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German Pages 902 Year 1989
Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat
Duncker & Humblot . Berlin
Staat, Barche, Wissenschaft i n einer p l u r a l i s t i s c h e n Gesellschaft
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Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft Festschrift z u m 65. Geburtstag v o n P a u l M i k a t
Herausgegeben von
Dieter Schwab · Dieter Giesen Joseph L i s t i · Hans-Wolfgang Strätz
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft: Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat / hrsg. von Dieter Schwab . . . - Berlin: Duncker und Humblot, 1989 ISBN 3-428-06759-2 NE: Schwab, Dieter [Hrsg.]; Mikat, Paul: Festschrift
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06759-2
Vorwort Paul Mikat vollendet am 10. Dezember 1989 das 65. Lebensjahr. Seit vielen Jahren hat er als akademischer Lehrer an den Universitäten Würzburg und Bochum, als Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen von 1962 bis 1966, als Abgeordneter des Deutschen Bundestages von 1969 bis 1987, als Präsident der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft seit 1967 sowie in anderen bedeutenden Funktionen das wissenschaftliche, kulturelle und politische Leben in Staat, Kirche und Gesellschaft mitgeprägt. Durch sein umfangreiches und thematisch weitgespanntes literarisches Oeuvre hat er in fruchtbaren Jahren aktiver Gestaltung ein Lebenswerk geschaffen, das vielen Vorbild und Orientierung geworden ist. Seine reiche literarische Tätigkeit dokumentiert sich unter anderem in zwei großen Editionen gesammelter Schriften („Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht", 2 Bände, Berlin 1974; „Geschichte, Recht, Religion, Politik", 2 Bände, Paderborn 1984). Sein umfassendes Wissen ist auf der Grundlage einer in der Gegenwart selten anzutreffenden Synthese juristischen, theologischen und geschichtlichen Denkens erwachsen. Paul Mikat verbindet die Klarheit und Weite grundsätzlicher Welterfahrung mit dem Sinn für den Kairos praktischer Wertverwirklichung. Dies war für viele immer wieder Anlaß, sich seines Rates und seiner Ermutigung zu versichern. Die Verbindung dieser Wissenschaftsbereiche hat Paul Mikat auch dazu befähigt, Fragen der Rechtsgeschichte, der Rechtsdogmatik und der Rechtspolitik aufzugreifen und unter grundsätzlicher Wahrung institutioneller Werte und unter Beobachtung des geschichtlich Bewährten mit realistischem Blick für die Wirklichkeit und für die künftige Entwicklung über das jeweilige Tagesgeschehen hinaus neue und zukunftweisende Perspektiven aufzuzeigen. Nur aus den intensiven Wechselbeziehungen seiner breiten interdisziplinären wissenschaftlichen Interessen und aus dem starken Engagement, das ihn mit dem öffentlichen Leben in Staat, Kirche und Gesellschaft verbindet, kann das vielgestaltige wissenschaftliche Werk Paul Mikats verstanden und zutreffend gewürdigt werden. Die Herausgeber haben Paul Mikat in prägenden Würzburger bzw. Bochumer Jahren und seither in langjähriger vertrauter Verbundenheit über die räumliche Trennung ihrer Wirkungsstätten hinweg als einen akademischen Lehrer erlebt, dessen anregende Ausstrahlungskraft sie dankbar sein läßt für die persönliche Begegnung mit ihm. In Verehrung und Dankbarkeit
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Vorwort
überreichen sie die vorliegende Festschrift, die bereits in der Zusammensetzung ihrer Autoren das weitgespannte wissenschaftliche Wirken des Jubilars widerspiegelt und von jener Verbundenheit zwischen Jubilar und Autoren Zeugnis ablegt, die alle Beteiligten in der Hoffnung auf viele weitere Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit eint. Dieter Schwab, Regensburg Dieter Giesen, Berlin Joseph Listi, Augsburg Hans-Wolfgang Strätz, Konstanz
Inhaltsverzeichnis I. Philosophie - Theologie - Allgemeines Alfons Auer, Tübingen Bioethische Argumentation mit der Menschenwürde?
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Hans Michael Baumgartner, Bonn Die Wiederentdeckung der Natur. Ein kritischer Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion
29
Hans-Jürgen Becker, Regensburg Die gerichtliche Beredsamkeit. Ein Beitrag zum Verhältnis von Recht und Sprache
45
Dieter Giesen, Berlin Biotechnologie, Verantwortung und Achtung vor dem menschlichen Leben . . .
55
Ludger Honnef eider, Bonn Güterabwägung und Folgenabschätzung. Zur Bestimmung des sittlich Guten bei Thomas von Aquin
81
Walter Kasper, Rottenburg Die theologische Begründung der Menschenrechte
99
Wolfgang Kluxen, Bonn Anmerkungen zur thomistischen Naturrechtslehre Wilhelm Korff,
119
München
Migration und kulturelle Transformation
129
Adolf Laufs, Heidelberg Der Arzt - Herr über Leben und Tod?
145
Hans Schadewaldt, Düsseldorf Gerontologie und Geriatrie - eine historische Übersicht
165
Π. Geschichte - Rechtsgeschichte Quintin Aldea, Madrid Visión sobre Alemania de Diego Saavedra Fajardo
177
Stephan Buchholz, Marburg Pietismus und Aufklärung. Beiträge Johann Jacob Mosers zu den Religionsstreitigkeiten des 18. Jahrhunderts 203
8
Inhaltsverzeichnis
Hermann Dilcher, Bochum Bürgerliches Recht in den Westzonen 1945 - 1949. Ein Beitrag zur Privatrechtsgeschichte der Nachkriegszeit 221 Else Ebel, Bochum Die sog.,Friedelehe' im Island der Saga- und Freistaatszeit (870 - 1264)
243
Nikolaus Grass, Innsbruck Das Königreichspiel im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Rechtlichen Volkskunde 259 Alexander Hollerbach, Freiburg i. Br. Wissenschaft und Politik: Streiflichter zu Leben und Werk Franz Böhms (1895 - 1977) 283 Gerd Kleinheyer, Bonn Moritz August von Bethmann-Hollwegs Entwurf eines preußischen Unterrichtsgesetzes von 1861/62 301 Diethelm Klippel, Gießen Luxus und bürgerliche Gesellschaft. Samuel Simon Wittes Schrift „Über die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze" (1782) 327 RolfKnütel,
Bonn
Barbatius Philippus und seine Spuren. Falsus praetor, parochus putativus, Scheinbeamter 345 Christoph Krampe, Bochum Qui tacet, consentire videtur. Über die Herkunft einer Rechtsregel
367
Hans Maier, München Gründerzeiten. Aus der Sozialgeschichte der deutschen Universität
381
Rudolf Morsey, Speyer Die letzte Krise im Parlamentarischen Rat und ihre Bewältigung (März/April 1949) 393 Ludwig Schmugge, Zürich Leichen für Heidelberg und Tübingen
411
Jan Schröder, Tübingen „Naturrecht bricht positives Recht" in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts? 419 Winfried
Trusen, Würzburg
Vom Inquisitions verfahren zum Ketzer- und Hexenprozeß. Fragen der Abgrenzung und Beeinflussung 435 Dietmar Willoweit,
Würzburg
War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat?
451
Inhaltsverzeichnis ΠΙ. Kirchenrecht - Kirchengeschichte Staat und Kirche
Carlrichard
Brühl, Gießen
Gedanken zum frühen Christentum in den rheinischen Civitates
467
Ernst Dassmann, Bonn „Ohne Ansehen der Person". Zur Frage der Gleichheit aller Menschen in frühchristlicher Theologie und Praxis 475 Albin Eser, Freiburg i. Br. Strafrecht in Staat und Kirche. Einige vergleichende Beobachtungen
493
Hans Constantin Faußner, Innsbruck / München Die Fälschungen Wibalds von Stablo für und gegen das Kollegiatstift zu Aschaffenburg 515 Ernst Ludwig Grasmück, Bamberg Redefreiheit und Staatsgewalt. Erwägungen zu Politik und Gesellschaft i n nachtheodosianischer Zeit 531 Martin Heckel, Tübingen Kulturkampfaspekte. Der Kulturkampf als Lehrstück modernen Staatskirchenrechts 545 Peter Landau, München Die Leprakranken im mittelalterlichen kanonischen Recht
565
Joseph Listi, Augsburg/Bonn Das kirchliche Besteuerungsrecht in der neueren Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland 579 Wolfgang Loschelder, Bochum Staatliche und kirchliche Kulturverantwortung auf dem Gebiet des Denkmalschutzes 611 Konrad Repgen, Bonn Die Proteste Chigis und der päpstliche Protest gegen den Westfälischen Frieden (1648/50). Vier Kapitel über das Breve „Zelo domus Dei" 623 Walter Simonis, Würzburg Demokratie in der Kirche? Zum Problem des Ursprungs und der Begründung von kirchlicher Leitungsgewalt 649 Christian Starck, Göttingen Die kirchlichen Privatschulen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Normen über das Schulwesen 665 Hans-Wolfgang
Strätz, Konstanz
Scheidungspflicht und Neuheirats verbot in der alten Kirche. Kanon 11 (10) des Konzils von Arles 314 im Kontext gesehen 679
Inhaltsverzeichnis
10
IV. Staat und Verwaltung Josef Isensee, Bonn Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung 705 Franz-Ludwig
Knemeyer, Würzburg
Parlamentarisierung der Stadträte und Stadtregierung? Rückbesinnung auf die kommunalverfassungsgemäße Rollenverteilung 741 Hermann Krings, München Das Staatslexikon und der Staat. Ein geschichtlicher Rückblick
759
Klaus Stern, Köln Die clausula rebus sie stantibus im Verwaltungsrecht
775
V. Zivilrecht - Internationales Privatrecht Friedrich
Wilhelm Bosch, Bonn
Toterklärung - Todeszeitfeststellung - Irrige Totmeldung. Ehe-, kindschaftsund erbrechtliche Überlegungen zu drei ähnlichen Tatbeständen 793 Hans Brox, Münster „Schlüsselgewalt" und „Haustürgeschäft"
841
Walther J. Habscheid, Zürich Die Problematik der Kindesentführung über nationale Grenzen und ihre Regelung durch neue internationale Abkommen 855 Knut Wolfgang Nörr, Tübingen Die Vertragsübernahme: eine neue Rechtsfigur
869
Dieter Schwab, Regensburg Strukturfragen des geplanten Betreuungsrechts Verzeichnis der Mitarbeiter
881 897
I . Philosophie - Theologie - Allgemeines
Bioethische Argumentation mit der Menschenwürde? Von Alfons Auer Der Eintritt in das hochtechnologische Zeitalter zwingt unsere Kulturgemeinschaft, gründlich über sich selbst zu reflektieren. Die herkömmliche naive Moralität vermag den andrängenden Problemen nicht gerecht zu werden. Ihre normativen Vorgaben mitsamt den ihnen zugrundeliegenden Wertvorstellungen müssen sich der öffentlichen Diskussion neu stellen. Es geht offensichtlich nicht mehr nur um die Geltung von Normen oder Grundwerten, sondern um deren letzte Legitimation, um eine umgreifende Zielvorstellung, durch die sie eine einsichtige Sinndeutung erfahren. In diesem Zusammenhang ist die Rede von der Menschenwürde als Legitimationsformel verstärkt ins Spiel gekommen. Sie gehört in die Reihe jener Interpretamente, mit deren Hilfe man in unserem Kulturkreis die in sich nicht unmittelbar greifbare, aber alles tragende Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins verdeutlicht hat: Die stoische Philosophie versuchte es mit der göttlichen Weltvernunft, die christliche Theologie mit dem Logos der Schöpfung, die Neuzeit mit der Idee des autonomen selbstwertigen Subjekts. Weil Kirchen und Theologien die neuzeitliche Wende zum Menschen vorwiegend als Zersetzung der christlichen Botschaft verstanden haben, konnte sich in ihnen die Eigenwertigkeit von Mensch und Welt nicht hinlänglich entfalten. Gegenüber dem Mittelalter erschien ihnen die Neuzeit als eher heidnisch. Dabei hatte schon ein so behutsamer Kritiker wie Romano Guardini die Meinung vertreten, die von ihm hochgeschätzte „kühne und fromme Gestalt des mittelalterlichen Daseins (habe) nur erstehen und bestehen können, indem der Blick für die Realität der Dinge vielfach abgeblendet, das Herz vor den Möglichkeiten der Welt geschützt und die Entscheidungen in den Bereich des sittlich-religiösen Lebens verlegt wurden" 1 . Die Berufung auf die Menschenwürde ist nicht erst von heute. Längst vor Kant begegnet man ihr im Umkreis des philosophischen Denkens vor allem bei Cicero und dem Humanismus der italienischen Renaissance. Die theologische Interpretation der Menschenwürde fand längst vor der neuesten theologischen und kirchlichen Soziallehre schon beachtliche Höhepunkte bei den Kirchenvätern und vor allem bei Thomas von Aquin. 2 Wenn im fol1 Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen, Würzburg 1939, 41955, S. 25.
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Alfons Auer
genden die Vorstellung von der Menschenwürde in ihrer Bedeutung für ethisches, im besonderen für bioethisches Argumentieren untersucht wird, soll zugleich auch der Versuch unterstützt werden, die Kompatibilität von Theonomie und Autonomie, von christlichem Glauben und neuzeitlichem Denken einsichtiger zu machen. A. Das Interpretament Menschenwürde I. Bestimmung der Menschenwürde
Mit der Vorstellung von Menschenwürde verbindet sich eine Reihe grundlegender menschlicher Qualitäten: Vernünftigkeit und Selbstbestimmung, Selbstwertigkeit und Unverfügbarkeit sowie die Sonderstellung des Menschen gegenüber allen anderen Wesen dieser Welt. Günter Dürig hat eine Formulierung vorgeschlagen, die sich weit über das Verfassungsrecht hinaus durchgesetzt hat: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und die Umwelt zu gestalten." 3 Diese Zusammenstellung von Qualitäten stellt nicht eine einfache Beschreibung dar, sie impliziert ein Werturteil, in dem sich ein Achtungsanspruch präsentiert. Für Kant hat „Würde" nur, was seinen Wert in sich selbst hat, was „über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalenz verstattet". Die Bedingung dafür, daß etwas „Zweck an sich selbst" sein kann, ist die Fähigkeit zur Moralität. Moralität aber wird allein durch den guten Willen konstituiert. 4 Hier wurzelt die unbedingte Selbstwertigkeit des Menschen; hier ist der Grund, warum er niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich als „Zweck an sich selbst" bezeichnet und behandelt werden muß. 5 Das „Grundgesetz" der BRD erklärt in Art. 1 die Würde des Menschen als unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt zu ihrer Achtung und 2 Vgl. Rolf Peter Horstmann, Art. Menschenwürde, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 5, Sp. 1124 - 1127; Werner Wolbert, Der Mensch als Mittel und Zweck. Die Idee der Menschenwürde in normativer Ethik und Meta-Ethik (Münsterische Beiträge zur Theologie, Heft 53), Münster 1987; vgl. auch die Sammlung wichtiger Texte von Edgar Bein, Menschenwürde (philosophia propaedeutica, hrsg. von Bruno H. Reifenrath), Frankfurt / Berlin / München 1986. 3 Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 81 (1956), 117 - 157. 4 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Akademie-Ausgabe) IV, S. 434f., 293; vgl. Wolbert (Fn. 2), S. 18f. 5 Kant formuliert den Anspruch, der von der Menschenwürde an den einzelnen und an seine Mitmenschen ergeht, in der Zweiten Fassung des Kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person des anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst". Kant (Fn. 4), S. 429.
Bioethische Argumentation m i t der Menschenwürde?
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ihrem Schutz. Wenn diese Verpflichtung nicht leerlaufen soll, muß das Rechtsgut Menschenwürde inhaltlich konkretisiert werden. Das Verfassungsrecht scheint einer inhaltlichen Bestimmung von „Verletzungsvorgängen" (Sklaverei, Folter) her den Vorzug zu geben.6 Der Ethik geht es mehr um Ausübung der Freiheitsrechte und Einlösung des Sollensanspruchs, der mit der Menschenwürde gegeben ist. Sie erarbeitet Entscheidungskriterien richtigen Handelns. Sie kann sich dabei auf die Menschenrechte und auf die im GG und in anderen Verfassungen aufgeführten Grundrechte stützen. Dies kommt ihr besonders zustatten, insofern sie über die Ausübung der Freiheitsrechte des einzelnen hinaus die Aufrichtung einer sozialen Ordnung im Auge hat. Auch für das ethische Denken kamen und kommen die Anstöße zur Konkretisierung des Sollensanspruchs der Menschenwürde vor allem aus geschichtlichen Verletzungsvorgängen, deren Leidensdruck irgendwann unerträglich wurde. Ohne solche Unrechtserfahrungen als geschichtliche Auslöser wäre es kaum zur Überwindung der Sklaverei, der Ketzerverfolgung, der Polygamie, der Kinderarbeit in den Fabriken oder der Rassendiskriminierung gekommen. Verletzungserfahrungen werden verschärft durch Ermöglichungserfahrungen, die aus der Dynamik der geschichtlichen Entwicklung entstehen und die konkrete Durchsetzbarkeit des Sollensanspruchs der Menschenwürde deutlich machen. So haben die Väter des GG die klassischen Grundrechte aus der Frankfurter Reichsverfassung von 1849, aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und aus der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen übernommen. Aufgrund neuer Verletzungs- und Ermöglichungserfahrungen haben sie aber im Grundrechtskatalog der Art. 2 - 1 9 GG auch Neues hinzugefügt, z.B. das Recht der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe oder die Gleichberechtigung der Frau. 7
6 Vgl. die sog. Objektformel, wie sie etwa von Dürig (Fn. 3), S. 127, vorgelegt wird: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird." Wolf gang Graf Vitzthum, Menschenwürde und Humanität, in: Universitas 41(1986),810-828, weist auf die Gefahr hin, daß durch eine positive inhaltliche Definition „würdigen" Lebens „die bereits definitorische Abqualifizierung »unwürdigen 4 Lebens" insinuiert werden könnte; außerdem bedürfe unter dem GG die Beschränkung und nicht die Ausübung von Freiheitsrechten der Legitimation. 7 Vgl. Christian Starch, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1: Präambel, Art. 1 - 5, München 31985, S. 77. In der neuesten Zeit beobachtet man in der kirchlichen Soziallehre die Tendenz, „auch die Verantwortungsdimension politischer und gesellschaftlicher Makrovorgänge unter der Leitidee Menschenrechte darzustellen" und damit den Sollensanspruch der Menschenwürde auf jene Problembereiche hin zu konkretisieren, die durch neue Entwicklungen entstanden sind. Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte in der kirchlichen Soziallehre, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 29 (1986), 154 - 160, hier 156.
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Alfons Auer
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, daß der Sollensanspruch der Menschenwürde nie endgültig festgeschrieben werden kann. Der Mensch ist als einzelner wie in seiner gesellschaftlichen Einbindung und seiner universalmenschlichen Zugehörigkeit immer unterwegs zu sich selbst. In allen Dimensionen seines Daseins erfährt er immer wieder Bedrohungen und Verletzungen seiner Würde, zugleich aber auch neue Möglichkeiten und Angebote sie einzulösen. „Würde des Menschen" - das ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit. Auch wer mit wissenschaftlicher Argumentation nicht vertraut ist, weiß, was damit gemeint ist und welcher sittliche Anspruch darin enthalten ist. Jeder hat auch eine Ahnung davon, daß es in der ganzen Geschichte letztlich nur darum geht, diesen Anspruch zu unterdrücken oder ihm stattzugeben, daß die Freiheit des Menschen, in der seine Würde vor allem hervortritt, ständig mit Zwängen und Verfügtheiten im Konflikt liegt und daß er deswegen immer auf der Suche bleiben muß nach „einem gleitenden, labilen und vorläufigen Ausgleich", ohne je den Schlüssel, der alle Schlösser öffnet, endgültig zu finden. 8 Π. Begründbarkeit der Menschenwürde
Die Väter des „Grundgesetzes" haben sich zur Menschenwürde als Geltungsgrund für Menschenrechte und Grundrechte bekannt, nachdem „ein Hinweis auf Gott als den Urgrund alles Geschaffenen" sich als nicht durchsetzbar erwiesen hatte. 9 Ist damit eine akzeptable Basis für Glaubende wie für Nichtglaubende gewonnen? Die Ansichten gehen auseinander. Manche halten daran fest, daß die Würde des Menschen rational aufweisbar ist. Andere meinen, sie sei philosophisch nicht begründbar; sie stelle eine Option dar, ein Wertaxiom, ohne dessen Anerkennung Menschen nun einmal nicht leben können; sie verdanke sich letztlich der „Evidenz des Herzens" und stelle darum keine „wahrheitsfähige" Position dar. 1 0 Wie steht es mit einer philosophischen Begründung? Cicero hat auf die Frage, warum man für den Menschen sorgen müsse, und zwar für alle Menschen und für die Menschen mehr als für andere Lebewesen, die Antwort gegeben: „weil er Mensch ist - quod is homo sit". 1 1 Kant sieht die Würde des Menschen begründet in seiner Freiheit, in seiner Fähigkeit also, Moralität zu realisieren (nicht in seiner tatsächlich realisierten Moralität). Diese Fähig8 Vgl. Karl Rahner, Würde und Freiheit des Menschen, in: Schriften zur Theologie, Bd. II, S. 247 - 277, hier S. 258 - 263, 267 - 269. 9 Dürig (Fn. 3), S. 117. 10 Vgl. die Belege bei Wolbert (Fn. 2), S. 6 - 13. 11 De officiis I I I 6,27. Vgl. Wolbert (Fn. 2), S. 10f. Bruno Schüller, Der menschliche Mensch, Düsseldorf 1982, S. 100 - 119, frägt zurecht, ob ein solches Werturteil sich begründen lasse oder ob die Aussage, man müsse den Menschen lieben, weil er Mensch sei, schließlich eben doch eine Tautologie sei.
Bioethische Argumentation m i t der Menschenwürde?
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keit ist die Bedingung dafür, daß der Mensch „Zweck an sich selbst" ist und damit „Würde" hat. Das ist keine Tautologie, sondern eine Begründung, mag sie auch nur innerhalb der Plausibilität einer bestimmten Option akzeptabel erscheinen. Die philosophische „Option" für Menschenwürde ist freilich auch als „Postulat der praktischen Vernunft" auszuweisen. Ohne Anerkennung der Menschenwürde gibt es keine rationale Ethik, kein sittliches Verhältnis zwischen den Menschen. Dies gilt auch für eine pluralistische Gesellschaft, insofern die Bereitschaft, den anderen als eigenverantwortliches sittliches Subjekt anzuerkennen, erst zur Hinnahme anderer Wertentscheidungen befähigt. Die christliche Theologie begründet die Würde des Menschen aus der Geschichte des Handelns Gottes am Menschen. Am Anfang dieser Geschichte stehen - den biblischen Schöpfungsgeschichten zufolge - eine ausdrückliche Selbstentscheidung des Schöpfers zur Erschaffung des Menschen, seine Proklamation zum Ebenbild Gottes, seine Beauftragung mit der Herrschaft über die Erde und mit der Namengebung für die Tiere. In der Mitte der Heilsgeschichte wird der Mensch durch Jesus Christus von Gott endgültig in Liebe angenommen; er soll nunmehr sich selbst nicht mehr nur auf innerweltliche Entfaltung seiner naturalen Möglichkeiten, sondern auf deren Erfüllung im Heil hin verwirklichen. Gott allein, der am Anfang der Geschichte der Welt und dem Menschen den Sinn gesetzt und ihn in ihrer Mitte endgültig geoffenbart hat, wird an ihrem Ende die letzte Erfüllung des in Jesus Christus eröffneten Heils gewähren. Damit ist der philosophischen Begründung der Menschenwürde ein letztes Fundament angeboten und der Menschenwürde selbst letzte Unantastbarkeit zugesprochen. Der Mensch verdankt seine Würde nicht Staat und Gesellschaft, er hat sie sich auch nicht selbst eingestiftet; sie ist eine verdankte und zugleich eine ihm aufgegebene Würde. Wer eine theologische Begründung der Menschenwürde dem Bereich der ideologischen Belanglosigkeit zurechnet, wird sich fragen lassen müssen, inwieweit eine Selbstverpflichtung des Menschen auf seine Würde als moralisches Objekt mit unbedingtem Anspruch auftreten kann. Die Erfahrung jedenfalls zeigt, daß menschliche Selbstverpflichtung auf die Dauer in Situationen äußerster Zumutung zu menschlicher Selbstdispens führt. Nicht nur Hans Jonas hält es für fraglich, „ob wir ohne die Wiederentdeckung der Kategorie des Heiligen . . . eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind" 1 2 .
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Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1984, S. 57.
2 Festschrift P. Mikat
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Alfons Auer ΠΙ. Schutzbereich der Menschenwürde
Auf die heute viel diskutierten Fragen, was eigentlich geschützt werden muß und wer der Träger des zu schützenden Gutes ist, kann hier nur kurz hingewiesen werden. Der sachliche Schutzbereich der Menschenwürde ist nach einheitlicher Auffassung der Ethik wie des Verfassungsrechts die Subjektqualität der menschlichen Person, doch gehören dazu auch die Bedingungen, welche die Wahrung dieser Subjektqualität konstituieren: die Integrität des Menschen und die Achtung seiner leiblichen Kontingenz. „Es darf also nichts getan werden, was es den entstehenden Individuen unmöglich macht, sich als Gattungswesen Mensch zu verstehen, und nichts, was sie hindert, die Kontingenz ihrer Körperlichkeit als Moment ihrer Individualität zu kultivieren." 1 3 Wie steht es mit dem personellen Schutzbereich? Träger der Menschenwürde ist jegliches von Menschen stammende und zur Species Mensch gehörige Wesen - ohne Rücksicht darauf, wieweit im einzelnen die Subjektqualität der Person konkret verwirklicht bzw. überhaupt aktuierbar ist. Hier steht vor allem die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens an. Dazu gibt es bis heute keine einhellige Auffassung - nicht einmal innerhalb der theologischen Ethik. So wie sich hier früher die Interpretamente Sukzessiv- und Simultanbeseelung gegenüberstanden, so heute Epigenismus und Präformismus. Nach der epigenistischen Position entwickelt sich der embryonalbiologische Prozeß, obwohl die genetischen Informationen von Anfang an kodiert sind, über verschiedene Stufen von einer zunächst offenen artspezifischen über die einengende individualspezifische (Nidation) bis zur endgültig personenspezifischen Prägung; die ethischen Implikationen sind beträchtlich (Experimente mit Embryonen). Demgegenüber gibt es nach der präformistischen Position im Verlauf der Entwicklung keine Zäsur, von der aus man sagen könnte, erst jetzt und vorher nicht könne von einem Menschen die Rede sein. Robert Spaemann bezeichnet das ungeborene Kind als „Subjekt von Anfang an", indes Wolfgang Kluxen die Zygote weder Mensch noch Person noch Subjekt nennen will, sowenig man eine Eichel schon einen Eichbaum, eine Raupe schon einen Schmetterling oder ein Ei schon ein Huhn nenne; entscheidend und vollkommen ausreichend als anthropologische Begründung für eine ethische Bewertung erscheint ihm die von Anfang an mit Sicherheit sich durchhaltende „individuelle Identität". 1 4 13
Hasso Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, in: Juristenzeitung 41 (1986), 253 - 260, hier 260; vgl. auch Wolfgang Graf Vitzthum, Gentechnologie und Menschenwürde, in: Medizinrecht 3 (1985), 249 - 257, bes. 252, wo zwischen „sachlichem" und „personellem" Schutzbereich unterschieden wird. 14 Vgl. Alfons Auer, Art. Schwangerschaftsabbruch III, demnächst in: Staatslexikon, Bd. V. Die Beiträge von Spaemann und Kluxen finden sich in: Paul Hof acker /
Bioethische Argumentation m i t der Menschenwürde?
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Diese kurzen Hinweise, die einen weitreichenden Konsens zwischen Ethik und Verfassungsrecht beinhalten, müssen in diesem Zusammenhang genügen, weil unsere eigentliche Thematik auf die Frage hindrängt, wie wir denn mit der Idee der Menschenwürde umgehen können, wenn es um argumentative und nicht nur um konnotative Aufweismöglichkeiten ihrer konkreten Verbindlichkeit geht. B. Probleme bioethischer Argumentation mit der Menschenwürde Nicht weniger schwierig als Bestimmung und Begründung der Menschenwürde und Umschreibung ihres Schutzbereichs ist für die Ethik die Frage, wie sie mit dem Interpretament Menschenwürde argumentativ umgehen kann. Wie kann man von diesem Prinzip zu hilfreichen Entscheidungskriterien kommen? Was trägt eine Berufung auf die Menschenwürde für Einzelfragen überhaupt aus? Wird mit ihr nur ein a priori feststehendes Urteil noch unterstrichen? Ist Menschenwürde nur eine pathetische Beschwörungsformel, eine Hoheitsformel, durch deren Einsatz man sich für seine Position auf billige Tour höchste Legitimation verschafft oder auch nur erschleicht - eine Art höherer Weihe, mit der man die Kümmerlichkeit der Argumentation ein wenig nachbessern zu können hofft? Wir wollen von einigen Beispielen aus dem Bereich der Bioethik ausgehen und dann zu grundsätzlichen Überlegungen weiterschreiten. I. Annäherung von konkreten Sachfragen her
Die Gentechnologie verspricht u. a. kranke Gene durch gesunde zu ersetzen und dadurch Erbschäden zu beseitigen. Darf man, um Wege dazu zu eröffnen, menschliche Embryonen zu Forschungszwecken herstellen? Wenn wir uns an das Prinzip halten, das als „kategorischer Imperativ" keine Ausnahme zuläßt, daß nämlich der Mensch niemals als Mittel, sondern immer auch als „Zweck an sich selbst" bewertet und behandelt werden muß, ist die Frage zu verneinen; die Experimente dienen ja nicht der Entfaltung des einzelnen individuellen Lebens. Wenn man freilich die Meinung vertritt, die Individuation werde erst durch die Nidation erreicht, weil zuvor die Zellen des sich herausbildenden Embryolblast morphologisch noch undifferenziert und körperlich nicht gegliedert sind, wird man zu einem anderen Urteil kommen. 15 Benedikt Steinschulte / Paul-Johannes Fietz (Hrsg.), Auf Leben und Tod, Bergisch Gladbach, 2. Aufl. 1985, S. 71 - 97 und 99 - 114. Vgl. auch Graf Vitzthum (Fn. 6), S. 815, Starck (Fn. 7), S. 35 und Hofmann (Fn. 13), S. 259f. is Vgl. Hofmann (Fn. 13), S. 259. 2'
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Alfons Auer
Wie steht es mit „überzähligen Embryonen", die zwar für einen Transfer hergestellt worden sind, nun aber nicht mehr benötigt werden oder gar nicht mehr verwendbar sind? Gilt auch hier der „kategorische Imperativ"? Oder sollte man hier nicht wirklich - statt von Instrumentalisierung der Subjektqualität der Embryonen - eher von einem „Opfergang für die Menschheit" sprechen, vorausgesetzt freilich, daß die künstlich hergestellten Embryonen ohnehin mit Sicherheit verfallen, daß sie zu unbestritten hochwertigen Forschungszwecken herangezogen werden, die der Heilung anderen Lebens dienen und mit anderen Mitteln sicher nicht erreichbar sind, und daß für ihren „Verbrauch" die Einwilligung der Eltern bzw. der gesetzlichen Stellvertreter vorliegt? 16 Man wird dem entgegenhalten, ein „Opfergang" könne doch wohl nicht von Dritten verordnet werden ( - aber wie ist es denn z.B. beim Soldaten?) und der „kategorische Imperativ" fordere auch hier, daß der Mensch immer auch als „Zweck in sich selbst" zu betrachten sei ( - aber ist der Embryo schon ein Mensch?). Wir sehen: Die Fragen bleiben und werden einen gesellschaftlichen Konsens schwer aufkommen lassen. Auf der anderen Seite w i r d die Hypothetisierung des „kategorischen Imperativs" mit Sicherheit ein unaufhaltsames Gefälle auf Mißachtung menschlichen Lebens im gesamten Bereich der Gentechnologie auslösen. Und wie steht es mit der Gentherapie an Keimbahnzellen? Obwohl es sich hier noch um eine ferne Möglichkeit handelt, ist die Diskussion im vollen Gang. Durch die Therapie an Keimbahnzellen würde nicht nur - wie bei der Gentherapie an Körperzellen - ein einzelnes Individuum, es würden vielmehr alle seine Nachkommen von einem Erbleiden befreit. Weil die Grenzen zwischen wirklicher Gentherapie und Züchtung bzw. Erbhygiene fließen, erscheint den meisten Fachgelehrten ein gesetzliches Verbot auf diesem Gebiet erforderlich. Wie aber wäre es, wenn eines Tages genetische Krankheiten eindeutig bestimmt, katalogisiert und auch geheilt werden könnten? Müßte man dann nicht mit Hasso Hof mann sagen: „Bei aller Ablehnung von Menschenzüchtung - die Möglichkeit der Heilung schwerer und offenkundiger Erbkrankheiten darf nicht von vorneherein mitverworfen werden" 17 ? Jedenfalls darf auch die Theologie ein Übel, zu dessen Überwindung nicht alles Menschenmögliche und Menschenwürdige getan worden ist, nicht einfachhin als gottgewollt bezeichnen. Abschließend ein Beispiel aus der Reproduktionstheorie, die In-vitro-fertilisation. Die „Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung" (1987) lehnt jede extrakorporale Befruchtung als in sich 16 Graf Vitzthum (Fn. 6), S. 824, faßt die Argumente zusammen, die dem „Aufopfern" von Embryonen einen „das Verbrauchen' entschuldigenden Sinnbezug" einstiften sollen. 17 Hofmann (Fn. 13), S. 260.
Bioethische Argumentation m i t der Menschenwürde?
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unsittlich ab. Als wichtigstes Argument wird vorgebracht, daß hier der Anfang des menschlichen Lebens aus der naturgegebenen Einheit mit der liebenden Hingabe herausgebrochen wird. Einige Moraltheologen hatten zuvor ein bedingtes Ja zur extrakorporalen Befruchtung gesagt - ein bedingtes, das heißt näherhin: wenn die extrakorporale Befruchtung die einzige Möglichkeit ist, einem Ehepaar seinen Kinderwunsch zu erfüllen, wenn dieser Kinderwunsch ein sittlich legitimer ist, wenn es sich um eine homologe Befruchtung handelt und wenn alle befruchteten Eizellen implantiert werden. Die Diskussion ist noch ingang. Man kann und muß gewiß grundsätzlich fragen, ob in den Fortpflanzungsvorgang (Geschlechtsverkehr, Befruchtung, Austragen der „Frucht") überhaupt eingegriffen werden darf. Aber es muß eben auch noch viel grundsätzlicher, als es bis jetzt geschehen ist, die Frage gestellt werden, ob eine technologische Vermittlung im Vergleich mit der natürlichen „Unmittelbarkeit" vielleicht nur eine andere, von uns noch nicht hinlänglich wahrgenommene, und noch nicht einmal notwendig eine geringere anthropologische Relevanz besitzt. Angesichts der Tatsache, daß die Technik schon bald in einer bisher nicht erlebten Mächtigkeit zur „zweiten Natur" des Menschen wird, sollte diese Frage philosophisch und theologisch gründlich reflektiert werden. Die Fronten der ethischen Diskussion verlaufen heute anders als vor 50 Jahren.
Π. Grundsätzliche Überlegungen
Die ethische Argumentation, die im Vorausgehenden anhand einiger konkreter Sachfragen aus dem Bereich der Biotechnik nur angedeutet werden konnte, bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Es läßt sich nicht vertuschen: Die hermeneutische Misere der wissenschaftlichen Ethik ist letztlich unaufhebbar. Es ist hilfreich, sich dies im Hinblick auf die wichtigsten Probleme bewußt zu machen. 1. Erkenntnisschwierigkeiten
allgemeiner
Art
Wenn wir versuchen, in konkreten Handlungssituationen ethisch bedeutsame Elemente zu erheben und für ihre Bewertung die Vorstellung der Menschenwürde zur Geltung zu bringen, kommen jeweils mehrere Erkenntnisweisen ins Spiel, ohne daß mit Sicherheit zu sagen wäre, welche dabei schließlich den Ausschlag gibt: - das traditionelle durch Sozialisation vermittelte (zunächst unreflektierte) „Vorverständnis"; - eine „ursprünglich synthetische Erkenntnis", die allem Denken vorausgeht, zugleich aber für alles Denken offen ist und eine „intuitive Gewißheit" über das menschlich Richtige hervorbringt 18 ;
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- die „rationale Argumentation", die mit einem vorweisbaren methodischen Instrumentarium Prinzipien und Entscheidungskriterien sowie normative Festlegungen oder orientierende Modelle richtigen biotechnischen Handelns zu finden und zu begründen sucht; und schließlich - ein menschlicher, im theologisch-ethischen Denken auch ein christlicher „Instinkt", der sich allmählich bilden und'in den letztlich undurchdringlichen Grauzonen zwischen Vorverständnis, Intuition und rationaler Argumentation sich als eine Art „Witterung" für den rechten Weg bewähren kann. Die theologische Reflexion kann diese Erkenntnisschwierigkeiten nicht beseitigen, weil die christliche Botschaft keine konkret-materialen Weisungen für biotechnisches Handeln auszeitigt. Das christliche Gesamtverständnis der Wirklichkeit wirkt sich freilich sehr wohl in zwei Dimensionen aus: im Bereich der Grundhaltungen und Motivationen sowie im Prozeß der Findung des menschlich Richtigen (Normenfindung) - hier insofern es die Möglichkeit eröffnet, alle Bemühungen um geglücktes Menschsein auf das im Glauben einsichtige Ziel hinzuordnen (integrierender Effekt), bestimmte in der Gesellschaft geltende oder diskutierte biotechnische Vorstellungen kritisch zu bewerten (kritischer Effekt) und schließlich über minimalethische Positionen hinaus zu hochethischen Gestaltungen des Menschseins voranzuschreiten (stimulierender Effekt). 2. Der harte Kern der ethischen Argumentation Unsere Überlegungen machen deutlich, daß im Vergleich mit Wissenschaften, die exakte oder auch nur sog. exakte Methoden anwenden, im Umkreis der ethischen Argumentation manches unsicher bleibt und darum schwer zu vermitteln ist. Ein harter Kern ethischer Argumentation kann sich nur bilden, wo der „kategorische Imperativ", daß der Mensch „immer auch als Zweck an sich selbst" zu betrachten und zu behandeln ist, als unbedingt geltend akzeptiert und inhaltlich in dem Sinne bestimmt wird, daß menschliches Leben schon in der Anfangsphase von der - läßt man ihm nur seinen Lauf - unweigerlich intendierten Individualität und Personalität her zu bewerten ist. Das Problem liegt darin, daß dieses kategorische Element in einer pluralen Gesellschaft nicht mit einem vollen Konsens rechnen kann. Es gibt nun einmal in einer pluralen Öffentlichkeit keine Instanz, die über Recht und Unrecht autoritativ entscheidet; es können in ihr auch nicht bestimmte „Gruppennormen" mit allgemein gültigem Anspruch durchgesetzt werden. Wohl aber werden in der redlichen und entschiedenen Kon18 Vgl. Karl Rahner, Zum Problem der genetischen Manipulation, in: Schriften zur Theologie, Bd. VIII, S. 286 - 321, hier S. 303-310.
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kurrenz der Interpretationen und Argumentationen Wahrheiten und Geltungen als offenes Gefüge von Sinngestalten und Ordnungsstrukturen „erscheinen" und sich in der sozialen Kommunikation vermitteln. Unbedingte Sollensansprüche, die von bestimmten Überzeugungsgruppen, wie etwa den Kirchen, in die Gesellschaft eingebracht werden, können hier nur als Angebote und Orientierungshilfe zum Tragen kommen. Je überzeugender dies freilich geschieht, desto stärker schlägt es zu Buch, wenn es über den Prozeß der sittlichen Bewußtseinsbildung hinaus zu politischen Entscheidungen kommen muß. Die Träger der politischen Entscheidungsprozeduren sind Menschen, auf deren Überzeugung einzuwirken Recht und im Maß des Möglichen auch Pflicht jedes einzelnen und jeder Institution ist, denen an der Wahrheitsfindung in der Gesellschaft gelegen ist. Voraussetzung dafür ist, daß der offene Diskurs nicht nur zugelassen, sondern gesucht wird. Dabei müssen alle Karten - bis hin zu den Voraussetzungen und Methoden der Argumentation - auf dem Tisch liegen.
3. Das methodische Instrumentarium
der Argumentation
Der Maßstab des Richtigen ist in der Wirklichkkeit selbst angelegt. Die ethische Vernunft drängt sich auf in der Auseinandersetzung mit Erfahrungen, die sich für den biotechnisch Handelnden einstellen, wenn er nur das wahre Glücken des Menschseins als des einzigen kategorischen Selbstwerts im Visier hat - von Erfahrungen, die ihn zum Überstieg über das sachliche Handeln antreiben. Das entscheidende Prinzip, das allem Handeln zugrunde liegen muß, sind Würde und Wohl des Menschen. Die beiden Kriterien, durch die allein das Prinzip mit den ethisch bedeutsamen Elementen der konkreten Handlungssituationen vermittelt werden kann, sind die Rechtfertigung der Ziele und die Verantwortung der Folgen. Die Ziele menschlichen Handelns müssen gerechtfertigt, d.h. ihre allgemeine gesellschaftliche Dringlichkeit muß aus dem Sinnzusammenhang des menschlichen Lebens heraus einsichtig gemacht werden. Ihre Durchsetzung muß einen wahren Gewinn an Menschlichkeit in Aussicht stellen. Konkret muß jeder biotechnische Eingriff sich als Hilfe zu richtigerem und besserem Menschsein ausweisen lassen: als Instrument also der Befreiung des Menschen zu seiner Identität, als Instrument eines fürsorglichen Miteinanders des Menschen oder als Instrument der Sicherung seiner naturalen Lebensgrundlagen. Die Folgen menschlichen Handelns müssen verantwortlich erforscht und bei allen Entscheidungen bedacht werden. Erkannte Gefahren müssen vermieden, wahrscheinliche, wenn das Handeln notwendig wird, soweit als möglich minimiert werden. Daß man sich der hier anstehenden Probleme bewußt ist, zeigt z.B. die Tatsache, daß für den geplanten Ausbau der Wis-
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senschaftsstadt auf dem Oberen Eselsberg in Ulm fünf Lehrstühle für Technologiefolgenabschätzung vorgesehen sind. Zu den wichtigsten Aufgaben der Ethik gehört die Mitwirkung bei der Erarbeitung von Kriteriologien sowohl für die Rechtfertigung der Ziele als auch für die Verantwortung der Folgen biotechnischen Handelns. 4. Der anzustrebende Konsens Da im Bereich der Gentechnologie und der Reproduktionstechnologien nicht nur das sittliche Bewußtsein gebildet werden muß, sondern politische und rechtliche Entscheidungen anstehen, ist ein möglichst weitreichender Konsens über die Grundorientierung und über die einzelnen Sachfragen anzustreben. Die Grundorientierung läßt sich in drei Forderungen konkretisieren: a) Jede ernsthafte Gefährdung von Leben und Gesundheit von Menschen ist auszuschließen. Wie schwer hier Einzelheiten festzulegen sind, zeigt der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Chancen und Gefahren der Gentechnologie" (1986). b) Die Subjektqualität des Menschen ist zu achten. Der Ansatz für eine Konsensbildung darüber, was konkret anzustreben und vor allem auszuschließen ist, kann darin gefunden werden, daß man bestimmte Handlungen mit kategorischer Eindeutigkeit als „Verletzungen" der Menschenwürde namhaft macht. Die Chancen dafür sind nicht schlecht. Als Beleg dafür sei ein Katalog von Experimenten an Embryonen angeführt, den Hermann Hepp, Direktor der Frauenklinik im Klinikum Großhadern der Universität München, in einem „Editorial", das er im Auftrag der Herausgeber der Zeitschrift „Gynäkologie" verfaßt hat, aufführt. Der Verfasser schreibt, es bestehe „national und übernational . . . ein breiter Konsens darüber, (daß folgende) Untersuchungen mit Embryonen ethisch nicht vertretbar sind und daher uneingeschränkt abgelehnt werden: • Forschung an Embryonen, die am Tiermodell verwirklicht werden kann; • Forschung an Embryonen ohne Einwilligung der genetischen Eltern nach vollständiger Aufklärung; • Forschung, bei der der Embryo über einen Entwicklungszustand in vitro kultiviert wird, der dem 14. Tag nach der Befruchtung in vivo entspricht; • Forschung mit künstlicher Mehrlingsbildung (Klonierung); • Vereinigung von mehreren Embryonen oder Teilen davon (Chimärenbildung); • Experimente und Methodenentwicklung einer Geschlechtsselektion; • Eingriffe mit dem Zweck gentherapeutischer Veränderung der Keimbahn; • Erzeugung von Mischwesen aus Mensch und Tier (Interspecies-Hybridisierung);
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• Genetische Manipulation an Embryonen mit dem Ziel, Persönlichkeitsund Charaktereigenschaften zu verändern . . ," 1 9 . Es braucht kaum angemerkt zu werden, daß dieser Katalog durch die wissenschaftliche Ethik voll abgedeckt wird. Man kann nur hoffen, daß der hier bereits vorliegende Konsens sich auf weitere Fragen ausdehnen läßt. c) Die Bereitschaft des Menschen, unaufhebbare Verfügtheiten seines Daseins hinzunehmen, darf nicht auf die Dauer ausgehöhlt werden. Ebenso wesentlich wie die Selbstverfügung ist für den Menschen die Verfügtheit. Er setzt sich nicht selbst in die Welt, er findet sich als einen in die Welt Gesetzten und in sie hinein Preisgegebenen vor. Er muß seine lebensgeschichtlich bedeutsame genetische und soziale Vorprägung als seine Ausgangsbasis annehmen. Auch zunehmende freiheitliche Selbstverfügung vermag den Status der Verfügtheit nie aufzuheben, so sehr sie ihn konkret zurückdrängen mag. Seine redliche Annahme gehört zu den Grundaufgaben der sittlichen Existenz des Menschen, und darum darf die Bereitschaft dazu nicht auf die Dauer ausgehöhlt werden. ΠΙ. Abschließende hermeneutische Überlegungen
1. Naive Vorstellungen Unsere Frage heißt: Wie kann das Prinzip Menschenwürde, das zum Schlüsselbegriff des modernen Bewußtseins geworden ist, in konkreten biotechnischen Handlungssituationen zum Tragen kommen? Jedenfalls müssen wir allzu naive Vorstellungen hinter uns lassen. Man kann die Vorstellung Menschenwürde nicht einfach „anwenden", „applizieren", „auswerten" oder „operational auslegen". Man kann Weisungen für richtiges Handeln nicht aus der Menschenwürde einfach „erschließen" oder „ableiten". Diese Formeln vermochten schon die Naturrechtslehre nicht mehr plausibel zu machen; sie ist schließlich - in ihrer eigentlichen Sache sehr zu unrecht - in Mißkredit geraten. Viele ihrer Vertreter glaubten, sie könnten sich, nachdem die Doktrin zumindest optisch perfekt systematisiert und metaphysisch bzw. theologisch begründet war, den mühsamen Umgang mit der Wirklichkeit und der menschlichen Erfahrung durch den Paradeschritt schlüssiger Syllogismen ersparen.
19 H. Hepp, Editorial. Reproduktionsmedizin im Spannungsfeld von Ethik und Recht, in: Gynäkologie (1988), 1 - 12, hier 10f.
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2. Die Formel von der „ Vermittlung" zwischen dem Prinzip Menschenwürde und konkreten Inhalten menschlichen Handelns Wolfgang Kluxen geht davon aus, daß der Übergang von einem allgemeinen Grundsatz zu konkreten Handlungsorientierungen „nicht allein durch die Evidenz des rationalen Zusammenhangs" sichergestellt ist. Es bedürfe dafür vielmehr „einer Vermittlung, bei der traditionelle Vorgaben, geschichtliche Erfahrungen, gesellschaftliche Prozesse, also die Fülle der kulturellen Bedingungen eine Rolle spielen, unter denen ein Ethos faktische Geltung hat" 2 0 . Dies bedeutet, daß auch rationale Elemente - im Bereich der ethischen Rationalität gilt dies sogar von fundamentalen Einsichten, etwa der Einsicht in die Menschenunwürdigkeit der Sklaverei, durch kulturelle Vermittlung, d. h. geschichtlich-kontingent hervortreten, daß dafür zumeist eine lange Entwicklung notwendig und die Gafahr von Rückschlägen nicht auszuschließen ist. Geschichtlich-kontingente Entstehung impliziert jedoch nicht Beliebigkeit und Unverbindlichkeit. Auch geschichtlich vermittelte ethische Einsichten sind im strikten Sinn verbindlich: Sklaverei, Polygamie und Aussetzung unerwünschter Kinder verlieren ihre ethische Legitimation, sobald man sie als Verletzungen der Menschenwürde zu erfahren beginnt. 3. Der vorwiegend induktive Weg der sittlichen Erkenntnis Der Mensch ist nie anders an konkrete weltethische „Weisungen" gekommen, als indem er sich mit der Wirklichkeit eingelassen, dabei gute und schlechte Erfahrungen gemacht, diese Erfahrungen reflektiert und das Ergebnis seiner Reflexion in der Sprache der sittlichen Verbindlichkeit artikuliert hat. Ganz offensichtlich ist der Wirklichkeit der Maßstab des Richtigen immanent. Wer ihn findet und sich an ihn hält, kommt zu einem freien und erfüllten Leben, in dem seine Würde als Mensch aktuiert wird. Wer ihn verkennt oder mißachtet, verbaut sich den Zugang zur Entfaltung der ihm aufgegebenen Würde als Mensch. 21 20 Fortpflanzungstechnologien und Menschenwürde, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 11 (1986), 1 - 15; hier 4f. 21 In paradigmatischer Weise zeigt die Weisheitsliteratur des Alten Testaments „den Menschen unterwegs zu verborgenen Ordnungen, die er vielleicht doch den Dunkelheiten der Welt und der Geschichte abgewinnen kann. Der Weg der Auffindung von Lebensregeln ist i n der Weisheitsliteratur weniger ein systematischer (philosophischer oder theologischer), sondern ein empirisch-gnomischer. ,Die empirischgnomische Weisheit geht von der hartnäckigen Voraussetzung aus: Es ist eine geheime Ordnung in den Dingen, in den Abläufen; sie muß ihnen freilich erst in großer Geduld und durch allerlei schmerzliche Erfahrungen abgelauscht werden.' Die Weisheitsliteratur vermag dies dadurch, daß sie die konkrete Erscheinungswelt auf Ordnungen hin abgetastet und sich dabei bewußt bleibt, daß die aus der Erfahrung gewonnenen Einsichten immer korrigibel bleiben. Die Erfahrungswelt Israels ist der »angestrengte Versuch zur rationalen Auflichtung und Ordnung der Welt, in der sich der Mensch vorfindet, der Wille zur Erkenntnis und Fixierung der Ordnungen in den Abläufen des
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Die christliche Botschaft kann ihren spezifischen Beitrag zur „Auflichtung und Ordnung der Welt" nur leisten, wenn sie mit den rationalen Bemühungen ins Gemenge kommt. Beide Betrachtungsweisen, die rationale und die christliche, verschmelzen miteinander, indem die Glaubenden, wie es in der Weisheitsliteratur demonstriert wird, ständig zwischen beiden hin und her gehen. Ihre innere Einheit ist freilich auch angestrengten synoptischen Bemühungen selten erfahrbar. Auf dem induktiven Weg der sittlichen Erkenntnis kommt die Vorstellung der Menschenwürde auf verschiedene Weise zum Tragen. Als Grund- und Gesamtverbindlichkeit, die mit dem Menschsein gegeben ist, ist sie ständig präsent. In Form eines noch wenig reflektierten Vorverständnisses nimmt sie der Mensch in seine Handlungssituationen hinein und wird durch sie für die darin immanenten menschlich und sittlich bedeutsamen Elemente sensibilisiert. Sie inspiriert die durch die Erfahrung sich immer wieder auslösenden Reflexionen als ständiges Korrektiv, als verlässiges Prüfungskriterium, als Verifikations- bzw. Falsifikationsinstanz, vor der unsere Urteile und Entscheidungen entweder bestätigt oder verworfen werden. Und sie drängt schließlich als stimulierender Impuls den reflektierenden Menschen voran, damit er in neuen Entwicklungen neue Möglichkeiten ihrer Entfaltung wahrnehme. In diesem Prozeß erfährt auch die Vorstellung von Menschenwürde selbst einen Zuwachs an Klarheit, Dringlichkeit und Wirklichkeitsnähe. Einzelne Elemente des in ihr implizierten Sollensanspruchs werden überhaupt nur in diesem Prozeß „erscheinen", insofern eben erst in konkreten Versuchen der „Vermittlung" zwischen dem Prinzip Menschenwürde und menschlichen Handlungssituationen „der ethische Groschen fällt". Es gehört zum Geschäft der Ethik, Ziele zu formulieren, Forderungen zu erheben und Modelle guten und richtigen Handelns in den verschiedenen Lebensbereichen zu entwickeln. Natürlich müssen Ziele, Forderungen und Modelle ihre Rationalität und Plausibilität in sich selber haben. Aber zum Aufweis ihrer Rationalität und Plausibilität gehört ohne Frage auch, daß ihre Übereinstimmung mit unserer Vorstellung von Menschenwürde deutlich wird. Auch konkrete normative Verbindlichkeiten müssen als Konkretionen des Sollensanspruchs der Menschenwürde verifizierbar sein. Für die Ethik ist dieser Sollensanspruch also nicht in der Art zuhanden, daß ihm Konkretionen einfach durch Ableitung oder Explikation entnommen werden könnten. Es ist mit der Menschenwürde ähnlich wie bei Thomas von Aquin mit dem „ewigen Gesetz": Die lex aeterna figuriert bei Thomas als Interpretament. Sie stellt für ihn nicht eine apriorische, dem Menschen menschlichen Lebens ebenso wie bei den natürlichen Phänomenen." Alfons Auer, Umweltethik. Ein theologischer Beitrag zur ökologischen Diskussion, Düsseldorf 2 1985, S. 229f. (Die Zitate im Zitat stammen von Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. I, München 51966, S. 433f., 438.)
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unmittelbar zugängliche Evidenz, sondern ein aposteriorisches Legitimationsinterpretament menschlicher Einsichten dar. Die Vorstellung des ewigen Gesetzes dient dazu, die auf dem Weg der Erfahrungen mühsam gewonnenen Einsichten in die wichtigsten Konstanten einer erfüllten menschlichen Existenz theologisch zu begründen, indem sie diese in den letzten Sinnhorizont des Glaubens hineinstellt. 22 Ethische Reflexion tut immer not - besonders dann, wenn die Prinzipien oder die konkreten Normen der Moral ihre Plausibilität im öffentlichen Bewußtsein eingebüßt haben. Sie ist unverzichtbar, aber sie ist für die Begründung des Ethos nicht hinreichend. Ethos lebt vielmehr aus dem Junktim einer ganzen Reihe von Gegebenheiten und Einstellungen; dazu gehören vor allem -
Vorgaben der Tradition und der Autorität, Vergewisserungen aus der Erfahrung, Entfaltung von Vernunft, Freiheit und Gewissen, Eingebundenheit des einzelnen in tragende Überzeugungsgemeinschaften und schließlich - last not least - entschiedenes Urvertrauen in den Gang der Dinge, theologisch formuliert: unerschütterliches Vertrauen auf das Zusammengehaltensein der Welt und der Geschichte „von oben her". In diesem Junktim hat die ethische Reflexion ihre unvertretbare Funktion. Darum muß die Ethik - vor allem in einer nach Aufklärung über sich selbst verlangenden Gesellschaft - ihre Argumente „einer freien und öffentlichen Prüfung" (Kant) aussetzen. Sie muß sich allerdings dabei bewußt bleiben, daß die Wahrheitsfähigkeit ihrer Urteile auch durch deren streitbare „Veröffentlichung" immer nur annähernd eingelöst werden kann. Welch ein Glück für die Menschheit, daß die wissenschaftliche Ethik nicht die einzige Instanz ist, die in der Vermittlung sittlicher Orientierungen und Verbindlichkeiten am Werk ist.
22 Vgl. Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964, S. 234.
Die Wiederentdeckung der Natur Ein kritischer Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion Von Hans Michael Baumgartner 1. Natur und Krisenerfahrung „Natur" ist zu einem die Öffentlichkeit bewegenden Thema geworden. Es überrascht allerdings nicht, daß es nicht aus internen Problemen der philosophischen Reflexion hervorging. Denn die Naturphilosophie hatte, so schien es wenigstens noch vor kurzem, ausgedient; von ihr waren Übriggeblieben einerseits eine analytisch verfahrende Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, auf der anderen Seite sporadisch auftretende philosophische Fragen, die sich an spezielle naturwissenschaftliche Ergebnisse, z.B. der Quantenphysik oder der Relativitätstheorie, anschlossen. Der Naturbegriff war sonach de facto kein philosophisches Thema mehr. Wenn nicht in der Philosophie, dann - so ließe sich fragen - ist „Natur" womöglich Gegenstand der Naturwissenschaften selbst? Wird sie thematisiert in der Quantenmechanik, der Elementarteilchenphysik, in der Kosmologie unter dem Problemtitel „anthropisches Prinzip"; ist sie Gegenstand in der Theorie komplexer Systeme bei der Erörterung der Frage nach der „Selbstorganisation der Materie" oder in der Biologie: in der Genetik, der Soziobiologie oder, allgemein, in der Evolutionstheorie? Betrachtet man das hier Verhandelte genauer, so erkennt man, daß die Naturwissenschaften zwar bedeutungsvolle Einsichten für unser Verständnis von Natur liefern, daß der Begriff der Natur indessen nicht oder doch nur sehr vage und unbestimmt in ihnen vorkommt. Bereits ein nur oberflächlicher Blick in naturwissenschaftliche Lehrbücher bestätigt, daß der Naturbegriff nicht erörtert wird. Die Naturwissenschaften reden nicht von der Natur, jedenfalls nicht direkt. Thema und Problem der Natur werden daher wiederentdeckt weder aus philosophie- noch aus wissenschaftsinternen Gründen: Während der Naturbegriff heute de facto keinen ausgezeichneten Gegenstand philosophischer Reflexion mehr darstellt, wird er in den Naturwissenschaften wohl auch deswegen nicht thematisiert, weil er in ihnen prinzipiell nicht zum Thema gemacht werden kann. „Natur" ist kein Gegenstandsbegriff, er bezeichnet nicht ein sinnlich wahrnehmbares, empirisch erforschbares Objekt, sondern
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besitzt einen metawissenschaftlichen Status: „Natur" ist ein UniversalBegriff, er bezeichnet ein umfassendes Konzept zur Deutung von Kenntnissen, mittels deren w i r uns als Menschen im Verhältnis zu und mit Beziehung auf die uns bestimmende, nicht-menschliche (Um-)Welt verstehen. Sich der Reflexion auf die uns umgebende Welt verdankend, ist „Natur", so ließe sich mit Mittelstraß sagen, ein philosophischer Begriff, der einzelwissenschaftliche Kenntnisse ebenso transzendiert wie die unserer natürlichen Lebenswelt; da diese in gleicher Weise auf dieses oder jenes Wirkliche, auf Seiendes in ganz bestimmten Zusammenhängen, nicht aber auf ein Ganzes von Welt bzw. Natur abzielen, ist der Naturbegriff daher auch nur zum Schein ein Begriff unserer Lebenswelt. Natur ist vielmehr, seinem Ursprung und seinem Gehalt nach, ein Begriff des menschlichen Geistes, von dem allerdings in Frage steht, wie er diesem Geist präsent wird, ob er berechtigt, ausweisbar und sinnvoll ist. Verbinden sich mit der Wiederkehr der Frage nach der Natur als einem irritierenden und die Öffentlichkeit bewegenden Thema auch nicht philosophie- oder wissenschaftsinterne Gründe, so doch aktuelle Probleme, die sich beschreiben ließen als Krisenerfahrungen im Zusammenhang mit den Folgen unseres technisch-instrumentellen Handelns, - Erfahrungen, die unter dem Stichwort einer Dialektik der Technik namhaft gemacht werden können. Zu denken ist an die drohende Überbevölkerung der Erde durch die Fortschritte in Medizin und Hygiene und an die Erfahrung, daß das von jedermann anerkannte Positive in diesen Fortschritten: wie die größere Lebenserwartung einerseits, die Möglichkeit des Zusammenlebens großer Massen auf engstem Raum andererseits, in der Konsequenz der großen Zahl zu einem Problem wird und ins Negative umschlägt. Zu denken ist auch an die drohende Selbstzerstörung der Menschheit durch die technische Umsetzung physikalischer und biologischer Erkenntnisse in nukleare und biochemische Waffensysteme, obgleich jedoch andererseits die Beherrschung der Atomkräfte in Spaltung oder Fusion von Atomkernen vermutlich eine große Bedeutung für die Energiegewinnung der Menschheit der Zukunft besitzen wird. Andere problematische Folgen des technisch-industriellen Handelns sind die Verwüstung von Landschaften, Klimazonen und Lebensräumen, die Erschöpfung der Rohstoffvorräte, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, Luftverschmutzung, Vergiftung von Nahrung und Boden. Alles dies sind unbestritten ökologische Probleme: und auch sie sind Folgen des Fortschritts, die als Krise erfahren werden. Hinzu kommen die noch bedenklicheren Folgen, die technologisch umgesetzte wissenschaftliche Erkenntnisse, namentlich in den Biowissenschaften, für den Menschen selber bergen. Die jüngst diskutierte Problematik, wie mit der Gentechnik umzugehen sei, und die Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu dem
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berechtigten Versuch des Bundesjustizministers, hier Grenzen zu setzen, verweisen auf ein weiteres Problem des wissenschaftlich-technischen Fortschritts: die drohende Manipulation des Menschen durch den nunmehr möglichen Eingriff in die Keimbahn. Zu denken ist schließlich an die drohende Entfremdung und Verdinglichung des Menschen durch Bürokratisierung einerseits, durch Verhaltenstechnologie andererseits, die beide mit der Gefahr einhergehen, daß Menschen für Menschen am Ende nichts anderes sind als Mittel zu beliebigen Zwecken. Die angesprochene Dialektik der Technik hat drei Facetten. Dialektik heißt erstens, daß die Herrschaft des Menschen über die Welt in die Zerstörung der Welt und des Menschen umzuschlagen droht; zweitens: daß der Mensch ineins mit seiner Herrschaft über die Natur schließlich sich selber nur noch als Naturobjekt begreifen kann; und drittens: daß die Verbreitung der Technik über die Erde (vor allem auf den Sektoren Verkehr und Kommunikation) die Menschheit nicht nur verbindet, sondern zugleich nivelliert: Indem die ganze Erde zum Lebensraum des Menschen, zur One World der einen Menschheit wird, verlieren die Menschen ihre Wurzeln, werden sie einsam, isoliert und ihrer Herkunft, Heimat und Kultur entfremdet. Dialektik der Technik bedeutet daher die Erfahrung: Der Fortschritt der wissenschaftlich-technischen Kultur führt zur Zerstörung der Natur, zu Verdinglichung und Heimatlosigkeit des Menschen. Diese Erfahrung der Dialektik der Technik läßt vermuten, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur gestört ist; sie macht zugleich verständlich und dringlich, daß dieses Verhältnis jedenfalls neu erwogen und konzipiert werden muß, soll technisches Handeln nicht in Umwelt- und Selbstzerstörung des Menschen, in seine irreversible Entfremdung und in manipulative Selbstverdinglichung umschlagen. Eben darin liegt der tiefere Grund, warum in der gegenwärtigen Diskussion Natur neu thematisiert wird. Und eben deshalb gibt es eine Vielzahl von Versuchen, die in der Dialektik der Technik sichtbar werdende Krise zu bewältigen. Im Vordergrund stehen, sieht man von den bekannten Fluchtreaktionen ins Idyll, ins Private, ab, drei typische Versuche. Ein erster Versuch ist die pragmatistische Lösung. Nach den Prinzipien des Kritischen Rationalismus Poppers empfiehlt sie eine piecemeal technology: die Strategie, nichts zu überstürzen, die Probleme nicht global und im Ganzen, vielmehr Schritt für Schritt zu bewältigen. Auf dieser Linie wird, unter dem einleuchtenden Aspekt, daß humanes Leben bei einer solchen Vielzahl von menschlichen Wesen nur durch Technik garantiert werden kann, die Lösung des Problems der schädlichen Folgen und Nebenfolgen technischinstrumentellen Handelns von dem Ausbau und der Verbesserung der Technik selbst erwartet. Als Beispiel hierfür sei der Ansatz von Hermann Lübbe
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genannt, dessen Plädoyer im Grunde einer ungefährlicheren, schadstoffärmeren Technik gilt, und dessen Ziel die Bewältigung der Technikfolgen durch die Technik selbst ist. Den zweiten Versuch könnte man als die rein ethische Lösung bezeichnen, die allerdings zugleich auch durch einen spekulativen Einschlag gekennzeichnet ist. Beispiel hierfür ist der Versuch von Klaus Michael MeyerAbich. Ihm ist daran gelegen herauszustellen, daß die Natur im ganzen aufgrund ihrer Evolutionsgeschichte, aus der wir Menschen schließlich mit hervorgegangen sind, als „Mitwelt" aufzufassen sei, daß sie dementsprechend als ein Wesen mit eigenem Recht betrachtet werden müsse und es darauf ankäme, Frieden mit ihr zu schließen. In problematischer Weise werden hier jedoch ethische Begriffe verwendet, die, wie „Recht der Natur", „Frieden mit der Natur", nur für handlungsfähige Wesen, d.h. für den homo sapiens, einen guten Sinn haben. Setzt nämlich „Recht" eine Art von Symmetrie zu „Pflicht" voraus, so kann in einer engeren Bedeutung nicht von „Rechten der Natur" gesprochen werden. Hans Lenk hat aus diesem Grunde den Versuch unternommen, in bezug auf Naturwesen von „Quasi-Rechten" zu sprechen. Tragen nun aber die Menschen nicht nur aus Gründen des eigenen Überlebensinteresses, sondern auch um anderer Gesichtspunkte willen, zweifellos die Verantwortung dafür, daß der Kosmos, die Welt, die Natur, die Umwelt nicht über die Maßen und über das Nötigste hinaus geschädigt werden, dann erscheint es um so dringlicher, das schwierige und von MeyerAbich nur unbefriedigend gelöste Problem anzugehen, auf welche Weise der Natur überhaupt ein „Recht" zukommen und „Friede" mit ihr geschlossen werden kann. Den dritten Typus von Versuchen möchte ich mit dem Begriff „philosophische Lösungen" umschreiben, wobei mit „philosophisch" weder bloß pragmatistische noch rein ethisch-praktische Konzeptionen, sondern Ansätze bezeichnet sein sollen, die in umfassender Weise das Verhältnis von Natur und Mensch zu begreifen suchen. Gemeinsam ist den verschiedenen philosophischen Varianten eine spezifische Deutung der Technik-Dialektik und der aus ihr erwachsenen ökologischen Krise. Die Krise wird dabei als Resultat einer falschen Weltsicht interpretiert, der w i r unterliegen und deren Paradigma sich insbesondere der neuzeitlich empirisch-exakt verfahrenden Naturwissenschaft verdankt, nämlich: dem mechanistischen Weltund Naturkonzept, das, in Robert Boyles Programm eines „kosmischen Mechanismus" (1688) begründet, von Huygens und Newton realisiert wurde. Gemeinsam ist darum allen diesen philosophischen Konzeptionen auch die Forderung nach einem Bewußtseinswandel, mit dem freilich nicht die Abschaffung der experimentell verfahrenden Naturwissenschaft, wohl aber deren Kompensation gefordert wird. Folgende drei philosophische Konzepte seien hervorgehoben und in Stichworten skizziert:
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Der Versuch Robert Spaemanns und mancher seiner Mitdenker und Schüler, das klassische vorneuzeitliche Verständnis von Natur und Mensch gegen seine naturalistische Verkehrung wiederzugewinnen: durch den Aufweis, daß Mensch und Natur ein gemeinsames Ganzes darstellen, insofern die Natur, über einen bloßen Kausalmechanismus hinaus, zugleich eine Art poietischer, d.h. Handlungs-Struktur besitzt, so daß sie als teleologische Natur „rehabilitiert" werden kann. Der Versuch Walther Zimmeriis, der an die spekulative Naturphilosophie des Deutschen Idealismus anzuknüpfen sucht. Zimmerli argumentiert: Der Mensch als Bewußtsein, als Ich, ist selbst Natur. Das heißt: „Die Natur strukturiert sich [selbst] in dem Maße, in dem ich sie mit meinem Bewußtsein denkend und handelnd erfassen kann. . . . die Natur, und zumal die menschliche, ist nicht nur Gegenstand (Objekt) meines zweckrationalen Handelns und meiner Wissenschaft, sondern sie macht darüber hinaus und diesem allem vorausliegend auch den subjektiven Faktor des erkennenden und handelnden Selbst mit aus." Naturwissenschaft in diesem Sinne ist Resultat einer spezifischen „Selbstbezüglichkeit (Reflexivität) der Natur selbst". Im menschlichen Erkennen äußert sich Natur, und dieses SichÄußern, das zu ihrer eigenen Erkenntnis führt, bedeutet daher eine Art von Selbstreflexivität von Natur. „Das heißt", so fährt Zimmerli fort, „daß die Natur bei ihrem Sich-auf-sich-Beziehen oder Reflexiv-Werden, das w i r »Bewußtsein« nennen, so gedacht werden muß, daß sie sich in verschiedener Weise zum Thema macht: zum einen als materiell gesetzmäßige und notwendige Natur", woraus die Naturwissenschaft im herkömmlichen Verständnis entspringt; „zum anderen als die thematisierende, als die ideell-freie Natur", wodurch, im weitesten Sinne, die Geisteswissenschaften entstehen. Zum dritten als „eine praktisch-poietische Hybrid-Koppelung von beidem", die zu Technik oder - in neueren Zeiten - zu Technologie führt. „Aber es ist ganz fraglos - so betrachtet - dieselbe Natur" (vgl. Zimmerli, S. 151). Die Geschichte des Naturdenkens ergibt sich aus dieser Perspektive als „die Geschichte des Ahnens und der Verdrängung eines solchen integrierenden Naturkonzepts" (ebd., S. 152). „Natur ist nicht ein Gebiet, neben dem es noch andere gäbe, sondern Natur meint das Wachsen des Seins in seinen Grunddimensionen des Ansich- und Fürsich-seins" (ebd., S. 153). Zweifellos hat hier der Deutsche Idealismus, vor allem in Form der Hegeischen Philosophie, Pate gestanden. Der dritte zu erwähnende Versuch wurde von Fritjof Capra in seinem Buch „Wendezeit" entwickelt. Capras Forderung nach einem ganzheitlich ökologischen Denken ist der modernen Physik, wie sie sich nach der quantenmechanischen und relativitätstheoretischen Revolution herausgebildet hat, verpflichtet. Er knüpft an die Erkenntnis der Quantentheorie an, dergemäß sub atomare Teilchen nicht als einzelne Körnchen von Materie, son3 Festschrift P. Mikat
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dem als Wahrscheinlichkeitsstrukturen aufgefaßt werden müssen, d.h. als Zusammenhänge in einem unteilbaren kosmischen Gewebe, das den menschlichen Beobachter und sein Bewußtsein mit umfaßt. Capra hebt hervor, daß die Relativitätstheorie dieses kosmische Gewebe näher thematisiert, gewissermaßen dessen dynamischen Charakter enthüllt und gezeigt habe, daß Aktivität sein ureigenstes Wesen ist. Die Vorstellung eines gekörnten atomaren Weltalls ist damit aufgegeben: Es gibt nur noch durch Energiestrukturen bestimmte Aktivität. Die Erkenntnis der Konkretisierungen dieser Energiestrukturen durch den Menschen impliziert, daß das menschliche Wesen selbst dem kosmischen Gewebe zugehört, so daß sich auch das menschliche Bewußtsein als ein Moment von Energiestruktur erweist: Es gewinnt in dieser Sicht eine analoge Struktur wie die Welt der Natur im ganzen. Dies aber bedeutet, daß die moderne Physik das Bild vom Universum entscheidend verwandelt hat. Für Newton war die Welt eine Maschine, jetzt ist sie ein dynamisches Ganzes, dessen Teile grundsätzlich in Wechselbeziehungen zueinander stehen und nur als „Muster eines kosmischen Prozesses" verstanden werden können. „Es herrscht Bewegung", so lautet einer der Schlüsselsätze dieses Konzeptes, „doch gibt es letzten Endes keine sich bewegenden Objekte; es gibt Aktivität, jedoch keinen Handelnden, es gibt keine Tänzer, sondern nur den Tanz" (Capra, S. 97). Alle diese philosophischen Konzepte, vor allem das Capras, vermitteln und dies fällt auf - Züge einer (Re-)Poetisierung von Wirklichkeit und Natur und fordern die Frage heraus, ob sich in ihnen nicht möglicherweise eine neue Romantik zum Ausdruck bringt: Romantik wie ehedem als Gegenbewegung gegen Aufklärung. Ich resümiere: Bei den genannten philosophischen Konzepten handelt es sich nicht um pragmatische oder ethische Lösungsversuche des Problems der Technik, sondern um Versuche, die alle für einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel eintreten: Sie alle fordern ein neues Verhältnis zur wissenschaftlich-technischen Kultur, nicht ihre Abschaffung, und als Voraussetzung dafür ein neues, wenn auch spekulativ je verschieden begriffenes, Verhältnis von Mensch und Natur, in dem die neuzeitlichen abstrakten Gegenüberstellungen - von Subjekt und Objekt, von Kausalität und Teleologie, von Materie und Geist, von Mechanismus und Leben - aufgehoben sein sollen. Alle diese Versuche intendieren eine vermittelnde Versöhnung von Mensch und Natur, die zugleich religiös-mystische und ästhetische Züge tragen kann und trägt. Dieser spekulative Charakter von Versöhnung erinnert an die Epoche des Deutschen Idealismus - bei Zimmerli ausdrücklich und an die Bewegung der Romantik gegen die Aufklärung. Natur w i r d wieder zu einer umfassenden Einheit, sie wird erneut gedacht als organische Totalität, in der sich der Mechanismus der Natur mit der Freiheit des menschlichen Wesens verbindet. Aber es bleibt zu fragen: Läßt sich ein sol-
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eher Naturbegriff, ein solches spekulativ-dialektisches Naturkonzept rechtfertigen? Ist ein solcher Begriff von Natur als einer organischen Totalität, als Alleinheit, in der der Mensch und sein Gegenüber zu einem Ganzen verwoben sind, philosophisch-argumentativ einlösbar? Und insbesondere: Läßt sich überhaupt ein spekulativer Begriff von Natur mit dem Verständnis von Natur, wie es neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik ausgebildet haben, noch verbinden? Der Begriff der Natur ist also selbst erneut zu bestimmen. 2. Der Begriff der Natur und die ihm innewohnenden Probleme Bereits in den allgemeinen Bestimmungen des Begriffs der Natur, die im folgenden entfaltet werden, liegen zentrale Probleme verborgen. Natur ist kein natürlicher Begriff, nicht ein Begriff der menschlichen Lebenswelt, es sei denn, man träte einen Schritt aus dieser Lebenswelt heraus und reflektiere auf sie und ihr Verhältnis zu der den Menschen umgebenden und bestimmenden Natur. Das aber ist schon eine Distanznahme philosophischreflektierender Art, die, anders als diejenige der Naturwissenschaften, nicht auf der Ebene des Alltags-Zugriffs auf Natur verbleibt. Was aber ist „Natur" dem Inhalt nach? Natur ist, so wird seit alters und mit Recht gesagt, das nicht von Menschen Gemachte. Denn Natur wird gedacht als etwas, das sich von sich aus bewegt, in gewissem Sinne seinen Ursprung aus sich selber hat, aus sich selber wächst und lebt, da ist durch sich selbst. In dieser Bestimmung von Natur wird eine Differenz gedacht zu demjenigen, was (nur) von Menschen gemacht ist. Dieses wiederum kann auf Typenbegriffe gebracht und dem Begriff der Natur entgegengesetzt werden. Dem Begriff der Natur ist so der Begriff der Kultur entgegengesetzt. Allerdings ist Kultur auf Natur bezogen. Denn Kultur ist zunächst Pflege und Bearbeitung des Bodens, Viehzucht etc. Zu ihr gehört aber auch die Gestaltung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, die aufgrund der Schwierigkeit, Menschen zu einem gemeinsamen Leben und Wirken zu verbinden, genötigt sind, Organisationsformen auszubilden wie die des Rechts: eine durch Recht verfaßte Gesellschaft. Das Recht (griech. nomos) ist deshalb ein Gegenbegriff zu „Natur": das, was von Natur aus ist, und das, was gemäß dem Recht, was durch Satzung ist, stehen sich gegenüber. Darum bezeichnete schon in der griechischen Philosophie der Gegensatz von Gesetz und Natur ein zentrales Problem menschlichen Zusammenlebens: Wonach soll sich der Mensch bestimmen: nach dem Gesetz oder nach seiner Natur? Was ist das eigentlich Rechte für den Menschen: das Natürliche oder das Gesetzte? Ein anderer Gegenbegriff zu Natur ist der der Kunst (techne, ars). Das Künstliche und auch die Kunst (im engeren Sinne), das Artifiziell-Techni3*
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sehe und die Poiesis, beides beruht auf menschlicher Tätigkeit, die die Natur sei es benutzt, sei es imitiert, jedoch Werk des Menschen ist und darum einen Gegenbegriff zum Natürlichen darstellt. Ein drittes Gegensatzpaar ist Natur und Geschichte. Natur als dasjenige, was von sich selber her ist, erweist sich als in gewisser Weise beständig und dauernd; - in gewisser Weise, denn sie kann sich verändern: durch Naturkatastrophen, durch Kräfte der Materie, durch Verschiebungen in der Gravitation; so spricht man davon, daß der Kosmos bzw. das Universum selbst eine Geschichte hat: der Kosmos im ganzen, aber auch einzelne Sterne; man sagt, daß Sterne „sterben". Allerdings ist dies eine andere „Geschichte" als jene, die der Gegenbegriff zum Naturhaften meint: die Geschichte der menschlichen Tätigkeit, die Geschichte der menschlichen Entwicklung, der Sozietäten, der Politik, Kultur etc. Natur als das nicht von Menschen Gemachte steht daher im Verhältnis und im Gegensatz zu Kultur, Kunst, Geschichte. Dabei w i r d Natur so verstanden, daß sie zugleich den Ursprung des Menschen mitmeint; denn auch der Mensch ist ein Wesen, das aus der Natur hervorgegangen und so im Prinzip und daher in wesentlichen Zügen nicht durch den Menschen gemacht ist. Der Mensch ist als Naturwesen Schöpfer von Kultur, Kunst und Geschichte, aber er ist nicht Schöpfer seiner selbst. Als dieses Wesen gewinnt er zugleich ein Verhältnis zur Natur. Dies bedeutet, daß die Natur einerseits als das nicht vom Menschen Gemachte alles umfaßt, was der Mensch ist und was vom Menschen gemacht ist, und doch andererseits gleichzeitig vom Menschen und seiner kulturellen Tätigkeit her erfaßt und interpretiert w i r d als das, was ihm zugleich gegenübersteht und ihn umfaßt. Dies ist ein bedeutsamer Zusammenhang, der Natur und menschliche Tätigkeit von Anfang an wechselseitig aufeinander bezogen sein läßt: Natur umfaßt einerseits Kultur, Kunst und Geschichte wie sie andererseits aus der Weltsicht und der Praxis des Menschen als Natur bestimmt und ihrerseits umfaßt wird. Es handelt sich um ein Doppelverhältnis des wechselseitigen Bestimmtseins. Natur als das dem Menschen Vorgegebene, dessen Bestimmungen sich der menschlichen, sei es individuellen, sei es sozialen, Konstruktion verdanken, ist also immer schon mehr als bloße Natur: sie wird vielmehr wahrgenommen aus der Sicht des Menschen. Dieser vermag darum nicht unmittelbar zu sagen, was die Natur an sich ist, er muß ihr Wesen auf einem indirekten Wege zu ermitteln suchen. So bleibt Natur immer auch zugleich etwas anderes, als was die Menschen als Natur vermeinen, wahrnehmen und bestimmen. Aus diesem Grunde ist Natur ein Ursprungsphänomen, das den Menschen hervorbringt und trägt und das doch immer schon durch ihn gedeutet ist; sie ist zugleich Selbstsein wie Gegenstand menschlicher Selbst- und Weltdeutung, - einer Selbst- und Weltdeutung, die ihrerseits auf das engste mit der
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technisch-praktischen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zusammenhängt. Natur ist zugleich an sich und daher mehr als ein bloß soziales, historisches oder wissenschaftliches Konstrukt des Menschen: und sie ist dennoch und auch darin wiederum Konstrukt des Menschen. Daraus folgt: Wir, die Menschen, und die Natur sind eins und stehen uns doch in gewisser Weise gegenüber. Wir sind es, die die Natur in ihrem Wesen bestimmen und konstruieren, aber wir begreifen in dieser Konstruktion zugleich, daß wir selbst die Natur nicht sind, daß sie uns als Ursprung vorausliegt und uns unvordenklich überragt: daß w i r sie bestenfalls re-konstruieren können. Wir sind Natur, sind aus ihr hervorgetreten und haben sie als Natur erfahren und bestimmt: wir haben sie zur Natur gemacht. Dennoch und zugleich aber gilt: Natur ist nicht w i r selbst; Natur ist nicht mit uns identisch. Aus der skizzierten, freilich zunächst noch eigentümlich abstrakten Reflexion des Naturbegriffs lassen sich einige wesentliche Bestimmungen und Probleme folgern. 1. „Natur" ist ein Totalitätsbegriff, der anderen Begriffen - wie Kultur, Kunst oder Geschichte - ebenso entgegengesetzt ist wie er diese zugleich umgreift: „Natur" ist einerseits Teilmoment, andererseits schlechterdings umfassend. Wenngleich aber die Natur auch als Ursprung des Menschen und seiner Kultur gedacht werden muß, so ist sie umgekehrt doch dem Menschen, der sie in Erkennen und Handeln als Natur interpretiert, und dem von ihm Gemachten immer auch entgegengesetzt. Das heißt: Der Begriff der Natur ist ein spekulativer Begriff, der keinen Gegenstand bezeichnet, sondern eine Idee: die Einheit eines Ganzen und zugleich eines ihrer Momente. 2. „Natur" ist in der Konsequenz auch ein normativer Begriff. Denn er stellt die menschliche Tätigkeit als umfaßt und begründet vor und gibt ihr so Leitvorgaben für ihre Ausübung. Durch ihn erhalten unsere Handlungen Grund und Ziel: nicht unvermittelt jedoch, sondern dadurch, daß wir uns durch unsere Interpretation der Natur unserer eigenen Wesenhaftigkeit dessen, was wir von Natur aus sind - versichern. In der Rede von unserem Wesen, von dem „was wir von Natur aus sind", ist immer schon ein normativer Zug enthalten; denn eine solche Redeweise meint Natur als Maß und schließt ein, daß wir eben das, was wir von Natur aus sind, auch sein sollen. Der Begriff der Natur ist also sowohl ein theoretisch-spekulativer wie ein normativer Begriff. Mit ihm stellen sich Probleme der Vermittlung von Totalität und Partialität, von Identität und Differenz, von Theorie und Praxis. Einige für unseren Zusammenhang wesentliche seien kurz genannt. Wie ist das Verhältnis von Natur und Mensch zu verstehen? Worin besteht und wie groß ist der Anteil der Natur am Nichtnatürlichen? Kann dies a priori gesagt werden oder nicht? Läßt sich eine genaue Grenze zwischen
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Natur und Kultur, zwischen Natur und Geschichte, zwischen Natur und Kunst ziehen, und wenn ja, wo liegt sie? Diese Frageperspektive auf das Verhältnis von Natur und Mensch, menschlichem Handeln und Erkennen, führt auf sowohl theoretische wie praktische Grundprobleme, die in der Geschichte des philosophischen Denkens immer wiederkehren. Sie machen auf die Notwendigkeit einer Vermittlung der Relate aufmerksam. Wird unter theoretischem Aspekt die Natur als das vollständig Umgreifende angesehen und der Mensch nur als ein untergeordnetes Moment in ihr, so handelt es sich um einen naturalistischen Standpunkt, an den sich die Frage richten läßt, ob der Mensch, der sich in Kultur und Geschichte doch der Natur entgegensetzt, als bloßes Naturwesen zureichend begriffen ist, mithin: welche Bedeutung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen in diesem Zusammenhang zukommt. Der Naturalismus evoziert somit unmittelbar als Gegenposition einen kulturalistischen Standpunkt, der Natur nicht anders denn als ein Kulturprodukt, als soziokulturelle Konstruktion zu denken vermag, - ein Standpunkt, der dann seinerseits problematisch wird, wenn er nicht nur von der Kultur des Menschen aus argumentiert, sondern diese gleichsam absolut setzt. Der skizzierte Gegensatz von naturalistischer und kulturalistisch/idealistischer Betrachtungsweise markiert eine historisch immer wiederkehrende Grundkonstellation, ein Grundproblem der Philosophie, das in systematischer Hinsicht verbunden ist mit dem Gegensatz z.B. von Kausalität und Teleologie, d.h. von Natur als blindem Kausalzusammenhang und als zielbestimmtem Sinngefüge, oder von Mechanismus und Organismus, d.h. von Natur als Maschine und als organischem Ganzen. Rekurriert man auf das normative Element im Naturbegriff („das Natürliche"), so ist, analog zu der theoretischen Problemstellung, unter praktischem Aspekt zu fragen, worin der Ursprung der Freiheit und der Selbstbestimmung des menschlichen Handelns liegt: Kann Moralität auf Natur gegründet werden oder nicht? Wiederum sind, der in theoretischer Hinsicht naturalistischen oder idealistischen Argumentationsweise entsprechend, zwei Antworten möglich: Im Anschluß an Kant mag der Ursprung der Sittlichkeit im Menschen gesehen werden; auf der anderen Seite aber kann Sittlichkeit - mit der Stoa - auch als dasjenige Verhalten und Handeln des Menschen bezeichnet werden, das in Übereinstimmung mit der und insbesondere seiner Natur erfolgt, wobei in dieser Rücksicht zu fragen ist, ob man den Menschen ausschließlich als ein Naturwesen begreifen und der Sittlichkeit die stoische Regel, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben, zugrunde legen kann. Kritisch betrachtet, bleibt nämlich offen, was die Natur sagt, insofern eben wir selbst es sind, die der Natur unterlegen, was sie aus sich heraus sagt: die sagen, „die Natur sagt". Begreift man indessen den Menschen als ein zugleich natürliches und die Natur übersteigendes
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Wesen, als ein Wesen der Transzendenz, als ein Vernunft- oder Freiheitswesen, dann stellt sich allerdings die Frage nach dem Ursprung der Vernunft und der Freiheit in verschärftem Maße. Materialismus und Idealismus der Freiheit sind so die Eckpfeiler des in praktischer Perspektive mit dem Naturbegriff verbundenen Problemspektrums. Dies sind die beiden Großgruppen von sowohl idealtypisch aus dem Naturbegriff wie philosophiegeschichtlich aus den typischen Positionskonstellationen zu ermittelnden Probleme, die sich mit Blick auf das Verständnis von Natur als das nicht vom Menschen Gemachte und ihn doch Bestimmende ergeben. Die philosophische Aufgabe liegt nun darin, die geschilderten Alternativpositionen zu prüfen und das in beiden Wahre zu erkennen und zu vermitteln. 3. Zur Kritik der philosophisch-spekulativen Lösungsversuche Auch die gegenwärtige Diskussion um den Naturbegriff ist hintergründig durch jene Alternativpositionen bestimmt: Die Wiederkehr des Themas „Natur" bedeutet die Wiederkehr der typischen Problemkonstellationen. Der Zusammenhang läßt sich wie folgt umreißen: Natur w i r d entweder naturalistisch oder vom Menschen und seiner Freiheit her gefaßt, wobei beide Deutungen durchaus ineinander umschlagen können. Der Mensch als das in seinem Selbstverständnis freie Wesen hat sich gegenüber eine naturalistisch als Determinismus verstandene Natur, - aber: die naturalistisch verstandene Natur wird vom Menschen gedacht, von einem Subjekt, das sich ihr gegenüber als frei begreift. Eben deshalb wird sie verstanden als Objekt, von dem das Selbstverständnis des Subjekts sich absetzt. Auf diese Weise stehen sich Naturalismus und Idealismus der Freiheit, so könnte man diese Ansätze im Anschluß an die von Dilthey in seiner Weltanschauungstypologie vorgenommene Differenzierung nennen, als die wesentlichen und extremen Positionen gegenüber, wenn sie sich auch bei einigen Denkern, wie z.B. Descartes, berühren. Die immer wieder unternommenen Vermittlungsversuche, so in der Antike z.B. von Aristoteles, in der Neuzeit u.a. von Spinoza oder Schelling, führen auf eine Position, die sich - wiederum im Anschluß an Dilthey - als objektiver (oder absoluter) Idealismus bezeichnen läßt. Dilthey s Untersuchungen belegen zugleich, daß in der Geschichte des Denkens immer im wesentlichen drei alternative Konzeptionen des geschilderten Typs hervortreten, wobei Naturalismus und Freiheitsdenken, oder die Interpretation der Natur als des Umgreifenden einerseits, des Menschen als des einzig aus ihr Hervorgehobenen andererseits, als zwei einander widerstreitende Extreme das Bedürfnis nach Vermittlung und daher immer wieder spekulative Konzepte der Einheit beider hervortreiben.
