. Diestelkamp, Bernhard: Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich (Ius Commune. Sonderheft, 122), Frankfurt 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 120, 2003, S. 612 f. Repgen, Konrad: Der Westfälische Friede. Ereignis, Fest und Erinnerung (NordrheinWestfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge, 358), Opladen 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 120, 2003, S. 630 f. Becker, Winfried: Dreißigjähriger Krieg und Zeitalter Ludwigs XIV (1618–1715), Darmstadt 1995 (Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. Hrsg.: Winfried Baumgart, 2), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 115, 1998, S. 760 f. Luig, Klaus (Hrsg.): Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 1), Frankfurt am Main u. Leipzig 1994; Stolleis, Michael (Hrsg.): Hermann Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. Übersetzt von Ilse Hoffmann-Meckenstock (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 3), Frankfurt am Main u. Leipzig 1994; Denzer, Horst (Hrsg.): Samuel von Pufendorf: Die Verfassung des Deutschen Reiches (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 4), Frankfurt am Main u. Leipzig 1994, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, 36, 1997, S. 648–651. Diestelkamp, Bernhard: Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 114, 1997, S. 548 f. Braudel, Fernand: Frankreich, Band 1: Raum und Geschichte. Band 2: Die Menschen und die Dinge. Band 3: Die Dinge und die Menschen, Stuttgart 1989, 1990, in: Historisches Jahrbuch, 117, 1997, S. 234–236. Jakubowski-Tiessen, Manfred/Ulbricht, Otto (Hrsg.): Hartmut Lehmann: Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, Göttingen 1996, in: Historisches Jahrbuch, 117, 1997, S. 232–234.

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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Oschmann, Antje: Der Nürnberger Exekutionstag 1649–1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, 17), Münster 1991, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 23, 1996, S. 417–419. Härter, Karl: Reichstag und Revolution: 1789–1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 46), Göttingen 1992, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 112, 1995, S. 613–616. Historische Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Hrsg.)/Herrmann, Johannes/Wartenberg, Günther (Bearb.): Die politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, 4. Band: 26. Mai 1548– 8. Januar 1551, Berlin 1992, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 285–287. Peters, Jan (Hrsg.): Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, Berlin 1993, in: Historisches Jahrbuch, 115, 1995, S. 291 f. Foerster, Joachim/Oschmann, Antje: Diarium Volmar, 3. Teil: Register (Acta Pacis Westpahlicae. Serie III, Abt. C, Bd. 2, Teil 3), Münster 1993, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 22, 1995, S. 116 f. Langer, Herbert: 1648. Der Westfälische Frieden, Pax Europea und Neuordnung des Reiches, Berlin 1994, in: Das Historisch-politische Buch, 42, 1994, S. 284. Angermeier, Heinz: Das alte Reich in der deutschen Geschichte. Studien über Kontinuitäten und Zäsuren, München 1991, in: Historisches Jahrbuch, 113, 1993, S. 176. Lorenz, Gottfried (Hrsg.): Quellen zur Vorgeschichte und zu den Anfängen des Dreißigjährigen Krieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 19), Darmstadt 1991, in: Historisches Jahrbuch, 113, 1993, S. 218 f. Foerster, Joachim (Bearb.): Diarium Wartenberg: 1644–1648, 2 Teile, Münster 1987 (Acta Pacis Westphalicae III/C; 3, 1–2), in: Historisches Jahrbuch, 111, 1991, S. 268–270. Foerster, Joachim/Philippe, Roswitha (Bearb.): Diarium Volmar: 1643–1649, 2 Teile (Acta Pacis Westphalicae III/C; 2, 1–2), Münster 1984, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 17, 1990, S. 382–384. Hageneder, Herta: Diarium Lamberg: 1645–1649 (Acta Pacis Westphalicae III/C; 4), Münster 1986, in: Historisches Jahrbuch, 110, 1990, S. 218 f. Jeserich, Kurt E. A./Pohl, Hans/Unruh, Georg Christoph: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 1: Vom Mittelalter bis zum Ende des Reiches. Band 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, in: Historisches Jahrbuch, 104, 1984, S. 437 f. Seidel, Karl Josef: Das Oberelsaß vor dem Übergang an Frankreich: Landesherrschaft, Landstände und fürstliche Verwaltung in Alt-Vorderösterreich (1602–1638) (Bonner Historische Forschungen, 45), Bonn 1980, in: Historisches Jahrbuch, 103, 1983, S. 468–470.