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Als herausragendes Beispiel sei in diesem Zusammenhang Schelling genannt. Für Schelling ist die Natur als in sich unbewußte Produktivität auf dem Wege, sich selber zu begreifen und zu befreien zum Geist. D.h. die Natur enthält den verschlungenen Zug der Seele. In ihren Produktionen ist sie die Odyssee des Geistes, in der er - der Odysseus Geist - schließlich nach Hause kehrt, selbstbewußter Geist wird und die Natur als das begreift, was sie ist, nämlich die erste (unbewußte) Explikation des Absoluten, die die zweite (bewußte) Explikation des Absoluten, im Menschen und seiner Geschichte, hervortreibt. Indem Schelling Natur als unbewußte Freiheit, Freiheit aber als bewußte Natur auszuweisen versucht, stellt sein Konzept eine Einheit von Naturalismus und Idealismus im Absoluten dar. Daß das grundlegende Problem einer Vermittlung zwischen naturalistischer und idealistischer Weltansicht historisch immer wieder auftritt und immer wieder und auf je andere Weise spekulativ zu bewältigen gesucht wird, dafür ist - trotz aller qualitativen Differenzen zu Schellings Philosophie - gerade Fritjof Capras Konzeption sowie die New-Age-Bewegung im allgemeinen ein Beleg. Fragen wir nun, nach welchen Kriterien die vermittelnde Position des objektiven Idealismus zu beurteilen ist, und vor allem: wie eine Vermittlung wirklich gelingen könnte. Entscheidend ist das philosophische Verständnis von Einheit und Totalität. Da wir Einheit von Natur und Freiheit nicht erkennen, sondern nur denken können, da ferner eine rein objektive Totalität ein Ungedanke und erkenntnismäßig nicht einlösbar ist, läßt sich die Position des objektiven Idealismus nicht rechtfertigen. Hinzu kommt, daß der objektive Idealismus - wie die jüngsten Beispiele zeigen - in naturwissenschaftlich nicht verifizierbarer Weise den Begriff des Organismus auf das Weltall überträgt. Daß das Universum primär aus Organismen bestehe und selbst ein Gesamtorganismus sei, kann weder philosophisch noch aus der Sicht der Naturwissenschaften behauptet werden. Man wird hierbei der von Bernulf Kanitscheider dargelegten Einsicht folgen müssen, daß die Natur als eine Hierarchie von emergenten Strukturen zu begreifen ist und nicht, wie Capra meint, als ein Nebeneinander von Strukturen, die sich ineinander spiegeln. Auch das Problem der Erkenntnis wird vom objektiven Idealismus durch einen spekulativen Kurzschluß gelöst, insofern nämlich die Identität von Sein und Bewußtsein einfachhin erkennbar sein soll. Mag diese Identität auch für eine ganz bestimmte Erkenntnis konstitutiv sein (für das cartesische cogito/sum), so gilt sie doch keineswegs für unsere Auffassung von Welt schlechthin. Darin hat Descartes jedenfalls recht: Was wir über uns wirklich wissen, ist die Existenz, und dies ist evident, solange wir uns wahrnehmen,
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denken oder zweifeln. Das Wesen der Welt jedoch läßt sich aus diesem Bewußtsein unserer eigenen Existenz noch keineswegs erkennen. Schließlich ist zu fragen, ob die vom objektiven Idealismus für den Naturbegriff in Anspruch genommene Identifikation von Sein und Sollen unter erkenntniskritischen Voraussetzungen konsistent gedacht werden kann. Solange der Kosmos, die Physik, die Natur von jedermann unmittelbar als göttlich wahrgenommen, aufgefaßt oder gläubig erfahren werden kann, scheint es nicht problematisch, dieser kosmischen Natur ein Sollen zuzuschreiben. Aber haben wir heute mit Bezug auf eine solche Erfahrung nicht längst unsere Unschuld verloren? Der Erfolg des mechanistischen Programms in den Naturwissenschaften verschließt uns den Weg, einfachhin vor dieses Programm zurückzukehren. Also hat die Frage nach dem „Sein und Sollen" angesichts der Natur der Einsicht Rechnung zu tragen, daß nicht alles, was als seiend erkannt wird, schon eo ipso ein Gutes vorstellt, eine Norm, die uns zugleich zu erkennen gäbe, was sein soll. Sein und Sollen, das ist die Einsicht Humes, können nicht unmittelbar als identisch gedacht werden. Ebensowenig gehören Kausalität und Teleologie in der Weise zusammen, daß aus ihrer Einheit - je nach Perspektive - einmal bloße Verursachung, das andere mal Sinn hergeleitet werden könnte. Die spekulativen Voraussetzungen, unter denen dies, wie noch bei Spinoza, denkbar wäre, sind uns nicht mehr verfügbar. Die geschilderten Positionen des Naturalismus, des Idealismus der Freiheit und des objektiven Idealismus erweisen sich in kritischer Perspektive, d.h. nach den Möglichkeiten, für sie gute Gründe anzuführen, je für sich als falsche Hypostasierungen und damit als verfehlt. Im Sinne der doppelten K r i t i k Kants an Determinismus und rationaler Psychologie muß an einem Gegenüber von Natur und Freiheit festgehalten werden. Denn nicht eine objektive Vermittlung zwischen beiden, ein objektiver Idealismus, ist zu legitimieren, sondern nur eine regulative bzw. transzendentale Beziehung. Gleichwohl gehört es zum Wesen des Menschen, daß er an der Idee der Einheit notwendigerweise festhält, daß er Einheit sucht und ersehnt. Können aber unsere Probleme mit dem Naturbegriff nicht durch eine Theorie der - sei es substantiellen, sei es konzeptuellen - Einheit entschieden werden, und auch nicht durch das Konzept eines Dualismus zweier Welten, so ist nur eine Lösung möglich und zu rechtfertigen: sie liegt in der Dualität, in der Behauptung eines Beziehungsgefüges von zwei wesentlichen, die gesamte Welt betreffenden Perspektiven: der Freiheitsperspektive, unter der w i r den Menschen von der Natur unterscheiden, und der naturalistischen Perspektive, in der uns die Natur als Inbegriff von gesetzmäßigen Strukturen erscheint, die wir, hypothetisch wenigstens, erkennen können. Die kritische Bedeutung einer solchen Position erweist sich darin, daß sie die einseitige Absolutsetzung eines dieser Standpunkte, einer dieser Per-
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spektiven vermeidet. Dualität der Perspektiven heißt nämlich, daß keine von beiden für sich genommen die Wahrheit über die Welt in den Blick bringt. In dieser Erkenntnis wiederholt sich in gewissem Sinne das, was Pascal in einer unverlierbaren Einsicht unserer Denkgeschichte über den Menschen gesagt hat: daß der Mensch ein Schilfrohr sei, ein Schilfrohr jedoch, das denkt. Der Mensch ist dem Unendlichen ausgeliefert, wie alles Seiende, aber er unterliegt ihm nicht: denn er ist das einzige Wesen, das des Unendlichen ansichtig wird, weil es denken kann: capax infiniti. Eine Philosophie der in der Endlichkeit aufscheinenden, aber nicht erreichbaren Einheit: dies wäre die philosophische Antwort auf unsere Frage nach der Natur; unter anderem schon darum, weil ein Idealismus der Freiheit, absolut gesetzt - und man erinnert sich an Robespierre - , zum Tugendterror, und weil ein Naturalismus, absolut gesetzt, schließlich zur Annihilierung des Menschen führen müßte. In ihrer Verabsolutierung erweisen sich beide Positionen als falsche Weltsichten; als komplementäre Perspektiven aber sagen sie uns etwas über die Welt, weil und sofern jeweils die andere als Korrektiv mitgedacht wird. Was folgt daraus für das Verhältnis von Mensch und Natur? Die Quintessenz aus der philosophischen Geschichte und ihrer argumentativen Verarbeitung sowie aus der Erfahrung, die wir machen, lautet: Menschliches Leben ist ein Leben nie nur eingetaucht in die Natur, aber ein Leben in ihr. Menschliches Leben ist zugleich ein Leben mit der Natur, so daß die in ihr auftretenden Wesen durchaus als uns wesensanalog, als Individuen, angesprochen werden können, - ein Leben mit der Natur, nicht aber im Sinne eines „Friedens", denn die Kategorie des Friedens hat nur Sinn zwischen den Menschen. Und zugleich ist dieses Leben auch ein Leben gegen die Natur, von Anfang an; denn wir wären nicht, wenn die Menschen sich nicht, vor allem in frühen Zeiten, auch gegen die Natur, sich von ihr absetzend, sich ihr erwehrend, sie nützend, verhalten hätten; wenn wir nicht die Fertigkeiten und Techniken entwickelt hätten, die uns überleben ließen und die uns heute in einer so großen Anzahl auf diesem Planeten Erde Leben und Überleben allererst ermöglichen. Wir leben in, mit und gegen die Natur. Dies ist unser Verhältnis zur Natur und ihr Verhältnis zu uns. Es ist gewiß keine sehr befriedigende, weil rätselhafte Auskunft, aber sie gibt eben die Struktur wieder, die der philosophischen Reflexion des Naturbegriffs selbst zu eigen ist. Die Versöhnung und die letzte Vermittlung von Natur und Mensch ist uns weder philosophisch noch wissenschaftlich möglich. Sie muß offenbleiben, aber w i r müssen sie notwendigerweise denken, je neu entwerfen und explizieren. Eben dies verweist uns auf uns selbst und zeigt uns, was wir sind: endliche, nicht absolute, Vernunft.
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D i e S t r u k t u r der endlichen V e r n u n f t weist indessen zugleich über sich hinaus; sie beschreibt V e r n u n f t i n i h r e m Wesen als H o f f n u n g , als desider i u m , als H o f f n u n g s s t r u k t u r , die sich selber diese H o f f n u n g auf Versöhnung u n d Ganzheit n i c h t e r f ü l l e n k a n n . Deswegen ist v o n der Philosophie her e i n r a t i o n a b i l e obsequium, ein v e r n ü n f t i g v e r m i t t e l t e r u n d den K r i t e r i e n v o n V e r n ü n f t i g k e i t entsprechender Glaube ebenso m ö g l i c h w i e sinnvoll. F ü r jene v o n uns, die möglicherweise diesen G l a u b e n n i c h t t e i l e n können, aus welchen G r ü n d e n auch i m m e r , b l e i b t es aber dennoch eine w i c h t i g e E i n sicht, daß Glaube, Theologie, C h r i s t e n t u m n i c h t v o n v o r n h e r e i n der V e r n u n f t widersprechen. W i r s i n d der E i n h e i t v o n N a t u r u n d Mensch n i c h t m ä c h t i g : D e n n o c h liegt die W a h r h e i t i n der D u a l i t ä t , n i c h t i m Dualismus. Weder der Pluralismus der Postmoderne n o c h der neue M o n i s m u s der Ganzheit s i n d i h r angemessen. Sie w ä r e sonst entweder A n a r c h i e oder S c h w ä r merei.
Literatur Böckle, Franz (Hrsg.): Der umstrittene Naturbegriff, Düsseldorf 1987. Bosshard, Stefan M.: Erschafft die Welt sich selbst? Die Selbstorganisation von Natur und Mensch aus naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, Freiburg/Basel/Wien 1985. Capra, Fritjof: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Bern/München/Wien 1987. Kanitscheider, Bernulf: Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft, Berlin/New York 1981. Lenk, Hans: Philosophie im technologischen Zeitalter, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1972. Lübbe, Hermann: Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart, Freiburg i. Br. 1975. Markl, Hubert (Hrsg.): Natur und Geschichte, München/Wien 1983. Meyer-Abich, Klaus Michael: Naturphilosophie auf neuen Wegen, in: Oswald Schwemmer (Hrsg.): Über Natur, Frankfurt a.M. 1987, S. 63 - 73. Mittelstraß, Jürgen: Leben mit der Natur. Über die Geschichte der Natur i n der Geschichte der Philosophie und über die Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur, in: O. Schwemmer (Hrsg.), ebd., S. 37 - 62. Sachsse, Hans: Ökologische Philosophie. Natur - Technik - Gesellschaft, Darmstadt 1984. Schwemmer, Oswald (Hrsg.): Über Natur, Frankfurt a.M. 1987. Spaemann, Robert / Low, Reinhard: Die Frage Wozu. Geschichte und Wiederentdekkung des teleologischen Denkens, München 1981. Zimmerli, Walther Ch.: Kausalität versus Teleologie. Zu Geschichte und Leistungsfähigkeit unseres Naturdenkens, in: C. Burrichter / R. Inhetveen / R. Kötter (Hrsg.), Zum Wandel des Naturverständnisses, Paderborn 1987,S. 137- 159.
Die gerichtliche Beredsamkeit Ein Beitrag zum Verhältnis von Recht und Sprache Von Hans-Jürgen Becker Die Kunst, einer Sache mit Mitteln der Rhetorik zum Erfolg zu verhelfen, wird von den deutschen Juristen unserer Zeit in der Regel mit Skepsis betrachtet. In der Vergangenheit war das anders, wie schon ein Blick in den Spiegel der Literaturgeschichte lehrt. Das gerichtliche Verfahren in seinem geordneten, auf einen Höhepunkt zulaufenden Gang, noch mehr die mündliche Gerichtsverhandlung, in der in Rede und Gegenrede die kontroversen Meinungen entwickelt, um die Überzeugung der Richter gerungen und um das Recht gekämpft wird, hat die Dichter durch Jahrhunderte hindurch inspiriert. Der Prozeß als Strukturschema, der Gerichtstermin als Szenenbild haben so unterschiedliche Werke wie den „Ackermann aus Böhmen" oder Kafkas „Prozeß", den „Reineke Fuchs" oder Wassermanns „Fall Maurizius" geprägt 1 . Wenn in der zeitgenössischen deutschen Literatur das Gerichtsverfahren kaum noch eine Rolle spielt, so verwundert das nicht, denn die Praxis des juristischen Alltags hat an Farbe und Lebendigkeit verloren. Dies gilt in besonderem Maße von der Redekunst, die von den Juristen weitgehend vernachlässigt wird. Im Verwaltungsstreitverfahren sind die Beteiligten zwar gehalten, ihre Anträge mündlich zu begründen. Das Prinzip der Mündlichkeit des Verfahrens hat hier - auch und vor allem dann, wenn die Parteien nicht anwaltlich vertreten sind - noch ein besonderes Gewicht 2 . Im Zivilprozeß dagegen wird vielfach nur auf die bei den Akten befindlichen Schriftsätze Bezug genommen. Ein Zuhörer w i r d nur selten erraten können, worüber der Prozeß überhaupt geführt wird. Die Zeiten, in denen die Lehre von der wirksamen Rede einen Teil der Jurisprudenz ausmachte, liegen lange zurück. Auch wenn im Mittelalter und
1 Vgl. hierzu die sehr informativen Artikel „Recht und Dichtung" sowie „Rechtssprache" von Ruth Schmidt-Wiegand, in: Handw. z. deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Liefg. 25 (1985), Sp. 232 - 249 und Liefg. 26 (1986), Sp. 344 - 360. 2 Hans-Joachim Strauch, Die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verwaltungsstreitverfahrens - Funktion und verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Festschrift f. Walter Mallmann, hrsg. v. Otto Triffterer / Friedrich von Zezschwitz, Baden-Baden 1978, S. 345 - 357.
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in der frühen Neuzeit die Gerichtsrede eine gewisse Bedeutung hatte 3 , die Tradition der antiken Rhetorik schien weitgehend vergessen zu sein. Im Zeitalter des Humanismus wurde zwar M. T. Cicero wieder als Autor theoretischer Schriften, nicht aber als rhetorisch erfolgreicher Anwalt vor den Schranken der Gerichte geschätzt. Die Reform des Prozeßwesens hatte auf die Rhetorik nachhaltig gewirkt. Da der Grundsatz galt, „quod non est in actis, non est in mundo", war an die Stelle der Gerichtsrede der Schriftsatz getreten 4 . Für die Formulierung solcher gerichtlicher Schriftstücke, vom Antrag bis zum Urteil, gab es eine umfangreiche Literatur. Für die Spätzeit dieser Literaturgattung sei auf Werke wie „Kurze Anleitung, Gerichts-Acta geschickt zu extrahiren" aus der Feder von Ferdinand August Hommel 5 , „Teutscher Flavius" von Carl Ferdinand Hommel 6 oder auf die „Sammlung gerichtlicher Acten . . . für seine Zuhörer bei den Vorlesungen über die juristische Schreibart und Praxis" von Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels 7 hingewiesen. Die Übersteigerung des Schriftlichkeitsprinzips hatte - in Verbindung mit dem Institut der Aktenversendung und der weithin fehlenden Gerichtsöffentlichkeit - zu einer Erstarrung des Rechtsganges geführt. Der Rechtssuchende sah sich in Förmlichkeiten verstrickt, ohne einen Einblick in den Gang der Verhandlung zu gewinnen. Das Mißtrauen gegen eine solche Justiz, die nicht den Lebenssachverhalt, sondern das Resultat einer Aktenhäufung beurteilte, war groß. Als mit dem Erlaß der „Cinq Codes" die Maximen von Öffentlichkeit und Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens in Frankreich proklamiert wurden, entbrannte daher auch in Deutschland der Kampf um die Gerichtsöffentlichkeit 8 und um das Mündlichkeitsprinzip 9 . 3 Daß sich das Wort „Rede" von „Rechenschaft" vor Gericht, also von „Gerichtsrede" ableite, wird vielfach betont. Vgl. Adalbert Erler, Art. „Rede", in: Handw. z. deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Liefg. 26 (Berlin 1986), Sp. 449 - 451; Paul Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache (Schriftenreihe der Jur. Gesellschaft zu Berlin 107), Berlin 1987, S. 21. 4 Daß die Rhetorik außerhalb des Prozeßwesens nach wie vor gepflegt wurde, zeigen die zahlreichen einschlägigen Werke des 17. und 18. Jahrhunderts, z.B. Christian Weise, Politischer Redner, 2. Aufl. 1681, Reprint Frankfurt a.M. 1974; Friedrich A. Hallbauer, Anleitung zur politischen Beredsamkeit, 1736, Reprint Frankfurt a.M. 1974; Friedrich C. Baumeister, Anfangsgründe der Redekunst, 1754, Reprint Frankfurt a.M. 1974. 5 1697 - 1765. Ich benutzte die „neue verbesserte Auflage" Halle 1778. Zum Autor vgl. Gerd Kleinheyer / Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl. Heidelberg 1983, S. 332. Zur Relationstechnik vgl. Heinz L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, jur. Diss. Frankfurt a.M. 1975; Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: lus Commune, Sonderhefte 11 (1979), S. 60ff. 6 1722 - 1781. Ich benutzte die 3. Aufl. Bayreuth 1775. Zum Autor vgl. Kleinheyer / Schröder (Fn. 5), S. 120 ff. 7 1754 - 1827. Ich benutzte die Ausgabe Köln 1790. Zum Autor vgl. Kleinheyer ! Schröder (Fn. 5), S. 65 ff.
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Politisch erhielt dieser Streit dadurch Auftrieb, daß mit der Neuordnung Mitteleuropas auf dem Wiener Kongreß die seit der Revolutionszeit zu Frankreich gehörenden Territorien am Rhein deutschen Staaten, insbesondere Preußen und Bayern, zugeschlagen wurden. Diese Länder standen vor der Frage, ob in den neuen Landesteilen das einheimische Recht eingeführt oder ob das französische Recht seine Geltung behalten sollte. Die rheinischen Juristen verteidigten das französische Recht - nunmehr als „Rheinisches Recht" bezeichnet - , weil hier bereits die „Institutionen" des bürgerlichen Rechtsstaates verwirklicht waren 10 . Zu diesen rheinischen Institutionen zählten nicht nur das Geschworenengericht und die Staatsanwaltschaft, sondern auch die Öffentlichkeit und die Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens. Die Gutachten der Preußischen Immediat-Justiz-Kommission über das öffentliche und mündliche Verfahren in Untersuchungssachen 11 bzw. in Zivilsachen 12 von 1818 haben viel dazu beigetragen, den rheinischen Standpunkt in dieser Frage klarzustellen. Neben einer Fülle von engagierten Streitschriften waren es vor allem aber die großen wissenschaftlichen Abhandlungen von Anselm Ritter von Feuerbach 13 von 1821, von August Ludwig Reyscher von 1841 14 und von Karl Joseph Anton Mittermaier 1 5 von 1845, die in nüchterner Abwägung der Vor- und Nachteile die Notwendigkeit der Übernahme der Prinzipien von Mündlichkeit und Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens darlegten. Feuerbach verwies u.a. auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Es stelle eine Rechtsverweigerung dar, wenn einer Partei nicht Gelegenheit gegeben werde, von den über sie zu Gericht sitzenden Richtern unmittelbar selbst gehört zu werden: „Darf dieses nicht seyn, . . . so bleibt nichts übrig, als, was ohnehin das erste und natürlichste ist: daß den Partheien erlaubt 8
Marie Th. Fögen, Der Kampf um Gerichtsöffentlichkeit (Schriften zum Prozeßrecht 33), Berlin 1974. 9 Hans-Gerhard Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip. Geschichte einer Episode des deutschen Zivilprozesses (Prozeßrechtliche Abhandlungen 19), Köln 1952; Gerhard J. Dahlmanns, Der Strukturwandel des deutschen Zivilprozesses im 19. Jahrhundert, Aalen 1971, S. 38ff. u. S. 49ff. 10 Nachweise bei Hans-Jürgen Becker, Art. „Rheinisches Recht", in: Handw. z. deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Liefg. 28 - 29 (1987 - 88), Sp. 1021 - 1026. 11 Ernst Landsberg (Hrsg.), Die Gutachten der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission und der Kampf um die rheinische Rechts- und Gerichtsverfassung 1814 1819, Bonn 1914, S. 1 - 54. 12 Landsberg (Fn. 11), S. 55 - 82. 13 Anselm von Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 2 Bde., Gießen 1821 u. 1825. 14 August Ludwig Reyscher, Das k. preußische und das k. württembergische Justizministerium über Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege, in: Zs. für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft, Bd. 6 (1841), S. 335 - 376. Vgl. hierzu auch Joachim Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie, 1802 1880, Berlin 1974, S. 249 u. S. 296f. 15 Karl Josef Anton Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht, Stuttgart 1845, Reprint Leipzig 1970.
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seyn muß, mündlich gegen einander zu dem versammelten Gerichte zu verhandeln; woraus denn von selbst folgt, daß nur diejenige Prozeßordnung, welche dieses von gehöriger Rechtsvertheidigung unzertrennliche Recht der Partheien anerkennt, die Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit befriede" 16 . Reyscher verwies zudem darauf, daß diese Prinzipien nicht spezifisch französische Erfindungen seien, sondern sich durchaus auch mit den deutschen Auffassungen deckten. Zum Beweis verwies er auf Goethe, der in seiner „Italienischen Reise" bereits im Jahre 1786 die Vorzüge der mündlichen Verhandlung in der Öffentlichkeit mit den Worten gepriesen hatte: „Indessen gefällt mir diese Art unendlich besser als unsere Stuben- und Kanzleihockereien." 17 Das Urteil von Mittermaier schließlich lautete: „Die Mündlichkeit liegt nicht allein im Interesse des Angeklagten, sie ist tiefer im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft selbst, und in der Überzeugung gegründet, daß die Gerechtigkeit der Urtheile wesentlich durch die Mündlichkeit der Verhandlungen befördert w i r d . " 1 8 Die Begeisterung für das neue Prinzip war so groß, daß man sogar von einer „Mündlichkeitsschwärmerei" in Deutschland gesprochen hat 1 9 . Nach und nach hat sich die zuerst im Rheinland praktizierte Maxime auch in den übrigen deutschen Territorien durchsetzen können. Meilensteine der Entwicklung stellen die Paulskirchen-Verfassung von 1849 (§ 178 Abs. 1: „Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein.") und die Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich von 1877 dar. Für die Juristen, insbesondere für die Anwälte, bedeutete die starke Betonung des Mündlichkeitsprinzips, daß sie ihre Arbeitsweise umstellen mußten. Während sie sich bis dahin in der Abfassung von Schriftsätzen geübt hatten, mußten sie nun die Kunst der mündlichen freien Rede hinzulernen. Karl Salomo Zachariae von Lingenthal hatte bereits in seinem „Handbuch des Französischen Civilrechts" 2 0 auf die Notwendigkeit der Schulung hingewiesen. In einem Abschnitt seines einflußreichen und auflagenstarken Einführungswerkes hatte er unter der Überschrift „Von der gerichtlichen Beredsamkeit" ausgeführt: „Da von den französischen Gerichten die Rechtssachen (wie billig) mündlich verhandelt werden, da das mündliche Verfahren in Deutschland so manche Freunde und (mindestens früher) so viele Widersacher hat, so sollen hier einige Schriften über die gerichtliche Bered16 Feuerbach (Fn. 13), Bd. 1, S. 296. 17 Reyscher (Fn. 14), S. 362, und Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise (Hamburger Ausgabe 11), München 1981, S. 75 (3. Oktober 1786). 18 Mittermaier (Fn. 15), S. 281. 19 So die Formulierung von Kip (Fn. 9), S. 29. 20 1769 - 1843. Ich benutzte die von Puchelt betreute 6. Aufl. Heidelberg 1875, S. 46f. Zu den verschiedenen Auflagen, Überarbeitungen und Übersetzungen vgl. Roderich von Stintzing / Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 3, Halbbd. 2 (Noten), 2. Aufl. 1910, Reprint Aalen 1978, S. 55f.
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samkeit, so wie einige Sammlungen mündlicher, vor Gericht gehaltener Vorträge angeführt werden." Nicht weniger als zwanzig Schriften konnte Zachariae aufzählen, allerdings allesamt in französischer Sprache verfaßt. Da offensichtlich ein großer Bedarf an deutschsprachiger Einführungsliteratur zur gerichtlichen Rhetorik bestand, hat zuerst Zachariae im Jahre 1810 ein solches Werk unter dem Titel „Anleitung zur gerichtlichen Beredsamkeit" 2 1 herausgebracht. In seinen Spuren folgten viele Autoren, von denen die wichtigsten aufgeführt werden sollen: Gotthilf Friedrich Müller, Über die Fertigkeit vor Gericht zu reden und die Mittel, sich dieselbe zu erwerben, Hannover 1811 Johann Nepomuk von Wening-Ingenheim, Über die Wichtigkeit und den Einfluß der politischen und gerichtlichen Beredsamkeit in unseren Tagen, Landshut 1819 Ernst Ferdinand Klein, Gedanken von der öffentlichen Verhandlung der Rechtshändel und dem Gebrauche der Beredsamkeit in den Gerichtshöfen, Göttingen 1825 Oskar Ludwig Bernhard Wolff, Beredsamkeit, Jena 1850.
Lehr- und Handbuch der gerichtlichen
Zusätzlich zu diesen Anleitungsschriften wurden in den Universitäten Vorlesungen mit Anleitungen zur gerichtlichen Beredsamkeit angeboten. So hat z.B. J. N. von Wening in jedem Sommersemester der Jahre 1819 bis 1826 in Landshut bzw. München ein solches rhetorisches Praktikum abgehalten 2 2 . Für die neugegründete Universität Bonn, an der auch Vorlesungen über das französische Recht gehalten wurden, schlug Heinrich Brewer 23 die Errichtung eines eigenen Lehrstuhls für gerichtliche Beredsamkeit vor. Die Aufwertung der Redekunst hatte über die Rechtspflege hinaus Bedeutung für die politische Öffentlichkeit. Im Zeitalter des entstehenden Parlamentarismus haben bekanntlich gerade die Richter, Staatsanwälte und Advokaten in den Volksversammlungen eine bedeutende Rolle gespielt. Insbesondere die „politische Advokatur" - so die Formulierung von Franz Schnabel 24 - empfand sich als Grundsäule der öffentlichen Ordnung. Die Rolle, die in diesen Jahren des sich herausbildenden Rechts- und Verfas21 Heidelberg 1810. Weitere Werke zur gerichtlichen und politischen Beredsamkeit bei O. A. Walther, Hand-Lexicon der juristischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Weimar 1854, Reprint Hildesheim 1974, S. 84ff. 22 'Vgl. Schröder (Fn. 5), S. 265 u. S. 271. 23 1810- 1853. Vgl. hierzu Karl-Georg Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution, Wiesbaden 1966, S. 156, Anm. 199. Zu Brewer vgl. auch G. Fischer, Düsseldorf und seine Rechtsakademie, Düsseldorf 1983, S. 269f. 24 Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Freiburg 1933, S. 200ff. Vgl. auch Faber (Fn. 23), S. 419ff.
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sungsstaates die politische Rhetorik gespielt hat, wäre noch zu untersuchen 25 . Erste Hinweise finden sich in den Staatslexika von Rotteck-Welcker bzw. von Bluntschli 2 6 . Die gerichtliche Rede wurde vor allem im Rheinland gepflegt. Die Begeisterung für die gerichtliche Beredsamkeit kommt vorzüglich in einer Rede zum Ausdruck, die der Senatspräsident am Rheinischen Appellationsgerichtshof in Köln Leuthaus anläßlich des 50jährigen Bestehens dieses Gerichtes im Jahr 1869 gehalten hat 2 7 : „Wenn nun unsere Gerichtshöfe ihrem Berufe genügen, so sage ich, es hat an diesem glücklichen Erfolge unser Advokatenstand einen wesentlichen Antheil, ja er ist einer der unerläßlichen Faktoren dabei; ich meine die Advokatur auf der Basis eines wahren mündlichen Verfahrens. Wer in einer einfachen Sache zwischen streitenden Theilen als Freund, als Schiedsmann Recht zu finden hätte, würde sie beide vor sich kommen und sich aussprechen lassen. ,Man soll sie billig hören beede,' sagt der alte Reimspruch; - hören, also nicht etwa Briefe schreiben lassen. So wird am sichersten die Wahrheit kund. Und so haben wir die ursprünglichste und natürlichste Form des Processes. Daß er in wichtigen Sachen, bei unsern überkünstlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, sich nicht mehr so gestalten kann, leuchtet ein: dem persönlichen Sprecher der Parteien vor dem erkennenden Gerichtshofe treten, auch abgesehen von unübersteiglichen äußeren Hindernissen, innere Unzuträglichkeiten entgegen: Die Verschiedenheit der Bildungsstufe der Streitenden, ihre Befangenheit und leidenschaftliche Einseitigkeit, wodurch sie unfähig werden, ihre Interessen genügend geltend zu machen. Dennoch w i l l das Gesetz das hohe Gut des mündlichen Verhandeins der Parteien vor dem ganzen Gerichtshofe nicht missen, und es verfällt zu dem Ende auf eine glückliche Fiction. Es sagt jeder streitenden Partei: ,Du sollst ein anderes Ich für dich eintreten lassen, das sich mit dir identificirt.' Dieses andere Ich wird ausgestattet mit aller Kenntnis des Thatsächlichen und Urkundlichen; es besitzt Wissenschaft und Gesetzeskenntnis, die Fähigkeit, einen großen Stoff zu 25 Nicht ergiebig zu diesem Thema J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 5. Aufl. Neuwied 1971, S. 101 ff. 26 G. F. Kolb, Art. „Redekunst (parlamentarische)", in: Staats-Lexikon, hrsg. von Karl von Rotteck / Karl Welcker, Bd. 13, 1. Aufl. Altona 1842, S. 533 - 550; Joachim C. Bluntschli, Art. „Beredsamkeit, politische", in: Deutsches Staats-Wörterbuch, hrsg. von J. C. Bluntschli / Karl Brater, Bd. 2, Stuttgart und Leipzig 1857,S.56-58. In dem angekündigten, auf fünf Bände geplanten „Historischen Wörterbuch der Rhetorik", das von Walter Jens / G. Oeding herausgegeben werden wird, ist ein Artikel „Politische Rede" vorgesehen. Vgl. die Ankündigung in: forschung. Mitteilungen der DFG (3/1988), S. lOf. 27 Abdruck in: Die Jubelfeier des 50jährigen Bestehens des K. Rheinischen Appellationsgerichtshofs zu Cöln, Köln und Leipzig 1869, S. 12ff.
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beherrschen; dieses andere Ich weiß mit Anstand und schicklichem Freimuth auf zutreten; ihm ist eigen das Silber gediegener, fesselnder Rede eine nicht leichte Kunst! Mit einem Worte, dieses andere Ich ist unser rheinischer Sachwalter, der Sachwalter des mündlichen Verfahrens. Ich möchte ihn die potenzirte Partei nennen, potenzirt an Einsicht, potenzirt in sittlicher Beziehung; denn von dem Gemeinen, wozu mitunter Eigennutz und Leidenschaft die Partei selbst hinzureißen droht, hält sich ihr anderes Ich frei. Aus dem Munde der beiden so ausgerüsteten Sachwalter wollen wir als Richter die Kenntniß des Stoffes unmittelbar schöpfen; und die lebendige contradictorische Verhandlung ist es, welche eine Helle verbreitet, die durch das bloße schriftliche Verfahren nicht ermöglicht werden kann. Goethe wagt den Ausspruch, nur die mündliche Rede sei wahrer Gebrauch der Sprache, die Schrift eine Art Mißbrauch, und unser großer Savigny hat das Zeugniß abgelegt, das mündliche Verfahren adle den Advokatenstand. Zwei Vorzüge hat das mündliche Verfahren: man kann redend mehr sagen, als in Schriften, und - man kann vor dem Gerichtshofe nicht alles sagen, was man in Schriften niederzulegen wagen darf. Daß der Advokat mündlich mehr sagen kann, als er zu schreiben vermag, brauche ich kaum zu erwähnen. Während in Schriften ein ewiges Halbverstehen Gefahr droht, verbreitet die mündliche Verhandlung ihr Licht gerade über die schwierigen und der Aufklärung bedürftigen Partien. Mit größerer Wirkung kann der Sachwalter dem Gedanken den bedeutendsten Ausdruck geben, seines Clienten Sache warm vertreten; denn Partei ist er und soll es sein; ihm das zum Vorwurfe machen, wäre Mißkennung unabänderlicher, realer Verhältnisse. Dem Gerichtshofe leuchtet nicht selten überraschend schön aus solcher lebendigen Debatte das Rechte und Wahre entgegen. . . . So überwältigend ist die Ueberzeugungskraft, daß sich ihrer nach Abschluß der Verhandlung die Sachwalter selbst nicht erwehren können. Und so sind sie, selbst mehr aufgeklärt, als dies ein schriftliches Verfahren vermag, in der Lage, günstig auf den Clienten einzuwirken, der in Verblendung eine ganz verlorene Sache gern durch alle Instanzen treiben möchte. . . . Ein anstrengender, aufreibender Beruf ist der Advokatenstand - darum sei auch der Arbeiter seines Lohnes werth! Ich behaupte, daß in der Advokatur mehr Denkkraft consumirt wird, als in der Mehrzahl der anderen Lebensstellungen; darum sei uns der Advokat, der einsichtsvolle Helfer in bedenklichen Rechtslagen, verehrungswürdig! Die Advokatenrobe ist ein 4'
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weites, würdiges Gewand: der Mann, welcher es mit dem gehörigen Gehalte ausfüllen will, möge sich geistig und sittlich strecken, damit es nicht heiße, ,er fühlt die Würde als viel zu weit um seine Glieder hängen'." Die Pflege der gerichtlichen Rede hat im Rheinland des 19. Jahrhunderts so starke Wurzeln geschlagen, daß bis zur Gegenwart hier die Rhetorik eine größere Rolle als in den anderen deutschen Landschaften spielt. Die rheinischen Juristen haben die gerichtliche Beredsamkeit jedoch nicht nur praktiziert, sondern versucht, für das Ideal der Gerichtsrede auch in den anderen deutschen Territorien zu werben. Der Erfolg war allerdings nur mäßig. Schon der Bearbeiter des von Zachariae begründeten Handbuchs des französischen Zivilrechts Sigismund Puchelt fügte in einer späteren Auflage dem Abschnitt „Von der gerichtlichen Beredsamkeit" die ernüchternde Fußnote bei: „Jedoch paßt die französische Art der Beredsamkeit nicht vor deutsche Gerichtshöfe." 28 Und selbst ein so überzeugter Befürworter des Prinzips der Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens wie Anselm Feuerbach warnte vor einer zu einseitigen Betonung des rhetorischen Elements: „Allein von diesem allen liegt nicht das mindeste in dem Wesen der mündlichen Rechtspflege, sondern nur in dem Mißverständnis derjenigen, welche aus jenem Wesen herausgehend, sich unter mündlichen Verhandlungen immer blos eigentliche Reden, unter mündlich verhandelnden Anwälten Künstler der Beredsamkeit vorstellen und in der Mündlichkeit keinen glänzenden Punkt zu finden wissen, als diesen, daß sie unserem Deutschland den langentbehrten Ruhm zuwenden werde, den Griechen einen deutschen Demosthenes, den Römern einen deutschen Cicero entgegen zu stellen. Die Mündlichkeit, so ferne sie der Rechtspflege dienen soll, kann nur als Mittel zur Geltendmachung des Wahren und Rechten, und blos in Beziehung auf diesen Zweck in Erwägung kommen. Daß das Recht den Sieg gewinne, das ist ihre Aufgabe; daß Rednergaben glänzen, ist keine Forderung des Rechts; diesem genügt an dem wahren überzeugenden Wort, gleichviel ob ein beredter Mund dabei sich selbst vertraute, oder ob der unberedte äußerer Hülfe dazu bedurfte." 29 An den letzten Formulierungen erkennt man die Zielrichtung der Warnung Feuerbachs: Er ist kein grundsätzlicher Gegner der Rhetorik, er w i l l nur vor Puristen warnen, die ausschließlich di e freie, ohne jedes Manuskript vorgetragene Rede vor Gericht zulassen wollen. Leider haben diese Puristen den Streit um die Mündlichkeit des Verfahrens bei der Beratung der Reichszivilprozeßordnung sehr angeheizt. Selbst nach der gesetzlichen Festschreibung der Prozeßmaxime von Öffentlichkeit und Mündlichkeit ging der 28
Zachariae (Fn. 20), S. 46. Feuerbach (Fn. 13), Bd. 1, S. 261. Vgl. hierzu auch Eberhard Kipper, Johann Paul Anselm Feuerbach. Sein Leben als Denker, Gesetzgeber und Richter, 2. Aufl. Köln 1989, S. 116. 29
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Kampf weiter. Der Reichsgerichtsrat Otto Bähr z.B. wurde nicht müde, die Einführung des Mündlichkeitsprinzips als Fehlentwicklung zu brandmarken 3 0 : Da die Schriftsätze nicht genügend vorbereitet seien, werde das Verfahren auf Luft gebaut. Infolge der ungleichmäßigen Verteilung der Redekunst unter den Anwälten bestehe die Gefahr, daß das Recht von der Qualität des Vortrages abhängig werde. Vor allem aber - und hier verwies Bähr auf die Zustände auf dem linken Rheinufer - würde das Verfahren durch nicht vorbereitete, nur ins Blaue hinein schwätzende Anwälte unerträglich in die Länge gezogen. So besonnene Prozessualisten wie Adolf Wach 3 1 hatten Mühe, Angriffe dieser Art abzuwehren. Das Mündlichkeitsprinzip ist im Laufe der Justizreformen des 20. Jahrhunderts wieder stark zurückgedrängt worden. Immerhin ist es als - in den Grenzen sehr unbestimmte - Maxime dem deutschen Verfahrensrecht erhalten geblieben 32 . Mit der Beredsamkeit war und ist es schlechter bestellt. Schon um 1909 klagte ein juristisches Anleitungsbuch: „Die Kunst der Rede ist nicht von der Aussprache im technischen Sinne allein abhängig: vieles gehört noch dazu, um einen Redner brauchbar werden zu lassen. Seit dem Untergange der forensischen und der Parlamentsrede ist viel darüber geschrieben, wenig dafür getan worden." 3 3 Wenn nicht alles täuscht, lebt jedoch die Kunst der juristischen Beredsamkeit wieder auf. Nicht nur, daß das Thema „Sprache und Recht" eine neue Aktualität gewonnen hat 3 4 , daß ferner an einzelnen Universitäten inzwischen wieder Vorlesungen zur juristischen Rhetorik angeboten werden und daß die Zahl der einschlägigen Lehrbücher wächst 35 ; darüber hinaus ist die Einsicht gewachsen, daß die Rhetorik einen wichtigen Beitrag für die Jurisprudenz zu leisten vermag. Seit Theodor Viehweg 1953 die Topik, eine von der klassischen Rhetorik entwickelte Techne des Problemdenkens, als juristische Argumentationstheorie aus der Vergessenheit hervorgehoben hatte, ist - in Zusammenarbeit mit der Linguistik und der Kommunikationsforschung - ein eigener Wissenschaftszweig der rhetorischen Rechts-·
30 Otto Bähr, Das Rechtsmittel zweiter Instanz im deutschen Civilprozeß, Jena 1871, S. 58; ders., Der deutsche Civilprozeß in praktischer Bethätigung, Jena 1885. 31 Adolf Wach, Die Civilprozeßordnung und die Praxis, Leipzig 1886. 32 Die Einschätzung von Kip (Fn. 9), S. 156 ist wohl zu einseitig. Zur Diskussion im Hinblick auf das Verwaltungsstreitverfahren vgl. Strauch (Fn. 2), S. 355ff. 33 Paul Posener, Der junge Jurist, 2. Aufl. Breslau 1909, S. 63f. 34 Es sei hier nur auf die Abhandlungen von Paul Kirchhof, Die deutsche Sprache, in: Handbuch d. Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee / Paul Kirchhof, Bd. 1, Heidelberg 1987, S. 745 - 771, und Hans Hattenhauer, Zur Geschichte der deutschen Rechts- und Gesetzessprache (Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Jg. 5, Heft 2), Hamburg 1987, hingewiesen. 35 Solche Vorlesungen werden ζ. Z. zum Beispiel i n Regensburg angeboten. Aus der wachsenden Zahl der Lehrbücher sei genannt Fritjof Haft, Juristische Rhetorik, Freiburg - München 1978.
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theorie entstanden 36 . Es bleibt zu hoffen, daß diese Rückbesinnung auf die Rhetorik belebende Auswirkungen sowohl auf die Form wie auch den Inhalt von gerichtlichen Verfahren haben wird.
36 Als Spiegel des gegenwärtigen Diskussionsstandes sei auf die Festschrift für Theodor Viehweg verwiesen: Rhetorische Rechtstheorie, hrsg. von Ottmar Ballweg / Thomas-Michael Seibert, Freiburg - München 1982.
Biotechnologie, Verantwortung und Achtung vor dem menschlichen Leben Von Dieter Giesen I. Die biotechnische Herausforderung und ihre Verantwortbarkeit 1. Wissenschaftlich-technische Entwicklungen haben bereits in der Vergangenheit tiefe Spuren hinterlassen. Wohl keine Technologie hat indessen derart in das Verhältnis von Mensch und Natur und die Natur des Menschen selbst eingegriffen wie die moderne Biotechnologie. 1 Die modernen reproduktions- und gentechnischen Verfahren gestatten es dem Menschen, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen; sie setzen vor allem einige hochspezialisierte Biowissenschaftler und -mediziner in die Lage, auf die Grundlagen menschlichen Lebens einzuwirken sowie die Bedingungen menschlicher Fortpflanzung und seine biologische Natur zu verändern. 2 Durch die Möglichkeit, zunehmend Lebensprozesse auf molekularer Ebene verstehen zu können, scheint der Mensch bereits in einer Weise naturbeherrschend geworden zu sein, die ihn glauben lassen kann, auf metaphysische Begründungen als Erklärungszusammenhang menschlichen Seins verzichten zu können. 3 Es bedarf keiner Schreckensvisionen 4, um die Problematik jeder Form von Manipulation des menschlichen Lebens zu verdeutlichen. Schon heute hat der biomedizinische Fortschritt Realitäten geschaffen, die noch 1 Unter Biotechnologie soll hier - abweichend von der Definition der „European Federation of Biotechnology", vgl. dazu Arthur Kaufmann, „Rechtsphilosophische Reflexionen über Biotechnologie und Bioethik an der Schwelle zum dritten Jahrtausend", JZ 1987, S. 837 (838) - nur der Bereich verstanden werden, der heute unter dem Aspekt der Bioethik diskutiert wird. Hierunter fallen alle Grenzfragen von Biologie, Medizin und Genetik, sofern durch deren Anwendung der Mensch unmittelbar oder mittelbar in Mitleidenschaft gezogen wird. Zum Begriff der Bioethik, der vor allem in den Vereinigten Staaten benutzt wird, vgl. Otfried Höffe, Sittlich-politische Diskurse, Frankfurt/M. 1981, S. 175 - 179, 184 - 189. 2 Dieter Giesen, „Ethische und rechtliche Grenzen biomedizinischer Verfahren", in: Stephan Wehowsky (Hrsg.), Gen technologie. Chancen und Risiken, Band 14, Lebensbeginn und menschliche Würde, Frankfurt/M. - München 1987, S. 109 (110). 3 Hans-Walter Döring, Technik und Ethik, Frankfurt/M. - New York 1988, S. 15; Hans Jonas, „Technik, Ethik und Biogenetische Kunst. Betrachtungen zur neuen Schöpferrolle des Menschen", in: Rainer Flöhl (Hrsg.), Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 3, Genforschung - Fluch oder Segen? München 1985, 1 (S. 5 - 7). 4 Z.B. der denkbaren Schaffung von Hybridorganismen oder Chimären.
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vor einem Jahrzehnt unvorstellbar waren. 5 Am beunruhigendsten ist, daß durch die In-vitro-Fertilisation menschliche Embryos als billiges Forschungsmaterial Verwendung finden. Hier scheint eine Wissenschaft im Interesse angeblicher Humanisierung und zivilisatorischen Fortschritts sich über alles hinwegzusetzen, was sich im Laufe der Jahrhunderte an ethischen Grundpositionen herausgebildet hat. Der Forscher als Schöpfer, Herr und Richter; dies ist vielleicht die gefährlichste Einstellung, die sich aus der Macht und Handhabung dieser Technik ergeben könnte. 6 2. Die dem Menschen dienenden Chancen der Biotechnologie sollten sicher genutzt werden, doch darf die Forschung und technische Entwicklung nicht ohne Rücksicht auf die Interdependenz von Technik und Ethik vorangetrieben werden. Welche Konsequenzen und welche Möglichkeiten die moderne Biotechnologie in ihrem ganzen Spektrum für unsere Welt haben wird, läßt sich einstweilen noch nicht absehen. Mehr noch als sonst in der technischen Entwicklung haben hier Prognose und Zukunftsplanung eine herausragende Bedeutung, gilt es doch, in Zeitdimensionen zu denken, (die weit über ein Menschenleben hinausreichen. 7 In Anbetracht der unübersehbaren Folgen sollte daher höchste Vorsicht ein Gebot der Vernunft sein. Nicht zuletzt wegen der unabweisbaren Gefahr, daß insbesondere auf dem Gebiet der Gentechnologie nicht mehr rückholbare Prozesse eingeleitet werden, die die Natur des Menschen und aller zukünftigen Generationen irreversibel beeinflussen können, muß nach den Grenzen gefragt werden, jenseits derer die Entwicklung und Anwendung biotechnologischer Verfahren zwar noch technisch möglich, aber nicht mehr zu verantworten ist. 8 5 Dieter Giesen, International Medical Malpractice Law [MML], Tübingen - Dordr e c h t - B o s t o n - L o n d o n 1988, § 50; Dieter Giesen, „Probleme künstlicher Befruchtungsmethoden beim Menschen", JZ 1985, S. 652 - 661; Hansgeorg Gareis, „Biotechnologie heute - Bisherige Anwendung, Anwendungsmöglichkeiten und Ziele", in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1986/1, hrsg. von der Gesellschaft für Rechtspolitik Trier, München 1986, 1 (S. 11 - 16); Peter Lange, „Aktuelle Fragen der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Naturwissenschaftliche Erläuterungen", in: Hans-Ludwig Günther / Rolf Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Strafrechtliche Schranken?, Tübingen 1987, S . 3 - 1 9 ; Hanns-Kristian Rjosk, „In-vitro-Fertilisation und Embryo-Transfer", in: Elke Dietrich-Reichert (Hrsg.), Insemination. In-vitro-Fertilisation, Percha 1987, S. 29 - 80; Günter Schirmer, Status und Schutz des frühen Embryos bei der „In-vitro"-Fertilisation, Frankfurt/M. Bern - New York - Paris 1987, S. 7 - 12. 6 Albin Eser, „Genetik, Gen-Ethik, Gen-Recht?", in: R. Flöhl (Hrsg.), Gentechnologie, Chancen und Risiken, Band 3, Genforschung - Fluch oder Segen?, München 1985, S. 248 (254); Günter Altner, „Der Mensch als Geschöpf", in: Günter A l t n e r / E r n s t Benda / Georges Fülgraff (Hrsg.), Menschenzüchtung. Ethische Diskussion über die Gentechnik, Stuttgart 1985, S. 55 (57). 7 Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt/M. 1985, S. 45 - 46; Kaufmann (Fn. 1), S. 837 (842). β Kaufmann (Fn. 1), S. 837 (839); Höffe (Fn. 1), S. 210; Jonas (Fn. 3), S. 1 (3 - 4); Christof er Frey, „Die Diskussion um die Gentechnologie, Ethische und theologische Gesichtspunkte", in: R. Flöhl (Hrsg.), Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 3, Genforschung - Fluch oder Segen? München 1985, S. 97 (98); vgl. allg. Robert Spae-
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a) Es ist offenkundig, daß die hierbei an Ethik und Recht zu stellenden Fragen nicht leicht zu beantworten sind. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Wertvorstellungen miteinander in Konkurrenz stehen. In vielen Lebensbereichen ist das, was der eine als absolutes Gebot oder Verbot betrachtet, für den anderen nur eine unverbindliche Floskel. Angesichts des herrschenden Wertrelativismus und des zunehmenden Zweifels an überkommenen Wertvorstellungen, der sich vor allem in der entstandenen Anspruchshaltung der beliebigen Verfügbarkeit menschlichen Lebens zeigt, werden bei der Bewertung konkreter biotechnischer Verfahren in ihrer Anwendung beim Menschen verschiedene „richtige" Urteile möglich sein. Ein gemeinsames Handeln aufgrund gemeinsamer Grundwerte sowie eine allgemein akzeptierte Entscheidung scheinen daher nicht möglich. 9 Dennoch gilt es dort, wo wesentliche menschliche Grundwerte, wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder das Recht auf Leben, in entscheidender Weise bedroht sind, Rahmenbedingungen für biotechnisches Handeln zu benennen, soll menschliches Leben und Zusammenleben auch in Zukunft noch möglich sein. Um der menschlichen Würde willen, die verlangt, daß wir in freiheitlicher Selbstbestimmung existieren und uns nicht von unserer Technik besitzen lassen, müssen wir den biotechnologischen Fortschritt unter außertechnologische Imperative stellen. 10 Dieses Ziel erreichen wir nicht durch unkritische Herstellung einer allgemeingesellschaftlichen Technikakzeptanz. Alle technischen Innovationen müssen sich vielmehr daran messen lassen, ob sie auf Dauer der Entfaltung der Menschheit förderlich sind. Sie sind nur insoweit akzeptabel, als sie sich als Instrument der Befreiung des Menschen zu würdigem Selbstsein und als Instrumente der Sicherung unserer naturalen Lebensgrundlagen ausweisen lassen. 11 Deshalb wird der notwendige Willens- und Entscheidungsprozeß an einem vernunftgemäßen Umgang mit der menschlichen Natur, aber auch der gesamten Natur, deren Bestandteil wir sind, zu orientieren sein. b) Entsprechend bietet sich zur Artikulation dessen, was hinsichtlich der biotechnischen Dimension menschlichen Daseins vom Menschen an spezimann, „Wer hat wofür Verantwortung? Zum Streit um deontologische und teleologische Ethik", in: Herder Korrespondenz 1982, S. 345 - 350, 403 - 408. 9 Ernst Benda, „Gentechnologie und Recht", in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1986/1, hrsg. von der Gesellschaft für Rechtspolitik Trier, München 1986, S. 17 (20 - 1); Johannes Grandel, „Humangenetische Manipulationen und ihre ethischen Implikationen", in: Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 2, Genforschung und Genmanipulation, hrsg. von der Friedrich-Naumann-Stiftung, München 1985, S. 67 (68 - 9); Johannes Reiter, „Menschenwürde und Gentechnologie", in: Heinz Seesing (Hrsg.), Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 17, Technologischer Fortschritt und menschliches Leben, Frankfurt/M. - München 1988, S. 16 (17 - 18). 10 Jonas (Fn. 7), S. 52; vgl. a. Alfons Auer, Die Vernunft des Ganzen, S. 8 (zitiert nach masch.-schriftl. Skript). 11 Alfons Auer, „Verantwortete Zeitgenossenschaft", in: Gerfried W. Hunold / Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für Morgen, München 1986, S. 426 (430).
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fisch sittlichem Verhalten gefordert ist, kein adäquaterer Begriff als der der Verantwortung an. Eine solche Verantwortung geht über die Suche nach der situativ richtigen Entscheidung im konkreten Einzelfall hinaus. 12 Die gesamte Natur ist - theologisch - Gottes Geschenk - und - ethisch - uns zu treuer Verwaltung und Weitergabe übergeben. Es geht daher um eine Verantwortungsethik, welche die Folgen biotechnologischen Handelns für die menschliche Lebenswelt, die gesamte Ökologie mitbedenkt und Grenzen im Interesse künftiger Generationen setzt. Was sich uns in Anbetracht der möglichen Auswirkungen biotechnologischer Entwicklungen und Anwendungen als Aufgabe stellt, ist die Besinnung auf humane Grundsätze und eine Naturbetrachtung, die die Schöpfung bewahrt. 13 Verantwortliches Eintreten für eine humane Zeit des einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit kann sich nicht vor den Folgen biotechnischen Handelns hinwegstehlen. Teil einer ethischen Verantwortung ist es, frühzeitig das Risikopotential zu analysieren und Überlegungen zur Vermeidung dieses Risikos und zu der Frage anzustellen, ob der zu erwartende Nutzen in einem angemessenen und verantwortbaren Verhältnis zum Risiko steht. Unter dem Gesichtspunkt eines angemessenen Erfolges ist dabei stets der Mensch als Subjekt sowie die Natur als Ganzes zu achten und zu respektieren. In diesem Rahmen erscheint es erforderlich, auf die zentrale Bedeutung eines ganzheitlichen Verständnisses des Menschen aufmerksam zu machen. 14 Hierzu gehört das Bewußtsein, daß auch ein Leben mit Krankheit, Leiden und Behinderung Wert und Sinn hat und der Mensch nicht auf Kosten einer ganzheitlichen Betrachtung des Lebens der Begrenztheit wissenschaftlicher Methode und Erkenntnis untergeordnet werden darf. 3. Die Betonung und Berücksichtigung der bioethischen Kategorie der Verantwortung ist freilich nicht alles. Wo beispielsweise der Lebensschutz (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Konkurrenz mit der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) liegt, dort ist auch über konkurrierende Rechte zu entscheiden. Insofern erfordert die konkrete Entscheidungsfindung biotechnologisch verantwortlichen Handelns ethische Bewertungen und die Abwägung von Rechtsgütern. Dabei wird sich der Blick (nicht nur des Juristen) auf unsere Verfassung richten müssen, die gerade in einer Zeit, in der essentielle Grundwerte in einem vordergründigen Meinungspluralis12 Gerhard Mertens, Ökologische Ethik als Ethik der ökologischen Verantwortung, S. 1 (zitiert nach masch.-schriftl. Skript); Jonas (Fn. 7), S. 76 - 89. Zu den generellen Voraussetzungen und Kriterien ethischer Entscheidungsfindung, vgl. Otfried Höffe, „Ethik, Ethos", in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, in 5 Bänden, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Freiburg/Basel - Wien 1985ff., Bd. 2, Sp. 397 (408 -411). 13 Spätestens die vielschichtige Umweltkrise hat gezeigt, daß der Standpunkt, der Mensch sei der unumschränkte Herrscher der Welt, sich gegen den Menschen verkehrt hat. 14 Auer (Fn. 10), S. 11, 13-14.
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mus zu zerfallen drohen, noch am ehesten den Bestand notwendiger gemeinsamer Grundüberzeugungen widerspiegelt und zur Durchsetzung von ethisch geprägten Verhaltensnormen herangezogen werden kann. 1 5 a) Allerdings sollte nicht verkannt werden, daß bei so neuartigen Problemen wie denen der Biotechnologie die Argumentation sich nicht auf eine Auslegung des geltenden Verfassungsrechts verkürzen läßt. Pflicht und Verantwortung für den Menschen gehen weiter, als dies durch Rechtsnormen festgelegt werden kann. 1 6 Die Kontroverse zwischen der Unantastbarkeit der Menschenwürde oder dem Recht auf Leben einerseits und der Forschungsfreiheit andererseits weist ohne Zweifel überpositiven Charakter auf. 17 Hier kommt der Ethik, deren Wertbereich umfassender ist als der des Rechts 18 , die Aufgabe zu, das Recht zu ergänzen und zu vertiefen. Die Frage der Verantwortungsethik nach dem sittlich richtigen Handeln in einer konkreten Situation ist zwar auch eine Frage nach der richtigen Abwägung der konkurrierenden Güter 1 9 , sie wendet sich zugleich jedoch an die im Gewissen des einzelnen andrängende Pflicht zu verantwortlichem Handeln. Insoweit könnte sie den Weg zu einem vernünftigen Umgang mit den neuen Biotechniken weisen, und darüber hinaus die Respektierung von Normen und Werten bewirken, die als Grundlage unserer menschlichen Gemeinschaft dienen und in ihrer Funktion als reflektierende und steuernde Momente wissenschaftlich-technischer Errungenschaften unerläßlich sind. 20 b) Wenn man dem biotechnischen Fortschritt allerdings verbindlich Vorgaben geben oder Grenzen setzen will, genügt dafür nicht schon die Artikulation ethischer Grundsätze und der Appell an das Verantwortungsbewußtsein des einzelnen. Vielmehr müssen normative Überlegungen, die sich in Verbote und Gebote niederschlagen sollen, an der bestehenden Rechts15 Albin Eser, „Biotechnologie und Recht: Strafrechtliche Bewehrung", in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1986/1, hrsg. von der Gesellschaft für Rechtspolitik Trier, München 1986, S. 105 (109); Benda (Fn. 9), S. 17 (21); allg. Josef Isensee, „Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens", NJW 1977, S. 545 - 551. 16 Walter Ch. Zimmerli, „Dürfen wir, was wir können?", in: R. Flöhl (Hrsg.), Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 3, Genforschung - Fluch oder Segen?, München 1985, S. 59 (76 - 77); Otfried Höffe, Wann ist eine Forschungsethik kritisch? Plädoyer für eine judikative Kritik, S. 13 (zitiert nach masch.-schriftl. Skript). 17 Höffe (Fn. 16), S. 12. 18 Höffe (Fn. 1), S. 184 - 185; Wolfgang Kluxen, „Manipulierte Menschwerdung", in: R. Flöhl (Hrsg.), Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 3, Genforschung Fluch oder Segen? München 1985, S. 16 (18 - 19); Zimmerli (Fn. 16), S. 59 (70 - 71); allg. Ludgar Honnef eider, „Die Begründbarkeit des Ethischen und die Einheit der Menschheit", in: G. W. Hunold / W. Korff (Hrsg.), Die Welt von Morgen, München 1986, S. 315 - 327. 19 Insoweit zutreffend Franz Böckle, „Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen", Referat zum 56. Deutschen Juristentag Berlin 1986, in: Verhandlungen des 56. DJT, Band II: Sitzungsberichte, Teil K, München 1986, K29 (K31). 20 Döring (Fn. 3), S. 34.
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Ordnung gemessen werden. Im folgenden wird daher der Versuch unternommen, die inhaltlichen Schranken, die sich aus dem geltenden Recht ableiten, zu benennen, um auszuloten, inwieweit rechtspolitischer und gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Bei der Breite und Vielfalt des Themengebietes können dabei nur einige Probleme angesprochen werden. Das Hauptaugenmerk soll auf den Bereichen liegen, die sich aus dem Kontext mit den Ansprüchen der Forschung auf experimentelle Verwendung menschlicher Embryos und deren Schutzbedürftigkeit ergeben. Die künstlichen Reproduktionstechniken und ihre ethischen und rechtlichen Implikationen seien hier weitgehend ausgeklammert; nur insoweit diese Techniken die Ausgangsbasis für die Embryoforschung sowie weiterer zellbiologischer und gentechnischer Verfahren bilden, werden sie in die Erörterung mit einbezogen.21 II. Utilitaristische Erwägungen und der gebotene Schutz menschlichen Lebens 1. Wo es um den Umgang mit menschlichem Leben geht, ist die vornehmste Aufgabe unserer Rechtsordnung, Leben zu schützen und zu achten, Ausgangspunkt aller Überlegungen. Zentrale Bedeutung in der lebhaften Diskussion um die künstliche Erzeugung menschlichen Lebens und dessen Schutzbedürftigkeit hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Fristenlösung bei der Abtreibung erlangt. 22 Danach steht auch das sich entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Es besteht nahezu Einigkeit, diesen verfassungsrechtlichen Schutz menschlichen Lebens in Anbetracht künstlicher Reproduktionstechniken - unabhängig von der Art der Zeugung - vom Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu gewähren. 23 Da zu diesem Zeitpunkt zumindest artspezifisches Leben vor21 Ausf. zu diesem Problemkreis: Verhandlungen des 56. Deutschen Juris tent ages, Band II: Sitzungsberichte, Teil K: Die künstliche Befruchtung beim Menschen Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, München 1986; Giesen, M M L (Fn. 5), § 50 (auch rechtsvergleichend); Dieter Giesen, „Moderne Fortpflanzungstechniken im Lichte des deutschen Familienrechts", in: Festschrift für Cyril Hegnauer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hans Michael Riemer / Hans Ulrich Walder / Peter Weimar, Berlin 1986, 55 - 78; Adolf Laufs, „Die künstliche Befruchtung beim Menschen", JZ 1986, 769 - 777; Matthias Benecke, Die heterologe künstliche Befruchtung im deutschen Zivilrecht, Frankfurt/M. 1986; Michael Pap, Extrakorporale Befruchtung und Embryo transfer aus arztrechtlicher Sicht, Frankfurt/M. 1987; Walter Selb, Rechtsordnung und künstliche Reproduktion des Menschen, Tübingen 1987; Elke DietrichReichart (Hrsg.), Insemination. In-vitro-Fertilisation, Percha 1987; Peter Petersen, Retortenbefruchtung und Verantwortung, Stuttgart 1985. 22 BVerfG, 25.2.1975, BVerfGE 39, 1. 23 Vgl. Beschlüsse des DJT (Fn. 21), Ziff. V I L I , VII.2; Dieter Giesen, Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Referat zum 56. Deutschen Juristentag Berlin 1986, in: Verhandlungen des 56. DJT (Fn. 21); Giesen (Fn. 2), S. 109 (110 - 111); Laufs (Fn. 21), S. 769 (774); Kongregation für die Glau-
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liegt, wäre der Lebensschutz unvollständig, wenn er nicht jedes Stadium menschlicher Existenz mitumfaßte. 24 Es kann auch nicht auf eine bestimmte Entwicklungsstufe ankommen; allein die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch macht dieses Leben schütz- und achtungswürdig. „Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der ,lebt', zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt . . . kann hier kein Unterschied gemacht werden." 25 2. Vor diesem Hintergrund ist es weder mit dem Lebensrecht des einzelnen noch mit der Würde des Menschen zu vereinbaren, wenn menschliche Embryos zu verbrauchenden Experimenten in der Forschung herangezogen werden. Für einige Autoren scheint der hier gegebene Wertkonflikt mit dem Grundrecht der Freiheit von Wissenschaft und Forschung (Art. 5 Abs. 3 GG) dennoch zugunsten der letzteren eine affirmative Antwort nahezulegen. 26 Die Argumentation rückt hierbei naturgemäß das angestrebte Ziel der medizinischen Hilfe in den Vordergrund. 27 Wenn durch die biomedizinische Forschung Krankheiten früher oder besser erkannt, geheilt oder verhindert und somit menschliches Leid gemindert werden kann, könne die Forschung ihrer Verantwortung zum Handeln nur gerecht werden, wenn ihr der notwendige Freiraum zur Gewinnung neuer Erkenntnisse belassen werde. 28 Schließlich sei bei der erforderlichen Abwägung kollidierender Grundrechtsgüter zu bedenken, daß hier die Forschung zugleich der Erhaltung des Lebens und der Gesundheit vieler Menschen, vor allem künftiger Generatiobenslehre, „Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden Leben und die Würde der Fortpflanzung", in: S. Wehowsky (Hrsg.), Gentechnologie. Chancen und Risiken, Band 14 (Lebensbeginn und menschliche Würde), Frankfurt/M. - München 1987, S. 3 (11); Heribert Ostendorf, „Experimente mit dem ,Retortenbaby' auf dem rechtlichen Prüfstand", JZ 1984, S. 595 (598 - 599); Wolfgang Graf Vitzthum, „Gentechnologie und Menschenwürde", in: MedR 1985, S. 249 (252); Albin Eser, „Forschung mit Embryonen in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Sicht", in: H.-L. Günther / R. Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Strafrechtliche Schranken?, Tübingen 1987, S. 263 (286 - 287); Michael Pap, „Die Würde des werdenden Lebens in vitro", MedR 1986, S. 229 (234); Günter Mersson, Fortpflanzungstechnologien und Strafrecht, Bochum 1984, S. 74. 24 Giesen (Fn. 2), S. 109 (111); Graf Vitzthum (Fn. 23), S. 249 (252); Adolf Laufs, „Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht", in: H.-L. Günther / R. Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Strafrechtliche Schranken?, Tübingen 1987, S. 89 (104). 25 BVerfG, 25.2.1975, BVerfGE 39, 1 (37). 26 Erich Fechner, „Menschenwürde und generative Forschung und Technik", JZ 1986, S. 653 (658 - 660); Rupert Scholz, „Instrumentale Beherrschung der Biotechnologie", in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1986/1, hrsg. von der Gesellschaft für Rechtspolitik Trier, München 1986, S. 59 (64 - 74); Hasso Hofmann, „Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum?", JZ 1986, S. 253 (257 - 259). 27 Vgl. hierzu Barbara Hobom, „Genetisch veränderte Körperzellen zur Heilung von Hirnschäden", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 27 v. 1.2.1989, N l . 28 Diese Argumentation haben sich auch führende deutsche Wissenschaftsorganisationen zu eigen gemacht; vgl. Stellungnahme der DFG zum Diskussionsentwurf eines Embryoschutzgesetzes v. 9.3.1987, hrsg. v. DFG-Pressereferat, S. 2.
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nen diene. 29 Auch wenn man mit der ganz überwiegenden Auffassung den Beginn des von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Lebens mit der Verschmelzung der Gameten zusammenfallen läßt, sei damit noch keineswegs festgelegt, daß dieses Leben der „Zygote" 3 0 als entsprechend absolut geschütztes Leben zu sichern sei. Denn der Schutz des Lebens werde von der Rechtsordnung, namentlich der Strafrechtsordnung, in durchaus abgestufter Form gewährleistet. Diese Abstufungen können für das „latente" menschliche Leben des frühen Embryos durchaus eingeschränkte Schutzregeln erlauben. 31 Aus alledem wird dann der Schluß gezogen, daß Forschung mit und am Menschen grundsätzlich legitim sei. 32 Und das müsse auch für die Reproduktionsmedizin und Humangenetik gelten. 33 3. Sicher w i r d die hiermit vorgenommene Rechtfertigung der Experimente mit menschlichen Embryos anhand durchaus achtenswerter Forschungsziele abgeleitet. Für die Gebiete der Krebs- oder Aidsforschung könnte die Embryoforschung in Zukunft unentbehrlich sein. Aber selbst wenn diese Krankheiten alsbald vermieden oder geheilt werden könnten, darf die Rechtfertigung biomedizinischen Handelns nicht ausschließlich von den durch sie erzielten positiven Folgen oder intendierten Zielen her bewertet werden. Der noch so gute Zweck heiligt gerade nicht jedes Mittel. Abgesehen vom derzeit nicht nachweisbaren Nutzen ist der propagierte Sachzwang biomedizinischer Forschung durch das Lebensrecht des Embryos erheblich eingeengt. Wenn der Embryo von Anfang an unter dem Schutz der Verfassung steht, darf er nicht als Objekt gesellschaftlicher Interessen betrachtet werden. Der verfassungsrechtliche Achtungs- und Schutzanspruch jedes menschlichen Wesens darf auch nicht durch eine unangemessene Bevorzugung anderer Grundrechtsgüter, etwa durch einseitige Akzentuierung der Forschungsfreiheit, in seinem Wesensgehalt angetastet werden. 34 Die Bedeutung, die jedes einzelne Grundrecht für die Ausgestaltung der natürlichen und sozialen Lebenswirklichkeit im ganzen besitzt, ist im Konfliktfall zwischen einzelnen Rechtsgütern besonders zu beachten. Denn 29 Scholz (Fn. 26), S. 59 (81); Fechner (Fn. 25), S. 653 (659); Stellungnahme der DFG (Fn. 28), S. 2. 30 Es ist bezeichnend, daß gerade forschungsfreundliche Äußerungen immer wieder den Begriff der „Zygote" (oder >Prä-Embryo welches in seiner Darstellungsweise für lange Zeit prägend blieb; der begriffliche Rahmen des Sachenrechts erhielt den Vorrang gegenüber der Interessenbewertung, wie sie etwa bei Heck stattgefunden hatte. Im Familienrecht legte Günther Beitzke mit seinem Lehrbuch von 1947 eine Grundlage für seine langjährigen fruchtbaren dogmatischen Bemühungen um dieses Rechtsgebiet 129 . Dabei wurden Reformbedürfnisse vorsichtig angesprochen, etwa zum Ehegüterrecht 130 oder zum Recht der unehelichen Kinder 1 3 1 . - Das Familienrechtslehrbuch von Heinrich Lehmann132 beginnt mit dem Satz: „Nirgendwo sonst muß deshalb das positive Recht dem k r i t i schen Blick mehr als die Verkörperung des ewig Gestrigen erscheinen" 133 . 122
E b d , S. 221 ff. Hermann Nottarp, Bürgerliches Recht, Allgemeiner Teil, 1948. 124 Ludwig Enneccerus / Heinrich Lehmann, Recht der Schuldverhältnisse, Allgemeine Lehren, 13. Aufl. 1949. - Der Besondere Teil erschien 1950. 125 Justus W. Hedemann, Schuldrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, 3. Aufl. 1949. 126 Josef Esser, BGB Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 1949. 127 Julius von Gierke, Das Bürgerliche Recht, Sachenrecht, 3. Aufl. 1949. 128 Friedrich Lent, Sachenrecht, 1949. 129 Günther Beitzke, Familienrecht, 1947. 13 0 Ebd., S. 66f. 131 Ebd., S. 128. 132 Heinrich Lehmann, Deutsches Familienrecht, 2. Aufl. 1948. 1 33 Ebd., S. 7. 123
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Lehmann trat für Reformen im Ehegüterrecht ein 1 3 4 , die in der Sache auf den Empfehlungen des Deutschen Juristentages von 1924 beruhten. Im übrigen wünschte er generell eine „Nachprüfung" der familienrechtlichen Vorschriften 135 , wobei er allerdings in einer Gleichstellung der unehelichen Kinder eine Ehegefährdung sah 136 . - Wahrhaft konservativ blieb die Neuauflage des Familienrechtslehrbuchs von Heinrich Mitteis 131. Er verfocht u.a. das Alleinentscheidungsrecht des Mannes mit der Begründung, daß dieser „niemals die Frau nachträglich mit der Verantwortung belasten" dürfe 1 3 8 , und die Gleichstellung der unehelichen Kinder wurde als Verstoß gegen das Prinzip der Gerechtigkeit bewertet 139 . Zum Erbrecht schließlich sind als Neuerscheinungen zwei Grundrisse aus dem Jahre 1949 zu erwähnen 140 . b) Die neue Kommentarliteratur der ersten Nachkriegszeit stellte sich überaus schmal dar. Wenn man von der Kommentierung des Allgemeinen Teils durch Aloys Boehle-Stamschräder 141 absieht, waren es nur die Neuauflagen des Palandt 142, welche neuere dogmatische Entwicklungen kommentarhaft wiedergaben. Im übrigen blieb es bei den klassischen Kommentaren aus der Zeit vorher. - So zeigte sich bei Lehrbüchern und Kommentaren besonders stark das Bemühen um die Fortführung, eventuell auch die verbesserte Fortführung der bis 1933 gewonnenen Erkenntnisse. c) Von den nicht zahlreichen monographischen Veröffentlichungen zum bürgerlichen Recht sind aus dem Jahre 1947 von Alfred Hueck „Der Treuegedanke im modernen Privatrecht" und von Walter Erman die „Personalgesellschaften auf mangelhafter Vertragsgrundlage" zu nennen. 1948 erschien von Rudolf Müller-Erzbach eine umfangreiche Untersuchung über das Mitgliedschaftsrecht, von Günter Beitzke „Nichtigkeit, Auflösung und Umgestaltung von Dauerrechtsverhältnissen" sowie von Johannes Bärmann eine Studie über die typisierte Zivilrechtsordnung. Ebenso sind zu nennen von Hans Brox „Die Einrede des nichterfüllten Vertrages beim Kauf" und von Werner Flume „Eigenschaftsirrtum und Kauf". Im Jahre 1949 kamen Ulrich von Lübtow „Schenkungen der Eltern an ihre minderjährigen Kinder und der Vorbehalt dinglicher Rechte", Horst Neumann-Duesberg „Das gesprochene Wort im Urheber- und Persönlichkeitsrecht" und Reinhard von Godin „Nutzungsrecht an Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen" hinzu. 134 135 136 137
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Ebd., S. 129. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Heinrich Mitteis, Familienrecht, 4. Aufl. 1949. Ebd., S. 86. Ebd., S. 7. Friedrich Wilhelm Bosch, Erbrecht, 1949, und Rolf Dietz, Erbrecht, 1949. Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1948/9. Bis zur 7. Aufl. von 1949.
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Diese Arbeiten waren für die nachfolgende Forschung durchweg richtungweisend, auch in ihrem Streben, ungeklärte Punkte der vorhandenen juristischen Dogmatik vorsichtig auszufüllen. Neben den spezifischen Monographien erschienen seit der Wiederaufnahme des Universitätsbetriebes auch neue juristische Dissertationen. Im hier untersuchten Zeitraum wurden 109 Arbeiten vorgelegt 143 . Behandelt wurden, mit Schwerpunkt im Schuldrecht und im Sachenrecht, ganz überwiegend Fragen, die bereits vorher kontrovers beurteilt worden waren; Impulse für die künftige juristische Forschung gingen von diesen Arbeiten nur in geringem Maße aus 144 . d) Von den zahlreichen wissenschaftlichen Einzelbeiträgen, die zwischen 1946 und 1949 in juristischen Sammelwerken oder Zeitschriften als Aufsätze und Urteilsanmerkungen erschienen, können schon von der Anzahl her keineswegs alle angeführt werden; von ihrer inhaltlichen Relevanz her ist dies auch nicht erforderlich. Hervorzuheben wegen ihrer über die Aktualität hinausreichenden Bedeutung ist aber eine Reihe dieser Publikationen. Dies gilt zum Allgemeinen Teil des BGB für das Gutachten von Konrad Duden über die Verwendbarkeit der Stiftungsform für vergesellschaftete Betriebe 1 4 5 sowie für die Studien von Hans Brandt über die zivilrechtlichen Wirkungen von Schwarzmarktgeschäften 146 und von Helmut Coing über „Allgemeine Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Begriff der guten Sitten" 1 4 7 . Ulrich von Lübtow schrieb über das „Geschäft für den, den es angeht" 1 4 8 , Otto Lange arbeitete die Bedeutung der behördlichen Genehmigung im rechtsgeschäftlichen Verkehr heraus 149 . - Zum Mietvertragsrecht erschien 1949 von Karl A. Bettermann „Das Wohnungsrecht als selbständiges Rechtsgebiet". Die Weiterentwicklung eines deliktsrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts befürwortete Coing 150; Ernst Boesebeck untersuchte die Denunziation im Zusammenhang des § 826 BGB 1 5 1 . Im Familienrecht gab es Reformvorschläge zum Ehegüterrecht von Arthur Müller 152 und Friedrich von Lücke 153. Gustav Boehmer trat in „Ehepflicht 143
An den zuständigen Fakultäten in den westlichen Besatzungszonen. Eine Ausnahme macht z.B. die Freiburger Dissertation von Gotthard Paulus über den Anwendungsbereich des § 419 BGB aus dem Jahre 1946; sie wird bis heute in der Rechtsliteratur angeführt. 145 BB 1947, S. 142. 146 MDR 1948, S. 165 u. 201. 147 NJW 1947/48, S. 213. 148 ZHR 112 (1949), S. 227. 149 NJW 1949, S. 201. 150 SJZ 1947, S. 641. 151 NJW 1947/48, S. 13. 152 NJW 1947/48, S. 41. 153 JR 1948, S. 310. 144
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und Persönlichkeitsrecht der F r a u " 1 5 4 für das Recht der Ehefrau auf außerhäusliche Arbeit ein; er nahm auch gegen das Ehehindernis der Geschlechtsgemeinschaft Stellung 1 5 5 . Aus dem Ehescheidungsrecht ist die Arbeit von Friedrich Wilhelm Bosch über den Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau hervorzuheben 156 . - Und aus dem Erbrecht soll auf E. Natters Studie zur Verwirkungsklausel in letztwilligen Verfügungen 157 hingewiesen werden. e) Zusammenfassend läßt sich zur bürgerlichrechtlichen Forschung während der ersten Nachkriegszeit sagen, daß sie vielfach auf aktuelle Ereignisse hin orientiert w a r 1 5 8 , was angesichts der zahlreichen gravierenden Veränderungen durchaus verständlich ist. Im übrigen wurde angestrebt, das überkommene System des bürgerlichen Rechts zu verfeinern. Nur wenige über die Tradition hinausweisende Arbeiten traten hervor; sie plädierten in vorsichtigen Schritten und zumeist aus älteren theoretischen Ansätzen schöpfend für kleinere Veränderungen im dogmatischen Verständniszusammenhang des bürgerlichen Rechts. Adressaten ihrer Überlegungen sollten neben dem Kollegenkreis - in erster Linie die Richter sein. Große gesetzgeberisch auszufüllende Visionen wurden nicht konzipiert. Sie wären damals wohl auch kaum akzeptiert worden. Denn das Selbstverständnis seiner Zeitgenossen gab Ludwig Raiser 159 zutreffend wieder, als er, in Anlehnung an den Titel von Savignys Programmschrift aus dem Jahre 1814 160 , den Satz formulierte: „Gesetzgebung war und ist auf lange hinaus nicht der Beruf unserer Z e i t " 1 6 1 . - Insgesamt herrschte unter den Rechtswissenschaftlern der Zeit ein positives Urteil über das Bestehende, wie es noch im Jahre 1950 bei den Jubiläumswürdigungen für das BGB von Helmut G. Isele 162, Guido Kisch 163 und Justus W. Hedemann 164 zum Ausdruck gebracht wurde.
!54 DRZ 1949, S. 73. iss DRZ 1948, S. 472. 156 DRZ 1947, S. 82. is? DRZ 1946, S. 163. 158 So äußerten sich z.B. kontrovers zur Ersatznaturalrestitution (vgl. zur Rspr. oben Fn. 65) Franz Leonhard (SJZ 1946, S. 168), Erwin Dittmar (SJZ 1946, S. 218), Rudolf Bruns (SJZ 1947, S. 301), Benno Nehlert (JR 1947, S. 41), Heinrich Jagusch (DRZ 1948, S. 97), Wilhelm Haselhoff (NJW 1948, S. 48, 286), R. Witthake (MDR 1948, S. 134) und Georg Benkard (JR 1948, S. 90). 159 Gött. Universitätszeitung Nr. 20 vom 15. 11. 1946. 160 Wahrscheinlich sollte auch auf den Vortrag angespielt werden, den der damalige Staatssekretär Schlegelberger im Januar 1934 vor der Akademie für Deutsches Recht (AkDR) unter dem Titel „Der Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung", Jahrbuch AkDR 1, S. 99, - ebenfalls mit Bezug auf von Savignys Formulierung - gehalten hatte. 161
Im gleichen Sinne äußerte sich auch Walter Mallmann, DRZ 1946, S. 52. 162 AcP 150, S. 1. 163 NJW 1950, S. 1. 164 JR 1950, S. 1.
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5. Gesamt Würdigung Versucht man, die Nachkriegsentwicklungen des bürgerlichen Rechts in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft einer Gesamtwürdigung einzuordnen, so zeigt sich eine deutliche Homogenität der drei Bereiche: Die westalliierten Gesetzgeber gingen von einer Fortgeltung des größtmöglichen Teils der überkommenen Vorschriften im bürgerlichen Recht aus. Deutsche Rechtsprechung und Rechtswissenschaft traten ebenfalls im größtmöglichen Umfang in die Nachfolge der überkommenen Entscheidungs- und Denktraditionen ein. So zeigte sich die erste Nachkriegszeit als Beispiel des unausgesprochenen Einverständnisses aller maßgeblich Beteiligten über das anzustrebende Ziel einer Bewahrung der bürgerlichrechtlichen Ordnung in Deutschlands westlichen Besatzungszonen 165 . Nur ganz vorsichtig und ohne Systemsprengung wurden Rechtsfortbildungen in Betracht gezogen. Wenngleich bereits 1949 theoretisch absehbar war, daß Westdeutschland auf die Dauer nicht die verbesserte Weimarer Republik sein konnte, so waren es doch erst die späteren Jahre, in denen die geistigen und tatsächlichen Veränderungen so viel stärker hervortraten, als man es zunächst für möglich gehalten hätte. Dies jedoch mindert den historischen Wert und die Bedeutung der traditionbewahrenden Nachkriegszeit in keiner Weise. Die Juristen der Besatzungszeit erhielten dem bürgerlichen Recht seine feste Grundlage, an der gemessen alle späteren Veränderungen einer besonderen Rechtfertigung bedurften. Nicht erfüllt haben sich die zum BGB-Jubiläum von einigen Autoren gehegten Erwartungen 166 , das bürgerlichrechtliche Denksystem könne sich als einigende Klammer für beide Teile Deutschlands stärker zeigen als die unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Und auch der Aufruf Walter Hallsteins von 1946 167 zur Herstellung des europäischen Zusammenhalts im bürgerlichen Recht ist bis heute noch keineswegs verwirklicht.
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Das steht in gewisser Parallele zur Bewahrung der Kontinuität in der Rechtspflege (vgl. dazu etwa Karl Siegfried Bader, DRZ 1949, S. 1), zu deren „Neubeginn durch Anknüpfung", Wenzlau (Fn. 28), S. 330. 166 v g l z u F n > 152 bis 164 genannten Veröffentlichungen. 167 SJZ 1946, S. I f f . 1
Festschrift P. Mikat
Die sog.,Friedelehe' im Island der Saga- und Freistaatszeit (870 - 1264) Von Else Ebel Wird in den rechtshistorischen Arbeiten, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland erschienen sind, der Begriff der ,Friedelehe 4 behandelt, so findet sich übereinstimmend die Auffassung, daß die Forschungen des Rechtshistorikers Herbert Meyer - insbesondere dessen Arbeiten „Friedelehe und Mutterrecht" (1927) und „Ehe und Eheauffassung bei den Germanen" (1940)1 - die ,Friedelehe' als nachweisbaren Ehetypus bei den Germanen ergeben haben. Dieser Ehetypus wird dabei wie folgt gekennzeichnet: - Die Ehe wird auf Grund beiderseitiger Übereinstimmung von Mann und Frau geschlossen. - Die Ehe ist undotiert und muntfrei. (Die Frau und auch die einer solchen Verbindung entstammenden Kinder stehen nicht unter der Munt des Mannes, sondern bleiben in der Familie der Frau.) - Diese Ehe war seitens der Frau leichter zu scheiden. - Die Frau erhielt eine Morgengabe. - Diese Eheform, auch ,freie Ehe' oder ,Konsensehe' genannt, war in früher Zeit nicht geringer geachtet als eine Vertragsehe. Als Gründe, die eine Frau (oder einen Mann) dazu bewogen haben könnten, eine solche ,Minderehe' einzugehen, werden angegeben: - Einheirat bei einer Erbtochter. - Die Frau war höheren Standes als der Mann. - Reine Neigungsheirat. - Wiederverheiratung von Witwen. - Sippenlose Frauen. Werden auch bei den angeführten Punkten inzwischen gewisse Einschränkungen gemacht, so wird doch die Existenz einer solchen undotierten 1 Herbert Meyer, Friedelehe und Mutterrecht, in: ZRG GA 47 (1927), S. 198 - 286; ders., Ehe und Eheauffassung bei den Germanen, in: Festschrift Ernst Heymann, 1940, Bd. I, S. 1 - 51.
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und muntfreien Ehe bei den Germanen - und hier besonders bei den Nordgermanen - kaum mehr bezweifelt 2 . Die Mutterrechtsthese ist inzwischen allgemein aufgegeben worden. Alfred Schnitze hat schon 1939 in seiner Untersuchung zum altnordischen Eherecht 3 - wo er die sog. ,freie Ehe' jedoch ausdrücklich ausspart - überzeugend dargelegt, daß die Selbstverlobung der Erbtochter (Frost.XI,18) nicht als ,Friedelehe' verstanden werden kann und somit der Beweis für die Einheirat bei einer Erbtochter wegfällt. Rainer Schulze in seinem Artikel „Eherecht" (Hoops 1987)4 bezweifelt die reine Konsensehe. (In Bezug auf die Bezeichnung ,Konsensehe' scheint jedoch die Terminologie der deutschen Forschung einerseits und der angelsächsischen (und skandinavischen) Forschung andererseits nicht ganz übereinstimmend zu sein. So bezieht sich Christian Gellinek in seiner Arbeit „Marriage by Consent in Literary Sources of Medieval Germany" (1967)5 zwar auf H. Meyer, kann jedoch letztlich eine ,Friedelehe' nicht nachweisen, sondern eher die Zustimmung der Partner in einer Muntehe, und Jenny M. Jochens, „Consent in Marriage: Old Norse Law, Life, and Literatur (1986)6, verfällt in das andere Extrem, indem sie zu beweisen sucht, daß eine ,Konsensehe', d.h. eine Ehe mit Zustimmung der Frau, im Norden erst durch die Kirche eingeführt wurde.) Der Gesichtspunkt jedoch - der sehr modern anmutet - , daß die ,Friedelehe' auf der freien Zuneigung der Partner zueinander beruhe und daß der im Norden herrschende Individualismus dieser freieren Form der Ehe entgegengekommen sei, wird noch in letzter Zeit - vgl. Hefmann Conrad (1962), Paul Mikat (1971), Werner Ogris (1971), Carola Gottzmann (1982), Edith Ennen (1984), oder Rainer Schulze (1987)7 - als besonders charakteristisch für die ,Friedelehe' hervorgehoben. Paul Mikat jedoch, dem dieser Beitrag gewidmet sei, gibt eine gewisse Unsicherheit zu, die bei der Beurteilung der ,Friedelehe' in letzter Zeit zu bemerken ist. In seiner umfangreichen Arbeit 2
Für die Verbreitung der These H. Meyers haben zu Anfang besonders gesorgt: Gerda Merschberger, Die Rechtsstellung der germanischen Frau (Mannus-Bücherei 57), Leipzig 1937. (Kritische Besprechung der Arbeit G. Merschbergers von Claus von Schwerin, in: ZRG GA 58 (1938), S. 824 - 839.), sowie Rudolf Köstler, Raub-, Kaufund Friedelehe bei den Germanen, in: ZRG GA 63 (1943), S. 92 - 136. 3 Alfred Schultze, Zum altnordischen Eherecht, SB d. Sächs. Akademie der Wiss. zu Leipzig 91/1 (1939), S. 1 - 99. 4 Rainer Schulze, „Eherecht", in: Hoops Bd. 6, 2. Aufl. 1987, S. 480ff., bes. S. 488 und 491 f. 5 Christian Gellinek, Marriage by Consent in Literary Sources of Medieval Germany, in: Collectanea Stephan Kuttner, Bd. 2 = Studia Gratiana 12 (1967), S. 558 579. 6 Jenny M. Jochens, Consent in Marriage. Old Norse Law, Life, and Literature, in: Scandinavian Studies 58 (1986), S. 142 - 176. 7 Hermann Conrad, Dt. Rechtsgeschichte, Bd. 1,1954, S. 55f. (2. Aufl. 1962, S. 37f.); Paul Mikat, „Ehe", in: HRG, Bd. I, Sp. 816f.; Werner Ogris, „Friedelehe", in: HRG, Bd. I, Sp. 1296f.; Carola Gottzmann, Njâls saga, Frankfurt/Bern 1982, S. 236f.; Edith Ennen, Frauen im Mittelalter, München 1984, S. 35f.; Schulze (Fn. 4), S. 488f.
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„Dotierte Ehe - rechte Ehe. Zur Entwicklung des Eheschließungsrechts in fränkischer Zeit" (1978)8 sagt er auf S. 53: „Ob die von Meyer bevorzugten Beispiele aus dem nordgermanischen Raum die Friedelehe tatsächlich als der Muntehe völlig gleichwertige Eheform stärker in Erscheinung treten lassen als die Rechts- und Geschichtsquellen aus merowingisch-fränkischer Zeit, bedarf noch klärender Einzeluntersuchungen." Dieser Satz soll Ausgangspunkt für die folgende Darstellung sein. Da sich Herbert Meyer bei seinen Schlußfolgerungen hauptsächlich auf altnordische Quellen stützt, ja überhaupt die Verhältnisse, die zur Entstehungszeit dieser Quellen im Norden geherrscht haben, noch als ursprünglicher germanisch betrachtet als die kontinentalen Verhältnisse jener Zeit, so sollen diese Quellen - es handelt sich in der Hauptsache um die isländischen Sagas - im Folgenden in ihrer Gesamtheit betrachtet und in Zusammenhang mit den altisländischen historischen Quellen gesetzt werden. Wichtig ist dazu jedoch vorab ein Wort zur Einordnung und Datierung dieser Zeugnisse: Die in den altisländischen Sagas geschilderten Ereignisse fallen fast alle in den Zeitraum, den man „Sagazeit" nennt. Er umfaßt die Jahre zwischen ca. 870 und 1030. Überliefert sind diese Sagas jedoch in einer Fassung, die frühestens um 1200 niedergeschrieben worden ist 9 . Man muß also davon ausgehen, daß die in den Sagas beschriebenen Zustände, vor allem die sozialen Umstände, durchaus die Verhältnisse des 13. und 14. Jahrhunderts wiedergeben können. Bei den historischen Quellen, die für diese Untersuchung in Frage kommen, handelt es sich vorwiegend um Sammelwerke. Es sind dies die Sammlung der Grâgâs, die in einer ersten Fassung, wie bezeugt ist, im Winter 1117/1118 niedergeschrieben wurde, und die in zwei Fassungen (Konungsbók und Staóarhólsbók) aus der Mitte des 13. Jahrhunderts erhalten ist; ferner die norwegischen und schwedischen Landschaftsrechte, deren früheste erhaltene Fassung ebenfalls erst aus dem 13. Jahrhundert stammt, weiter die isländische Landnämabök, in der vorliegenden Gestalt auch aus der Mitte des 13. Jahrhunderts herrührend, Snorris Heimskringla, ca. 1230 verfaßt, die Sammelhandschrift der Fagrskinna aus dem 13. Jahrhundert und die beiden wichtigsten Werke, die uns Aufschlüsse über die Verhältnisse, die auf Island im 12. und 13. Jahrhundert geherrscht haben, geben: die 8 Paul Mikat, Dotierte Ehe - rechte Ehe. Zur Entwicklung des Eheschließungsrechts in fränkischer Zeit, in: Rhein.-Westfäl. Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 227, Opladen 1978. 9 Zur Datierung der Sagas s. Kurt Schier, Sagaliteratur. Sammlung Metzler (M 78), Stuttgart 1970. Eine Übersicht über die Diskussion um die historische Glaubwürdigkeit der Sagas findet sich in: Sagadebatt. Ved Else Mundal, Universitetsforlaget, Bergen 1977; Fritz Paul, Das Fiktionalitätsproblem in der altnord. Prosaliteratur, in: ANF 97 (1982), S. 52 - 88; Walter Baumgartner, Soziologisches Erzählen in der Hcensa-Póris saga, in: Applikationen, hrsg. von W. Baumgartner, Frankfurt a.M. 1986, bes. S. 17-25.
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Sturlunga Saga, zu einem Sammelwerk vereinigt kurz vor 1300, und die Byskupasögur, die Erzählungen über die ersten isländischen Bischöfe enthalten, entstanden Anfang bis Ende des 13. Jahrhunderts. Die historischen Quellen des 13. Jahrhunderts sind nun, was Vertragsehe, eventuelle Friedelehe und Kebsehe betrifft, natürlich ganz eindeutig von der Einstellung der Kirche zu diesen Institutionen geprägt. Danach können also nur - nach Meinimg der Vertreter der sog. ,Friedelehen'-Theorie - die altisländischen Sagas einen älteren, in das Heidentum hinabreichenden Zustand erkennen lassen. Was die Vertragsehe betrifft, so erhält man aus den Isländer-Sagas den Eindruck, daß das geltende Eherecht Monogamie mit erlaubtem offenen Konkubinat war 1 0 . Wie Adam von Bremen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte schon bezeugt, war Vielweiberei zur heidnischen Zeit erlaubt 11 . In christlicher Zeit war Bigamie = isl. tvikvenni, tvikvcenni, ein strafbares Vergehen, und nur das isländische Recht macht hier eine für die Zeit der Niederschrift allerdings seltsam anmutende Ausnahme, in dem es einem auf Island verheirateten Mann in Norwegen eine weitere rechtsgültige Vertragsehe gestattet 12 . Was nun die sog. ,Friedelehe 4 angeht, so hat Herbert Meyer die Sagastellen, in denen das Friedelverhältnis (aitisi, friöla, frilla) belegt ist, im wesentlichen zusammengestellt. Sie bilden die Hauptgrundlage seiner Theorie. Diese Stellen sollen hier noch einmal, und zwar in dem Zusammenhang, in den sie gehören, angeführt und untersucht werden. (Die Reihenfolge, in der die Belege aufgeführt werden, richtet sich nach dem mutmaßlichen Alter der Sagas.) Egils saga K.7 1 3 , verfaßt ca. 1200 - 1230: Bjçrgôlfr, ein reicher und mächtiger Lehnsmann des norwegischen Königs, schon recht betagt und verwitwet, verlangt bei einem Besuch bei dem ebenfalls reichen (jedoch nicht so vornehmen) Bauern Hçgni, daß dieser ihm seine Tochter mitgeben solle. Vorher allerdings wollte er mit ihr eine ,lose Hochzeit 4 (aitisi, lausabrullaup) abhalten. Diese Stelle ist der einzige 10 Siehe dazu ausführlicher: Konrad Maurer, Über altnord. Kirchenverfassung und Eherecht. (Vorlesungen über altnord. Rechtsgeschichte II), Leipzig 1908, S. 473ff.; Andreas Heusler, Zum aitisi. Fehdewesen in der Sturlungenzeit. Abh. der kgl. Preuß. Akademie der Wiss., Phil.-hist. Kl.IV, 1912, S. 9; Olaf Klose, Die Familienverhältnisse auf Island vor der Bekehrung zum Christentum auf Grund der Îslendingasçgur (Nord. Studien X, hrsg. vom Nord. Institut der Universität Greifswald), Braunschweig 1929, S. 69 ff. 11 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum, IV, 21, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Frh. vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. XI, hrsg. von R. Buchner, 1961, S. 462. 12 Grâgâs I St.118, Ausgabe von V. Finsen 1852, S. 226 und Staòarhólsbók K.59, Ausgabe von V. Finsen 1879, S. 70. 13 Egils Saga Skalla-Grimssonar, Îslenzk Fornrit Bd. II, Reykjavik 1933 (Nachdr. 1979), S. 16 f.
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Beleg für dieses Wort im Altisländischen, und H. Meyer (Ehe und Eheauffassung bei den Germanen S. 26) hält es für den Terminus der Eheschließung der Friedel 14 . Nur führt Meyer nicht an, daß diese ,Hochzeit' gegen den Willen des Vaters abgehalten wurde, daß zwischen dem Bräutigam und der Braut ein Standesunterschied bestand (er war ein ,lendr madr' des Königs, sie war eine Bauerntochter) und daß der Bräutigam einen Kaufpreis entrichtete, der geringer war, als es der mundr nach den norwegischen und isländischen Gesetzen zu sein hatte. Er kaufte sie also wirklich, wie man eine Magd kauft, und die Söhne aus dieser Verbindung wurden später frillusonar genannt und hatten Schwierigkeiten, an ihr Erbe zu gelangen, da sie nicht nachweisen konnten, daß ihre Mutter mundi keypt war. In der neueren skandinavischen Literatur 1 5 wird diese ,lose Hochzeit' als eine vereinfachte Heiratsprozedur angesehen - dazu würde die Gleichsetzung mit dem Ausdruck skyndibrullaup 16 passen, zu aitisi, skyndi = Eile. Zieht man jedoch einen Vergleich zu anderen altisländischen Wörtern, die mit lausa- zusammengesetzt sind, so erhält man eine eher negativè Bedeutung für den Ausdruck lausabrullaup. So z.B. ist lausamadr eine Person ohne festen Wohnsitz, lausungar-kona eine leichtlebige Frau, lausakör eine Bedingung, die nicht festgelegt ist. Mit lausabrullaup wird hier wohl eine Verbindung bezeichnet worden sein, die ohne festen Vertrag zwischen beiden Sippen eingegangen worden ist, eine Verbindung in negativem Sinne. K.56 der Egils saga17, das ebenfalls von H. Meyer als Beweis dafür angeführt wird, daß frillutak (der gebräuchlichere Ausdruck für das Eingehen einer ,Friedelehe') als gültige Ehe angesehen wurde, handelt auch wieder von einem Erbschaftsstreit. Von Èóra, der Schwiegermutter Egils, heißt es: sie war „hernumin, en sidan tekin frillutaki, ok ekki at frœndarrâdi ok flutti land aflandi". Meyer (Ehe und Eheauffassung S. 27) sagt dazu: „Immerhin wird die frilla deutlich von der Kebse unterschieden. So wird in der Egils saga von einer Kriegsgefangenen berichtet, der von ihrem Herrn später die Stellung der Friedel eingeräumt wird." Im Kontext der Saga stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar: I>óra ist die Schwester des norwegischen Hersen l>órir. Egils späterer Schwiegervater Björn hatte um ihre Hand angehalten, eine Absage bekommen, und er hatte das Mädchen dann geraubt in 14 Zur Terminologie s. Wolf gang Krause, Die Frau in der Sprache der altisländischen Familiengeschichten, Göttingen 1926; Rolf Heller, Die literarische Darstellung der Frau in der Isländersaga, Halle 1958; ferner vor allem das Stichwort „Siegfred" in Kulturhist. Lexikon f. nord.medeltid XVI, 1971, Sp. 194 - 200, von J. U. Jorgensen / L. Carlsson / R. Frimannslund / J. Benedictsson. 15 Lizzie Carlsson, „Jag giver dig min dotter". Trolovning och äktenskap i den svenska kvinnans äldre historia, Lund/Stockholm 1965. Hier sind auch alle Belegstellen für das Vorkommen der frilla in den altschwedischen Texten gesammelt und erläutert. 16 Johan Fritzner, Ordbog over det gamie norske Sprog, Bd. II, Kristiania 1891, S. 434; Bd. III, 1896, S. 407. 17 WieFn. 13, S. 155.
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der Absicht, Hochzeit mit ihr zu halten (at géra brûdlaup til hennar). Aber auch sein eigener Vater wollte das nicht gegen den Willen der Verwandten des Mädchens zulassen, und so raubte Björn das Mädchen ein zweites Mal aus dem Hause seiner eigenen Mutter. Darauf heiratete er das Mädchen dann (gerdi brûdlaup). Man kann es also nicht als Kriegsgefangene, der später die Stellung einer Friedel eingeräumt wurde, bezeichnen. Probleme traten nur später wieder bei der Erbschaft auf, wo es um den nicht gezahlten mundr ging. Diese Situation - eine (Kriegs)gefangene, die zur frilla wird, tritt uns eher in der bekannten Episode aus der Laxdoela saga K.12 1 8 entgegen. Hçskuldr, ein isländischer Bauer, kaufte sich in Schweden eine Magd (ambâtt), die kriegsgefangene Tochter eines irischen Kleinkönigs. Sie kostete drei Mark Silbers. Das entspricht - abgesehen von dem hohen Preis - durchaus der (einzigen diesbezüglichen) Bestimmung in der Grâgâs 112: „Rett er at maâr cavpe til carnaöar ser amböt xii.avrom fyrir lof fram" (Ein Mann ist berechtigt, sich eine Hörige zu kaufen zur Fleischeslust 19 um zwölf Unzen auch ohne Erlaubnis (der Gesetzeskammer)) 20. Hçskuldrs Frau Jórunn nennt diese Magd frilla, der Sohn aus dieser Verbindung w i r d eigi eöliborinn = unehelich genannt. (Vgl. dazu auch die Landnamabók 21 , entstanden in erster Fassung ca. 1130, wo von den Söhnen Jarl Rögnvaldrs gesagt wird, sie seien friölusonar und ihre Familie mütterlicherseits öll jproelborin. In diesen beiden Fällen trifft allerdings eine wichtige Voraussetzung für die sog. ,Friedelehe' nicht zu: die Frau ist keine Freie.) In der gleichzeitig wie die Laxdoela saga anzusetzenden Vatnsdœla saga K.18 2 2 (1230 - 1280) ist ebenfalls von einer frilla die Rede. Hrolleifr, ein unangenehmer Mensch, hielt zunächst um die Tochter des Bauern Uni an. Er benutzte dabei das Wort eiga = heiraten. Uni verweigerte ihm die Heirat, da ihm seine Tochter für diesen Mann zu schade erschien. Daraufhin antwortete ihm Hrolleifr, er wolle etwas tun, was ôrâdligra = ungehöriger sei, nämlich das Mädchen solle seine frilla werden, und das sei noch gut genug für sie (henni />ó fullkosta). Hier wird also eindeutig eine Wertung eingebracht. Auch K.16 der (erst um 1300 enstandenen) Svarfdœla saga23, das Η. Meyer als Hauptbeleg dafür anführt, daß die Friedelehe nur eine andere, nicht 18
Laxdoela Saga, Îslenzk Fornrit Bd. V, Reykjavik 1934, S. 23 f. Maurer (Fn. 10), S. 477, leitet karnaöar von kör = Bett ab und übersetzt es mit „Bettgenossin" = Frilla. 20 Grâgâs I, S. 192 nach der Ausgabe von V. Finsen (Fn. 12). Übersetzung nach Andreas Heusler, Isländisches Recht, Weimar 1937, S. 177. Die Staóarhólsbók hat an dieser Stelle „kaupa sér ambâtt til eiginkonu". Nach Konrad Maurer, Vorlesungen über altnord. Rechtsgeschichte, Bd. 4, Leipzig 1908, S. 171, schließt dies eine vorherige Freilassimg der Magd nicht aus. 21 Ìslendingabók, Landnâmabôk, Îslenzk Fornrit, Bd. I, Reykjavik 1968, S. 314 u. 316. 22 Vatnsdœla Saga, Îslenzk Fornrit, Bd. VIII, Reykjavik 1939, S. 52. 23 Eyfirôinga Sçgur, îslenzk Fornrit, Bd. IX, Reykjavik 1956, S. 165f. 19
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mindere Form der Ehe sei, muß im Sagakontext gesehen werden: der isländische Gode Ljótólfr hatte Yngvildr fagrskinna zur frilla, deshalb bestand Freundschaft zwischen ihm und dem Vater des Mädchens. Dann jedoch (und das führt Meyer nicht mehr an) wollte sich Ljótólfr verheiraten - offenbar mit einer Frau aus einer angesehenen Familie - , und er zwang den Vater, Yngvildr schließlich an einen Freigelassenen zu verheiraten. Auch hier treten die sozialen Unterschiede zwischen den Beteiligten - Gode und Bauerntochter - deutlich zutage. Ebenso ist es nicht als echte Alternative zu werten (wie Meyer das tut), wenn in der Viglundar saga, entstanden erst im 14. Jahrhundert, K.13 2 4 zwei isländische Brüder einem norwegischen Kapitän anbieten, er könne ihre Schwester entweder heiraten (eiga hana) oder zur frilla nehmen (taka hana frillutaki). Hinter diesem Angebot steht ein Familienstreit; eine andere Hochzeit soll verhindert und dem Mädchen ein Schimpf angetan werden. Einen ähnlichen Vorschlag machte der Berserker Svartr jârnhauss, ein übler Kerl, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die Frauen, die ihm gefielen, für eine Weile zu sich zu nehmen, und keiner der in der Umgebung wohnenden Bauern wagte es, etwas dagegen zu unternehmen. Svartr verlangte die Schwester eines norwegischen Jarls entweder zur Ehefrau oder zur frilla. Auch diese Saga, die Flóamanna saga25, ist eine sehr späte Saga und trägt märchenhafte Züge. Schließlich darf auch die von H. Meyer (Ehe und Eheauffassung S. 28) angeführte Stelle aus Snorris Haralds saga hârfagra K.3 2 6 nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden. Haraldr sandte seine Leute zu Gyöa, der Tochter eines norwegischen Kleinkönigs, und ließ sie bitten, seine frilla zu werden. Sie antwortete ihm, daß er sich zuerst ganz Norwegen unterwerfen solle, dann wolle sie seine eiginkona - also nicht seine frilla! - werden. Dazu meint H. Meyer: „... daß hier ein Konkubinat vereinbart werde, ist danach völlig ausgeschlossen". Das Ganze ist jedoch wohl eher als ausgeschmückte Anekdote zu werten. K.20 2 7 wird dann noch berichtet, daß sich Haraldr Gyöa später als Beischläferin holte (hann lagöi hana hjâ sér) und mit ihr fünf Kinder hatte. Im übrigen besaß Haraldr viele Frauen, und als er dann Ragnhildr, die Tochter König Eirikrs von Jótland heiratete, entließ er neun seiner Frauen. Dafür wird im Text die Wendung lâta af = entlassen gebraucht. Auch in den übrigen Erzählungen der Heimskringla wird die Beziehung zu einer frilla nicht als etwas der Ehe Gleichzusetzendes angesehen. Ein Bei24
Kjalsnesinga Saga, îslenzk Fornrit, Bd. XIV, Reykjavik 1959, S. 85. Flóamanna Saga K.15, hrsg. von F. Jónsson, SUGNL 56,1932, S. 21 f. 26 Heimskringla I (von Snorri Sturluson), Îslenzk Fornrit, Bd. XXVI, Reykjavik 1979, S. 96. 27 Heimskringla I (Fn. 26), S. 118 f. 25
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spiel aus der Ólàfs saga helga mag genügen: K.92 und K.94 2 8 wird berichtet, daß König Ólàfr von Norwegen Ingigerör, die Tochter des Schwedenkönigs und der Königin heiraten wollte. Sie wurde ihm zunächst versprochen, doch dann erhielt er nur Astriör, die Tochter des Königs und einer frilla zur Frau. Sie wurde zwar mit der gleichen Mitgift (heimanfylgja), die auch Ingigerör erhalten hätte, ausgestattet, und Ólàfr mußte die gleiche Brautgabe (tilgjçf) zahlen, doch wird immer auf den Unterschied hingewiesen: Ingigerör ist konungsborin ί aliar âlfur , die Mutter Astriörs jedoch ist eine Magd (ambâtt). Sind nun in den altisländischen Sagas die Friedelverhältnisse meist nur beiläufig und nicht um ihrer selbst willen erwähnt, so erhält man aus der Sturlungasaga 29 ein sehr viel klareres Bild der sozialen Verhältnisse, aus denen die Männer und Frauen stammten, die eine solche Verbindung eingegangen waren. Das Kernstück dieses Sammelwerkes bildet die Islendinga saga von Sturla Êôrôarson (1214 - 1284), und zusammen mit den übrigen Erzählungen gibt es ein recht zuverlässiges, wenn auch nicht unparteiisches Bild des 12. und 13. Jahrhunderts auf Island ab. Insgesamt w i r d der Zeitraum von 1117 bis ca. 1255 behandelt. Für diese Zeit werden fast 50 Frauen namentlich genannt, die ausdrücklich als frilla oder fylgikona bezeichnet werden. Da jedoch ein Mann oft mehrere frillur hatte und über die Lebensumstände der Männer mehr bekannt ist, werde ich mich in der folgenden Aufstellung an ihnen orientieren. I. Die Familie der Sturlungar Sturla Pórdarson (1116 - 1183), Gode. Verheiratet: 1. mit Ingibjörg Porgeirsdóttir aus der Familie der Ljósvetningar (Goden), 2 Töchter, 2. mit Guöny Böövarsdöttir aus der Familie der Myra- und Garöamenn (Goden), 5 Kinder. Beide Frauen waren eheliche Töchter. Daneben hatte Sturla zur frilla: 1. Âlof Èorgeirsdóttir, 5 Kinder; Âlof war Witwe und verheiratet gewesen mit einem nicht weiter bekannten Erlendr i Svinaskógi (1 Tochter). 2. Guöfinna Sveinsdóttir, 1 Sohn. Snorri Sturluson (1179 - 1241), Gode. Verheiratet: 1. mit Herdis Bersadóttir (gest. 1233), 2 Kinder. 2. mit Hallveig Ormsdóttir (gest. 1241), uneheliche Tochter von Ormr Jónsson aus der Familie der Oddaverjar, Erbin ihres Mutterbruders Kolskeggr Eiriksson, eines der reichsten Bauern Islands, keine Kinder. Daneben hatte Snorri zur frilla: Guörün Hreinsdóttir, uneheliche Tochter des Priesters Hreinn Hermundarson, 1 Tochter, die mit Gizurr Porvalds28 Heimskringla II, Îslenzk Fornrit, Bd. XXVII, Reykjavik 1979, S. 146 u. 152f. 29 Sturlunga Saga, hrsg. von Jón Jóhannesson / Magnus Finnbogason / Kristjân Eldgjârn, I, II, Reykjavik 1946.
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son verheiratet wurde. Guörüns Mutter war die Frau von Porör Böövarsson. Väterlicherseits stammte Guörün aus der Familie der Gilsbekkingar und Jöklamenn. Snorri hatte noch weitere Kinder mit Puriör Hallsdóttir und einer Oddny. Diese werden nicht ausdrücklich als frillur bezeichnet. Pórdr Sturluson (gest. 1257), Bruder Snorri Sturlusons, Gode, Diaconus (isl. djâkn). Verheiratet: 1. mit Helga Aradóttir aus der Familie der Helgafellsund Staöarmenn, keine Kinder. 2. mit Guörün Bjarnadóttir aus der Familie der Flóamenn, 2 Kinder. 3. mit Valgerör Arnadóttir aus Tjaldanesi. Daneben hatte Pörör zut frilla eine Póra, 6 Kinder. Sie starb 1224, daraufhin heiratete er zum dritten Male. Sveinn Sturluson (gest. 1203), unehelicher Sohn von Sturla Poröarson. Verheiratet mit TJrsüla Snorradóttir, eheliche Tochter von Snorri Baröarson aus der Familie der Seldaelir. Sveinn hatte zur fylgikona Cecilia Porgeirsdóttir, die Schwester des Priesters Asbjörn Porgeirsson und eines Hausmannes (heimamadr) von Sturla Poröarson. Pórdr Sighvatsson kakali (1210 - 1256), Gode. Nicht verheiratet. Er hatte zur frilla: Kolfinna, eheliche Tochter von Porsteinn Jónsson i Hvammi, 1 Tochter. Kolfinna wird als Haushälterin bezeichnet (var \>ar fyrir bui frilla Por dar). Weiter hatte Pörör Kinder mit Yngvildr TJlfsdóttir und Nereiör Styrmisdóttir. Sturla Sighvatsson (gest. 1238), Gode. Neffe Snorri Sturlusons. Verheiratet mit Solveig Saemundardóttir aus der Familie der Oddaverjar, 4 Kinder. Sturla hatte zur frilla: Vigdis Gislsdóttir Bergssonar, 1 Tochter. Vigdis wird später mit Ófeigr Bergsson verheiratet. Ihre Nichte war die frilla von Βjarni Saemundarson. Porgils Bödvarsson (gest. 1258), Gode, Gefolgsmann König Häkons des Alten, nicht verheiratet. Porgils hatte zur frilla Guörün Gunnarsdóttir, eheliche Tochter von Gunnarr â Geitaskaröi, Familie der Hrafngilingar, 1 Tochter. Guörüns Schwester Ingibjörg war die frilla von Jarl Gizurr, ihr Bruder Hausmann (heimamadr) bei Porgils. IL Die Familie der Oddaverjar J6n Loftsson (gest. 1197), Gode. Verheiratet mit Halldóra Brandsdóttir, 2 Kinder. Jón hatte zur frilla: 1. Helga Pórisdóttir, 1 Sohn. 2. Ragnheiör Pórhallsdóttir, die Schwester von Bischof Pórlakr dem Heiligen, 2 Söhne; Ragnheiör
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wurde später mit Α π φ ό ι τ Austmaör verheiratet. 3.Msa Porgeirsdóttir, 1 Sohn. 4. Valgerör Loftsdóttir, 2 Kinder. Ormr Jónsson (gest. 1218), Gode, Diaconus (isl. djäkn), nicht verheiratet. Ormr hatte zur frilla: 1. Borghildr, 2 Söhne, viele Töchter. 2. I>óra Eiriksdóttir, Schwester des Bauern Kolskeggr Eiriksson, reichster Mann Islands in jener Zeit, 2 Kinder. Scemundr Jónsson (1154 - 1222), Gode, Diaconus (isl. djäkn), nicht verheiratet; Bruder von Ormr Jónsson. Saemundr hatte zur frilla: 1. Yngvildr Eindriöadöttir, 4 Söhne. 2. Valgerör Jónsdóttir Loömundarsonar, eheliche Tochter, Familie der Oddaverjar, Wirtschafterin auf Kelda, 2 Töchter (Saemundr frööi, gest. 1133, war sowohl ihr als auch Saemundr Jónssons Urgroßvater). 3. Porbjörg, rangcensk kona, 3 Kinder. 4. Die Schwester von Porgrimr alikarl, 2 Kinder. Björn Scemundarson (gest. 1285), unehelicher Sohn von Saemundr Jónsson, nicht verheiratet. Björn hatte zur frilla: Guörün, eheliche Tochter der Witwe Porhildr Gislsdóttir, der Schwester einer frilla Sturla Sighvatssons. III. Die Familie der Vatnfirdingar Pàli Pórdarson (gest. 1171), Gode und Priester. Verheiratet mit Guörün, der Tochter von Bischof Brandr. Pâli hatte zur frilla: Hallveig Asmundardóttir, 2 Kinder. Porvaldr Snorrason (gest. 1228), Gode. Verheiratet 1. mit Kolfinna Einarsdóttir, uneheliche Tochter von Einarr Porgilsson auf Staöarhöll, Familie der Staöarhölsmenn, 3 Kinder. 2. mit Pórdis Snorradóttir, uneheliche Tochter von Snorri Sturluson, 2 Kinder. Porvaldr hatte zur frilla: 1. Halldóra Sveinsdóttir Helgasonar, 1 Sohn, mütterlicherseits aus einer Nebenlinie der Âmundaraett, vom Vater ist nichts bekannt. 2. Lofnheiör, 1 Sohn. 3. Helga Ormsdóttir, 1 Sohn. 4. Cordis Asgeirsdóttir, 1 Sohn. IV. Die Familie der Ljósvetningar Porvarâr Porgeirsson (gest. 1207), Gode, Gefolgsmann des norwegischen Königs, zuletzt Mönch im Kloster Pverâ auf Island. Verheiratet mit Herdis Sighvatsdóttir, 5 Kinder. Porvarör hatte uneheliche Kinder mit: 1. Helga (1 Sohn). 2. Yngvildr Porgilsdóttir, aus der Familie der Staöarhölsmenn, verheiratet mit Halldörr Bergsson (1 Tochter). 3. Herdis Klaengsdöttir, uneheliche Tochter von Klaengr Halsson, Familie der Hrafngilingar (1 Tochter); in ihrer Ver-
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wandtschaft gab es noch zwei weitere frillur: arsdaetr.
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Guörün und Ingibjörg Gunn-
V. Die Familie der Haukdcelir Gizurr Hallsson (gest. 1206), Gesetzessprecher, Diaconus (isl. djâkn), verheiratet mit Alheiör Porvaldsdóttir aus der Familie der Möörvellingar und Flóamenn, 5 Kinder. Gizurr hatte uneheliche Kinder mit 1. Porbjörg Hreinsdóttir, wohl uneheliche Tochter von Hreinn abóti aus der Familie der Jöklamenn. 2. Porny Vigfùssdóttir. Gizurr jporvaldsson (1209 - 1268), Gode, Jarl, Beamter König Hâkons. Verheiratet 1. mit Ingibjörg Snorradóttir aus der Familie der Sturlungar. 2. mit Gróa Alfsdóttir aus der Amundaraett, 4 Kinder. Gizurr hatte zur frilla: Ingibjörg Gunnarsdóttir, eheliche Tochter, aus der Familie der Hrafngilingar.
VI. Die Familie der Staöarholsmenn Einarr Porgilsson (gest. 1185), Gode. Nicht verheiratet. Einarr hatte zur frilla und Haushälterin (bûstyra) Herdis, 1 Tochter.
VII. Die Familie der Seldcelir Sveinbjörn Hrafnsson (gest. 1238), Gode. Nicht verheiratet. Sveinbjörn hatte zur fylgikona Guörün Porsteinsdóttir, deren Vater der uneheliche Sohn von Abt Tumi war; ihre Schwester war die fylgikona von Krâkr Hrafnsson. Krâkr Hrafnsson (gest. 1238). Nicht verheiratet. Krâkr hatte zur fylgikona Steinunn Porsteinsdöttir, die Schwester Guörüns. VIII. Priester (aisl. prestr) Gudmundr Arason dyri (gest. 1237), Bischof von Hólar. Nicht verheiratet. Seine frilla war Valdis, 1 Tochter. Pórir Porsteinsson (gest. 1177), Priester, Familie der Lundarmenn. Seine fylgikona war Âsny Halldórsdóttir, 2 Kinder. Pórarinn Vandrâôsson , Priester in Stafaholt, dann in Reykjaholt. Seine fylgikona war Guölaug Aladöttir, Haushälterin in Reykjaholt.
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Erlendr Hallason, Priester, Thingmann Einarr Porgilssons. Seine fylgikona war Jórunn Grettisdóttir. Björn Steinmódarson, Priester. Seine fylgikona war Porunna Önundardöttir. IX. Sonstige Maga-Björn, Mann aus Nord-Island. Seine frilla Skiöi Porgilsson (gest. 1238). Seine frilla
war Joreiör Konàlsdóttir.
war Györiör Aradóttir.
Pórdr Jórundarson. Seine fylgikona war Eirny Kalfsdóttir, die Tochter von Kâlfr Snorrason â Mela; ihre Mutter war Oddny, die uneheliche Tochter von Pali Pöröarson, offenbar auch eine frilla. Ari Porgeirsson (gest. 1166), aus der Familie von Porgeirr Hallason. Seine fylgikona war Ulfheiör Gunnarsdóttir, vorher verheiratet gewesen, uneheliche Tochter, 4 Kinder. Sigurör kerlinganef, Thingmann Einarr Porgilssons. Seine fylgikona war Arngerör Asólfsdóttir; ihr Vater war ein ausländischer Priester, sie gehörten zu den fahrenden Leuten. Porgeirr Arnórsson. Seine fylgikona war Pordis Bersadóttir. Arni rauòskegg. Seine fylgikona war Puriör. Wie aus der angeführten Liste hervorgeht, handelt es sich bei den Männern, die sich eine oder mehrere frillur hielten, fast durchweg um Angehörige der isländischen Oberschicht. Sie stammten (abgesehen von den Priestern und einigen fahrenden Leuten') aus den besten Familien Islands. Einfache Bauern oder Thingleute eines Goden sind nicht darunter. Sie hatten das Amt eines Goden inne und waren fast immer verheiratet; da, wo das nicht der Fall war, bekleideten sie das kirchliche Amt eines Diaconus. Genau wie die Priester durften diese seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr verheiratet sein. Wie aus den erhaltenen Papstbriefen hervorgeht 30 , versuchte Erzbischof Siguròr Eindriòason im Jahre 1237, den Zölibat des Klerus in Norwegen und auf Island einzuführen. Er sollte vom Grad des Subdiaconus an gelten. Das Halten einer frilla (frillutak) wurde den Priestern jedoch erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts öffentlich verboten. Sie hielten sich allerdings lange nicht an dieses Verbot. Die Frauen, mit denen die Goden verheiratet waren, stammten ebenfalls aus den vornehmen Familien Islands. Wie wir z.B. von Snorri Sturluson wissen, so betrieb er eine gezielte Heiratspolitik. Er war durch seine eigenen Heiraten und die Heiraten seiner Töchter mit fast allen mächtigen Familien 30 Diplomatarium Islandicum I, hrsg. vom Ìsl.Bókmentafélag, Kph./Reykjavik 1857, S. 517-518.
Die sog. ,Friedelehe' i m Island der Saga- u n d Freistaatszeit
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des Landes verwandt 31 . Auch Saemundr Jónsson, der nicht verheiratet war, hielt sich auf seinen Höfen seine Haushälterinnen als frillur und hatte elf Kinder mit ihnen. Für eine Heirat jedoch hatte er sich die Tochter des Orkadenjarls Haraldr Maddason ausgesucht. Die Eheschließung scheiterte nur daran, daß der Jarl seine Tochter nicht nach Island schicken wollte, und Saemundr nicht bereit war, auf die Orkaden zu fahren. Die Frauen, die als frilla oder fylgikona bezeichnet werden, waren in der Regel Bauern- oder Tagelöhnertöchter. Über ihre Familien wird wenig gesagt. Gelegentlich sind auch mehrere Frauen aus ein- und derselben Bauernfamilie frillur geworden. Sie waren durchweg Freie, keine unfreien Mägde, und sie arbeiteten oft als Haushälterinnen auf den Höfen ihrer frilluMänner. Die Kinder, die aus diesen Verbindungen stammten, waren unehelich (aitisi, laungetinn); sie wurden jedoch i. a. von den Vätern gut versorgt. Nach isländischem Recht 32 durfte ihnen vom Vater auch ohne Einwilligung der rechtmäßigen Erben etwas geschenkt werden. Da die Väter meist reiche Männer waren, treffen wir diese Kinder auch oft in guten Positionen (die Mädchen werden standesgemäß verheiratet) an. Über die Frauen selbst und ihre Gründe, lieber die frilla eines Goden als die Ehefrau eines Bauern zu werden, erfahren w i r kaum etwas. Einzig über Ragnheiör Pórhallsdóttir, die frilla Jon Loftssons, ist etwas mehr bekannt. Sie war die Schwester von Bischof Pórlakr dem Heiligen, und in dessen 1211 entstandener Saga K.4 3 3 wird berichtet, daß die Eltern zwar rechtschaffene Leute waren, doch frühzeitig verarmten und ihren Hof aufgeben mußten. Die Mutter fand eine Beschäftigung als Wirtschafterin auf Oddi, wo auch Pórlakr bei dem Priester Eyjólfr Saemundarson erzogen wurde. Als Pórlakr von einem Auslandsstudium nach Island zurückkehrte, mißfiel ihm die Lebensweise seiner beiden Schwestern, besonders diejenige seiner Schwester Ragnheiör. Er machte ihr und vor allem Jon Loftsson Vorhaltungen, vor allem offenbar deshalb, weil Jons Ehefrau noch lebte. Jon und Ragnheiör kannten einander von Kindheit an; Ragnheiör hatte jedoch auch Kinder von anderen Männern. Schließlich erreichte Pörlakr, als er Bischof geworden war, die Trennung. Ragnheiör wurde dann sofort an einen weiter nicht bekannten Norweger Arnórr verheiratet 34 . Ein Wort zur Terminologie ist noch einzufügen: die Frauen, die mit einem Manne zusammenlebten, ohne mit ihm legal verheiratet zu sein, werden entweder frilla oder fylgikona genannt. Auch der Ausdruck fylgja, fylgja at lagt kommt in diesem Zusammenhang vor. Herbert Meyer (Ehe und Eheauffas31 Jón Jóhannesson, A History of the Old Icelandic Commonwealth (fslendinga Saga), transi, by H. Bessasson, University of Manitoba 1974, S. 245f. 32 Grâgâs I (Fn. 12), S. 247. 33 Byskupa Sögur I, utg.af Gudni Jónsson, 2. Aufl., Akureyri 1953, S. 41 und S. 136 (Oddverja ï>âttr K.2). 34 Siehe auch Jón Johannesson (Fn. 31), S. 187 f.
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sung S. 29 f.) übersetzt dies mit „Folgeverhältnis, weil der Mann der Frau folgt ... Das Verhältnis ist keinesfalls Konkubinat, sondern Ehe." Diese Interpretation ist abzulehnen. Schon Johan Fritzner gibt in seinem Wörterbuch von 18 8 6 3 5 die Wendung mit „mit jemandem in einem Konkubinat leben (von der Frau)" und „jemanden zur frilla oder Konkubine haben (vom Mann)" wieder, und diese Deutung ist in der älteren Forschung auch allgemein üblich. Ein Beispiel aus den Byskupa Sögur 36 mag das noch einmal an einem Text verdeutlichen. Dort heißt es (hier in verkürzter deutscher Übersetzung): Eine Frau hieß Rannveig. Sie folgte (aisl. fylgöi) einem Priester, der Auöunn hieß. Sie war vorher einem anderen Priester gefolgt (aitisi, haföi fylgt). Sie wurde krank und hatte einen Traum, den sie dem (späteren) Bischof Guömundr erzählte. In diesem Traum wurde ihr gesagt: „Das ist eine widerwärtige Hurerei (aitisi, leidiligr hórdómr), was du getan hast, als du mit zwei Priestern Beischlaf abgehalten und so ihre kirchliche Tätigkeit beschmutzt hast." Das fylgja presti w i r d hier also sogar als hórdómr bezeichnet! Auch die Umkehrung der Wendung, nämlich daß ein Mann einer Frau folgt, ist nicht mit H. Meyer (Ehe und Eheauffassung S. 30) als „Einheirat des Mannes in das Haus der Frau" zu verstehen. (Meyer führt als Beleg für seine Interpretation die oben besprochenen Sagastellen an.) In der Ârna saga byskups K.12 3 7 verlangt der Bischof die Scheidung eines Bauern von seiner Frau, die dieser jedoch ordnungsgemäß und mit Unterstützung der Verwandten geheiratet hatte, da der Bauer Subdiaconus war. Der Bauer trennte sich auch von seiner Frau, und diese wurde an einen anderen Mann verheiratet. Der Bauer selbst ,folgte jrórunn Valgarösdottir' und hatte mit ihr noch fünf Kinder. Auch K.41 ist von einem Mann die Rede, der das Mißfallen des Bischofs erregte. Der Mann war verheiratet, ihm gefiel jedoch seine Ehefrau nicht mehr, und er »folgte Ingibjörg von Stokkseyrr'. Schließlich läßt sich in der späten Laurentius saga 38 ein eindeutiger Beleg für die Bedeutung von lag in diesem Zusammenhang finden. (Nach H. Meyer soll das Wort auch hier die Bedeutung von deutsch ,ê' = Ehe haben.) Es heißt dort: „Ein Bauer namens Porsteinn war unverheiratet (aitisi, ókvcentr). Er ging ein ihm nicht zustehendes Verhältnis ein (aitisi, hann fylgöi óheimulu ràdi), indem er sich Guörün Illugadóttir til lags nahm. Sie verfuhren so offen mit ihrem Verhältnis, daß er sie sich ins Bett legte wie seine Ehefrau." Auch hier zwang der Bischof sie, sich voneinander zu trennen. Es stellt sich hier die Frage, welcher Unterschied zwischen einer frilla und einer fylgikona bestanden haben kann. Die Quellen lassen die Interpretation 35 36 37 38
Johan Fritzner Byskupa Sögur Byskupa Sögur Byskupa Sögur
(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.
16), I, S. 507. 33), II, S. 229. 33), I, S. 312 f. 33), III, S. 103.
Die sog. ,Friedelehe' i m Island der Saga- u n d Freistaatszeit
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zu, daß unter einer frilla eine Art Nebenfrau zu verstehen ist - die vornehmen Isländer hatten ja oft mehrere Kinder mit ihren frillur - , während eine fylgikona eine Konkubine für längere oder kürzere Zeit war. Bei einer fylgikona wird auch immer nur von einem Mann und einer Frau gesprochen, während ein Mann sich mehrere frillur halten konnte. (So z.B. heißt es von Porvaldr Snorrason in der Ìslendinga saga 39 : „Porvaldr war zuhause mit sieben Männern. Er lag im Bettverschlag und seine zwei frillur, Halldóra und Lofnheiör.") Vergleicht man nun die oben angeführten Stellen aus den isländischen Sagas mit den entsprechenden Angaben aus der historischen Literatur des 13. Jahrhunderts, so lassen sich kaum Unterschiede erkennen. Der Gode Ljótólfr aus der Svarfdoela saga erinnert stark an die Goden der Sturlungenzeit, die sich ihr e frillur unter den Bauernmädchen der Umgebung (meist waren deren Verwandte auch ihre eigenen Thingleute) suchten. Sie selbst jedoch gingen eine standesgemäße Heirat ein und taten damit in dem ihnen angemessenen Rahmen dasselbe, was auch die Norwegerkönige getan haben. Diese heirateten aus politischen oder wirtschaftspolitischen Gründen die Töchter der benachbarten Könige und hielten sich ihre frillur aus den Reihen der ihnen unterstellten Kleinkönige und Hersen. Die Sagas sind in diesem Punkte durchaus ein Spiegelbild der Zeit, in der sie niedergeschrieben worden sind. Warum auch sollte der Terminus frilla in den ìslendinga Sögur etwas anderes bedeuten als in der Sturlunga Saga oder in den Byskupa Sögur? Daß das Thema „frillutak" in den Sagas - wie schon oben erwähnt - selten behandelt wird und die Ehen i. a. als gut bezeichnet werden 40 , womit in erster Linie wohl das hauswirtschaftliche Können der Ehefrau gemeint ist, könnte auch noch einen anderen Grund haben. Nach Auffassung der christlichen Sagaschreiber des 13. und 14. Jahrhunderts war die Einehe die von der Kirche vorgeschriebene Eheform - alle Abweichungen davon waren strafbar. In der Zeit der Niederschrift der Sagas, der Sturlungenzeit, hielt man sich nicht daran. Die Schreiber und Bearbeiter der Ìslendinga Sögur könnten die Absicht gehabt haben, die zu ihrer Zeit auf Island herrschenden Zustände anzuprangern und ihren Zeitgenossen die Gesellschaft der Sagazeit als ideale Gesellschaft vor Augen zu führen. Dieses Ideal jedoch ist ein christliches Ideal, das in die heidnische Zeit hineinprojiziert wurde. Hinzu kommt natürlich noch, daß sich das Ansehen einer frilla im Verlaufe der Zeit verschlechtert hatte. Dafür ist sicherlich der Einfluß der Kirche verantwortlich, zumal sie ja auch selbst betroffen war. Durch das Heiratsverbot für Priester waren die Konkubinate der Geistlichen aufgekommen, die sich je nach Stellung der Priester voneinander unterschieden. Entweder waren die Verhältnisse ähnlich wie bei den Goden, wo die frilla 39 40
Sturlunga Saga (Fn. 29), I, S. 295. Siehe dazu ausführlicher Rolf Heller (Fn. 14).
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oft die Stellung einer Haushälterin innehatte, oder es waren Verhältnisse, wie sie sich auch bei Leuten niederen Standes finden ließen. Diese hatten kein Vermögen, sondern zogen von Hof zu Hof und konnten somit die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Heirat nicht erfüllen. Betrachtet man nun die hier vorgelegten Ergebnisse noch einmal unter den zu Anfang genannten Gesichtspunkten, die für eine sog. ,Friedelehe 4 maßgeblich gewesen sein sollen, so kommt man zu folgendem Schluß: Die Einheirat bei einer Erbtochter unter den genannten Bedingungen ist im Norden nirgends bezeugt. Der Mann, der ein solches ,Frillenverhältnis' eingeht, ist immer höheren Standes als die Frau, umgekehrt ist kein einziger Fall belegt. Ob bei diesen Verhältnissen eine beiderseitige Übereinstimmung in jedem Falle vorliegt, ist fraglich. Die Gründe, ein solches Verhältnis einzugehen, waren beim Mann die, daß er die Frau nicht heiraten konnte (als Geistlicher), daß er verheiratet war oder daß er unter seinem Stande nicht heiraten konnte oder wollte. Auch eine Wiederverheiratung von Witwen ist so nicht bezeugt. Schließlich, bei den sog. ,sippenlosen' Frauen handelt es sich um Landstreicherinnen, die immer als fylgikona bezeichnet werden ein Wort, daß ohne jeden Zweifel „Konkubine" bedeutet. Auch im isländischen Recht sind keinerlei Bestimmungen für eine Friedelehe zu finden, während sich z.B. zahlreiche Bestimmungen für die Freilassung von Leibeigenen in der im 13. Jahrhundert niedergeschriebenen Grâgâs finden, obwohl die Kirche die Sklaverei schon lange bekämpfte. Wenn man in dem Friedelverhältnis auf Island eine Art,Minderehe 4 gesehen hätte, nicht nur ein Konkubinat, hätte man - da sonst für alles Bestimmungen vorhanden sind - irgendeinen Hinweis erwarten können. Nach isländischem Recht konnte man sich auch nicht die Stellung einer Ehefrau „ersitzen", wie das in Dänemark nach drei Jahren (JyL 127) und in Norwegen nach zwanzig Jahren (Gtl 125) möglich war, wenn eine frilla solange die Stellung der Hausfrau innehatte. Auch die diesen Verbindungen entstammenden Kinder wurden danach voll ehelich 41 . Zusammenfassend ist festzustellen, daß es sich bei den in den altnordischen Quellen belegten Frillen-Verhältnissen um Konkubinate handelt, die im altisländischen Recht keinerlei Verankerung haben. Eine Gleichstellung beider Partner, wie sie die Vertreter der „Friedelehen"-Theorie sehen wollen, läßt sich weder aus den literarischen noch aus den historischen Quellen ableiten. Es hat im Norden weder in heidnischer noch in christlicher Zeit die Institution einer „Friedelehe" im Sinne von Herbert Meyer gegeben. 41 Vgl. auch das Christenrecht des Königs Sverrir (KrR Sverris 69), wo festgesetzt wird, daß derjenige, der seine frilla wie eine eiginkona hält, Bußanspruch für sie haben soll (ähnlich Bjark. R. I I I in Bezug auf eine birgiskona). - Siehe auch Birgit Strand, Kvinnor och man i Gesta Danorum, Göteborg 1980, S. 250ff. (Kvinnohistoriskt arkiv nr. 18).
Das Königreichspiel im Heiligen Römischen Reich E i n Beitrag zur Rechtlichen Volkskunde V o n N i k o l a u s Grass
I. Vom Schülerbischofsspiel zum Königreichspiel I n der reichen F e s t k u l t u r des M i t t e l a l t e r s begegnen u. a. Bischofsspiele, Papstspiele u n d Königsspiele. Das K i n d e r - , K n a b e n - oder Schülerbischofsfest w a r besonders an S t i f t s u n d Klosterschulen v e r b r e i t e t 1 . D o r t w a r es ü b l i c h , an b e s t i m m t e n Festtagen (so a m U n s c h u l d i g k i n d e r t a g , a m Neujahrstag, seit dem 13. Jh. auch a m Nikolausfest) einen Scholaren z u m „ B i s c h o f " oder „ A b t " z u w ä h l e n , diesen m i t bischöflichen I n s i g n i e n u n d G e w ä n d e r n z u bekleiden u n d i h m f ü r die Dauer eines Tages einen T e i l der bischöflichen A m t s p f l i c h t e n z u ü b e r t r a gen. 2 Dieses K i n d e r - , K n a b e n - oder Schülerbischofsfest erwuchs auf dem Boden des Narrenfestes (festum stultorum
oder fatuorum
fêtes des fous) der
m i t t e l a l t e r l i c h e n Schüler u n d niederen G e i s t l i c h k e i t , das seinerseits i n den römischen S a t u r n a l i e n einen gewissen Vorläufer haben mag. 3
1 Paul Sartori, Art. Kinderbischof, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 4. Bd. (1931/32), Sp. 1341 f.; Klaus Beiti, Art. Kinderbischof, LThK, 2. Aufl. VI, Sp. 151; Beiti, Wörterbuch der deutschen Volkskunde, 3 Aufl. (1974), S. 443, Art. Kinderbischof; Josef Andreas Jungmann, Missarum solemmnia, 2 Bde., 5. Aufl., Wien 1962, 1. Bd., S. 142 Anm. 22; Muchembled, Kultur des Volkes, S. 58. Heers, Mummenschanz (näherhin Fn. 41) handelt S. 189- 196 über „Das verkehrte Fest: der Knabenbischof". 2 Vgl. z. B. Dürr, De episcopo puerorum, bei: Philipp Anton Schmidt, Thesaurus Iuris. Ecclesiastici, potissimum Germanici III, S. 77. Eingehende Schilderung dieser Feste bei Wetzer und Welte, Kirchenlexikon, 2. Aufl., 4. Bd. (1886), S. 1398 ff. 3 Karl Meisen, Nikolauskult und Nikolausbrauch im Abendlande (Forsch, zur Volkskunde 9/12, hrsg. von Georg Schreiber), Düsseldorf 1931, S. 307 - 333. Zu diesem Werk urteilt der von der Klassischen Philologie zur Folklore gekommene hervorragende Schweizer Volkskundler Karl Meuli im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 5. Bd., Sp. 1745: „Meisen hat tausendmal Recht, wenn er die verbreitetste Kühnheit der Volkskundler, einen noch lebenden Brauch mit Überspringen des ganzen Mittelalters und weiter geographischer Räume schlankweg an das germanische Altertum anzuknüpfen, energisch ablehnt". Hans Schuladen, Die Nikolausspiele des Alpenraumes (Schlern-Schriften, 271. Bd.), Innsbruck 1984; Richard Wolfram, Südtiroler Volksschauspiele und Spielbräuche, in: Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., 480. Bd., Wien 1987, S. 357, 56. Abb.
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Von den Stifts- und Klosterschulen ging dieses Brauchtum an die nach deren Vorbild gegründeten Stadt- und Bürgerschulen über. Damit breitet sich dieses Schülerbischofsfest allmählich weithin über das Abendland aus4. Noch 1558 hat Kardinal Otto Truchseß von Waldburg zu Augsburg nach der Gewohnheit anderer deutscher Diözesen an der 1549 gegründeten Universität Dillingen die Wahl eines Schüler-„Bischofs" eingeführt. Diesen wählten die Studenten aus ihrer Mitte. Dieser „Bischof" hatte am Feste der Unschuldigen Kinder in Pontifikalkleidern die Vesper zu singen und den Segen zu erteilen. Nachdem 1563 die Jesuiten nach Dillingen gekommen waren und 1564 die Universität übernommen hatten 5 , wurde diese Zeremonie auf den St. Nikolaustag vorverlegt und (zur Jesuitenzeit) bereits 1565 ein letztesmal begangen6. Am Dom zu Augsburg war ja am Unschuldigkindleintag die Wahl eines episcopus puerorum 1 durch Priester, Leviten und Schüler altüberkommen. Doch die Lektoren begnügten sich nicht mit dem vorhin erwähnten „Schülerbischof", sondern erkoren aus ihrer Mitte sogar einen „Papst". Am Oktavtag nach Dreikönig (13. Jänner) hielten - wenn das Domkapitel die Erlaubnis gab - nach der Chormesse die Lektoren mit ihrem „Papst" sogar einen Umzug durch die Stadt, bei dem auch die Häuser der Bürger besucht wurden. Dabei unterlief mancher Unfug, sodaß das Kapitel mehrmals die Abhaltung dieses Festes untersagte. Nach der Festfeier oder an einem der folgenden Tage hielt der „Papst" mit seinen „Gesellen" ein Mahl, zu dem sogar das Domkapitel eine Beisteuer gab. In der Reformationszeit kam dieses Fest in Abgang, doch wurde die Erinnerung daran noch einige Zeit durch das sog. „Papstmahl" aufrecht erhalten 7 . 4 Weiteres Schrifttum über den episcopus puerorum verzeichnet auch Eberhard Frh. v. Künßberg, Rechtsbrauch und Kinderspiel. Untersuchungen zur Deutschen Rechtsgeschichte und Volkskunde, 2. (von Karl S. Bader) ergänzte Aufl., in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Jahrg. 1952, 3. A b h , S. 47 f. 5 Thomas Specht, Geschichte der Universität Dillingen 1549 - 1804, Freiburg i.Br. 1902, S. 353. Zur Universitätsgründung vgl. auch Friedrich Zoepfl, Geschichte des Bistums Augsburg, 2. Bd., München 1969, S. 291 ff., sowie Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, hrsg. von Laetitia Böhm u. a., im Auftrag der Görres-Gesellschaft NF. 2. Bd.), Paderborn 1981, S. 168 ff., 199 ff. 6 Specht (Fn. 5), S. 353. Die Beseitigung dieses Brauchtums - noch zu Lebzeiten des Initiators - bestätigt die u. a. von Ludwig Remling, Fastnacht und Gegenreformation i n Münster, in dem im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wolfgang Brückner / Nikolaus Grass hrsg. Jahrbuch für Volkskunde, NF. 5. Bd., 1982, S. 51 - 77, bes. S. 69 f. festgestellte Ablehnung der Jesuiten gegenüber dem Fasnachtsbrauchtum. In diesem Band wie in den folgenden findet sich eine von W. Brückner geleitete sehr beachtenswerte Diskussion vor allem über die Thesen von Dietz-Rüdiger Moser, die dieser hernach in seinem Werk „Fastnacht - Fasching - Karneval. Das Fest der verkehrten Welt" Graz 1986 (Edition Kaleidoskop) neuerlich formuliert hat. Über Jesuiten in Münster vgl. auch Karl Hengst, Jesuiten, S. 238 ff. 7 Nach Rückert, Alte Schulfeste im Dom zu Augsburg, im Archiv für Geschichte des Hochstifts Augsburg, 4. Bd. (1912 - 1915), S. 462 ff.
Das Königreichspiel i m Heiligen Römischen Reich
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Die anschaulichen Formen des älteren Rechtes und deren sinnenfrohe Symbolik 8 mögen dem beobachtenden Kind oft wie ein anmutiges Schauspiel vorgekommen sein und forderten geradezu zum Nachspielen auf, wenn schon ein Mitspielen meist nicht möglich war 9 . So wählten Kinder einen Bischof oder Abt, wie zahlreiche Beispiele eines „Schülerbischofs" oder „Schüler ab tes" bezeugen. Auch Jacob Grimm berichtet, daß „die Studenten ein pabst- oder königspiel haben", wobei der Erwählte auf eine Tonne oder in deren Ermangelung auf eine Schleifkanne gesetzt wurde und verweist auf ein Beispiel aus Braunschweig aus der Mitte des 18. Jhs. 10 . Auch in der kirchlichen Liturgie mit ihrer reichen Symbolik 1 1 gab es manche Anregung, bald zu einem naiv harmlosen Nachspielen, bald auch zu einem respektvollen Nachahmen, so von der Spendung von Sakramenten, so bes. der Firmung, die schon durch den damit verbundenen Backenstreich anziehend war. Eberhard von Künßberg weist darauf hin, wie Kinder „naiv harmlos Taufe und Beichte spielen, einen Bischof wählen und die Predigt parodieren" 12 . In Tirol haben noch bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts herein jüngere Studenten des Gymnasiums vor einem Hausaltar in der Wohnung u. a. auch „Messe gelesen", wobei auch einige lateinische Gebete gesprochen wurden, besonders wenn ein im Kirchendienst etwas erfahrener Ministrant dabei war 1 3 . Der um die Papstdiplomatik und Kirchliche Verfassungsgeschichte sehr bemühte Mediävist Leo Santifaller (1890 1974)14 erzählt aus seiner im sonnigen Kastelruth in Südtirol verbrachten Jugend: „Unsere Spiele ahmten meist die ernste Tätigkeit der Erwachsenen nach. So nahmen die geistlichen' Spiele, Messe, Hochamt, Predigt und Vesper einen breiten Raum ein, Und als zu Ende des Jahrhunderts das grosse 8 Vgl. bes. Eugen Wohlhaupter, Rechtssymbolik der Germanen (1941), dazu Cl. v. Schwerin, ZRG GA 63 (1943), S. 375 ff. 9 So urteilt ein Meister der Rechtlichen Volkskunde, der Altösterreicher Eberhard Frh. v. Künßberg, Rechtsbrauch und Kinderspiel (Fn. 4). Dazu Hans Fehr, ZRG GA 71 (1954), S. 502. 10 Jacob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Aufl., 1. Bd., Leipzig 1899, S. 326. 11 Vgl. ζ. B. Ildephons Herwegen, Germanische Rechtssymbolik in der römischen Liturgie, Heidelberg 1913; Josef Andreas Jungmann, Liturgisches Erbe und pastorale Gegenwart, Innsbruck 1960. Über die geradezu freundschaftlichen Beziehungen des führenden, aus der Schweiz stammenden Rechtshistorikers und Kanonisten Ulrich Stutz zum bedeutenden Maria-Laacher Abt Ildefons Herwegen vgl. Georg May, Ulrich Stutz nach seinem Briefwechsel mit Pater bzw. Abt Ildefons Herwegen von Maria Laach, im Archiv für Katholisches Kirchenrecht, 145. Bd. (1976), S. 59 - 151. Vgl. auch Nikolaus Grass, Ulrich Stutz und die österreichische Kirchenrechtswissenschaft, ZRG K A 74 (1988), S. 27 - 43. 12 υ. Künßberg, Rechtsbrauch und Kinderspiel, S. 47. 13 Neben dieser von einer gewissen Ehrfurcht getragenen Nachahmung der Meßfeier gab es einst auch Parodien der Messe durch Erwachsene. Vgl. Adolph Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg i.Br. 1902 (unveränderter Neudruck Darmstadt 1963), S. 754 - 761. 14 Über Santifaller vgl. den von mir verfaßten Nachruf in ZRG KA 63 (1977), S. 468 472.
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Werk der österreichischen Leo-Gesellschaft ,Die Katholische Kirche und ihre Diener' erschien 15 , habe ich darin eifrig gelesen und darnach wurde päpstliche Kurie gespielt, Staatssekretariat, Pönitentiarie, Datarie, apostolische Kanzlei, Rota Romana usw.; im feierlichen Konsistorium wurden prächtige Kardinalshüte aufgesetzt usw. und zu Beginn des Anno Santo 1900 wurde die Porta Santa feierlich geöffnet. Im Sommer wurde auch Soldaten gespielt ... Es wurde aber auch Gericht und Notariat gespielt, Akten verfasst, Inventar aufgenommen und Verlassenschaftsabhandlungen gehalten, so wie w i r es täglich erzählen hörten" 1 6 . Leo Santifallers Vater war nämlich Notar in Kastelruth. „Die damalige Zeit, das letzte Jahrzehnt des 19. Jhs. und der Anfang des 20. Jhs. - so fährt Leo Santifaller fort - erscheint mir heute [1951] rückblikkend als eine Art letzter Ausklang des Sacrum Imperium. An der Spitze der Welt standen in meiner damaligen Vorstellung als feste und unerschütterliche Stützen Papst und Kaiser fest und unerschütterlich nicht nur als Institution, sondern auch in den Personen Leos XIII. und Franz Josefs I . " 1 7 . Es war alter, heimischer Brauch, zu Festzeiten einen König zu wählen oder den Tüchtigsten und Würdigsten aus der Gemeinschaft zum „König" zu bestimmen. Dieser bemerkenswerte Zug des Volksbrauches tritt im Jahresverlauf mehrmals in Erscheinung: so beim Königslauf der Hüterbuben (einem Auslesespiel) im Mai („Maikönig") 1 8 , beim Königsspiel der Bauernburschen um Pfingsten, dem sog. „Pfingstritt" 1 9 während sich das Königreichspiel besonders in den Städten vornehmlich auf die Zeit um Dreikönig oder wenigstens auf den Weihnachtsfestkreis konzentriert 20 . Dies leitet über vom Fest zu den bei solchen festlichen Anlässen üblichen Spielen.
15 Über dieses von Paul Maria Baumgarten mitgestaltete Werk (3 Bde.), München 1898 ff., vgl. Christoph Weber, Die römische Kurie um 1900. Ausgewählte Aufsätze von Paul Maria Baumgarten, Köln 1986, S. 89 ff., 183 f. 16 Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von Nikolaus Grass, 2. Bd., Innsbruck 1951, S. 165. 17 Willi Lorenz, Das heimliche Römische Reich, bei: H. Fillitz, die österr. Kaiserkrone, Wien 1951, S. 7 ff. 18 Vgl. v. Reinsberg - Düringsfeld, Das festliche Jahr, 2. Aufl. 1898, S. 194. 19 Vgl. v. Reinsberg - Düringsfeld (Fn. 18), S. 195, sowie Leopold Schmidt, Volkskunde von Niederösterreich, 2 Bde., Horn 1966 und 1972. 20 Vgl. Paul Sarton, Sitte und Brauch (Handbücher zur Dt. Volkskunde 5 - 8), Leipzig 1910-1914, 3. Bd., S. 75, mit weiteren Literaturangaben. Über einen vorweihnachtlichen König bei Zünften s. Adam Spamer, Sitte und Brauch, im Handbuch der deutschen Volkskunde, hrsg. von Pessler, 2. Bd., S. 119 ff., bes. S. 155 ff. Weitere Beispiele von „Königen" verzeichnet das Deutsche Rechtswörterbuch, 7. Bd. (1974 83), Art. König und Königreich, S. 1229 f.
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Π. „Königtümer" und „Königreiche" der Laien Neben den populären Festen der Kleriker (Schülerbischof usw.) entstanden die fasnachtlichen „Königtümer" der Laien. Das „Königsfest" erscheint in gewisser Hinsicht geradezu als eine Fortführung der von den Klerikern der Stadt organisierten Fasnachtsfeste 21. In Frankreich sind z.T. schon seit dem 12. Jh. in zahlreichen Landgemeinden Zusammenschlüsse der ledigen Burschen und jungen, noch unverheirateten Männer zu beobachten, die z.T. als Abbayes de la jeunesse oder auch als Royaumes de la jeunesse - als „Jugendabteien" oder „Jugendkönigreiche" - bezeichnet wurden. Eine Albigenser Urkunde von 1136 erwähnt bereits einen Roi des Jouvenceaux als eine ständige Einrichtung. In der Zeit zwischen Weihnachten und Beginn der Fastenzeit wählten die Junggesellen einen „ A b t " oder „König" aus ihrer Mitte 2 2 . Diese unseren Burschenschaften einigermaßen entsprechenden Vereinigungen trugen Sorge für die geselligen Bedürfnisse im Dorf, für Feste und Feiern, also auch für Fasnachtsunterhaltung 23 . Es wäre jedoch einseitig, diese Zusammenschlüsse Gleichaltriger als reine „Fasnachtsgilden" zu betrachten. Solche Zusammenschlüsse der Jugendlichen finden sich auch in Savoyen, in der französischen Schweiz 24 und als abbazie in Oberitalien 25 . Die „Knabenschaf ten" der deutschsprachigen Kantone haben in der Freiheitsbewegung der alten Eidgenossenschaft wie auch bei anderen kriegerischen Unternehmungen eine oft nicht unbedeutende Rolle gespielt 26 . Und obwohl 21 Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater, Frankfurt/M. 1986, S. 242 ff. 22 Roger Vaultier, Le Folklore pendant la guerre de Cent Ans, Paris 1965, S. 9 f., 17, 24, 32, 94; Arnold van Gennep, Manuel de Folklore français, Paris 1943 - 49, 1. Bd., S. 203 ff.; Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt, Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt / M. 1987, S. 106, 114 ff. 23 Robert Muchembled, Culture populaire et culture des élites dans la France moderne (XV e - X V I I I e siècle), Paris 1978, deutsche Ausgabe: Kultur des Volkes Kultur der Eliten, 2. Aufl., Stuttgart 1984, S. 99, dazu die kritische Rezension von Walter Hertinger (Passau) im Archiv für Kulturgeschichte, 67 (1985), S. 505 - 508; Peter Dinzelbacher / Hans-Dieter Muck (Hrsg.), Volkskultur des europäischen Spätmittelalters (Böblinger Forum, Bd. 1), Stuttgart 1987, S. 36 ff. u. ö. 24 Die Abbaye de Saint-Pierre in Genf läßt sich sogar ins 13. Jh. zurück verfolgen. Sie war zum Schutze der städtischen Freiheiten gegründet und zählte im frühen 16. Jh. rund 300 im Waffengebrauch geübte Mitglieder. Die Reformation (Calvin) brachte das Ende. Statuten von 1491 in: Les sources du droit du canton de Genève, 2. Bd. (Sammlung Schweiz. Rechtsquellen, X X I I . Abt., 2. Bd.), Aarau 1930, S. 106 - 111. Vgl. meinen Beitrag zur Festschrift Louis Carlen, hrsg. von Louis Morsak, Zürich 1989, S. 435 ff. 25 Vgl. u. a. C. Pola Falletti-Villaf alletto, Associationi Giovanili e Feste Antiche. Loro Origini, Mailand 1939, 4 Bde., bes. 1. Bd. 26 Vgl. bes. Hans Georg Wackernagel, Altes Volkstum der Schweiz, 2. (unveränderte) Aufl., Basel 1959, z. B. S. 7 ff., 222 ff., 247 ff., 283 ff. Zur 1. Aufl. (Basel 1956) vgl. meine Rez. in ZRG GA 75 (1958), S. 482 - 488.
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die Schweiz schon rund ein halbes Jahrtausend vom Reiche losgelöst und ohne monarchisches Oberhaupt ist, so hat sich doch manche Erinnerung daran erhalten, so beispielsweise im Kinderspiel „Herr König ich diente gern" 2 7 , in dem ein ganzer Hofstaat, Dienerschaft, ja sogar ein Scharfrichter dem König zu Gebote stehen 28 . Aus dem Elsaß berichten die Kolmarer Annalen bereits zum Jahre 1304 von Spielen, welche die Burschen auf dem Land aufführten. Dabei spielten die einen Papst und Kardinäle, andere wieder Kaiser und Könige mit ihrem Hofstaat 29. Ja „die Errichtung von Narrenreichen" gehört, wie Dietz-Rüdiger Moser ausführt 30 , geradezu „zu den Hauptkennzeichen der Fastnachtsund Karnevalsbräuche". Diese „Reiche" waren nach dem Vorbild richtiger „Staatswesen" organisiert, an deren Spitze ein Fasnachts- oder Narrenkönig oder zumindest ein Narrenprinz stand, denen ein bald größerer, bald kleinerer Hofstaat mit Hofmeister, Zeremonienmeister, Herolden, Garden usw. zur Seite stand. Das Königsspiel wird in einer vor mehr als 300 Jahren erschienenen juristischen Dissertation folgendermaßen umschrieben „ . . . ludus basilinda .. . 3 1 , quo per sortem fit rex et minister, et ille huic laboriosum quid imperat, quod Germanice forsan posset dici ,das König schlagen', ,des Königs spielen', ubi rex per certum manuum numerum eligitur" 3 2 . Die Wahl des Fasnachtskönigs ging am Lande oft formlos vor sich, in größeren Orten durch Stimmzettel oder durch Einbacken einer Bohne in einen Kuchen, den „Königskuchen"; wer beim Verteilen der Kuchenstücke 27
Zufolge starker Übervölkerung suchten einst ja viele Schweizer Dienste im Ausland. Vgl. z. B. Richard Weiss, Volkskunde der Schweiz, Erlenbach-Zürich 1946, François Höpflinger, Bevölkerungswandel in der Schweiz, Chur 1986; zur Reisläuferei vgl. bes. Hans Steffen, Die soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Stockalperschen Solddienste, in dem von Louis Carlen / G. Imboden hrsg. Sammelbd.: Wirtschaft des alpinen Raums im 17. Jh., Vorträge eines internat. Symposiums, Brig / Wallis 1988, S. 179 -203. 28 v. Künßberg (Fn. 4), S. 49. 29 Annales Colmarienses maiores, in Mon. Germ. Scriptores, 17. Bd. (Folioserie), S. 125. 30 Dietz-Rüdiger Moser (Fn. 6), S. 51. Zu Mosers schon früher mehrfach publizierten Thesen vgl. besonders Hans Moser, Kritisches zu den Hypothesen der Fastnachtsforschung, in dem von der Görres-Gesellschaft getragenen Jahrbuch für Volkskunde, hrsg. von Wolf gang Brückner / Nikolaus Grass (Redaktion W. Brückner), NF 6 - 1982, S. 9 - 50; Ludwig Remling, Fastnacht und Gegenreformation in Münster, S. 51 - 77, sowie zusammenfassend Hermann Bausinger, Für eine komplexere Fasnachtstheorie, Jahrbuch für Volkskunde 6 - 1983, S. 101 - 106; Hans Moser, Zur Problematik und Methodik neuester Fastnachtsforschung, Ztschr. für Volkskunde 80. Jg. (1984), S. 2 22. 31 Die antike Vorgängerin hieß Basilinda. Vgl. Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum, 1/1 (1864); Böhme, Antike Kinderspiele, S. 155; Lamer, Wörterbuch der Antike (Kröner), Art. Spielzeug - Kinderspiele. Pauly-Wissowa, RE 5. Halbbd., S. 99. 32 F.E. Lehmann, De jure ludendi (praeside J.V. Beckmann), Jena 1668.
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die Portion mit der eingebackenen Bohne erhielt, war zum „Bohnenkönig" gewählt, ein Zufallskönig freilich und kein König von Gottes Gnaden! 33 Ein brauchtümlicher Bohnenkönig erscheint bereits 1313 in Paris bei den Festen, die Philipp der Schöne zu Ehren des englischen Königspaares veranstaltet hatte 34 . Auch innerhalb des Familienkreises wurde ein „Bohnenkönig" gewählt, ein Vorgang, den Pieter Brueghel in einem berühmten Gemälde festgehalten hat 3 5 . In den Städten wurde bei einem Bankett ein „König", mitunter sogar ein „Kaiser" zum Oberhaupt gewählt, das vor allem für die Vorbereitung der Feste zu sorgen hatte, wozu mancherorts seitens des Königs auch eine nicht unbeträchtliche Zubuße (ζ. B. in den Niederlanden) gefordert wurde, sodaß mitunter niemand dieses, das Privatvermögen geradezu gefährdende Ehrenamt übernehmen wollte. Die Königreichspiele fanden früh schon im Reiche in breiten Kreisen Verbreitung. Auch das Brauchtum des Bohnenkönigs wurde übernommen. Der Volksprediger des Salzachgaues Andreas Strobl 36 erwähnt in seinen Predigten als Beispiel für „eine ehrliche Recreation" sowohl das Bohnenkönigtum in Frankreich wie die Eierspiele zu Ostern 37 auf deutschem Boden 38 . In den Nachrichten über die rheinischen Königreiche der Knaben zu Epiphanie wird wiederholt die Wahl eines „Königs" erwähnt 39 . Das einschlägige Fachschrifttum bringt darüber zahlreiche Mitteilungen, auf die hier verwiesen sei. Hier möchte ich - schon in Anbetracht des bemessenen Umfanges eines Festschriftbeitrages - aus der Fülle des Stoffes nur die „Königreiche" an deutschen Fürstenhöfen und einigen Residenzstädten (die ja doch oft von der Kultur des Hofes mitgeprägt waren) herausgreifen. Dabei soll gerade das „stiftische" Deutschland mit seinen geistlichen Fürstentümern besondere Berücksichtigimg finden, das ja - bis zur Säkularisa33
Dietz-Rüdiger Moser, Ein Babylon der verkehrten Welt. Über Idee, System und Gestaltung der Fastnachtsbräuche, in: Horst Sund (Hrsg.), Fas(t)nacht in Geschichte, Kunst und Literatur, Konstanz 1984, S. 9 - 57, Zitat S. 28. Vgl. auch M. Währen, Der Königskuchen und sein Fest. Ein uralter Brauch in Gegenwart und glanzvoller Vergangenheit, Bern 1958. 34 Heers, Mummenschanz (Fn. 1), S. 243. 35 Vgl. Arthur Haberlandt, Das Faschingsbild des Peter Bruegel d.Ä., Ztschr. für Volkskunde, NF, 43. Bd., Berlin 1933, S. 237 ff. 36 Vgl. darüber Robert Böck, Pfarrer Andreas Strobl von Buchbach, im Bayer. Jahrbuch für Volkskunde, Jg. 1953. 37 Vgl. Nikolaus Grass (Hrsg.), Ostern i n Tirol (Schlern-Schriften, 169. Bd.), Innsbruck 1957, bes. S. 84 f. 38 Moser, Volksbräuche (Fn. 41), S. 188. 39 Ebd., S. 69, 188. Die Mannigfaltigkeit der Fête des Rois (Dreikönig) beschreibt ζ. B. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, 7. Aufl., München 1985. Ariès gehört zu den führenden Vertretern der französischen „Annales"-Historie. Vgl. Michael Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung, Darmstadt 1979.
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tion von 1803 - eine der Hauptstützen der kaiserlichen Macht im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation bildete 40 . III. Vom Königreichspiel im Heiligen Römischen Reich 1. An der Donau In die Stadt Regensburg teilten sich jahrhundertelang drei politische Machtträger: das Hochstift mit dem Dombezirk, die reichsunmittelbare (seit 1731 sogar gefürstete) Abtei St. Emmeram und die (seit 1245) freie Reichsstadt. In Regensburg ist von 1393 an bis ins 16. Jh. ein „Hoff", also ein „Königreich" bezeugt, verbunden mit Tänzen und Gelage, Turnieren und Stechspielen 41 . Schon aus frühen Klosterrechnungen von Prüfening (1300) und St. Emmeram (1325 ff.) geht hervor, daß man dort Fasnacht auch als Fest weltlicher Freude beging. Nach Abschaffung des Bischofsspieles 42 blieb immer noch eine Fasnachtsfeier bestehen. Nach der Stadtkammerrechnung von 1421/22 speisten zur Fasnacht Bürgermeister und Rat der Stadt gemeinsam mit dem Bischof, und bis weit ins 16. Jh. hinein wurde es so gehalten, daß Stadtrat, Fürstbischof und der Prälat von St. Emmeram ein gemeinsames Fasnachtsmahl hielten, zum Teil auf der Ratsstube, zum Teil in des Bischofs Hof und im Stift zu St. Emmeram, wobei der ehrsame Rat für Wein und Musik aufkam, während der Bischof und der Abt von St. Emmeram die so geschätzten Fasnachtskrapfen beistellen mußten. Die Klosterschüler wie die von der Domschule kamen mit Spielen vors Rathaus, wofür sie eine Spende erhielten. Wie der Adel, der Rat und der Bischof, so hatte auch die junge Bürgerschaft ihren eigenen „Hof" mit Tänzen und Gelagen, Turnieren und Stechspielen. 1525 hatte der Rat die Fasnachtsfeier verboten, auch die Fahrt „ i n des Bischofs Hof nach den Kräpflein", die zu holen eine altüberkommene 40 Vgl. bes. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 4. Aufl., Köln 1964, S. 564 ff.; Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Bd., Karlsruhe 1966, S. 179 ff. Für das 20. Jh. vgl. bes. Paul Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung (Wege der Forschung, Bd. 566), Düsseldorf 1980, sowie Mikat, Religionsrechtliche Schriften, hrsg. von Joseph Listi, 2 Bde., Berlin 1974. 41 Vgl. Hans Moser, Volksbräuche im geschichtlichen Wandel. Ergebnisse aus fünfzig Jahren volkskundlicher Quellenforschung, München 1985, S. 315. Über Stechspiele und Turniere vgl. auch Jacques Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, F r a n k f u r t / M . 1986, S. 247 ff.; zur Regensburger Fastnacht siehe auch: Dieter Schwab, Vermummungsverbote im alten Regensburg, in: Regensburger Almanach 1989, S. 223 ff. 42 Im Kloster Prüfening war das Fest des Knabenbischofs nach wüsten Exzessen seiner „monstra larvarum" bereits 1249 durch ein päpstliches Verbot untersagt worden, Hans Moser (Fn. 41), S. 293.
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Gepflogenheit war. Anno 1540 war wiederum eine fröhliche Fasnacht, „man fuhr in des Bischofs Hof, St. Heimeran und Kloster, wie vor altersher; so waren tapfer und köstliche Mummereien, Tänz und Kränzlmahl". Die Reformation hat dann diesen altüberkommenen Festivitäten ein jähes Ende bereitet 43 . 2. Ein Festkönig im Wallis 1483 Im Wallis übte der Bischof von Sitten jahrhundertelang auch landesfürstliche Gewalt aus 44 . Bischof Jost von Silenen (1482 - 1497) ließ sich zum Zeichen seiner weltlichen Gewalt ein eigenes Hoheitsschwert schmieden, das man ihm vorantrug. In der Bischofsstadt Sitten entstanden im Anschluß an die liturgischen Dreikönigsfeiern außerhalb des Gottesdienstes große Feierlichkeiten. So lud 1483 Bischof Jost von Silenen die Vornehmen von Aigle, Ollon, Ormont und Bex (Waadtland) ein, an seinem Hofe zu Sitten Epiphanie zu feiern. Ein Zug von 260 Notablen dieser Gemeinden leistete der Einladung Folge und paradierte mit einem Aufzug von 20 Pferden unter Vorantritt eines „Königs", der eigens für dieses Fest gewählt worden war, in St. Maurice und Sitten 45 . 3. Das „Königreich"
am Rhein
Ganz besonders eifrig pflegte man die Feier des „Königreiches" am Rhein. Der viel herumgekommene Sebastian Franck berichtet in seinem „Weltbuch" (Tübingen 1534 u. ö.) im Abschnitt „Von der Römischen Christen fest, feier ... und breuchen": „Nach dem Neujahr kompt der heyligen drei Künig fest, daran v i l eyn künig welen, spil halten un eyn lange Wirtschaft anrichten, da hat eyn yder sein ampt am hof. Die knaben haben ettwan eyn sondern künig auff diß fest 46 . Diser brauch der künigreich, darin auch vil büberei geschieht, ist fürnemblich gemeyn am Reinstrom". 43 Nach Hans Moser (Fn. 41), bes. S. 315 - 317. Über Fasnacht und Reformation vgl. auch Dietz-Rüdiger Moser, Die Fastnachtfeier als konfessionelles Problem, in: U. Im Hof / F. Stehelin (Hrsg.), Das Reich und die Eidgenossenschaft 1580 - 1650. Kulturelle Wechselwirkungen im konfessionellen Zeitalter, Freiburg / Schweiz 1986, S. 129 - 178; Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt 1987, S. 131. 44 Über die Stellung des Bischofs von Sitten als Landesherr vgl. bes. Louis Carlen, Kultur des Wallis im Mittelalter, Brig 1981, S. 71. 45 Albert Carlen, Das Oberwalliser Theater im Mittelalter, Schweiz. Archiv für Volkskunde, 42. Bd. (1945), S. 65 - 111, bes. S. 74; ders., Theatergeschichte des deutschen Wallis, Brig 1982. 46 Erwin Hensler, Das Königreich zu Mainz. Ein Bild aus frohen Tagen der kurmainzischen Kanzlei, in: Studien aus Kunst und Geschichte, Friedrich Schneider zum 70. Geburtstage gewidmet, Freiburg i.Br. 1906, S. 393 - 410, bes. S. 395.
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4. Der „König"
der Geckengesellschaft zu Cleve (Niederrhein)
Die 1381 unter gräflichem Protektorat von 36 Adeligen der Grafschaft Cleve - darunter auch der Graf selbst - errichtete Geckengesellschaft hielt alljährlich am zweiten Sonntag nach Michaeli (29. September) ihre feierliche Versammlung mit gemeinsamem Gottesdienst, um für die verstorbenen Mitbrüder zu beten und zu opfern. Anschließend wurden ein König und zehn Räte gewählt, welche die Feste und Versammlungen des folgenden Jahres vorzubereiten und die Mitgliedsbeiträge einzuheben hatten. Diese „Bruderschaft" war ausschließlich dem Adel vorbehalten 47 ; ihre Mitglieder trugen schon im 15. Jh. das Bild eines Narren, dessen Kappe mit Schellen besetzt war. 5. Die Königreichsfeier
des Straßburger Fürstbischofs
(1581)
Am Hofe des Fürstbischofs von Straßburg, der in Zabern seine Residenz hatte, wurde das Königreich mit einem festlichen Mahle gefeiert. Dies können wir der Einladung entnehmen, die Bischof Johannes von Manderscheid am 8. Januar 1581 von seinem Schlosse Dachstein aus an seine Räte ergehen ließ. Diese lautet: „Unsser lieber getreuwer! Demnach unns abermals verschienen heiligen dry Konigenabent inn Erwelung des Königs, das Glück antroffen, Wir auch ein solches mitt fröhlicher Mahle zu verrichten vorhanbens. Als haben Wir nit underlassen wollen, euch dessen hiemit zu vergewissen, gnedig begerend, Ir wöllendt neben euwer Hausfrau Sampstags den vierten künftigen Monatz Februarii den Abent in unser Statt Zabern ainkomen und folgende Tag angedeuttes Mahl neben andern herzu durch Unns geladenen in Fröligkeit vollnbringen helffen, wie Wir unns dan dessen ohne das es uns zu gnedigen Gefallen geraicht, zu Euch gnedig vesehen" 48 .
Die Feier des Königsfestes war in der frühen Neuzeit auch im Elsaß weitverbreitet. Der protestantische Münsterprediger Johann Konrad Dannhauer von Straßburg klagt, daß das Königsfest „ i n Stadt und Land, zu Hof, auf Universitäten und Schulen solemniter gehalten zu werden pflegt, da man ein Kuchen auf den Tisch legt und in denselben ein Bohn steckt, darüber werden die Stücke durchs Loß getheilt. Wer die Bohn bekommt, der muß der König, ja der Bohnenkönig seyn, der muß den Tisch decken, ein gelach bezahlen, aufftragen und das Königsfest celebriren, so endlich auff eine wütende Freß- und Säufferey abläufft.. ," 4 9 . 47
Heers (Fn. 41), S. 232; D.-R. Moser (Fn. 6), S. 52, 102, 169, 178. J. Lefftz, Elsässische Weihnacht, 2. Aufl., Kolmar 1941, S. 262. 49 Dannhauer, Catechismus-Milch oder die Erklärung deß christlichen Catechismi 1. - 10. Theil, 5. Ausg. 1671, zit. nach Alfred Pfleger, Weihnachtsbaum und Christkind im alten Elsaß, Oberd. Ztschr. für Volkskunde 15 (1941), S. 47. Dazu Erika Kohler, Martin Luther und der Festbrauch (Mitteidt. Forsch., 17. Bd.), Köln-Graz 1959, S. 107 f. 48
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6. Das Königsspiel am Jesuitenkolleg in Mainz vor 400 Jahren An Konvikten der Jesuiten im Reich wurden, alter deutscher Gepflogenheit entsprechend, häufig Bischofs- wie Königsspiele, letztere zu Epiphanie, aufgeführt. „Das Königsspiel am Feste der heiligen drei Könige ist", so berichtet der Provinzial der oberdeutschen Provinz 1585 an General Aquaviva „ i n fast ganz Deutschland alter Brauch, so auch in unseren Konvikten altherkömmlich". In Dillingen wurde es zeitweilig abgeschafft, aber P. Oliver (Manare) stellte es wieder her nach dem Beispiel des Kollegium Germanikum in Rom. 50 Jetzt verlangen einige wieder die Abschaffung, aber die Konsultoren sind mit mir für die Beibehaltung, wenn Ausschreitungen vermieden werden 51 . Erwünschten Einblick in die Idee des Königsspieles, wie es in den Jesuitenkonvikten üblich war, gestattet uns nun folgender aus den 80er Jahren des 16. Jhs. stammender Bericht aus dem Kolleg in Mainz 5 2 : „ A m Dreikönigstage wurden nach dem Mittagessen vor der Vesper die Reichsbeamten bestimmt, und nach der Vesper wählten sowohl die jüngeren als die älteren Konviktoren je einen König, jede Abteilung in ihrem Museum, und zwar mit geschriebenen Stimmzetteln ... Nachdem der König gewählt, gekrönt und zu dem Throne geführt worden, singt man das Tedeum. Nach dessen Beendigung wird der König von einem größeren Gefolge zu einem Zimmer begleitet, wo er ein langes Gewand und die anderen königlichen Insignien anlegt. Dasselbe Gefolge geleitet ihn dann wieder in den Saal, wo er eine zeitlang Gericht hält. Früher als gewöhnlich, d. h. Vi 6 Uhr, geht's zum Abendessen. Voraus schreitet ein Zitherspieler mit Fakkelträgern, es folgen Soldaten, Adel, Räte und Reichsbeamte, der König inmitten von zwei Lanzenträgern, endlich die Kapläne mit dem übrigen Hofe. Fast alle sind mit wirklichen oder nachgemachten Schwertern bewaffnet. Der dem Könige zunächst vorausgeht, trägt das entblößte Schwert mit dem Reichsapfel. Wenn man beim Speisesaal angekommen, zieht der ganze Hof am König unter Musik vorüber. Dreimal wird mit Musikbegleitung gesungen, am Anfang, Mitte und Ende des Tisches. Gegen Ende liest der Hofnarr das Carmen Grobiani mit lustigen Zwischenbemerkungen. Nach dem Abendessen kehren die Könige zu ihren Zimmern zurück, und kurz darauf stattet der König der Kleinen dem König der Großen einen Besuch ab. Während beide auf dem Throne sitzen, kommen vier 50 Vgl. darüber Andreas Kardinal Steinhuber, Geschichte des Kollegium Germanikum Hungarikum, 2. Aufl., 1. Bd., Freiburg i.Br. 1906, S. 56 ff.; Dietz-Rüdiger Moser, Narren - Prinzen - Jesuiten, Ztschr. für Volkskunde, 77. Bd. (1981), S. 167 - 197; ders. (Fn. 6), S. 34 ff. 51 Bernhard Duhr, Geschichte der Jesuiten, 1. Bd., Freiburg i.Br. 1907, S. 334. 52 Dieses Kolleg war 1561 gegründet worden. Vgl. Anton Ph. Brück, Geschichte der Stadt Mainz, 5. Bd., S. 32 f.