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Lutz, Heinrich: Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 10), München u. Wien 1979, in: Historisches Jahrbuch, 103, 1983, S. 468– 470. Oestreich, Brigitta (Hrsg.): Strukturprobleme der frühen Neuzeit: Ausgewählte Aufsätze von Gerhard Oestreich, Berlin 1980, in: Historisches Jahrbuch, 103, 1983, S. 452– 454. Weber, Hermann (Hrsg.): Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte, Beiheft 8 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs, 2), Wiesbaden 1980, in: Historisches Jahrbuch, 103, 1983, S. 233–237. Hartmann, Peter Claus: Das Steuersystem der europäischen Staaten am Ende des Ancien Régime. Eine offizielle französische Enquête. 1763–1768. Dokumente, Analyse, Auswertung. England und die Staaten Nord- und Mitteleuropas, München 1979, in: Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungswissenschaft, 15, 1982, S. 133– 134. Stein, Wolfgang Hans: Protection Royale. Eine Untersuchung zu den Protektionsverhältnissen im Elsaß zur Zeit Richelieus. 1622–1643 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte, 9), Münster 1978, in: Historisches Jahrbuch, 101, 1981, S. 224 f. Wollenberg, Jörg: Richelieu: Staatsräson und Kircheninteresse. Zur Legitimation der Politik des Kardinalpremier, Bielefeld 1977, in: Historisches Jahrbuch, 101, 1981, S. 156–159. Kraschewski, Hans-Joachim: Wirtschaftspolitik im deutschen Territorialstaat des 16. Jahrhunderts: Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel. 1528–1589, Köln 1978, in: Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungswissenschaft, 13, 1980, S. 397 f. Modéer, Kjell A.: Die Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium. I: Voraussetzungen und Aufbau 1630–1657 (Skrifter utgivna av Institutet för Rättshistorisk Forskning, I, 24), Stockholm 1975, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 96, 1979, S. 334–336. Quaritsch, Helmut: Staat und Souveränität, Band 1: Die Grundlagen, Frankfurt am Main 1970, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 132, 1976, S. 369– 372.

Von Prof. Dr. Karsten Ruppert als Erst- und Zweitprüfer am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Eichstätt betreute wissenschaftliche Legitimationsarbeiten I. Habilitationsschriften Grypa, Dietmar: Der diplomatische Dienst des Königreichs Preußen (1815–1866) (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 37), Berlin 2008. Raasch, Markus: Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel des politischen Katholizismus in der Bismarck-Ära (1871–1890).

II. Dissertationen Kitzing, Michael: Die Badische Zentrumspartei in der Weimarer Republik (1919–1932/ 33). Szarafinski, Peter: Organisation der Rüstung in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 1933 und 1942. Theurer, Marc Christian: Bonn – Belgrad – Ost-Berlin: Die Beziehungen der beiden deutschen Staaten zu Jugoslawien im Vergleich 1957–1968, Berlin 2008. Durucz, Peter: Ungarn in der auswärtigen Politik des Dritten Reichs 1942–1945, Göttingen 2006. Werner, Wigbert O.: Zwischen Liberalismus und Revolution: Friedrich Daniel Bassermann. Ein politisches Portrait (Rhein-Neckar-Kreis: Bausteine zur Kreisgeschichte, Band 8), Heidelberg 2007. Schmid, Markus Herbert: Weißenburg in der Zwischenkriegsphase: Kontinuitäten und Diskontinuitäten unter weltanschaulichen, kommunalpolitischen und administrativen Gesichtspunkten (Studien zu Politik und Geschichte, Band 2), Eichstätt 2006.

III. Magisterarbeiten Gudaitis, Gytis: Das russische Heer in den Revolutionen von 1905 und 1917, Eichstätt 1996. Lulla, Alexandra: Die deutsche Minderheit in der ersten Tschechoslowakischen Republik und ihre Presse, Eichstätt 1998. Okorafor, Henry: Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union in Bezug auf Subsahara Afrika an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Eichstätt 1998.