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Konviktoren als Äthiopier gekleidet, beginnen vor den Königen mit Spielkarten einen Streit und führen dann einen rhythmischen Tanz auf; diesem Beispiele folgen auch einige wohlgeübte Knaben. Bevor man das Nachtgebet verrichtet und zu Bett geht, wird allen Anwesenden für die den Königen erwiesene Ehrfurcht und Ehre gedankt und ein königliches Edikt verkündigt, das allen am folgenden Tage nach Belieben aufzustehen erlaubt. Am zweiten Tage geht's nach 8 Uhr in feierlichem Zug zur Hauskapelle, zur heiligen Messe, in der Mitte erhalten die Könige geschmückte Sitze. Gegen 10 Uhr zieht man in der früher angegebenen Ordnung zum Speisesaal. Nach dem Tisch versammeln sich die Könige mit ihrem Gefolge in dem großen Hof, Schlachtreihen werden aufgestellt und dann eine Hasenjagd und andere Spiele aufgeführt. Um 3 Uhr ist Vesperbrot im Speisesaal, wo die Könige mit ihren ersten Beamten an eigenen Tischen sitzen. Nach dem Vesperbrot werden eigene Gesandtschaften abgeordnet, von den Großen zu den Kleinen und umgekehrt; die Botschaften übernehmen die königlichen Beamten in verschiedenen Sprachen, Griechisch, Französisch, Lateinisch und Deutsch, verschiedene Geschenke, Zucker- und Spielwaren werden überreicht; diejenigen, welche den Gesandtschaften antworten, werden von den Königen bestimmt. Endlich überreicht der Studienpräfekt den Königen schöne Bilder und andere Geschenke und erklärt in kurzer Rede seine Liebe zu den Königen und dem Staate der Studenten und Konviktoren, wofür der Reichskanzler seinen Dank ausspricht. Mit gleichem Gepränge wie am Abend vorher zieht man zum Abendessen ... Kurz nach 8 Uhr hält der Reichskanzler eine Dankrede an alle Großen des Reiches, Beamten, Untertanen und verkündet ein königliches Edikt, daß am folgenden Morgen alle zur gewöhnlichen Zeit aufstehen und zur Schule gehen sollen. Nach dem Nachtgebet begibt sich der König in ein Zimmer und erhält für seine Beamten ein Glas Wein. Am folgenden Tag ist alles wie gewöhnlich, und um so freudiger wird gearbeitet, je schöner die Erholung w a r " 5 3 . Soweit der Bericht über das Königsspiel zu Mainz vor 400 Jahren. 7. Das „Königreich"
am kurfürstlichen
Hofe zu Mainz
Näher unterrichtet sind w i r über das „Königreich", das jahrhundertelang am kurfürstlichen Hofe zu Mainz gefeiert wurde. Um den Dreikönigstag trat einst alljährlich die Mainzer Regierungskanzlei zusammen, um „das Königreich zu Mainz" zu errichten 54 . Ursprünglich wohl auf die Kanzlei beschränkt, dehnte sich dieses Königreich rasch auf weitere Kreise aus, so daß bald die ganze Hofhaltung sowie die gesamte Zentralverwaltung daran beteiligt waren 55 . 53
Nach Duhr (Fn. 51), 1. Bd., S. 334 f. 54 Hensler (Fn. 46), S. 393 - 410.
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Gegen Mitte Jänner 1617 berichteten die „Cantzleyverwandten" der Regierungskanzlei dem Kurfürsten, daß sie kürzlich am Vorabend des Dreikönigsfestes „durch ordentliche Wahl einen König altem herkommenem Gebrauch nach ... elegirt" und daß die „per sortem" vorgenommene Wahl auf den Sekretär Wendelin Faber gefallen sei. Zugleich wurde der Kurfürst gebeten, „zue bevorstehendem Königreich uns mit einem Trunck Wein gnedigst begaben ... zu lassen". Daraufhin bewilligte der Erzbischof zwei Ohm neuen Weins 56 . 1619 wurden bereits vier Ohm für das „Königreich" bewilligt. Später entfiel diese Weinspende, dafür wurde von der kurfürstlichen Hofkammer ein Zuschuß zur Bestreitung des Dreikönigsessens gewährt, der seit 1723 mit 18 fl. fixiert war. Darüber hinaus erwachsende Unkosten hatte der erwählte König zu tragen. Daher fiel nun das anstelle des Trunkes von 1617 und 1619 allmählich in Übung gekommene, freilich auch weiterhin mit einem guten Trunk verbundene Königsessen mitunter recht unterschiedlich aus, je nachdem ob ein kleiner Subalternbeamter oder ein vermögender Adelsherr durch das Los zum Festkönig erwählt worden war. Immerhin wurden von der Hofverwaltung des öfteren Zubußen gewährt. 1619 werden auch die kurfürstlichen „gelehrten Herren Räte" als Teilnehmer an der um Dreikönig vorgenommenen Wahl erwähnt, die sogar auf einen von diesen fiel. Im Ämterverzeichnis werden 21 „Ämter" mit ihren Abzeichen angeführt, so der König (Krone), der Narr (Pritsche und Wurst), Obermarschall (Stab), der Kammerjunker (mit Weinglas und Pokal), der Mundschenk (mit Kanne) usw. 1630 finden w i r auch den Kurfürsten und die höheren Hofbeamten als Teilnehmer am Königsspiel genannt. Die Zahl der „Ämter" ist bereits auf 76 angewachsen. Nach über 30jähriger, durch Kriegsgeschehen und wirtschaftlichen Niedergang bedingter Unterbrechung setzen 1663 die Königreichsprotokolle wieder ein, die von verschiedenen kürzeren Unterbrechungen abgesehen, bis zum Ausgang dieser „Fasnachtslustbarkeit" geführt wurden. Da der „Chur-Mayntzische Stands- und Staats-Calender" erst 1740 einsetzt, haben für die vorhergehende Zeit die im Würzburger Kreisarchiv erhaltenen Königswahlprotokolle sowohl „für die gesamte Personalge55 Vgl. Hans Goldschmidt, Zentralbehörden und Beamtentum im Kurfürstentum Mainz vom 16. bis zum 18. Jh., 1908; W.G. Rodel, Mainz und seine Bevölkerung im 17. und 18. Jh., 1985. 56 Über Weinbau und Weinwirtschaft im Erzstift Mainz vgl. Georg Schreiber, Deutsche Weingeschichte (ergänzt und für die Drucklegung bearbeitet von Nikolaus Grass), Köln 1980, Register, S. 530 s.v. Mainz, bes. S. 202. Dazu die Rezension von Paul Mikat, ZRG K A 67 (1981), S. 388 - 396.
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schichte des Mainzer Erzstiftes" als auch „für die verwaltungsgeschichtliche und genealogische Forschung" eine „große Bedeutung" 57 . Die bei Konstituierung des „Königreiches" gezogenen Lose haben die Gesellschaft fürwahr bunt untereinander gemischt: 1663 war beispielsweise Johann Philipp von Schönborn Ratschenk und Ihro freyherrl. Gnaden Herr von Boineburg sogar Hofschuster, ein Herr von Franckenstein Saalknecht. 1774 wurde „Ihro kurfürstl. Gnaden" Proviant-Commissarius, der Regimentspräsident von Erthal Schornsteinfeger. Nur zweimal in der langen Geschichte des Mainzer „Königreiches", 1668 und 1765, waren Kurfürsten zu kurzfristiger Königswürde erhoben worden 58 . Diese Königreichsfeiern boten damals wohl die einzige Gelegenheit, bei der „sich hoch und niedrig menschlich nähertreten konnten, wo die Möglichkeit war zur Ausgleichung und Versöhnung sich widerstreitender Persönlichkeiten und Interessen". Sie hatten daher ebenso ihren guten Sinn wie in der Gegenwart die Festessen von Regierungen oder auf akademischer Ebene von Senat oder Fakultäten 59 . Während der Regierungszeit des Kurfürsten Emmerich Josef von Breidbach-Bürresheim (1763 - 1774) sah das „Königreich" noch einmal fröhliche Zeiten. Der überaus nüchterne Nachfolger Friedrich Karl von Erthal war ganz auf die Behebung der Schäden bedacht, an denen die geistlichen Fürstentümer krankten. Schon 1775 hat er im Zuge seiner Reformen auch dem „Königreiche zu Mainz" ein Ende bereitet. 8. Das „Königreich"
am Reichskammergericht
zu Speyer (1538)
Auch am höchsten Gericht des Heiligen Römischen Reiches, dem Reichskammergericht 60 , das von 1526 bis 1689 seinen Sitz in Speyer hatte, wurde 1538 das „Königreich" gefeiert 61 . Damals stand Pfalzgraf Hanns von Sim57 So Hensler (Fn. 46), S. 398. Näher führt dies Hensler aus in seiner Schrift: Verfassung und Verwaltung von Kurmainz um das Jahr 1600 (Straßburger Beiträge zur neueren Geschichte), II. Bd., 1. Heft, 1909. se Vgl. die Protokolle bei Hensler (Fn. 46), S. 407 - 410. 59 Über Wein im akademischen Brauchtum vgl. meine Ausführungen in: Schreiber (Fn. 56), S. 225 f., sowie in dem von Louis Carlen / H.C. Faußner hrsg. Sammelband „ A l m und Wein in der Rechtsgeschichte", Hildesheim 1989. 60 Vgl. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht, 1. Teil (Quellen u. Studien zur Geschichte des Deutschen Reiches IV/3), Weimar 1911 (Neudruck 1965); Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Bd., Karlsruhe 1966, S. 161 - 165, 172; Gerhard Köbler, Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte, München 1988, S. 268 - 273. 61 In Speyer war es damals sehr üblich, i n der Fasnacht vermummt zu gehen. Frobenius von Zimmern hielt die Mummerei als den guten Sitten sehr nachteilig. Zimmersche Chronik, hrsg. von K.A. Barack, 3. Bd. (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart, 93. Bd.), Tübingen 1869, S. 265 f. (2. Aufl. 1881 ist mir nicht erreichbar). Revidierte Neuausgabe von Hansmartin Decker-Hauff / Rudolf Seigel, Die Chronik der Grafen von Zimmern, Sigmaringen 1964 ff.
Das Königreichspiel i m Heiligen Römischen Reich
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mern (Summern) als Kammerrichter an der Spitze dieses Höchstgerichtes 62 , dem Wilhelm Wernherr Freiherr von Zimmern von 1529-1539 als Beisitzer 63 (Assessor), anschließend bis 1542 sogar als interimistischer Verwalter des Kammerrichteramtes, angehörte 64 . Deshalb hat denn auch diese Königreich-Feier in der Chronik des Grafen von Zimmern Erwähnung gefunden. Diese Chronik 6 5 berichtet, daß anfangs Januar 1538, wohl auf Dreikönig, „der cammerrichter, auch mertails der furnempsten personnen am cammergericht ... ain kunigreich angeschlagen hetten, welches mit allen frewden sollt begangen werden". Graf Wilhelm Wernher von Zimbern, „der Speyrer", der kurz vorher in Sachen des Reichskammergerichtes sich auf eine Dienstreise begeben hatte, kehrte nach Erledigung in größter Eile nach Speyer zurück, denn er wollte nach Möglichkeit bereits am Abend vor Beginn des Festes noch dort ankommen, zumal er mit dem Kammerrichter Hanns von Simmern eng befreundet war 6 6 . Obwohl am Rhein ungewöhnlich große Eisschollen trieben, übersetzte Herr Wilhelm Wernher in einem kleinen Schiff den Fluß und konnte so am „kunigreich wie ander" teilnehmen 67 . 9. Der „königliche Hof " zu Speyer um 1550 Auch die Bürger der Reichsstadt Speyer wußten den Fasching traditionsgemäß zu begehen. Einem Bericht des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomaeus Sastrow entnehmen wir, wie man anno 1550 in Speyer zu Neujahr oder Dreikönig einen königlichen Hof einrichtete, bei dem neben dem König, dem Marschall, Kanzler, Hofmeister, Schenken und Truchsessen auch der Narr (Hofnarr) nicht fehlen durfte, dem der König eine Narren62 Über Stellung und Aufgaben des Kammerrichters vgl. Smend (Fn. 60), S. 244 ff. Über die damaligen Verhältnisse an diesem Gericht vgl. Smend, ebd., S. 144 ff. 63 Über die Beisitzer vgl. Smend (Fn. 60), S. 264 - 310. 64 Wilhelm Werner Freiherr von Zimmern wurde von Kaiser Karl V. mit Diplom vom 23. Mai 1538 in den Grafenstand erhoben. Eine ansprechende Biographie des auch als Historiker verdienten Wilhelm Werner v. Zimmern, des Wegbereiters der Zimmern'schen Chronik, enthält die Monographie von Beat Rudolf Jenny, Graf Froben Christoph von Zimmern, Geschichtsschreiber - Erzähler - Landesherr - Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Schwaben, Konstanz 1959, S. 55 - 63. 65 Die Chronik der Grafen von Zimmern, ein Werk des gelehrten und vielbelesenen Grafen Froben Christoph von Zimmern, umfaßt die Zeit von 1288 - 1566. Über den Verfasser dieser Chronik und sein Werk vgl. Jenny (Fn. 64). Diese nicht immer zuverlässige Chronik ist sowohl für die Rechtsgeschichte wie für die Rechtliche Volkskunde von Bedeutung. Vgl. Otto Franklin, Beiträge zur Rechtsgeschichte nach der Zimmerischen Chronik, Freiburg i.Br. 1884; Carl Georg Bonnekamp, Die Zimmerische Chronik als Quelle zur Geschichte des Strafrechts, der Strafgerichtsbarkeit und des Strafverfahrens in Schwaben im Ausgang des Mittelalters, Diss. Bonn 1940; Karl Siegfried Bader, Die Zimmerische Chronik als Quelle Rechtlicher Volkskunde (Das Rechtswahrzeichen, hrsg. von K.S. Bader, 5. Heft), Freiburg i.Br. 1942. 66 Jenny (Fn. 64), S. 61. 67 Zimmerische Chronik, hrsg. von Barack (Fn. 61), 3. Bd. (1869), S. 197.
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kappe oder eine K u t t e anfertigen lassen m u ß t e 6 8 . Bis z u m A n f a n g der Fastenzeit veranstaltete m a n n u n an jedem Sonntag abends z w e i bis d r e i „ K ö n i g r e i c h e " , zu denen M ä n n e r w i e F r a u e n m i t i h r e n Spielleuten Z u t r i t t h a t t e n u n d auf denen m a n d a n n gemeinschaftlich d e m Tanzvergnügen h u l digte69. 10. Der „König im Schatten
von Essen"
des fürstlichen
Damenstiftes
I m Herrschaftsgebiet der F ü r s t ä b t i s s i n des hochadeligen KanonissenStiftes Essen 7 0 h a t sich manch' a l t ü b e r k o m m e n e Gepflogenheit
länger
erhalten als i n Nachbargebieten, w o eine stärkere Staatsgewalt leichter Neuerungen durchführte. I m Schatten des g ü t e r m ä c h t i g e n Damenstiftes e n t w i c k e l t e sich aus einer K a u f m a n n s s i e d l u n g die kleine L a n d s t a d t Essen, die sich i m 14. Jh. aus dem M a r k t r e c h t der Ä b t i s s i n löste. Mindestens bis gegen Ende des 15. Jhs. herauf versammelten sich a l l j ä h r l i c h a m N a c h m i t t a g des Sonntags v o r M a r i a e L i c h t m e ß (2. Februar) Bürgermeister, Rat u n d Gemeinde, u m den „ K ö n i g v o n Essen" sowie v e r m u t l i c h auch seine Gefährten, den „ H e r z o g " u n d den „ R a u h g r a f e n " zu w ä h l e n , die sich m i t e i n a n d e r i n die E h r e n w i e i n die Kosten des folgenden Herganges t e i l t e n 7 1 . A m M o r g e n des Lichtmeßtages (2. Februar) t r a t e n die d r e i W ü r d e n t r ä g e r „ i n p o n t i f i c a l i b u s " 7 2 oder „ i n irer 68 A. Spamer, Deutsche Fasnachtsbräuche, Jena 1936, S. 9. Bereits dort wird es mit Recht als fraglich hingestellt, „ob sich unmittelbare geschichtliche Fäden von jenen nachmittelalterlichen deutschen Narrenkönigen zum römischen Saturnalienkönig spinnen lassen." Ähnlich urteilt Joseph Klersch, Die Kölnische Fastnacht von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 1961, S. 12 ff. Vgl. Fn. 3. 69 H. Pleij, Het Gilde van de Blauwe Schuit, Amsterdam 1979, S. 32. 70 Vgl. Karl Heinrich Schäfer, Die Kanonissenstifter im deutschen Mittelalter (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 43./44. Bd.), Stuttgart 1907 (Neudruck Amsterdam 1965), S. 88 - 94; Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 63./64. Bd.), 2. Aufl., Stuttgart 1922 (Neudruck Darmstadt 1958), S. 22, 36 ff.; Paul Ernst Hübinger, 1100 Jahre Stift und Stadt Essen (Beitrag zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, 68. Bd.), 1952; Erich Wisplinghoff, Beitrag zur Geschichte des Damenstifts Essen, im Archiv für Diplomatik, 13. Bd. (1967), S. 110 ff.; Paul Mikat / L. Küppers, Der Essener Münsterschatz (1966); Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder, München 1988, S. 139 f., Art. Essen. Über den um die Kirchliche Rechtsgeschichte hochverdienten Herausgeber der K i r chenrechtlichen Abhandlungen vgl. meinen aus Anlaß des 50. Todestages veröffentlichten Aufsatz „Ulrich Stutz und die österreichische Kirchenrechtswissenschaft", ZRG K A 74 (1988), S. 27 - 43. 71 Franz Arens, Der Liber Ordinarius der Essener Stiftskirche, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen X X I , S. 90 ff.; eingehender Konrad Ribbeck, Gilde, Lichtmeß und Fastnacht im Stifte Essen, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 115. Heft, Düsseldorf 1929, S. 98 - 110, bes. S. 101 - 103. Robert Jahn, Essener Geschichte, 1952; Eduard Hegel, Kirchliche Vergangenheit im Bistum Essen, 1960; Alois Schröer, Die Kirche in Westfalen vor der Reformation, 2 Bde., Münster i. W. 1967, 1. Bd., S. 149, 151, 230, 357, 365 f.
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zirheit", wie es in den Quellen heißt, also in einer ihrem Rang entsprechenden Verkleidung mit einem vermutlich wohl auch verkleideten Gefolge auf und sammelten von den Besuchern der Pfarrkirchen kleine Geldspenden und von den Teilnehmern einer zum Münster ziehenden Lichterprozession die übriggebliebenen Kerzenstumpfen ein. Dazu kamen noch gewisse aus Stiftungen fließende Geld- und Natural (Wachs)-Einnahmen 73 . Diese verwendeten König, Herzog und Rauhgraf, um mit Hilfe ihrer Freunde, die sie auch bewirten mußten, im Rathaus große Kerzen anzufertigen. Diese brachten sie dann - wiederum in der herkömmlichen Tracht - mit ihren Frauen und ihrem Gefolge am Fasnachtssonntag in feierlichem Aufzug in das Münster, wo für sie ein feierlicher Gottesdienst mit Prozession gehalten wurde 7 4 und auch zu den Pfarrkirchen 75 . Sowohl Königswahl wie Herstellung der Kerzen waren von einem fröhlichen Treiben auf dem Rathaus begleitet. Diese Brauchtumsausübung wurde offenbar als eine städtische Angelegenheit betrachtet, wie aus der Beteiligung von Bürgermeister und Rat an der Wahl dieses „Königs", aus der Bereitstellung des Rathauses für die Zusammenkünfte und der Verwahrung einschlägiger Urkunden im städtischen Archiv geschlossen werden kann. Auch die enge Verbindung der „Königskerzen" mit der ältesten städtischen Wohlfahrtsstiftung, der „großen Spende", in deren Rechnungen die Eingänge aus den Sammlungen sowie deren Verwendung verzeichnet sind, die nach dem Eingehen dieses Gebrauchs im 16. Jh. Erbin der gestifteten Renten wurde, bestätigt die enge Beziehung zum Stadtregiment. In Recklinghausen, wo die Abtei Essen um 1000 ein Tochterstift errichtet hatte, deuten ähnliche Eintragungen aus den Jahren zwischen 1530 und 1560 gleichfalls auf einen „König in Recklinghausen" hin 7 6 .
72 Die Amtstracht des deutschen Königs hatte ja manche Ähnlichkeit mit der Pontifikalkleidung. Vgl. Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland, 2 Bde., Würzburg 1942, sowie Theodor Klauser, Ideine Abendländische Liturgiegeschichte, 5. Aufl., Bonn 1965, S. 36 ff. 73 Über Kerzenstiftungen und Luminariengut vgl. Eugen Wohlhaupter, Die Kerze im Recht (Forschungen zum deutschen Recht, IV. Bd. 1. Heft), Weimar 1940 (dazu Georg Schreiber, Theologische Revue, 40 (1941), Sp. 26ff., sowie Peter Löffler, Studien zum Totenbrauchtum in den Gilden, Bruderschaften und Nachbarschaften Westfalens (Forsch, zur Volkskunde, 47), Münster i. W. 1975, S. 197 ff. 74 Über die Liturgie im Essener Stift vgl. Fritz Arens, Der liber Ordinarius der Essener Stiftskirche, Paderborn 1908. 75 Über die dem Patronatsrecht der Äbtissin unterstehende Pfarrkirche s. Schäfer (Fn. 70), S. 88, 104 Anm. 3, 112 mit Anm. 8; ders., Pfarrkirche und Stift im deutschen Mittelalter (Kirchenrechtl. Abh., 3. Heft), Stuttgart 1903. 76 Ribbeck (Fn. 71), S. 102 Anm. 24.
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11. Münster in Westfalen Aus dem Hochstift Münster i.W. berichtet Hermann von Kerßenbroick, der Münstersche Chronist aus dem 16. Saeculum, vom dortigen Dreikönigsfest, daß durch das Los ein König gekürt werde, der einem jeden in der Gesellschaft ein gewisses Amt auftrage 77 .
IV. Vom Prunkaufzug an Renaissancehöfen Die Unbefangenheit des Narrentreibens und der damit verbundenen Unterhaltung wurde zuerst in den Stadtrepubliken Italiens von einem regulierten Primkaufzug abgelöst, der sich konsequenterweise als „Machttheater" der führenden Familie etablierte 78 . Schon in dem vom Stadtrat überwachten Schembartlauf des spätmittelalterlichen Nürnberg 79 waren christliche Elemente und ein ständiger Rekurs auf die Bibel zu beobachten. „ I n Florenz machte dies nun alles einer Rationalität Platz, die an der Antike orientiert war und die liturgischen Ursprünge der meisten Feste in den Hintergrund treten ließ" 8 0 . An einzelnen Fürstenresidenzen aber begann man Fasnachtsaufzüge mit aus der Antike entlehnten Vorbildern zu gestalten. Ein frühes Beispiel aus der Renaissance hierfür findet sich im von Erzherzog Ferdinand II. schon in den 60er Jahren des 16. Jhs. im Geist der Renaissance ausgestalteten Schlosse Ambras bei Innsbruck 81 . Der Innenhof dieses Schlosses ist durch reiche figürliche Renaissancemalereien aus der 2. Hälfte des 16. Jhs. geschmückt. An der Nordwand findet sich u. a. die Darstellung eines Bacchus-Festzuges mit verschiedenen Wagen, Satyrn und Bacchanten 82 . 77 Vgl. Paul Bahlmann, Münstersche Fastnachtsbelustigungen, Ztschr. für Kulturgeschichte NF. (= 4. F.), 1. Bd. (1894), S. 220 ff., darnach Hensler (Fn. 46), S. 395; N. Humburg, Städtisches Fastnachtsbrauchtum in West- u. Ostfalen, Münster i.W. 1976. 78 Vgl. bes. Heers (Fn. 41), S. 302 ff., über den Karneval der Medici, S. 308 ff. Über die Beziehungen zwischen Karneval und Theater in Italien handelt Paolo Toschi, Le origini del teatro italiano, Turin 1955. Über Ludi caesarei oder Kaiserspiele vgl. Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, 2. Bd., Salzburg 1959, S. 20 ff., 250 ff., 369; ders., Das Theaterpublikum der Renaissance, 2 Bde., Salzburg 1984 u. 1986. 79 Jürgen Küster, Spectaculum Vitiorum. Studien zur Intentionalität und Geschichte des Nürnberger Schembartlaufes (Kulturgeschichtliche Forschungen, 2. Bd.), Remscheid 1984; D.-R. Moser (Fn. 6). 80 So Georg Scheibelreiter in seiner sehr anerkennenden Rezension zu Heers, Vom Mummenschanz zum Machttheater (Fn. 41), MIÖG, 96. Bd. (1988), S. 183 - 185. 81 Vgl. bes. Laurin Luchner, Ambras, Denkmal eines Renaissancefürsten, Wien 1958. 82 Vgl. Elisabeth Scheicher, Schloss Ambras, in Kunstdenkmäler der Stadt Innsbruck: Die Hofbauten (Österr. Kunsttopographie, X L VII. Bd.), Wien 1986, S. 550 f., teilweise Abbildungen der Nordwand auf S. 549.
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Am Ambraser Zierteller von 1528, der vermutlich 1577 als Geschenk des Hohenemser Grafen an Erzherzog Ferdinand II. gelangte, ist als Hauptfigur die mater stultorum, die „Narrenmutter" mit ihren sieben Söhnen dargestellt 83 . Auch sonst wurde auf die Rolle der Höfe und ihres „Festwerks" für die Ausgestaltung des Fasnachtsbrauchtums hingewiesen, desgleichen auf die Einflüsse des italienischen Theaters 84 . V. Vom Königreichspiel zur „Königlichen Wirtschaft" 1. Das „Königreich"
am Tiroler
Fürstenhof zu Innsbruck
Im Barockzeitalter begegnet am Innsbrucker Hof „Das Königreich" als beliebte, halbtheatralische Unterhaltung. Eine solche Veranstaltung fand am 7. Februar 1630 statt. Dabei erschien der mit Claudia von Medici vermählte Landesfürst, Erzherzog Leopold V. als „obrister Kemichkehrer" (Kaminkehrer) mit vier anderen Kaminkehrern, drei Kämmerern und dem Truchseß, die dann den ersten Tanz hielten. Daraufhin „hat ir fürstlich Durchlaucht seinen jungen Prinzen in Kemichkehrer-Kleidung auf dem Arm herfürgetragen und der Erzherzogin [Claudia] präsentiert". Anschließend begann der Tanz, wobei „der Narr mit der Närrin ain absonderlich Danz ... gehalten" hat. Erst beim Tagesgrauen ist „solches Königreich wieder aus gewest, vollendet und beschlossen worden". Leiter der Hofbälle und Ballette war damals der aus Nancy stammende Tanzmeister Karl Boussier 85 . Im Fasching des Jahres 1653, am 23. Februar, veranstaltete der verschwenderische Tiroler Landesfürst Erzherzog Ferdinand Karl in Innsbruck eine große Maskerade, die das „Königreich und seine Ämter" darstellen sollte 86 . Dabei zählte man 46 Herren und 32 Damen als Mitwirkende. Der 83 Über „Die Narrenmutter als Schlüsselfigur" auf dem Ambraser Zierteller von 1528 handelt Werner Mezger, Ein Bildprogramm zur Narrenidee, in: Horst Sund (Hrsg.), Fasnacht in Geschichte, Kunst und Literatur, Konstanz 1984, S. 81 - 113, bes. S. 83 ff. Vgl. auch Werner Mezger, Der Ambraser Narrenteller und ein Fresko auf der Churburg, in der Tiroler Kulturzeitschrift „Das Fenster", 29. Heft, Innsbruck 1981, S. 2917-2926. Über die Hohenemser Grafen und ihre Beziehungen zu Oberitalien vgl. u. a. Ludwig Welti, Hohenems und Gallarate, in: Festschrift Nikolaus Grass, 1. Bd., Innsbruck 1984, S. 665 - 678. 84 Vgl. u. a. Maria Kundegraber / Hermann Bausinger, Ein Maskenzug im Jahre 1591, im Württemberg, Jahrbuch für Volkskunde 1961/64, S. 42 - 60, sowie Bausinger, Für eine komplexere Fastnachtstheorie, im Jahrbuch für Volkskunde, 6. Bd., 1983, S. 101. Über trionfi, Triumphzüge der Medici in Florenz vgl. bes. Heinz Kindermann, Theaterpublikum der Renaissance, 1. Bd., S. 48 f., 62 f. u. ö., sowie Heers (Fn. 41), S. 309 ff. 85 Walter Senn, Musik und Theater am Hof zu Innsbruck, Innsbruck 1954, S. 227. Zur Musikgeschichte dieser Stadt vgl. auch Jutta Höpfel, Innsbruck, Residenz der alten Musik, Innsbruck 1988. 86 Nach David v. Schönherr, Erzherzog Ferdinand Karl und der maskierte Adel von Innsbruck im Fasching 1653, in: Schönherr, Gesammelte Schriften, hrsg. von Michael
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Nikolaus Grass
Landesfürst selbst hatte die Rolle des Kellners, dessen jüngerer B r u d e r E r z herzog S i g m u n d Franz die des Obristjägermeisters, w ä h r e n d die G e m a h l i n des Landesfürsten Erzherzogin A n n a (Tochter des Großherzogs v o n Florenz) die Rolle einer Obersthofmeisterin der K ö n i g i n ü b e r n o m m e n hatte. A m 25. Februar, n o c h „ u n t e r wehrenden K ö n i g r e i c h z u H o f " , also n o c h i n v o l l e m K o s t ü m der Maskerade, w u r d e eine S c h l i t t e n f a h r t unternommen. Das v o r gestellte „ K ö n i g r e i c h " u n d seine „ Ä m t e r " entsprachen den i m Römischdeutschen Reiche ü b l i c h e n Verhältnissen, n u r der „ S a r l a t a n " w a r i t a l i e n i schen Ursprungs. D i e Rolle des Kuchlmeisters hatte der Prälat des landesfürstlichen H a u s klosters S t a m s 8 7 , die eines Leibmedicus der P r ä l a t v o n Tegernsee ü b e r n o m men. I n solche barocke Hofrevuen w i e „ D a s K ö n i g r e i c h " n a h m m a n gerne T i r o l e r Ä l p l e r 8 8 neben Schwazer B e r g k n a p p e n 8 9 , Z i l l e r t a l e r Defregger T e p p i c h h ä n d l e r n
91
Ölträgern 90,
u. a. als T i r o l e r Originale auf.
Mayr, 2. Bd., Innsbruck 1902, S. 664 - 672; Anton Dörrer, Tiroler Fasnacht, Innsbruck 1949, S. 317. 87 Die Zisterze Stams diente nicht nur als landesfürstliche Grablege, sondern wurde wiederholt auch als Klosterresidenz und Jagdsitz tirolischer Landesherren in Anspruch genommen, so noch vom obengenannten Erzherzog Ferdinand Karl: als 1648 dessen Mutter, die überaus tüchtige Erzherzogin Claudia gestorben war, entfloh der Sohn sofort dem Trauerort und begab sich mit einem Gefolge von 200 Personen nach Stams, wo er das Gastungsrecht in Anspruch nahm (Schönherr [Fn. 86], S. 665). Wiederholt fungierte der Abt von Stams als Hofpontifex in Innsbruck. Vgl. Nikolaus Grass, Reichskleinodien-Studien aus rechtshistorischer Sicht, in: Sitzungsber. der Österr. Akad. der Wiss, phil.-hist. K l , 248. Bd., 4. Abh., Wien 1965, S. 28 f f , 56 f f , sowie ders., Königskirche und Staatssymbolik, hrsg. von Louis Carlen / Hans C. Faußner, Innsbruck 1983, S. 207 - 227; Nikolaus Grass, Die Ritter von Liebenberg und ihre Stiftungen an das Kloster Stams, in: Historische Blickpunkte - Festschrift für Johann Rainer (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, 25. Bd.), Innsbruck 1988, S. 181 - 194; Carlrichard Brühl, Fodrum, gistum, servitium regis, 1. Bd., Köln Graz 1968, S. 149 Anm. 135, ebd. S. 9 ff. bedeutsame Ausführungen über die Königsgastung. 88 Anton Dörrer (Fn. 86), S. 332 u. Nikolaus Grass, Die Alpwirtschaft in Geschichte, Volkstum und Recht, in: Festschrift Karl Gottfried Hugelmann, 1. Bd., Aalen 1959, S. 159 - 188, Wiederabdruck, in: Alm und Wein in der Rechtsgeschichte, hrsg. von Louis Carlen / Hans C. Faußner, Hildesheim 1989; Louis Carlen, Das Recht der Hirten, Innsbruck 1970. 89 Vgl. darüber u. a. Georg Schreiber, Der Bergbau in Geschichte, Ethos und Sakralkultur, Köln-Opladen 1962, S. 179 ff. Für Südtirol vgl. auch Gerhard Heilfurth, Bergbaukultur in Südtirol, Bozen 1984, dazu meine Rez, Österr. Ztschr. für Volkskunde, 89. Bd. (1986), S. 366 f. 90 Vgl. darüber bes. Ludwig von Hörmann, Tiroler Volkstypen, Wien 1877, S. 185 ff.; ders., Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909; Otto Stolz, Geschichtskunde des Zillertales (Schlern-Schriften, 63. Bd.), Innsbruck 1949, S. 211. Der verdiente Tiroler Volkskundler Ludwig von Hörmann, Direktor der Univ.-Bibliothek Innsbruck, war der Vater des durch seine auf reichen Quellenforschungen beruhenden eherechtsgeschichtlichen Arbeiten bekannt gewordenen Innsbrucker Kanonisten Walther von Hörmann ( | 1946). Vgl. Nikolaus Grass, Walther von Hörmann zu Hörbach, in ZRG K A 37 (1951), S. I X - XIV, sowie Grass, Österreichs Kirchenrechtslehrer der Neuzeit, Freiburg/Schweiz 1988, S. 295 - 301.
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Mit dem frühen Tod des ebenso tüchtigen wie sparsamen Erzherzogs Sigmund Franz ist 1665 die (jüngere) tirolische Linie des Herrscherhauses erloschen, womit für Innsbruck die Stellung einer Residenzstadt zu Ende ging.
2. Vom Königreichspiel
zur „königlichen Wirtschaft"
Wie beim mittelalterlichen Schülerbischofsspiel 92 , so ist auch bei der „Wirtschaft" - mit dem Fürstenpaar als Wirt und Wirtin - der Witz des Spieles im Vertauschen der Rollen: König und Königin sind ein Herr und eine Dame des Hofes, zu deren Gefolge ein ganzer Hofstaat zusammengestellt wird. Diese „königlichen Wirtschaften" erfreuten sich an Fürstenhöfen wie beim Adel größerer Verbreitung, als man aus den verhältnismäßig wenigen, in dem mir bekannt gewordenem Schrifttum angeführten Beispielen annehmen möchte 93 . a) Die „Königliche Wirtschaft" Gustav Adolfs zu Frankfurt a.M. (1631) Auf dem Höhepunkt seiner Macht veranstaltete der Schwedenkönig Gustav Adolf 1631 zu Ehren seiner Gemahlin in Frankfurt a.M. eine „Königliche Wirtschaft" 9 4 . Die Chronik des Pfarrers Minck berichtet darüber: „Als die Königin ... gen Franckfurt kommen, stellt der Konig ein groß Bankett oder Wirtschaft an (wie wir gemeine Leute dagegen etwa Königreich halten), dabei dann sehr viel Fürsten und Herrn zugegen, verlosten die Ämter, einer bekam dies, der ander ein anders Amt. Besonders fiel dem König das Los, das er Wirt wäre, die Königin Kammermagd, Herzog Bernhard Keller, eine Gräfin von Solms Kellerin, der Graf von Hanau Narr, ein Fräulein von Solms Närrin, der Pfalzgraf Friedrich V., gewesener König in Böhmen ward ein Jesuit etwa. Und ein jeder hatte seinen gebürlichen Habit an, nach dem das zugefallene Amt erforderte: der König eines Bürgers Kleid von Herrnsey und ausgestochenem Kragen, samt einem großen Klopfschlüssel an den Seiten, die Königin ihrer Magd Kleid, der Pfalzgraf einen Jesuiten Rock ... Über Tisch wie auch sonsten ward dem König diesmal kein Vorzug 91
Hermann Wopfner, Bergbauernbuch, Innsbruck 1951 ff., S. 366. Vgl. darüber Hermann Mang, Unsere Weihnacht, Innsbruck 1927, S. 106; Karl Meisen, Nikolauskult und Nikolausbrauch im Abendland (Forsch, zur Volkskunde, hrsg. von Georg Schreiber, 9/12. Bd.), Düsseldorf 1931, S. 307 - 333; Hans Moser (Fn. 38), S. 114; Klaus Beiti , Art. Kinderbischof, LThK, 2. Aufl. VI, Sp. 151; David Brett-Evans, , Von Hrotsvit bis Folz und Gengenbach, 2 Bde., Berlin 1975,1. Bd., S. 73, 173; Heers (Fn. 41), S. 147 ff., 189 - 196. 93 Einige Beispiele bei Erwin Hensler (Fn. 46), S. 393 - 410. 94 Über König Gustav Adolf und die schwedische Verwaltung i n Mainz vgl. Anton Ph. Brück, Geschichte der Stadt Mainz, 5. Bd., Düsseldorf 1972, S. 48 ff. 92
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geben, er mußte unten ansitzen, wie auch die Königin, und erzeigte sich sehr fröhlich" 9 5 . So entsprach diese „Königliche Wirtschaft" trotz der neuen Bezeichnung eigentlich der überkommenen „Königreichfeier". b) „Kayserliche Wirtschaft" am königlichen Hof zu Prag 1680 und 1682 Über eine in der königlichen Residenzstadt Prag anno 1680 zur „Fastnachts und lustigen Wirthschaffts Zeit" gehaltenen „Kayserlichen Wirthschafft" hat der Hessen-Darmstädtische Gesandte einen ausführlichen Bericht verfaßt 96 , in dem die jedem Mitglied der Hofgesellschaft zugeteilte Stellung angeführt ist. Es hat sich dabei um die Aufführung einer Bauernhochzeit gehandelt. Denn an erster Stelle erscheint der „Caplan", welches Amt Graf Wilhelm von Öttingen übernommen hatte, anschließend erscheinen der Bräutigam (Graf Albrecht von Zinzendorf) und die Braut (Prinzessin Maria Anna), dann der Bräutigams-Vater (Graf v. Harrach, Obrister Stallmeister) und die Bräutigamsmutter (Fr. Herschanin), dann der Brautvater (Graf Franz von Thun) sowie die Brautmutter (Fr. von Starhemberg), der erste Brautführer (Graf Franz Breuner) und die erste Brautjungfer (Fr. Johanne von Herberstein), dann der'„ander Brautführer" (Graf Schwirby ?) und die andere Kranzljungfer (Fr. Tribultzin), der „Schef f Richter" (Graf von Schwarzenberg) und die „Dorff Richterin" (Fr. Finkerin), der Dorfwirt (Graf Laschansky) und die Wirtin (Fr. Truksässin). Dann folgen mehrere Bauernpaare und zwar ein spanischer, „wällischer", französischer, englischer, böhmischer (dargestellt vom spanischen Gesandten), schwäbischer, kroatischer und zuletzt ein „kanakscher" Bauer, jeder mit Frau. Dann folgen ein „Soldat im Quartier" (Graf Ferdinand von Herberstein) mit der „Soldathin" (Fr. von Thürheim), der Dorfjud (Graf Wrbna) und die Dorfjüdin (Fr. Therese von Herberstein). Diesen reihen sich an ein Zigeuner (Prinz von Baden) mit einer Zigeunerin, der Kellner (Graf Max von Wallenstein) mit Kellnerin sowie mehrere Knechte und Dirnen. Den Schluß bilden der Rauchfangkehrer (Graf Franz Augustin von Wallenstein) und der Koch (Graf Sebastian von Öttingen). 95
Hensler, Festschrift Schneider (Fn. 46), S. 395 f. Veröffentlicht von Ludwig Baur, Berichte des Hessen-Darmstädtischen Gesandten Justus Eberh. Passer an die Landgräfin Elisabeth Dorothea über die Vorgänge am kaiserlichen Hofe und in Wien von 1680 bis 1683, im Archiv für österr. Geschichte, 37. Bd., Wien 1867, S. 271 - 409, Zitat S. 278 f. Zur Geschichte des Gesandtschaftswesens vgl. die Abhandlungen von Paul Mikat, Die päpstlichen Gesandten und Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens, in: Religionsrechtliche Schriften, hrsg. von Josef Listi, 2. Bd., S. 433 ff., 789 ff. 96
Das Königreichspiel i m Heiligen Römischen Reich
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Bei dem Ballett waren Kaiser Leopold I. mit der Kaiserin anwesend. Auch im Jahre 1682 wurde am Prager Hof an den drei letzten Faschingstagen „der ,rare Franz 4 von vielen der vornehmsten Cavalliers, Comoedia und Wirtschafften ... mit großer Vergnügung Ihrer kaiserlichen Majestät 97 volbracht". Unter anderem wurde - wie ein Diplomat berichtet 98 - bei der verwitweten Kaiserin 99 „ i m Beysein aller Majestäten eine schöne und kostbahre Wirtschafft gehalten, alwo dero 15 Hofdamens einen rechten Marck(t) aufgericht. Und jede ihren absonderlichen Stand wohl geziert und geschmückt gehabt, und darin jede waß anders verkaufft, eine von Zucker, die andere von Lemonie 100 , die dritte Federwildprett, die vierte von andern Sachen etc. Bei welchen dann die sämtliche Majestäten eingekaufft, hernach aber alles preißgegeben worden. Auch ist dabey ein Graff von Rappach ein Artzt gewesen, und (hat) auf einem Theatro Medritat 1 0 1 verkaufft, welcher ein Freyherrn zum Courtisan gehabt und vor denen Majestäten trefflichen agiret hat". Diese in der Art einer „Bauernhochzeit" gefeierte Fasnachtsbegehung fand noch Jahrzehnte später eine Nachahmung beim westfälischen Adel in Münster anno 1723; wie die „Lysta der in der Haubt- und Residentz-Stadt Münster 1723 den letzten Fastnachts-Tag gehaltener Bauern-Hochzeit" zeigt, entsprachen die in Münster verwendeten Maskeraden weitgehend denen der in Prag gehaltenen „Kayserlichen Wirthschaft" von 1680 102 . Dies erklärt sich aus den engen Beziehungen des westfälischen Adels zu den Habsburgischen Erblanden und dem Wiener Kaiserhof 103 . Die „königlichen Wirtschaften" haben sich demnach im Fasnachtsbrauchtum beim Adel doch größerer Verbreitung erfreut, als man aus den wenigen von Erwin Hensler für Prag und Mainz angeführten Beispielen ver-
97 98 99
ratet.
Kaiser Leopold I. (1657 - 1705). Baur (Fn. 96), Zitat S. 333 (im Sonderdruck S. 278). Eleonora von Mantua (t 1686), seit 1651 mit Kaiser Ferdinand III. (t 1657) verhei-
100 Limoni (Zitronen) wurden damals in den Konditoreien viel verwendet; beim Haller Stadtkoch waren noch im 19. Jh. die „Limoniherzen" viel gefragt. Vgl. Marie Grass-Cornet, Aus der Geschichte der Nordtiroler Bürgerkultur, Innsbruck 1970, S. 261. 101 Mithridat war ein damals bes. im Zillertal hergestelltes und von Wanderhändlern („Ölträgern") weithin exportiertes, aus Medizinalpflanzen etc. hergestelltes Heilmittel, das als Öl wie als Salbe verkauft wurde und nach dem kleinasiatischen König Mithradates (nicht Mithridates) benannt war. Vgl. Stolz, Geschichtskunde des Zillertales, 1949, S. 211. 102 Vgl. Walter Werland, In Münster spukt der Morio, Münster i. W. 1978, S. 35 - 39. 103 v g l etwa Oswald von Gschließer, Die Einwanderung aus dem Reich in die deutschen Erbländer des Habsburgerstaates von der Mitte des 16. Jhs. an, in: Gerhard v. Branca (Hrsg.), Die Blutsgemeinschaft im großdeutschen Reich, Graz 1939, S. 56 105, der, von Phrasen der Hitlerzeit abgesehen, brauchbare Forschungsergebnisse enthält. Weitere Beispiele bei Gschließer, Der Reichshof rat, Wien 1942.
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muten möchte 104 . „Ihre Verwandschaft mit dem späteren bürgerlichen Fastnachtsbrauchtum ist offenkundig" 1 0 5 . In den vorhin geschilderten höfischen und adeligen Königreichspielen der Barockzeit aber könnte man wohl ein gewisses Vorbild für die jüngeren bürgerlichen Karnevalsreiche mit Prinz oder Prinzenpaar, Herold, Garde usw. erblicken 106 . Auch andernorts kamen die fasnächtlichen „Königreiche" - soweit man sieht - allmählich außer Übung; die Fasnachts-,,Könige" wurden mit der Zeit vielfach von Karnevals-„Prinzen", mitunter auch von Prinzenpaaren abgelöst, die auch das Ende der monarchischen Staatsform wohl überstanden und sich selbst in modernen Demokratien großer Beliebtheit erfreuen 107 .
104 In der darstellenden Kunst hatte ja schon Pieter Brueghel d.Ä. die Aufmerksamkeit auf die Bauernhochzeit gelenkt. Vgl. Arthur Haberlandt, Das Hochzeitsbild des Pieter Bruegel des Älteren, Ztschr. für Volkskunde, 40. Bd. (Berlin 1930), S. 10 ff. 105 So mit Recht Ludwig Remling, Zur Bedeutung der Jesuiten für die Entwicklung der Fasnacht, im Jahrbuch für Volkskunde, 6 - 1983, S. 99. 106 Darauf weist Remling (Fn. 105) hin. 107 Klersch, Die Kölnische Fastnacht, Köln 1961, S. 184, 201; D.-R. Moser (Fn. 6), S. 68. Zum neueren Brauchtum vgl. Johannes Künzig, Die alemannisch-schwäbische Fasnet. Veränderter Nachdruck der Ausgabe Freiburg i.Br. 1950, Freiburg 1980 (die Ausgabe von 1950 wurde durch einige Farbabbildungen vermehrt!); Hildegard Friess-Reimann, Fastnacht in Rheinhessen, phil. Diss., Mainz 1980, dazu Ztschr. für Volkskunde, 79. Jg. (1983), S. 140 ff.; Paul Walther, Schwäbische Volkskunde. Unveränderter Nachdruck der Auflage 1929, Frankfurt a.M. 1980, mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Leander Petzoldt; Jürgen Küster, Die Fastnachtsfeier, Freiburg i. Br. 1987.
Wissenschaft und Politik: Streiflichter zu Leben und Werk Franz Böhms (1895 - 1977) Von Alexander Hollerbach
D i e V e r k n ü p f u n g v o n Wissenschaft u n d P o l i t i k , genauerhin v o n Rechtswissenschaft u n d p o l i t i s c h e m Engagement i n Legislative u n d E x e k u t i v e , ist eine D o m i n a n t e i m Lebensgang u n d i n der Werkgeschichte Paul Mikats.
In
ganz eigener Prägung h a t der „ p o l i t i s c h e Professor" i n i h m Gestalt gewonnen 1 . E r steht d a m i t z w a r n i c h t allein, aber die Z a h l der Vorläufer s o w o h l als auch die der M i t s t r e i t e r ist gering. U m so m e h r darf u n t e r dieser Perspektive gerade i n einer Festschrift z u seinen E h r e n an eine Persönlichkeit v o n hohem Rang erinnert werden, n ä m l i c h an Franz
Böhm2.
Z w a r ist es
weder das juristische F a c h n o c h die Konfession, was den J u b i l a r m i t diesem verbindet, w o h l aber die Partei u n d , v o n w e i t e r e n Parallelen u n d Gemeinsamkeiten abgesehen, v o r a l l e m die moralische D i m e n s i o n des wissenschaftlichen u n d politischen Wirkens 3. 1 Zu einem Urbild dieser Species und zum Begriff überhaupt vgl. Horst Ehmke, Karl von Rotteck, der „politische Professor", Karlsruhe 1964. 2 Der nachfolgende Beitrag baut auf einer ersten Skizze auf, die ich in Heft 102 (Dezember 1988) der Freiburger Universitätsblätter gegeben habe: Zu Leben und Werk Franz Böhms, S. 81 - 89. Dafür konnten insbesondere die Personal- und Lehrstuhlakten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und des Universitätsarchivs Freiburg ausgewertet werden. 3 Einen guten Zugang zum Werk von Franz Böhm vermitteln die beiden von ErnstJoachim Mestmäcker herausgegebenen Sammelbände: Reden und Schriften, Karlsruhe 1960; Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1980. Der Würdigung von Leben und Werk dienen: Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Böhm, hrsg. von Helmut Coing / Heinrich Kronstein / Ernst-Joachim Mestmäcker, Karlsruhe 1965; Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung. Festschrift für Franz Böhm zum 80. Geburtstag, hrsg. von Hans Sauermann / Ernst-Joachim Mestmäcker, Tübingen 1975; Wolf gang Preiser, Nachruf auf Franz Böhm, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a.M., Bd. X V I I Nr. 2, Wiesbaden 1980, S. 6 5 - 5 8 ; Franz Böhm: Beiträge zu Leben und Wirken, bearb. von Brigitte Kaffke, Melle 1980 (Forschungsbericht 8, hrsg. im Auftrag der Konrad-AdenauerStiftung v. Klaus Gotto); Christina Dümchen, Zur kartellrechtlichen Konzeption Franz Böhms, Frankfurt a.M. 1980 (Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverfassung. Schriftenreihe des Siegener Instituts für Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung, hrsg. von Robert Weimar, Bd. 4). Vgl. auch: Recht und Gesittung in einer freien Gesellschaft. Zur Erinnerung an Franz Böhm aus Anlaß des 90. Geburtstages. Vortragsveranstaltung der Ludwig-Erhard-Stiftung und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main am 21. November 1985 im Kaisersaal des Römers (Standpunkte 2). Im Erscheinen begriffen ist eine umfassende Würdigung Böhms durch Rudolf Wiethölter.
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I. Franz Böhm wurde am 16. Februar 1895 als Sohn des damaligen Staatsanwalts Dr. Franz Böhm (1861-1915) in Konstanz geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Karlsruhe, wo sein Vater seit Ende der 90er Jahre als Hochschulreferent im Kultusministerium und schließlich vom 19. Mai 1911 bis zu seinem frühen Tod am 30. Juni 1915 selbst als Großherzoglicher Minister des Kultus und Unterrichts fungierte 4 . Nach Abschluß der Reifeprüfung im Jahre 1913 diente er als Einjährig-Freiwilliger. Seine Dienstzeit mündete in den Ersten Weltkrieg ein, den er von Anfang bis Ende mitmachte. Danach studierte Böhm in Freiburg Rechtswissenschaft und legte 1922 bzw. 1924 die beiden Juristischen Staatsprüfungen ab. Schon Ende 1924 wurde er zum Staatsanwalt beim Landgericht Freiburg ernannt, aber alsbald gelangte er in einen größeren Wirkungskreis, der seinen weiteren Weg nachhaltig bestimmen sollte: Von Februar 1925 bis zum 30. September 1931 wurde er zur Dienstleistung als Referent in der Kartell-Abteilung des Reichswirtschaf tsministeriums in Berlin beurlaubt, wo Ministerialrat (später: Ministerialdirektor) Dr. Paul Josten sein Chef war 5 . Nach seinen eigenen Angaben hat Böhm von Herbst 1924 bis Frühjahr 1925 der Deutschen Volkspartei 6 angehört, von da an bis 1945 keiner Partei mehr. Die Annahme liegt nahe, daß er seine Parteimitgliedschaft aufgegeben hat, als er in die Dienste des Reichswirtschaftsministeriums trat. In die Berliner Zeit - 20. März 1926 - fällt die Verheiratung Böhms mit Marietta Ceconi, der am 9. September 1899 geborenen Tochter Ricarda Huchs aus deren (erster) Ehe mit dem italienischen Zahnarzt Dr. Ermanno Ceconi 7. Er ist damit in einen Umkreis von geistig-kultureller Hochspannung, aber auch von politischer Sensibilität eingetreten, der ihn geprägt hat; umgekehrt ist das Geschick Böhms und seiner Familie geradezu zu 4 Diese Daten nach Eberhard Gönner und Günther Haselier, Baden-Württemberg. Geschichte seiner Länder und Territorien, 2. Aufl., Würzburg 1980, S. 145. Von Minister Böhm stammt die wertvolle Darstellung über das Hochschulwesen, in: Das Großherzogtum Baden. 2. Aufl., Bd. 1, hrsg. von Edmund Rebmann / Eberhard Gothein / Eugen von Jagemann, Karlsruhe 1912, S. 884 - 930. In seine Amtszeit als Minister (1911) fiel die Eröffnung des neuen Kollegiengebäudes der Freiburger Universität. Die dort angebrachte Inschrift „Die Wahrheit wird Euch frei machen" (Joh. 8, 32) soll, so wird erzählt, von ihm vorgeschlagen worden sein. Kein Geringerer als Ernst Troeltsch hat Franz Böhm sen. einen einfühlsamen Nachruf gewidmet: Zur Erinnerung an Dr. Franz Böhm, in: Karlsruher Zeitung. Staatsanzeiger für das Großherzogtum Baden, 158. Jg., Nr. 216 v. 10. August 1915. 5 Über diese Behörde vgl. die instruktive Übersicht von Wilfried Berg, Reichswirtschaftsministerium, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 168 - 176. 6 Einführende Übersicht dazu bei Rudolf Morsey, Art. Deutsche Volkspartei, in: Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. I I (1958), Sp. 670 - 672. 7 Zu dieser Persönlichkeit vgl. das literarische Portrait in: Ricarda Huch, Autobiographische Schriften - Nachlese - Register (Gesammelte Werke, Bd. 11), Köln 1974, S. 245 - 374.
Streiflichter zu Leben u n d Werk Franz Böhms (1895 - 1977)
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einem wesentlichen Stück der Biographie der großen Dichterin geworden 8 . Nicht zuletzt spielt der am 14. Juni 1929 geborene Sohn Alexander - heute Ordinarius für Strafrecht, Kriminologie und Strafvollzugswissenschaft in Mainz - als der Enkel „Kander" in den Briefen und Erinnerungen seiner Großmutter eine bemerkenswerte Rolle 9 . Daß - in den Berliner Jahren - der Austausch mit Franz Böhm für Ricarda Huch eine Hilfe gewesen sein könnte, sich in der Welt des Politischen zurechtzufinden, ja ihr Buch über die Revolution von 1848 10 beeinflußt haben könnte, ist nicht von der Hand zu weisen 11 . Franz Böhm selbst hat eindringlich beschrieben, welche Bedeutung Berlin für Ricarda Huchs Auseinandersetzungen mit den zeitgenössischen politischen und literarischen Strömungen gehabt hat 1 2 . Gegen Ende der Zeit, für die er aus dem badischen Justizdienst beurlaubt war, begann Böhm energisch, auf die noch ausstehende juristische Promotion hinzuarbeiten. Im Juli 1931 erscheint er Ricarda Huch als „tief vergraben in seine Dissertation, so daß er alles übrige nur wie im Traume erlebt" 1 3 . Sein Doktorvater in Freiburg war noch Heinrich Hoeniger 14. Schon am Ende des Wintersemesters 1931/32 wurde die Promotion vollzogen, und zwar aufgrund der Dissertation „Der Kampf des Monopolisten gegen den Außenseiter als wettbewerbsrechtliches Problem" 15 . In der Zwischenzeit war auch klargeworden, daß Böhm überhaupt seinen weiteren Weg in der Wissenschaft gehen werde. Vom 1. Oktober 1931 an war er in aller Form erneut beurlaubt worden, jetzt ausdrücklich zum Zweck der Habilitation 1 6 . Anfang April 1933 reichte Böhm seine Habilitationsschrift über „Wettbewerb und Monopolkampf" 1 7 bei der Freiburger Rechts- und 8 Quellen dafür sind vor allem: Marie Baum, Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen und Stuttgart 1950; Ricarda Huch, Briefe an die Freunde. Ausgewählt und eingeführt von Mane Baum, Tübingen 1955. 9 Vgl. etwa Briefe, S. 111 ff., 123, 133. 10 Alte und neue Götter (1848). Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin und Zürich 1930. 11 Vgl. Briefe, S. 113. 12 Franz Böhm, Berlin, in: Ricarda Huch. Persönlichkeit und Werk in Darstellungen ihrer Freunde, Berlin 1934, S. 65 - 86. is Briefe, S. 135. 14 Über ihn vgl. Manfred Löwisch, in: Badische Biographien N.F. Bd. I (1982), S. 177 f. 15 Der Untertitel lautet: „Vorstudien zu einer Untersuchung über die Struktur des Wettbewerb- und Kampfrechts". Die Dissertation ist dann in die Habilitationsschrift als deren erster Teil eingegangen. 16 Ricarda Huch schreibt am 17. August 1932 an Anton Kippenberg: „Mein Schwiegersohn hat sich entschlossen, die Universitäts-Karriere einzuschlagen . . . Man sagte meinem Schwiegersohn, daß er jetzt sehr gute Aussichten hätte, bald einen Ruf zu bekommen, weil - merkwürdigerweise - an Juristen, besonders in seiner Spezialität, Mangel sei. Sollte er nach zwei Jahren noch keinen Ruf bekommen haben, würde er wieder in den Staatsdienst eintreten, da ich länger nicht imstande bin, den Karren allein zu ziehen" (Briefe, S. 143 f.).
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Staatswissenschaftlichen Fakultät ein. Der gerade als Nachfolger von Hoeniger nach Freiburg berufene Hans Großmann-Doerth 18 und - bezeichnenderweise - Walter Euchen 19 wurden zu Referenten bestellt. Eine zusätzliche Stellungnahme liegt von Claudius Frhr. v. Schwerin vor, dem Germanisten der Fakultät 2 0 . Die Habilitationsschrift bringt, schon äußerlich erkennbar, zum Ausdruck, was von nun an zu einem Freiburger Markenzeichen geworden ist, nämlich die innere Verknüpfung von juristischer Analyse und nationalökonomischer Theorie 21 . Die Schrift Böhms hat damit Symbolcharakter für dasjenige, was er später selbst eindringlich beschrieben hat: Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft zwischen Juristen und Volkswirten an der Universität Freiburg in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts 22 . Sie ist ein Grund-Buch der sog. Freiburger Schule des Ordo-Liberalismus 2 2 a . Sehr deutlich heben die Gutachten Stoßrichtung und Rang der Böhmschen Habilitationsschrift hervor. Sie präsentierte sich als ein Manifest für den rechtlich umhegten Leistungswettbewerb als Grundelement einer freien Wirtschaft. Großmann-Doerth schreibt, und hier klingen Momente an, die im weiteren Weg Böhms bedeutsam werden sollten: „ I n stärkstem Gegensatz zu den seit langem die kartellrechtliche Diskussion beherrschenden Schriftstellern vereinigt Böhm eine in langjähriger Arbeit auf dem Wirt17 Die Arbeit trägt den Untertitel „Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung" und ist im Carl Heymanns Verlag Berlin 1933 erschienen. In „Dankbarkeit und Verehrung" ist sie Dr. Paul Josten, Ministerialrat im Reichswirtschaftsministerium, zugeeignet. 18 Großmann-Doerth (1894 - 1944) hatte sich 1928 in Hamburg als Schüler von Hans Wüstendörfer in Hamburg habilitiert und war auf dem Weg über ein Extraordinariat in Prag (1930) zum Sommermester 1933 nach Freiburg gekommen. Seine Hauptwerke: Das Recht des Überseekaufs, Bd. I, Mannheim - Berlin - Leipzig 1930; Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht, Freiburg 1933 (Freiburger Universitätsreden, 10); Die Rechtsfolgen vertragswidriger Andienung, Marburg 1934; Wirtschaftsrecht einschl. Gewerberecht, in: Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates, 2. B d , Gruppe 2, Berlin 1936. 19 Zur ersten Orientierung vgl. aus neuester Zeit J. Heinz Müller, Art. Eucken, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. I I (1986), Sp. 413f. 20 Über ihn vgl. Hans Thieme, Die germanistische Rechtsgeschichte in Freiburg, in: Aus der Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaften zu Freiburg i.Br., hrsg. von Hans Julius Wolff, Freiburg i.Br. 1957, S. 143f. 21 Zu dem damit verbundenen systematischem Grundproblem erhellend Joseph H. Kaiser, Ökonomische Ordnungspostulate und juristische Normierung, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften. Ringvorlesüng der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br, Karlsruhe 1967, S. 49 - 54. 22 So der Titel (mit dem Untertitel „Das Recht der Ordnung der Wirtschaft") seines Beitrags in dem i n Fußnote 20 angeführten Sammelband, S. 95 - 113; Wiederabdruck in: Reden und Schriften (vgl. Fn. 3), S. 158 - 175. 22a Sehr instruktiv dazu Fritz Holzwarth, Ordnung der Wirtschaft durch Wettbewerb. Entwicklung der Ideen der Freiburger Schule, Freiburg i.Br. 1985.
Streiflichter zu Leben u n d Werk Franz Böhms (1895 - 1977)
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schaftsministerium erworbene Sachkenntnis mit Unparteilichkeit. Sehr wirksam wendet er sich öfter gegen die Vernebelungsaktionen, die gerade auf diesem Gebiet immer wieder von Seiten der Interessenten und noch mehr ihrer juristischen Vertreter ausgehen. Die kräftige und männliche Ethik, welche überall hindurchschimmert, ist einer der schönsten Züge des Buches. Das aber ist gerade das, was dem wirtschaftsrechtlichen Hochschulunterricht heute in erster Linie notwendig ist: Lehrer, die einerseits durch Arbeit an irgendeiner Stelle des Wirtschaftslebens mit diesem und seinen Triebkräften lebendige Berührung gewonnen haben und die andererseits darüber nicht aufgehört haben, Juristen im echten Sinne des Wortes zu sein, d.h. Diener und Kämpfer des Rechtsgedankens". Das Habilitations-Kolloquium hatte das Thema „Die juristische Struktur der Einmann-Gesellschaft" zum Gegenstand. Es vollzog sich am 22. November 1933. Unter dem 3. Februar 1934 wurde die Habilitation Böhms für die Fächer Handels- und Wirtschaftsrecht vom Karlsruher Ministerium genehmigt. Seitdem übte Böhm, dessen Beurlaubung aus dem Justizdienst erneut verlängert worden war, eine Lehrtätigkeit als Dozent an der Freiburger Universität aus. Er hielt Vorlesungen über Wirtschaftsrecht, Geschichte des Wirtschaftsverfassungsrechts, Wettbewerbsrecht, Gesellschafts- und Konzernrecht, Privatversicherungsrecht und „Geistiges Schaffen". In den Vorlesungsverzeichnissen nachgewiesen ist auch das von Großmann-Doerth gemeinsam mit Walter Eucken und Franz Böhm veranstaltete „Wirtschaftsrechtliche und wirtschaftspolitische Proseminar für Juristen und Nationalökonomen". Standfestigkeit und Überzeugungskraft, die Böhm eigen waren, machten ihn gegen das, was sich unter dem Vorzeichen das Völkischen als „Neue Rechtswissenschaft" 23 zu etablieren suchte, immun, verstrickten ihn aber auch alsbald in Auseinandersetzungen und machten ihn zur persona minus grata. Im Spiegel von Äußerungen Ricarda Huchs gewinnt man Eindrücke von der damaligen Situation: Schon unter dem 2. November 1934 wird von der Möglichkeit gesprochen, daß Böhm „unter diesem Regime keine Professur bekommt" 2 4 . Ein Jahr später schreibt Ricarda Huch an Marie Baum: „Hier sind wieder große Schlachten und Siege erfochten. Zu einem Lager, das stattfinden sollte, bekam Eucken keine Einladung. Sofort sagten die übrigen auch ab, und es fanden Zusammenkünfte, Auseinandersetzungen statt, schließlich hat ein hiesiger Führer der Studentenschaft Eucken brieflich um Entschuldigung gebeten, es sei ein Mißverständnis gewesen und er nähme alles zurück . . . Du kannst Dir denken, daß Franz immer der Vorder23 Wichtig dazu Dieter Grimm, Die „Neue Rechtswissenschaft". Über Funktion und Formation nationalsozialistischer Jurisprudenz, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, S. 373ff. 24 Briefe, S. 171 f.
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ste war, überhaupt ohne Franz hätte gewiß die Juristische und Volkswirtschaftliche Fakultät hier nicht die Unabhängigkeit bekommen, die sie jetzt hat. Natürlich kann es ja sein, daß alles einmal ein Ende mit Schrecken hat, manche finden schon, daß er hier und da zu weit gegangen sei. Auf dem letzten Lager hat er sich zum Beispiel sehr freimütig über die Judenfrage geäußert, allerdings war er von den Studenten gefragt worden" 2 5 . Und schließlich liest man vom Ende des Wintersemesters 1935/36: „Franz sieht auch erbärmlich aus, aber da das Semester jetzt vorbei ist, wird er sich rasch erholen. Daß die Doktorprüfungen noch dazu kamen und Aufregungen mit den Studenten, machte es so anstrengend. Diese letzten Affären sind zu umständlich zu erzählen; schließlich hatte die feindliche Studentengruppe gesagt, Eucken, Großmann, Franz und Lampe26 müßten umgebracht werden. Mir war deswegen nicht bange, und jetzt scheint sich alles geordnet zu haben, aber ob nicht doch für Franz schlimme Folge daraus erwachsen, wer weiß das?" 27 Was die literarische Produktion anlangt, so steht für die Freiburger Zeit naturgemäß die Habilitationsschrift obenan, die zwar Beachtung gefunden hat, von der aber auch ein scharfsichtiger Kritiker alsbald klar erkannt hat, daß sie nicht mehr in die neue Zeit passe28. Demgegenüber scheint ein großer Aufsatz über „Recht und Macht" kaum bekanntgeworden zu sein. Wohl vermittelt durch Walter Eucken, konnte er in der von dessen Vater Rudolf Eukken begründeten Zeitschrift „Die Tatwelt" publiziert werden 29 . Edith Eukken-Erdsiek hat später sehr zu Recht an diese Abhandlung erinnert 30 , die sich als rechtsphilosophisch-rechtstheoretisches Manifest ihres Autors liest. Völlig unbeeinflußt von zeitgenössischer politischer oder ideologischer Phraseologie und ohne vorschnelle Simplifizierungen versucht Böhm, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Freiheit zu verfassen sei und wie die notwendige „enge Verknüpfung der Rechtswelt mit der Welt des Sittlichen" des näheren auszugestalten sei. Dabei tritt als entscheidender Gedanke hervor: Das Recht muß bestrebt sein, die ihm unterworfenen Bereiche so zu 25 Briefe, S. 174 f. 26 Die wichtigsten Informationen über Adolf Lampe bei Christine BlumenbergLampe, Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise". Entwurf einer freiheitlich-sozialen Nachkriegswirtschaft. Nationalökonomen gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1973. 27 Briefe, S. 180; vgl. auch Leuchtende Spur, S. 361 f. 28 Vgl. die Besprechung durch Ernst Rudolf Huber, in: Juristische Wochenschrift 1934, S. 1038f.: Die Schrift halte der K r i t i k nicht Stand, „weil die freie Verkehrswirtschaft heute nicht mehr die verfassungsrechtlich geltende Grundordnung der Wirtschaft ist". „Die politische Führung des Staates ist nunmehr das Grundgesetz, das die Wirtschaft bestimmt". Mit Recht hat Knut Wolfgang Nörr, Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik, Tübingen 1988, S. 176, auf diese signifikante Rezension hingewiesen. 29 Die Tatwelt 1934, S. 115 - 132; 169 - 193. 30 Franz Böhm in seinen Anfängen, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (vgl. oben Fn. 3) S. 9 - 14.
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regeln, „daß unter der Herrschaft seiner Normen für die sittliche Selbstentfaltung der Persönlichkeit auch in der Beschränkung der breiteste Spielraum gewährt bleibt, der nur immer gewährt werden kann" 3 1 ; ja darin wird der Inhalt des Gerechten gesehen. Solle eine Ordnung gerecht sein, muß in ihr „die Sphäre des Dürfens und Sollens für den einzelnen so bemessen werden, daß ein Höchstmaß sittlicher Selbstentfaltung möglich bleibt" 3 2 . Vor diesem Hintergrund ist es dann auch konsequent, wenn als einzige Garantie gegen den Mißbrauch der Macht angesehen wird „das Vorhandensein einer starken und unerschütterlichen Kraft des Rechtsbewußtseins und des sittlichen Vermögens im Volke selbst" 33 . II. Zum Sommersemester 1936 wurde Böhm als Lehrstuhlvertreter nach Jena beordert 34 . Dort war durch die Berufung Alfred Huecks 35 nach München das Ordinariat für Bürgerliches Recht, Handels-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht freigeworden. Aber hier begannen alsbald politische Verwicklungen, die es verhindert haben, daß Böhm zum Professor ernannt wurde, ja die dazu führten, daß er sein akademisches Lehramt überhaupt nicht mehr ausüben konnte 36 . Der Stein wurde durch regimekritische, besonders gegen die Judenpolitik gerichtete Äußerungen ins Rollen gebracht, die Ricarda Huch und Franz Böhm in privatem Kreise getan hatten. In einem Brief der Dichterin vom 30. Mai 1937 ist davon berichtet 37 . Gesprächsteilnehmer war ein „alter Kämpfer", der SS-Hauptsturmführer Hauptmann a.D. Richard Kolb, der einen Lehrauftrag für Wehrpolitik und Wehrkunde an der Universität Jena wahrnahm, seit 1938 eine Professur für Wehrwissenschaft. Er war es, der sich entschieden gegen die endgültige Berufung Böhms nach Jena sperrte, der aber vor allem auch durch eine Denunziation dazu beitrug, daß dieser und seine Schwiegermutter mit einem Verfahren überzogen wurden. Er stellte 31
a.a.O. S. 130. a.a.O. S. 173. 33 a.a.O. S. 191. 34 Ricarda Huch schreibt am 28. März 1936: „Nachdem ich schon kaum mehr daran dachte, hat Franz heute den Ruf nach Jena bekommen . . . D.h. es ist noch keine definitive Berufung, sondern zunächst nur Vertretung": Leuchtende Spur, S. 362. 35 Über Alfred Hueck (7. Juli 1889 - 11. August 1975) siehe: Gedächtnisreden auf Alfred Hueck, gehalten bei der Akademischen Gedächtnisfeier am 19.6.1976 in der Universität München von Claus-Wilhelm Canaris , Eugen Ulmer, Robert Fischer u. Wolfgang Zöllner, o.O. o. J. (1976). 36 Zum Folgenden vgl. Leuchtende Spur, S. 365ff., ferner die eingehende Darstellung bei Volker Wahl, Ricarda Huch. Jahre in Jena, Jena 1982, S. 8 - 16 (Schriftenreihe des Stadtmuseums in Jena Nr. 31). Einer gesonderten Behandlung bedürften die Beziehungen Böhms zu Carl Goerdeler. 37 Leuchtende Spur, S. 379f. 32
19 Festschrift P. Mikat
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am 30. Dezember 1937 beim Leiter der Geheimen Staatspolizei in Weimar den Antrag, Böhm in ein Konzentrationslager zu überführen. Dies löste zunächst die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Vergehens gegen das sog. Heimtückegesetz aus 38 . Außerdem wurde Böhm am 22. März 1938 der Vertretungsauftrag für den Jenenser Lehrstuhl entzogen. Daß es in dem gegen Ricarda Huch und Franz Böhm gerichteten Ermittlungsverfahren - beide wurden langen Verhören unterzogen - nicht zu einem Strafverfahren kam, dürfte einer Intervention des damaligen Reichsjustizministers Franz Gürtner zu verdanken sein. Er hatte als Vertreter des Bayerischen Staatsministeriums 1924 an den Feierlichkeiten zu Ricarda Huchs 60. Geburtstag teilgenommen und war ihr seit jener Zeit sehr gewogen. Er wirkte offenbar darauf hin, daß das Verfahren aufgrund einer von Hitler nach der Annexion Österreichs erlassenen Amnestie eingestellt wurde. Ricarda Huch und Franz Böhm lehnten zwar die Annahme der Amnestie ab, ihr förmlicher Einspruch wurde jedoch vom Sondergericht Weimar abgewiesen, so daß sie keine Gelegenheit hatten, sich in einem ordentlichen Verfahren zu rechtfertigen. Für die Dichterin war die Angelegenheit damit erledigt; für ihren Schwiegersohn freilich Schloß sich an dieses Strafverfahren dann ein Dienststrafverfahren an. Die 1. Instanz, die Dienststrafkammer Jena, verurteilte ihn am 13. Januar 1939 zur Entlassung aus dem Dienst. Diese Entscheidung ist auf die Berufung Böhms hin vom 2. Dienststrafsenat des Reichsdisziplinarhofs Berlin am 22. Februar 1940 in einem sorgfältig begründeten Urteil aufgehoben worden. Das Verfahren wurde eingestellt. Böhm war damit aber keineswegs freigesprochen. Auch der Reichsdienststrafhof hat ihn für schuldig befunden, sich gegen seine Pflichten als Beamter schwer vergangen zu haben. Er hat sein Verhalten freilich milder beurteilt und hätte als Sanktion eine Gehaltskürzung für gerechtfertigt gehalten, die jedoch nach einer Amnestie vom 21. Oktober 1939 nicht mehr verhängt werden durfte. Deshalb kam nur eine Einstellung des Verfahrens in Betracht. In beiden Instanzen wurde Böhm übrigens von seinem Freund Großmann-Doerth verteidigt 39 , und auch Walter Eucken hatte sich entschieden für ihn eingesetzt 40 .
38 Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934 (RGBl. I, S. 1269). Danach wurde mit Gefängnis bestraft, „wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen" (§ 1 Abs. 1); ferner wurde bestraft, „wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben" (§ 2 Abs. 1). 39 Leuchtende Spur, S. 392 u. S. 400.
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Trotz dieses Verfahrensausgangs wurde Böhm in seiner Eigenschaft als Beamter in den Wartestand versetzt, und es wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen. Damit waren dann auch Freiburger Bemühungen endgültig zum Scheitern verurteilt, die im Frühjahr und Sommer 1940 darauf gerichtet waren, Böhms Stellung als Freiburger Dozent wieder aufleben zu lassen. Berlin hat sein hartes „Nein" bekräftigt und durchgesetzt, während das Karlsruher Ministerium geneigt gewesen war, den Antrag der Fakultät auf Aufhebung des Leseverbots zu befürworten 41 . III. Konnte so Franz Böhm zwar nicht in eine förmliche Verbindung zu seiner Heimat-Fakultät treten, so intensivierten sich doch Kontakte anderer Art. Er arbeitete nämlich im Freiburger Bonhoeffer-Kreis und in der sog. Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath mit, und damit an der Ausarbeitung von Aufbau-Konzeptionen für die Zeit nach dem Kriege 42 . Er war beteiligt an der Erarbeitung der im November 1942 verabschiedeten Freiburger-Denkschrift, die von der Vorläufigen Kirchenleitung der Deutschen Evangelischen Kirche in Auftrag gegeben worden war 4 3 . Der darin enthaltene Anhang 1 „Rechtsordnung" hatte ihn und Erik Wolf zum Verfasser 44 ; naturgemäß sind dem zahlreiche Kontakte vorausgegangen, wie sich aus Tagebuch-Auf Zeichnungen Wolfs belegen läßt 4 5 . Nur der Einleitungssatz kann hier zitiert werden: „Es ist notwendig, den Rechtsgedanken immer wieder neu zu behaupten und zu verteidigen, weil die Welt bis zum Ende der Tage erhalten bleiben muß. Das Recht gehört zu den Ordnungsaufgaben, die aus dem Personsein des Menschen folgen". Was die Mitarbeit Böhms in der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath anlangt, so kann insoweit auf die reich dokumentierte Darstellung von 40
„Übrigens hat Professor Eucken einen sehr feinen Brief an das Disziplinargericht geschrieben, worin er verlangt, als Zeuge vernommen zu werden": Leuchtende Spur, S. 392 (Brief vom 10. Dezember 1938). 41 Beleg dafür ist ein Brief Erik Wolfs an Franz Beyerle vom 17. August 1940: „Das Karlsruher Ministerium hat sich der Auffassimg, die unsere Fakultät von der Person des Dozenten Dr. Böhm hat, angeschlossen und den Antrag auf Aufhebung des Leseverbots befürwortet". 42 Vgl. dazu jetzt insgesamt: Wiederhergestellte Ordnungen: Zukunftsentwürfe Freiburger Professoren 1942 - 1948, Freiburger Universitätsblätter, Heft 102 (Dezember 1988). 43 In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises": Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit, Tübingen 1979. 44 Näheres dazu bei Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Erik Wolfs, in: Erik Wolf, Studien zur Geschichte des Rechtsdenkens, Frankfurt a.M. 1982, S. 235 - 271, bes. S. 251 ff. 45 U.a. 19. November 1942: „Abends Franz Böhm, bis 3Μ> mit ihm Entwurf besprochen"; 28. November 1942: „Langes Telefonat mit Franz Böhm". 19'
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Christine Blumenberg-Lampe verwiesen werden 46 , jetzt auch auf Ulrich Kluge 47. Es ist in diesem Zusammenhang aber von besonderem Wert, daß Franz Böhm selbst in einer kämpferischen Verteidigung gegen entsprechende Vorwürfe und Entstellungen zu dem Thema „Freiburger Schule und Nationalsozialismus" Stellung genommen hat 4 8 . Die K r i t i k hatte an der Tatsache angesetzt, daß Beiträge von Walter Eucken, Leonhard Miksch 49 und Franz Böhm in einem Heft der „Schriften der Akademie für Deutsches Recht" erschienen sind, Referate nämlich, die 1941 bei einer vermutlich von Peter Graf Yorck von Wartenburg, einem der späteren Hauptverschwörer des 20. Juli 1944, angeregten Tagung der Untergruppe „Preis" der Gruppe „Wirtschaftswissenschaft" der Akademie gehalten worden sind 50 . Böhm konnte zunächst schon darauf verweisen, daß er und die beiden anderen Freiburger nicht Mitglieder der Akademie gewesen sind, ferner darauf, daß diese Untergruppe „Preis" nie wieder zusammengetreten ist. Insbesondere aber konnte Böhm in bezug auf sein Referat über „Der Wettbewerb als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung" 51 sowie auf die Referate von Eucken 52 und Miksch 5 3 hervorheben: „Wir haben keineswegs den Diktatoren unser Schoßkind Wettbewerb ans Herz gelegt, sondern haben umgekehrt dargetan, daß man sich entweder für eine freie oder für eine staatlich gesteuerte Wirtschaft entscheiden muß und daß, wenn man sich für die staatlich gesteuerte Wirtschaft entscheidet, keine Möglichkeit besteht, den Wettbewerb zu bemühen, um sich die Schwierigkeiten interventionistischer Wirtschaftslenkung vom Hals zu schaffen" 54 .
46 Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise". Entwurf einer freiheitlich-sozialen Nachkriegswirtschaft. Nationalökonomen gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1973 (Volkswirtschaftliche Schriften, 208). Wichtige Quellen dazu jetzt in: Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Referate, Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943 - 1947, bearbeitet v. Christine Blumenberg-Lampe, Stuttgart 1986 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, 9). 47 Der „Freiburger Kreis" 1938 - 1945. Personen, Strukturen und Ziele kirchlichakademischen Widerstands Verhaltens gegen den Nationalsozialismus, in: Freiburger Universitätsblätter. Heft 102 (Dezember 1988), S. 19 - 40. 48 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. Mai 1955. 49 Leonhard Miksch (20. Mai 1901 - 19. September 1950), ein Schüler von Walter Eucken, war 1937 mit dem Werk „Wettbewerb als Aufgabe" hervorgetreten. Er starb alsbald nach seiner 1949 erfolgten Berufung nach Freiburg. 50 Der Wettbewerb als Mittel volkswirtschaftlicher Leistungssteigerung und Leistungsauslese. Mit Beiträgen von Th. Beste, F. Böhm, W. Eucken, J. Jessen, L. Miksch, M. Muß, H. Peter, E. Preiser, Th. Wessels, Graf Yorck v. Wartenburg vorgelegt von Günter Schmölders, Berlin 1942. 51 Der Wettbewerb als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung (Fn. 50), S. 51 98. 52 Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschafts Verfassung (Fn. 50), S. 29 - 50. 53 Möglichkeiten und Grenzen der gebundenen Konkurrenz (Fn. 50), S. 99 - 106. 54 FAZ, 24. Mai 1955 (Fn. 48).
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IV. In den Beziehungen Franz Böhms zu Freiburg und seiner Universität begann ein letzter, durchaus dramatischer Akt mit dem Tod seines Freundes und Förderers Großmann-Doerth am 5. März 1944; dieser war nach einer schweren Verwundung an der Ostfront, wo er als Regimentskommandeur im Einsatz war, in einem Lazarett in Königsberg gestorben 55 . Die Fakultät zögerte nicht, in voller Kenntnis der Jenenser Vorgänge und in kritischer Auseinandersetzung mit den erfolgten Maßnahmen am 12. Juli 1944 Böhm primo loco - vor Ludwig Raiser und Günther Haupt - auf eine Berufungsliste zu setzen. In der von Franz Beyerle 56 entworfenen Laudatio heißt es abschließend: „Was die wissenschaftliche Qualifikation Böhms betrifft, so wird er heute von allen zuständigen Stellen als einer der ersten Wirtschaftsrechtler Deutschlands gewertet. Er wäre, weil er die wissenschaftliche Forschungsrichtung Großmann-Doerths am reinsten fortsetzt, dessen berufenster Nachfolger. Von ganz besonderer Bedeutung ist seine Arbeit über ,Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung' 1937 57 . Es besteht kein Zweifel, daß die deutsche Rechtswissenschaft in Böhm einen ihrer grundsätzlichsten und klarsten Denker in allen Fragen der Wirtschaftsverfassung besitzt. Die Fakultät würde daher die Gewinnung Böhms als eine besonders glückliche Erwerbung betrachten. Auch als akademischer Lehrer hat Böhm stets nachhaltige Wirkung geübt, wie insbesondere aus einer Äußerung der Studentenschaft Freiburg vom 18.4.1935 hervorgeht. Eine Persönlichkeit von so ausgeprägtem Ethos und solchem Mute der wissenschaftlichen und menschlichen Überzeugung muß gerade auf die heutige Jugend fesselnd und erzieherisch wirken". Die Sache zog sich freilich erheblich in die Länge. Auf ein dringendes Schreiben des damaligen Dekans der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, Gustav Boehmer 58, vom 19. August 1944, äußerte sich das Reichswissenschaftsministerium erst am 22. Januar 1945 und teilte mit, daß nach Fühlungnahme mit dem Sachbearbeiter der Partei-Kanzlei gegen eine Berufung Böhms als Nachfolger von Großmann-Doerth nach wie vor Bedenken bestehen. „Dr. Böhm entspricht... in weltanschaulicher Hinsicht nicht den 55 Am 12. März 1944 schreibt Ricarda Huch: „Franz ist seit vorigem Dienstag in Freiburg, die Nachricht vom Tode von Großmann-Doerth wird ihm sehr nahe gegangen sein. Er ist gestorben, nachdem ihm beide Füße abgenommen wurden, vermutlich erfroren" (Leuchtende Spur, S. 436). 56 Franz Beyerle (30. Januar 1885 - 22. Oktober 1977) hatte seit 1. Oktober 1938 den germanistischen Lehrstuhl in Freiburg inne. Über ihn vgl. den Nachruf von Hans Thieme, ZRG GA 96 (1979), S. X V I I - X X X V I . 57 Dieses Werk ist als Heft 1 der von Franz Böhm / Walter Euchen / Hans Großmann-Doerth herausgegebenen Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft" im Verlag Kohlhammer erschienen. 58 Über ihn vgl. Karl F. Kreuzer, in: Badische Biographien N.F. Bd. I (1982), S. 70 f.
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Anforderungen, die an einen nationalsozialistischen Hochschullehrer zu stellen sind. Die Fakultät wird bei dieser Sachlage wegen der Wiederbesetzung des Lehrstuhls andere Vorschläge einreichen müssen", so heißt es in diesem Schreiben aus Berlin. Trotzdem ließ sich die Fakultät nicht beirren und beantragte beim Rektor unter dem 25. Januar 1945, Franz Böhm jedenfalls einen Lehrauftrag für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht zu erteilen und ihm die kommissarische Leitung des von Großmann-Doerth gegründeten Seminars für Recht der Wirtschaftsordnung zu übertragen. Der Rektor stimmte dem zu 5 9 . Schließlich erfolgte auch noch die förmliche Beauftragung mit der Wahrnehmung des durch den Tod von GroßmannDoerth freigewordenen Lehrstuhls seitens des badischen Kultusministeriums. Das betreffende Schreiben ist datiert „Meersburg, den 5. April 1945" und ist ergangen „ i n der Unterstellung der Genehmigung durch den Herrn Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung". Ob für diese Unterstellung wirklich ein hinreichender Grund vorlag? Oder sollte das Berliner Schreiben vom 22. Januar 1945, das an den Dekan gerichtet war, dem Kultusministeriums unbekannt geblieben sein? Oder hatte man sich doch, wenn auch in vorsichtiger Formulierung, jetzt nahe vor der großen Wende, über die Berliner Bedenken einfach hinweggesetzt? Böhm, entsprechend vorbereitet und informiert, zögerte keinen Augenblick. In abenteuerlicher Weise hat er sich in den Wirren des Zusammenbruchs nach Freiburg durchgeschlagen, wo er am 8. April ankam. V. Am 21. April 1945 wurde Freiburg durch französische Truppen besetzt. Böhms Anwesenheit in Freiburg führte vor dem Hintergrund der geschilderten Ereignisse und Entwicklungen fast zwangsläufig dazu, daß er in der vielberufenen „Stunde Null" an der Freiburger Universität alsbald in die vorderste Front treten mußte. Schon am 25. April 1945 hat sich an der Universität ein neuer Senat konstituiert 6 0 . Als Rektor wurde der Mediziner Sigurd Janssen gewählt, als Prorektor Franz Böhm. In einer Sitzung vom 8. Mai 1945 haben auf Antrag der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Rektor und Senat beschlossen, Böhm mit sofortiger Wirkung in das freie Ordinariat für Handels-, Wirtschafts-, Arbeits- und Bürgerliches Recht einzuweisen und ihm zu genehmigen, ab sofort die Dienstbezeichnung des Ordentlichen Professors zu führen. Der Senat hielt sich, wie ausdrücklich hervorgehoben wurde, zu diesem „ A k t der Selbstverwaltung" in dieser Situation des „Notstandes" für berechtigt. Die förmliche Verleihung der 59
Vgl. dazu Briefe, S. 184, und Leuchtende Spur, S. 468. Dieses Datum bei Peter Fässler, Das Comité d'Etudes - Die Gutachtertätigkeit Freiburger Nationalökonomen für die Alliierten, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 102 (Dezember 1988), S. 102. 60
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Planstelle durch das Badische Kultusministerium erfolgte freilich erst mit Wirkung vom 1. November 1945. In den Sommermonaten des Jahres 1945 hat sich Böhm voll für den äußeren und inneren Wiederaufbau der Universität eingesetzt. Wie anderen unbelasteten Professoren fiel ihm in besonderer Weise die heikle Aufgabe zu, an der „Reinigung" mitzuwirken 6 1 . Aber auch außerhalb der Universität war Böhm aktiv. Besondere Aufmerksamkeit verdient seine Mitarbeit in der von Franz Büchner ins Leben gerufenen „Christlichen Arbeitsgemeinschaft", deren Bemühungen eine wesentliche Vorstufe für die Gründung einer politischen Union von katholischen und evangelischen Christen im Sinne einer gemeinsamen Partei gewesen ist 6 2 . Am 18. September 1945 hat Böhm bei einer Zusammenarbeit dieses Kreises ein offenbar programmatisches Referat über „Politische Verfassung" gehalten, in dem es insbesondere um die Wiederherstellung des Rechtsstaates und die Begrenzung der Staatsaufgaben ging 63 . Allmählich bahnte sich indes eine ganz andere Wendung der Dinge an. Böhm hatte sich nämlich verpflichtet, vom 2. Oktober 1945 ab für die amerikanische Besatzungsmacht im Hauptquartier der USA-Streitkräfte in Hoechst a.M. für drei Monate gewisse gesetzgeberische Vorarbeiten auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Industriepolitik zu leisten 64 . Um diese Tätigkeit aufnehmen zu können, wurde er für drei Monate beurlaubt. Doch auch insoweit ergab sich alsbald ein neues Faktum. Böhm stellte sich dem von den Amerikanern eingesetzten Ministerpräsidenten von Groß-Hessen, Professor Dr. Karl Geiler 65, mit dem er sich vom Fach her sehr verbunden fühlte, als Kultusminister zur Verfügung. In der am 1. November 1945 veröffentlichten Kabinettsliste erscheint Böhm schon als Mitglied der CDU 6 6 . An dieser Berufung in ein Ministeramt hat wohl Heinrich Kronstein einen besonderen Anteil. Kronstein (geb. 1897) stammte aus Karlsruhe und war wie sein älterer Bruder Max (zuletzt Professor für Physik in New York) 61 Grundlegend dazu Hugo Ott, Schuldig - mitschuldig - unschuldig? Politische Säuberungen und Neubeginn, in: Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, im Erscheinen. 62 Grundlegend dazu Paul-Ludwig Weinacht, Die Christliche Arbeitsgemeinschaft in Freiburg i . B r , in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 102 (Dezember 1988), S. 53 - 68. 63 Bericht bei Weinacht (Fn. 62), S. 62 f. 64 Nach den Angaben in einem an den Rektor der Freiburger Universität gerichteten Brief vom 30. September 1945. 65 Zur ersten Orientierung vgl. Konrad Duden, Art. Geiler, in: Neue Deutsche Biographie Bd. V I (1964), S. 151. 66 Vgl. Wolf-Arno Kropat, Hessen in der Stunde Null 1945/1947, Wiesbaden 1979, S. 28. Grundorientierung über die allgemeine Entwicklung bei Erwin Stein, Art. Hessen I, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. I I (1986), Sp. 1258 - 1260. Vgl. auch Michael Stolleis, Die Entstehung des Landes Hessen und seiner Verfassung, in: Hessisches Staatsund Verwaltungsrecht, hrsg. von Hans Meyer / Michael Stolleis, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1986, bes. S. 13.
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schon von früh an mit Franz Böhm bekannt. Wissenschaftlich war Kronstein, der sich 1935 zur Emigration gezwungen sah, ein Schüler von Karl Geiler. Ihm begegnete er wieder als Wirtschaftsjurist im Dienste der amerikanischen Militärregierung. Am 10. Oktober 1945 hielt Kronstein in einer Tagebuchnotiz fest: „Gestern abend traf ich Franz Böhm, und wir hatten eine lange Unterhaltung. Franz ist wunderbar. Sein Gesicht ist höchst eindrucksvoll. Was ich in den vergangenen Jahren erlebt habe, kann nicht mit den Erfahrungen der Leute um Franz verglichen werden. Jetzt ist er Prorektor der Freiburger Universität. - Vor einigen Tagen lief die Frist ab, innerhalb derer ich zuverlässige deutsche Bürger für eine künftige hessische Regierung vorschlagen sollte. Es ist wohl kein Zufall, daß diese Vorschlagsliste fast ausschließlich Namen von Badenern enthält. Geiler war als Ministerpräsident schon von anderer Seite vorgeschlagen worden. . ." 6 7 . Böhm hat als Kultusminister nur wenige Monate amtiert. Im Februar 1946 hat die amerikanische Militärregierung seine Entlassung gefordert. „Ich konnte dann wenigstens die Sache dahin abbiegen, daß Herr Böhm freiwillig von seinem Amt zurücktrat", schreibt Geiler 68 . Am 19. Februar 1946 ist Böhm aus seinem Ministeramt ausgeschieden. Es wird berichtet, daß zu den Mißhelligkeiten mit den amerikanischen Instanzen Böhms positive Einstellung zum altsprachlichen Gymnasium und auch sonst seine konservative Haltung in Schulfragen wesentlich beigetragen habe 69 . Besonders wichtig ist aber, daß Böhm alles daran gesetzt hat, gegen den Widerstand von Vertretern der Arbeiterparteien, die eine weltliche Schule wünschten, und der Katholischen Kirche, die sich zunächst für die Bekenntnisschule einsetzte, die christliche Gemeinschaftsschule zu etablieren 70 .
67
Briefe an einen jungen Deutschen, München 1967, S. 42. 68 Vgl. Kropat (Fn. 66), S. 110. 69 Vgl. dazu ebenfalls Kropat (Fn. 66), S. 288. 70 Vgl. dazu den aufschlußreichen Bericht Böhms vom 3. März 1946, bei Kropat (Fn. 66), S.299-304. Zum Grundsätzlichen und zu seiner persönlichen Haltung sagt Böhm: „Schon lange bevor ich mein Amt antrat, war ich für meine Person entschlossen, mich politisch für die christliche Gemeinschaftsschule und eine allgemeine christliche Jugenderziehung einzusetzen. Als Minister habe ich dieses Ziel als einen wesentlichen Programmpunkt verfolgt und hatte die Absicht, mein Amt zur Verfügung zu stellen, wenn die Einigung auf dieser Basis nicht gelingen sollte. Ich bin in dieser Hinsicht sofort mit rückhaltloser Offenheit zu Werke gegangen . . . Mir persönlich lag am Herzen, die Einigung auf der Basis der christlichen Gemeinschaftsschule zustande zu bringen. In der Aufsplitterung der Volksschulen unter religiösen und weltanschaulichen Kriterien erblickte ich eine schwere Gefahr für die Zukunft. Jeder weiß, daß sich, sobald mehrere Schultypen entstehen, die Kinder eines jeden Schultyps einen besonderen Korpsgeist zulegen, daß sich bei ihnen leicht eine polemisch getönte Abneigung gegen die Kinder anderer Schulen entwickelt, daß solche Gegensätze oft bis ins Erwachsenenalter hineinreichen und besonders dann tiefgreifend und entfremdend wirken können, wenn das die Schulformen unterscheidende Prinzip ein konfessionelles Glaubensbekenntnis oder eine politisch-parteimäßige Weltanschauung ist" (ebd., S. 299 f.). Darf man positive Erfahrungen mit der Simultanschule badischer Prägung dahinter vermuten?
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Wenige Tage nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt erhielt Böhm einen Ruf auf einen ordentlichen Lehrstuhl an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt, den er rasch annahm. Er hat diese Entscheidung gegenüber dem Dekan der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät vornehmlich mit politischen Gründen motiviert. Er betont u.a., daß Deutschen, die an dem Aufbau des politischen Lebens teilnehmen wollen, in der amerikanischen Zone ein größerer Spielraum zur Verfügung stehe als in den anderen Zonen. „Die Dinge sind hier am weitesten fortgeschritten, zumal dieser Tage auch ein vorbereitender Landesausschuß, bestehend aus 32 Abgeordneten, in Tätigkeit getreten ist. Auch finden diejenigen Bestrebungen, die darauf abzielen, die gesamtdeutsche Entwicklung vorwärtszutreiben und auf sie Einfluß zu nehmen, innerhalb der amerikanischen Zone größere Förderung als dies im übrigen Deutschland der Fall ist. Daran, daß in absehbarer Zeit wenigstens einige zentrale Wirtschaftsressorts für ganz Deutschland errichtet werden, bin ich ja schon wegen der Kartell- und Monopolfrage im höchsten Grade interessiert und hoffe, von hier aus in dieser Angelegenheit mehr tun zu können als dies mir in Freiburg möglich sein würde" 7 1 . Bereitschaft und Wille zu politischem Engagement finden hier deutlichen Niederschlag, ja man w i r d von einem gewissen Sendungsbewußtsein sprechen dürfen. Die Entscheidung für Frankfurt ist freilich in Freiburg durchaus nicht ohne Enttäuschung aufgenommen worden. VI. In Frankfurt war Franz Böhm maßgebend am inneren und äußeren Wiederaufbau der Universität beteiligt 7 2 ; 1948/49 war er ihr Rektor. Aber seine Wirksamkeit griff rasch über den akademischen Bereich hinaus. Von allem Anfang an war er in den Kreis der Sachverständigen einbezogen, die zur Regelung des Kartellproblems herangezogen wurden. So arbeitete er seit 1948 mit seinem früheren Chef aus dem Reichswirtschaftsministerium, Ministerialdirektor a.D. Dr. Josten, an dem ersten deutschen KartellgesetzEntwurf mit, der im Juli 1949 dem Frankfurter Wirtschaftsrat vorgelegt wurde 7 3 . Es war konsequent, daß sich die CDU sein wirtschaftspolitisches Engagement zunutze zu machen suchte. 1953 wurde Böhm für diese Partei in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er während drei Wahlperioden (bis 1965) angehörte, naturgemäß in vorderster Linie vor allem bei der Befe71
Brief vom 4. März 1946 (Fakultätsakten Freiburg). Über die Frankfurter Universität vgl. Günter Grünthal, in: Universitäten und Hochschulen i n Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Laetitia Boehm u. Rainer A. Müller, Düsseldorf 1983, S. 130 - 136. 73 Vgl. dazu und zu dem Komplex „Kartellgesetz" überhaupt Fritz Rittner, Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., Heidelberg 1987, S. 216f. 72
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stigung des Systems der sozialen Marktwirtschaft im allgemeinen, bei den Beratungen des Kartellgesetzes im besonderen. Ludwig Erhard selbst hat einmal Böhms Beitrag „zur Grundlegung unserer freiheitlichen, sozialverpflichteten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft" gerühmt und unterstrichen, daß er deren geistige Grundlagen wesentlich mitgestaltet habe 74 . Aber so wichtig das ist: In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird sein Name wohl noch mehr verbunden bleiben mit dem Gesamtkomplex der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts 75 . In den zwölf Bundestags] ahren war Böhm Stellvertretender Vorsitzender des Wiedergutmachungsausschusses; in dieser Funktion hatte er maßgebend mit der Schaffung bzw. Novellierung des Bundesentschädigungsgesetzes von 1956 und des Bundesentschädigungsgesetzes für den öffentlichen Dienst von 1957 zu tun, ferner mit dem Bundesrückerstattungsgesetz von 1957. Ganz besonders aber ist Böhms Wirken verknüpft mit dem Prozeß der Aussöhnung mit dem Judentum und mit dem Staat Israel 76 . Konrad Adenauer 77 hatte ihn, noch vor der Übernahme eines Bundestagsmandats, auf Vorschlag von Walter Hallstein 78, seinem Frankfurter Kollegen, zum Leiter der deutschen Delegation gemacht, die mit Vertretern des Staates Israel und der „Conference for Jewish Material Claims against Germany" einen Vertrag auszuhandeln hatte. Nach zähem Ringen wurde das Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 zustande gebracht, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland zu bedeutsamen Entschädigungsleistungen verpflichtete - „ i n Erwägung, daß während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unsagbare Verbrechen gegen das jüdische Volk verübt worden 74 Ludwig Erhard, Franz Böhms Einfluß auf die Politik, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (Fn. 3), S. 15. 75 Zu diesem Komplex vgl. die Grundinformation bein Günther Schulz, Art. Wiedergutmachung, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. V (im Erscheinen). 76 Das praktische Wirken Böhms im Dienste der Wiedergutmachung und der Aussöhnung mit dem Judentum hat auch in zahlreichen literarischen Äußerungen Böhms Niederschlag gefunden. Vgl. etwa die in dem Fn. 3 angeführten Sammelband „Reden und Schriften" enthaltenen Beiträge über „Die politische und soziale Bedeutung der Wiedergutmachung" (S. 193 - 215) und „Die Luxemburger Wiedergutmachungsverträge und der arabische Einspruch gegen den Israel-Vertrag" (S. 216 - 240). Besonders wichtig und erhellend aber ist seine authentische Darstellung über „Das deutsch-israelische Abkommen 1952", in: Konrad Adenauer und seine Zeit, hrsg. von Dieter Blumenwitz / Klaus Gotto / Hans Maier / Konrad Repgen / Hans-Peter Schwarz, Bd. I, Stuttgart 1976, S. 437 - 465. Nicht zuletzt gehört aber in diesen Zusammenhang auch das eindrucksvolle Geleitwort Böhms zu Hugo Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt a.M., 1953, S. X I X X V I I (wiederabgedruckt in den Reden und Schriften, S. 181 - 192). 77 Unter den Leistungen Adenauers wird der Wiedergutmachungsvertrag mit Israel zu Recht hervorgehoben von Rudolf Morsey, Art. Adenauer, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. I (1985), Sp. 48. 78 Über ihn vgl. Werner Weidenfeld, Art. Hallstein, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. I I (1986), Sp. 565f.
Streiflichter zu Leben u n d Werk Franz Böhms (1895 - 1977)
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sind .. . und daß der Staat Israel die schwere Last auf sich genommen hat, so viele entwurzelte mittellose jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und den ehemals unter seiner Herrschaft stehenden Gebieten anzusiedeln", wie es in der Präambel heißt. Wie vielen, zeigte sich auch Nahum Goldmann, einer der israelischen Unterhändler, von Franz Böhm tief beeindruckt, und er erzählt eindrucksvoll: „David Ben Gurion 79, der im allgemeinen mehr als kritisch gegenüber seinen Mitmenschen war, sehr streng und oft übertrieben in seinen Urteilen, und der Franz Böhm eigentlich nur von der Ferne kannte, aufgrund dessen, wie er sich in den Verhandlungen verhielt, sagte mir mehrfach, er wünsche, es gäbe zehn Böhms in Israel, aber er zweifle, ob es diese gäbe" 80 . Man kann es gut nachvollziehen, daß eine Persönlichkeit von solchem Profil und solcher Reputation - auch im Ausland - bei der Suche nach einem Nachfolger für den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss ins Spiel gebracht wurde, ja Heuss selbst hat ihn, zumindest eine Zeitlang, in erster Linie favorisiert 81 . Franz Böhm arbeitete wissenschaftlich auf einer Basis, die früh grundgelegt wurde, die in den Gefährdungen der nationalsozialistischen Zeit standgehalten hatte und die es ermöglichte, geradlinig konkrete Arbeit bei der Erneuerung der wissenschaftlichen Kultur und der Neugestaltung des politischen Gemeinwesens zu leisten. Er war, wie es Heinrich Kronstein treffend ausgedrückt hat, „Staatsdiener im besten Sinne dieses Wortes in der süddeutschen, insbesondere badischen Tradition einer Verbindung der liberalen und christlichen Idee vom Staate und vom Menschen" 82 . Diese Verbindung ist es auch, die das Proprium ausmacht, wenn man ihn als „politischen Professor" zu würdigen sucht. Am 26. September 1977 ist er in Rockenberg bei Frankfurt gestorben.
79 Zu ihm vgl. Burghard Freudenfeld, Art. Ben Gurion, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 1 (1985), Sp. 629 - 631. 80 So in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (Fn. 3), S. 26f. 81 Vgl. dazu Wolfgang Wagner, Die Bundespräsidentenwahl 1959, Mainz 1972 (Adenauer-Studien II), S. 23 u . ö , insbesondere aber Theodor Heuss, Tagebuchbriefe 1955/1963, hrsg. von Eberhard Pikart, Stuttgart 1970, S. 393. Heuss scheint freilich kein Verständnis dafür gehabt zu haben, daß Böhm ein überzeugter Anhänger der „Altbadener" gewesen ist: Böhm beteiligte sich „innenpolitisch an sentimentalen Provinzialismen, weil sein Vater Großherzoglicher Minister in Baden war". 82 So am Anfang der der Festschrift „Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung" (Fn. 3) unpaginiert vorangestellten biographischen Skizze.
Moritz August von Bethmann-Hollwegs Entwurf eines preußischen Unterrichtsgesetzes von 1861/62 Von Gerd Kleinheyer I. Mit der Instruktion für die Provinzial-Consistorien vom 23. Oktober 18171 beginnen in Preußen die Arbeiten an einer das Schulwesen umfassenden Gesetzgebung2. Ein unter Altenstein erarbeiteter Entwurf sah sich erheblicher K r i t i k an Finanzierung und Leitung der Elementarschulen sowie an den für die katholischen Bischöfe vorgesehenen Befugnissen ausgesetzt und blieb praktisch undurchführbar. Es kam nur zu regionalen Einzelregelungen. Die Schulordnung für die Elementarschulen der Provinz Preußen vom 11. Dezember 1845, wohl als Vorbild für entsprechende Ordnungen in den übrigen Provinzen gedacht, beschränkte sich auf die Regelung der äußeren Verhältnisse, während Fragen des Lehrstoffs ausgeklammert blieben. Sie fand auch keine Übernahme in anderen Provinzen, da die Vorlage von Entwürfen an die Provinziallandtage wegen der Revolution von 1848 unterblieb. Nach dem Inkrafttreten der Oktroyierten Verfassung von 1848 wurde eine Konferenz von Seminardirektoren und Seminarlehrern mit Beratungen über die Neugestaltung der Oberseminare befaßt. Diese Beratungen, denen eine Vorlage des Geh. Regierungsrates Stiehl zugrunde lag 3 , hatten als Ergebnis schließlich das Regulativ vom 1. Oktober 1854. Entsprechend dem Auftrag der Revidierten Verfassung vom 31. Januar 1850 wurden die Arbeiten an einem umfassenden Unterrichtsgesetz unter dem Minister von Ladenberg weit vorangetrieben, bis der Minister Ende 1850 zurücktrat. Sein Nachfolger von Raumer stoppte die weiteren Gesetzgebungsarbeiten; nach 1
Geschäftsinstruction f.d. Regierung v. 23. Okt. 1817, B, § 18, in: Karl Schneider / Egon von Bremen, Das Volksschulwesen im Preußischen Staate, Bd. I, Berlin 1886, S. 23f. 2 Einen Überblick über die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Unterrichtswesens in Preußen von 1817 bis 1868 geben Karl Schneider / Egon v. Bremen, Das Volksschulwesen im Preußischen Staate, Bd. III, Berlin 1887, S. 762 - 772. 3 Diesen Entwurf hat auch Moritz August v. Bethmann-Hollweg seinen späteren Vorüberlegungen zu einem Unterrichtsgesetz zugrunde gelegt; der Entwurf findet sich im Nachlaß Bethmann-Hollweg (im Institut für deutsche und rheinische Rechtsgeschichte in Bonn) bei den Materialien zum Unterrichtsgesetz.
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seiner M e i n u n g h ä t t e n sie über das bereits geltende Schulrecht n i c h t h i n ausführen können. N u r die Verbesserung der Lehrerseminare schien i h m d r i n g l i c h , da d o r t „ d i e Schüler überladen w ü r d e n m i t einer Menge i h n e n ganz u n n ü t z e r Kenntnisse . . .; über P r o p ä d e u t i k , Psychologie, L o g i k , vergleichende Geschichte der P ä d a g o g i k " seien den Seminaristen „ V o r t r ä g e gehalten w o r d e n , d u r c h f l o c h t e n m i t lateinischen u n d anderen gelehrten A u s d r ü c k e n " . Dies sei k a u m die rechte A r t , k ü n f t i g e Volksschullehrer angemessen auszubilden 4 . M o r i t z A u g u s t v o n B e t h m a n n - H o l l w e g 5 , 1858 i n das A m t des Ministers der geistlichen, U n t e r r i c h t s - u n d Medizinalangelegenheiten berufen, g r i f f das P r o j e k t eines Unterrichtsgesetzes entsprechend A r t . 26 der Revidierten preußischen Verfassung alsbald n a c h seinem A m t s a n t r i t t w i e d e r auf 6 . I n seinen „ G e d a n k e n über das z u entwerfende U n t e r r i c h t s g e s e t z " 7 entw i c k e l t B e t h m a n n - H o l l w e g i n Auseinandersetzung m i t A r t . 20 - 26 der Revidierten Verfassung einen v o n der A k a d e m i e der Wissenschaften bis zu den Elementarschulen reichenden S t u f e n b a u der Wissenschafts- u n d U n t e r richtseinrichtungen. Z w i s c h e n A r t . 20: „ D i e Wissenschaft u n d i h r e Lehre ist
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K. Schneider / E. v. Bremen (Fn. 2), Anmerkung zu S. 768. Moritz August von Bethmann-Hollweg, geb. am 8.4.1795 in Frankfurt/M., gest. am 14.7.1877 auf Schloß Rheineck bei Bad Breisig, hatte in Göttingen und Berlin studiert und habilitierte sich 1819 in Berlin als Schüler Friedrich Carl von Savignys für Römisches Recht. Seit 1823 in Berlin Ordinarius, ließ sich B.-H. 1829 nach Bonn versetzen, zunächst unter Verzicht auf seine Bezüge. 1842 wurde er Kurator der Bonner Universität. In dieser Stellung hat er sich für die Berufung Dahlmanns nach Bonn eingesetzt, sich auch mehrfach gegen die Verquickung der Position des Kurators mit der Rolle eines außerordentlichen Staatsbeauftragten, wie sie sich aus der „Demagogenverfolgung" ergeben hatte, gewandt. Andererseits distanzierte er sich von der revolutionären Bewegung des Jahres 1848 und bat in diesem Jahre um seine Entlassung aus dem Amt des Kurators. Den im Gefolge der Revolution geschaffenen Rechtszustand erkannte B.-H. jedoch an und bekannte sich gegenüber der Reaktion insbesondere zu loyaler Einhaltung der preußischen Verfassung seitens des Königs. 1849 - 55 Mitglied der Ersten und Zweiten Kammer des preußischen Abgeordnetenhauses, wurde er 1858 vom Prinzen Wilhelm als Minister der geistlichen und Schulangelegenheiten ins Kabinett der „Neuen Ära" berufen, dem er bis zu seinem Scheitern im Jahre 1862 angehörte. Danach zog er sich ins Privatleben zurück und knüpfte mit seinen Forschungen zur Geschichte des römischen Zivilprozesses auch bei seinen früheren wissenschaftlichen Arbeiten an; es entstand nun „Der Civilprozeß des Gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung, Teil I - VI/1, 1863 - 74", das bis heute bedeutendste Werk zur Geschichte des Prozeßrechts. Zu B.-H. s. Fritz Fischer, Art. „Moritz August v. B.-Hollweg" in NDB Bd. II, S. 187f.; ders, Moritz August von Bethmann-Hollweg und der Protestantismus (= Hist. Studien, Heft 338), Berlin 1937; Roderich Stintzing / Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. III/2, S. 295 - 298; Hans Liermann / Hans-Joachim Schoeps (Hrsg.), Materialien zur preuß. Eherechtsreform im Vormärz, 1961, S. 503 ff. 6 In der „Familien-Nachricht", Zweyter Theil, als Manuskript gedruckt, Bonn 1878, bekennt Bethmann-Hollweg S. 408, er habe gehofft, unterstützt durch das ihm günstige Abgeordnetenhaus, „die richtigen Grundsätze für die Zukunft und gegen die wachsende Fluth des Liberalismus festzustellen". Im Winter 1862 habe das demokratische Abgeordnetenhaus alle Hoffnung auf Erfolg abgeschnitten. 7 Handschrift im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3). 5
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frei" und den folgenden Artt., insbesondere 22 und 23 8 , sieht er einen auffallenden Widerspruch. Dennoch liege dem Art. 20 „ein gesunder Gedanke zugrunde, der den Verfassern durch die Bewegung9 des Jahres 1848 besonders nahe gelegen" habe; man habe geglaubt, „durch die vorhergehende Verwaltung seien der freien wissenschaftlichen Forschung ungebührliche Schranken gezogen worden", und habe „eine Garantie gegen die Rückkehr des Irrthums" gesucht. So ungerecht die Voraussetzung gewesen sei, so berechtigt sei „der Grundsatz, daß es dem Staat nicht zukomme, die Erforschung der Wahrheit und die davon nicht zu trennende Mitteilung der Resultate auf irgendeinem Gebiete des Wissens irgendwie beschränken zu wollen"; es liege vielmehr sogar in seinem Interesse, sie durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel zu fördern. Praktisch vertreten sieht BethmannHollweg diesen Grundsatz durch die preußische Akademie der Wissenschaften. Deren Stellung als Träger „freier, d.h. durch Nichts als durch ihr Objekt, die äußeren Hilfsmittel und die Gesetze des menschlichen Geistes eingeschränkter wissenschaftlicher Forschung" im Unterrichtsgesetz ausdrücklich anzuerkennen, empfehle sich im Interesse eines berechtigten Freiheitswillens um so mehr, als im Gegensatz dazu dem gesamten Unterrichtswesen, wenn nicht mit der ganzen Tradition des preußischen Staates gebrochen werden solle, eigene Schranken gezogen werden müßten. Den Universitäten allerdings gesteht Bethmann-Hollweg einen doppelten Charakter zu: Sie enthielten nach ihrer geschichtlichen Bestimmung in Deutschland einen akademischen Bestandteil, so daß ihre lehrenden Mitglieder in freier akademischer Weise die Wissenschaft zu fördern den Beruf hätten; während sie als Lehrer der Jugend der Staatsaufsicht unterworfen und die vom Staat geforderten Rücksichten zu nehmen verpflichtet seien. Wo es also um Unterricht im eigentlichen Sinne geht, soll auch die staatliche Aufsicht einsetzen. Anschließend setzt sich Bethmann-Hollweg unter Bezugnahme auf die Schrift Wilhelm von Humboldts „Über die Grenzen der Thätigkeit des Staates" 1 0 mit der Frage auseinander, ob die Bildung der Jugend überhaupt Aufgabe des Staates sei und nicht vielmehr der häuslichen Erziehung, teils auch öffentlichen Schulen und privaten Erziehungsanstalten zu überlassen sei. Auch nach Einführung einer freien Verfassung sei entsprechend den in Preußen hergebrachten Verhältnissen der Grundsatz des Teils I I Tit. 12 des 8 Art. 22: „Unterricht zu ertheilen und Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten, steht Jedem frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewiesen hat." Art. 23: „Alle öffentlichen Privat-Unterrichts- und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden. Die öffentlichen Lehrer haben die Rechte und Pflichten der Staatsdiener". 9 Statt „die Bewegung" im Manuskript ursprünglich „den Umschwung". 10 Gemeint dürfte sein die Schrift Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen", posthum erschienen in Breslau 1851. Vgl. dort insbesondere Abschn. VI.
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ALR, wonach das Unterrichtswesen überwiegend Staatsangelegenheit sei, beizubehalten. Als ein „werdender Kontinentalstaat" sei Preußen auf straffere Anziehung des Staatsverbandes angewiesen als z.B. England. So in seiner Militärverfassung und ebenso in dem derselben nahe verwandten und vielfach damit verschlungenen Unterrichtswesen. Sein öffentlicher Zustand sei mehr spartanisch als nordamerikanisch. Daher behandele die Verfassungsurkunde das Unterrichtswesen als einen Teil der Staatsverfassung und verlange zu seiner Regulierung ein Staatsgesetz. In Art. 22 werde allerdings „ein Stück nordamerikanischer Freiheit der preußischen Unterrichtsverfassung eingefügt"; dies sei aber geschehen, um der bis dahin unumschränkten Regierungsgewalt, die den Bildungsgang der Nation auf bedenkliche Weise zu begrenzen scheine, ein heilsames Gegengewicht zu geben, und bedeute nicht völlige Unterrichtsfreiheit in Preußen. Hingegen sieht Bethmann-Hollweg kein Mittel der Beschränkung des weitgehenden Regierungseinflusses in der Zuweisung der Bildungsaufgaben an anerkannte Korporationen, mit Ausnahme der Universitäten. Zu solchen Korporationen würde nämlich vor allem die Kirche gehören, in deren Hand das Unterrichtswesen eine bedenkliche Richtung nehmen würde. Den Kommunen könne man zwar gewisse äußere Befugnisse hinsichtlich der Schulen, nimmermehr aber die Bestimmung des darin waltenden Geistes einräumen. Staatsangelegenheit sei das Unterrichtswesen noch in doppelter Hinsicht: Zum einen müsse das Ziel die Erziehimg der Jugend der Nation im Interesse des Staates und für den Staat sein, zum anderen müßten die Mittel durch den Staat zur Verfügung gestellt werden, und das bedeute nicht nur die Beaufsichtigung allen Unterrichtens und Erziehens, sondern auch die Gründung öffentlicher Bildungsanstalten. Dazu verweist Bethmann-Hollweg auf die preußische Verfassung, die dem Staate das Recht einräume, das gesamte Unterrichtswesen zu überwachen, und zwar gem. Art. 23 durch Beaufsichtigung aller öffentlichen und privaten Unterrichtsanstalten, gem. Art. 21 durch Sicherstellung einer Familienerziehung, die dem Unterricht in öffentlichen Schulen gleichkommen müsse, schließlich gem. Art. 22 durch den von Lehrpersonen gegenüber dem Staat zu erbringenden Befähigungsnachweis. Andererseits spreche zwar Art. 21 die Verpflichtimg des Staates aus, für öffentliche Unterrichtsanstalten zu sorgen, gebe diesem aber keine ausschließliche Berechtigung dazu, sondern eröffne durch die partielle Unterrichtsfreiheit die Möglichkeit der Konkurrenz durch private Bildungseinrichtungen. Bethmann-Hollweg zeigt sich hier allerdings skeptisch gegenüber der Erwartung des Verfassungsgebers, der Staat werde, wenn er für genügend Bildungseinrichtungen sorge, die Konkurrenz anderer Bildungsträger nicht zu fürchten haben; auch der Erlaß des Schulgeldes in öffentlichen Elementarschulen (Art. 25) erscheint ihm nicht als Garantie eines Übergewichts über die auf Schulgeld angewiesenen Privatschulen. So rät
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Bethmann-Hollweg davon ab, die von der Verfassung vorgesehenen Neuerungen in das Unterrichtsgesetz aufzunehmen; Geldspekulation, wie sie besonders bei Errichtung von Privatschulen in großen Städten zu befürchten sei, und religiöser Fanatismus seien Mächte, mit denen der Staat den Kampf nicht unter allen Umständen siegreich bestehen könne. Am Beispiel von Berlin sei zu sehen, in welche klägliche Lage der Stand der Elementarlehrer geraten könne, wenn die Errichtung von Privatschulen der Industrie und Konkurrenz freigegeben werde. Den Einfluß der Jesuiten, „der unter der Jugend eine durchaus undeutsche Geistes- und Jugendbildung und unpreußische Gesinnungen mit Erfolg zu verbreiten bemüht" sei, habe man nur dadurch eindämmen können, daß ihre Tätigkeit auf eigentliche Religionsübungen beschränkt, von der Erteilung des Unterrichts ausgeschlossen, auch die Errichtung vollständiger Erziehungs- und Unterrichtsanstalten in Preußen ihnen versagt geblieben sei. Zur Abwehr der drohenden Gefahren reiche die Staatsaufsicht nicht aus, zumal bei der zu erwartenden Beibehaltung des Schulgeldes - die Schulgeldfreiheit des Art. 25 Abs. 3 I I I Revidierte Verfassung war Programmsatz geblieben - die katholische Kirche Mittel finden werde, durch Herabsetzung oder Erlaß desselben in ihren Schulen „unter den Kindern gewissenloser protestantischer Eltern Proselyten zu machen". Unterrichtsanstalten sollten daher ausnahmslos staatlicher Genehmigung bedürfen, deren Erteilung vom Ergebnis einer nach freiem Ermessen anzustellenden Bedürfnis- und Zweckmäßigkeitsprüfung abhängen solle. Hingegen dürfte Einzelnen, die den Befähigungsnachweis erbracht hätten, die Erteilung von Unterricht in Familien oder Anstalten als Gewerbe nicht untersagt werden; denn hierdurch werde nicht störend in den Organismus der öffentlichen Unterrichtsanstalten eingegriffen. Auf der anderen Seite w i l l Bethmann-Hollweg das Recht der Eltern bestätigt sehen, frei darüber zu entscheiden, in wessen Hände sie die Ausbildung ihrer Kinder legen wollten. Darum solle auch die Zulassung zu einem Staatsamt - wie bisher schon - nicht schlechterdings von einem Bildungsgang, sondern überwiegend von einer Eingangsprüfung abhängig gemacht werden. Während die Erwachsenenbildung nur nach Analogie der Presse zu behandeln sei, also nur den Beschränkungen des Polizei- und Kriminalrechts unterliege, müsse die Jugendbildung unter dem Motto: Im Interesse des Staates - für den Staat stehen. Bethmann-Hollweg schließt: „Dieses realen, auf die wirkliche diesseitige Welt gerichteten Zieles bei allen Bestimmungen des Unterrichtswesens sich bewußt zu bleiben, ist wichtig, um nicht durch ein Phantom von allgemeiner Menschenbildung irregeleitet oder zum Übergriff in das Gebiet der Kirche verleitet zu werden. Dabei ist freilich andererseits festzuhalten, daß der Staat eine höhere Ordnung, das Reich Gottes, über sich erkennt, aus der er selbst wieder höhere Lebenskräfte zieht 20 Festschrift P. Mikat
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und in die er den jungen Menschen nicht ohne die Hilfe der Familie und der Kirche einzuführen vermag." Diese Schlußbemerkung weist auf die enge Einbindung der Kirche in das Unterrichtswesen hin, die Bethmann-Hollweg anstrebte 11 , die sich aber auch als Haupthindernis für seine Gesetzesinitiative erweisen sollte. II. Die regierungsinternen Gesetzgebungsarbeiten leitete Bethmann-Hollweg mit einer „Denkschrift betreffend das Verhältniß des Art. 26 der Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850 zu erlassenden Unterrichtsgesetzes zu den Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde in den Art. 20 - 25" 1 2 ein. Thema dieser Denkschrift vom 21. Juni 1860 war die Unvereinbarkeit des Gesetzgebungsvorhabens mit mehreren Verfassungsartikeln. Entweder mußten die betreffenden Verfassungsartikel durch Verfassungsänderung gem. Art. 107 dem Unterrichtsgesetz angepaßt werden, oder aber es war im Unterrichtsgesetz selbst in einem Schlußparagraphen die Erledigung des Verfassungsauftrages der Artikel 20 - 26 auszusprechen, was allerdings erforderte, auch das Unterrichtsgesetz selbst im Verfahren gem. Art. 107 zu verabschieden. Die damit verbundene Streichung der Artikel 20 - 26 hätte freilich bedeutet, daß es fortan eine verfassungsrechtliche Regelung des Schulwesens nicht mehr gegeben hätte, oder aber die Verabschiedung gem. Art. 107 hätte das Unterrichtsgesetz, worauf der Justizminister in seiner Stellungnahme 13 hinwies, entsprechend schwer abänderbar gemacht. Die Diskrepanz zu den genannten Verfassungsartikeln ergab sich aus der Absicht Bethmann-Hollwegs, die Kirche in weit stärkerem Maße in das Elementarschulwesen einzubeziehen, als es der in dieser Hinsicht zumindest sehr zurückhaltenden Verfassung entsprach. Die Verfassung berücksichtige - so der Standpunkt des Ministers - einesteils zu wenig die bestehenden Verhältnisse, strebe andererseits ohne Not Neues an, wo das Vorhandene vollständig genüge und es sehr fraglich sei, ob das vorgeschlagene Neue sich als lebenskräftig erweisen könne, und des weiteren gehe sie für das Verhältnis von Staat, Kirche und Gemeinden von Voraussetzungen aus, die noch nicht bestünden und deren künftige Verwirklichung in Zweifel zu ziehen sei. Im einzelnen ging es um folgende Punkte:
11 Sie entsprach wohl auch seiner Einstellung zur Kirche, die Fritz Fischer, NDB Bd. 2, S. 188, als „evangelische Katholizität" bezeichnet. Seit 1848 um eine föderative Zusammenfassung der evangelischen Landeskirchen bemüht, war er Begründer der deutschen evangelischen Kirchentage seit 1848 und bis 1872 deren Präsident. 12 Metallographie im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3). 13 Metallographie der Stellungnahme des Justizministers Simons v. 27. Juni 1860 im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3).
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1. Die in Art. 25 Abs. 3 der Verfassungsurkunde vorgesehene unentgeltliche Erteilung des Unterrichtes wird abgelehnt. Die Absicht, die Existenz des Lehrers vom wechselnden Ertrage des Schulgeldes unabhängig zu machen, werde schon dadurch verwirklicht, daß überall die Gemeinden bzw. der Staat für die Unterhaltung der Schule aufzukommen hätten. Werde nur der humane Zweck verfolgt, niemanden wegen mangelnder Mittel von der Erwerbung der Elementarbildung auszuschließen, so wäre dieser Zweck richtiger dadurch zu erreichen, daß die Zahlungsunfähigen von der Entrichtung des Schulgeldes befreit würden. Tatsächlich werde in den Elementarschulen der Monarchie weit überwiegend Schulgeld erhoben, die Bevölkerung sei daran gewöhnt, fände das Schulgeld auch aus sittlichen Gründen gerechtfertigt; in vielen Fällen werde ein erheblicher Teil der Schulunterhaltungskosten aus dem Schulgeld bestritten. Im übrigen sei aber auch schwer abzugrenzen, welche Stufen des Schulsystems noch der öffentlichen Volksschule zuzurechnen seien - immerhin hätten einige Gemeinden, besonders Städte, komplizierte Schulsysteme, die bei der untersten Elementarstufe begännen und bis zum Eintritt in die Sekunda eines Gymnasiums oder einer Realschule führten. Das Schulgeld sei also nicht generell abzuschaffen, wohl aber an eine Genehmigung der Bezirksregierung zu binden und auch in der Höhe zu begrenzen. 2. In der Stellungnahme der Denkschrift zu Art. 22 der Verfassung wird im wesentlichen das in den „Gedanken über das zu entwerfende Unterrichtsgesetz" 14 dazu Gesagte wiederholt: Der Staat müsse durch ein Genehmigungsrecht nach seinem Ermessen die öffentlichen Schulen von der Konkurrenz privater Unterrichtsanstalten befreien können, wenn er selbst das Unterrichtsbedürfnis befriedige; die Kontrolle des privaten Unterrichtswesens sei eine Fundamentaleinrichtung des preußischen Staates. Das Qualifikationserfordernis auch für Privatlehrer in Familien hingegen beschränke das Elternrecht stark. 3. Art. 24 der Verfassung, der dem Staat unter Beteiligung der Gemeinden das Recht vorbehielt, die Lehrer der öffentlichen Volksschulen anzustellen, konfrontiert die Denkschrift mit § 22 I I 12 ALR, der dieses Recht der „Gerichtsobrigkeit" zusprach, sowie mit der neueren preußischen Schulgesetzgebung, insbesondere der Schulordnung für die Provinz Preußen vom 11. Dezember 184515. Diese habe an die Stelle der „Gerichtsobrigkeit" den Gutsherrn des Schulbezirks, in den Städten den Magistrat, und in Schulbezirken ohne Gutsherrn den Schulvorstand gesetzt; bei den Kirchschulen berufe das Kirchen-Patronat die Lehrer und bei den katholischen Kirch14 Wie Fn. 6. Vgl. dazu das Erkenntnis des preußischen Obertribunals v. 4. Sept. 1850 (Entsch. Bd. 20, 385) zur Unabhängigkeit der Rechte bzgl. der Schulen von den Jurisdiktionsrechten. 15
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schulen Pfarrer und Gemeinde gemeinschaftlich. Die Denkschrift entnimmt diesen Regelungen den Grundsatz, „die Berufung der Schullehrer einmal den in kirchlicher Beziehung Berechtigten zu erhalten und dieselben sodann den zur Unterhaltung der Schulen verpflichteten, principaliter den Gutsherrschaften und Magisträten, eventualiter den Schulvorständen in Vertretung der Gemeinden zu übertragen". Zur faktischen Lage teilt die Denkschrift mit, daß mit Ausnahme der Rheinprovinz und Westfalens und einer großen Anzahl katholischer Schulen in Schlesien die Lehrer an den Landschulen in den meisten Fällen von der Gutsherrschaft ohne Beteiligung der Gemeinde und in den Städten von den Magistraten der Staatsregierung zur Bestätigung präsentiert würden. Nur abstrakt erscheint nach der Denkschrift die Aufrechterhaltung auf besonderen Rechtstiteln beruhender Verpflichtungen zur Schulunterhaltung, wie sie die Verfassung vorsah, einerseits, die Zuweisung der Anstellung von Lehrkräften an den Staat und die Gemeinden andererseits durchführbar. Denn häufig korrespondierten jene besonderen Verpflichtungen Dritter mit entsprechenden Rechten bei der Anstellung von Lehrern. Die Aufhebung der bislang bestehenden Anstellungsrechte der Gutsherrschaften und Patrone müßte daher zu einer Vielzahl von Einzelprüfungen führen, ob nicht auch die korrespondierenden Verpflichtungen damit aufgehoben seien. Im übrigen lasse sich, wo Schulen wesentlich von Dritten, also Privatpersonen, Stiftungen, Vereinen, Kirchengemeinden oder aus Sonderfonds unterhalten würden, kaum der Grundgedanke der Verfassung durchhalten, daß nur die Gemeinde als Schulträger das Recht haben dürfe, die Lehrer auszuwählen und anzustellen. Die Denkschrift kommt daher zu dem Schluß: „Es muß vielmehr ein Weg gefunden werden, wie die Gemeinden ebenso wie alle anderen bei der Schule als einem Gemeinwesen materiell und sittlich beteiligten und interessierten Faktoren durch ein gemeinschaftliches Organ . . . ihre Rechte und Pflichten der Schule gegenüber ausüben". Dieses Organ bezeichnet die Denkschrift als „Schulvorstand". Die Verbindung des Schulamtes mit einem Kirchenamt, wie sie sich in Stadt und Land vielfach fand, verbot nach Auffassung der Denkschrift ebenfalls den völligen Ausschluß des Kirchenpatrons von der Lehrerauswahl: Diese bedeute entweder eine absolute Trennung von Kirche und Staat - die der Verfasser offenbar ablehnt - , oder aber es werde dem Patron formell ein Recht entzogen, das er wegen seines fortbestehenden Rechtes zur Berufung ins Kirchenamt dennoch auf nachdrücklichste Weise zur Geltung bringen könnte und müßte. 4. Der Aufteilung der Kompetenz zur Ernennung der Schullehrer lediglich unter Staat und Gemeinden setzt die Denkschrift schließlich die Sonderrechte der Bischöfe von Münster, von Paderborn und vor allem der schlesischen Bischöfe entgegen.
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a) Der Bischof von Münster war zufolge der Allerhöchsten Ordre vom 27. März 1846 bei Ernennung oder Bestätigung eines Lehrers zu befragen, ob er in religiös-kirchlicher Hinsicht etwas zu erinnern finde; er hatte ein Zustimmungsrecht; die Amtseinführung des Lehrers sollte im übrigen von der vorherigen Erteilung der missio canonica abhängig sein. b) Ebensolche Zugeständnisse wurden durch Allerhöchste Entschließung vom 9. August 1858 dem Bischof von Paderborn gemacht. c) Vielfältig waren die Sonderrechte der katholischen Bischöfe im schlesischen Schulwesen: Die Ordinariate erteilten den katholischen Schullehrern aufgrund der Präsentation durch die Berufungsberechtigten die Anstellung; sie hatten die Hilfslehrer zu bestellen, abzuberufen und zu versetzen; Lehrerstellen an katholischen Pfarrschulen, die einstmals von den Fürstbischöfen von Breslau, vom Domkapitel, von Stiftern und Klöstern vergeben worden waren, wurden nach der Cabinettsordre vom 30. September 1812 16 nach Monaten wechselnd durch die königliche Regierung und durch den Fürstbischof von Breslau vergeben. d) Der Fürstbischof von Breslau bestand auf der Rechtsansicht, daß die katholischen Schulen in Schlesien zu den Pfarrkirchen gehörten, das Schulvermögen zum Kirchenvermögen und die Schulgebäude zu den Kirchenund Pfarrgebäuden; er leitete daraus weitgehende Befugnisse an den katholischen Schulen ab. Dafür gab es bis auf die Besitznahme Schlesiens durch Friedrich II. zurückreichende Rechtsgrundlagen: - Schon das Patent Friedrichs II. vom 1. Dezember 1740 setzte fest, „daß alle und jede des Herzogthums Schlesiens Einwohner bei allen ihren wohlhergebrachten Rechten und Gerechtigkeiten, Freiheiten und Privilegien in publicis et privatis, in ecclesiasticis et politicis, welcher Religion, Standes oder Würden dieselben sein könnten, der königlichen Protektion und Schutzes sich zu erfreuen haben sollten". - Der Berliner Friede vom 28. Juli 1742, der in Preußen als Gesetz publiziert wurde, bestätigte in Art. VI, die römisch-katholische Religion werde „des Königs von Preußen Majestät in der Schlesia in statu quo auch die sämtlichen dasigen Landeseinwohner bei dem zeitigen Besitz des Ihrigen und bei ihren wohlerworbenen Rechten und Freiheiten ohnbeeinträchtigt lassen." 17 - Der Fürstbischof von Breslau erhielt die königliche Zusage, in der Ausübung seiner bischöflichen und geistlichen Gerechtsame wie vor dem 16 Gesetz-Sammlung (G. S.) für die Königlichen Preußischen Staaten, 1812, Nr. 24, S. 185, hier Ziff. 1) und 2). 17 Der Berliner Frieden v. 28. Juli 1742, abgedruckt bei Friedrich August Wilhelm Wenck, Codex juris gentium recentissimi e tabulariorum exemplarumque fide dignorum monumentis compositus, Tom. 1, Leipzig 1781, pag. 739.
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preußischen Einmarsch in Schlesien unbeeinträchtigt zu bleiben 18 . 1754 wurde diese Zusage auf eine Beschwerde des Fürstbischofs nochmals bestätigt und als Normaljahr 1740 festgesetzt 19. Auch spätere LegislativAkte haben die fürstbischöflichen Rechte im schlesischen Schulwesen vielfach bestätigt 20 . 5. Die preußische Verfassung schrieb in Art. 24 Abs. I bei Einrichtung der öffentlichen Volksschulen die Berücksichtigung der konfessionellen Verhältnisse vor, und nach Abs. I I kam die Leitung des religiösen Unterrichts den betreffenden Religions-Gesellschaften zu. Diese von der Trennung von Staat und Kirche ausgehenden Grundsätze hielt Bethmann-Hollweg für unzureichend, um der Bedeutung, die der Kirche für das öffentliche Schulwesen zukam, Rechnung zu tragen. Die Denkschrift verweist darauf, daß die Trennung in Preußen nicht vollzogen sei und daß sie zu einer totalen Umgestaltung der preußischen Volksschule führen müsse. Die kirchliche Position stellte sich für Bethmann-Hollweg wie folgt dar: a) Art. 15 der Verfassung werde von den katholischen Bischöfen dahin interpretiert, daß Volksschulen kirchlichen Ursprungs, kirchlicher Stiftung und Dotierung in dem Besitz der Kirche zu verbleiben hätten; wie auch ihre sonstigen Angelegenheiten verwalte die Kirche ihre Schulen selbständig. b) Die von der Verfassung vorgesehene Leitung des religiösen Unterrichts in den Volksschulen, und zwar nicht nur in den kirchlichen, sondern auch in Staats- und Gemeindeschulen, sei eine selbständige. Die Religionslehrer wähle die Kirche aus und stelle sie an; sie sei dabei nicht an die vom Staate zum Lehrer vorgeschlagene Person gebunden. Auch die Aufsicht über den Unterricht führe die Kirche durch eigene Organe, die nicht mit den staatlichen Aufsichtspersonen identisch zu sein brauchten. Damit aber nicht genug: Nach Auffassung Bethmann-Hollwegs war „der religiöse Unterricht nicht mit dem eigentlichen Religionsunterricht abgeschlossen; alle religiöskirchlichen Beziehungen, die in dem Unterricht und in dem Leben der Schule vorkommen, gehören zu demselben und unterliegen der Cognition der kirchlichen Behörden." Die Denkschrift setzte sich also für den kirchlichen Einfluß auf den gesamten Unterrichtsstoff ein. c) Als wünschenswert wurde darüber hinaus bezeichnet, daß ein und derselbe Lehrer den gesamten, also auch den religiösen Unterricht erteile; dann 18 Publiziert i n Form eines von der Regierung genehmigten Hirtenbriefes vom 20. August 1748 in der Edicten-Sammlung. 19 Cabinets-Ordre v. 20. April 1754. 20 So das Reglement de gravaminibus v. 8. August 1750, § 11; das katholische General-Land-Schulen-Reglement für Schlesien und die Grafschaft Glatz v. 3. November 1765, §§ 39, 43, 51, 59, 71 f f.; das sog. Güntersblumer Edict ν. 14. Juli 1793; das Allerhöchste Schulreglement für die Universität Breslau und die damit verbundenen Gymnasien v. 26. Juli 1800; die dazu erlassene Ministerial-Instruction ν. 21. November 1800; das Allerhöchst vollzogene Schul-Reglement v. 18. Mai 1801.
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aber müsse der Kirche auch ein maßgebender Einfluß auf die Lehrerbildung und damit auf die Seminarien zugestanden werden. d) Jeder Lehrer erteile den religiösen Unterricht nur im Auftrage der K i r che; dieser könne also jederzeit und selbständig von ihr auch wieder zurückgezogen werden. 6. Die Denkschrift rät davon ab, dem kirchlichen Einfluß die verfassungsmäßige Staatsaufsicht als Korrektiv und Regulator entgegenzustellen. So werde kein Friede zwischen Kirche und Staat zu schaffen sein, während es doch die wichtigste Aufgabe des Unterrichtsgesetzes sein werde, hinsichtlich der Schule zwischen Staat und Kirche ein festes, den beiderseitig berechtigten Ansprüchen dienendes Abkommen zu treffen. Den Ausgleich zwischen Staat und Kirche wollte Bethmann-Hollweg auf folgende Weise anstreben: a) In formeller Hinsicht sei - darauf zu bestehen, daß im Gesetzgebungsverfahren den kirchlichen Oberen kein Anspruch auf unmittelbare Beteiligung, Einwirkung oder Genehmigung zustehe. Sobald das Gesetz erlassen sei, werde es auch für die Kirchen bindend und verpflichtend sein. Doch müßten - im Unterrichtsgesetz gemäß dem Verfassungauftrag auch die Rechte und Pflichten der Kirche definiert werden; dies setze aber die vorherige Verständigung mit den kirchlichen Behörden voraus, jedenfalls aber könne sich die Staatsregierung ohne Verhandlungen mit der Kirche keine Ansicht über den zweckmäßigen Inhalt einer auch für dissentierende kirchliche Behörden bindenden Regelung bilden. - Mit Rücksicht auf die parlamentarische Behandlung des Gesetzes sei darauf zu verzichten, dogmatische, staats- und kirchenrechtliche Prinzipienfragen in den Vordergrund zu rücken; vielmehr müsse man durch die Öffnung eines konkreten Wirkungskreises für beide Seiten Hand in Hand zum Ziele gelangen. b) In materieller Hinsicht müsse das Gesetz - gleiche Rechte und Pflichten für die evangelische und katholische Kirche festsetzen. Darum müsse versucht werden, Singularitäten, wie die Rechte des Fürstbischofs von Breslau, auf dem Verhandlungswege zu beseitigen. Die Beseitigung solcher Vorzugsrechte werde dadurch aufgewogen, daß „der gesamten katholischen Kirche in Preußen gegen die bisher gesetzlich bestandenen Rechte wesentlich erweiterte und umfassendere" zuteil würden. - An der Einheit der Schule in ihren Beziehungen zu Staat und Kirche sei festzuhalten. Daher könne es nach Aufgaben und Aufsicht keine verschie-
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denen Kirch-, Staats- und Gemeindeschulen geben. Ein und dieselbe Schule und ein und derselbe Lehrer sollten gleichzeitig den Zwecken dienen, welche Staat und Kirche durch die Schule erreichen müßten; diese Zwecke könnten nicht als verschieden, sich gegenseitig behindernd oder ausschließend betrachtet werden. - Hingegen sei die kirchliche Auffassung, auch die Volksschulen gehörten zu den für kirchliche Zwecke bestimmten Anstalten und die in Art. 18 erwähnte Aufhebung des staatlichen Besetzungsrechtes bei kirchlichen Stellen beziehe sich auch auf die Volksschulen, strikt auszuschließen. - Die Aufsicht über die Schulen müsse bei vom Staate ernannten Behörden liegen; an diese hätten sich auch die kirchlichen Behörden in Schulangelegenheiten zu wenden; die Exekutive stehe allein den staatlichen Behörden zu. Dafür werde aber - die Kreis- und Lokal-Schulinspektion nur Geistlichen übertragen, über deren Auswahl der Staat sich zuvor mit den kirchlichen Behörden verständigt habe. Diesen stehe die Aufsicht nicht nur über den Religionsunterricht, sondern über die ganze Schultätigkeit in Lehre, Methode und Zucht zu. - Da die Volksschule auf dem konfessionellen Prinzip beruhe, müßten den verschiedenen Konfessionen die entsprechenden Schulen auf öffentliche Kosten eingerichtet werden. - In jeder öffentlichen Elementarschule gehöre die Religionsunterweisung sowie die Einführung in das Verständnis und die Übung des kirchlichen Lebens zum Pflichtlehrstoff. Darum gebühre der Kirche eine Mitwirkung bei der Feststellung des Grundlehrplanes und bei Einführung von Lesebüchern und Lehrbüchern der Geschichte. Lehrbücher für den Religionsunterricht seien von der Kirche selbständig zu bestimmen. - Die verfassungsrechtliche Zuweisung der Leitung des Religionsunterrichts in den Volksschulen bedeute, daß der Kirche auch Einfluß auf die religiöse Vorbildung der Lehrer in den Seminarien gewährt werden müsse. Darüber hinaus sei die Kirche - auch bei der Abhaltung der Lehrer-Prüfungen beteiligt und entscheide über die Befähigung der Schulamts-Kandidaten zur Erteilung des Religionsunterrichts . - Die Kirche habe ein Einspruchsrecht gegen die Ernennung von Lehrern an Elementarschulen, gegen die in religiös-kirchlicher Beziehung Einwendungen zu erheben seien. Sie vergebe auch den Auftrag zur Erteilung des Religionsunterrichts (missio canonica) und könne diesen zurückziehen, jedoch nur wegen nachgewiesener Irrlehre und Abweichung von dem Lehrbegriff. Schließlich bleibt die Ernennung zu den mit Schulstellen
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verbundenen kirchlichen Ämtern lediglich der Kirche vorbehalten, so daß der Staat hier auch nicht mittelbar Einfluß nehmen kann. 7. Bethmann-Hollweg war bereit, mit seinem Modell einer organisatorisch abgesicherten engen Zusammenarbeit von Staat und Kirche im Schulwesen an die Grenze des aus staatlicher Sicht Vertretbaren zu gehen; die Denkschrift rechtfertigte dies damit, daß der Kirche aus Tradition gewachsene Ansprüche und Verdienste im Unterrichtsbereich zukämen; daß die gesetzliche Feststellung der kirchlichen Position diese für den Staat zuverlässiger kontrollierbar mache; daß das Entgegenkommen des Staates diesen mit größerer innerer Berechtigung überzogenen Ansprüchen insbesondere der katholischen Kirche 2 1 entgegenzutreten gestatte; daß andererseits der Kirche die ihr nach der Verfassung zustehende selbständige und alleinige Leitung des religiösen Unterrichts entzogen, diese vielmehr in den Gesamtorganismus der Schule einheitlich eingefügt werde; dem Staat stünden im übrigen eigene Organe für die Schulinspektion nicht zur Verfügung, und diese müßten in Anbetracht der großen Bedeutung religiös geprägten Unterrichts weithin hilflos bleiben - hingegen erspare die Übertragung an das vorhandene kirchliche Personal dem Staat jährlich eine Million Taler. 8. Außer dem Verhältnis der Kirche zur Volksschule suchte BethmannHollweg auch die Beziehung der Gemeinde zur Schule auf eine neue Grundlage zu stellen. Auszugehen war dabei von Art. 24 Abs. 3 der Revidierten Verfassung, der der Gemeinde die Leitung der äußeren Angelegenheiten der Volksschule zuwies. Gemäß Satz 2 war die Gemeinde auch an der Bestellung der Lehrer zu beteiligen. Gemäß Art. 25 Abs. 1 waren die Schulunterhaltungskosten von den Gemeinden und nur subsidiär vom Staat aufzubringen bei Aufrechterhaltung auf besonderen Rechtstiteln beruhender Unterhaltungspflichten Dritter. Der Zusammenhang zwischen Unterhaltslast und Leitungsbefugnissen in äußeren Angelegenheiten der Schule entsprach den tatsächlichen Verhältnissen in Preußen nach Darstellung der Denkschrift kaum. Die Schulen waren danach vielfach im Besitz eigenen Vermögens und bezogen Einkünfte von ihren eigenen Angehörigen; die meisten Schulen hatten seither ohne 21 Diese werden der Denkschrift der Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz v. 5. Februar 1851 entnommen, aus der zitiert wird: „Die oberrheinischen Bischöfe haben es im Verein mit den übrigen Erzbischöfen und Bischöfen Deutschlands bereits in der aus der Würzburger Versammlung hervorgegangenen Denkschrift ausgesprochen, daß unter den Rechten der Kirche das göttliche Recht der Lehre und Erziehung obenan stehe; daß ihr von Gott der Auftrag gegeben sei, die Völker des Erdkreises für die höhere, ewige Bestimmung des Menschen zu erziehen; daß sie im Bewußtsein dieser ihr gewordenen Mission sich nimmer auf den Religionsunterricht allein beschränkt, sondern den Menschen in der Totalität aller seiner geistigen Kräfte zu erfassen und zu seiner eigenen Bestimmung durchzubilden, als ihre Aufgabe erkennt, und daß nach dem Zeugniß der Geschichte die höheren wissenschaftlichen Anstalten nicht minder als die Volksschulen der Kirche ihren Ursprung verdanken".
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Beihilfe der politischen Gemeinde existiert. Solche eigenen und die auf besonderen Rechtstiteln beruhenden Einkünfte sollten durch das Unterrichtsgesetz nicht angetastet werden. Dann aber schien es auch nicht angebracht, der politischen Gemeinde, die durch Gesetz nur zur Aufbringung des noch Fehlenden verpflichtet war, die alleinige Leitung der äußeren Angelegenheiten der Schule zu übertragen. Andererseits empfahl sich eine Aufteilung der Leitungsbefugnisse entsprechend der herkömmlichen mannigfaltigen Verteilung der Unterhaltslast nicht. Zudem fragte sich auch, was unter den äußeren Angelegenheiten der Schule zu verstehen war: Die Schulaufsicht, die dem Staat bzw. hinsichtlich des Religionsunterrichts den Kirchen zugewiesen sein sollte, konnte nach der Verfassung nicht dazu gehören, und bei der Bestellung der Lehrer sollte die Gemeinde auch nur beteiligt werden; für eine Beaufsichtigung des Lehrbetriebes erschienen die Gemeindebehörden nicht geeignet, und die Bestrafung von Schulversäumnissen konnte ebenfalls nicht Sache der Gemeinde sein. Daher greift die Denkschrift die „nicht zutreffende Abstraktion der Verfassungsurkunde" an; diese unterscheide ohne jede hinreichende Nötigung zwischen inneren und äußeren Angelegenheiten der Schule, wie sie überhaupt die an der Schule beteiligten Faktoren, Staat, Kirche und Gemeinde, ganz unvermittelt nebeneinander, teilweise einander gegenüberstelle. Unter den äußeren Angelegenheiten könne nur die Aufbringung der Schulunterhaltungskosten und die Vermögensverwaltung verstanden werden. Hier aber seien andere neben der Gemeinde, insbesondere die Kirche, so stark beteiligt, daß von diesen nicht erwartet werden könne, ihrerseits auf die Beteiligung an der Vermögensverwaltung zu verzichten. Andererseits aber sei die Gemeinde bei Beschränkung auf die äußeren Angelegenheiten ohne Einfluß auf den inneren Zustand der Schule, zumal der Staat nach Lage der Dinge die Lokalinspektion über die inneren Angelegenheiten der Schule nur in die Hand des Ortspfarrers legen könne und damit der Person, die auch den religiösen Unterricht leite. Erwünscht sei aber gerade eine Beteiligung der politischen Gemeinde auch an den Interna der Schule. Die Denkschrift zieht daraus den Schluß, daß die Schule sich „zwischen Staat, Kirche und Gemeinde in ihrer diesen sämtlichen Faktoren gleichmäßig dienenden Wirksamkeit einer von denselben getragenen, geforderten und überwachten Selbständigkeit" erfreuen müsse. Sie w i l l der Schule daher „die Stellung und die Rechte einer moralischen Person" einräumen; vertreten werden solle sie nach innen und außen vom Schulvorstand, in dem „Repräsentanten der Kirche und der bürgerlichen Gemeinde unter der Anordnung und der Autorität des Staates ihre Stellung und ihren Einfluß auf die Schule in ihrer Totalität haben". Das von Bethmann-Hollweg angestrebte Zusammenwirken von Staat, Kirche und Gemeinde im Schulwesen sollte also in der Zusammensetzung des Schulvorstandes institutionalisiert werden.
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9. Ein weiteres Problem ergab sich für die Unterrichtsgesetzgebung aus der Anordnung des Art. 23 der Revidierten Verfassung, daß die öffentlichen Lehrer die Rechte und Pflichten der Staatsdiener hätten. Als unmittelbare Staatsdiener würden die Lehrer, so betonte die Denkschrift, in das staatliche Versorgungssystem einzubeziehen sein; auf den Staat komme daher eine beträchtliche Beitragspflicht zu den Pensionskassen zu, obwohl die Lehrer an sich von den Gemeinden zu unterhalten seien. Als mittelbare Staatsdiener aber müßte man die Lehrer als im Dienste der Gemeinden oder sonstigen Corporationen stehend anzusehen haben, eine Stellung, die den Erwartungen der Lehrer nicht entsprechen werde 22 . Die eigentliche Problematik der Staatsdienerstellung dürfte sich freilich aus dem Umstand ergeben, daß sehr häufig die Lehrer zugleich kirchliche Ämter inne hatten, aus denen sie auch einen wesentlichen Teil ihres Einkommens bezogen. Es sei kaum anzunehmen, merkt die Denkschrift hier an, daß „Bischöfe und Consistorien die von ihnen zu vergebenden Ämter der Organisten, Kantore, Küster und Glöckner an unmittelbare oder mittelbare Staatsdiener übertragen" würden. Das Unterrichtsgesetz, so fordert die Denkschrift, müsse die gegebenen konkreten Verhältnisse besonders regulieren und von der Ausführung des angesprochenen Verfassungsartikels Abstand nehmen. 10. Abschließend setzt sich die Denkschrift mit der in Art. 25 Abs. 1 Revidierter Verfassung niedergelegten Pflicht der Gemeinde zur Aufbringimg der Schulunterhaltungskosten auseinander. Gegen diese Anordnung wird vor allem eingewandt, daß die Gemeindeverhältnisse noch nicht so weit geordnet seien, daß auf die Beteiligung der nicht zum Gemeindeverband gehörigen selbständigen Gutsbezirke an der Aufbringung der Kosten verzichtet werden könne. Vorgeschlagen wird ein Verteilungsschlüssel, demzufolge die eine Hälfte des Bedarfs nach der Zahl der zum Schulbezirk gehörenden Haushaltungen, die andere Hälfte nach dem Maße ihres im Schulbezirk gelegenen Grundbesitzes verteilt werde. Dafür sollte aber der Gutsherr als Repräsentant des Gutsbezirkes eine Stelle im Schulvorstand erhalten. III. Die von Bethmann-Hollweg zu seiner Denkschrift erbetenen Stellungnahmen seiner Ministerkollegen enthielten für ihn wenig Ermutigendes. Der Justiz-, der Finanz- und der Innenminister äußerten sich, kaum noch verbindlich im Ton, in der Sache - vor allem zur angestrebten Rolle der Kirche im Volksschulwesen - schroff ablehnend. 22 Als Beispiel für die publizistische Vertretung der Lehrerinteressen vgl. die Schrift v. Carl Schlenker, Die Organisation der Volksschule. Aphorismen zum neuen Schulgesetz, Halle 1861.
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1. Übereinstimmend votierten die Angefragten für den formellen Weg einer ausdrücklichen Änderung des Verfassungs textes, wo dieser mit dem Inhalt des Unterrichtsgesetzes im Widerspruch stehen würde. Die Bereitschaft, die liberale Prägung des Schulwesens durch die Verfassung preiszugeben, war freilich sehr viel geringer als beim Kultusminister. 2. Schon nach wenigen Tagen, am 27. Juni 1860, nahm der Justizminister Louis Simons 23 zur Denkschrift Stellung 24 . Mit Bethmann-Hollweg lehnte er die Aufhebung des bestehenden Schulgeldes „ - abgesehen von anderen schon aus finanziellen Gründen" ab und wollte auch die Genehmigungspflicht für Privatschulen nach Bedürfnisprüfung aufrechterhalten wissen. Er akzeptierte auch den Schulvorstand als gemeinschaftliches Organ aller an der Schule materiell wie rechtlich interessierten Faktoren. Strikt wandte er sich jedoch dagegen, einem dieser Faktoren, nämlich der Kirche, eine Stellung zur Schule einzuräumen, „welche die Rechte des Staates überwiegen, ja, dieselben fast auf den einen Beruf: das Geld für die Volksschulen zu schaffen - herabdrücken werde". Bei der von der Denkschrift vorgesehenen Grenzregulierung werde nicht der Staat „Herr der Schule" bleiben, sondern die Kirche sehr bald allein „Herrin der Schule" werden; erfahrungsgemäß wisse die Kirche die ihr verfassungsmäßig eingeräumte Unabhängigkeit vom Staate sehr wohl tatsächlich zu behaupten und zu benutzen, und sie werde eine Einwirkung auf ihre Organe unter Hinweis auf Art. 15 der Verfassung mit einer gewissen Berechtigung zurückweisen können. Simons sprach sich auch gegen jede Verhandlung mit den katholischen Bischöfen aus; „nach den Erfahrungen, welche rücksichtlich derartiger Verhandlungen mit den katholischen Bischöfen in Preußen vor und nach dem Erlaß der Verfassungsurkunde gemacht worden" seien, könnte dadurch ein befriedigendes Ergebnis nicht erzielt werden, ein Mißerfolg aber werde im Landtag die Opposition der katholischen Mitglieder provozieren. Auch prinzipiell dürfe die weltliche Gewalt kirchliche Organe nicht als „vorbereitende Mitfaktoren der Gesetzgebung" anerkennen. Zwar dürfe der weltliche Gesetzgeber die Grenzen zum kirchlichen Gebiet nicht überschreiten, müsse aber von sich aus entscheiden, wo diese Grenzen verliefen. Sodann verwies Simons auf die „großen Unzuträglichkeiten . . . welche die Einmischung der kirchlichen Organe in die weltliche Ehegesetzgebung mit sich geführt" haben - die Erinnerung an die „Kölner Wirren" als Menetekel für die „provozierte Konkurrenz der Bischöfe bei den Vorbereitungen zum Unterrichtsgesetz". 3. Sehr eingehend setzte sich der Finanzminister Robert Freiherr von Patow 25 in seiner Stellungnahme vom 15. September 1860 mit der Denkschrift auseinander 26 . 23 Zu Louis Simons s. Ernst Rudolf Huber, Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 1960, S. 749, Anm. 61. 24 Metallographie im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3), 6 Seiten.
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a) Zustimmung - wohl schon von Amts wegen - fand die geplante Beibehaltung des Schulgeldes; allerdings wollte von Patow auch die Einschränkung, daß die Lehrergehälter nur zur Hälfte aus dem Schulgeld sollten finanziert werden dürfen, fallengelassen sehen. b) Ebenfalls zustimmend äußerte er sich zur Beibehaltung der Konzessionspflicht bei Privatschulen, wollte allerdings die Entziehung einer einmal erteilten Konzession nicht ins freie Ermessen der Aufsichtsbehörde, sondern zur gerichtlichen Entscheidung gestellt sehen; nur persönliche Eigenschaften des Konzessionierten, nicht Bedürfnisfragen sollten dabei eine Rolle spielen dürfen. c) Die Auffassung der Denkschrift, die Lehrerwahl sei nicht nur Sache der Gemeinde, sondern an ihr seien alle Faktoren zu beteiligen, die zur Schulunterhaltung beitrügen, wurde abgelehnt: Unter Berufung auf die amtlichen Erläuterungen des früheren Kultusministers von Ladenberg w i r d unterstrichen, daß die Gemeindebeteiligung bei Besetzung der Lehrerstellen ihre Rechtfertigung darin finde, daß „das nächste Interesse an einer guten Wahl die Ortsbevölkerung habe, für deren größten Teil infolge des Unterrichtszwanges die Notwendigkeit, der Ortsschule ihre Kinder anzuvertrauen, vorhanden sei". Im Folgenden zeigt sich dann, daß dieser Einwand sich insbesondere gegen die Mitwirkung der Gutsherren als Schulpatrone bei den Lehrerwahlen richtete; es genüge, wenn die Gutsherren als Insassen des Schulbezirks oder Vertreter der Gutsanwohner bei der Lehrerbestellung beteiligt würden. d) Keine Gnade fanden vor den Augen des Finanzministers die Partikular- und Sonderrechte der Bischöfe von Münster, Paderborn und Breslau. Diese Rechte vermöchten eine im Wege der Gesetzgebung zu gestaltende Fortentwicklung des öffentlichen Rechts nicht zu hemmen; wenn die Fortdauer dieser Rechte mit der Folgerichtigkeit der Ausführung der das Unterrichtswesen betreffenden Verfassungsartikel in Widerspruch geriete, könnten sie keinen Bestand haben. Die den Religionsgesellschaften zugesicherte Selbständigkeit sei dagegen nicht ins Feld zu führen, da sie sich nur auf die Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten beziehe; wo es sich aber um Verhältnisse der Kirchen zum Staat und zu solchen Einrichtungen handele, welche, wie die Volksschulen, die bürgerliche Gesellschaft angingen, da bestimme über die Abgrenzung des Rechtskreises der Kirchen nach wie vor und ungeachtet jener ihnen gewährten Selbständigkeit ausschließlich und absolut die Staatsgewalt ebenso, wie sie hierzu bezüglich aller sonstigen im Staatsgebiet befindlichen Gesellschaften befugt sei. Die Kirchschulen machten da keine Ausnahme: Art. 15 der Verfassung beziehe sich nur auf die speziellen kirchlichen Bildungszwecken dienenden Unterrichtsanstalten 25 26
Zu Robert Freiherr v. Patow s. Ernst Rudolf Huber (Fn. 21), S. 579, Anm. 25. Metallographierte Abschrift im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3), 20 Seiten.
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wie etwa die klerikalen Seminare. Der Finanzminister geht sogar so weit, aus der in der Verfassung implizit ausgesprochenen „völligen Trennung der Schule von der Kirche" auch eine Herauslösung der bisher etwa noch den Kirchen, insbesondere der Diözese Breslau, gehörenden Schulen aus dem Kirchenvermögen zu fordern; solche Schulen könnten dann „selbstverständlich nicht denjenigen Fonds beigezählt werden, hinsichtlich deren in Art. 15 der Verfassungsurkunde den Kirchen die Erhaltung des Status quo zugesichert worden" sei. e) Die in der Denkschrift den Kirchen allgemein zugedachte Rolle i m Unterrichtswesen stieß beim Finanzminister auf eine noch härtere Ablehnung als schon beim Justizminister. Nicht nur aus taktischen, sondern auch aus prinzipiellen Gründen wird Verhandlungen mit den Bischöfen auf das Entschiedenste widersprochen; die verfassungsmäßige Trennung von Schule und Kirche dürfe in keinem Punkt infrage gestellt werden. Nach der Denkschrift solle den Kirchen alles, was ihnen nach den Absichten der Verfassungsurkunde nicht gewährt werden solle, zugestanden werden. Abgelehnt werden insbesondere die Übertragung der Kreis- und Lokal-Schulinspektion nur an Geistliche, die Mitwirkung der Kirchen bei der Erstellung des Grundlehrplans und bei der Einführung von Lesebüchern und Geschichtslehrbüchern, die Beteiligung der Kirchen an Lehramtsprüfungen und deren Einwirkung auf die Lehrerseminarien, die Berücksichtigung kirchlicher Einwendungen in religiös-kirchlicher Beziehung bei der Ernennung von Lehrern, die Basierung des Volksschulwesens auf dem konfessionellen Prinzip und die Einbeziehung von Religionsunterweisung und Einführung in das Verständnis und die Übung des kirchlichen Lebens in die unbedingten Lehrziele jeder Elementarschule. Der katholische Klerus, der der Kirche ein göttliches und unveräußerliches Anrecht auf die Volksschule beimesse, werde die sich ihm bietenden Befugnisse dazu gebrauchen, den Einfluß des Staates auf die Schule möglichst zu paralysieren. Auszuschließen sei daher „jede Berechtigung der Kirchen, in irgendwelchen, sei es auch nur mittelbaren Wegen, positiv in das Erziehungswesen einzugreifen". Die Schule sei nicht „eine Vorhalle zur Kirche", sei keine Anstalt im Dienste der Religionsgesellschaften, sondern eine Anstalt im Dienste der menschlichen Entwicklung auf ihren ersten Stufen. Außerdem verbiete die paritätische Behandlung der Religionsgesellschaften nach der Verfassung, allein die evangelische und katholische Kirche durch besondere Zugeständnisse zu bevorzugen. Die den Kirchen zuzugestehenden Rechte müßten sich darauf beschränken, „nach ihrem Ermessen den bei Elementarschulen ihrer Konfession angestellten Lehrern die Befugnis zur Erteilung des Religionsunterrichts bei nachgewiesener Irrlehre und Abweichung vom Lehrbegriff zu entziehen, die Lehrbücher, welche den Religionsunterricht und die religiöse Übung ihrer Konfession betreffen, selbständig zu bestimmen und den Religionsunterricht ihrer Konfession durch ihre Organe zu inspizieren, endlich
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auch vorgeschrieben wird, daß der Ortspfarrer stets geborenes Mitglied des Vorstandes der Ortsschule seiner Konfession sein soll". Hingegen erscheint es dem Finanzminister unbedenklich, wenn sich der Staat wie bisher der Geistlichen zur Durchführung der Schulaufsicht bediene - ohne diesen darauf ein Anrecht zu geben. Daß die katholische K i r che sich dem versagen würde, sei nicht wahrscheinlich; sie werde sich im eigenen Interesse mit Notwendigkeit bestimmt finden, denjenigen Einfluß, welcher auf die Volksschule ihr noch geboten werde, zu bewahren und festzuhalten; sie werde zu retten versuchen, was eben noch zu retten sei. Auch die vermehrte Bildung von Privatschulen sei nicht zu befürchten; immerhin seien diese von der Konzession durch die Staatsbehörden abhängig. Die K i r che werde ihre Organisten und Küster im übrigen schon deshalb nicht aus dem Schuldienst zurückziehen, weil diese Stellen sonst nicht ausreichend dotiert seien, und die nötige Kenntnis des Orgelspiels und des Gesanges habe in der Regel ohnehin nur ein Schulmann. f) Gegen die in der Denkschrift vorgeschlagene Finanzierung der Volksschulen wendet von Patow ein, diese werde zu einer stärkeren Belastung der Gutsbesitzer führen müssen. 4. Die Stellungnahme des Innenministers Maximilian Graf von Schwer i n 2 7 vom 15. November I860 2 8 hat ebenfalls einen durchweg ablehnenden Tenor, wenn auch teilweise in anderer Richtung. a) So wird hier die Durchführung der Schulgeldfreiheit gefordert. Sie entspreche § 32 I I 12 ALR, und das Schulgeld sei in vielen Gemeinden längst abgeschafft und durch Hausväterbeiträge ersetzt. Das Argument der Denkschrift, der Bereich der öffentlichen Volksschule sei schwer abzugrenzen, wird verworfen; diese Abgrenzung müsse ohnehin auch zur Bestimmung der Schulpflicht erfolgen. Die Aufhebung des Schulgeldes wird als „unabweisbare Konsequenz der Schulunterhaltungsverbindlichkeit der Gemeinden" gesehen. Vor allem aber werden soziale Gründe ins Feld geführt: „Die gänzliche Aufhebung des Schulgeldes kann aber auch nur allein die vielfachen und schweren Bedrückungen Einzelner in denjenigen Gemeinden beseitigen, in welchen dasselbe bereits erhoben ist. Kindersegen pflegt der Reichtum der Armen zu sein, auf diese wird daher die Last vorzugsweise übertragen, wenn die Schulunterhaltungskosten durch ein Schulgeld gedeckt werden". Es wird sodann auf die unangenehmen Erfahrungen hingewiesen, die man mit dem Reskript des Kultusministers vom 6. März 1852 gemacht habe. Dieses hatte den Lehrern einen Anspruch auf das ganze Schulgeld für alle der Schule zugewiesenen Kinder zugesprochen; bei Abzügen für Ermäßi27 Zu Maximilian Graf v. Schwerin-Putzar s. Ernst Rudolf Huber (Fn. 21), S. 577, Anm. 17; ADB Bd. 33 (1891), S. 429 - 435. 28 Metallographierte Abschrift im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3), 18 Seiten.
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gung und Befreiungen konnten sie deren Ersatz von den Organen der Armenpflege verlangen. In Konsequenz dessen, so w i r d ausgeführt, seien die früher großzügigen Schulvorstände „jetzt durch die Anträge der Lehrer und die mit ihrer bisherigen milden Praxis kollidierenden Interessen der Armenverbände nicht selten gezwungen, in Beitreibung des Schulgeldes rücksichtslos zu Werke zu gehen". Das treffe nicht die absolut Zahlungsunfähigen, sondern diejenigen Schulangehörigen am meisten, „welche mit der Sorge um das tägliche Brot in dem ernstlichen Bestreben ringen, der Gemeinde nicht als Arme anheimfallen zu wollen". Weiter wird für die Schulgeldfreiheit die Konkurrenz mit den kirchlichen Privatschulen angeführt, die kaum zu bestehen sein werde, wenn der Besuch unentgeltlich unterrichtender kirchlicher Schulen auf diese Weise prämiiert werde. b) In der restriktiven Handhabung der Konzessionierung von Privatschulen sieht der Innenminister keinen Ausweg. Die Verfassung verlange für die Errichtung von Privatschulen kein Bedürfnis; ein solches werde auch kaum je bestehen, wenn eine ausreichende Zahl öffentlicher Volksschulen von den Gemeinden verpflichtungsgemäß unterhalten werde. Die Denkschrift aber knüpfe bei der Bedürfnisfrage auch nur deshalb an, weil sie darin einen Schutz „gegen prinzipielle und organisierte Opposition" erblicke. Der Innenminister fährt dann fort: „Ich kann die Bemerkung nicht zurückhalten, daß die Unterrichts-Omnipotenz des Staates, welche hierdurch gesichert werden soll, m.E. jede rechtliche und sittliche Vermutung gegen sich hat, und daß deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit noch bewiesen werden muß". Er fährt dann fort: „Der Staat . . . würde die Grenzen seiner Gewalt m.E. überschreiten, wollte er sich des Unterrichtes der Jugend, für den zu sorgen zunächst der Familie obliegt, dergestalt bemächtigen, daß er die Eltern indirekt durch Versagung von Konzessionen für die Errichtung von Privatschulen nötigte, ihre Kinder, also ihr zweites Selbst, auch dann dem Lehrer der öffentlichen Schule anzuvertrauen, wenn sie dessen sittliche, religiöse oder fachliche Befähigung . . . bezweifeln zu müssen glauben. Wird den Eltern der häusliche Unterricht der Kinder gestattet, so erscheint es jedenfalls inkonsequent, wenn es ihnen verwehrt oder erschwert wird, sich miteinander zu vereinigen, um ihre Kinder gemeinschaftlich in einer Privatschule unterrichten zu lassen". c) Hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Schule zur Kirche schließt sich der Innenminister der K r i t i k des Justiz- und des Finanzministers an der Denkschrift durchweg an; der Staat sei bei Durchsetzung des Plans von Bethmann-Hollweg nicht mehr „Herr der Schule", sondern nur noch „Depositar für die Kirche". Andererseits verlange die Verfassung für das Verhältnis der Gemeinde zur Schule nicht den völligen Bruch mit dem Hergebrachten. Sie verbürge nur
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„das Minimum der einem jeden der drei Faktoren Staat, Kirche und Gemeinde zustehenden Rechte und verwehre der Gesetzgebung nicht, dieselben in gegenseitige Vermittlung zu setzen". Abgeraten w i r d also von einer Verfassungsänderung, dagegen dem Kultusminister empfohlen, sich wieder auf den Entwurf seines Amtsvorgängers von Ladenberg aus dem Jahre 1850 zu besinnen. Der Schulvorstand müsse die Rechte von Staat, K i r che und Gemeinde vermitteln, nicht sie absorbieren. Entsprechend könne die Schule zwar die Rechte einer moralischen Person erhalten, dürfe aber in Verwaltung ihrer Vermögensangelegenheiten nicht unabhängig von der politischen Gemeinde werden. Die Lehrer sollten dementsprechend zu Gemeindebeamten werden. d) Zur Finanzierung unterstreicht der Innenminister, hier eher der Linie der Denkschrift als des FinStnzministers folgend, daß nach Art. 25 der Verfassung die Verpflichtung der Besitzer selbständiger Güter zu Beiträgen für die Volksschule nicht aus ihrer Eigenschaft als ehemalige Gutsherren, sondern aus dem Umstände herzuleiten sei, daß diese Güter in allen kommunalen Beziehungen den Gemeinden völlig gleich stünden und daß deren Besitzer daher alle die Verbindlichkeiten für den Umfang des Gutsbezirkes zu erfüllen hätten, welche den Gemeinden oblägen. IV. Aufgrund der Vota der beteiligten Ressortminister zur Denkschrift vom 21. Juli 1860 kam es am 6. Dezember 1860 zu einer mündlichen Beratung unter diesen, ohne daß dabei über die wesentlichen Streitpunkte eine Einigung erzielt wurde. In einem „Promemoria betr. den Erlaß des in Art. 26 der Verfassungsurkunde vorgesehenen Unterrichtsgesetzes" faßte BethmannHollweg das Ergebnis der Vorberatungen zusammen. Einigung war erreicht über fünf Prinzipien: Träger der Volksschulen werden statt der Schulsozietäten des A L R 2 9 die politischen Gemeinden; die Pflicht zur Unterhaltung der öffentlichen Elementarschulen trifft die Gemeinden, subsidiär den Staat; die öffentlichen Elementarschulen erhalten die Rechte einer moralischen Person; in ihrem Repräsentanten, dem Schulvorstand, werden die Interessen des Staates, der Gemeinde und der Kirche an der Schule vermittelt, und er verwaltet die inneren und äußeren Angelegenheiten der Schule; der Staat hat die Schulaufsicht. Die noch offenen Streitpunkte unterbreitete 29 §§ 29 ff. I I 12 ALR. Das ALR folgt auch hier dem Gesellschaftsmodell. Mitglieder der Schulsozietät waren „sämtliche Hausväter jedes Orts, ohne Unterschied, ob sie Kinder haben, oder nicht, und ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses" (§ 29). Ihre Beiträge waren unter die Hausväter „nach Verhältnis ihrer Besitzungen und Nahrungen billig vertheilt" (§ 31). Dafür genossen ihre Kinder Schulgeldfreiheit (§32). Gutsherrschaften auf dem Lande waren verpflichtet, ihre Untertanen dabei „nach Nothdurft zu unterstützen" (§ 33).
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Bethmann-Hollweg mit seinem „Promemoria" dem königlichen Staatsministerium am 23. Januar 1861 zur Herbeiführung eines „normierenden Beschlusses". Die zum „Promemoria" angeforderten Stellungnahmen der einzelnen Ressortchefs gingen nur von Seiten des Kriegsministers Albrecht von Roon 30 und des Außenministers Alexander Freiherr von Schleinitz 31 ein, die in der Sache im wesentlichen den Auffassungen des Kultusministers folgten, sowie des Amtsnachfolgers des Justizministers Simons, August von Bernuth 32 , der die Position Simons weitervertrat 33 . Da die Votanten aber übereinstimmend die Vorlage eines formulierten Gesetzesentwurfes anmahnten, machte auch das Staatsministerium eine Beschlußnahme über die Prinzipienfragen von einem solchen abhängig. Diesen Entwurf legte Bethmann-Hollweg nach Anhörung sämtlicher Provinzial-Schul-Kollegien und Regierungen am 19. Dezember 1861 dem Staatsminister Rudolf v. Auerswald 34 vor. Die abschließenden Beratungen, zunächst in einer Kommission von Beauftragten der einzelnen Ressortchefs (in sieben Sitzungen zwischen dem 3. und 18. Februar 1862) und schließlich am 3., 5. und 6. März 1862 im Staatsministerium auf höchster Ebene sollen hier nicht im einzelnen weiterverfolgt werden. Sie führten schließlich zum „Entwurf eines UnterrichtsGesetzes" mit den Abschnitten I. Niedere Schulen, II. Seminarien und Lehrerbildung, III. Höhere Schulen, IV. Privatunterrichtswesen und V. Verhältniß der Juden und Dissidenten zu den öffentlichen Volksschulen. Von der Einbeziehung der Hochschulen war in den Schlußberatungen abgesehen worden, da die Hochschulsatzungen ausreichende Rechtsgrundlagen zu bieten schienen. Der Regierungsentwurf läßt die erzielten Kompromisse deutlich hervortreten. Sie seien hier noch kurz angesprochen. Nach § 1 sollten die Volksschulen auf das Leben in Staat und Kirche und auf das Berufsleben vorbereiten, und § 2 stellt unter den Aufgaben an die Spitze „Unterweisung in der Religion sowie Einführung in das Verständniß des kirchlichen Bekenntnisses und Lebens derjenigen Confession, welcher die Schule angehört". Der Kultusminister hatte sich also in der Aufgabenbestimmung für die Volksschule durchgesetzt, die Trennung von Kirche und 30 Zu Albrecht von Roon s. Ernst Rudolf Huber (Fn. 21), Bd. 3,1963, S. 280, Anm. 8; ADB Bd. 29 (1889), S. 138 - 143. Metallographierte Abschrift seiner Stellungnahme im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3), 7 Seiten. 31 Zu Alexander Freiherr von Schleinitz s. Ernst Rudolf Huber (Fn. 21), S. 728 Anm. 12. 32 Zu August von Bernuth, im Dezember als Justizminister an die Stelle von Louis Simons getreten, s. Ernst Rudolf Huber (Fn. 21), Bd. 3, 1963, S. 288, Anm. 35. 33 Metallographierte Abschrift im Nachlaß Bethmann-Hollweg (Fn. 3), 16 Seiten. 34 Zu Rudolf von Auerswald s. Ernst Rudolf Huber (Fn. 21), S. 728, Anm. 11; ADB Bd. 1 (1875), S. 651 - 654.