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Rausch, Genoveva: Städtische Kultur und Kulturpolitik in Bayern: Die Geschichte des Stadttheaters Ingolstadt 1945–1975, Eichstätt 1998. Romeis, Markus: Die Personalabbauverordnung vom 27. Oktober 1923 – Entstehung, Auswirkung und öffentliche Diskussion, Eichstätt 1998. Schießl, Christoph: Das Parteiensystem der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Eichstätt 1998. Teich, Birgit: Die Konferenzen von Teheran und Jalta und die deutsche Frage, Eichstätt 1998. Müller, Bettina: Das Nationalkommitee „Freies Deutschland“ und die Zeitung „Freies Deutschland“ in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Eichstätt 1999. Dengler, Bernhard: Die Ambiguität der deutschen Fernostpolitik und die deutsche Öffentlichkeit, Eichstätt 2001. Stein, Rüdiger: Die französischen Reaktionen auf Entstehung und Beratung des Grundgesetztes – französische Deutschlandpolitik unter dem Einfluss der deutschen Verfassungsdiskussion, Eichstätt 2001. Husterer, Melanie: Die Windthorstbünde in der Weimarer Republik. Ihre Organisation und ihr Verhältnis zur Mutterpartei, Eichstätt 2002. Ritter, Andreas: Die Positionen der CSU in der Föderalismusdiskussion im Parlamentarischen Rat, Eichstätt 2002. Kollmann, Catrin: Die Grundrechte in den Verfassungsberatungen 1948/49: Weltanschauliches Verständnis, Herkunft und verfassungsgeschichtliche Funktion, Eichstätt 2003. Rüther, Markus: Konzeption und Pläne zur Wiedervereinigung Deutschlands. USA und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich 1949 bis 1961, Eichstätt 2003. Kitzing, Michael: Zwischen Repression und liberalem Parlamentarismus: Verfassungskämpfe, Parteibildung und Parametrisierung in Badens vorrevolutionärem Jahrzehnt (1838–1848), Eichstätt 2004. Theurer, Marc Christian: Die Deutsche Wiedervereinigung in der globalen Strategie der USA. 1949 bis 1961, Eichstätt 2004. Zahner, Markus: Oppositionspolitik der SPD in Bayern: Schwerpunkt und Entwicklungslinien 1924–1930, Eichstätt 2005. Brandner, Andreas: Die militärische Kooperation zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg: Politische Motive und strategische Absichten, Eichstätt 2007. Edlinger, Markus: „Maßlosigkeit im Osten wie im Westen.“ Kriegszielplanungen und Strategien für eine Nachkriegsordnung am Beispiel Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands von Sarajevo bis Brest-Litovsk. Eine vergleichende Analyse, Eichstätt 2007. Günther, Lena-Simone: The Cold War in American Literature: The Experience and Trauma of American Soldiers in Korea and Vietnam, Eichstätt 2007.

Betreute wissenschaftliche Legitimationsarbeiten

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Reuter, Heinrich Christopher: Geschichte der SKW Trostberg (1908–1949) – unter besonderer Berücksichtigung der Zeit des Nationalsozialismus, Eichstätt 2007. Mintert, Thomas: Der Versuch des Aufbaus einer Flotte während der Revolution 1848/ 49 – Marinetechnische Probleme und machtpolitische Fragen, Eichstätt 2008. Pfaffel, Mathias: Die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf die deutsche Frage vom Tod Stalins bis zur Souveränität der Bundesrepublik, Eichstätt 2008. Sowa, Oliver: Der Kanton Donau als Organisationsstruktur in Schwaben während der Frühen Neuzeit, Eichstätt 2008. Durner, David: Aufbau und Selbstverständnis der Reichswehr 1919–1923. Mit besonderer Berücksichtigung des Reichsheeres, Eichstätt 2009. Franz, Tobias: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1933–1939 zwischen Kontinuität und Kurswechsel, Eichstätt 2009. Hirschmüller, Tobias: Funktion und Bedeutung von Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck in der nationalsozialistischen Geschichtspolitik im Vergleich, Eichstätt 2009. Horsch, Tilmann: Die Stimme des Erzbischofs – Kardinal Michael von Faulhabers Stellung zu Politik, Gesellschaft und Kirche in der Weimarer Republik, Eichstätt 2009. Wenzl, Gerhard: Das Geschichtsbild der SS – Konstruktion und politische Instrumentalisierung, Eichstätt 2009. Kramer, Valentin: Democracia en el parís y en la casa: Frauenbewegung und Opposition in Chile 1973–1990, Eichstätt 2010. Gerhards, Kathrin: Bildungspolitische Prozesse in Nordrhein-Westfalen und England: Die Positionen zur Gesamtschule in der SPD und der Labour Party, Eichstätt 2011. Kämmer, Claudia: Das Russlandbild im Siegel des „Völkischen Beobachters“, Eichstätt 2010. Kornis, István: Die USA in Publikationen des NS-Reiches 1933–1944, Eichstätt 2011.