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Schule insoweit vermeiden können; jedoch wurde in § 3 nur die „Anhörung" der kirchlichen Behörden vor Aufstellung des Grundlehrplans vorgeschrieben, und auch nur „ i n betreff des Religionsunterrichtes". Die Volksschulen waren Konfessionsschule. Religionsunterricht war nach dem Lehrbegriff der evangelischen oder römisch-katholischen Kirche zu erteilen, und zwar vom Lehrer der Schule (§ 16). Durch die personelle Verbindung wurde einerseits der Religionsunterricht in die staatliche Schulorganisation eingebunden, andererseits den Kirchen unter dem Religionsaspekt ein doch wohl erheblicher Einfluß auf den Schulbetrieb eröffnet. Auch hier hat sich wohl im wesentlichen der Kultusminister durchgesetzt. Ein Mitwirkungsrecht der Kirchen bei der Einstellung von Lehrern (§§ 53ff.) war im Entwurf nicht mehr ausdrücklich enthalten; es ergab sich allenfalls aus der Mitwirkung der Kirche im Schulvorstand. Mit der Einrichtung des Schulvorstandes hatte sich der Kultusminister wiederum durchsetzen können, dabei allerdings auch an ältere Vorbilder angeknüpft. Dem Schulvorstand war in § 63 aufgegeben, gleichmäßig die Interessen des Staates, der Kirche und der Gemeinde zu vertreten, einschließlich der der Gemeinde - nach der Verfassung - zustehenden Leitung der äußeren Angelegenheiten. Zu den ständigen Mitgliedern gehörten der oder die Ortspfarrer (§ 64 Ziff. 1). Nach § 67 wurde dem Schulvorstand auch die Aufsicht über die inneren Angelegenheiten der Schule übertragen; dabei hatte der Ortspfarrer als Schulpfleger die Amtsführung und den gesamten Schulunterricht zu beaufsichtigen, ausgenommen nur den Religionsunterricht der nicht seiner Konfession zugehörenden Kinder. Hinsichtlich der Schulaufsicht hatte von Bethmann-Hollweg insoweit zurückstecken müssen, als nach § 78 zu Schul-Inspektoren nur „ i n der Regel" Geistliche zu ernennen waren, und in § 79 war der Bezirks-Regierung die Ernennung auch von anderen Personen freigestellt, wenn in dem Bezirk überhaupt kein oder kein nach Ansicht der Regierung zur Schulaufsicht geeigneter Geistlicher vorhanden war. Sehr zurückhaltend blieb der Entwurf gegenüber Bethmann-Hollwegs Plänen für die Rolle der Kirche in der Lehrerausbildung. Daß Religion überhaupt Prüfungsstoff für Lehreraspiranten war, ergibt sich nur mittelbar aus § 113, der auf die Lehrinhalte des § 2 Bezug nimmt. Im Rahmen der Prüfung „ w i r d ein Commissarius der Geistlichen Behörde zugezogen". Über dessen Rechte hinsichtlich der Prüfung schweigt der Entwurf. Die Handschrift des Kultusministers zeigen aber deutlich wieder die Vorschriften über die Errichtung von Privatschulen (§65). Insbesondere „das Bedürfnis . . . den bestehenden öffentlichen Schulen gegenüber" war vor der Konzessionierung in Erwägung zu ziehen - Konkurrenz also zu unterbinden. Allerdings wurde ein Bedürfnis unterstellt, wo die Schule im Interesse 21*
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solcher Kinder errichtet werden sollte, „für welche eine besondere Konfessionsschule am Orte nicht besteht" (§ 165 II). Nimmt man alles in allem, so hat sich Bethmann-Hollweg mit seinem wesentlichen Anliegen, eine innige Verbindung von Kirche und Staat im Schulwesen und einen institutionellen Zwang zum vertrauensvollen Zusammenwirken beider Gewalten zu schaffen, nur ansatzweise durchsetzen können. Immerhin hat er die von einigen befürwortete völlige Trennung von Kirche und Schule vermeiden können. Das Verfahren freilich war so gestaltet worden, daß die bereits im Vorfeld der Gesetzgebung geplante Herbeiführung eines Einverständnisses mit den kirchlichen Behörden unterblieb und damit der staatliche Anspruch auf die souveräne Gestaltung des Schulwesens unterstrichen wurde. V.
Abschließend sei noch ein Blick auf einige Regelungen des Entwurfs geworfen, die offenbar nicht umstritten waren, aber doch wohl einiges Interesse beanspruchen können. 1. Die Schulpflicht für die öffentliche Volksschule begann mit dem vollendeten 6. und endete mit der Entlassung nach Vollendung des 14. Lebensjahres (§ 21). Der Endtermin fiel mit dem in der evangelischen Kirche geltenden Konfirmationsalter zusammen, der Beginn wurde mit pädagogischen Erkenntnissen über die Schulreife begründet (Motive §§ 21 - 25). Für die Zeit vorher werden Spielschulen oder Kinderbewahranstalten oder Kindergärten empfohlen (Motive §§ 21 - 25, Entwurf § 169); deren Vermehrung erwartete man gerade wegen der später einsetzenden Schulpflicht. 2. Nachdem durch Kabinettsordre vom 6. April 183 9 3 5 und Gesetz vom 16. Mai 1853 36 die Kinderarbeit eingeschränkt worden war, mußte der Kollision zwischen Schulpflicht und Kinderarbeit Rechnung getragen werden 37 . Das Unterrichtsgesetz verfolgte dabei den Weg einer Mindestgarantie für den Schulunterricht. Nach § 23 sollte für Kinder, die das 12. Lebensjahr vollendet hatten - offenbar also nicht für jüngere - und deren altersgemäße Kenntnisse im Lesen, Schreiben, Rechnen und in der Religionslehre vom 35
G. S. 1839, Nr. 2005, S. 156 - 158. G. S. 1853, Nr. 3750, S. 225 - 227. 37 Während das Gesetz v. 1839 Kinderarbeit noch ab dem vollendeten 9. Lebensjahr nach dreijährigem Schulbesuch zuließ, ohne Schulbesuch erst ab dem vollendeten 16. Lebensjahr, steigerte das Gesetz v. 1853 das Mindestalter auf 10 (ab 1.7.1853), 11 (ab 1.7.1854) und 12 Jahre (ab 1.7.1855). Zu weiteren Reskripten, die Schulpflicht von Kinderarbeitern betreffend, s. O. Ebmeyer, Die Rechtsverhältnisse der Preußischen Elementarschulen und ihres Lehrers, Frankfurt/Oder 1861, S. 88ff. Die Gesetzgebung zeigt insgesamt, daß die Schulpflicht als Mittel zur Bekämpfung der Kinderarbeit eingesetzt wurde. 36
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Lehrer bestätigt wurden, die Unterrichtszeit auf täglich 3 Stunden herabgesetzt werden; daneben also sollte offenbar die Lohnarbeit möglich bleiben. Es folgt aber die weitere Einschränkung, daß die volle Schulpflicht erhalten bleiben sollte, wo keine gesonderten Schuleinrichtungen „für solche und namentlich in Fabriken in größerer Zahl arbeitende Kinder" bestünden und wo sich der Unterricht in der öffentlichen Volksschule nicht so ordnen lasse, „daß die in Dienst und Arbeit stehenden Kinder an einem täglich mindestens dreistündigen Unterricht in den notwendigsten Lehrgegenständen ohne Beeinträchtigimg des Schulzwecks im Ganzen Anteil nehmen". Die Kosten der erforderlichen besonderen Schuleinrichtungen wollten die Motive „den Fabrikbesitzern und Arbeitgebern, welche den Nutzen von der Arbeit der Kinder erzielen", auferlegt wissen. Anderenfalls müsse das Gesetz „der Fürsorge für die unerläßliche Bildung der Jugend den Vorzug einräumen vor der Erleichterung des Verdienstes durch Arbeit". 3. Der Gesetzentwurf gehört einer Zeit an, in der man die Besoldung der Lehrer ein für allemal glaubte festlegen zu können. So werden im Entwurf feste Mindestsätze genannt, und die durchaus erkannten Geldwertverschlechterungen sollen durch anteilige Naturalleistungen aufgefangen werden. Unterschieden wird zwischen Stadt und Land, nicht aber nach dem Familienstand. Bei den Alterszuschlägen w i r d aber die Annahme zugrunde gelegt, daß eines Tages der Lehrer eine Familie mit drei Kindern haben w i r d (§ 31 - 40, dazu die Motive). Die Mindestbesoldung für Lehrerinnen bleibt um 20% (auf dem Lande) bis 40% (in der Stadt) hinter der entsprechenden Lehrerbesoldung zurück, weil „von ihnen angenommen werden muß, daß sie während ihrer Amtszeit keinen Hausstand gründen" - das „Fräulein" als Dauerzustand. 4. Der Lehrerinnen wird auch im Abschnitt über die Seminarien gedacht. § 112 sieht, „soweit erforderlich", die Errichtung von eigenen Seminaren für Lehrerinnen vor, und für die Prüfung von Lehrerinnen, die an höheren Töchterschulen unterrichten, wird ein besonderes Reglement des Unterrichtsministers in Aussicht gestellt (§ 121). 5. Mit den Juden und Dissidenten, also Sektenangehörigen, beschäftigt sich der letzte Abschnitt des Unterrichtsgesetzes. Er ist geprägt durch das Bestreben, für Kinder von Juden eine gleichwertige Schulbildung sicherzustellen. Sie sollten die öffentlichen Volksschulen besuchen können, ohne zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet zu sein (§ 170). Die Errichtung von Privatschulen sollte jüdischen Ortseinwohnern freigestellt sein; eine Bedürfnisprüfung sollte dabei nicht stattfinden (§ 171). Die Errichtung öffentlicher Volksschulen für Kinder jüdischer Einwohner wurde in § 172 vorgesehen, wenn wenigstens 40 Kinder vorhanden waren. Eltern jüdischer Kinder sollten nachweisen müssen, daß jedes schulpflichtige Kind Religionsunterricht empfange.
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Entsprechendes sollte für religiöse Vereine gelten, die Korporationsrechte besaßen, andere blieben auf die öffentlichen Volksschulen verwiesen bei Befreiung von der Pflicht zur Teilnahme am Religionsunterricht (§ 177). Moritz August von Bethmann-Hollwegs Entwurf ist nicht Gesetz geworden. Mit dem Scheitern des Kabinetts der „Neuen Ära" war auch dieses Gesetzesvorhaben zum Scheitern verurteilt. Als Momentaufnahme der nach der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Gestaltung des Schulwesens ringenden Kräfte, als Monument eines zwar neue soziale Entwicklungen aufgreifenden, den liberalen Grundströmungen seiner Zeit aber zu deutlich zuwiderlaufenden politischen Willens darf dieser Versuch aber wohl auch heute noch ein gewisses Interesse beanspruchen.
Luxus und bürgerliche Gesellschaft Samuel Simon Wittes Schrift „Über die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze" (1782) Von Diethelm Klippel A. Im Jahre 1779 stellte die Baseler „Aufmunterungsgesellschaft" in einem Preisausschreiben die Aufgabe, folgende Frage literarisch zu beantworten: „In wie fern ist es schicklich, dem Aufwande der Bürger, in einem kleinen Freystaate, dessen Wohlfahrt auf die Handelschaft gegründet ist, Schranken zu setzen?"1 Es liefen 28 Antworten ein. 2 Zwei Schweizer teilten sich den 1. Preis: Leonhard Meister und Johann Heinrich Pestalozzi; ein französischer Autor erhielt den 2. Preis. 3 Das Manuskript des Bützower Professors für Natur- und Völkerrecht Samuel Simon Witte traf zu spät in Basel ein, so daß es bei der Preisvergabe nicht mehr berücksichtigt wurde. 4 Der Beitrag erschien 1782 in Leipzig im Druck. 5 Die Preisfrage klingt unverfänglich. Sie wirft aber das Problem der Definition des Luxus, seiner Beurteilung und seiner vom Staat zu ziehenden Grenzen auf. Damit führt sie in Kernbereiche der moralphilosophischen, naturrechtlichen, wirtschafts-, gesellschafts- und staatstheorethischen Diskussion des 18. Jahrhunderts, insbesondere in die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Individuum und Staat. Die historische Forschung hat dies seit langem erkannt, so daß es an einschlägiger Literatur - vor allem über Kleiderordnungen als besonders verbreitete Art von Aufwandsgesetzen und über die Theorie des Luxus - nicht mangelt. 6 Dennoch bestehen 1 Ueber die Aufwandgesetze. Sammlung einiger Schriften, welche bey der Aufmunterungs-Gesellschaft in Basel eingeloffen sind, über die Frage . . , Basel 1781, S. I. 2 Ebd. 3 Ebd., S. Ilf. 4 Ebd., S. VII; Witte (Fn. 5), S. Ulf. 5 Samuel Simon Witte, Ueber die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze. Eine Beantwortung der darüber durch die Aufmunterungs-Gesellschaft zu Basel im Jahre 1780 aufgegebenen Preisfrage, Leipzig 1782. 6 Vgl. u.a. Wilhelm Roscher, Ueber den Luxus (1843), in: ders., Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, 3. Aufl., Bd. 1, Leipzig u. Heidelberg 1878, S. 103ff.; Theo Sommerlad, Art. Luxus, in: Hwb. d. Staatswiss, Bd. 6, 3. Aufl., Jena 1910, S. 537ff. (m. Hinw. auf d. ältere Lit.); Carl Landauer, Die Theorien der Merkantilisten und Physiokraten über die ökonomische Bedeutung des Luxus, München 1915; Werner Sombart, Luxus und Kapitalismus, 2. Aufl., München u. Leipzig 1922 (Neudr. 1983 u.d.T.: Liebe, Luxus und Kapitalismus); Erich Buchner,
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zahlreiche Forschungslücken; selbst die deutschsprachigen Quellen sind noch längst nicht alle bekannt, geschweige denn ausgewertet. 7 Speziell auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte fehlt es, auch nachdem Michael Stolleis die paradigmatische Bedeutung der Luxusverbote festgestellt hat 8 , u. a. an Arbeiten, die sich mit der Theoriegeschichte der Aufwandsgesetze beschäftigen. Im Folgenden geht es um Veränderungen in den theoretischen Grundlagen der Diskussion über Luxusverbote, des näheren um den Prozeß des Legitimationsverlustes der Aufwandsgesetze. Aufwandsgesetze dienten dazu, unerwünschten Luxus der Untertanen zu verbieten oder einzudämmen 9 ; ihre Notwendigkeit wurde religiös, moralisch, ständepolitisch oder ökonomisch begründet. 10 Im Laufe des 18. Jahrhunderts trat zunehmend eine ökonomische Betrachtungsweise in den Vordergrund; mit der Ökonomisierung Hand in Hand ging eine Relativierung des Luxusproblems, die dazu führte, daß die Zweckmäßigkeit von Aufwandsgesetzen bestritten wurde - noch nicht aber die Rechtmäßigkeit (B). Gegen Ende des Jahrhunderts nun werden Aufwandsgesetze immer mehr als unerlaubte Eingriffe des Staates in die Freiheit des Individuums und der Gesellschaft angesehen. Das setzt voraus, daß eine als eigenständig geschützte Position individueller Freiheit angenommen wird und Staat und Gesellschaft gedanklich getrennt werden. Für beides bietet die Schrift von Samuel Simon Witte ein frühes und in vieler Hinsicht erstaunliches Beispiel; zudem verpflichtet er den Staat auf die freiheitliche Struktur der Gesellschaft (C). Demnach ist die verbreitete Auffassung zu revidieren, erstmalig habe August Ludwig Schlözer in seinem „Allgemeinen Staatsrecht" von 1793 klar zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft unterschieDas Luxusproblem in dogmengeschichtlicher Betrachtung, phil. Diss. Erlangen 1937; Michael Stolleis, Luxusverbote, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. IV, Rechtsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Dilcher / Norbert Horn, München 1978, S. 145ff.; ders., Art. Luxusverbote, in: Hwb. z. Dt. Rechtsgesch., Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 119ff. (jeweils m. w. Lit.); Veronika Baur, Kleiderordnungen in Bayern vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, München 1975; Michael Stürmer, Höfische Kultur und frühmoderne Unternehmer. Zur Ökonomie des Luxus im 18. Jahrhundert, HZ 229 (1979), S. 265ff.; Peter Albrecht, Die Nationaltrachtsdebatte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, in: Jb. f. Volkskunde NF X (1987), S. 43ff.; Ulrich-Christian Pallach, Materielle Kultur und Mentalitäten im 18. Jahrhundert. Wirtschaftliche Entwicklung und politisch-sozialer Funktionswandel des Luxus in Frankreich und im Alten Reich am Ende des Ancien Régime, München 1987. 7 Vgl. nur die zahlreichen Nachweise insb. von Zeitschriftenaufsätzen des 18. Jahrhunderts bei Albrecht (Fn. 6); Literatur auch bei G. F. Lamprecht, Versuch eines vollständigen Systems der Staatslehre, Bd. 1, Berlin 1784, S. 404. 8 Stolleis, Luxusverbote, in: Sozialwissenschaften (Fn. 6), S. 150f. 9 Überblicke über die Regelungsbereiche von Luxusverboten gibt Stolleis, Luxusverbote, in: Sozialwissenschaften (Fn. 6), S. 145, 146, und Art. Luxusverbote (Fn. 6), Sp. 119. 10 Stolleis, Luxusverbote, in: Sozialwissenschaften (Fn. 6), S. 147f.; ders., Art. Luxusverbote (Fn. 6), Sp. 120f.
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den. 11 Die von Witte vertretenen theoretischen Positionen sind insbesondere von physiokratischen Lehren und von der englisch-schottischen Moralphilosophie beeinflußt (D). Sie gehen in dem breiten Strom der seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland stärker vertretenen liberalen politischen und ökonomischen Theorie auf, die keinen Raum mehr bietet für eine - wenn auch wohlwollende - Fürsorge des Staates durch „gute Policey" und Aufwandsgesetze (E). Die Untersuchung einiger Auffassungen des 18. Jahrhunderts zur Zweckund Rechtmäßigkeit von Aufwandsgesetzen soll ein weiterer Beleg für Paul Mikats Erkenntnis sein, daß „die" Aufklärung keine einheitliche Größe, sondern „eine mannigfach verzweigte Bewegung mit den verschiedensten Wurzeln und Strömungen" war. 1 2 Gerade die Schrift Wittes, mag sie auch ein gründlich vergessener Ausnahmefall sein, zeigt im übrigen, wie breit das Spektrum des politischen Denkens in Deutschland selbst vor der Französischen Revolution war: Wittes Konzept einer bürgerlichen „VermögensGesellschaft" weist nicht nur einige erstaunliche Parallelen zu Hegel auf (unten E II). Vielmehr enthält es darüber hinaus, u.a. indem der Staat den Zwecken der Gesellschaft untergeordnet wird, explizit Charakteristika eines im 19. Jahrhundert verbreiteten liberalen Staats- und Gesellschaftsmodells, das für das 18. Jahrhundert meist mühsam aus dem Oeuvre von dafür kaum geeigneten europäischen politischen Denkern abgeleitet wird. B. Überblickt man auch nur einen Teil der im 18. Jahrhundert erschienenen Schriften über Charakter, Auswirkungen und Grenzen des Luxus, so erscheint die Vielfalt der vertretenen Auffassungen und Argumente als verwirrend. Schon 1770 beklagt ein Rezensent in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek", daß seit „dreyßig Jahren . . . politische und moralische Schriftsteller über den Luxus" stritten, aber zu „unendlich verschiednen Begriffen und Erklärungen" gekommen seien. 13 Selbst innerhalb des Mer11 So Adalbert von Unruh, Dogmenhistorische Untersuchungen über den Gegensatz von Staat und Gesellschaft vor Hegel, Leipzig 1928, S. 29; Ulrich Scheuner, Hegel und die deutsche Staatslehre des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Studium Berolinense, Berlin 1960, S. 131 f f , 131 Anm. 6 (auch in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, Berlin 1978, S. 81 ff.); Manfred Riedel, Der Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft" und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1969, S. 135ff, 147; ders., Art. Gesellschaft, bürgerliche, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719ff, 754; Jochen Gaile, Menschenrecht und bürgerliche Freiheit, Marburg 1978, S. 14. 12 Paul Mikat, Politische Theorie, pragmatisches Denken und historischer Sinn in den Reformideen des Freiherrn vom Stein, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin, München 1962, S. 395ff. (auch in: ders., Geschichte, Recht, Religion, Politik, hrsg. v. Dieter Giesen / Dietlinde Ruthe, Paderborn 1984, Bd. 1, S. Iff. 13 Allg. dt. Bibliothek, Bd. 11, 2. Stück, 1770, S. 359; der Verf. ist Isaak Iselin, s. Priddat (Fn. 79), S. 133. Vgl. Jakob Rave, Versuche aus dem Rechte der Natur, der Sit-
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kantilismus und der Physiokratie - um zwei Wirtschaftstheorien zu nennen bestehen unterschiedliche Meinungen. 14 So stehen auch im absolutistischmerkantilistischen Staat des Ancien régime Luxusverbote durch Aufwandsgesetze neben der staatlichen Förderung der Erzeugung von Luxusgütern. 15 Dennoch lassen sich speziell im Hinblick auf die Beurteilung von Aufwandsgesetzen verschiedene Entwicklungsstufen erkennen, die jedoch zeitlich ineinander übergehen. I. Wird der Luxus - aus welchen Gründen auch immer 1 6 - als uneingeschränkt schädlich angesehen, so erfordert es das Selbstverständnis des absolutistischen Fürstenstaates, mit Aufwandsgesetzen dagegen vorzugehen, so z.B. durch Kleiderordnungen: „Daher in einem wohl geordneten Regimente gute Kleider-Ordnungen eingeführet, und darinnen einem jeden Stand und Ordnung eine gewisse Kleidung nicht nur vorgeschrieben, sondern auch der Kostbarkeit ein Maß gesetzet wird . . . " 1 7 Daraus ergeben sich vor allem zwei Zielsetzungen von Aufwandsgesetzen: Sie dienen der Verdeutlichung ständischer Grenzen und wirtschaftlichen Zwecken. Die vorher verbreiteten ethisch-moralischen Gründe sind im 18. Jahrhundert zwar durchgehend noch vorhanden 18 , spielen aber - wie im übrigen auch der Hinweis auf den Unterschied der Stände - zunehmend eine untergeordnete Rolle. 19 II. In den Vordergrund tritt nämlich eine von der merkantilistischen Wirtschaftstheorie getragene ökonomische Sichtweise des Luxus. Charakteristisch dafür ist, daß nicht nur quantitativ zwischen unschädlichem und schädlichem - weil übermäßigem - Luxus unterschieden wird, sondern auch zwischen einem solchen, der auf inländischer Warenproduktion beruht und diese daher begünstigt, und ausländischen, importierten Luxusgütern. 20 ten- und Klugheitslehre, Jena 1765, S. 93: „Man hat bis hieher noch nicht einig werden können, ob man die Ueppigkeit als eine Pest eines Staates, oder als einen unverwerflichen Zeugen seines Flores ansehen soll." 14 Landauer (Fn. 6), S. 63ff., 116ff. 15 Ebd., S. 63. 16 Vgl. z. B. Johann Heinrich Zedier, Art. Kleid, in: Großes vollständiges Universal Lexicon, Bd. 15, Halle u. Leipzig 1737, Sp. 889ff., 889: Durch Überfluß würden „der Unterschied der Personen, ja die Ehrbarkeit aufgehoben, die Mittel verschwendet, Schulden gemacht, und unschuldige Leute mit in Schaden gesetzt"; Rave (Fn. 13), S. 100ff., führt einen ganzen Katalog von typisch merkantilistischen Gründen an, weshalb der Luxus schädlich sei. 17 Zedier (Fn. 16); auch Rave (Fn. 13), S. 125, hält „Kleider, Gesinde, Trauer, Hochzeits- und Tischordnungen" als „nützliche und heilsame Gesetze eines Staats" für notwendig; ähnlich Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Halle 1754, S. 733, vgl. 317. 18 Selbst Witte (Fn. 5) sieht den Aufwand als moralisch und wirtschaftlich schädlich an (S. 7, 23, 18f., 22); dies erscheint jedoch nicht mehr als relevantes Kriterium für die Frage der Schranken des Aufwandes, also für die Notwendigkeit von Aufwandsgesetzen (vgl. S. 2f., 6). 19 Vgl. Stolleis, Art. Luxusverbote (Fn. 6), Sp. 120 f.
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Während der inländisch produzierte vom Staat gefördert werden müsse, sei der letztere zu unterbinden; als Hauptzweck der Aufwandsgesetze gibt sich demnach die Verhinderung des Geldabflusses ins Ausland zu erkennen, während die Hebung von Sittlichkeit und Umgangsformen nur als Nebenzweck erscheint. 21 Daneben gibt es freilich auch Autoren, die den Luxus für „im ganzen vorteilhaft" halten; selbst dies wird lediglich mit ökonomischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten begründet. 22 Die nach ökonomischen Gesichtspunkten vorgenommene Differenzierung zwischen „gutem" und schlechtem" Luxus - die Ökonomisierung des Luxusproblems - führt zugleich zu einer Relativierung, die wiederum Auswirkungen auf die Beurteilung von Aufwandsgesetzen hat. Soll nicht mehr „von gänzlicher Verbannung des Reichthums und des damit verbundenen Luxus, nur von günstiger Richtung desselben" die Rede sein 23 , so werden Effektivität und wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der vorhandenen Aufwandsgesetze insoweit in Frage gestellt, als sie nicht zwischen ökonomisch wünschenswertem und abzulehnendem Luxus unterscheiden. 24 Selbst wenn der Luxus insgesamt wegen seiner moralischen, ökonomischen und politischen Folgen als „eines der größten Verderben der Gesellschaft" angesehen wird 2 5 , erscheint es als unmöglich, Gesetze dagegen zu erlassen, da nicht verbindlich festgelegt werden kann, was in jedem Fall Luxus ist. Mit einem gewissen Grundkonsens über die Verwerflichkeit jeglichen Luxus geht auch die Überzeugung von der rechten Wirksamkeit der Aufwandsgesetze verloren. Folgerichtig werden andere Mittel als die Aufwandsgesetze zum Kampf gegen negativ zu bewertenden Luxus propagiert. Sieht man das „Triebrad des Reichtums" grundsätzlich als wichtig für die ökonomische und politische Struktur des Staates an 2 6 , so erscheinen - um der Erkenntnis der notwendigen ökonomischen Differenzierung und der Relativität des Luxus zu genügen - in erster Linie gute Erziehung 27 und anderweitige Befriedigung 20 So Rave (Fn. 13), S. 107 f , 112 f. Von Einrichtung und Zweck der Gesetze wider den Luxus, Riga 1780, S. X. 22 Lamprecht (Fn. 7), S. 405, 405ff. 23 Leonhard Meister, Abhandlung über die Frage: In wie fern ist es schicklich, dem Aufwande . . . Schranken zu setzen, in: Ueber die Aufwandgesetze (Fn. 1), S. 51; vgl. auch Art. Luxe, in: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 20, Ausg. Genf 1778, S. 554ff., bes. 557. 24 Bedenken gegen die Wirksamkeit von Aufwandsgesetzen bei Johann Heinrich Pestalozzi, Abhandlung über die Frage: In wie fern ist es schicklich, dem Aufwande . .. Schranken zu setzen, in: Ueber die Aufwandsgesetze (Fn. 1), S. 30f.; vgl. Art. Luxe, in Encyclopédie (Fn. 23). 25 Ephemeriden der Menschheit 1777, Bd. 1, S. 158ff., 162. 26 Meister (Fn. 23), S. 25; folglich könne mit „eben so viel Recht als Hobbes den Naturstand bellum omnium contra omnes genennt hat,. . . auch der Staat also heißen, wo jedes Glied, jeder Stand sich selber emporschwingt und andere hinabdrückt", ebd. 27 Ebd., S. 52ff.; Pestalozzi (Fn. 24), S. 39. 21
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des Strebens nach Ehre 2 8 als geeignet, dem unerwünschten Luxus zu steuern: „Bildung und Stimmung des Nationalgeistes für die Pflichten der Gerechtigkeit, der Bescheidenheit und der Hausordnung" 29 , „Beyspiel und herrschende Meinungen" 30 - insbesondere das Beispiel der Regierung selbst 31 - , Belohnung und Aufklärung gelten als wirksamer „als alle w i l l kührliche Einschränkungen der Kleiderpracht, alle von obrigkeitlicher Gewalt verfertigte Küchenzettel" 32 . III. Über diese Zweckmäßigkeitsbedenken hinaus werden auch Einwände hinsichtlich der Rechtmäßigkeit von Aufwandsgesetzen formuliert. Insbesondere die Einschränkung „häuslicher Ueppigkeit" 3 3 stößt bei Leonhard Meister auf Widerstand, der mit „häuslicher Freyheit" 3 4 und „dem Recht des Eigenthums" 35 begründet wird. Zumindest „Thorheiten gehören . . . nicht vor den Thron des Fürsten" 36 , und für die natürliche Freiheit des Menschen besteht eine Vermutung 37 . Allerdings wäre es oberflächlich, bereits hier den entscheidenden Umschwung zugunsten einer prinzipiell ablehnenden Haltung gegenüber Aufwandsgesetzen zu vermuten. Denn dieselben Autoren sehen - scheinbar widersprüchlich - Aufwandsgesetze weiterhin als grundsätzlich völlig legit i m und letztlich rechtlich unproblematisch an: Wenn nämlich die „blos mittelbare Einschränkung des Luxus nicht hinreicht", sei „unmittelbare Einschränkung" zu empfehlen 38 , also obrigkeitliches Einschreiten mittels Aufwandsgesetzen 39 ; es wird - bei allen Vorbehalten - durchaus weiterhin
28 Meister (Fn. 23), 55f.; Johann Jakob Cella, Von der landesherrlichen Gewalt teutscher Regenten in Verbietung des Koffees, Schnürleiber, und andrer zum Luxus gehörigen Stücke, in: ders., Freymütige Aufsätze, Bd. 1, Ansbach 1784, S. 5ff., 32f. (u.a. Belohnungen). 29 Pestalozzi (Fn. 24), S. 31. 30 Meister (Fn. 23), S. 70f.; vgl. Cella (Fn. 28), S. 32f. 31 Pestalozzi (Fn. 24), S. 41. 32 Cella (Fn. 28), S. 32 f. 33 Meister (Fn. 23), S. 65, 66f, vgl. 58f. 34 Ebd., S. 66f.: „Da die häusliche Freyheit, so viel immer möglich, unverletzt seyn muß, da es für die Regierung unanständig seyn würde, Sykophanten und v e r r ä t e r i sche Mücken zu pflegen, so sehn wir nicht, wie die Gastmale in Privathäusern in Absicht auf Speise und Trank können eingeschränkt werden." 3 5 Ebd., S. 70. 36 Cella (Fn. 28), S. 22. 37 Ebd., S. 11. 38 Meister (Fn. 23), S. 57. 39 Ebd., S. 59ff.; ebenso Cella (Fn. 28), S. 28; Gedanken über das Physiocratische System, bey Gelegenheit der Abhandlung des Hrn. Hauptmann Mauvillons von der öffentlichen und Privatüppigkeit, in: Gelehrte Bey träge zu den Braunschweigischen Anzeigen, 1779, Nr. 25 - 28, Sp. 204; vgl. Pestalozzi (Fn. 24), S. 30; auch Lamprecht (Fn. 7), vertritt im Abschnitt „Medicinische Polizei" (S. 244ff.) die Ansicht, dem Staat obliege die Fürsorge für die Kleidung der Untertanen, und fordert, „daß man dergleichen Moden auszurotten suche, die der Gesundheit nachtheilig sind" (S. 262).
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als Aufgabe des Herrschers angesehen, die gefährlichen Auswirkungen des Luxus zu bekämpfen 40 . Der Widerspruch läßt sich auflösen durch einen Blick in die politische Theorie des aufgeklärten Absolutismus, die in die Schriften zum Luxusproblem einfließt. 41 Sie ist weiterhin geprägt von älteren naturrechtlichen Vorstellungen, die von dem Unterschied zwischen einem Naturzustand und einem bürgerlichen Zustand ausgehen. Für den status naturalis ist u. a. die natürliche Freiheit (libertas naturalis) des Menschen charakteristisch, von der freilich durch einen ausdrücklich oder stillschweigend geschlossenen Staatsvertrag nur ein Residuum, nämlich die libertas civilis (bürgerliche Freiheit) übrig bleibt. Entscheidend ist nun, daß die bürgerliche Freiheit nicht eine fest umgrenzte, rechtlich abgesicherte autonome Position des Individuums umschreibt, sondern von vornherein nur insoweit besteht, als der absolutistische Fürstenstaat sie unberührt läßt. Diese Konstruktion ermöglicht jedenfalls theoretisch weitgehende Eingriffe des Polizeistaates des 18. Jahrhunderts, zu dessen Aufgaben eben die Herstellung und Bewahrung „guter Policey" gehört. Mit diesen theoretischen Grundlagen bis zu einem gewissen Grad noch durchaus vereinbar ist das Entstehen eines Gefährdungsbewußtseins gegenüber dem omnipotenten Fürstenstaat und gegenüber allzu restriktiven Auffassungen von der Grenze zwischen „guter Policey" und bürgerlicher Freiheit. C. Eine radikal andere Haltung zu Luxus und Aufwandsgesetzen nimmt Samuel Simon Witte ein. Das gilt nicht nur für die Ergebnisse: Da er die grundsätzliche Auseinandersetzimg über alle Aspekte der Preisfrage sucht 42 , gelingt ihm ein umfassender theoretischer Entwurf zum Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum, der das politische Denken der deutschen Zeitgenossen in vieler Beziehung weit hinter sich läßt. Gemeinsam ist ihnen die naturrechtliche Argumentation 43 , deren Prämissen aber deutlich verändert werden: Einerseits geschieht dies dadurch, daß die Legitimität von Aufwandsgesetzen konsequent an den Freiheitsrechten des Individuums gemessen und verneint wird (I), andererseits dadurch, daß die Freiheit des Individuums ökonomischen und politischen Nachdruck durch die Konzeption einer bürgerlichen Gesellschaft erhält, in deren Gleichgewicht der Staat nicht eingreifen kann, ohne sich Rechtsverletzungen schuldig zu machen und einer ökonomischen Katastrophe entgegenzugehen (II). Mit der politischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus sind diese Auffassungen nicht vereinbar (III). 40
Cella (Fn. 28), S. 31. Explizit bei Cella (Fn. 28), S. 8f.; zum Folgenden Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 35ff, 43ff, 48ff, 57ff. 42 Witte (Fn. 5), S. I V f , X l f . ; Ueber die Aufwandgesetze (Fn. 1), S. VII. 43 Bei Witte (Fn. 5) deutlich z.B. S. V i f , 92; vgl. unten Fn. 47. 41
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I. Wittes Gegenentwurf gegen Merkantilismus und aufgeklärten Absolutismus geht von der Bedeutung des Eigentums aus, das auf Freiheit beruht und der Befriedigung der Bedürfnisse des Individuums dient; schon hieraus folgen Notwendigkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums. 44 Ist aber das Eigentum vom freien Willen des Eigentümers abhängig, der es produziert oder anderweitig erworben hat, so kann diese Abhängigkeit nur durch dessen Willen wieder aufgehoben werden. 45 Geschieht dies anders, nämlich durch Zwang von außen, so greift dies in die „unverletzlichen" Rechte der Freiheit und des Eigentums ein. 46 Von daher verneint Witte eindeutig die Frage nach der (natur-)rechtlichen Möglichkeit von Schranken des Aufwandes: Aufwandsgesetze widersprechen der „Natur des Menschen und seiner Kräfte" und sind „nicht mit den Rechten des Eigenthums verträglich": „Denn worinn besteht die Eigenthümlichkeit anders, als in dem ausschließenden sittlichen Vermögen, mit den Dingen nach unsern Neigungen zu verfahren, und sie zur Befriedigung unsrer Bedürfnisse anzuwenden; und wird dann dieß nicht durch eine jede gesetzliche Vorschrift, wodurch man das Maß dieses Gebrauches bestimmt, eingeschränkt und gewissermaßen aufgehoben? Kann man aber dieß thun, ohne zugleich in die wesentlichsten Rechte des Menschen, welches seine persönlichen Befugnisse sind, Eingriff zu thun, und sie unbrauchbar zu machen? da das Eigenthum die Materie ausmacht, worinn der Mensch seine persönlichen Rechte ausübt, und den Wirkungskreis der menschlichen Freyheit bestimmt." 4 7 II. Nach den Grundsätzen des Naturrechts seiner Zeit müßte Witte nun mit dem Einwand rechnen, dies alles gelte vielleicht für den Naturzustand des Menschen, also außerhalb des Staates, nicht aber im Staat. Folglich muß die Frage beantwortet werden, ob nicht die notwendige Einschränkung der Freiheit des Individuums im Staat durch Staatszweck und Gemeinwohl Aufwandsgesetze jedenfalls grundsätzlich rechtfertigt 48 ; trotz aller Bedenken im übrigen bejaht die deutschsprachige Literatur, wie gezeigt, dies in aller Regel. In der Frage steckt eine gewisse Brisanz, da sie auf die Schranken des aufgeklärt absolutistisch regierten Staatswesens zielt. Witte ent44
Ebd., S. 14f. Ebd., S. 15, 16f. 46 Ebd., S. 15, 16. 47 Ebd., S. 46f.; daß Witte nicht nur die „Schicklichkeit", sondern die (Natur-) Rechtmäßigkeit der Aufwandsgesetze im Auge hat, wird auf S. 70 noch einmal deutlich. Daneben bewegt Witte sich - neben der rechtlichen Argumentation - auch in bekannteren Bahnen, wenn nämlich die Relativität des Luxus festgestellt wird, für den es weder ein natürliches objektives Maß gebe, noch ein natürliches subjektives Maß in Gestalt der individuellen Bedürfnisse, noch ein Maß aus Art und Rang der Bedürfnisse im Verhältnis zueinander; folglich sei eine allgemeine gesetzliche Bestimmung darüber schon „physisch unmöglich" (S. 34ff., 45). 48 Ebd., S. 47ff. 45
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wirft als Antwort das liberale Modell einer begrifflich vom Staat zu trennenden Gesellschaft, die als Wettbewerbsgesellschaft wirtschaftender und durch Freiheitsrechte geschützter Individuen prinzipiell unabhängig vom Staat ist. 4 9 1. Da der Mensch „als freyes Wesen nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit trachtet", habe ihm die häusliche Gesellschaft - die „Dienstund Arbeit-Gesellschaft" - als Grundlage seines Wirtschaftshandelns nicht genügt. 50 Folglich sei die bürgerliche Gesellschaft als „Vermögens-Gesellschaft" gegründet worden, um (1) „Personen in der Nähe zu haben, mit welehen man tauschen" kann und (2) „sich insonderheit des f rey en Genusses der Producte seiner Kräfte oder seines Eigenthums zu versichern". 51 Diese „Vermögens-Verbindung oder die eigentliche bürgerliche Verbindung" kennzeichnet Witte als „Vereinigung zur wechselseitigen Befriedigung der Bedürfnisse durch wechselseitigen freyen Umsatz der Producte der Kräfte oder des Vermögens und der Güter". 5 2 Sie gibt sich dadurch, in der Terminologie Macphersons, als „possessive market society" 53 zu erkennen, als Wettbewerbsgesellschaft wirtschaftender Individuen: „Jeder arbeitet hier . . . vor sich, sucht sein eignes Intresse und soll es auch suchen" ; gerade dadurch dient jeder auch den Interessen des anderen. 54 Folgerichtig sieht Witte das Gemeinwohl in der „Vereinigimg der einzelnen Intresse und Bedürfnisse durch die wechselseitige Abhängigkeit ihrer Befriedigung" 55 , identifiziert es also mit den Voraussetzungen einer Eigentümer- und Marktgesellschaft. Wichtig ist nun, daß die Wechselwirkung der individuellen Wirtschaftskräfte in einem harmonischen Gesamtsystem resultiert: Gerade dadurch, daß jeder seine eigenen Interessen verfolgt, nützt er dem anderen und verhält sich systemkonform; gerade dadurch entsteht ein „Gleichgewicht freyer Kräfte gegen einander" 56 . Bereits dieses immanente Gleichgewicht der bürgerlichen Gesellschaft verbietet Eingriffe des Staates; für Witte 49 Dieses Modell steht im Gegensatz zu der älteren Auffassung, in der Staat und Gesellschaft begrifflich noch nicht auseinandergetreten sind; dazu Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche (Fn. 11), S. 719ff.; ders., Begriff (Fn. 11), S. 135ff.; John Keane, Despotismus und Demokratie. Über die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat 1750- 1850, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Jürgen Kocka, Bd. 1, München 1988, S. 303ff., 303. so Witte (Fn. 5), S. 60f, 62. 51 Ebd., S. 61 f. 52 E b d , S. 62 f. 53 C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962. 54 Witte (Fn. 5), S. 67. 55 E b d , S. 66; vgl. S. 75: „Der wesentliche Zweck dieser Gesellschaft besteht in der Befriedigung der individuellen Bedürfnisse durch die freye wechselseitige Vertauschung der Kraftproducte oder den bürgerlichen Verkehr; und eben hierauf gründet sich nach dem vorhergehenden das gemeine bürgerliche Wohl." 56 E b d , S. 15.
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besteht kein Zweifel, „daß die bürgerliche Gesellschaft ihrer wesentlichen Verfassung nach die vollkommenste und feinste Einrichtung ist, die sich mit der Freyheit und Sittlichkeit des Menschen, und den sich darauf beziehenden Rechten des Eigenthums am beßten verträgt". 5 7 2. Von der bürgerlichen Gesellschaft deutlich zu unterscheiden ist nun „diejenige Verbindung, die man die Verbindung der Macht, die politische oder Staatsverbindung nennen kann". 5 8 Erst nach Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft entsteht sie durch Vertrag, um zu gewährleisten, daß die beiden Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft erreicht werden - aber sie entsteht nur „so weit, als es dazu nöthig war". 5 9 Der erhöhte Stellenwert der Rechte des einzelnen und das der bürgerlichen Gesellschaft immanente Gleichgewicht müssen zu einem bestimmten Verhältnis von Gesellschaft und Staat führen. Witte trennt sie also nicht nur begrifflich, sondern legt zugleich den Primat der Ziele und der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft fest: Es ist „die Staatsverbindung der bürgerlichen Vereinigung untergeordnet..., weil erstere nur das Mittel zur Beförderung des Zweckes der letzteren ist"; die Staats Verbindung ist „gleichsam nur das äußere Gehäuse . . . , das das innere Getriebe der Kräfte und das bürgerliche Gewerbe einschließt und bewahrt, welches gleichsam die Seele ausmacht, die den Cörper der bürgerlichen Gesellschaft belebt". 6 0 Aus der Festlegung des Staates auf die Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft folgt endgültig seine Verpflichtung auf Abstinenz von Eingriffen in die bürgerliche Gesellschaft: „Die politische oder höchste Macht soll und kann .. . die Wirksamkeit der in der bürgerlichen Gesellschaft arbeitenden Kräfte nicht bestimmen, anbefehlen und vorschreiben . . . " 6 1 3. Es liegt auf der Hand, daß Freiheit und Eigentum des Individuums durch die Integrierung in ein darauf aufgebautes gesellschaftliches System eine neue Dimension des Schutzes erhalten: Ein Eingriff des Staates stellt so zugleich einen Angriff gegen das Gesamtsystem dar, der die Grundlagen von Staat und Gesellschaft und vor allem das ökonomische Wohl gefährdet. Da das Gemeinwohl gerade in der „f rey en E n t w i c k l u n g der Kräfte und Neigungen" 62 besteht, also in der Respektierung der Rechte und Bedürfnisse des Individuums und in der Bewahrung der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, kann es nicht mehr wie bisher zur Beschränkung von Freiheit und 57
Ebd., S. 69. Ebd., S. 62; Witte gerät allerdings dadurch in terminologische Schwierigkeiten, daß er bürgerliche Gesellschaft und „StaatsVerbindung" zwar deutlich unterscheidet, sie dann aber „durch das engste Band vereiniget sieht": sie „machen dasjenige Ganze aus, was man mit einem Worte den Staat oder das gemeine Wesen nennt" (S. 63). 59 Ebd., S. 62. 60 Ebd., S. 64. 61 Ebd., S. 63. 62 Ebd., S. XVII. 58
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Eigentum im Staat herangezogen werden; Entsprechendes gilt für den Staatszweck. Insbesondere sind wie auch immer geartete Einschränkungen des freien Handels aufzuheben. 63 Diesen Grundsätzen widerspricht es selbstverständlich auch, wenn der „Gebrauch des bürgerlichen Vermögens" - und damit der Aufwand gesetzlich eingeschränkt wird. Witte macht dies in seinen abschließenden, speziell den Aufwandsgesetzen geltenden Ausführungen noch einmal deutlich. Erstens widersprächen Eingriffe in die freie Verfügung über das Vermögen der Zweckbestimmung menschlicher Tätigkeit, dem Individuum den Genuß der Früchte seiner Arbeit zu verschaffen: „Von dem Menschen . . . fordern, immer für das gemeine Beßte zu arbeiten, und unaufhörlich jedes Product seiner Kräfte dazu anzuwenden, ohne es selbst zu genießen und sich zuzueignen, ist ein höchst ungerechtes Verlangen; weil es demselben die Früchte seiner Arbeit entzieht, sein Eigenthumsrecht schmälert.. . " 6 4 Zweitens verstießen gesetzliche Schranken des freien Gebrauchs des Vermögens gegen den Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, die „Befriedigung der individuellen Bedürfnisse durch die freye wechselseitige Vertauschung der Kraftproducte oder den bürgerlichen Verkehr". 65 Mit der Reglementierung der individuellen Bedürfnisse sei auch das Gemeinwohl verfehlt, da es nur als Quelle des Individualwohls Bestand und Wert haben könne. 66 Drittens seien gesetzliche Eingriffe nicht mit dem Eigentumsrecht vereinbar; selbst ein Verschwender könne sich darauf berufen und schade im übrigen nur sich selbst, nicht der Gesellschaft, so daß Einschränkungen „sowohl widerrechtlich als überflüssig" seien. 67 Viertens schließlich seien Schranken der freien Verfügung über das Vermögen wirtschaftlich schädlich, da sie die „Triebfeder" menschlicher Tätigkeit, nämlich die Bedürfnisbefriedigung, behindern würden und damit auch das Wohl der bürgerlichen Gesellschaft. Um eine ungesunde Konzentration der Neigungen und Kräfte zu vermeiden, sei zudem eine ständige Veränderung der Bedürfnisse erforderlich, so daß z.B. die Mode eine durchaus wichtige Funktion erfüllt: „Die Mode ist demnach in der bürgerlichen Gesellschaft eben das, was der Wind in der Natur ist." 6 8 Auch der Außenhandel hat nach Witte diese Funktion. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen die merkantilistische Wirtschaftsdoktrin, daß Export positiv, Import 63 Ebd., S. 90; ebenso Witte, Versuch über die Bildung der Völker zur Vernunft, Berlin 1786, S. 99 f. Neben Handels- und Gewerbefreiheit fordert Witte „Freyheit des Glaubens und Denkens . . ., Freyheit der Presse", ebd., S. 100; die Forderung nach Pressefreiheit auch bei dems., Aufwandsgesetze (Fn. 5), S. VIII. 64 Witte (Fn. 5), S. 73. 65 Ebd., S. 75. 66 Ebd., S. 75. 67 Ebd., S. 76ff., ZitatS. 77. 68 Ebd., S. 78ff., ZitatS. 79.
22 Festschrift P. Mikat
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aber negativ zu bewerten ist: Witte sieht hier einen „Kreislauf", der durch ein „Volk, das bloß einnehmen, und nicht ausgeben wollte", gestört würde. 69 Es versteht sich, daß alle diese Grundsätze auch auf einen kleinen Handelsstaat - dem die Preisfrage eigentlich galt - anzuwenden sind. 70 III. Welche Behauptungen und Argumente Wittes die herrschende Doktrin des merkantilistisch-absolutistischen Staates besonders trafen, zeigt sich an dem ausdrücklichen Widerspruch von Andreas Ludolph Jacobi. 71 Jacobi wirft der Theorie Wittes vor, daß sie in der Staats- und Wirtschaftspraxis nicht brauchbar sei 72 : Eine uneingeschränkte Freiheit des Eigentums sei sowohl mit dem „wahren Besten" des Individuums als auch mit dem Gemeinwohl nicht zu vereinbaren. 73 Folglich sei es die Pflicht des Staates, u. a. Einschränkungen des Handels vorzunehmen und Aufwandsgesetze zu erlassen, um dem Staatszweck und dem Gemeinwohl gerecht zu werden. 74 Jacobi lehnt das Modell einer Gesellschaft ab, in der gerade die konsequente Verfolgung des eigenen Interesses systemkonform und Voraussetzung zu einem sich selbst stabilisierenden Gleichgewicht ist. 7 5 Daneben liege es auch im Interesse des einzelnen, ihn von Selbstschädigungen abzuhalten. 76 Damit zeichnet Jacobi erneut das Bild des aufgeklärt absolutistischen Fürstenstaates, der durch „gute Policey" und Gesetzgebung für das Gemeinwohl und für die Glückseligkeit des Individuums sorgt. D. Der Kontrast zu den vorherrschenden Auffassungen der Zeit führt zu der Frage, wer dieser Samuel Simon Witte mit den für seine Zeit so erstaunlichen Ansichten war und unter welchen Einflüssen oder nach welchen Vorbildern Witte seine Staats- und Gesellschaftstheorie entwickelte.
69 E b d , S. 82; Export ist also „nicht ohne Gegenverkehr, und also auch nicht ohne Einführung fremder Bedürfnisse und Producte möglich" (S. 81 f.). 70 E b d , S. 85 ff. 71 Jacobi, Einige Staatsangelegenheiten, Celle 1787, gegen Witte bes. S. 111 ff. 72 E b d , S. 112 f. 73 E b d , S. 116, 121, 125. 74 E b d , S. 119ff., 122ff., 128f, 131f. 75 E b d , S. 130f.: „Zusammengesetzte Kräfte können nicht nach verschiedenen Richtungen wirken, ohne das Ganze zu zerstöhren, und ihre eigene Thätigkeit zu schwächen." Folglich müsse jede Kraft eingeschränkt werden, wenn sie eine verkehrte Richtung einschlage. Vgl. dagegen Witte (Fn. 5), S. 68f.: In der bürgerlichen Gesellschaft.. . wirken alle Kräfte in der Diagonallinie, so daß sich die verschiedenen Richtungen, denen sie folgen, einander durchkreuzen und in gewissen Punkten schneiden." Diese Kräfte „theilen sich nur wechselweise ihre Stoßkraft mit, und gelangen, indem sie sich aus dem Berührungspunkte von einander entfernen, auf verschiedenen Wegen zu ihrem besonderen Ziele . . . Bey dieser Divergenz der Kräfte kann daher kein gemeinschaftliches Product, und also auch weder getheilter, noch ungetheilter Genuß desselben statt finden; sondern jeder erhält. . . durch die Rückwirkung das Resultat seiner Wirkung zurück, gewinnt dadurch neue Stärke . . . " 7 6
Jacobi
( F n .
71),
S.
1 3 3 .
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I. D i e biographischen H i n w e i s e s i n d bisher w e n i g e r g i e b i g 7 7 : W i t t e w u r d e 1738 i n Röbel (Mecklenburg) geboren, studierte i n Rostock, Jena u n d B ü t zow u n d w u r d e 1766 an der zuletzt genannten U n i v e r s i t ä t , d a n n 1789 i n Rostock ordentlicher Professor f ü r N a t u r - u n d V ö l k e r r e c h t ; er starb 1802. Z u d e m ist b e k a n n t , daß er M i t a r b e i t e r v o n C h r i s t o p h F r i e d r i c h Nicolais „ A l l g e m e i n e r deutscher B i b l i o t h e k " ( A D B ) w a r , i n der er entsprechend dem v o n i h m an der U n i v e r s i t ä t vertretenen Fach v o r w i e g e n d Bücher aus dem Gebiet des N a t u r - u n d Völkerrechts rezensierte. 7 8 I m m e r h i n läßt sich aus den besprochenen T i t e l n entnehmen, daß W i t t e N a t u r - u n d V ö l k e r r e c h t n i c h t n u r i n n e r h a l b der deutschen T r a d i t i o n e n betrieb, sondern auch andere P u b l i k a t i o n e n kannte. II. Einige Übereinstimmungen
lassen sich zwischen W i t t e u n d
den
deutschsprachigen P h y s i o k r a t e n feststellen. 7 9 Zunächst f r e i l i c h scheint es so, als ob die P h y s i o k r a t e n l e d i g l i c h eine V a r i a n t e der R e l a t i v i e r u n g u n d Ö k o n o m i s i e r u n g des L u x u s p r o b l e m s vertreten. D e n n gemäß der p h y s i o k r a tischen W i r t s c h a f t s d o k t r i n b e u r t e i l t Johann A u g u s t S c h l e t t w e i n
Luxus
danach, ob er u n m i t t e l b a r , m i t t e l b a r oder ü b e r h a u p t n i c h t der l a n d w i r t schaftlichen P r o d u k t i o n zugute k o m m t 8 0 : So z.B. sei L u x u s i m Essen u n d 77 Zusammenstellung der Quellen (u.a. Koppe, Jetztlebendes gelehrtes Mecklenburg, Bd. 2, 1783; Hamberger / Mensel, Das gelehrte Teutschland, 5. Aufl., Bd. 8, 1800; dort auch jeweils ein Verzeichnis der zahlreichen Schriften Wittes) im Deutschen Biographischen Archiv, erschlossen durch den Deutschen Biographischen Index, hrsg. v. Willi Gorzny, Bd. 4, München usw. 1986. - Eine neuere Biographie existiert, soweit ersichtlich, bisher nicht. 78 Günther Ost, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek, Berlin 1928, S. 50; Gustav C. F. Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihrem Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet, Berlin 1842 (Nachdr. Hildesheim 1973), S. 30f.; folgt man der Entschlüsselung der Rezensentenzeichen durch Parthey, so hat Witte u.a. rezensiert: die deutsche Übersetzung des Naturrechts von Emer de Vattel (ADB 16, 1772, S. 275); Scheidemantels Staatsrecht (ADB 15, 1771, S. 527ff.; 18, 1772, 126ff.; 21, 1774, 503ff.); die deutsche Ausgabe (1772) von John Millars „Observations Concerning the Distinction of Ranks in Society" (ADB 20, 1773, S. 598ff.); die deutsche Ausgabe (1774) von Henry Homes (Lord Kames) „Sketches of the History of Man" (ADB 29, 1776, 596f.); die Naturrechtslehrbücher von Westphal und Darjes (ADB 32, 1777, 80ff.); die deutsche Ausgabe (1781) von James Dunbars „Essays on the History of Mankind in Rude and Uncultivated Ages" (ADB 52, 1782, 158ff.). 79 Witte selbst erwähnt in der Besprechung des ersten Bandes von Scheidemantels Werk den französischen Physiokraten Mercier de la Rivière, ADB 15,1771, S. 534; vgl. auch seine Rezensionen physiokratischer Werke in ADB 27, 1775, 304f. und ADB 32, 1777, 240ff. Zur politischen Theorie der deutschen Physiokraten vgl. Diethelm Klippel, Der Einfluß der Physiokraten auf die Entwicklung der liberalen politischen Theorie in Deutschland, in: Der Staat 23 (1984), S. 205ff.; s. auch die Bibliographie der physiokratischen Debatte i n Deutschland 1759-1799 von Birg er P. Priddat, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 9, 1985, Heft 2, S. 128ff. (Ergänzungen u. Korrekturen in Jahrg. 11, 1987, Heft 1, S. 62ff.). 80 Schlettwein, Die wichtigste Angelegenheit für das ganze Publicum, oder die natürliche Ordnung in der Politik . .., Bd. 2, Karlsruhe 1773, S. 215ff., 219ff. Dies beruht auf der physiokratischen Annahme, nur die Landwirtschaft werfe einen Reinertrag ab; vgl. dazu Fritz Blaich, Der Beitrag der deutschen Physiokraten für die
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Trinken wirtschaftlich nützlich, während Luxus hinsichtlich der Kleidung schädlich sei, desgleichen hinsichtlich der Anlage von (Lust-)Gärten, da ein Teil der Erde dadurch seiner Bestimmung entzogen werde. 81 Ähnlich wie die merkantilistischen Autoren halten auch die Physiokraten Aufwandsgesetze für unzweckmäßig und setzen statt dessen auf das Beispiel der Obrigkeit 8 2 , auf „Unterricht des Volks" und „Erziehung der Jugend" 83 . Darüber hinaus aber scheiden für die Physiokraten Iselin und Schlettwein - wie für Witte - Aufwandsgesetze auch als subsidiäre Steuerungsmittel gegen unerwünschten Luxus eindeutig aus, da sie „directe Eingriffe in das Eigenthumsrecht der Menschen" sind 8 4 und letztlich gegen die natürliche ökonomische und wirtschaftliche Ordnung verstoßen. 85 Der Hinweis auf eine „natürliche Ordnung" ist kennzeichnend für den beginnenden Umschwung in der Argumentation der naturrechtlichen politischen Theorie 86 : Da der „ordre naturel" natürliche Rechte des Individuums umfaßt, können diese so wenig wie die natürliche Ordnung im Staat aufgehoben oder auch nur modifiziert werden; entgegen dem oben skizzierten Allgemeinen Staatsrecht des aufgeklärten Absolutismus sind die Physiokraten der Ansicht, im Staat sei die Freiheit des Menschen nicht geringer als im Naturzustand. Auf dieser Grundlage verfallen Restriktionen durch obrigkeitliche „Policey" und damit auch Aufwandsgesetze - dem Verdikt eines Teils der Literatur; sie werden als „offenbare Verletzungen der natürlichen Freyheit" betrachtet. 87 Die Übereinstimmung zwischen Witte und den deutschsprachigen Physiokraten betrifft also neben dem Ergebnis auch dessen Begründimg aus im Staat bestandskräftigen natürlichen Rechten des Menschen: Aufwandsgesetze verstoßen gegen Freiheit und Eigentum des Individuums. Ein wesentliches Element des Modells von Witte fehlt allerdings bei den Physiokraten fast völlig, nämlich das Konzept einer vom Staat getrennten und diesem übergeordneten bürgerlichen Gesellschaft. Zwar hat der „ordre naturel" der Physiokraten einen ähnlichen Geltungsanspruch; er umfaßt jedoch nicht den Entwurf einer vom Staat unabhängigen Eigentümer- und Marktgesellschaft. Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft von der Kameralistik zur Nationalökonomie, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie III, hrsg. v. Harald Scherf, Berlin 1983, S. 9 f f , 15ff. β1 Schlettwein (Fn. 80), S. 223ff, 254ff. 82 Isaak Iselin, Der neue Palämon, oder von dem Aufwande, Zürich 1770, S. 41. 83 Schlettwein (Fn. 80), S. 268f. 84 E b d , S. 262. 85 Vgl. Iselin (Fn. 82), S. 52 f. 86 Zum Folgenden Klippel (Fn. 79), S. 214ff.; ders., Politische Theorien im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 2 (1987), S. 57 f f , 74ff. 87 Friedrich Heinrich Jacobi, Eine politische Rhapsodie. Aus einem Aktenstock entwendet, in: Baierische Bey träge zur schönen und nützlichen Litteratur 1 (1779), S. 407ff, 434, 43Iff.
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III. Folglich stellt sich die Frage nach der Herkunft von Wittes Konzeption einer bürgerlichen Gesellschaft, die begrifflich vom Staat getrennt ist, deren Zwecke auch für den Staat verbindlich sind, deren Strukturen der Staat respektieren muß und in der eben wegen der freien Wechselwirkung individueller Interessen eine harmonische Ordnung entsteht. Mit hinreichender Sicherheit läßt sich die Möglichkeit von Anregungen durch die englisch-schottische Moralphilosophie ausmachen: Witte hat zumindest Ferguson, Miliar, Home und Dunbar gekannt 88 ; daneben kommt der Einfluß von Adam Smith in Betracht. 89 Ohne weiteres erkennbar ist zunächst, daß die englisch-schottischen Moralphilosophen ebenso wie Witte das Selbstinteresse des Individuums als konstituierend auch für das Gemeinwohl ansehen.90 In der präzisen begrifflichen Differenzierung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat und in der einprägsamen Darlegung ihrer unterschiedlichen Funktionen geht Witte dagegen weit über die etwa bei Ferguson vorhandenen Ansätze hinaus. 91 Angesichts des unbefriedigenden Forschungsstandes einerseits zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in der englisch-schottischen Moralphilosophie, andererseits zur Rezeption von deren politischer Theorie in Deutschland soll die Frage nach möglichen Einflüssen auf Witte hier auf sich beruhen. Einige Anregungen grundsätzlicher Art mag Witte auch dem Werk von Adam Smith entnommen haben; eine deutsche Übersetzung der ersten Teile von „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" (1776) 88 Witte (Fn. 63) zitiert Fergusons „Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft" (S. 72 Fn. *); eine Rezension der deutschen Ausgabe von 1768 findet sich in demselben Band der ADB, in dem Witte das Naturrechtskompendium von Breuning bespricht (ADB 11, 1. Stück, 1770, S. 153ff. bzw. - B r e u n i n g - S. 133ff.); zu Miliar, Home und Dunbar s. oben Fn. 78. 89 Nach Albrecht (Fn. 6), S. 64, geht Witte „vom Naturrecht und den wirtschaftlichen Lehren Adam Smiths" aus, ohne daß dies jedoch begründet oder hinsichtlich einer der doch teilweise divergierenden Richtungen des Naturrechts spezifiziert würde. 90 Vgl. z.B. Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society (1767), hrsg. v. Duncan Forbes, Edinburgh 1966, 3.4 (S. 143); John Millar, The Origin of the Distinction of Ranks (1771), 3. Aufl., London 1781, 6.4 (S. 347). - Zu diesem Aspekt der englisch-schottischen Moralphilosophie vgl. Dieter Schwab, Die „Selbstverwaltungsidee" des Freiherrn vom Stein und ihre geistigen Grundlagen, Frankfurt a.M. 1971, S. 60; Manfred Riedel, Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Fn. 11),S. 801ff., 8 3 7 . - Z u Witte s. oben bei Fn. 62,65f. u n d i n F n . 75. 91 Zu Ferguson vgl. Erich Angermann, Das „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" im Denken des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschr. f. Politik NF X (1963), S. 89ff, 95; Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche (Fn. 11), S. 748f.; Zwi Batscha / Hans Medick, Einleitung, in: Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. v. dens, Frankfurt a.M. 1988, S. 28ff.; Keane (Fn. 49), S.306,308ff. - Bereits in bezug auf David Hume ist es im übrigen kontrovers, ob seine Auffassung zum „klassischen Verständnis" von bürgerlicher Gesellschaft (= Staat) oder zu der beginnenden Auflösung dieses Verständnisses zu rechnen ist, vgl. einerseits Riedel, S. 749, andererseits Keane, S. 303.
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lag bereits 1777/78 vor. 9 2 Indes ergibt ein Vergleich mit Smith - insbesondere mit dessen berühmt gewordenen Sätzen am Ende der Auseinandersetzung mit den französischen Physiokraten 93 - zwar Übereinstimmungen; ein System natürlicher Freiheit stellt sich von selbst her, wenn das Individuum seine Selbstinteressen frei von staatlicher Beschränkung verfolgen kann. Aber Smith bettet diese Überlegungen gerade nicht in das Modell einer vom Staat begrifflich zu trennenden und diesem übergeordneten Gesellschaft ein. Auch auf das Werk von Smith läßt sich demnach die Konzeption von Witte nicht festlegen. E. Jedenfalls vorläufig kann daher dem Buch von Witte durchaus eine gewisse Originalität zugebilligt werden. Folglich liegt der Gedanke nahe, daß die Schrift Einfluß gewann auf die politische Theorie des deutschen Liberalismus am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert. Eine solche Wirkung ist jedoch keineswegs zu erkennen. Mit Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus war das Modell von Witte ohnehin unvereinbar; der Widerspruch von Andreas Ludolph Jacobi ist insofern als repräsentativ anzusehen. 94 Am Ende des 18. und zum Beginn des 19. Jahrhunderts gehen dann Wittes Überlegungen der Sache nach in dem breiten Strom liberalen ökonomischen und politischen Denkens in Deutschland auf (I); Anhaltspunkte für eine Rezeption sind nicht ersichtlich. Verblüffend wirken allerdings manche Parallelen zwischen Witte und Hegel (II), ohne daß ein direkter Einfluß in Betracht kommen müßte. I. Sowohl die theoretischen Grundlagen wie die Ergebnisse der Schrift von Witte sind Allgemeingut eines großen Teils der deutschen liberalen Staats- und Gesellschaftslehre um die Jahrhundertwende. Insbesondere werden die vom Naturrecht formulierten Freiheitsrechte dem Staat jetzt als Zweck vorgegeben: Es „muß Freiheit aller Bürger der Zweck der bürgerlichen Verbindung seyn". 95 Demnach ist ein „rechtmäßig erworbenes Eigenthum .. . unverletzlich", „und die Rechte über dasselbe müssen heilig seyn". 96 Handels- und Gewerbefreiheit sind daher zu gewährleisten 97 , die 92 Zur ersten Übersetzung vgl. Harald Winkel, Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1977, S. 7. 93 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), hrsg. v. Edwin Cannan, Chicago 1976, 4.9 a.E. (Bd. 2, S. 208). 94 Siehe oben bei Fn. 71 ff. 95 August Ferdinand Lueder, Ueber Nationalindustrie und Staatswirthschaft. Nach Adam Smith bearbeitet, Teil 2, Berlin 1802, S. 192. 96 Leopold Friedrich Fredersdorfs System des Rechts der Natur, auf bürgerliche Gesellschaften, Gesetzgebung und das Völkerrecht angewandt, Braunschweig 1790, S. 294, vgl. 300. 97 Siehe etwa: Anon., Über den Handel und Luxus, Königsberg 1792, S. 55, vgl. 68ff.; Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, S. 80; Ludwig Hestermann, Der offene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf, Leipzig u. Pforzheim 1802, S. 62, 69, 101 ff.; Ludwig Heinrich Jacob, Grundsätze der National-Oeko-
Luxus u n d bürgerliche Gesellschaft
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wirtschaftlichen Beschränkungen des Ancien régime, wie z.B. Preistaxen und Monopole, werden als naturrechtswidrig angegriffen. 98 Das gilt auch für Aufwandsgesetze. 99 „Vollkommene Freyheit mit seinem Eigenthum nach Belieben zu schalten" wird als das beste Mittel gegen den Luxus angesehen.100 Jedenfalls: „Unseren Tagen entsprechen Aufwandsgesetze gar nicht. . . " 1 0 1 Neben dem Verstoß gegen Menschenrechte findet sich als Argument weiterhin der Gedanke, daß Aufwandsgesetze wegen ihrer Allgemeinheit unzweckmäßig und ungerecht seien, da sie nicht die Verschiedenheit der einzelnen Vermögen und damit die Relativität des Luxus berücksichtigten. 102 Der Wandel von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis führt zum Absterben der Luxusverbote; statt dessen erließ der Staat Luxussteuern zur Reglementierung des Luxus, bis auch diese aus dem Arsenal staatlichen Handelns weitgehend verschwanden. 103 Darüber hinaus ist die theoretische Trennung von Staat und Gesellschaft den deutschen Naturrechtssystemen und der Wirtschaftstheorie der deutschen Smithianer um die Jahrhundertwende fast allgemein geläufig. Der Staat ist „diejenige Organisation der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sie ihren Zweck nicht erreichen k a n n " 1 0 4 ; Gottlieb Hufeland stellt die „Unabhängigkeit der Gütersphäre vom Staat" fest, wobei „die Gütersphäre der alleinigen Einwirkung der Individuen" überlassen werden muß. 1 0 5 II. Ein Teil der Literatur sieht Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821) als entscheidenden Schritt in der Geschichte von Theorie und Begriff der bürgerlichen Gesellschaft an: Bei Hegel entstehe die vom Staat nomie oder National-Wirthschaftslehre, Halle 1805, S. 261; weitere Nachw. bei Jürgen Schlumbohm, Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes (ca. 1760 - ca. 1800), Düsseldorf 1975, S. 122 ff. 98 Fredersdorf (Fn. 96), S. 296ff.; Karl Ludwig Pörschke, Vorbereitungen zu einem populären Naturrechte, Königsberg 1795, S. 158ff., 182; Jacob (Fn. 97), S. 284ff., 291 ff. 99 Fredersdorf (Fn. 96), S. 309; Karl Friedrich Bahrdt, Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Unterthanen in Beziehung auf Staat und Religion, Riga 1792, S. 119; Über den Handel (Fn. 97), S. 54; Jakob (Fn. 97), S. 474. 100 Jakob (Fn. 97), S. 474. 101 Karl Heinrich Rau, Ueber den Luxus, Erlangen u. Leipzig 1817, S. 43; ähnlich Carl Rotteck, Art. Luxus, Luxusgesetze, Luxussteuern, in: Staats-Lexicon, hrsg. v. Carl Rotteck / Carl Welcker, Bd. 10, Altona 1840, S. 293ff., 306f. 102 Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, Bd. 2, 2. Aufl., Hannover 1802, S. 225. 103 Stolleis, Luxusverbote, in: Sozialwissenschaften (Fn. 6), S. 150. 104 Karl Heinrich Heydenreich, Grundsätze des natürlichen Staatsrechts und seiner Anwendung, Bd. 1, Leipzig 1795, S. 57; s. ferner z.B. Johann Adam Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, Leipzig 1796, S. 31 ff.; Karl Heinrich Gros, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts, Tübingen 1802, S. 169. 105 Gottlieb Hufeland, Neue Grundlegung der Staatswirthschaftskunst, 1. Teil, Gießen u. Wetzlar 1807, S. 112, 116.
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Diethelm K l i p p e l
unterschiedene bürgerliche Gesellschaft im modernen Sinn, in der Privatpersonen und Eigentümer sich gegenüberstehen, die ihre eigenen Interessen verfolgen und dadurch - im einzelnen durch Bedürfnis, Arbeit und Austausch - miteinander verbunden sind. 1 0 6 Dagegen wird freilich betont, daß das Modell älter sei, daß sich bei Hegel die vorher vorhandene antistaatliche Tendenz des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft abschwäche und statt dessen die Notwendigkeit von Kontrollen über die Gesellschaft im Vordergrund stehe. 107 Unabhängig von dieser Kontroverse erinnern einige Passagen Hegels an Witte. Ähnlich wie bei Witte 1 0 8 ist bei Hegel in „der bürgerlichen Gesellschaft... jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt." 1 0 9 Die bürgerliche Gesellschaft ist „der Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle" 1 1 0 ; sie enthält - neben zwei weiteren Charakteristika - das „System der Bedürfnisse", die „Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller übrigen". 1 1 1 Allerdings fehlen bei Hegel die Betonung der natürlichen Rechte des Individuums und die Unterordnung des Staates unter die Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft. Dennoch gibt es eine weitere Parallele: Hat bei Hegel die Person Eigentum „als äußere Sphäre ihrer Freiheit" 1 1 2 , so ist für Witte „das Eigenthum die Materie . . ., worin der Mensch seine persönlichen Rechte ausübt, und den Wirkungskreis der menschlichen Freyheit bestimmt" 1 1 3 .
106 Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche (Fn. 11), S. 779f.; ders., Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Fn. 11), S. 801 f f , 836f.; ders., Begriff (Fn. 11), S. 158f. 107 Rolf P. Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, in: Hegel-Studien 9 (1974), S. 209ff. 239; Keane (Fn. 49), S. 307, 320ff.; Batscha / Medick (Fn. 91), S. 30ff. 108 Oben bei Fn. 49 ff. 109 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 7, § 182 Zusatz; vgl. § 184 Zusatz: „Meinen Zweck befördernd, befördere ich das Allgemeine, und dieses befördert wiederum meinen Zweck"; ferner § 187: „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben." 110 E b d , § 289. 111 E b d , § 188. 112 E b d , § 41. 1 1 3
Witte
( F n .
5),
S.
4 6
f.
Barbatius Philippus und seine Spuren Falsus praetor, parochus putativus, Scheinbeamter Von Rolf K n ü t e l I. Der Fall E i n entlaufener Sklave hat Geschichte g e m a c h t 1 : U m 39 v . C h r . w u r d e ein B a r b a t i u s P h i l i p p u s , der i n den W i r r e n des Bürgerkrieges als Gefolgsmann des T r i u m v i r n M a r k A n t o n z u E i n f l u ß gelangt w a r , z u m P r ä t o r gewählt. B a l d n a c h A u f n a h m e der Amtsgeschäfte w u r d e er entdeckt. M a n stürzte i h n v o m Tarpejischen Felsen - n i c h t ohne i h n vorher freigelassen z u haben, „ d a m i t die Strafe an i h m m i t rechter W ü r d e vollzogen w e r d e " 2 . Spätere Z e i t e n v e r d r ä n g t e n diese harte Bestrafung. Z e h n Jahrhunderte später g i n g m a n i n Byzanz d a v o n aus, Bärbios P h i l i p p i k ó s sei w ä h r e n d seines W i r k e n s auf dem F o r u m v o n seinem H e r r n e r k a n n t w o r d e n u n d habe sich dessen Schweigen u n d seine F r e i h e i t m i t einer großen S u m m e Geldes erkaufen k ö n n e n 3 . I n Byzanz stand m a n seinerzeit v o r d e m Problem, w i e es m i t e n t laufenen S k l a v e n z u h a l t e n sei, die z u m Priester geweiht oder M ö n c h oder sogar Bischof geworden w a r e n 4 . 1 Nur mit Namen werden abgekürzt: Heinr. Apelt, Die Urteilsnichtigkeit im röm. Prozeß (o. J., 1937); Luigi Aru, Una congettura su D.I.14.3: ,Barbarius Philippus', in: St. E. Volterra 3,1971, S. 653ff.; Pietro Cerami , Problemi storico-dogmatici in tema di funzionario di fatto, in: St. G. Scaduto 3, 1970, S. 377ff. (Cerami I); ders., Rez. Lucifredi Peteriongo, Iura 17 (1966), S. 370ff. (= Cerami II); Pio Fedele, I l funzionario dei fatto nel diritto canonico, St. F. Scaduto 1, 1936, S. 321 ff.; Jacobus Gothofredus, De electione magistratus inhabilis seu incapacis per errorem facta, Dissertatio (pubi. 1654), in: Opera juridica minora etc., hrsg. von Christian H. Trotz, 1733, Sp. 521 ff. (zit. Kap. u. Sp.); Giannetto Longo, Utilitas publica, Labeo 18, 1972, S. 7ff.; Maria E. Lucifredi Peteriongo, Barbarius Philippus etc, in: Lucifredi Peteriongo / Lucifredi, Contributi allo studio dell'esercizio di fatto di pubbliche funzioni, 1965, S. Iff.; Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3 Bde. (in 5), 3. Aufl. 1887 (Nachdr. 1952); Pasquale Voci, D.I. 14.3 - Note in tema di esercizio di fatto di pubbliche funzioni, in St. E. Guicciardi 1,1975, S. 59ff. = Voci, Studi di diritto rom. 1,1985, S. 623ff. (wonach zit.). 2 Der Fall ist aus den Berichten von Dio Cassius, Hist. rom. 48.34; Appian, Bell. civ. 5.4.31 und dem Suidaslexikon (u. Anm. 3) erschließbar, vgl. Gothofredus (Fn. 1), V I I 532; Heinrich E. Dirksen, Hinterlassene Schriften (hrsg. von Sanio) 1, 1871, S. 281, 288ff.; Mommsen (Fn. 1), Bd. I, S. 484 Anm. 2; ders., Dig. ad D.I.14.3; Voci (Fn. 1), S. 627ff. m. w.N. - Weitere Belege zu flüchtigen Sklaven in öffentlichen Ämtern, z.B. C.10.33.2 (Sklave als Ädil), bei Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 46f. Anm. 145. - Philippus hatte sich vielleicht von einem gutgläubigen Barbatius an Kindes Statt (unwirksam) annehmen lassen. 3 Suidae Lexicon s.v. Βάρβιος (ed. Ada Adler), 1928, S. 454. 4 Nov. Leon. 9 - 1 1 (zwischen 886 und 911).
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Rolf K n ü t e l I I . D i e lex Barbarius Philippus, D . I . 14.3 1. Der Text
B e r ü h m t geworden ist der F a l l wegen seiner j u r i s t i s c h e n P r o b l e m a t i k ; sie w a r thema i l l u s t r e schon f ü r die römischen Juristen. V o n deren D i s k u s s i o n ist i n der l e x B a r b a r i u s P h i l i p p u s - w i e der offenbar verschriebene N a m e i n den Digesten l a u t e t - ein Zeugnis überliefert: D.I. 14.3 Ulpianus libro 38 ad edictum Barbarius Philippus cum servus fugitivus esset, Romae praeturam petiit et praetor designatus est. sed nihil (enim?) ei servitutem obstetisse ait Pomponius, quasi praetor non fuerit: atquin verum est praetura eum functum. et tarnen videamus: si servus quamdiu latuit in dignitate praetoria, functus sit 5 , quid dicemus? quae edixit, quae decrevit, nullius fore momenti? an fore propter utilitatem eorum, qui apud eum egerunt vel lege vel quo alio iure? et verum puto nihil eorum reprobari: hoc enim humanius est: cum etiam potuit populus Romanus servo decernere hanc potestatem, sed et si scisset servum esse, liberum effecisset. quod ius multo magis i n imperatore observandum est. Barbarius Philippus, ein entlaufener Sklave, bewarb sich in Rom um die Prätur und wurde (von der Volksversammlung) zum Prä tor gewählt. Sein Status als Sklave stand aber nicht (freilich?) entgegen, wie Pomponius sagt; so als ob er nicht Prätor war. Allerdings bleibt wahr, daß er die Prätur ausgeübt hat. Und prüfen w i r demgegenüber, was wir sagen müssen, wenn ein Sklave gehandelt hat, solange er die prätorische Würde unerkannt innehatte: Soll nichtig sein, was er angeordnet und was er entschieden hat? Oder soll es im Interesse derer wirksam sein, die mit seiner Hilfe Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder sonstige Rechtsakte durchgeführt haben? Und ich halte es für richtiger, nichts von all dem als nichtig zu verwerfen; das ist nämlich humaner. Zumal da das römische Volk diese Amtsgewalt auch einem Sklaven erteilen konnte; aber auch wenn es gewußt hätte, daß er Sklave ist, hätte es seine Freilassung erwirkt. Viel mehr noch ist dieses Recht zugunsten des Kaisers zu beachten. 2. Zur
Echtheitsfrage
D e r T e x t ist gestört, v o r a l l e m w o h l d u r c h spätere K ü r z u n g e n 6 . Details der T e x t k r i t i k k ö n n e n hier dahinstehen, denn es ist s c h w e r l i c h z u bezweifeln, 5 So nach den meisten Hss., insbes. der Florentina, die mdignitate haben, s. etwa D. Gothofredus, Dig. adh.l., sowie jüngst Pescarti, Bull. 82,1979, S. 170 f. -Mommsen, Krüger / Mommsen, Bonfante lesen dagegen mit dem Vaticanus: Si servus, quamdiu latuit, dignitate praetoria functus sit. 6 Vermutlich durch die Kompilatoren, Voci (Fn. 1), S. 632, 643. Dagegen rechnet Franz Wieacker, Textstufen klass. Juristen, 1975, S. 319 f. wegen der rhetorischen Fragen mit einer frühnachklassischen Bearbeitung; ablehnend dazu Lucifredi Peterlongo (Fn. 1), S. 57f. Anm. 164; Aru (Fn. 1), S. 658 Anm. 6.
Barbatius Philippus u n d seine Spuren
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daß der Text in der Substanz klassisch ist 7 . Auch ist jedenfalls der maßgeblich gewordene Standpunkt Ulpians klar erkennbar. 3. Pomponius Zweifelhaft ist dagegen, welcher Ansicht Pomponius, ein Jurist aus der frühen Mitte des 2. Jh., war. Sein Kommentar zu Sabinus (1. Hälfte des 1. Jh. n.Chr.) bildete die Vorlage für den Text Ulpians, eines Juristen, der 223 n.Chr. bei einem Prätorianeraufstand ums Leben kam. Früher wurde weithin angenommen, schon Pomponius habe so entschieden wie Ulpian. Von den älteren Schriftstellern hat J. Gothofredus diese Ansicht mit der eleganten Lesart: „sed nihil ei servitutem obstetisse ait Pomponius: qua, si Praetor non fuerit, adquin verum est, Praetura eum functum" abzusichern versucht 8 . Zwar spricht dafür der Anfang der überlieferten Formulierung (nihil). Doch ist kaum vorstellbar, daß Pomponius derart allgemein hat sagen können, der Sklavenstatus bilde kein Hindernis. Unerläßliche Voraussetzung für die Übernahme eines öffentlichen Amtes waren der status libertatis et civitatis, die Freiheit und das römische Bürgerrecht 9 . Überdies würden die späteren Ausführungen im Text kaum passen, weder der dann widersprüchlich anmutende Passus quasi praetor non fuerit, noch der Umstand, daß Ulpian das Problem erst anschließend mit Formulierungen, die auf einen Gegensatz hindeuten (atquin; et tarnen; et verum puto), breit aufrollt. Wahrscheinlicher ist deshalb, daß Pomponius Wahl, Amtseinsetzung und offenbar auch die von Barbarius Philippus erlassenen Amtsakte für unwirksam hielt 1 0 . Das bei dieser Sicht unzutreffende nihil müßte sich dann als versehentliche Verkürzung eines nihilominus erklären 11 oder als 7 Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 40 m. Anm. 133 (ält. Lit.), S. 49ff.; Cerami I (Fn. 1), S. 387 f. u. II, S. 373; Voci (Fn. 6), vgl. auch, wenngleich mit erheblichen Eingriffen rechnend, Apelt (Fn. 1), S. 40ff.; Longo (Fn. 1), S. 21, 24 und Aru (Fn. 1), S. 660ff., der annimmt, Ulpian habe nur den Fall einer datio tutoris durch Barbarius sowie die einschlägigen prozessualen Behelfe erörtert (doch s. u. Fn. 25). Nicht haltbar Carcaterra, I l possesso dei diritti, 1942, 59, der ab atquin (bis auf quae-momenti) alles streicht. 8 IV, Sp. 529, dagegen Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 27. In jüngerer Zeit vertreten diese Ansicht Fedele (Fn. 1), S. 332 und insbes. Cerami I (Fn. 1), S. 388f. u. II, S. 374 (zust. Longo [Fn. 1], S. 23f.), der die Wendung quasi praetor non fuerit nicht als Gegensatz, sondern als bloße Erläuterung des Vorangehenden verstehen will: Der Status als Sklave habe nicht in dem Sinne, als sei er überhaupt nicht Prätor gewesen, der Ausübung der prätorischen Funktionen entgegengestanden. Barbarius sei also Prätor gewesen. Aber das ist sprachlich und sachlich schwerlich akzeptabel, dagegen auch Voci (Fn. 1), S. 630. 9 Siehe nur Mommsen (Fn. 1), Bd. I, S. 483 ff. 10 Apelt (Fn. 1), S. 40f. sowie die u. Fn. 11, 12 Genannten. Daß auch die Amtsakte erfaßt sind, ist wahrscheinlich, weil sie das Hauptproblem bilden; designa tus steht nicht entgegen. Vgl. Apelt, S. 41; Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 44f. Anm. 144; Cerami I (Fn. 1), S. 388 Anm. 18, 394 Anm. 32 u. II, S. 374, dagegen Aru (Fn. 1), S. 656 m. Anm. 5, 661 Anm. 10, 662, 667. 1 1
S o
Carcaterra
( F n .
7)
u n d
Lucifredi
Peteriongo
( F n .
1),
S.
5 0 f .
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irrtümliche Auflösung einer Sigle, wurden doch für enim und nihil sehr ähnliche Siglen benutzt 12 . Eine verläßliche Entscheidung hierzu ist kaum zu treffen 13 . 4. Ulpian a) Ulpian arbeitet das Problem klar heraus. Er geht davon aus, daß der Sklave nicht Prätor geworden ist 1 4 , de facto aber dessen Amtstätigkeit ausgeübt hat. Der Jurist steht damit vor der Frage, ob beispielsweise die allgemeinen Anordnungen (Edikte) und die tagtäglich zu treffenden konkreten Entscheidungen (Dekrete) nichtig sind. Die Gegenfrage nach möglicher Wirksamkeit der Amtsakte betrifft demgegenüber einen engeren Bereich. Mit lege agere wird in der klassischen Zeit, in der der Legisaktionsprozeß abgeschafft ist, die Vornahme von Rechtsgeschäften bezeichnet, die aus nachgeformten Prozeßhandlungen erwachsen sind, wie die in iure cessio (eine bestimmte Art der Rechtsübertragimg) sowie die Entlassung aus der väterlichen Gewalt, die Freilassung und die Adoption, Geschäfte also, die zur freiwilligen Gerichtsbarkeit zählen 15 . Auch die magistratische Vormundsbestellung gehört dazu, und es stimmt damit gut zusammen, daß unser Fragment aus dem Zusammenhang vormundschaftsrechtlicher Ausführungen stammt 16 . Doch rechtfertigt diese Beobachtung nicht die Annahme, Ulpian habe nur den Fall der Vormundsbestellung durch den falsus praetor behandelt; offensichtlich hat der Jurist den Anlaß zur allgemeinen Erörterung des Problems genutzt 17 . Welche Akte mit dem weiteren Hinweis vel quo alio iure gemeint sind, bleibt ungewiß. Vermutlich wurden bei der Kürzung des Textes ursprünglich detailliertere Ausführungen in dieser Weise zusammengefaßt 18. Denn 12 So Mommsen, Dig. ad h.l.; Otto Lenel, ZRG RA 39 (1918), S. 122; Apelt (Fn. 1), S. 40 (kompilatorischer Eingriff zur Beseitigung einer Kontroverse); Voci (Fn. 1), S. 630 f. - Sed enim kommt verschiedentlich vor. 13 So auch Arn (Fn. 1),S. 656,662.- Immerhin ist das stilistisch auffällige sed nihil 1. S. von ,aber nicht' (Graezismus?) für Ulpian auch in D.33.8.6.1 belegt, nicht aber für Pomponius. 14 Das Prinzip magistratus vitio creatus nihilo setius magistratus (Varrò, De ling, lat. 6.30) wird, da sakralrechtliche Verstöße betreffend (vgl. Mommsen [Fn. 1], Bd. I I I / l , S. 364 m. Anm. 1), von Ulpian nicht beachtet, vgl. Apelt (Fn. 1), S. 41; Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 5f.; abweichend zu Pomponius Cerami I (Fn. 1), S. 395ff. u. II, S. 372f. 15 Vgl. Max Käser, Rom. Zivilprozeßrecht, 1966, S. 134; ders., Rom. Privatrecht I, 2. Aufl. 1971, S. 348 m. Anm. 46 und (zum fr.14.3) Voci (Fn. 1), S. 632. 16 Im 38. Buch zu Sabinus behandelte Ulpian die Materie De tutelis; Lenel, Palingenesia iuris civ. 2,1899, Sp. 1158, Ulp.2842 (De tutoribus a magistratu datis), vgl. auch schon Gothofredus (Fn. 1), VI, Sp. 531 f. 17 Quae edixit, quae decrevit.. , vgl. Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 61 f , anders Aru (Fn. 1), S. 656ff. (vgl. o. Fn. 7). 18 Für Interpolation Lenel (Fn. 12), S. 122; Apelt (Fn. 1), S. 41 Anm. 90; Voci (Fn. 1), S. 632. Vel lege - iure streichen Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 64 und Longo (Fn. 1), S. 21, 24.
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wahrscheinlich wurde auch eine Unterscheidung nach den verschiedenen Arten der Amtsakte diskutiert, nach den an die Allgemeinheit gerichteten Edikten, den Akten der streitigen Gerichtsbarkeit und denen der freiwilligen, bei denen die Mitwirkung des Prätors kaum mehr als eine Formalität darstellte 19 . Daß sich gerade bei diesen eine Entscheidung zugunsten der Gültigkeit aufdrängt, liegt auf der Hand. b) Ulpian bejaht einschränkungslos die Gültigkeit der Amtshandlungen: et verum puto nihil eorum reprobari. Daß er dies als eigene Ansicht ausweist (puto), zeigt, daß die Problematik noch in der Spätklassik umstritten war. Damit erklärt sich auch, daß mehrere Gründe angeführt werden. Grundlage der Entscheidung ist die utilitas eorum qui apud eum egerunt, das Interesse der Beteiligten 20 . Diesem entspricht sicherlich eine Aufrechterhaltung der Rechtsgeschäfte und Verfahren, die abgeschlossen und durchgeführt wurden, ohne daß die mangelhafte Bestellung des Magistrats, der notwendigerweise mitzuwirken hatte, erkennbar war. Mit der Wahrung dieses Interesses wird das Vertrauen der Beteiligten geschützt und damit zugleich die Rechtssicherheit 21 gewährleistet, deren Schutz auch im öffentlichen Interesse liegt 2 2 . Des weiteren beruft der Jurist sich auf die humanitas 23 . Das ist als Ergänzung zur utilitas zu verstehen: Es entspricht wohlwollender menschlicher Beurteilung, die Parteien, die zu dem Nichtigkeitsgrund keinen Anlaß gegeben haben, ihn nicht einmal vermeiden konnten, vor dem Schaden zu bewahren, den sie erlitten, wenn die Amtsakte und damit die von ihnen abhängenden Geschäfte und Verfahren als unwirksam angesehen würden 2 4 .
19 Voci (Fn. 1), S. 632 f. Was an Ulpians „Interessentheorie" zur Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht nach den publice utilia und der utilitas singulorum (D.I. 1.1.2 = Inst. 1.1.4) erinnert. 21 Vgl. Apelt (Fn. 1), S. 41. 22 Von daher wird begreiflich, daß die utilitas in fr. 14.3 entgegen dem Wortlaut weithin als utilitas publica verstanden wird, vgl. Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 19, 23, 68ff.; Cerami I (Fn. 1), S. 399 u. II, S. 375f., krit. Longo (Fn. 1), S. 25. Dagegen Voci (Fn. 1), S. 633 ff. unter Ablehnung von Auffassungen, die an den bloßen Besitz des status libertatis (vgl. Carcaterra [Fn. 7], S. 60), an die utilitas publica als Fundament von Recht und Gerechtigkeit (Cerami, a.a.O.) und an das Vertrauen (bona fides) anknüpfen. Doch wird der Vertrauensschutz nicht dadurch verdrängt, daß die Parteien auf die Mitwirkung des Prätors angewiesen sind. Zu weiteren Deutungen s. Cerami I (Fn. 1), S. 394ff. 23 Was heute nach Überwindung der Blickverengung auf die humanitas Christiana als echt hingenommen werden darf, vgl. Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 65 ff. m. w.N.; Cerami I (Fn. 1), S. 407 (verkürzt); Voci (Fn. 1), S. 633; anders Apelt (Fn. 1), 41; G. Longo (Fn. 1), S. 21, 25f.; Aru (Fn. 1), S. 6 6 6 . - Z u r praktischen Maßgeblichkeit der humanitas bei den röm. Juristen s. insbes. Fritz Schulz, Prinzipien des röm. Rechts, 1934, S. 128ff. . ci (Fn. 1), S. f. 20
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c) Das Schlußstück wird Ulpian meist abgesprochen, doch kaum zu Recht 25 . Der Jurist versucht, das Ergebnis argumentativ abzusichern. Zunächst hebt er hervor, das römische Volk habe nämlich auch einem Sklaven prätorische Amtsgewalt erteilen können, wobei er für diesen Fall voraussetzt, daß die Sklaveneigenschaft bekannt ist 2 6 . Dadurch wäre der Sklave zwar nicht Prätor geworden, aber er hätte prätorische Amtsgewalt ausüben dürfen. Seine Amtsakte wären wirksam - eben weil das Volk kraft seiner Souveränität sogar Sklaven Amtsbefugnisse übertragen kann 2 7 . Bei Barbarius Philippus hat die Volksversammlung (comitia centuriata) jedoch nicht gewußt, daß er Sklave war. Damit stellt sich die Frage, ob dieses Wissen erheblich ist. Das ist dann, aber auch nur dann der Fall, wenn es hinsichtlich der Amtsakte zu einem anderen Ergebnis führen würde. Ulpian bringt deshalb den Vergleichsfall: „Aber auch, wenn das Volk gewußt hätte, daß er Sklave ist, hätte es seine Freilassung 28 erwirkt." Dann wäre Barbarius Prätor geworden und seine Amtsakte wären von vornherein wirksam gewesen. Wenn es aber überhaupt möglich ist, daß ein Sklave wirksame Amtsakte setzen kann und wenn es sogar bei Kenntnis des Volkes zur Wirksamkeit der Akte käme, dann kann das Ergebnis bei Unkenntnis des Volkes nicht anders sein. Die Ableitung ist zwar für Ulpian begreiflich, aber weder sachlich zwingend, noch den Rechtszuständen der späten Republik angemessen. Denn erstens haben die Volksversammlungen der Republik trotz ihrer Souveränität nie Ausnahmegesetze beschlossen, um den Status von Bewerbern um öffentliche Ämter zu ändern, geschweige denn um bewußt einen Sklaven wählen zu können 29 . Und zweitens war für die Bekleidung einer Magistratur Ingenuität erforderlich; Freigelassene waren folglich überhaupt nicht wählbar 3 0 .
25 Für Unechtheit: Apelt (Fn. 1), S. 41; Carcaterra (Fn. 7); Longo (Fn. 1), S. 21; Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 75f. (ält. Lit.), 81f.; Aru (Fn. 1), S. 667f. (Pomponius! habe cum etiam .. . effecisset geschrieben); für verkürzende Überarbeitung: Cerami I I (Fn. 1), S. 377, vgl. I, S. 387f.; S. 393 Anm. 31; Voci (Fn. 1), S. 637, 643. Doch s. D.42.1.57 (vor Fn. 34) und das im Text Auszuführende. Vgl. auch Dirksen (Fn. 2), S. 294. 26 Vgl. Voci (Fn. 1), S. 637. 27 Die mangelnde Rechtsfähigkeit würde die erforderliche Handlungsfähigkeit nicht ausschließen. Von der Wahrnehmung des Richteramts waren Sklaven (wie Frauen) nur moribus ausgeschlossen, non quia non habent iudicium, sed quia receptum est, ut civilibus officiis non fungantur, Ulp.D.5.1.12.2 i.f. Vgl. auch u. I I I 1. 28 Ob auf direktem oder indirektem Wege (Freikauf), bleibt ungewiß, vgl. Voci (Fn. 1), S. 642. Siehe etwa D.40.9.17; C.7.11.3. 29 Voci (Fn. 1), S. 639 m. Anm. 45; vgl. Mommsen (Fn. 1), Bd. I, S. 481 f. (zu Barb. Phil. S. 482 Anm. 1). Im übrigen wurde für Dispensationen der Senat als zuständig angesehen.
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Im Prinzipat stand es dagegen in der rechtlichen Macht des Kaisers, über die Qualifikationen zu befinden - über die der kaiserlichen Beamten ohne weiteres und über die der Bewerber um die entmachteten republikanischen Ämter kraft seines Kommendationsrechts, das sich im 3. Jh. zur unmittelbaren Ernennung durch den Kaiser auswuchs. So konnte der Kaiser Befreiung von den Altersgrenzen oder von der gesetzlichen Ämterfolge gewähren oder über das „Goldringerecht" (ius aureorum anulorum) die Ingenuität verleihen. Davon wurde unter den Severern, also in Ulpians Zeit, sehr häufig Gebrauch gemacht 31 . Für diese Zeit trifft es also zu, daß der Souverän einen Kandidaten unter Überwindung der juristischen Schranken in ein Amt bringen kann 3 2 . Und in dieser Zeit drängt sich auch der Gedanke auf, daß der Kaiser, wenn er ein Amt mit jemandem besetzen will, der noch Sklave ist, diesen vorher freiläßt, und zwar mit Selbstverständlichkeit. Denn wem ein Amt gegeben wird, dem wird zugleich die erforderliche Qualifikation, der sprichwörtliche „Verstand", zuerkannt 33 . Einen vergleichbaren Gedanken bringt Ulpian zu dem Fall, daß ein Mündiger unter fünfundzwanzig als Prätor oder Konsul Recht spricht: princeps enim, qui ei magistratum dedit, omnia gerere decrevit, D.42.1.57 i.f. Doch geht der Jurist in D.I. 14.3 nicht so weit zu sagen, wenn das Volk einen Sklaven in Kenntnis seiner Rechtsstellung zum Prätor wähle, werde er inzident frei 3 4 . Vielmehr wird der Gedanke, daß auch die erforderliche Qualifikation geschaffen werden müßte, ihn nur zu der Annahme geführt haben, daß es vor einer Wahl sicher zur Freilassung käme. Für die Republik passen die Erwägungen jedoch nicht. Offenbar hat Ulpian den Rechtszustand seiner Zeit in die Zeit des Barbarius Philippus, also in die Republik mit dem Volk als Souverän, zurückprojiziert 35 . Das ist historisch zwar falsch, angesichts der ahistorischen, dogmatischen Denkweise der römischen Juristen und ihrer historischen Naivität 3 6 aber nicht 30 Auch darüber scheinen sich die Volksversammlungen nicht hinweggesetzt zu haben. Das Hindernis war vermutlich nicht durch Annahme an Kindes Statt zu umgehen, s. Mommsen (Fn. 1), Bd. I, S. 483, 485, 487ff. 31 Mommsen (Fn. 1), Bd. I, S. 561, 574ff.; Bd. II/2, S. 945 (Befreiungen); Bd. II/2, S. 893f.; Bd. m/1, S. 518f. (Ingenuität). 32 Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 78ff.; Voci (Fn. 1), S. 641. 33 Belege zu den einschlägigen Sprichwörtern bei Graf / Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter, 2. Aufl. 1869 (Nachdr. 1975), S. 517f. - Zu dem (im röm. Dienstbarkeitsrecht manche Anwendungsfälle aufweisenden) Grundsatz cui conceditur aliquid, intelliguntur concessa omnia, sine quibus explicari non potest s. Detlef Liebs, Lat. Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 4. Aufl. 1985, C 100, vgl. auch J 178, L 48, Q 33, 83, U 12. 34 So jedoch schon Accursius, Glossa in Dig. vet., 1488 (Nachdr. 1969) gli. fecisset, multo magis ad 1. Barb. De off. praet., auch Mommsen (Fn. 1), Bd. I, S. 482 Anm. 1, dagegen Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 79f. m. Anm. 231. . ci (Fn. 1), S. .
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verwunderlich. Da im Prinzipat die kaiserliche Gewalt als vom Volk abgeleitete verstanden und gerechtfertigt wird 3 7 , dient der Rückgriff auf die Souveränität des Volkes zugleich dazu, die umfassenden Ausnahmebefugnisse zu legitimieren, die dem Kaiser bei der Besetzung von Ämtern zustehen 38 : quod ius multo magis in imperatore observandum est. ΙΠ. Weitere Zeugnisse 1. C.7.45.2 In die Zeit Ulpians gehört auch ein Reskript Caracallas, in dem es darum geht, daß unerkannt ein Sklave ein Urteil gefällt hat: C.7.45.2
Imp. Antoninus A.
Sextilio
Si arbiter datus a magistratibus, cum sententiam dixit, in libertate morabatur, quamvis postea in servitutem depulsus sit, sententia ab eo dicta habet rei iudicatae auctoritatem.
Ein Sklave kann nicht Richter sein (o. Fn. 27). Wird er dennoch zum iudex bestellt, so übt er mit dem Urteilsspruch (abgeleitete) Hoheitsgewalt aus. Daß das Urteil bestehen bleibt, wenn sein Status nachträglich aufgedeckt wird, stimmt mit Ulpians Lösung in D.I.14.3 überein 39 . 2. C.6.23.1, Inst.2.10.7 Hinzuweisen ist auch auf eine Konstitution Hadrians: C.6.23.1
Imp. Hadrianus A.
Catonio Vero
Testes servi an liberi fuerunt, non oportet in hac causa tractari, cum eo tempore, quo testamentum signabatur, omnium consensu liberorum loco habiti sunt nec quisquam eis usque adhuc status controversiam moverit.
Eine Testamentserrichtung erforderte die Anwesenheit von 5, später 7 Zeugen, die mündige römische Bürger sein mußten. Zu dem Fall, daß einer von ihnen Sklave, aber noch nicht in den Freiheitsprozeß verwickelt war und von allen Beteiligten für frei gehalten wurde, entscheidet Hadrian, der unerkannte Status des Sklaven sei kein Nichtigkeitsgrund für das Testament. Auch die Institutionen berichten von diesem Reskript und heben 36
Dazu weiterführend Giaro, Bull. 90 (1987), S. I f f , 44ff, 47ff., 85ff. Siehe Ulpian D.I.4.1 (= Inst. 1.2.6): Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conférât. Vgl. auch Gai. 1.5 sowie die Praxis der leges de imperio. 38 Vgl. Voci (Fn. 1), S. 641, 643. 39 Vgl. Lucifredi Peteriongo (Fn. 1), S. 69f. Anm. 201; Cerami I (Fn. 1), S. 404 Anm. 52; Voci (Fn. 1), S. 636. - Mit dem arbiter ist hier nicht der Schiedsrichter gemeint. 37
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zusätzlich hervor, daß Septimius Severus und Caracalla ebenso entschieden haben (Inst. 2.10.7). Das Vertrauen w i r d hier bereits seit der Hochklassik bei einem Privatrechtsakt geschützt, zu dessen Vornahme es keiner amtlichen Mitwirkung bedurfte. IV. Spätere Entwicklungen Seit der Wiederentdeckung des römischen Rechts im hohen Mittelalter hat die lex Barbarius Philippus zu allen Zeiten bei den Juristen wegen ihrer rechtlichen Problematik, wegen der Schwierigkeiten eines richtigen Verständnisses des gestörten Textes und auch wegen der tatsächlichen Umstände des antiken Vorfalls besondere Aufmerksamkeit gefunden. Schon früh ist sie als verallgemeinerungsfähig verstanden worden - was Jacobus Gothofredus (gest. 1652) mit Beispielen aus weltlichem und kirchlichem Recht zusammenfassend hervorheben kann 4 0 . Sie hat zusammen mit den oben (III) genannten Quellen die Grundlage für die Regel (circa factum) error communis facit ius abgegeben41; sie hat bestimmend auf die Interpretation geltenden Rechts eingewirkt und sie hat moderne Gesetzesbestimmungen inspiriert. Einige notwendigerweise nur grob skizzierende Hinweise mögen dies veranschaulichen.
V. Zur Problematik im kanonischen Recht 1. Legisten und Kanonisten Bei den Legisten und bei den Kanonisten hat das fr. 14.3 eine bedeutende Rolle gespielt 42 . Dazu liegt auf der Hand, daß sich die Bemühungen der Glossatoren im wesentlichen auf die Erschließung der Aussagen des Textes 40
Nam etsi hypothesis ejus versetur circa servum, atque adeo his hodie moribus inutilis ea videatur, attamen definitio ejus latissime porrigitur, & vero a Doctoribus ac Pragmaticis ad alias similes species complurimas & nobilissimas traducitur: quodque de Incapaci ob servilem statum, rite tarnen electo, hac 1. definitur, ad alias Incapacitatis & Incapacium species argumentation trahitur; veluti ad Excommunicatos, Judaeos, Paganos, Gibellinos, Simoniacos, per errorem rite tarnen, electos: Porrigitur & ad Notarios seu Tabelliones, Consules mercatorum, Episcopos, Praelatos, Imperatores, quascunque tandem dignitates, saeculares, Ecclesiasticas, per errorem rite tarnen collatas; II, Sp. 527. 41 Accursius (Fn. 34), gl. reprobari. Dazu noch D.33.10.3.5 i.f. (error ius facit); C.5.37.25; vgl. Liebs (Fn. 33), C 45; zur Kanonistik s. Fedele (Fn. 1), S. 338ff., 376ff. pass., s. auch u. bei Fn. 48 und vor Fn. 55. - Für Frankreich s. Henri Roland / Laurent Boy er, Locutions latines et adages du droit français contemporain, 2, 1978, S.277 284; für England vgl. Herbert Broom, A Selection of Legal Maxims, 10. Aufl. 1939 (Nachdr. 1985), S. 86f. 42 Einzelheiten in der grundlegenden („con grande amore dopo lungo studio" geschriebenen, S. 337) Studie Fedeles (Fn. 1), S. 338 - 374 sowie bei Lucifredi Peter longo (Fn. 1), S. 12 - 28, 101 ff. 23 Festschrift P. Mikat
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beschränken und erst die Kommentatoren das Blickfeld auf zeitgenössische Parallelen erweitern, z.B. auf den vermeintlichen Notar (tabellio) 43 . Die Kanonistik konnte daran anknüpfen, daß Gratian die Hadrian-Konstitution C.7.45.2 (o. I I I 1) praktisch wörtlich in sein Diktum ad can. 1 causa I I I qu. 7 4 4 übernommen hat. Dazu stellt die lex Barbarius sich als die ganz selbstverständliche Ergänzung und Bestätigung des verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedankens dar, so daß später der Hl. Alfons von Liguori ihre subsidiäre Geltung im Kirchenrecht konstatieren konnte: Et probatur ex leg. Barbarius . . . qui textus etsi civilis, tarnen, cum non sit reprobatus a iure canonico, vim habet etiam in ilio 4 5 . Überhaupt ist unser Problemkreis geradezu ein Musterbeispiel für das so häufige Faktum, daß eine aus dem antiken römischen Recht überlieferte Lösung später parallel im kirchlichen und im bürgerlichen Recht weiterentwickelt wurde. 2. Entscheidungsmuster und Anwendungsfälle Für die Entwicklung unseres Problems in der Kanonistik war wesentlich, daß in Anknüpfung an die Regula I des liber Sextus (Beneficium ecclesiasticum non potest licite sine institutione canonica obtineri, V 12) detaillierte Regeln über die rechtmäßige Erlangung kirchlicher Ämter (durch provisio canonica) herausgearbeitet wurden. Sie haben in den Grundsätzen der can. 147ff. Cod. iur. can. (= CIC) 1917 und heute der can. 146ff. CIC 1983 ihren Niederschlag gefunden. Damit ergab sich die Frage nach der Wirksamkeit der Amtshandlungen bei Mängeln der kanonischen Amtsübertragung. In schwankender Terminologie unterschied man den praelatus intrusus (i.e. S.), der sich auf überhaupt keine provisio stützen kann 4 6 , und den praelatus putativus, bei dem die provisio von Anfang an fehlerhaft ist oder es später wird; doch wurden auch beide Fälle unter dem Begriff des praelatus intrusus (i.w.S.) zusammengefaßt 47 . Für die differenzierenden Regeln, die hierzu entwickelt wurden, kann als ungefähre Richtlinie gelten, daß die Handlung bei Vorliegen eines titulus coloratus wirksam ist, wenn also der Handelnde als legitim eingeführter Amtsinhaber erscheint. Dabei war freilich streitig, ob eine duplex ratio zu 43
So Bartolus und Baldus, s. Lucifredi
Peteriongo (Fn. 1), S. 101 f. m. Anm. 287,
288.
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Verum, si servus dum putaretur liber, ex delegatione sententiam dixit, quamvis postea in servitutem depulsus sit, sententia ab eo dieta rei iudicatae firmitatem tenet. 45 San Alfonso de Ligorio (1696 - 1787), Opera moral, (hrsg. von Gaudé), 3, 1909, S. 586 η. 572 (zum error communis). Dies nach der Lehre, daß leges civiles non reprobatae videntur tacite approbatae a jure canonico, s. ders., Op. 1, 1905, S. 89 η. 106. Vgl. Fedele (Fn. 1), S. 333 Anm. 42 m.w.Zit., auch S. 334, 336. 46 Mag er das Amt aus eigener oder aus kirchenfremder Macht an sich gebracht haben. 47 Fedele {Fn. 1), S. 329 f.
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fordern war, d.h., noch der error (actualiter) communis hinzukommen mußte, oder ob nicht allein auf die utilitas abzustellen war 4 8 . Späteren Lehren folgend hat der CIC 1917 in can. 209 den bloßen error communis genügen lassen, also ohne daß es auf eine Gewaltübertragung ankäme; der CIC 1983 hat dies in can. 144 beibehalten (u. V I 1). Die Bedeutung unseres Problems im Kirchenrecht wird daran augenfällig, daß sich gut zwanzig typische Fallgruppen aus der kirchlichen Praxis zusammenstellen lassen 49 . Dabei geht es von Fällen der electio valida mit anschließender confirmatio nulla (und umgekehrt) über Beispiele des praelatus excommunicatus, haereticus, suspensus, des Schismatikers, des Simonisten etc. oder über solche des Priesters, der ohne potestas iurisdictionis in foro conscientiae Beichten abnimmt, oder über solche eines Bischofs de facto consecratus, der die Priesterweihe vornimmt, bis hin zu dem Fall des Papa intrusus oder sogar dem, daß eine Frau in das Amt des Papstes gewählt wird - was auf eine wunderliche Fabel zurückgeht, die jahrhundertelang Glauben gefunden hat: Nach dem Tode Leos IV. (855) habe eine Päpstin Johanna zwei Jahre lang den Stuhl Petri innegehabt 50 . Doch müssen wir uns auf einen Fall aus dem Eherecht, den des parochus putativus, beschränken. VI. Vom parochus putativus zum Scheinstandesbeamten 1. Kirchenrecht Das Problem wurde akut, seit am 11. November 1563 auf dem Tridentiner Konzil die heimlichen Eheschlüsse, weil sie zu schweren Mißständen geführt hatten, künftig für null und nichtig erklärt wurden. Hinfort wurde eine Ehe nur dann als wirksam anerkannt, wenn sie, nachdem die Aufgebote an drei aufeinanderfolgenden Sonn- oder Festtagen durch den Pfarrer der Brautleute verkündet waren, in facie ecclesiae vor dem Pfarrer oder einem anderen Priester (praesente parocho vel alio sacerdote) und zumindest zwei Zeugen geschlossen wurde 5 1 . Von nun an wird die Frage: utrum matrimonium initum coram parocho communiter existimato, non tarnen habenti verum titulum sit validum? 48
Fedele (Fn. 1), S. 335, 340ff., 351ff., 365f. pass. Siehe die Aufzählung bei Fedele (Fn. 1), S. 336f. Dazu Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (hrsg. von Kampf) 1, 1978, 518f. - Das Beispiel wurde oft angeführt, s. Gothofredus (Fn. 1), II, Sp. 527 m.w.N., dazu Gottfried Wilh. Leibniz, Flores sparsae in tumulum Papissae, in: Bibliotheca Historica Goettingensis, 1758, S. 297 - 392. 51 C.l De reform, matrimonii (XXIV. Sess.). - Zur langwierigen Entstehungsgeschichte s. etwa Emil Friedberg, Das Recht der Eheschließung, 1865 (Nachdr. 1965), S. 101 ff. 49
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(Sanchez) zum festen Bestandteil aller Traktate zum Eherecht. Das maßgebliche Modell hierfür geht auf Thomas Sanchez zurück 5 2 , und es ist kennzeichnend, daß er in seinem grundlegenden Werk über die Ehe die Erörterung des oben formulierten Problems mit der Bemerkung einleitet: Tota huius disputationis difficultas pendet ex intellectu 1. Barbatius 53 . Seine in 7 Quästionen ausführlich entwickelte Lehre geht dahin, daß die vor einem parochus putativus (nicht intrusus) geschlossene Ehe wirksam ist, wenn dieser einen (sei es auch fehlerhaften) titulus collatus a legitimo superiori hat und ein communis error besteht 54 . Daß letzterer nicht genügt, erläutert er an einem von ihm begutachteten Fall (n. 63): Ein Stadtrat hatte den abwesenden Pfarrer durch einen simplex sacerdos ersetzt, der während seiner zweijährigen Amtsführung von allen als verus parochus angesehen wurde. Die Ehen seien ungültig und neu einzugehen quia defuit titulus in parocho ilio praesumpto collatus a legitimo superiore Ecclesiastico; doch seien die Kinder wegen des guten Glaubens der Eltern ehelich. Durchgesetzt hat sich freilich die im 16. Jh. aufgekommene Lehre, wonach der communis error genügt, weil die Kirche für den inneren und äußeren Bereich die fehlende Leitungsgewalt durch Delegation ersetzt. Sie wurde durch can. 209 CIC 1917 offiziell in Geltung gesetzt und gilt heute nach can. 144 CIC 1983, wobei die schwierige Verweisung auf can. 1111, § 1 ihre Anwendbarkeit auch in Fällen fehlender Trauvollmacht sichert. Zu beachten bleibt jedoch, daß auch diese Lehre auf den alten Fundamenten fußt: Suarez, der sie zur Beichte erstmals entwickelte, hat als wesentlich hervorgehoben: . . . re vera illam (sc. jurisdictionem ad ministrandum hoc sacramentum) habere ex tacita Ecclesiae concessione. Hoc autem ita esse, fundari potest, quia est hoc principium jure receptum, ut qui communi existimatione et opinione magistratum gerit, licet in re ipsa munus illud vero titulo non obtineat, nihilominus gesta ejus valeant, propter commune bonum, juxta 1. Barbatius, ff. de Offic. Praetoris 55 .
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2 Fedele (Fn. 1), S. 363 ff. Thomas Sanchez, Disputationum de Sancto matrimonii sacramento, 1619, Lib. III, disp. X X I I η. 1 - 65 (S. 279 ff.). Er gibt den Text (ohne den Pomponius betreffenden Teil) wieder und weist u.a. auf C.7.45.2 hin. 54 Qu. 7 n. 60: Si autem titulum habuit a legitimo superiori, invalidum tarnen ob Vitium occultum, valet matrimonium. Quia dum adest communis illa ignorantia, veram parochi in utroque foro iurisdictionem h a b e t . . . (61) Et hoc quidem verum est, quamvis contrahentib. notum sit ilium vero parochi titulo carere: quia . . . etiam respectu scientium t i tuli nullitatem valent gesta, dum adest communis error. 55 Francisco Suarez (gestorben 1617), Opera omnia (hrsg. von Berton), 22, 1856, S. 555 (De sacramentis confessionis, disp. XXVI, sect. V I n. 7). Vgl. dazu Fedele (Fn. 1), S. 368ff. 53
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2. Frankreich Im Jahre 1792 wurde in Frankreich die obligatorische Zivilehe eingeführt; der Code civil [Cc] von 1804 hat sie übernommen, Art. 74ff., 165ff. Cc 56 . Seitdem muß die Ehe nach einem mindestens zehn Tage vorangehenden Aufgebot am Wohnsitz oder Aufenthaltsort eines der Partner vor dem zuständigen Standesbeamten im Beisein von mindestens zwei Zeugen öffentlich geschlossen werden, Art. 75, 165 Cc. Die berühmte affaire des mariages de Montrouge brachte das Problem: Der als Standesbeamter zuständige Bürgermeister von Montrouge hatte sich von einem Gemeinderat mehrfach vertreten lassen. Dieser hatte im Februar 1882 die Eheleute Β und E und im August die Eheleute Ρ getraut. Es stellte sich heraus, daß er wegen Verletzung der Reihenfolge der Vertreter im Amt nicht der zuständige Standesbeamte gewesen war. Die vom Staatsanwalt erhobene Nichtigkeitsklage war in erster Instanz erfolgreich, was heftige Diskussionen auslöste. Die Eheleute Β erreichten die Aufhebung des sie betreffenden Urteils in der Berufungsinstanz. Dagegen ließen die Eheleute E und Ρ die gegen sie ergangenen Urteile rechtskräftig werden; doch wurden diese Ehen auf die Kassationsbeschwerde hin, die der Generalstaatsanwalt auf Weisung des Justizministers einlegte, für gültig erklärt 5 7 . Die Schwierigkeit des Falles bestand in folgendem: Art. 192 Cc sieht für Verstöße gegen wesentliche Bestimmungen zum Aufgebot und zur Dispenserteilung Geldstrafen gegen die Beteiligten vor. Art. 193 Cc erstreckt diese Sanktion auf Verstöße gegen die in Art. 165 Cc festgesetzte Öffentlichkeit des Eheschlusses vor dem Standesbeamten des Wohn- oder Aufenthaltsorts, sofern diese Verstöße nicht als so schwer zu beurteilen sind, daß sie zur Vernichtbarkeit der Ehe führen. Demgegenüber bestimmt Art. 191 Cc schlechthin die Vernichtbarkeit jeder Ehe, die nicht öffentlich vor dem officier compétent geschlossen ist. Doch leitet die Rechtsprechung aus Art. 193 Cc entgegen dem Wortlaut der Vorschrift die Befugnis ab, auch in den Fällen des Art. 191 Cc (Kompetenzmängel) die Vernichtbarkeit von einer Würdigung des jeweiligen Einzelfalles abhängig zu machen 58 . Die noch heute viel zitierte und allgemein gebilligte Entscheidung des Kassationshofs zu den Ehen von Montrouge stellt einen entscheidenden und charakteristischen 56 Friedberg (Fn. 51), S. 558ff., 569ff. (510, 535, 541, 543 zu früheren Ansätzen, 1787 fakultativ für Protestanten); Hermann Conrad, ZRG GA 67 (1950), S. 336, 353 ff. 57 Cass. civ. 7. 8. 1883 Sir. 1884,1 S. 5; 1. Instanz: Trib. civ. de la Seine 23. 2. 1883 ebd., S. 10; 2. Instanz: Cour de Paris 20. 8.1883 ebd., I I S. 20. - Bericht schon bei Otto Fischer (u. Fn. 68), S. 266f. 58 Gabriel Marty / Pierre Raynaud, Droit civil, 1/2, 2. Aufl. 1967, S. 129f.; Marcus Lutter, Das Eheschließungsrecht in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland, 1963, S. 167f., 181 f., zugleich (S. 171f., 182f.) zu den Fällen der Überschreitung der Bezirksgrenzen, in denen man den Eheschluß als gültig ansieht, sofern die Verlobten nicht bewußt gegen die gesetzliche Regelung verstießen.
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Schritt auf diesem Wege dar: Die Verletzung von öffentlichrechtlichen Bestimmungen zur Bestellung des Vertreters im Amt wurde für nicht so gewichtig erachtet, daß sie die Nichtigkeit der Amtshandlungen nach sich ziehen müßte. „ I I n'est pas discutable que la décision soit directement inspirée du principe Error communis facit jus" bemerken Roland / Boy er 59 dazu. In der Tat hat der conseiller rapporteur seinerzeit mit allem Nachdruck hervorgehoben: „Vous vous rappelez la célèbre loi 3 .. ., la loi Barbarus Philippus. Ulpien y a érigé en principe de droit la maxime de bon sens et de nécessité sociale: error communis facit ius". Es folgen Ausführungen zu dieser lex, Hinweise auf Inst. 2.10.7 (o. I I I 2) und jurisconsultes les plus éminents, die sich für die aktuelle Geltung der Regel aussprechen; später w i r d die lex Barbarius nebst der Glosse im Wortlaut wiedergegeben, und der Schlußappell lautet: „Interpreter la loi dans un sens large, humain, suivant la belle expression romaine, c'est une grande mission, c'est celle de la Cour suprême" 60 . 3. England Auch in England hatten die klandestinen Ehen zu schweren Übelständen geführt 61 . Zur Sicherung der Publizität bestimmte deshalb 1753 der Lord Hardwicke's Act, die Ehe könne grundsätzlich nur nach dreimaligem Aufgebot in der Gemeindekirche einer der Parteien vor einem Geistlichen und in Gegenwart zweier Zeugen nach anglikanischem Ritus wirksam geschlossen werden. Damit konnte das hier interessierende Problem auch in England auftreten. Da überdies für noch nicht einundzwanzigjährige Brautleute das Erfordernis der elterlichen Einwilligung festgeschrieben wurde, wichen die Paare in der Folgezeit immer häufiger nach Schottland aus, wo das vortridentinische Eherecht (bis 1940) weitergalt. Allerdings mußte der Konsens vor einem Zeugen erklärt werden. Die starke Zunahme der „Gretna Green Marriages", benannt nach der ersten Ortschaft hinter dem Hadrianswall, wo meist der Schmied als Trauzeuge fungierte, löste den Marriage Act von 1823 aus. Dieser erhielt zwar die 59 Roland / Boyer (Fn. 41), S. 281. 60 Sir. 1884, I S. 10, 13, 16f. - Auch Labbé stützt sich in seiner Urteilsanmerkung (ebd, S. 5, 8) auf die Quellen und die Rechtsregel, meint aber, sie gingen nicht weit genug, weil sie keine Sicherheit für die Zukunft gäben. Er hebt am Ende hervor: „ I I faut traiter humainement les choses humaines". - Zu den Entwicklungen bei der Putativehe (Art. 201 Ce) s. Ulrich Steding, Der rechtl. Schutz nichtstandesamtlich geschlossener Ehen, 1985, S. 91 ff. 61 Friedberg (Fn. 51), S. 335 f f , 444ff. - Zur englischen Rechtsentwicklung eingehend vgl. S. 39ff, 47ff, 309ff, 346ff, 370ff, 409ff, dazu Dieter Giesen, Grundlagen und Entwicklung des engl. Eherechts in der Neuzeit, 1973, S. 311 f f , 561 f f , 567 ff. und etwa Bromley's Family Law, 6. Aufl. 1981, S. 35 ff.
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Formerfordernisse für den Eheschluß im wesentlichen aufrecht, ließ die harte Nichtigkeitssanktion aber nur bei Kenntnis eingreifen, wenn beide Parteien „knowingly and wilfully" die Ehe vor einer person not in holy orders eingegangen waren. Auch durch die Einführung der fakultativen Zivilehe (1836), die Gestattung des Eheschlusses vor einer authorised person (1898) und die spätere Gesetzgebung bis hin zu den Reformen von 1969/70 änderte sich daran nichts mehr. Daß diese klare Lösung zugunsten des Vertrauensschutzes von den römischen Quellen und den kanonistischen Lehren beeinflußt ist, wird man vermuten dürfen 62 . 4. Deutschland In Preußen wurde 1874, in Deutschland 1875 die obligatorische Zivilehe eingeführt 63 . Das Problem des „Scheinstandesbeamten" wurde von Anbeginn an bedacht. Über zwei Fallgruppen bestand schon zu Anfang Einigkeit: Wenn der Standesbeamte, weil keiner der Verlobten den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort in seinem Bezirk hat, zwar nicht zuständig ist, die Ehe aber vor ihm geschlossen wird, so steht das der Wirksamkeit nicht entgegen. Dies ist über §§ 42 Abs. 2 PersStG 1875, 1320 Abs. 1 BGB 1900 und § 19 Abs. 1 EheG 1938 zur Aussage des heutigen § 15 Abs. 1 EheG geworden. Des weiteren bestand Einigkeit darüber, daß in Fällen wie denen der Ehen von Montrouge eine formgültige Ehe zustandekommt, also wenn „eine als Stellvertreter eines Standesbeamten für einen bestimmten Bezirk ernannte Person innerhalb dieses Bezirks bei einer Eheschließung mitwirkt, obgleich eine Veranlassung, als Stellvertreter einzutreten, nicht vorlag" 6 4 . Ungewißheiten bestanden dagegen vor allem beim Handeln außerhalb des Amtsbezirks, aber auch bei dem zunächst kaum diskutierten (vom intrusus her aber geläufigen) Fall fehlender Bestellung. Zur ersten Fallgruppe bestimmte § 1245 Abs. 1 E I (im Anschluß an § 28 Abs. 2 VorE): „Wenn ein Standesbeamter außerhalb seines Amtsbezirks . . . als Standesbeamter handelt, so gilt er nicht als Standesbeamter". Zugrunde lag dem der Gesichts62
Die bei Jos. Jackson, The Formation and Annulment of Marriage, 2. Aufl. 1969, S. 167 Anm. 3 aus der Zeit vor 1823 angeführten Urteile sind insoweit unergiebig. Doch wird die Annahme schon durch die seit langem etablierte Doktrin vom de facto officer (vgl. dazu unten Fn. 81; Bericht der einschlägigen Rechtsprechung seit 1431 i n State v. Carroll [1871] [38 Conn. 449] 9 American Reports, S. 409, 415ff.) gestützt. 63 § 41 PersonenstandsG v. 6.2.1875 (RGBl. S. 23); § 24 Preuß. G. v. 9.3.1874 (GS. 95), dazu Hermann Conrad, in: Festschrift H. Lehmann 1,1956, S. 113ff.; zum Kampf um die Übernahme ins BGB s. Conrad, Hist. Jahrb. 72 (1953), S. 474ff. 64 So schon (im Anschluß an Petersen, Hausers Zeitschrift für Reichs- u. Landesrecht 3, 1877, S. 8f.) § 28 Abs. 2 Vorentwurf, s. Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB, hrsg. von Werner Schubert, Familienrecht 1,1983 (aus 1875 - 1888), S. 292 (neue Zählung); sodann 1. Komm, bei Horst Heinrich Jakobs / Werner Schubert, Die Beratung des BGB, §§ 1297 - 1563 (1987), S. 97; Motive IV, S. 37 (zit.).
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punkt, daß der für einen bestimmten Bezirk bestellte Beamte außerhalb seines Bezirks nur die Eigenschaft eines Privatmannes hat 6 5 . Doch setzten sich gegenüber dieser doktrinären Erwägung die historischen Erfahrungen wieder durch. Die 2. Kommission schuf den § 1319 BGB 1900, indem sie einen Antrag Struckmanns übernahm und durch das Erfordernis mangelnder Kenntnis ergänzte: „Als Standesbeamter im Sinne des §1317 gilt auch derjenige, welcher, ohne Standesbeamter zu sein, das Amt eines Standesbeamten öffentlich ausübt, es sei denn, daß die Verlobten den Mangel der amtlichen Befugnis bei der Eheschließung kennen" 66 . Dies ist in Art. 113 ital. Cc übernommen worden. Im § 15 Abs. 2 EheG 1938 wurde allerdings das subjektive Erfordernis mit der Begründung, die unbefugte Amtsausübung müsse ihren Niederschlag in den Registern finden, durch das objektive Tatbestandsmerkmal ersetzt, daß der Scheinstandesbeamte die Ehe in das Familienbuch (jetzt Heiratsbuch) eingetragen hat; dies gilt nach § 11 Abs. 2 EheG noch heute 67 . Den entscheidenden Schritt hatte jedoch die 2. Kommission getan - offensichtlich unter dem Einfluß einer Studie Otto Fischers. Dieser hatte auf die lex Barbarius, den parochus putativus, die Ehen von Montrouge und auf mehrere bedenklich entschiedene Fälle der jüngeren Praxis hingewiesen, in denen Standesbeamte außerhalb ihres Bezirks oder vor ihrer Bestellung gehandelt hatten, und er hatte daraufhin gefordert: „Noch nothwendiger ist aber die Aufstellung des Rechtssatzes, daß eine Eheschließung nicht nichtig ist, wenn sie ein Nichtstandesbeamter, der öffentlich für den Standesbeamten gehalten wurde, vorgenommen hat" 6 8 . Daß die 2. Kommission hieran anknüpfte, ist an ihrer Diskussion, in der auch der parochus putativus aufscheint, gut erkennbar 69 . Das Ergebnis ist, daß mit dem Abstellen auf die öffentliche Ausübung des Amtes eines Standesbeamten nunmehr der Vertrauensschutz auch auf die beiden verbliebe65 VorE zu § 28 Abs. 2, s. Vorentwürfe (Fn. 64), S. 291; Motive IV, S. 36. Vgl. Petersen (Fn. 64), S. 7 f. (mit ablehnendem Hinweis auf die französische Praxis, dazu o. Fn. 58). Demgemäß hat das K G angenommen, eine Ehe, die vor einem außerhalb seines Bezirks handelnden Standesbeamten geschlossen war, sei ungültig, Beschl. v. 5. 4. 1882, KGJ 4, 349f. = Anton Reger, Entscheidungen 4, S. 418f. 66 Im gleichen Sinne wurde § 8 des Gesetzes betr. die Eheschließung . . . von Bundesangehörigen im Auslande v. 4.5.1870 (BGBl. 599) durch Art. 40 E GB GB neu gefaßt, vgl. Prot. VI, S. 588f.; Karl F. Reatz, 2. Lesung, S. 23. 67 Begründung DJ 1938, 1104, dazu Heinrich Lange, AcP 145 (1939), S. 155f. Ebenso § 15 Abs. 2 österr. EheG. - Es handelt sich um eine einschränkende Konkretisierung der öffentlichen Amtsausübung. 68 Jher. Jahrb. 29 (1890), S. 248, 251ff., 266f, 282ff, 289ff. (S. 290 zit.). - Kurzbericht dazu in: Zusammenstellung der gutachtl. Aeußerungen, hrsg. vom Reichsjustizamt, IV, 1890, S. 33, was Prot. IV, S. 43 ausdrücklich zur Grundlage nimmt. - Siehe auch Enneccerus / Wolff, Lehrb. d. Bürgerl. Rechts, II/2/1 (Familienrecht), 1./2. Aufl. 1912, S. 67 Anm. 10: „Entscheidend dürfte der Aufsatz Fischers . . . gewirkt haben". 69 Prot. IV, S. 43 - 47. Vgl. auch Jakobs / Schubert (Fn. 64), S. 106, 108.
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nen Zweifelsfälle erstreckt wurde, den der fehlenden Bestellung und den des Handelns außerhalb des Amtsbezirks. Damit kann Ulpians Bilanz gezogen werden: N i h i l eorum reprobari. Ein Einzelfall ist das nicht. Beispielsweise sind Beurkundungen nicht deshalb unwirksam, weil der Notar sie außerhalb seines Amtsbezirkes vorgenommen hat, §§ 2 BeurkG, 11 Abs. 3 BNotO. Eine vergleichbare, allerdings die erhebliche Einschränkung eines allgemeinen Irrtums über die Distriktsgrenzen aufweisende Bestimmung enthält der Art. 981 des argentinischen Código civil von 1869. Daß diese Bestimmung in Anknüpfung an die lex Barbarius geschaffen ist, hat der Gesetzesredaktor Vêlez Sarsfield ausdrücklich hervorgehoben 70 . Doch stehen w i r damit schon vor einem weiteren Bereich.
VII. Weitere Spuren 1. Scheinbeamter Daß in der lex Barbarius, wie insbesondere Gothofredus 71 hervorgehoben hatte, ein verallgemeinerungsfähiges Prinzip zum Ausdruck kommt, hat sich mit der fortschreitenden Verselbständigung des öffentlichen Rechts seit dem ausgehenden 19. Jh. erneut erwiesen. Häufig ist in der einschlägigen öffentlichrechtlichen Literatur auf die §§ 1319 a.F. BGB, 11 Abs. 2 EheG Bezug genommen worden, freilich meist im Hinblick auf deren weitestgehenden Anwendungsfall, daß ein Privatmann in der Rolle des Scheinstandesbeamten eine rechtswirksame Amtshandlung vornimmt 7 2 . Denn es versteht sich, daß grundsätzlich Handlungen von Privatpersonen, wie etwa die des Schusters Voigt als Hauptmann von Köpenick, keiner Verwaltungsbehörde zugerechnet werden können und damit „Nicht-Verwaltungsakte" sein müssen. Dies sind die klassischen Fälle des usurpator und des intrusus i. e. S., an die das ALR anknüpft 7 3 und denen man kennzeichnenderweise nur in Zeiten revolutionärer Umstürze die Anerkennung nicht versagt 74 . Doch 70 In der nota zu Art. 981. Die Anmerkungen werden noch heute den Gesetzesausgaben beigefügt. 71 Siehe oben Fn. 40; daneben etwa Suarez (Fn. 55). 72 So etwa Walter Jellinek, Der fehlerhafte Staatsakt etc., 1908, S. 55 (mit deutlichem Unbehagen gegenüber dem „abnormen Rechtssatz"); ders., Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 271; Julius Hatschek, Lehrb. d. dt. u. preuß. Verwaltungsrechts, 5./6. Aufl. 1927, S. 98f.; Ernst Forsthoff, Verwaltungsrecht Allg. Teil, 10. Aufl. 1973, S. 234; Hans-Uwe Erichsen / Wolfgang Martens, Allg. Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1988, S. 180 Anm. 55. 73 §§ 76, 77 I I 10 ALR: „Niemand soll sich eigenmächtig der Verwaltung eines Amts anmaßen, wozu er von der vorgesetzten Behörde nicht angewiesen worden. - Wer dieses thut, und vermöge eines solchen Amts Handlungen vornimmt, zu welchen er nach den Gesetzen überhaupt nicht qualificirt ist, dessen Handlungen sind unkräftig". 74 W. Jellinek, Verwaltungsrecht (Fn. 72), S. 272; Forsthoff (Fn. 72), S. 235 Anm. 1.
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ist dies nicht mehr der Fall der lex Barbarius, in der es darum ging, daß eine unerkannt unwählbare Person mit Willen des Volkes in das Amt eingesetzt wurde. Ganz entsprechend bilden die Fälle fehlerhafter Bestellung den Hauptbereich der §§ 1319 a.F. BGB, 11 Abs. 2 EheG 75 . Der Gedanke des Vertrauensschutzes hat sich auch im heutigen Verwaltungsrecht durchgesetzt 76 . Reichsrechtlich bestimmte erstmals § 34 des Deutschen BeamtenG v. 1937, daß, wie es in der Amtlichen Begründung heißt, „aus Gründen der allgemeinen Rechtssicherheit... die Amtshandlungen von solchen, nach außen als Beamte erscheinenden Personen bis zu einem erkennbaren Zeitpunkt in der gleichen Weise gültig sein sollen, wie wenn sie ein Beamter ausgeführt hätte" 7 7 . Im Anschluß daran läßt § 14 BBG 1953/1977 bei nichtiger oder zurückgenommener Ernennung die Amtshandlungen des Ernannten bis zum Verbot der Führung weiterer Dienstgeschäfte oder bis zur Zustellung der Rücknahmeerklärung in gleicher Weise gültig sein, wie wenn sie ein Beamter ausgeführt hätte. Die Landesbeamtengesetze enthalten entsprechende Regelungen, z.B. § 14 LBG NW, und die einschlägigen Kommentierungen betonen übereinstimmend, daß dies im Interesse der Rechtssicherheit und des Schutzes betroffener Dritter gelte. Darüber hinaus ist man sich darüber einig, daß überhaupt, auch soweit ausdrückliche Regelungen wie § 14 BBG fehlen, die Rechtsunwirksamkeit der Bestellung des handelnden Amtsträgers in der Regel kein Nichtigkeitsgrund ist 7 8 . Eine der komplexen Ursachen auf diesem Wege hin zum „Scheinbeamten" wird durch den „Scheinstandesbeamten" des § 1319 a.F. BGB gesetzt sein 79 . Eine andere wird in dem schon in der Weimarer Zeit herausgebildeten haftungsrechtlichen Beamtenbegriff liegen, für den es ebenfalls nur darauf ankommt, daß „jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht" verletzt (Art. 34 S. 1 GG). Neben weiteren Gründen, etwa der Überwindung absolutistischer Staatsvorstellungen, wird eine der Ursachen schließlich auch in der Anknüpfung an fremde Rechtsordnungen, insbesondere an das 75 Was auch in der verwaltungsrechtlichen Lit. gesehen wird, vgl. W. Jellinek (Fn. 72), S. 271, 272. 76 Maßgeblich seinerzeit Jellinek (Fn. 72); Ernst v. Hippel, Untersuchungen zum Problem des fehlerhaften Staatsaktes, 1924, 2. Aufl. 1960, insbes. S. 72ff. - Vgl. etwa auch Hatschek (Fn. 72), S. 99. 77 Abdr. bei Schneider / Eggerdinger / Schubnell, Deutsches Beamtengesetz 1937, 2. Aufl. 1942, S. 402. 78 Woran die Verwaltungsverfahrensgesetze nichts geändert haben, s. Ferdinand Kopp, VerwaltungsverfahrensG, 4. Aufl. 1986, § 44 Rz. 13 m.w.N. 79 Auch bei einem aufsehenerregenden Fall, der sich 1914 ereignete, wurde die Norm diskutiert: Ein steckbrieflich gesuchter Hochstapler war unter dem Namen Dr. jur. Alexander zum 2. Bürgermeister der Stadt Köslin gewählt worden; man stritt um die Wirksamkeit seiner Amtshandlungen. Doch war seine Bestellung in formell richtiger Weise erfolgt. Siehe dazu BAmt f. d. Heimatwesen, DJZ 1914, S. 884f.; Gerhard v. Buchka ebd., S. 85Iff.; Jellinek (Fn. 74), S. 272 m. Anm. 4.
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französische Verwaltungsrecht, zu erblicken sein, wo sich mit dem „fonctionnaire de f a i t " 8 0 (vergleichbar wie im anglo-amerikanischen Recht mit dem „de facto officer" und im italienischen mit dem „funzionario di fatto" 8 1 ) schon früh eine unzweifelhaft vom römisch-kanonischen Recht inspirierte Figur entwickelt hatte, die die weitreichende Aufrechterhaltung von Handlungen unwirksam bestellter Amtspersonen impliziert. Wie zum Beamten stellt sich das Problem auch zum Notar, und es findet sich auch hier die schon beim praelatus intrusus i. w. S. beobachtete Abgrenzung (o. nach Fn. 47): Gleichgültig ob die Ernennung erschlichen oder von unrechtmäßiger Staatsgewalt bewirkt ist, „der Billigkeit entspricht es, daß in diesen beiden Fällen, in denen der Notar doch von der Staatsgewalt tatsächlich ernannt ist und von der Bevölkerung als öffentlicher Notar angesehen werden mußte, die Beteiligten geschützt werden müssen . . . Anders ist die Rechtslage, wenn sich jemand fälschlich für einen Notar ausgibt. Die Beurkundung eines solchen Scheinnotars ist nichtig"* 2. Aufgrund des § 50 BNotO von 1961 steht heute fest, daß ein einmal bestellter Notar bis zu seiner Amtsenthebung wirksam beurkundet, mag es auch an wesentlichen Voraussetzungen für die Ernennung gefehlt haben. Anders soll es nur sein, wenn nicht einmal die Bestallungsurkunde ausgehändigt worden sei, weil der Bewerber dann überhaupt nicht Notar werde 83 .
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Deutlich v. Hippel (Fn. 76), insbes. S. 73ff. pass., der hier vor allem an Jèze anknüpft und auch die Ehen von Montrouge erwähnt. Jèze, Les principes généraux du droit administratif, 3. Aufl. 1926, bringt das Beispiel des fehlerhaft bestellten Standesbeamten und weist nachdrücklich auf die verschiedenen zivilrechtlichen Wurzeln hin. - Cour d'Alger 22.2.1858: „ L a capacité putative d'un fonctionnaire supplée la capacité réelle" (bei Roland / Boyer [Fn. 41], S. 282). 81 S. K. Richard Wallach, De facto office, in: Political Science Quarterly 22 (1907), S. 460 ff. (S. 463 m. w.N.: „Thus it is seen that the courts of England and of the United States both lay down the rule that in determining whether a man is a usurper, whose official acts are absolutely null and void, or a de facto officer, whose acts have the force of de jure acts in all except direct proceedings, dependence is placed simply upon the sufficiency of the color of title to his office"; überall evidente Anlehnungen an das Kirchenrecht); H. W. R. Wade, Administrative Law, 4. Aufl. 1977, S. 287ff. Vgl. auch oben Fn. 62. Für Italien s. Lucifredi (Fn. 1), S. 117ff.; Miele, N N D I 7, 1961, S. 685 s. v. Funzionario pubblico. - Die lex Barbarius taucht z.B. in einer Entscheidung des Consiglio di Stato v. 3.10.1919 auf, Giurispr. It. 1920, III, S. 31, 33 (in einem Zitat aus Voet). 82 Hermann Oberneck, Das Notariatsrecht der deutschen Länder, 8./10. Aufl. 1929, S. 14, unter Berufung auf Karl F. Rietsch, Hdb. der Urkundwissenschaft, 2. Aufl. 1904, S. 233, der auf D.I.14.3 hinweist und § 1319 BGB 1900 verallgemeinern will. Übrigens nennt schon Gothofredus (Fn. 40) den Notar. - In Frankreich gilt für den Fall der incompétence und der incapacité der Urkundsperson, daß die ausgestellten Urkunden als private aufrechterhalten werden, sofern sie von den Parteien unterschrieben sind, Art. 1318 Cc, ebenso Art. 1223 span. Cc, Art. 987 argentin. Cc. Hierzu ist unter Berufung auf die lex Barbarius angenommen worden, wenn die fehlerhafte Bestellung vom Staat veranlaßt sei, müsse die Urkunde als öffentliche anerkannt werden, Garcia Goyena (Fn. 86), S. 637f. 83 Vgl. Herbert Arndt, Bundesnotarordnung, 2. Aufl. 1982, § 5 A. I I 1, § 50 A. I I 1.2. - Für den theoretischen Fall, daß ein Bewerber dennoch von der Landesjustizver-
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2. Putativzeuge Weiterverfolgen lassen sich verschiedene andere Spuren, etwa zum Putatiwormund, zu dem das BGB einer klaren Entscheidung ausgewichen ist 8 4 , bis hin zum Putativzeugen. Nach C.6.23.1 und Inst.2.10.7 (o. I I I 2) führte es nicht zur Nichtigkeit des Testaments, wenn unerkannt ein Sklave als Zeuge hinzugezogen war. Das vergleichbare Problem stellte sich in Frankreich durch Art. 980 Cc, wonach die beiden Testamentszeugen volljährige französische Staatsbürger sein müssen. Unter Berufung auf die erwähnten Quellen nebst der lex Barbarius und auf die daraus gebildete und schon im ancien droit geltende Parömie error communis facit ius wird dazu in feststehender Rechtsprechung entschieden, daß die Hinzuziehung eines Ausländers oder eines Minderjährigen nicht schadet, sofern dieser nur allgemein als französischer Staatsbürger oder Volljähriger angesehen werde 85 . Daß man daran unter Einbeziehung der antiken Quellen in Spanien und in Lateinamerika angeknüpft hat, zeigt sich auch hier 8 6 . Der deutsche Gesetzgeber hat das Problem, das früher insbesondere hinsichtlich derer bestand, denen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt waren, dadurch überwunden, daß er den Ausschluß untauglicher Testamentszeugen nur durch eine Sollvorschrift angeordnet hat 8 7 . 3. Entscheidungskonstanz Seit Ulpians Entscheidung zum Fall des Barbatius Philippus hat sich als Konstante herausgebildet, daß Mängel bei der Bestellung einer Amtsperson die Wirksamkeit ihrer Amtsakte nicht beeinträchtigen. Die Bestellung bildet - wie die Veranlassung bei den zivilrechtlichen Rechtsscheintatbestänwaltung zur Aufnahme der Amtstätigkeit veranlaßt wird, wird jedoch die Gültigkeit der Amtshandlungen zu bejahen sein. - Vgl. zum Notarvertreter § 44 Abs. 2 BNotO. 84 Siehe immerhin §§ 115 Abs. 1 S. 2 BGB, 32 FGG. Vgl. dazu Vorentwurf Familienrecht 2 (Fn. 64), S. 1058ff.; 3, S. 716ff, 814; Mot. IV, S. 1081; Prot. IV, S. 753f. Zum Problem s. BGH FamRZ 1956, S. 379 (zu § 47 JWG a. F , jetzt § 1791 a BGB): § 32 FGG analog. - In Frankreich ist der unrechtmäßig bestellte tuteur putatif einer der Hauptanwendungsfälle der Regel vom error communis, s. Roland / Boyer (Fn. 41), S. 282. 85 Siehe etwa M. Merlin, Répertoire de jurisprudence 33, 5. Aufl. 1828, S. 65ff, s. v. Témoin instr. § 2 I I I 26 m. ält. N.; Cass. civ. 6.5.1874 Dalloz 1874, S. 412ff. (cons. Conelly m.w.N.) [jeweils v. fr. 14.3 ausgehend]; Cass. civ. 20.10.1970 Dalloz 1971, S. 201 (cons. Dedieu), Cass. civ. 16.5.1979 Dalloz 1980, S. 141. 86 Siehe nur Garcia Goyena Concordancias, motivos y comentarios del Código civil espanol, 1852 (Nachdr. 1974), zu Art. 590 (vgl. Art. 681 span. Ce), S. 319, und Art. 3697 argentin. Cc („Un testigo incapaz debe ser consideralo corno capaz, si ségun la opinión comùn, fuere tenido corno tal") mit nota. 87 Siehe zum § 2237 BGB 1900 Mot. V, S. 266ff, weitergehend Prot. V, S. 335 (zum Schutze der Sicherheit der Testamente), VI, S. 570f, sodann zusätzlich erweiternd § 10 TestG v. 1938 (u.a. auch bei geisteskranken oder des Deutschen nicht hinreichend mächtigen Zeugen), § 2237 BGB i.d.F. von 1953, nunmehr § 26 BeurkG v. 1969 (mit Einschränkung für den Schreibzeugen).
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den - den Zurechnungsgrund. Beim Eheschluß, einem Fall existentieller Entscheidung, hat dieser Zurechnungsgrund Einschränkungen erfahren, wie ja auch bei den Rechtsscheintatbeständen, etwa bei der Anscheinsvollmacht, das Kriterium der Veranlassung ersetzt werden kann. Doch können diese und weitere Entsprechungen hier dahinstehen.
VIII. Schlußbemerkung Rechtsentwicklungen verlaufen nicht geradlinig. Rechtsgedanken gelangen oft erst auf Umwegen zur Anerkennung. Unter veränderten Verhältnissen inspirieren sie neue Lösungen und Institute. Diese entwickeln im weiteren ihr Eigenleben. Je stärker eine Rechtsordnung alle Einzelmaterien regelt, desto mehr gilt dies. Den Überblick kann nur wahren, wer das leitende Prinzip erkennt. Aus der Entwicklung läßt es sich erschließen. Rechtliche Wertungen sind durch Traditionen geprägt. Ererbtes muß erworben werden, wenn es besessen sein soll. Erst auf gesichertem Fundament kann Rechtspolitik sinnvoll sein. Beispielhaftes in diesem Sinne hat der hochverehrte Jubilar in seinem weitgespannten wissenschaftlichen Werk geleistet, vor allem zum Verhältnis von Kirche und Staat, zur Rechtsgeschichte, Rechtstheologie und Rechtspolitik. Dafür ist der Dank ihm gewiß. Sicher ist er ihm auch für vielfaches anderes Wirken. Dazu zählt die tatkräftige Mithilfe bei dem Vorhaben, die römischen Rechtsquellen in neuer Übersetzung auch den Heutigen zugänglich zu machen - bleiben diese doch unersetzlich: Gratius ex ipso fonte bibuntur aquae 88 .
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Ovid, Ex Ponto 3.5.18.
Qui tacet, consentire videtur* Über die Herkunft einer Rechtsregel Von Christoph Krampe A. Einleitung Der Satz „Wer schweigt, stimmt zu" ist in einer Vielzahl von Varianten in zahlreichen europäischen Sprachen als sprichwörtliche Wendung bekannt 1 . In der Fassung Qui tacet, consentire videtur ist er eine Regel des mittelalterlichen kanonischen Rechts. Sie findet sich in dem von Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1298 erlassenen Liber sextus, und zwar im Anhang De regulis iuris (5, 12) als régula 43 2 , sogleich freilich gefolgt von der Regel Is qui tacet, non fatetur, sed nec utique negare videtur (régula 44). Das Schweigen soll demgemäß nach kanonischem Recht zwar als Zustimmung, nicht aber als Geständnis angesehen werden. Die regulae iuris hat der vom Papst mit der Abschlußredaktion des Liber sextus betraute Legist Dinus von Mugello (um 1245 - 1300) dem römischen Recht entnommen 3 . Sie bilden den Schluß des Gesetzgebungswerks, ähnlich wie der Titel De diversis regulis iuris antiqui die Digesten Justinians abschließt (D. 50, 17). Die régula 44 entspricht fast wörtlich der Digestenstelle D. 50, 17, 142 (Paul. 56 ed.): Qui tacet, non utique fatetur: sed tarnen * Wiedergabe eines Vortrags, den ich am 21. April 1989 im Rahmen eines „Symposium Romeins Recht" an der Universität Utrecht gehalten habe. 1 Ida von Düringsfeld / Otto Freiherr von Reinsberg-Düringsfeld, Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen, Bd. II, Leipzig 1875, S. 194 Nr. 347. 2 Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 4. Aufl., München 1986, S. 177 (Q 80); Albrecht Foth, Gelehrtes römisch-kanonisches Recht in deutschen Rechtssprichwörtern, Tübingen 1971, S. 7Iff.; Andreas Wacke, Keine Antwort ist auch eine Antwort. Qui tacet, consentire videtur, ubi loqui potuit ac debuit, in: JA 1982, S. 184f.; ders., Zur Lehre vom pactum taciturn und zur Aushilfsfunktion der exceptio doli, ZRG RA 90 (1973), S. 251 f. 3 Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. V, 2. Ausg., Heidelberg 1850, Nachdr. als 4. Ausg., Bad Homburg 1961, S. 449ff.; Johann Friedrich von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart, Bd. I, Stuttgart 1875, S. 44, 176f.; Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 5. Aufl., Köln 1972, S. 288f.; Norbert Horn, Die legistische Literatur der Kommentatoren und der Ausbreitung des gelehrten Rechts, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hrsg. von Helmut Coing, Bd. I, München 1973, S. 269; Knut Wolfgang Nörr, Die Entwicklung des Corpus iuris canonici, in: Handbuch, a.a.O., S. 844; Louis Folletti, DDC IV, Paris 1949, Sp. 1250ff.
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verum est eum non negare. Demgegenüber läßt sich der Satz Qui tacet, consentire videtur in den Quellen des antiken römischen Rechts nicht nachweisen 4 . B. Nichtjuristische Wurzeln Die Wurzeln dieses Satzes führen indessen in die nichtjuristische Literatur der griechisch-römischen Antike und des Mittelalters, und zwar ohne daß zunächst zwischen einem Schweigen als Zustimmung und einem Schweigen als Geständnis unterschieden wird 5 . I. „Wer schweigt, stimmt zu (gesteht)" im griechischen Theaterdialog und in der griechisch-römischen Rede
Erste Anklänge an einen Satz „Wer schweigt, stimmt zu (gesteht)" finden sich in einzelnen Redewendungen bei den griechischen Tragödiendichtern. In den Trachiniae des Sophokles6 bekommt Dejaneira, als sie sich auf die Anschuldigung ihres Sohnes Hyllos, den Herakles getötet zu haben, schweigend entfernt, von der Chorführerin zu hören, sie stimme mit ihrem Schweigen dem Ankläger zu (ξυνηγορεϊς σιγώσα τφ κατηγόρα)). Bei Euripides 7 - im Orestes - fragt Menelaos, nachdem Orest ihm die Tötung seiner Tochter Hermione angedroht hat, den Pylades, ob er der Mordgehilfe sei, worauf Orest mit den Worten einspringt, sein Schweigen bestätige es (φησιν σιωπών). Und in der Iphigenie in Aulis spricht Klytaimestra, als Agamemnon auf ihre Frage, ob er Iphigenie zu töten bereit sei, ausweichend antwortet, die Worte aus: „Dein Schweigen selbst gesteht es (αυτό δέ το σιγάν όμολογούντός έστι σου)." Auch in Piatons Apologie des Sokrates 8 stoßen w i r auf eine ähnliche Wendung. Sokrates begegnet dem Vorwurf der Gottlosigkeit mit der rhetorischen Frage, ob nicht aus seiner Anerkennung des Dämonischen folge, daß er auch an Dämonen glaube, und fügt auf das Schweigen des Anklägers Meietos hinzu: „Ich nehme an, daß Du zustimmst, da Du ja nicht antwortest (τιθημι γάρ σε όμολογοΰντα, επειδή ουκ άποκρίνη)." 4
Siehe unten S. 376ff. Vgl. August Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890, Nachdr. Hildesheim 1962, S. 339; weitere Nachweise bei Reinhard Haussier, Nachträge zu A. Otto, Darmstadt 1968, S. 216, 289; vgl. ferner Georg Büchmann, Geflügelte Worte, 31. Aufl., Berlin 1964, S. 575; vgl. auch Samuel Singer, Die Sprichwörter des Mittelalters II, Bern 1946, S. 98f.; Augusto Arthaber, Dizionario comparato di proverbi e modi proverbiali, Mailand 1952, S. 666, Nr. 1327. 6 Sophocles, Trachiniai, 814, in: Tragoediae, Leipzig 1901. 7 Euripides, Orestes, 1592, Iphigenie in Aulis, 1142, in: Euripides, Sämtliche Tragödien und Fragmente V, hrsg. von G. A. Seeck, München 1977, S. 120, 218. 8 Piaton, Des Sokrates Apologie, in: Werke II, hrsg. von G. Eigler, Darmstadt 1973, 27c, S. 28ff. 5
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In Rom ist es vor allem Cicero, der sich in seinen Reden mehrfach ähnlicher Wendungen bedient. In seiner ersten Rede gegen Catilina 9 fordert er den Aufrührer vor dem Senat auf, in die Verbannung zu gehen. Das Schweigen der Zuhörer deutet er wortreich als Zustimmung: Patiuntur, tacent. Quid exspectas auctoritatem loquentium, quorum voluntatem tacitorum perspicis? . . . cum quiescunt, probant, cum patiuntur, decernunt, cum tacent, clamant.
In ähnlicher Weise sagt Cicero in seiner Verteidigungsrede für S. Roscius aus Ameria 1 0 , zum Ankläger gewandt: quae cum taces, nulla esse concedis. Und in der Rede für P. Sestius 11 heißt es: qui tum, quamquam ob alias causas tacebant, tarnen hominibus omnia timentibus tacendo loqui, non infitiando confiteri videbantur. Π. Beweisführung durch Induktion bei Cicero und die Sokra tische επαγωγή: taciturnitas imita tur confessionem
Handelt es sich bei den soeben genannten Beispielen nur um einfache rhetorische Wendungen im Rahmen eines Dialogs oder einer öffentlichen Rede, so treffen wir wiederum bei Cicero auf eine Variante des Satzes „Wer schweigt, stimmt zu", welche ihren festen Platz im Rahmen einer rhetorischen Beweisführung einnimmt: taciturnitas imitatur confessionem. Der Satz findet sich in der Lehrschrift de inventione rhetorica 12. Hier unterscheidet Cicero zwei Arten der Beweisführung, diejenige mittels Induktion (argumentatio per inductionem) und diejenige mittels Schlußfolgerung (per ratiocinationem). Die Induktion kennzeichnet er wie folgt 1 3 : Inductio est oratio, quae rebus non dubiis captat adsensionem eius, quicum instituta est; quibus adsensionibus facit, ut i l l i dubia quaedam res propter similitudinem earum rerum, quibus adsensit, probetur.
Danach ist die Induktion die Rede, welche zu nicht Zweifelhaftem die Zustimmung dessen zu gewinnen sucht, mit dem sie unternommen ist. Durch diese Zustimmungen bewirkt die Induktion, daß jenem das Zweifelhafte wegen der Ähnlichkeit der Beispiele, denen er zugestimmt hat, bewiesen wird. Bald darauf führt Cicero aus, die Zustimmung zu den ähnlichen Fällen solle herbeigeführt werden, ohne daß der Betreffende merkt, daß damit 9 Cicero, In L. Catilinam oratio 8, 20 - 21, in: Orationes I, Oxford 1905, Nachdr. 1965. 10 Cicero, Pro Sex. Roscio Amerino oratio 19, 54, in: Orationes I (Fn. 9). 11 Cicero, Pro P. Sestio oratio 18, 40, in: Orationes V, Oxford 1911, Nachdr. 1962. 12 Cicero, De inventione 1, 32, 54, hrsg. E. Stroebel, Leipzig 1915. 13 Cicero (Fn. 12), 1, 31, 51.
24 Festschrift P. Mikat
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seine Zustimmung auch zu dem zweifelhaften Fall, bei dem er sich bisher streitig gestellt hat, unausweichlich wird. Wörtlich heißt es sodann 14 : Quare ratione rogationis imprudens ab eo, quod concessit, ad id, quod non vult concedere, deducendus est. Extremum autem aut taceatur oportet aut concedatur aut negetur. Si negabitur, aut ostendenda similitudo est earum rerum, quae ante concessae sunt, aut alia utendum est inductione. Si concedetur, concludenda est argumentatio. Si tacebitur, elicienda responsio est aut, quoniam taciturnitas imitatur confessionem, pro eo, ac si concessum sit, concludere oportebit argumentationem.
Demnach soll der Prozeßgegner unwissentlich von dem Zugestandenen zu dem geführt werden, was er nicht zugestehen will. Schließlich muß er entweder schweigen, zugestehen oder verneinen. Wird geschwiegen, dann sollte, so heißt es am Ende des Textes, die Antwort entlockt oder die Beweisführung geschlossen werden, wie wenn zugestanden wäre, da ja Schweigen einem Zugeständnis gleichkommt. Cicero verwendet hier das Wort confessio (Geständnis). Im selben Atemzug spricht er aber auch von concessio (Zugeständnis) und weiter oben - bei der Kennzeichnung der Induktion im allgemeinen 15 - von adsensio (Zustimmung). Wenn er sagt: quoniam taciturnitas imitatur confessionem, so darf man aus der Konjunktion quoniam folgern, daß Cicero sich eines zu seiner Zeit bereits geläufigen Satzes „Wer schweigt, stimmt zu" als Begründung bedient. Die Argumentation durch Induktion entspricht der griechischen ρητορική έπαγωγή16. Cicero selbst 17 verweist darauf, daß Sokrates sich der Induktion oftmals bedient hat, um seinen Gesprächspartner mit Hilfe von Beispielen zu überreden, und zwar dadurch, daß dieser aufgrund seiner Zustimmung zu den Vergleichsfällen auch dem zustimmen mußte, worauf es dem Philosophen ankam: Hoc modo sermonis plurimum Socrates usus est, propterea quod nihil ipse adferre ad persuadendum volebat, sed ex eo, quod sibi ille dederat, quicum disputabat, aliquid conficere malebat, quod ille ex eo, quod iam concessisset, necessario approbare deberet.
In welcher Weise Sokrates sich dieser Induktionsmethode bediente, schildert Cicero 18 anhand eines von dem Sokratesschüler Aescliines wiedergegebenen Beispiels. Sokrates zeigt, wie eine gewisse Aspasia den Xenophon und 14
Cicero (Fn. 12), 1, 32, 54. Oben bei Fn. 13. 16 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica 20, hrsg. von A. Roemer, Leipzig, 1898, S. 135 Z. 27, S. 138 Z. 13; Cicero, Topica 10, 42, hrsg. von R. Klotz, Leipzig 1863, S. 347; Quintiiianus, Institutio oratoria 5,11, 3, hrsg. von H. Rahn, Darmstadt 1972; vgl. dazu Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 2. Aufl., München 1973, S. 230 (Nr. 419); Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I, Handbuch der Altertumswissenschaft III, 1, 1, München 1988, S. 577 Anm. 20, S. 622 Anm. 24 - 26, S. 628 Anm. 56. 17 Cicero (Fn. 12), 1, 31, 53; vgl. auch Quintiiianus (Fn. 16). 8 o (Fn. 2), 1 2. 15
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dessen Ehefrau per inductionem in die Enge zu treiben vermocht hat. Zunächst wird Xenophons Frau gefragt, ob es ihr lieber wäre, das Gold, die Kleidung oder den Schmuck der Nachbarin zu besitzen, falls diese Gegenstände besser wären als die eigenen. In gleicher Weise wird Xenophon hinsichtlich des besseren Grundstücks oder Pferdes des Nachbarn befragt. Nachdem beide arglos zustimmend geantwortet haben, stellt Aspasia die Frage, auf die sie es eigentlich angelegt hat, ob sie dementsprechend auch den besseren Ehepartner des Nachbarn bevorzugen würden. Als daraufhin die Frau Xenophons errötet und er selbst schweigt, erklärt Aspasia, sie betrachte das Schweigen mit folgender Maßgabe als Zustimmung: Quoniam uterque vestrum . . . id mihi solum non respondit, quod ego solum audire volueram, egomet dicam, quid uterque cogitet. Nam et tu, mulier, optimum virum vis habere et tu, Xenophon, uxorem habere lectissimam maxime vis.
Sokrates verfolgte mit dieser Methode der Gesprächsführung pädagogische Zwecke. Für Cicero ist die Wendung taciturnitas imitatur confessionem ein so geläufiger Topos, daß er ihm im Rahmen seiner Abhandlung über die rhetorische Beweisführung einen festen Platz zuweist. Wenn einige Jahrzehnte später L. A. Seneca der Ältere in seinen controversiae 19, einem Werk über rhetorische Übungen, sagt, silentium videtur confessio, so erscheint das Ciceronische taciturnitas imitatur confessionem nur mit anderen Worten ausgedrückt. ΙΠ. Theologisch-kirchliche Schriften
In theologisch-kirchlichen Schriften der Spätantike sowie des frühen und hohen Mittelalters finden wir den Gedanken „Wer schweigt, stimmt zu" in vielfältigen Zusammenhängen wieder. 1. Gregor von Nazianz: ή σιωπή συγκατάθεσις έστιν Im 4. Jahrhundert begegnet der Satz vor allem 2 0 bei dem griechischen K i r chenvater Gregor von Nazianz (330 - 390), dem Erzbischof von Konstantinopel. Für ihn ist der Satz „Schweigen ist Zustimmung" ein „Sprichwort" (παροιμία) 21 . In seiner dritten Friedensrede 22 versichert sich Gregor, ehe er 19 Seneca, Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores, Controversiae 10, 2, 6, hrsg. von H. J. Müller, Wien 1887, Nachdr. Hildesheim 1963, S. 468. 20 Zu weiteren Nachweisen bei lateinischen Autoren des 4. und 5. Jahrhunderts vgl. Haussier (Fn. 5), S. 289. 21 Auf das von Gregor von Nazianz gebrauchte Sprichwort verweist noch im 16. Jahrhundert der französische Humanist Jacques Cujas mehrfach. Vgl. Iac. Cuiacius, Opera priora III, Observationes, Cap. X L , Paris 1658, Sp. 524; Opera postuma III, Sp. 230 (zu D. 21, 2, 12 Scaev. 2 resp.), Sp. 126 (zu Decretal. Gregor. IX, Lib. II, Tit. X X I I I , Cap. V, Nonne); V, Sp. 463 (zu C. 5, 4 De nuptiis).
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zum eigentlichen Vortrag anhebt, der Zustimmung seines Auditoriums, noch einmal über schon wiederholt Vorgetragenes sprechen zu dürfen. Das Schweigen der Zuhörer wertet er als Aufforderung, mit der Rede zu beginnen: δοκεϊτέ μοι τον λόγον προκαλείσθαι διά της ήσυχίας. Και γαρ την σιωπήν συγκατάθεσιν είναι, διδάσκει και ή παροιμία.
2. Gregor der Große: Silere, cum possis corrigere, est consentire Eine altdeutsche Predigt aus dem 13./14. Jahrhundert 23 führt den Satz „Schweigen ist Zustimmung" auf Papst Gregor den Großen (540 - 604) zurück, und zwar mit der Einschränkung cum possis corrigere. Der Prediger verkündet 24 , anknüpfend an die Worte des Kain „Bin ich denn der Hüter meines Bruders": swer sinem brudere der sunden gestatet, ob erz mach bewarn, der sieht in und sich seibin. da von spricht sente Gregorius: Silere, cum possis corrigere, est consentire.
Auch wenn sich der Satz silere, cum possis corrigere, est consentire in dieser Formulierung in dem überlieferten Werk Gregors des Großen nicht nachweisen läßt, so trifft das Zitat doch in der Sache zu 2 5 . Denn etwa in seiner Pastoralregel über die Behandlung von Schweigsamen und Schwätzern (Quomodo admonendi taciturni et verbosi) sagt Gregor 26 : Wer bei den Nächsten das Böse sieht und dennoch schweigt, verhält sich so, als ob er die Wunden sieht, aber den Gebrauch des Heilmittels verhindert (Qui . . . proximorum mala respiciunt, et tarnen in silentio linguam premunt, quasi conspectis vulneribus usum medicaminis subtrahunt). Weitere Belege finden sich in Gregors Homilien. I n einer Homilie zum Johannes-Evangelium 27 kommentiert Gregor die Jesusworte 28 Ego daemonium non habeo, mit denen Jesus die zweiteilige Frage der Juden Nonne bene dicimus nos quia 22
J.-P. Migne (Hrsg.), Patrologia Graeca 35: S. Gregorii Theologi Opera, Oratio X X I I I , De Pace III, Turnholt o.J, Sp. 1157f.; vgl. auch die griechisch-französische Ausgabe von J. Mossay, Grégoire de Nazianze, Discours 20 - 23, Paris 1980 (Sources chrétiennes, No. 270); J.-P. Migne (Sp. 1157 Anm. 1) verweist auf das proverbium „Qui tacet, consentire videtur". 23 Altdeutsche Predigten I, hrsg. von Anton E. Schönbach, Graz 1886, Nachdr. Darmstadt 1964, S. 251 - 254 (Nr. 163). Auf diesen Hinweis stößt man bei Singer (Fn. 5), S. 99; vgl. auch Foth (Fn. 2), S. 71 Anm. 233. 24 Altdeutsche Predigten (Fn. 23), S. 252. 25 Vgl. die Nachweise bei Schönbach (Fn. 23), S. 429, und bei Haussier (Fn. 5), S. 289. 26 J.-P. Migne (Hrsg.), P.L. 77: S. Gregorii Papae I, Regula pastoralis III, Cap. X I V , Opera omnia III, Paris 1896, Sp. 72. 27 J.-P. Migne, P.L. 76: Opera omnia II, Homiliae in Evangelia, Horn. XVIII, Paris 1849, Sp. 1150f. 8 oh. , 4.
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Samaritanus es tu, et daemonium habes nur zum Teil beantwortet. Gregor schreibt dazu: Duo quippe ei illata fuerunt: unum negavit, aliud tacendo consensit. Und in den Homilien zu Ezechiel 29 heißt es über diejenigen, die an sich Gutes tun, aber zu dem Fehlverhalten anderer schweigen, sie erlaubten diesen, indem sie das Verkehrte nicht anprangern, durch ihr Schweigen das Weitermachen: cum perversa non increpant, eis per suum silentium proficiendi licentiam praestant. Ein besonders deutlicher Hinweis auf das zustimmende Schweigen findet sich schließlich in Gregors Dialogen 30 . Hier berichtet er, wie zu Justinians Zeiten den von den arianischen Vandalen verfolgten, gefolterten und schließlich zum Schweigen aufgeforderten afrikanischen Bischöfen die Zunge aus dem Munde gerissen wurde, weil sie gegenüber dem Unglauben dennoch nicht schwiegen, damit sie nicht etwa so angesehen würden, als hätten sie durch Schweigen zugestimmt: ne tacendo forsitan consensisse viderentur. 3. Thomas Becket: taciturnus spiritum praetendit confitentis Der Satz „Schweigen ist Zustimmung", ist auch in der Literatur des hohen Mittelalters belegt. Von Thomas Becket (1118 - 1170), dem Erzbischof von Canterbury, wissen wir, daß er ihn als „Sprichwort" (proverbium) kannte, und zwar in der Formulierung: taciturnus spiritum praetendit confitentis. Dieses Sprichwortes hat sich Thomas in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich II. um die vom König verlangte Anerkennung der alten Gewohnheiten (consuetudines) bedient, wie der Brief eines Freundes an einen anderen Freund bezeugt 31 . Thomas wurde von Gesandten des Königs gefragt, ob er bereit sei, die Anerkennung der consuetudines wenigstens zum Schein erneut zu versprechen oder schweigend zu dulden oder ob er durch anderweitige Erwähnung der Gewohnheiten seinen Bischofssitz zurückerhalten und Frieden schließen wolle. Die Antwort des Thomas teilt der Brief wie folgt mit: Respondit archiepiscopus, quod nostrae gentis proverbium est: Quod taciturnus spiritum praetendit confitentis, et cum rex sibi videatur in possessione consuetudinum esse et ad eas observandas iniuste et violenter cogat Ecclesiam, si sic taciturnitate impetrata cessaret concursio, auctoritate maxime legatorum interveniente, statim sibi et aliis videretur obtinuisse in causa ista.
Thomas lehnt also ab, weil er den König nicht als Sieger erscheinen lassen möchte, wenn die Auseinandersetzung durch das ihm angesonnene Schweigen ende. Denn der Schweigende gebe den Geist eines Zustimmenden zu 29
Migne (Fn. 27), Homiliae in Ezechielem Prophetam I, IX, 27, Sp. 882. 30 Migne (Fn. 26), Sp. 293 f. 31 J.-P. Migne (Hrsg.), P.L. 190: S. Thomae Opera omnia, Epistolae variorum, Ep. 382, Paris 1893, Sp. 718.
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erkennen. Die Formulierung taciturnus spiritum praetendit confitentis erinnert an die Cicero-Worte taciturnitas imitatur confessionem.
IV. Mittelalterliche Sprichwörter
Der bereits im letzten vorchristlichen Jahrhundert von Cicero gleichsam sprichwörtlich formulierte, im 4. Jahrhundert n. Chr. von Gregor von Nazianz ausdrücklich als Parömie bezeichnete und später im 12. Jahrhundert von Thomas Becket als Sprichwort zitierte Satz „Wer schweigt, stimmt zu" ist schließlich in zahlreichen Varianten in den mittelalterlichen Sprichwörtern fast aller europäischen Sprachen zum Ausdruck gelangt. Diese Sprichwörter sind bisweilen älter als die kanonische Regel von 1298, bisweilen jünger. Sicher älter, nämlich schon zum Ende des 12. Jahrhunderts nachweisbar, ist das altfranzösische Sprichwort Asez otrie, qui se tatst, das von Chrétien de Troyes (ca. 1150 - 1190) mit assez otroie qui se test 32 und im Roman de la rose des 13. Jahrhunderts mit den Worten Tout otreie qui mot ne dit wiedergegeben wird. Dieser Vers stammt von Jean de Meun, der den um 1230 von Guillaume de Lorris begonnenen Rosenroman in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts - um 1280 - fortgesetzt hat 3 3 . Soweit der Satz vom zustimmenden Schweigen in literarischen Zeugnissen nach 1298 auftaucht, liegt es bisweilen nahe, daß die Regel des kanonischen Rechts zitiert wird, wie etwa die Worte et omnis qui tacet hic consentire videtur in den Towneley PZays34, deren Entstehungszeit ins 14. Jahrhundert datiert wird 3 5 . Im Einzelfall ist es aber ebenso gut möglich, daß unmittelbar an die älteren Vorbilder angeknüpft wird. Wenn Petrarca (1304 1374) in seinen libri familiarum rerum sagt 36 , tacui et tacendo consensi seu consensisse visus sum, so erinnert dies an die Worte Gregors des Großen ne tacendo forsitan consensisse viderentur 31. In dieser Tradition stehen auch die verschiedenen Varianten des deutschen Rechtssprichwortes „Wer schweigt, bejaht" 3 8 . Die ältesten Fassungen 32 Chrétien de Troyes, Philomena, 316, ed. C. de Boer, Paris 1909, S. 43; vgl. Adolf Tobler (Hrsg.), L i proverbe au vilain, Leipzig 1895, S. 3, S. 119 Nr. 6; Joseph Morawski, Proverbes français, Paris 1925, S. 6 Nr. 140, mit den Varianten auf S. 95; ferner Singer (Fn. 5), S. 98 mit zahlreichen Nachw. 33 Vgl. etwa die zweisprachige Ausgabe von Karl August Ott, München 1978, S. 712, Z. 12 984. Zur Datierung vgl. Κ Α. Ott, Der Rosenroman, Darmstadt 1980, S. 13 ff. 34 The Towneley Plays, hrsg. von G. England, London 1897, repr. 1952, Nr. 21: The Buffeting, Ζ. 143f., S. 232. 3 5 Vgl. Fn. 34, S. X Anm. 1 und 2. 36 F. Petrarca, Le familiari, Vol. 3, XVI, 12, 10, hrsg. von V. Rossi, Florenz 1937, S. 208. 37 Siehe oben S. 373. 38 Vgl. dazu Foth (Fn. 2), S. 71 ff.; Wacke (Fn. 2), S. 184f.
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Qui tacet, consentire videtur aus d e m 15. J a h r h u n d e r t , das altfriesische Hwaso swiget, lyck,
ende mit
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Recht a b h ä n g i g
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41
,
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s i n d - dies zeigt das W o r t consenteert
- v o m gelehrten
. A b e r n o c h A n t o n i u s T u n n i c i u s übersetzt i n seiner ältesten
niederdeutschen S p r i c h w o r t s a m m l u n g aus dem 16. J a h r h u n d e r t 4 2 das De swicht, responsa
de volget ministrans
ins Lateinische m i t den W o r t e n Assentire
solet
nulli
u n d n i c h t m i t den W o r t e n des kanonischen Rechts.
Spätere S p r i c h w o r t s a m m l u n g e n , v o r a l l e m die des 19. Jahrhunderts, verweisen dagegen auf die Regel Qui tacet, consentire
videtur
43
.
C. Kanonisches und römisches Recht A l s die Regel Qui tacet,
consentire
videtur
i m Jahre 1298 E i n g a n g ins
kanonische Recht fand, w a r sie, w i e gezeigt, schon seit J a h r h u n d e r t e n als ein aus der A n t i k e ins M i t t e l a l t e r tradiertes S p r i c h w o r t b e k a n n t . D i e W u r zeln der Rechtsregel liegen aber auch i m kanonischen Recht selbst u n d i m m i t t e l a l t e r l i c h e n römischen R e c h t 4 4 . Gewährsmänner s i n d v o r a l l e m D y n u s v o n M u g e l l o 4 5 , der eigentliche Verfasser der regulae
iuris des Liber
sextus,
sowie die Glossatoren Johannes Monachus (gest. 1313) 4 6 u n d Johannes Andreae (gest. 1348) 4 7 . 39 Montanus Hettema, Iurisprudentia Frisica, of Friesche Regtkennis I, Leeuwarden 1834, Tit. XII, Nr. 24, S. 74; vgl. auch Eduard Graf / Mathias Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter, 2. Ausg., Nördlingen 1869, S. 444 Anm. 380. 40 A. Tunnicius, Die älteste niederdeutsche Sprichwörtersammlung, hrsg. von A. H. Hoffmann von Fallersleben, Berlin 1870, Nachdr. Amsterdam 1967, S. 46 Nr. 448. « Vgl. Foth (Fn. 2), S. 72 Anm. 36, 75. 42 Vgl. Fn. 40. 43 Johannes Agricola, Die Sprichwörtersammlungen II, hrsg. von S. L. Gilmann, Berlin 1971, S. 57 Nr. 59; Christian Lehmann, Florilegium politicum auctum I, Frankfurt 1662, S. 734; Wilhelm Körte, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen, 2. Aufl., Leipzig 1861, S. 20 Nr. 255; v. Düringsfeld / Freiherr von Reinsberg-Düringsfeld (Fn. 1); Eduard Osenbrüggen, Die deutschen Rechtssprichwörter, Basel 1876, S. 24; A. Chaisemartin, Proverbes et maximes du droit germanique, Paris 1891, S. 256; Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches SprichwörterLexikon, Bd. 4, Leipzig 1876, Neudr. Aalen 1963, S. 440, Nr. 124, S. 444, Nr. 189; Hans Walther, Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi, Teil 4, Göttingen 1966, S. 291, Nr. 24843 a. 44 Vgl. die glossierte Ausgabe: Liber sextus Decretalium, Venedig 1634, Sp. 825; ferner Anaclet Reiffenstuel, lus canonicum universum clara methodo dilucidatum seu Tractatus de regulis iuris VI, Venedig 1755, S. 67. 45 Dynus Muxellanus, Commentarli in régulas iuris Pontifici, Köln 1617, S. 227ff. 46 Johannes Monachus, Glossa aurea, Paris 1535, Neudr. Aalen 1968, S. 995. 47 Ioannes Andreae, Glossa in sextum. Ich verweise auf eine im Archiv der Bibliotheca Vaticana aufbewahrte Handschrift, die ich während eines Studienaufenthaltes im Collegio Teutonico im Jahre 1983 einsehen konnte: Urb. Lat. 160, fol. 119 recto; vgl. dazu Cosimo Stornatolo, Bibliothecae Apostolicae Vaticanae Codices manu scripti, Codices Urbinates Latini I, Rom 1902, S. 166 f. - Vgl. ferner Ioannes Andreae, In titulum de Regulis iuris Novella Commentarla, Venedig 1581, Neudr. Turin 1966, S. 76 A.
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I. Kanonisches Recht Das kanonische Recht hat bereits vor Erlaß des Liber sextus bestimmte Sonderfälle des Schweigens als Zustimmung geregelt. 1. Decretum Gratiani Das Decretum Gratiani von 1140 enthält im ersten Teil 4 8 die Bestimmung: Si servus, sciente et non contradicente domino, in clero fuerit ordinatus, ex hoc ipso liber et ingenuus erit.
Ein Sklave soll also frei und freigeboren sein, wenn er mit Wissen und ohne Widerspruch des Dominus im Klerus ordiniert ist. Dieser Kanon übernimmt nahezu wörtlich eine entsprechende Regelung einer Novelle Justinians aus dem Jahre 546 in der Fassung des Authenticum 49 . 2. Die Dekretalen Gregors IX. Die im Jahre 1234 publizierten Dekretalen von Papst Gregor IX. (1227 1241) kennen das Schweigen als Zustimmung an zwei Stellen. Eine Regel im 2. Buch unter dem Titel De praesumptionibus lautet 5 0 : Qui ex duobus illatis alterum negat, reliquum affirmare praesumitur. Als Beleg dient die oben zitierte 5 1 Homilie Gregors des Großen zum Johannes-Evangelium, und zwar jene Passage, die mit den Worten unum negavit, alterum tacendo concessit endet. Eine andere Regel aus dem 3. Buch unter dem Titel De his, quae fiunt a praelato sine consensu capitulé 2 betrifft die Veräußerung von weltlichem Kirchengut durch den Prälat: In temporali alienatione, quam facit praelatus, taciturnitas capituli habetur pro consensu.
Π. Römisches Recht Die Regel Qui tacet, consentire videtur knüpft indessen nicht nur an solche Einzelregelungen im kanonischen Recht selbst an. Für die Entstehung der Regel ist vielmehr ausschlaggebend, daß sie gerade als Rechtsregel auf Quellen des römischen Rechts gestützt worden ist. 48 Corpus iuris canonici I, Decretum Magistri Gratiani, Distinctio LIV, Can. X X , hrsg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Neudr. Graz 1959, Sp. 213. « Nov. 123, 17. 50 Corpus iuris canonici II, Decretalium collectiones, Decretal. Gregor. I X , Lib. II, Tit. X X I I I , Cap. V (Fn. 48), Sp. 354. si S. 372 f. 52 Lib. III, Tit. X, Cap. I I (Fn. 50), Sp. 502.
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1. Paulus: Qui tacet , non utique fatetur , sed tarnen verum est eum non negare Dies konnte allerdings nur mit der Maßgabe geschehen, daß Schweigen als consensus angesehen wurde, nicht aber als confessio. Denn in letzterer Hinsicht ist in den Digesten von dem spätklassischen Juristen Iulius Paulus die bereits oben 53 zitierte Regel ganz anderen Inhalts überliefert: D. 50, 17,142 Paul. 56 ed. Qui tacet, non utique fatetur: sed tarnen verum est eum non negare.
Es ist ein Fragment aus dem 56. Buch des Paulinischen Ediktskommentars, das, wie Otto Lenels Palingenesie ausweist 54 , vom Anerkenntnis des Beklagten vor dem Gerichtsmagistrat (confessio in iure) handelt 55 . Wenn der Beklagte den klägerischen Anspruch vor dem Prätor anerkennt, so steht er einem Verurteilten gleich. Schweigt er, ist dies nicht als Anerkenntnis anzusehen. Und wenn Paulus weiter ausführt, daß der Schweigende nicht verneint, so w i l l er damit zum Ausdruck bringen, daß der Beklagte seiner Einlassungspflicht, entweder anzuerkennen oder zu bestreiten, nicht nachkommt und daher als indefensus zu behandeln ist 5 6 . Wenn man einmal unterstellt, daß Paulus die Schulrhetorik kannte 57 , so liegt in seinen Worten eine Zurückweisung des Ausspruchs Ciceros taciturnitas imitatur confessionem für den Fall der confessio in iure. Dem entspricht es, daß der Satz Ciceros im 16. Jahrhundert bei dem französischen Humanisten Jacques Cujas (1522 - 1590) in der abgewandelten Form taciturnitas imitatur consensum begegnet 58 . 2. Einzelfälle
und die Glosse des Accursius: Qui tacet, consentit
Damit stellt sich die Frage, wie der Gesetzgeber des Liber sextus die Regel Qui tacet, consentire videtur aus dem römischen Recht übernehmen konnte, obwohl die Quellen sie nicht kennen. Die Antwort gibt die um das Jahr 1230 entstandene, den bisherigen Glossenapparat zusammenfassende und in dieser Form das römische Recht des Mittelalters bestimmende glossa ordinaria des Accursius (um 1185 - 1263). Hier findet sich zu mehreren Dige53
S. 367f. Otto Lenel, Palingenesia iuris civilis, Bd. I, Leipzig 1889, Sp. 1073, Paulus Nr. 692. 55 Max Käser, Das römische Zivilprozeßrecht, München 1966, S. 201 ff.; über den möglichen Bezug auf die i n iure cessio vgl. Manfred Mühl, Tacere, tacitus, taciturnitas im Bereiche des VIR und CJ, Diss. Erlangen 1961, S. 75f. 56 Wolfgang Kunkel / Walter Selb, Römisches Recht, 4. Aufl., Berlin 1987, S. 512. 57 Vgl. Bernard Vonglis, La lettre et l'esprit de la loi dans la jurisprudence classique et la rhétorique, Paris 1968, S. 92 f.; Dieter Nörr, Rechtskritik in der römischen Antike, München 1974, S. 117. 58 Vgl. lac. Cuiacius, Opera postuma I, Paris 1658, Sp. 291; III, Sp. 230; V, Sp. 463. 54
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stenstellen die Anmerkung (nota, notabile) 59 : qui facet, consentit. Drei Beispiele verdeutlichen das Vorgehen der Glosse: a) Relocatio tacita : D. 19, 2, 13, 11 Ulp. 32 ed. Qui impleto tempore conductionis remansit in conductione, non solum reconduxisse videbitur, sed etiam pignora videntur durare obligata . . . quod autem diximus taciturnitate utriusque partis colonum reconduxisse videri, ita accipiendum est, ut in ipso anno, quo tacuerunt, videantur eandem locationem renovasse, non etiam i n sequentibus annis, etsi lustrum forte ab initio fuerat conductioni praestitutum. sed et si secundo quoque anno post finitum lustrum nihil fuerit contrarium actum, eandem videri locationem in ilio anno permansisse: hoc enim ipso, quo tacuerunt, consensisse videntur . . .
Die locatio conductio gehört zu den Konsensualverträgen des römischen Rechts, kommt also durch Konsens von locator und conductor zustande. Dies gilt auch für die hier in Rede stehende Erneuerung eines Pachtvertrages nach Ablauf der bisherigen Pachtzeit. Ulpian führt im 32. Buch seines Ediktskommentars aus 60 , daß der Pächter, der - offenbar mit Duldung des Verpächters - das Pachtgrundstück weiternutzt, so angesehen werde, als habe er erneut gepachtet, so daß auch die Pfandverbindlichkeiten bestehen bleiben. Bald darauf kommt Ulpian auf seinen Eingangssatz zurück, um ihn näher zu erläutern. Dabei wird die Vorstellung des Juristen von einer Erneuerung des Pachtvertrages durch das Schweigen der Parteien deutlich: taciturnitate utriusque partis colonum reconduxisse videri. Es folgt die Klarstellung, daß die Verlängerung zunächst nur für ein Jahr gilt, auch wenn insgesamt ein Zeitraum von fünf Jahren bestimmt war. Aber auch nach Ablauf des zweiten Jahres nimmt Ulpian an, daß die Parteien den Pachtvertrag verlängern, wenn nichts Gegenteiliges bestimmt ist. Zur Begründung heißt es dann noch einmal, gerade darin, daß sie geschwiegen haben, werde ihr Einverständnis gesehen: hoc enim ipso, quo61 tacuerunt, consensisse videntur. Und an diese Worte anknüpfend, sagt die Glosse 62 : Nota tacentem videri consentire.
59 Zu diesem Verfahren vgl. Horn (Fn. 3), S. 324f., und Peter Weimar, Die legistische Literatur der Glossatorenzeit, in: Handbuch (Fn. 3), S. 143. 60 Zu dieser Stelle, insbes. zu den textkritischen Problemen vgl. Henri Appleton, Des interpolations dans les Pandectes et des méthodes propres à les découvrir, Paris 1895, Nachdr. Rom 1967, S. 234ff.; Emilio Costa, La locazione di cose nel diritto romano, Turin 1915, Nachdr. Rom 1966, S. 104ff.; Guido Donatuti, I l silenzio come manifestazione di volontà, in: Studi Bonfante IV, Mailand 1930, S. 476f.; Gerhard v. Beseler, Fruges et Paleae, in: Scritti Ferrini III, Mailand 1948, S. 296; Giannetto Longo, Sul regime delle obbligazioni corrispettive nella „locatio-conductio rei", in: Studi Arangio-Ruiz II, Neapel 1953, S. 397f.; Theo Mayer-Maly, Locatio conductio (Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten IV), Wien - München 1956, S. 220f.; Filippo Gallo, Sulla presunta estinzione del rapporto di locazione per iniziativa unilaterale, in: Synteleia Arangio-Ruiz II, Neapel 1964, S. 1202ff. 61 Mommsen und Krüger, Anm. 26 ad h.l., verbessern zu „quod".
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b) Filia non contradicens patri consentire videtur : D. 24, 3, 2, 2 Ulp. 35 Sab. Voluntatem autem filiae, cum pater agit de dote, utrum sic accipimus, ut consentiat an vero ne contradicat filia? et est ab imperatore Antonino rescriptum filiam, nisi evidenter contradicat, videri consentire patri, et Iulianus libro quadragesimo octavo digestorum scripsit quasi ex voluntate filiae videri experiri patrem, si furiosam filiam habeat: nam ubi non potest per dementiam contradicere, consentire quis eam merito credet. sed si absens filia sit, dicendum erit non ex voluntate eius id factum cavendumque ratam rem filiam habituram a patre: ubi enim sapit, scire eam exigimus, ut videatur non contradicere.
Diese Ulpianstelle 63 handelt von der Klage auf Rückforderung der dos im Falle der Ehescheidung (actio rei uxoriae). Ist die Frau in der Hausgewalt des paterfamilias geblieben, so ist er es, der die Mitgift zurückfordern muß. Er kann allerdings nur mit Willen der Tochter klagen (actio adiuncta filiae persona). Dies vorausgeschickt, stellt Ulpian die Frage, ob die Tochter zustimmen oder nur nicht widersprechen muß. Die Antwort folgt aus einem Reskript des Kaisers Antoninus Pius, wonach die Tochter, wenn sie nicht offenkundig widerspricht, so behandelt wird, als sei sie einverstanden. Danach behandelt Ulpian Sonderprobleme, zunächst - unter Berufung auf Julian - das Problem, wie im Falle einer geisteskranken Tochter zu verfahren ist. Sie wird, da sie nicht widersprechen kann, als Zustimmende behandelt. Anders, wenn die Tochter abwesend ist: Der ohne ihre Zustimmung klagende Vater muß dem Beklagten dafür Sicherheit leisten, daß die Tochter genehmigt. Denn für die gesunde Tochter müsse verlangt werden, daß sie von der Klage wisse, damit angenommen werden könne, sie widerspreche nicht. Zum ersten Teil des Fragments, und zwar zu jener Stelle, an der es unter Berufung auf das kaiserliche Reskript heißt, filiam, nisi evidenter contradicat, videri consentire patri, finden w i r in der Glosse erneut die Anmerkung 6 4 : nota hic, quod qui tacet, consentit. c) Pater praesens non contradicens decurionatui filii consensisse videtur: D. 50, 1, 2 pr. Ulp. 1 disp. Quotiens filius familias voluntate patris decurio creatur, universis muneribus, quae decurioni filio iniunguntur, obstrictus est pater quasi fideiussor pro filio. consen62 Accursii Glossa in Digestum vetus, gl. consensisse zu D. 19, 2, 13, 11, in: Corpus Glossatorum Iuris civilis VII, Augustae Taurinorum 1969, S. 572. 63 Vgl. dazu Donatuti (Fn. 60), S. 464f., 470f.; Hans Julius Wolff, Zur Stellung der Frau im klassischen römischen Dotalrecht, ZRG RA 53 (1933), S. 301 f.; Johannes M. Sontis, Die Digestensumme des Anonymus I, Heidelberg 1937, S. 66f.; Alberto Burdese, „Dos patris et filiae communis", in: Labeo 5 (1959), S. 296ff. 64 Accursii Glossa in Digestum infortiatum, gl. contradicat zu D. 24, 3, 2, 2, in: Corpus Glossatorum Iuris civilis VIII, Augustae Taurinorum 1968, S. 2.
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sisse autem pater decurionatui filii videtur, si praesens nominationi non contradixit. proinde quidquid in re publica filius gessit, pater ut fideiussor praestabit.
Wenn ein Haussohn mit Willen des Vaters zum Ratsherrn (decurio) gewählt wird, dann haftet der pater für alle Aufgaben, die dem decurio filius auferlegt werden, wie ein Bürge. Nach diesem Hinweis führt Ulpian 6 5 aus, der pater werde so angesehen, als habe er dem Dekurionat des Sohnes zugestimmt, wenn er bei der Wahl anwesend war und der Nomination nicht widersprochen hat. Im Schlußsatz der Stelle zieht Ulpian daraus noch einmal die Folgerung, daß der pater für die Amtsgeschäfte des Sohnes wie ein Bürge hafte. Auch zu dieser Stelle, und zwar zu den Worten consensisse autem pater decurionatui filii videtur, merkt die Glosse an 6 6 : nota hic, qui tacet, consentit. D. Schluß: „Qui tacet, consentire videtur" als Rechtsregel Wenn die Glosse zu den genannten und zu weiteren Einzelfällen des römischen Rechts anmerkt: qui tacet, consentit, so erscheinen diese Fälle als besondere Ausprägungen einer Rechtsregel qui tacet, consentit, und umgekehrt erweist sich die Rechtsregel qui tacet, consentit als durch Einzelfälle belegt. Im Liber sextus von Bonifaz VIII. ist damit eine Rechtsregel des mittelalterlichen römischen Rechts übernommen worden, und zwar in der sprachlich abgeschwächten Form consentire videtur, wie sie auch in den Einzelbeispielen des römischen Rechts formuliert ist. Wir können daher nunmehr die Herkunft der Rechtsregel Qui tacet, consentire videtur zusammenfassend wie folgt skizzieren: Ein aus der Antike ins Mittelalter tradiertes, in vielfältigen rechtlichen und außerrechtlichen Zusammenhängen gebrauchtes Sprichwort wurde von der Glosse mit den Quellen des römischen Rechts in Verbindung gebracht. Der Satz Qui tacet, consentit erscheint damit als eine Regel des mittelalterlichen römischen Rechts. Daher konnte Bonifaz VIII. bei der Übernahme römischer Rechtsregeln ins kanonische Recht auch auf die Regel Qui tacet, consentit zurückgreifen, ein Satz, der sich bereits in einzelnen Bestimmungen des bisherigen kanonischen Rechts belegen ließ und der zuvor schon als Sprichwort bewährt schien, nachdem immerhin Gregor von Nazianz und Gregor der Große sich seiner bedient hatten.
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Zu dieser Stelle vgl. Donatuti (Fn. 60), S. 475. Accursii Glossa in Digestum novum, gl. non contradixit zu D. 50,1, 2 pr., in: Corpus Glossatorum Iuris civilis IX, Augustae Taurinorum 1968, S. 530. 66
Gründerzeiten Aus der Sozialgeschichte der deutschen Universität Von Hans Maier Paul Mikat, dem Gründer, zum 65. Geburtstag Universitäten entstehen nicht einfach - sie werden gegründet. Sie entwikkeln sich auch nicht gleichmäßig, sondern in Schüben, in Zyklen. Die Universitätsgeschichte kennt Auf- und Abschwünge, plötzliche Entwicklungen und langsame Veränderungen, Perioden des Niedergangs und des Neuanfangs 1. Sie kennt auch Gründerzeiten - Jahre und Jahrzehnte, in denen plötzlich etwas Neues beginnt: sei es, daß viele neue Universitäten geschaffen werden, wie wir das in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, sei es, daß Organisation und Ziele der Universitäten sich verändern wie im 18. und 19. Jahrhundert, sei es, daß einzelne Universitäten, die neugegründet werden, so bestimmend auf die weitere Entwicklung einwirken, daß w i r von ihnen eine neue Epoche der Universitätsgeschichte herschreiben - der Fall von Halle, Göttingen, Berlin. Von solchen Gründerzeiten soll hier gehandelt werden. Dabei geht es mir vor allem um die sozialgeschichtliche Seite der Sache: Von wem ging der Anstoß zur Gründung von Universitäten aus? Wer war beteiligt? Was waren die Motive? Wer sorgte für die Finanzierung? Wie verband sich die Universitätsgeschichte mit den Bewegungen in der Gesellschaft, mit den Strömungen und Stimmungen der Zeit? Und wie wirkte sich das alles aus auf Professoren und Studenten, auf den Lehrbetrieb, die Formen des akademischen Zusammenlebens?
1 Außer auf die bekannten Werke von M. Doeberl, H. Grundmann, F. Paulsen, H. Rashdall stütze ich mich im folgenden auf: L. Boehm / R. A. Müller (Hrsg.), Universitäten und Hochschulen i n Deutschland, Österreich und der Schweiz, Düsseldorf 1983 (zit. Boehm); G. Roellecke, Entwicklungslinien deutscher Universitätsgeschichte, in: Aus Politik und Geschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", Β 3 - 4/84, S. 3ff., und K.-E. Jeismann / P. Lundgreen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte III, 1800 - 1870, München 1987 (bisher nur dieser Band erschienen).
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I. Ich sagte: Universitäten werden gegründet. Ganz stimmt das für die Anfänge der europäischen Universitäten nicht. Denn die ältesten Universitäten - Bologna, Paris, Oxford - wurden nicht gegründet, sie entstanden ex consuetudine, aus Gewohnheitsrecht - aus freien Zusammenschlüssen von Lehrern und Schülern, die sich mit der Zeit zu Berufsgenossenschaften entwickelten 2 . Universitas - das ist im ältesten Wortsinn ein Personenverband, eine Gemeinschaft von Magistern und Schülern, die sich zusammentun, um Wissenschaft zu treiben. Solche Gemeinschaften entstehen spontan, meist um einen bedeutenden Lehrer herum, sie haben keinen festen Ort, keine festen Gebäude, tagen im Freien oder in einer Kirche, sie breiten sich in Stadtvierteln aus und teilen diesen ihren Geist mit - man denke an Sainte Geneviève zur Zeit Alberts des Großen und Thomas' von Aquin. Es ist ein neuer Menschenschlag, der hierherkommt, beweglich, an Wissen und Kultur interessiert, zunehmend unabhängig, ehrgeizig, karrierebewußt. Und auch die Lehrer sind anders, sie leben in Städten und nicht mehr auf dem Land in der stillen Gelehrsamkeit der benediktinischen Tradition - sie sind weit entfernt vom Typus des Lehrers in der Klosterschule, der „aus Liebe zu Gott, ohne Eile, ohne Ehrgeiz, ohne Sorge für den kommenden Tag den jungen Mönch zur Bibellesung und zum heiligen Dienst anleitet" 3 . So entsteht, gleichzeitig mit der Entwicklung der Städte, eine Körperschaft der Intellektuellen im weltlichen Gemeinwesen - eine Gemeinschaft, die ihre Rechte und Freiheiten selbst bestimmen will, die rasch den obersten Rang des Bildungswesens besetzt und die Kloster- und Kathedralschulen zu bloßen Vorbereitungsschulen macht. Und wie alles, was sich im Mittelalter aus lokalen und regionalen Bindungen löst und überörtliche Bedeutung gewinnt, werden auch die Universitäten von den Universalgewalten, von Papst und Kaiser, privilegiert, gesichert, in feste tradierbare Formen gebracht. Im Wettstreit beider Gewalten entwickelt sich die neue Institution: bekannt sind die engen Beziehungen des Papsttums zur Sorbonne als einem Zentrum der Theologie und Philosophie und die ebenso engen Beziehungen der Stauferkaiser zu Bologna als einem Zentrum des Rechts. So bilden sich Grundelemente der abendländischen Universität heraus: eine weitgehende Autonomie, oft verbunden mit eigener Gerichtsbarkeit, das Selbstergänzungsrecht der Korporation, das Graduierungs- und Promotionsrecht - wichtige Quelle der übernationalen Geltung der Universität - , die personelle Gliederung nach Nationen und die sachliche nach Fakultäten. Juristische, ärztliche und theologische Berufs2 H. Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Darmstadt 1964, passim; Boehm (Fn. 1), S. 12 ff. 3 M.-D. Chenu OP, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, 2. Aufl., Graz 1982, S. 9.
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ausbildung vereinigen sich mit der Philosophie zu einer einzigen Organisation. „Der Privilegienschutz der Universalgewalten", so hat es eine Kennerin der Universitätsgeschichte, Laetitia Boehm, ausgedrückt, „verlieh den neuen Studienkorporationen und ihren einzelnen Mitgliedern Freiheiten gegenüber staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten, woraus ein akademischer Berufsstand als Sonderrechtskreis entstand" 4 . Dieser Prozeß ist weitgehend abgeschlossen, die Form der Universität liegt bereits fest, als mit der Gründung von Prag 1348 für Deutschland die erste Gründerzeit beginnt. Sie dauert gute anderthalb Jahrhunderte, bis an die Schwelle der Reformation, und w i r d im wesentlichen von weltlichen und geistlichen Fürsten und von Städten getragen. Gleich die erste Gründung legt die Richtung fest: zwar ist Prag der damalige Sitz des römischen Kaisers, doch die neue Universität ist keine Reichsuniversität, keine Nationaluniversität - sie ist eine Landesuniversität für Böhmen. Und auch die folgenden Universitäten - Wien, Heidelberg, Köln, Erfurt, Leipzig, Rostock (dazu die erste Gründung von Würzburg, die wieder abstirbt) - sind Landesuniversitäten, sie stehen in einem deutlichen territorialstaatlichen Bezug. Die Gründungsurkunden und Stiftungsbriefe zeigen, worauf es den Gründern in erster Linie ankam: eigene Universitäten im Land zu haben, damit die künftigen Akademiker nicht in Frankreich oder Italien studieren mußten. So wird die Territorialisierung des Reiches im späten Mittelalter zum Motor neuer Gründungen: bis 1506 entstehen insgesamt 16 Universitäten, außer den schon genannten sieben noch Greifswald, Freiburg, Ingolstadt, Trier, Mainz, Tübingen, Basel, Wittenberg, Frankfurt a.d.O. Suchten die ältesten abendländischen Universitäten als Korporationen sich möglichst von lokalen Kräften unabhängig zu machen durch Anlehnung an die Universalgewalten, durch ein unmittelbares Verhältnis zum Papst, zum Kaiser, durch Immunität und Fremdenrecht, so sind für die ersten deutschen Universitäten Papst und Kaiser schon fernergerückt. Gewiß, ihr Privileg, ihre Bestätigung sind nötig, damit eine Volluniversität mit allen Ehren und Freiheiten entstehen kann, ein Studium generale, dessen akademische Grade überall im Abendland Geltung besitzen. Aber längst geht der Gründungsimpuls von den Obrigkeiten „vor Ort" aus: sie bestimmen Ort und Zeit der Gründung, sie mobilisieren in Verhandlungen mit Papst und Kaiser die nötigen Stiftungen, Benefizien, Freistellungen und tragen Eigenes bei. Kirchengüter leisten überall den Hauptbeitrag zur Ausstattung und Besoldung; die Kollegs werden, wo es möglich ist, durch Stiftungen fundiert. Die alten Universitäten sind nicht groß: oft nur 10, 20 Professoren, ein paar hundert Studenten, die meisten in der Philosophischen Fakultät, der Eingangsfakultät, die nach den septem artes „Artistenfakul-
4
Boehm
( F n .
1), S .
13.
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tät" heißt und die jeder durchwandern muß, der zu studieren beginnt. Aber die größere Intensität der Arbeit, verglichen mit den Klosterschulen, die neuen Unterrichtsformen des Diktats, der Vervielfältigung der Bücher und Handschriften erfordern doch mehr Geld. Akademische Berühmtheiten wurden schon damals umworben und abgeworben, vor allem im beginnenden Humanismus; und je nach der unterschiedlichen Potenz der Stifter wetteiferte man um Bibliotheken, Ordinariate, Stipendien. Ein spezifisch deutsches System regionaler Konkurrenz - bei relativ ähnlichen organisatorischen Formen - bildet sich heraus; es bestimmt unsere Universitätstradition bis heute. Das dauert bis zur Reformation - aber im Grund noch weit darüber hinaus. Denn so tief der Streit um via antiqua und via moderna die spätmittelalterliche Universität berührt, so stark der Humanismus sie verändert, die konfessionelle Trennung sie spaltet - organisatorisch bleibt der Modus der Neugründungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nahezu unverändert. Die Initiative liegt nach wie vor bei den Landesfürsten (die Städte treten jetzt zurück), aber auch die Universalgewalten sind bis zum Ende des Alten Reiches 1806 an jeder Gründung beteiligt: im katholischen Deutschland beide, im evangelischen nur noch der Kaiser - seine Zustimmung war unentbehrlich für die Anerkennung der an protestantischen Universitäten ausgebildeten Juristen beim Reichskammergericht. Von heute her gesehen, erscheinen Schulen und Hochschulen im katholischen und im evangelischen Deutschland in vieler Hinsicht ähnlich - und dies nicht nur wegen der beiderseits wachsenden Einbindung in den Territorialstaat und sein Gebotsrecht. Auch sonst gibt es viele gemeinsame Züge. Da ist, bei Katholiken wie Protestanten, die Aufnahme des Humanismus in die Universitäten: von den alten Sprachen, um die sich Melanchthon und die Jesuiten kümmern, bis hin zu den Kavaliersfächern des 17. und 18. Jahrhunderts, aus denen die modernen Philologien hervorgehen; da ist aber auch, als starkes Widerlager, die aristotelisch-scholastische Tradition, die keineswegs nur im katholischen, sondern auch im evangelischen Deutschland noch lange Zeit das Feld beherrscht 5 ; da ist, im Zeichen der Glaubensvermittlung, das Bemühen um engere Abstimmung von Erziehung und Studium, Schulen und Hochschulen - Vorstufe der späteren Spezialbeziehung von Gymnasium und Universität in nachhumboldtscher Zeit. So bringt die zweite Gründerzeit der deutschen Universität, die von der Reformation bis 1700 dauert und den Bestand der deutschen Universitäten auf 22 protestantische und 18 katholische Universitäten vermehrt - darunter so wichtige wie Marburg, Königsberg, Jena, Straßburg und Kiel, Dillin5 Beste Darstellung noch immer: P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921 (Neuausgabe Stuttgart 1964).
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gen, Salzburg und Breslau - keine einschneidenden Änderungen der Form und Organisation. Eher ist sie eine Bestätigung des bisher zurückgelegten Weges. Die deutsche Universität bewahrt im Innenbereich im großen und ganzen ihre mittelalterlich-korporativen Rechte, sie wird im Außenbereich landesstaatlich in Pflicht genommen, vor allem was Prüfungen und Berufsausbildung angeht - und sie zeichnet sich unter den europäischen Hochschul-Nachbarn durch fortdauernde aristotelisch-scholastische Traditionen, theologische Bindung, Bibelstolz und Buchgelehrsamkeit aus6. Reformation und katholische Reform rücken Theologie und Philosophie noch einmal sichtbar in den Mittelpunkt dieser Universität: Bekenntnisformeln und Konkordienbücher auf der einen, das tridentinische Glaubensbekenntnis auf der anderen Seite verklammern die akademische Welt mit den Bekenntnissen des Landes und des Landesherrn. So bleiben die deutschen Universitäten im Rahmen des „paritätisch" die Konfessionen überwölbenden Reiches konfessionsgebundene Landesanstalten in Staatshand, dotiert überwiegend aus originalem oder säkularisiertem Kirchengut, in enger Verbindung mit den aufsteigenden Territorialstaaten und ihren Bedürfnissen - ihr Entfaltungsraum liegt im Inneren, in einer bei aller äußeren Beschränkung oft weltweiten geistigen Autonomie. II. Diese Epoche geht dann mit den Revolutionskriegen und der Umgestaltung Deutschlands durch Napoleon jäh zu Ende. Nicht weniger als 22 Universitäten schließen um 1800 in wenigen Jahren ihre Pforten, einige wie Erfurt, Helmstedt, Altdorf, Herborn auf Nimmerwiederkehr. Viele Traditionen reißen ab oder halten sich nur mit Mühe aufrecht. Aber auch Auffangstellungen sind vorhanden: man muß nicht nur an neue Gründungen denken, die dem Abbruch folgen, an Berlin und Bonn, an die Neugestaltung von Breslau und Heidelberg, an den Neuanfang der Ingolstädter Universität in Landshut und München. Auch frühere Gründungen aus dem Geist der Aufklärung - Halle, Göttingen, Erlangen - wirken in die neue Zeit hinein; der plötzliche Umbruch der Verhältnisse gibt ihnen eine größere Bedeutung, bringt sie in eine Mittlerstellung zwischen alten und neuen Universitäten. Damit tritt jene Reihe prototypischer Einzelgründungen in den Blick, die den Gang der neueren deutschen Universitätsgeschichte bestimmen - Halle, Göttingen, Berlin. Von ihnen reicht Halle noch ins letzte Jahrzehnt des 6 Für die Lehre der Politik habe ich das gezeigt in meinem Aufsatz „Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16.-18. Jahrhundert", in: Wissenschaftliche Politik, hrsg. von D. Oberndörfer, Freiburg 1962; vgl. auch Hans Maier, „Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre", 3. Aufl., München 1986, S. 278ff.
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17. Jahrhunderts zurück 7 . Der Gründungsanlaß war fast zufällig: 1680 fiel das Erzstift Magdeburg an das Haus Brandenburg; aus den in der bisherigen Residenz Halle leer gewordenen Häusern samt ihrem Personal wurde eine Ritterakademie, die ritterliche Bildung, Reiten und Fechten und moderne Sprachen und Wissenschaften betrieb. Diese wurde dann planvoll und methodisch in eine neue Universität mit kaiserlichem Privileg übergeleitet. An der Spitze stand der brandenburgische Kronprinz; hohe Beamte aus Berlin wirkten als Oberkuratoren; der Staat gab die Mittel zum Unterhalt übrigens zum erstenmal in der deutschen Universitätsgeschichte! Doch das Entscheidende war die Personal- und Berufungspolitik; sie war von besonderer Delikatesse angesichts der Lage Halles zwischen den alten sächsischen Universitäten. Die Anfänge wurden von zwei Leipziger Flüchtlingen geprägt: dem Philosophen und Juristen Christian Thomasius und dem Theologen und Pädagogen August Hermann Francke. Beide fanden sich in gemeinsamer Gegnerschaft gegen orthodoxe Theologie und Schulgelehrsamkeit. Es war ein temporäres Bündnis, das nicht lange hielt, ähnlich dem Bündnis Luthers mit den Humanisten seiner Zeit - die beiden Männer entzweiten sich ob des Kleiderluxus der Frau Thomasius, der Francke schließlich aus Gewissensgründen den Zugang zum Abendmahl verwehrte. Doch der Streit machte die neue Universität gerade interessant, und die beiden ungewöhnlichen Köpfe zogen eine für damalige Zeiten erstaunliche Zahl von Studenten an: mit 600 Inskriptionen im Jahr lag Halle im 18. Jahrhundert an der Spitze der deutschen Universitäten. Selten fand man an einer Universität so ausgeprägte Personal-Optionen. Unter den Gegnern Halles lief der Spruch um: Du gehst nach Halle? Dann wirst du als Pietist oder als Atheist zurückkehren (Halam tendis aut pietista aut atheista reversurus). Franckes pietistischer Schritt vom Weg lutherischer Orthodoxie, des Thomasius Abkehr vom scholastischen Betrieb, von der geheiligten Autorität des Aristoteles, ja sogar von der lateinischen Sprache - er war der erste Gelehrte, der in seiner Leipziger Zeit eine deutsche Vorlesung hielt und die schwarze Klerikertracht mit einem modischen bunten Rock vertauschte - : dies alles brachte in die immer noch streng geschlossene Universität einen Hauch von Freiheit und Offenheit. In der Hallenser Artistenfakultät, die alle durchliefen, breitete sich die libertas philosophandi aus und überspielte die alten schulmäßigen Bindungen. Man verließ die Wege der Tradition; Wahrheit zu suchen und auf die Wahrheitssuche vorzubereiten wurde erneut zum Hauptziel der Universität. Dieses neue Bildungs- und Lebensideal wirkte auch auf die Studenten ein. Diese, aus Adeligen und Bürgern in wechselnden Mischungen zusammenge7 F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., Leipzig 1919, Berlin 1921. Über Halle: Bd. I, S. 524ff.
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setzt, standen noch stark im Bann kriegerischer Rauf- und Trinksitten - auf den klerikalen Studententypus der Frühzeit waren landsknechtshafte Formen gefolgt, die oft ins Gewalttätige, Räuberische übergingen. Die Klagen von Bürgern in Universitätsstädten über das aggressive Benehmen der Studenten reißen denn auch im ganzen 18. Jahrhundert nicht ab. Thomasius empfahl der Studentenschaft das Vorbild des französischen honnête homme: es gelte jetzt „polit und galant" zu werden. An die Stelle des raufund trinklustigen, eifersüchtig auf seine ständische und landsmannschaftliche Eigenart bedachten Studententyps, der mit Landknechtsbarett, Rapier und Sporen an der Universität sein Wesen trieb, sollte der gebildete, geschliffene, „höfliche", bürgerlich strebsame und fleißige Weltmann treten 8 . Das waren neue Töne in Universitäten, die immer noch unter Pendantismus und Pennalismus litten und erst allmählich in die Welt aufgeklärter Urbanität hineinwuchsen. Göttingen, die zweite Reformuniversität, trat in die Fußstapfen Halles 9 . Auch hier ging die Gründungsinitiative vom Staat aus - sichtbares Zeichen war der König als Rektor, der Vertreter der Landesregierung als Kurator. Auch die Finanzierung oblag nun in vollem Umfang der Landesregierung und den Landständen. Sie war großzügig bemessen: gute Besoldung und qualifizierte Berufungspolitik versetzten Göttingen bald in die Lage, Halle und den übrigen deutschen Universitäten Konkurrenz zu machen. Die libertas philosophandi wurde zur vollen Forschungsfreiheit ausgestaltet. Erstmals seit Reformationszeiten verlor die Theologische Fakultät ihr Zensurrecht über die anderen Fakultäten. Göttingen verstand es auch, die in die Akademien ausgewanderte Forschung wieder an die Universität zu binden: die 1751 gegründete Gesellschaft der Wissenschaften vereinigte die Elite der Göttinger Professoren aus Historie, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften. Und wie sehr der nüchterne und konsequente Göttinger Arbeits- und Geschäftsstil - der gleichwohl für Einfälle und Kombinationen Raum ließ - Professoren und Studenten dieser Universität geformt hat, das kann man in bewundernden und ironischen Zeugnissen von Lichtenberg bis Heine, von Gervinus und Gauß bis Bismarck nachlesen. Berlin steht in vieler Hinsicht auf den Schultern von Halle und Göttingen - die 1810 gegründete Universität war keine Schöpfung aus dem Nichts. Sie ist auch keineswegs so neu, wie Halle und Göttingen zu ihrer Zeit waren in vieler Hinsicht ist sie eine Gründimg gegen die Zeit, oder genauer: eine Gründung zwischen den Fronten 10 . Die heftige Diskussion im Vorfeld macht 8 9
H. Maier, Verwaltungslehre (Fn. 6), S. 103.
Paulsen (Fn. 7), Bd. II, S. 9ff.; G.von Seile, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737 - 1937, Göttingen 1937. 10 Paulsen (Fn. 7), Bd. II, S. 248ff.; S. A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat, 2. Aufl., Göttingen 1963; E. Kessel, Wilhelm von Humboldt. Idee und Wirklich25*
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das deutlich: auf der einen Seite stand das kleine Häuflein der Verteidiger der alten Universitäten; auf der anderen Seite die weit größerer Zahl derer, die diese Universitäten als Erbstücke gotischer Barbarei, pedantischer Gelehrsamkeit, studentischer Roheit längst abgeschrieben hatten. Plädierten die einen mit halbem Herzen für Reformen, so wollten die anderen - dem revolutionären Frankreich folgend - die alten Universitäten überhaupt abschaffen und durch staatlich organisierte „Hautes Écoles" ersetzen. Auch in Berlin neigte man um 1800 der zweiten Ansicht zu: der Minister v. Massow war mit Entschiedenheit der Meinung, „daß an die Stelle der Universitäten Gymnasien, welche die allgemeine Bildung vollenden, und Fachschulen für Ärzte, Juristen und Volkslehrer treten müssen". Es war das Verdienst Wilhelm v. Humboldts, der im Februar 1809 die Sektion für Kultus und Unterricht übernahm, daß er solche Pläne fallen ließ und die neue Gründung gegen den Zeittrend stärker an die Tradition der älteren Universitäten anknüpfte, vor allem durch die Übernahme der Fakultäten; Rückhalt gab ihm dabei die Philosophie der Zeit, die mit Fichte, Schelling, Schleiermacher in dieser Frage deutlich Position bezogen hatte. Ihr ist es zu danken, daß sich die deutsche Universität nicht der französischen Entwicklung zur Fachschule und zur Verstaatlichung des Bildungswesens anschloß, sondern in eigenständiger Weise zwischen revolutionären Technizismus und angelsächsisch-mittelalterlichen Traditionen ihren Weg suchte. Diese Erneuerung der Universität geschah, wie bekannt, aus dem Geist des Idealismus, der die Philosophie zum organisierenden Prinzip der Wissenschaften proklamierte - ganz im Sinn der fröhlichen Verheißung Kants, welcher der alten Artistenfakultät, der ancilla theoloigiae, das biblische „Die Letzten werden die Ersten sein!" zugerufen hatte. Die Philosophie sollte Grundlagenwissenschaft für alle Fächer werden, sie sollte alles empirische Fragen und Forschen mit spekulativem Griff umfassen. Ganz hat die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts dieses Programm nicht erfüllt und nicht erfüllen können - die Spannweite der Erfahrungswissenschaften und der durch sie ausgelösten technisch-industriellen Entwicklungen war zu groß. Kompensationen waren nötig in Gestalt der Realien im Schulwesen und in Gestalt der Technischen Hochschulen, die von der Mitte des Jahrhunderts an neben die Universitäten traten - von Karlsruhe bis Aachen und Darmstadt. Aber es war doch entscheidend, daß sich im Schoß der neukonzipierten Philosophischen Fakultäten jene Natur- und Geisteswissenschaften zu entwickeln begannen, deren Pflege und Entfaltung den Ruhm der deutschen Universität im 19. und noch im 20. Jahrhundert ausmachte - und die zugleich die Grundlage bildeten für den Aufstieg Deutschlands zur Wis-
keit, Stuttgart 1967; K. Hammacher, Die Philosophie des deutschen Idealismus. Wilhelm von Humboldt und die preußische Reform, in: K. Hammacher (Hrsg.), Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, Frankfurt 1976.
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senschafts- und Industriemacht. Insofern ist Humboldts Gründung folgenreich geworden - wenn auch in ganz anderer Weise, als man sich das zur Zeit der großen Programmschriften um 1800 vorstellen konnte.
III. Und nun - knüpft auch die vorläufig letzte Gründerzeit der deutschen Universität, die in unserer Zeit, im 20. Jahrhundert, an jene Traditionen an? Wie steht sie im Zusammenhang der anderen Gründerzeiten? Gibt es Verbindungen, Kontinuitäten? Oder ist sie etwas so Neues, daß man sie nur aus sich selbst erklären, nur in sich betrachten kann? Zunächst fällt auf, daß diese Expansion die größte ist, die w i r in unserer Universitätsgeschichte kennen. Nie sind seit Gründung der ersten deutschen Universität im Jahre 1348 in einem Jahrhundert so viele Universitäten neu entstanden wie im 20. Jahrhundert - knapp gerechnet 35, die Umwandlungen und Aufstockungen bestehender Hochschulen, die neuen Kunst- und Musikhochschulen, Fachhochschulen, Spezialhochschulen nicht mitgezählt. Nimmt man die in der DDR und in Österreich neugegründeten Universitäten hinzu, kommt man fast auf 50 neue Universitäten im deutschsprachigen Raum. Man kann die Behauptung aufstellen, daß im 20. Jahrhundert in Deutschland mehr Studenten Universitäten besuchen als in allen Jahrhunderten vorher zusammengenommen. Wem diese Behauptung zu kühn erscheint, der möge bedenken, daß selbst im gründungsfrohen und studienintensiven 19. Jahrhundert die Zahl eines Studienjahrgangs auf deutschen Universitäten im Durchschnitt bei 10 000 bis 20 000 lag und erst 1897 die 30 000 überschritt, während nach dem Zweiten Weltkrieg allein in den Jahren 1965 - 1975 der Jahresdurchschnitt von einer Viertelmillion auf über eine halbe Million anstieg 11 . Ein zweites fällt auf: die Neugründungen drängen sich fast alle in dem kurzen Zeitraum von 1965-80 zusammen - ein wahrer Katarakt, ein Gründungs- und Bauboom ohnegleichen, eine Gründerzeit, die ihren Namen Ehre macht. Gewiß, wichtige Gründungen sind in unserem Jahrhundert schon früher entstanden: so die aus städtischer Initiative hervorgegangenen Uni11 Zahlen nach den Statistischen Jahrbüchern und nach Jeismann / Lundgreen (Fn. 1). Es ist interessant, daß die Universitäten auf dem Territorium des späteren Kaiserreiches 1826 - 30 mehr Studenten (15 158) aufwiesen als etwa zwischen 1866 und 71 (13 128); erst nach 1875 steigen die Zahlen stärker an. Das relativ gleichmäßige Bild, das die deutschen Studentenzahlen bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein bieten, hängt mit den Zugangsvoraussetzungen zusammen: Von den Anfängen des Abiturs in Preußen im frühen 19. Jahrhundert bis etwa 1955 lag die Zahl der Abiturienten in Deutschland immer unter 4%l Die spektakuläre Vervierfachung der Abiturientenzahlen in den sechziger und siebziger Jahren ist eine Frucht der u.a. durch Pichts „Bildungskatastrophe" (1965) und ihre publizistische Wirkung ausgelösten Bildungsexpansion.
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Hans Maier
versitäten Frankfurt (1914), Hamburg und Köln (1919). Nach 1945 ist Mainz neubelebt, Saarbrücken neugegründet worden - beides auf Anregung der französischen Besatzungsmacht. In Berlin entstand 1948 aus privater Initiative von Studenten und Professoren die Freie Universität - im Weg der Sezession von Ost- nach Westberlin. Gießen nahm 1957 eine nur kurz unterbrochene Tradition wieder auf. Aber das sind Einzelfälle - eine Gründungswelle lösten sie nicht aus. Diese kommt erst in den sechziger Jahren in Gang, dann aber so rasch, daß dem rückblickenden Betrachter fast der Atem wegbleibt: 1965 Bochum, 1966 Konstanz, 1967 Regensburg, 1968 Dortmund, 1969 Bielefeld, Düsseldorf und Ulm, 1970 Augsburg und Trier-Kaiserslautern (beide 1975 verselbständigt), 1971 Bremen und Kassel, 1972 Paderborn und Eichstätt, 1973 Oldenburg, 1974 Osnabrück, 1975 Bayreuth, 1978 Passau, 1979 Bamberg, 1980 Siegen - ich habe nur die wichtigsten genannt. Woher dieser plötzliche Boom? Der Historiker des 21. Jahrhunderts, der in den Quellen schürft, w i r d auf immer wiederkehrende Vokabeln stoßen, die offenbar mentalitätsbegründend wirkten und das Ereignis vorbereiteten: Bildungskatastrophe - Mobilisierung der Begabungsreserven - Chancengleichheit - Demokratisierung des Bildungswesens - Forschungsrückstand Hochschulplanung und Hochschulausbau. Er wird der Studentenrevolte der späten sechziger Jahre begegnen, die freilich nicht das auslösende Moment für Hochschulgründungen, eher eine Begleiterscheinung des allgemeinen Gründungsfiebers war. Er wird feststellen, daß steigende Geburtenzahlen die Zahl der Schüler und Studenten vermehrten, daß junge Menschen stärker als früher zu Studien und akademischen Berufen drängten und daß die Politik auf diese Situation zu reagieren begann. Er wird auf die zahlreichen Beratungs- und Planungsgremien stoßen, die damals die Arbeit aufnahmen - Wissenschaftsrat, Bildungsrat; er wird die wachsende Bedeutung der Hochschulpolitik in parlamentarischen Debatten und Regierungserklärungen entdecken 12 - und er wird Politiker und Gelehrte ausmachen, die in den sechziger Jahren zur Tat schreiten und neue Universitäten zu gründen beginnen: Paul Mikat 1 3 , Wilhelm Hahn, Ludwig Huber, Fritz Holthoff, Hermann Lübbe, Helmut Schelsky, Waldemar Besson, Ralf Dahrendorf, Bernhard Vogel, um nur einige zu nennen; das Geschehen kommt in Gang, verselbständigt sich, vom Applaus der Öffentlichkeit getragen, nimmt immer größere Dimensionen an - und am Ende stehen die Neugründungen da, die ich aufgezählt habe.
12 Hierher gehört auch die (Teil)verlagerung der Hochschulpolitik auf den Bund im Rahmen der von der Großen Koalition (1966 - 69) eingeführten Gemeinschaftsaufgaben; vgl. U. Karpen, Hochschulplanung und Grundgesetz, 2 Bde., Paderborn 1987 (mit Literatur). 13 Zur Rechenschaft des Jubilars über seine Gründertätigkeit, vgl. P. Mikat, Geschichte, Recht, Religion, Politik, hrsg. von D. Giesen / D. Ruthe, 2 Bde., Paderborn 1984, S. 161 ff., 267ff., 767ff.
Gründerzeiten
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Gründerzeiten der deutschen Universität: mit Absicht habe ich die Empfindungen eines Historikerkollegen antizipiert, der sich im nächsten Jahrhundert mit dem erstaunlichen Vorgang beschäftigen wird. Zu welchen Schlußfolgerungen wird er kommen? Nun, er könnte feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland seit den sechziger Jahren einen wachsenden Teil des Volksvermögens in die Verbreiterung des Bildungswesens investiert hat; daß es ihr in dieser Zeit gelang, mehr Bildungschancen für eine größere Zahl von Menschen zu schaffen, ohne Rücksicht auf die soziale Herkunft; daß die Hochschulstandorte sich vermehrten, neue Organisations- und Personalstrukturen entstanden; daß die Forschungsmittel in viel mehr Hände kamen als je zuvor. Freilich wird er aus den Zeugnissen auch Negatives berichten, vor allem wenn er in die siebziger und achtziger Jahre kommt; denn in dieser Zeit, so wird er feststellen, beginnt sich statt allgemeiner Zufriedenheit über das Erreichte das Gegenteil zu verbreiten, nämlich Überdruß und Katerstimmung. Die Kassen des Staates sind nicht mehr so voll wie früher, manches geht langsamer und mühseliger; der Arbeitsmarkt kann viele Hochschulabsolventen nicht mehr aufnehmen. Was wächst, so scheint es, ist nur noch die Ratlosigkeit und die Zahl derer, die es schon immer gewußt haben, daß wir auf dem falschen Weg sind - daß auf Gründerzeiten unvermeidlich der Gründerkrach folgt. Zu welchem endgültigen Urteil unser künftiger Betrachter kommen wird, das steht dahin. Lassen wir ihm ruhig das letzte Wort! 1 4 Wir sind ja dem Geschehen noch zu nahe, als daß wir uns abschließend dazu äußern könnten. Daher mag es wichtiger sein, Abstand zu gewinnen als apodiktische Urteile zu fällen. Eines allerdings, so meine ich, kann man in aller Vorsicht feststellen: auch in den stürmischen Bewegungen der letzten zwei Jahrzehnte ist die Tradition der deutschen Universität nicht abgerissen. Sie besteht fort, allen Unkenrufen zum Trotz. Sie ist uns als verpflichtendes Erbe anvertraut. Auch in Zukunft muß die Universität Ort der Wissenschaft bleiben; sie muß dem Trend zur Verschulung, aber auch zur fachesoterischen Isolierimg steuern. Sie muß vermeiden, daß sie in akademische Buchscholastik einerseits, vernunftloses Handwerk andererseits auseinanderbricht. Deshalb müssen wir das bekämpfen, was Universitäten von Anfang an bedroht: Entpersönlichung, Interessendominanz und Ideologisierung; deshalb müssen wir das stärken, was sie innerlich zusammenhält: das Gespräch, den Umgang, die gemeinsame Suche nach der Wahrheit. Statt Gruppenstrategien brauchen unsere Universitäten einen neuen Geist der Einheit, der Zusammenarbeit. Sollten nicht gerade neue Universitäten sich hier leichter tun als alte? 14 Zwischenbilanzen der Hochschulreform (G. Roellecke, C. Schmid , G. Turner) enthält das in Fn. 1 angeführte Heft Β 3 - 4/84 der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament".
Die letzte Krise im Parlamentarischen Rat und ihre Bewältigung (März/April 1949) V o n R u d o l f Morsey
I. A u c h 40 Jahre n a c h I n k r a f t t r e t e n des Grundgesetzes der B u n d e s r e p u b l i k Deutschland, das der Parlamentarische Rat i n B o n n seit dem 1. September 1948 erarbeitet, a m 10. M a i 1949 verabschiedet u n d am 23. M a i v e r k ü n d e t hat, fehlt i m m e r n o c h eine D a r s t e l l u n g seiner „ p o l i t i s c h e n Geschichte" 1 . Sie müßte über die seit 1951 vorliegende D o k u m e n t a t i o n u n d über spätere D a r stellungen zur E n t s t e h u n g einzelner A b s c h n i t t e u n d A r t i k e l des G r u n d g e setzes 2 hinaus die n o c h u n g e d r u c k t e n Quellen - P r o t o k o l l e aller Fach- u n d Sonderausschüsse des Parlamentarischen Rates, Schriftwechsel p r o m i n e n ter M i t g l i e d e r , A u f z e i c h n u n g e n über Sitzungen v o n Parteigremien
und
- f ü h r u n g e n u n d andere einschlägige M a t e r i a l i e n - auswerten. Außer den bereits 1949 veröffentlichten P r o t o k o l l e n der V e r h a n d l u n g e n des Plenums u n d des Hauptausschusses des Rates sind n u r die P r o t o k o l l e des Ausschusses f ü r Z u s t ä n d i g k e i t s a b g r e n z u n g u n d f ü r das Besatzungsstatut ediert 3 , ferner die der S i t z u n g e n der C D U / C S U - F r a k t i o n des P a r l a mentarischen Rates 4 .
1 1960 hat Theodor Heuss, der dem Parlamentarischen Rat als Abgeordneter der FDP und Vorsitzender seiner (fünf köpf igen) Fraktion angehört hatte, formuliert: „Die politische Geschichte' des Parlamentarischen Rates ist noch nicht geschrieben worden, die über die Protokolle der Plenarsitzungen und des Hauptausschusses hinausgeht." Wenn Heuss fortfuhr, eine solche „politische Geschichte" müßte „ja auch gewiß zum Teil die Einflußnahme und die Sorge einzelner Landesregierungen und die hemmenden oder fördernden Sachgespräche mit den Männern der Besatzungsmächte zu berücksichtigen haben", so äußerte er sich damit, inzwischen Bundespräsident a.D., betont zurückhaltend über die „Einflußnahme" der Machthaber. Vgl. seine Einleitung zu: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten. Bundeswahlgesetz. Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, München 1960, S. 11. 2 Vgl. Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 1: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, bearbeitet von Klaus-Berto v. Doemming, Rudolf Werner Füsslein, Werner Matz, Tübingen 1951. Inzwischen liegen Darstellungen zur Enstehungsgeschichte einzelner Artikel in großer Zahl vor. 3 Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949. Akten und Protokolle, Bd. 3: Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung; Bd. 4: Ausschuß für das Besatzungsstatut, beide bearbeitet von Wolfram Werner, Boppard 1986 - 1989.
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Rudolf Morsey
Zu klären bleibt noch, ob und gegebenenfalls welchen Einfluß einzelne Parteiführungen und Länderregierungen bzw. Regierungschefs auf die Entscheidungen der Abgeordneten in Bonn genommen haben. Bisher bekannt ist vor allem das erfolgreiche Eingreifen des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard 5 . Ferner kennen wir die offiziellen Einwirkungen der drei Westmächte auf die Arbeit des Rates, nicht jedoch Umfang und Ausmaß jener Aktivitäten, mit denen die getrennt arbeitenden Verbindungsstäbe der drei Militärgouverneure in Bad Godesberg die Arbeit des Parlamentarischen Rates verfolgt und versucht haben, darauf Einfluß zu nehmen 6 . Erst in Umrissen bekannt ist schließlich - um ein weiteres Forschungsdefizit zu nennen - der Inhalt informeller Absprachen vom August 1948 zwischen einzelnen Repräsentanten der CDU, der CSU und der SPD, um bei den Wahlen durch die elf Landtage eine „ausgewogene" parteipolitische Zusammensetzung der insgesamt 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates zu erreichen. Aufgrund dieser Vorabverständigung erhielt Carlo Schmid von der absoluten Mehrheit der CDU im Landtag in Württemberg-Hohenzollern, auf Vorschlag des dortigen Staatspräsidenten Gebhard Müller (CDU) - offensichtlich nach Intervention des CSU-Vorsitzenden Josef Müller - , ein Mandat für den Parlamentarischen Rat 7 . Nachdem das Ergebnis der Wahlen, die sich über vier Wochen hingezogen hatten, vorlag - je 27 Mitglieder der SPDund der CDU/CSU-Fraktion - , fühlte sich die CDU benachteiligt 8 , nicht zuletzt in Nordrhein-Westfalen 9 . 4 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, bearb. von Rainer Salzmann, Stuttgart 1981. Protokolle von Sitzungen der übrigen Fraktionen sind bisher nicht bekannt. 5 Dazu vgl. zuletzt: Rudolf Morsey, Föderalismus im Bundesstaat. Die Rolle des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard in der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 108 (1988), S. 430ff. 6 Ein Teil der einschlägigen amerikanischen Quellen - darunter Protokolle von offiziellen wie inoffiziellen Gesprächen mit Delegierten des Parlamentarischen Rates - ist ediert in: Foreign Relations of the United States. Diplomatie Papers. 1948 vol. II; 1949 vol. III, Washington 1973 - 74; The Papers of General Lucius D. Clay, Germany 1945 - 1949, ed. by J. E. Smith. 2 Bde., Bloomington 1974. Die umfangreiche Berichterstattung des britischen Verbindungsstabs (Public Record Office, Kew/London) ist in einer Kopie im Bundesarchiv Koblenz (künftig zit.: BA) benutzbar (Kl. Erw. 792). Auf diesem Bestand basiert folgende Dokumentation: Reiner Pommerin, Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Porträtskizzen des britischen Verbindungsoffiziers Chaput de Saintonge, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 557ff. 7 Hinweise und Belege: Rudolf Morsey, Die Rolle Konrad Adenauers im Parlamentarischen Rat, in: Vierteljahrshef te für Zeitgeschichte 18 (1970), S. 654; Volker Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Düsseldorf 1971, S. 42f.; Der Parlamentarische Rat (Fn. 3), Bd. 1: Vorgeschichte, bearbeitet von Johannes Volker Wagner, Boppard 1975, S. LIVf., 287, 289, 322; Rudolf Morsey, Adenauerund der Weg zur Bundesrepublik Deutschland, in: Konrad Adenauer und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Rudolf Morsey, Stuttgart 1979, S. 27f., 117; Der Parlamentarische Rat (Fn. 3), Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearbeitet von Peter Bucher, Boppard 1981, S. CXXIIIf.; Die CDU/CSU-Fraktion (Fn. 4), S. XIIff.
Die letzte Krise i m Parlamentarischen Rat u n d ihre Bewältigung
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II. Die ursprüngliche Absicht der Faktionen von CDU/CSU und SPD, das Grundgesetz mit möglichst großer Mehrheit zu verabschieden, schwand mit zunehmender Dauer der Beratungen des Parlamentarischen Rates 10 . Die „Perfektionierung" der Verfassungsarbeit und Eingriffe der Besatzungsmächte schufen bzw. verschärften inner- und interfraktionelle Konflikte. Der Blick auf die kommenden Wahlen verleitete dazu, parteipolitische Interessen zunehmend in den Vordergrund zu rücken. Ungeachtet aller Differenzen gelang es am 10. Februar 1949 dem von Carlo Schmid geleiteten Hauptausschuß, mit den Stimmen der beiden großen Fraktionen und denen der FDP einen Entwurf des Grundgesetzes in dritter Lesung zu verabschieden. Er wurde am folgenden Tage den Verbindungsstäben der Militärgouverneure zugestellt, da die Besatzungsmächte das Grundgesetz genehmigen mußten. Sie hatten bereits am 22. November 1948 gegen eine frühere Entwurfsfassung Bedenken angemeldet, weil darin die im Frankfurter Dokument Nr. I vom 1. Juli 1948 enthaltene entsprechende Vorgabe für den Parlamentarischen Rat, eine „Regierungsform des föderalistischen Typs für die beteiligten Länder" zu schaffen, nicht genügend berücksichtigt gewesen sei. Dieser Einspruch blieb jedoch im weiteren Verlauf der Beratungen unbeachtet. Um so größer waren das Erstaunen und die Unruhe in Bonn, als die Militärgouverneure am 2. März 1949 in einem ausführlicheren Memorandum ihre Bedenken gegen den Entwurf des Grundgesetzes vom 10. Februar wegen dessen zu zentralistischer Ausgestaltung mit ausformulierten Änderungsvorschlägen verbanden 11 . Versuche eines neu gebildeten Siebeneraus8 Fn. 4, S. 12 f. Der Düsseldorfer Landtag wählte je sechs Abgeordnete der CDU und der SPD, trotz der unterschiedlichen Stimmenzahl bei der Landtagswahl vom 20. April 1947: 1 889 551 für die CDU (37,6%, 92 Mandate), 1 607 487 (32%, 64 Mandate) für die SPD. Zur K r i t i k von Unionspolitikern vgl. Rudolf Morsey, Nordrhein-Westfalen und der Parlamentarische Rat, in: Land und Bund, hrsg. von Walter Forst, Köln 1981, S. 78f. Nach Volker Schockenhoff, Wirtschaftsverfassung und Grundgesetz. Die Auseinandersetzungen in den Verfassungsberatungen 1945 - 1949, Frankfurt 1986, S. 147 f., ist aufgrund der Absprache zwischen den großen Parteien (s. Fn. 7) „vor allem die SPD auf Kosten der KPD" gestärkt worden. 10 Im folgenden werden vornehmlich noch unveröffentlichte Quellen ausgewertet und nur in einzelnen Fällen weniger bekannte Sachverhalte durch Literaturangaben belegt. Über die Arbeit des Parlamentarischen Rates zuletzt: Wolf gang Benz, Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik, 2. Aufl. München 1985, S. 191 ff. 11 Über den Zweck dieser Note („äußerstes Angebot" der Besatzungsmächte) vgl. die Hinweise des französischen Militärgouverneurs am 11. März in einer Besprechung mit den drei Ministerpräsidenten der französischen Zone. Druck: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945 - 1949. Bd. 5: Januar - September 1949, bearbeitet von Hans-Dieter Kreikamp, München 1981, S. 269. Die einschlägigen amerikanischen Quellen für die im folgenden beschriebenen Zusammenhänge (s. Fn. 6) sind verarbeitet bei Hans-Jürgen Grabbe, Die deutsch-alliierte Kontroverse um 9
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schusses, die a l l i i e r t e n M o n i t a auszuräumen (17. März), scheiterten. D i e Besatzungsmächte b e h a r r t e n (25. März) darauf, den E n t w u r f des G r u n d gesetzes zugunsten der F i n a n z h o h e i t u n d weitgehender Gesetzgebungskompetenzen der L ä n d e r s t r u k t u r e l l zu verändern. D u r c h diese I n t e r v e n t i o n geriet der Rat i n eine schwere Krise. D i e Gräben zwischen den großen F r a k t i o n e n v e r t i e f t e n sich: D i e SPD, deren P o l i t i k Schumacher n a c h monatelanger K r a n k h e i t v o n H a n n o v e r aus w i e d e r zu bestimmen suchte, g i n g auf K o l l i s i o n s k u r s z u den Besatzungsmächten. Demgegenüber w a r die C D U / C S U - u m ein Scheitern des Grundgesetzes z u v e r h i n d e r n oder andernfalls die V e r a n t w o r t u n g d a f ü r „ e i n d e u t i g " der SPD zuschieben z u k ö n n e n 1 2 - z u Konzessionen bereit. Sie legte Ende M ä r z entsprechende Vorschläge v o r 1 3 , die bei der S P D auf scharfe K r i t i k stießen. Das A b r ü c k e n v o m F e b r u a r - K o m p r o m i ß fiel T e i l e n der U n i o n deswegen n i c h t schwer, w e i l es die M ö g l i c h k e i t bot, frühere, n u r w i d e r w i l l i g konzedierte „ z e n t r a l i s t i s c h e "
Zugeständnisse (Bundesfinanzverwaltung)
rück-
gängig machen z u k ö n n e n 1 4 . U m so größeres G e w i c h t legten die als V o r k ä m p f e r des Föderalismus i n B o n n hervorgetretene bayerische Staatsregier u n g u n d die C S U - A b g e o r d n e t e n auf die Feststellung, auch k ü n f t i g als „ S a c h w a l t e r deutscher Interessen u n d n i c h t als Sprecher irgendwelcher a l l i i e r t e r Forderungen t ä t i g " z u b l e i b e n 1 5 . den Grundgesetzentwurf im Frühjahr 1949, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), bes. S. 395ff. Seitdem erschienen: John H. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay. Der Weg zur Bundesrepublik 1945 - 1949, München 1983, S. 311 ff.; Wolf gang Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945 - 1949, Stuttgart 1987, S. 428ff.; Antoni (Fn. 22); Schockenhoff (Fn. 9). 12 So in einem Beschluß der Unionsfraktion vom 29. März 1949. Vgl. Fn. 4, S. 444. 13 Ungedruckte Materialien dazu in den Nachlässen zahlreicher Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion des Parlamentarischen Rates, so Konrad Adenauer, Heinrich v. Brentano, Paul de Chapeaurouge, Theophil Kaufmann, Wilhelm Laforet, Anton Pfeiffer, Adolf Süsterhenn, aber auch im Nachlaß Hans Ehard. Einzelnachweise erfolgen jeweils bei zitierten Passagen. 14 In einer Fraktionssitzung am 13. April 1949 erklärte der CDU-Abg. Theophil Kaufmann, die Verhandlungen im Siebenerausschuß in puncto Bundesfinanzverwaltung seien so geführt worden, daß die Alliierten dazu nur hätten nein sagen können, „und zwar zugunsten unseres Standpunktes". Vgl. Fn. 4, S. 486. Ähnlich Kaufmann bei einer Konferenz der Führungsgremien von CDU und CSU am 26. April 1949 in Königswinter, wo Kaufmann wiederholte, daß diese Taktik erfolgreich gewesen sei. Nach einer stenographischen Niederschrift im Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin, 1-009-007/1. 15 So in einer Aufzeichnung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Anton Pfeiffer, vom 15. März 1949. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abt. V (künftig zit.: BHStM), Nachlaß Pfeiffer 213. Zu den Vorschlägen der CDU/CSU-Fraktion vgl. Walter Strauss, Aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, in: Neue Perspektiven aus Wirtschaft und Recht, hrsg. von Carsten Peter Claussen, Berlin 1966, S. 358 (ohne Hinweise auf den geringfügig abweichenden Erstdruck dieses Beitrags in: Politisches Jahrbuch der CDU/CSU 1950, Recklinghausen 1950). Am 7. April hatte Carlo Schmid im Ältestenrat erklärt, die Auffassungen der CDU „deckten sich weitgehend mit denen der Alliierten, ohne daß er damit irgendwie einen Kausalzusammenhang feststellen wolle". Vermerk (ohne Verfasserangabe) in: Stiftung BundeskanzlerAdenauer-Haus in Bad Honnef-Rhöndorf, Nachlaß Adenauer 09.09.
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Demgegenüber hielt die SPD-Führung gegenüber den Besatzungsmächten wie gegenüber den Unionsparteien am Entwurf des Siebenerausschusses fest, um eine „Auflösung Westdeutschlands in einen Staatenbund" zu verhindern 16 . Die Westalliierten wären im damaligen Zeitpunkt ihrer Konfrontation mit der Sowjetunion in erhebliche Schwierigkeiten geraten, wenn das Grundgesetz gegen eine der großen Parteien verabschiedet oder aber die Bonner Beratungen ohne Ergebnis abgebrochen worden wären. Am 5. April bekräftigten die in New York zu einer deutschlandpolitischen Konferenz versammelten Außenminister der drei Westmächte die bisherige Haltung ihrer Regierungen gegenüber dem Parlamentarischen Rat, allerdings in einer freundlicheren Art und Weise als die Militärgouverneure am 2. März. Sie erreichten damit neue Beratungen im Parlamentarischen Rat, nicht aber die Bereitschaft der SPD zu Zugeständnissen in der Frage der Steueraufteilung und Finanzverwaltung zugunsten der Länder. Damit waren auch die am 17. März erreichten Kompromisse nicht mehr haltbar. Die Verhandlungen blieben unterbrochen. Den Sozialdemokraten kam zugute, daß der am 10. April in Bonn übergebene Entwurf des Besatzungsstatuts härter ausfiel, als angesichts der Fortdauer des Kalten Krieges und der seit Ende Juni 1948 bestehenden Blockade der Berliner Westsektoren vielfach erwartet worden war. Die SPD-Fraktion beriet zusammen mit Mitgliedern des Parteivorstands am 11. April in Bad Godesberg die Lage, vertagte jedoch eine Entscheidung bis zu einem Treffen der Führungsgremien ihrer Partei am 20. April in Hannover. Auf die gleichzeitige Ankündigung der SPD, einen neuen, „verkürzten" Grundgesetzentwurf vorzulegen, reagierte die CDU/CSU-Fraktion am 12. April mit dem Beschluß, über einen „derartigen Entwurf" nicht zu verhandeln; sie sei „nicht gewillt, die in acht Monaten geleistete Arbeit nochmals von vorne zu beginnen" 17 . Die CDU/CSU-Fraktion verwahrte sich gegen den Vorwurf, vom März-Kompromiß abgerückt zu sein; denn darin sei vereinbart worden, „daß im Falle des Einspruchs der Besatzungsmächte" neue Lösungen gesucht werden müßten. Als ebenso „Wahrheit s widrig" wurde der weitere Vorwurf zurückgewiesen, die Unionsfraktion zögere die Verabschiedung des Grundgesetzes hinaus, und die SPD aufgefordert, die „abschließenden Beratungen" nach dem 20. April sofort wieder aufzunehmen. Die Situation war so kritisch, daß Vertreter des Parlamentarischen Rates mit einigen Ministerpräsidenten der CDU und SPD am gleichen Tage Rückfallpositionen erörterten. Falls der Parlamentarische Rat scheitere, sollten die Ministerpräsidenten „ i m letzten Augenblick" angerufen werden, „um 16 So Kurt Schumacher am 30. März 1949. Vgl. Kurt Schumacher, Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945 - 1952, hrsg. von Willy Albrecht, Bonn 1985, S. 633. 17 Fn. 4, S. 481.
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noch einmal zu versuchen, eine deutsche Lösung zu finden" 1 8 . Am 14. April kommentierte der FDP-Abg. Thomas Dehler die Absicht der SPD, einen neuen Grundgesetzentwurf vorzulegen, als „denkbar unglücklich", weil sie damit „nur schon vernarbte Wunden wieder aufbrechen würde" ; offensichtlich rechneten die Sozialdemokraten mit der „Nachgiebigkeit der Alliierten" 1 9 . Am gleichen Tage verwiesen die Militärgouverneure jedoch erneut auf ihr Memorandum vom 2. März. Die Krise in Bonn schwelte fort. III. Adenauer, der die Beschlüsse der Washingtoner Konferenz der Außenminister der drei Westmächte vom 8. April 1949 - die größere Vollmachten für den künftigen westdeutschen Bundesstaat vorsahen - als einen „Fortschritt für Westdeutschland" 20 begrüßt hatte, hielt es für „nicht zu verantworten", die „ausgestreckte Hand der Alliierten" auszuschlagen. Im übrigen sei, so ergänzte er am 16. April, das Grundgesetz ja nicht „die Zehn Gebote"; Änderungen in naher Zukunft seien „durchaus wahrscheinlich" 21 . Die SPD beharrte jedoch, seit Ende März von Schumacher darin bestärkt, auf ihrer ablehnenden Position. Adenauer bewertete es als eine Tragödie, daß der SPD-Vorsitzende von seinem Krankenbett in Hannover aus die Bonner Fraktion zu binden suche. Die Entscheidung eines „kleinen Parteitags" der SPD vom 20. April in Hannover bedeutete eine klare, von Schumacher betont brüsk formulierte Absage gegenüber den Forderungen der Westmächte, aber auch gegenüber der Bereitschaft zur Nachgiebigkeit seitens der Unionsfraktion. Die SPD machte ihre Teilnahme am Fortgang der Beratungen in Bonn davon abhängig, daß sechs von ihr fixierte Postulate im Grundgesetz berücksichtigt würden 22 . Gleichzeitig wurde die Vorlage eines „auf das Notwendigste beschränkten" neuen Grundgesetzentwurfs von 124 Artikeln („Organisationsstatut") angekündigt. Diese Kampfansage an die Besatzungsmächte wie an die übrigen Fraktionen in Bonn 2 3 bedeutete eine nationale Sensation. 18 Zit. nach einer Aufzeichnung des Bremer Bürgermeisters Wilhelm Kaisen. Druck: Hartmut Müller, Der Weg zum Grundgesetz, Bremen 1979, S. 196. 19 An Heuss. Druck: Theodor Heuss, Lieber Dehler! Briefwechsel mit Thomas Dehler, hrsg. von Friedrich Henning, München 1983, S. 29f. 20 Vgl. „Die Welt" vom 9. April 1949. 21 Vgl. Morsey, Die Rolle Adenauers (Fn. 7), S. 80ff., auch für das Folgende. Die Wendung von den „Zehn Geboten" auch erwähnt bei Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945 - 1953, Stuttgart 1965, S. 172. 22 Druck: Fn. 16, S. 143; Michael Antoni, Sozialdemokratie und Verfassung. Verfassungspolitische Positionen und Verfassungspläne der SPD 1934 - 1949, Diss. Bonn 1982, Teil 1, S. 266. 23 Druck: Fn. 16, S. 634ff., auch mit jenen Passagen, u.a. über Differenzen zwischen der SPD-Parteiführung und der Bonner SPD-Fraktion, die in der zeitgenössi-
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Die Emotionen gingen hoch. Unionspolitiker gaben ihrer Erregung über dieses Verhalten des „Alles oder Nichts" angesichts der internationalen K r i sensituation lautstark Ausdruck und kritisierten die nationale Tonart Schumachers, der - wie Adenauer formulierte - „offenbar keine Verabschiedung des Grundgesetzes" wolle 2 4 . Entsprechende Schlagzeilen („Schockwirkung in Bonn") und Leitartikel in den folgenden Tagen verschärften die Konfrontation. Am Vormittag des 21. April beschlossen führende Unionspolitiker, für den 26. April sämtliche Landesvorsitzenden und andere Amtsträger beider Parteien nach Königswinter einzuladen. In dieser Konferenz sollte angesichts der Gefahr eines Scheiterns der Verhandlungen in Bonn das weitere Vorgehen beraten werden, auch die Möglichkeit, das Grundgesetz notfalls gegen die SPD zu verabschieden. Adenauer verurteilte im Nordwestdeutschen Rundfunk das Ergebnis von Hannover und warnte davor, die innenpolitische Atmosphäre durch die Behauptung zu vergiften, die CDU/CSU treibe „Erfüllungspolitik". Auf diese Weise würde, wie nach 1918, eine Kluft zwischen „Erfüllungspolitikern" und „Patentnationalisten" aufgerissen. Der Unionspolitiker kritisierte die Angriffe Schumachers auf die Alliierten als „unberechtigt", gab jedoch - unbeschadet seiner gleichzeitig intern viel schärfer geäußerten K r i tik an den „beleidigenden und verletzenden Äußerungen" der SPD - seiner Hoffnung Ausdruck, daß es aufgrund der „politischen Einsicht" der Sozialdemokraten doch noch zu einer Einigung kommen werde 25 . Ein Scheitern der Beratungen lag nicht im Sinne der kompromißbereiten Mehrheiten in beiden großen Fraktionen. So war in Bonn bereits am 21. April erkennbar, daß sich maßgebliche SPD-Politiker um Carlo Schmid der Abhängigkeit von Hannover zu entziehen und wieder „mit Anstand in ein Gespräch" mit den übrigen Fraktionen zu kommen suchten 26 . Dazu trug ein sehen Veröffentlichung (Sopade-Informationsdienst Nr. 757 vom 27. April 1949, S. 1 - 12) fehlten. 24 Vgl. „Allgemeine Kölnische Rundschau" vom 22. April 1949. 25 Am Nachmittag des 21. April 1949. Vgl. Fn. 4, S. 488f. Ebd., S. 490ff. (ein sehr kritisch aufgenommener) Bericht über Schumachers Pressekonferenz vom Vortage. (Deren Wortlaut: Sopade-Informationsdienst Nr. 758 vom 28. April, S. lf.) In einer Stellungnahme des CDU-Abgeordneten Heinrich v. Brentano im Süddeutschen Rundfunk hieß es, daß nur noch die Regelung der Finanzverwaltung ungeklärt sei, die SPD dies aber zum Anlaß nehme, nun „zu der ganzen bisherigen Arbeit nein zu sagen"; Schumacher halte eine „unverbrauchte, starke SPD als Repräsentant des nationalen Selbstbewußtseins für wertvoller als einen Erfolg der Arbeiten des Parlamentarischen Rates". BA, Nachlaß v. Brentano 113. Unter der Überschrift „Ablehnende Haltung der SPD in Hannover" berichtete die „Süddeutsche Zeitung" am 21. April über die Entscheidungen vom Vortage, ergänzt um den Hinweis, daß Adenauer den Sieg Schumachers als eine Niederlage des Abg. C. Schmid bezeichnet habe. 26 So nach Ausführungen verschiedener Redner der CDU und CSU in einer Fraktionssitzung am Abend dieses Tages. Fn. 4, S. 140. Am 19. Mai 1949 erwähnte Thomas Dehler (FDP) im Bayerischen Landtag die Diskrepanz zwischen der „Aktion von
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heilsamer Termindruck bei: Alle Fraktionen hatten bereits am 14. April, beim letzten Gespräch mit den Militärgouverneuren zum Thema Besatzungsstatut, abschließende Verhandlungen über den Grundgesetzentwurf am 25. April in Frankfurt vereinbart. Zudem war Schumachers öffentliches „Nein von Hannover" kompromißloser als die gleichzeitig verabschiedete Sechs-Punkte-Entschließung, die Verhandlungsspielraum enthielt. Das war auch in einer Pressekonferenz des Parteivorsitzenden erkennbar geblieben 27 . Als unverzichtbar allerdings galt eine „entscheidende Minderung" der Vollmachten des Bundesrats und eine - vage umschriebene - Regelung des Finanzwesens, „die dem Bund die)Mittel und die Möglichkeiten gibt, deren er zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf". Hingegen war nicht mehr von der bisher geforderten starken Bundesfinanzverwaltung die Rede. Adenauer sah in diesem „restlosen" Einlenken („Kuriosum") auf die „Wünsche der Alliierten" - so in einer Fraktionssitzung am Nachmittag des 21. April - einen Anknüpfungspunkt für neue Gespräche 28. Deren sofortige Wiederaufnahme wurde in einer anschließenden Sitzung des von Adenauer geleiteten Ältestenrats verabredet 29 , wobei sich die Unionsvertreter mit Vorwürfen an die Adresse der SPD zurückhielten (was kritische Reaktionen in der eigenen Fraktion auslöste) 30 . Als Voraussetzung für den Beginn der neuen Verhandlungsrunde mußte die SPD-Fraktion auf die Vorlage ihres gekürzten, von Menzel und Zinn ausgearbeiteten Grundgesetzentwurfs 31 verzichten, den die Union ebensowenig zu diskutieren bereit war wie die gleichzeitig verkündete SechsPunkte-Forderung von Hannover. Carlo Schmid erklärte sich daraufhin einverstanden, den Entwurf („Konvolut") den Mitgliedern des Hauptausschusses nur zur Information („unverbindlich") zu übergeben; dessen Essenz sollte dann „ i m parlamentarischen Betrieb" in insgesamt 180 Abänderungsanträge - zur 3. Lesung des Grundgesetzentwurfs des HauptausHannover" und den Intentionen der Bonner SPD-Fraktion „unter ihrem Führer Carlo Schmid". Vgl. Verhandlungen des Bayerischen Landtags. 1. Wahlperiode, 3. Tagung 1948/49. Stenographische Berichte, Bd. 4, S. 100. 27 Wie Fn. 25. Grabbe (Fn. 11), S. 412 Anm. 94, hat den Kompromißcharakter der Resolution hervorgehoben, ebenfalls auf die sorgfältige Vorbereitung der Rede Schumachers vom 20. April (Fn. 23) aufmerksam gemacht, auch durch Vorbesprechungen mit einer Reihe von Politikern, darunter C. Schmid. 28 Fn. 4, S. 491. 29 Nach „Notizen" (ohne Verfasser) über diese um 19 Uhr begonnene Sitzung. BHStM, Nachlaß Pfeiffer 213. 30 Vgl. Fn. 4, S. 495. Ausführlicher über die Sitzungen der Unionsfraktion vom Vortage informiert ein vom 22. April 1949 datierter Bericht des bayerischen Bevollmächtigten beim Parlamentarischen Rat, Ministerialrat Claus Leusser. Wie Fn. 29. 31 Druck: Sopade-Informationsdienst Nr. 762 vom 3. Mai 1949, S. 1 - 12; Antoni (Fn. 22), Teil 2, S. 61 - 89 (nach dem Abdruck im Berliner „Tagesspiegel" vom 23./26. Mai 1949).
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schusses vom Februar - aufgelöst werden. Auf diese Mitteilung hin reagierte Adenauer sofort („das vereinfacht die Situation außerordentlich") und fand positives Echo für seinen Vorschlag, die Anträge nach ihrer Fertigstellung „laufend" dem Büro des Parlamentarischen Rates einzureichen, jedoch nicht förmlich als Anträge einzubringen. Anschließend begannen Abgeordnete der Unionsfraktion mit der Prüfung des neuen Entwurfs der SPD. Die Eindrücke, die sie über deren Ergebnis am späten Vormittag des folgenden Tages (22. April) ihrer Fraktion mitteilten, waren übereinstimmend negativ: Da der Entwurf keine „vorstaatlichen Rechte" enthalte, eröffne er „ i n gefährlicher Weise" den Weg zu einem „neuen Staatsabsolutismus und Totalitarismus" (Adolf Süsterhenn) 32 . In einer in dieser Sitzung angenommenen Entschließung kritisierte die Unionsfraktion die Beschlüsse von Hannover. Das geschah in scharfer Form, wobei jedoch die Bonner SPD-Fraktion spürbar geschont wurde. Um so deutlicher wurden die „unqualifizierten Angriffe" der SPD-Parteileitung gegen die Unionsparteien zurückgewiesen und ihr die Verantwortung für die Folgen dieser, die Motive deutscher Politiker diffamierenden, „traurigen, undeutschen und undemokratischen Parteipolemik" überlassen; auch habe die SPD die von ihr zu verantwortende Verzögerung, wenn nicht gar „Verhinderung" der „Bonner Arbeit" zu verantworten. Die Verärgerung war deswegen besonders groß, weil die angekündigten Abänderungsanträge „größtenteils" in keinem sachlichen Zusammenhang mit den Verhandlungen zu dem „umstrittenen Finanzproblem" standen. Als unzutreffend galt schließlich der Vorwurf, daß durch die Vorschläge der CDU/CSU und der FDP zur „Finanzregelung im Bunde" keine eigene Finanzwirtschaft des Bundes möglich sei 33 . Der abschließende Hinweis der Fraktion, sie werde ihrerseits alles tun, um das Grundgesetz „beschleunigt" fertigzustellen, erfolgte in Kenntnis des Verhaltens der FDP-Abgeordneten, die inzwischen ebenfalls ein Eingehen auf die neuen Forderungen der SPD abgelehnt hatten. Ein Gespräch zwischen Vertretern der drei Fraktionen am Nachmittag dieses 22. April - bei dem mit der SPD „Fraktur gesprochen" worden sei, wie Jakob Kaiser (CDU) anschließend berichtete 34 - öffnete den Weg zu der am Vorabend verabredeten Fortsetzung der Verhandlungen. Sie sollten um 32 Fn. 4, S. 502. Für das Folgende: S. 499f. Ebd., S. 500ff. kritische Stellungnahmen einzelner Fraktionsmitglieder zum gekürzten Grundgesetzentwurf der SPD. Der französische Militärgouverneur General Koenig ging am gleichen Tag von der Möglichkeit eines Scheiterns des Parlamentarischen Rates aus; in diesem Fall hielt er es für das Beste, die Arbeit „ i n die Hand der Ministerpräsidenten zu legen." Wie Fn. 6, S. 391. 33 Fn. 4, S. 507 f. 34 Fn. 4, S. 506.
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19 Uhr „ohne förmliche Gesprächsunterlage" beginnen, d.h. ohne Rücksicht auf die jüngsten Forderungen von Hannover, auf der Grundlage der Beschlüsse des Siebenerausschusses von Mitte März. Vorher aber mußte die CDU/CSU-Fraktion noch eine interne Klärung herbeiführen. Denn Adenauer, der von einer Sitzung des Landesausschusses der rheinischen CDU in Düsseldorf kam und über die voraufgegangene Absprache mit der SPD noch nicht informiert war, plädierte plötzlich gegen weitere Verhandlungen und stattdessen für baldige Abstimmung. Er rechnete mit der Möglichkeit einer Mehrheitsbildung mit Hilfe der Deutschen Partei und des Zentrums, selbst bei etwaiger Stimmenthaltung der FDP 3 5 . Nach Kenntnisnahme des Ergebnisses der inzwischen erfolgten Absprache mit der SPD beharrte er jedoch nicht mehr auf seinem Vorschlag, zumal inzwischen eine Botschaft der Westmächte angekündigt worden war. Deren Übergabe erfolgte um 18.30 Uhr. Sie veränderte die Situation in Bonn schlagartig, und zwar zugunsten der in den letzten Tagen arg in die Defensive gedrängten SPD, die auch ihre angekündigten 180 Anträge immer noch nicht vorgelegt hatte. In einem Schreiben der drei Außenminister der Westmächte an den Parlamentarischen Rat wurde der Einspruch der Militärgouverneure vom 2. März gegen den Grundgesetzentwurf erheblich modifiziert bzw. zurückgenommen. Die Botschaft enthielt Kompromißangebote zur Regelung der Kompetenzverteilung und der Finanzverfassung des Bund-Länder-Verhältnisses. Auf dieses Einlenken hatten sich die Außenminister insgeheim bereits am 8. April in New York - unter dem Eindruck der seit Ende März versteiften Ablehnung der SPD - verständigt, jedoch den Zeitpunkt der Übergabe ihres „Versöhnungsbriefes" den Militärgouverneuren überlassen. Die drei Generale mußten ihn nunmehr auf Drängen des britischen Außenministers Bevin - gegen den Protest von General Clay 3 6 - bekanntgeben, um dem Parlamentarischen Rat, wie ein amerikanischer Verbindungsoffizier zugab, aus seinen „Schwierigkeiten" zu helfen 37 . IV. Mit diesem „Dokument von nie gekannter Toleranz und Weitherzigkeit", so Kurt Schumacher 38 , sicherten die Regierungen der Westmächte die Entschlußfreiheit des Parlamentarischen Rates. Die Note stellte die „deutsche 35
Fn. 4, S. 506f. Dazu vgl. Grabbe (Fn. 11), S. 408. Ferner Backer (Fn. 11), S. 316: „ I m Gegensatz zum amerikanischen Militärgouverneur hatte die Labour-Regierung in London gegen einen Triumph der Sozialdemokraten nichts einzuwenden." 37 Nach einer Mitteilung Adenauers am Abend des 22. April 1949. Vgl. Fn. 4, S. 508. 38 Am 27. April. Vgl. Fn. 23, S. 663. 36
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Beweglichkeit" in erheblichem Umfang wieder her 39 . Diese Schwenkung das hatte die sozialdemokratische Führung seit Ende März richtig erkannt stand in Zusammenhang mit dem neuen Sicherheits- und Europakonzept der Vereinigten Staaten. Darin besaß die Weststaatsgründung in Deutschland Priorität. Inzwischen liefen Verhandlungen über den Abbruch der Berliner Blockade 40 und war für den 23. Mai in Paris die Eröffnung einer Konferenz der vier Hauptsiegermächte über Deutschland vereinbart. Die Sozialdemokraten feierten ihren Sieg über die Besatzungsmächte und über ihre innenpolitischen Gegner. Sie betrachteten ihren „ersten außenpolitischen Erfolg für die Deutschen" - so Schumacher 41 - als hervorragend geeignetes Thema für den kommenden Wahlkampf. Die Christdemokraten, die konsequentesten Verfechter einer Westbindung, hatten die Haltung der Alliierten falsch eingeschätzt. Sie sahen sich düpiert, vor allem Adenauer, der um einer raschen Verabschiedung des Grundgesetzes willen am stärksten auf Konzessionen gedrängt hatte. Es traf ihn schwer, nunmehr „fast alle Forderungen" Schumachers berücksichtigt zu finden 42 . Unionspolitiker vermuteten bzw. waren - wie auch „sofort von amerikanischer Seite" verbreitet, aber von Schumacher bereits am 20. April in einer Pressekonferenz dementiert worden war 4 3 - davon überzeugt, daß die SPDFührung von britischer (Labour-)Seite über die am 8. April beschlossene Konzessionsbereitschaft der Westmächte informiert gewesen sei 44 . Nur mit dieser Kenntnis habe sie derart auftrumpfen können, zumal Schumacher auf Befragen zugegeben hatte, vor dem 20. April mit dem britischen Kabinettsmitglied Herbert Morrison in Hannover „über die Sache" gesprochen zu haben, allerdings ohne von ihm „irgendeinen Druck oder einen Hinweis nach der einen oder anderen Seite" erhalten zu haben 45 . 39 So der SPD-Abg. Walter Menzel am 27. April 1949. Vgl. Sopade-Informationsdienst Nr. 782 vom 27. Mai 1949, S. 2. 40 Am gleichen 22. April hatte es Jakob Kaiser (CDU) „wegen der russischen Verhandlungen mit Amerika" als „dringend notwendig" bezeichnet, mit den Grundgesetzberatungen „schnell fertig zu werden". Vgl. Fn. 4, S. 507. In einer Sitzung des Zentralvorstands der FDP am 26. April 1949 führte Heuss die „Schwenkung" der Besatzungsmächte „ i n der Hauptsache" auf die „bevorstehenden Verhandlungen mit den Russen" zurück. BA, Nachlaß Blücher 231. 41 WieFn. 16. 42 Vgl. Adenauer (Fn. 21), S. 170f. 43 Vgl. den Hinweis in Fn. 23. 44 Nach einem Bericht Leussers (Fn. 30) vom 22. April bestanden „Anhaltspunkte" für die Vermutung, daß die SPD den Inhalt des Memorandums „schon seit einiger Zeit gekannt" habe, und zwar von General Robertson (mitgeteilt im Anschluß an die Verhandlungen vom 14. April mit den Militärgouverneuren in Frankfurt) und von Morrison. Vgl. Fn. 64 ff. Ein Mitglied der amerikanischen Militärregierung, Walter L. Dorn, notierte bereits am 15. April 1949 nach einem Gespräch mit dem Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD): Robertson habe „den Bonner Führern" der SPD gesagt, „daß sie auf den Grad von Zentralisierung drängen könnten, den Schumacher für die Deutschen für notwendig hält". Vgl. Walter L. Dorn, Inspektionsreisen in die USZone, hrsg. von Lutz Niethammer, Stuttgart 1975, S. 168.
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Die anhaltende gegenseitige Pressepolemik blieb ohne Einfluß auf die interfraktionellen Verhandlungen, die nunmehr unter Einbeziehung der von den Alliierten gewährten Konzessionen vom Abend des 22. bis zum (Sonntag-) Abend des 24. April 1949 nahezu ununterbrochen andauerten. Parallel dazu suchten alle Fraktionen, mit Ausnahme der Kommunisten, die parteipolitische Kontroverse beizulegen. In einer gemeinsamen „Ehrenerklärung" bestätigten sie sich die „Überzeugung", ihre Entscheidungen „ausschließlich durch deutsche, von fremden Einflüssen unabhängige Erwägungen" bestimmen zu lassen 46 . Dieser demonstrative parteipolitische Burgfrieden, unterzeichnet von Carlo Schmid, Robert Lehr und Theodor Heuss, sollte einer neuen Dolchstoßlegende („Erfüllungspolitiker") vorbeugen. Diese Erklärung - die Adenauer am 26. April als „ein so starkes Abrükken" von Schumachers Kampfansage vom 20. April interpretierte, „wie es doch wirklich nur wünschenswert i s t " 4 7 - , wurde jedoch „