IV. Diplomarbeiten Kückemanns, Anja: Die Bedeutung ausländischer Medien für Wissensstand und Meinungsbildung im nationalsozialistischen Deutschland, Eichstätt 2000. Baumberger, Sandra: Kassandra vom Dienst. Erich Kuby als Journalist, Eichstätt 2006. Fößl, Stefan: Der „liberale“ Feuerkopf – Ernst Müller-Meiningen jr. als Journalist. Eichstätt 2007 Weil, Andrea: „Der öffentlichen Meinung entgegentreten“. Erich Schairers publizistische Opposition gegen Nationalsozialisten 1930–1937, Eichstätt 2007. Behrends, Fabian: Täuschen und tarnen. Die publizistische Technik der Camouflage in deutschen Zeitungen während des Nationalsozialismus dargestellt an Beispielen aus der Frankfurter Zeitung von 1933 bis 1934, Eichstätt 2010.

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V. Bachelor- und Zulassungsarbeiten Fuchs, Benedikt: Wiederbesiedelung des Klosters Plankstetten 1904 und Wirken von Theodor Freiherr von Cramer-Klett im historischen Kontext, Eichstätt 2009. Carpentier, Hugo: Der Reichstag in Bismarcks Herrschaftssystem 1871–1890, Eichstätt 2010. Gärtner, Andrea: Der Einfluss der bayerischen Staatsregierung auf die Entstehung des Grundgesetzes von Herrenchiemsee bis zur Verabschiedung im Bayerischen Landtag, Eichstätt 2010. Hirsch, Matthias: Der Bismarck-Mythos in der DDR, Eichstätt 2010. Hügel, Johannes: Sozialpolitische Maxime der Zentrumspartei im Zeitalter der Hochindustrialisierung, Eichstätt 2010. Meyer, Markus: Politischer Nationalismus und wirtschaftlicher Internationalismus. Gustav Stresemanns wirtschaftspolitische Konzeption und deren Einfluss auf seine Außenpolitik, Eichstätt 2010. Riese, Frederike: Unternehmensgeschichte und die Sozialpolitik der Firma Haendler & Natermann mit besonderem Augenmerk auf die Gastarbeiter und deren Problematik, Eichstätt 2010. Thielitz, Sabine: Großbritannien in der Außenpolitik Otto von Bismarcks nach der Reichsgründung bis zum Berliner Kongress 1871–1878, Eichstätt 2010. Zäch, Sebastian: Fußball bei Bayer 04 Leverkusen während der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1939), Eichstätt 2010. Sipl, Stefan: Die 68er-Bewegung und die Bildzeitung, Eichstätt 2011.

Autorenverzeichnis Prof. em. Dr. Margaret Lavinia Anderson University of California Berkeley Department of History Florian Basel Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte Prof. em. Dr. Winfried Becker Universität Passau Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Dr. Michael F. Feldkamp Berlin wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv des Deutschen Bundestages Prof. em. Dr. Hans Fenske Universität Freiburg Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Thomas Fischer Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Professur für Geschichte Lateinamerikas Dr. Stefan Gerber Friedrich-Schiller-Universität Jena Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Stephanie von Göwels, B. A. Otto-Friedrich-Universität Bamberg Stud. Phil. Tobias Hirschmüller, M. A. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Edition der Akten der provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49“ Prof. em. Dr. Heinz Hürten Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Prof. Larry Eugene Jones, PhD Canisius College Buffalo (New York) Modern European History

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Autorenverzeichnis

Dr. des. Michael Kitzing Universität Stuttgart Lehrbeauftragter in der Abteilung Landesgeschichte Prof. Dr. Hans-Christof Kraus Universität Passau Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Prof. em. Dr. Gert Krell Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Lehrstuhl für Internationale Politik Prof. Dr. Wilfried Loth Universität Duisburg-Essen Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Leonid Luks Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Lehrstuhl für Mittel- und Osteuropäische Geschichte Prof. em. Dr. Dr. h.c. Rudolf Morsey Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Lehrstuhl für Neuere Geschichte Mathias Pfaffel, M. A. Ingolstadt Unternehmerarchiv der Audi AG Prof. Dr. Thomas Pittrof Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Dr. Markus Raasch Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Dr. Markus Herbert Schmid Eichstätt Historiker Prof. Dr. Waltraud Schreiber Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte Prof. Dr. Klaus Stüwe Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Fachgebiet Vergleichende Politikwissenschaft und Politische Systemlehre Dr. Marc Christian Theurer Brüssel Communications & Network Consulting AG

Autorenverzeichnis

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Sabine Thielitz Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Edition der Akten der provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49“ Gerhard Wenzl, M. A. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Lehrbeauftragter und Studienkoordinator der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät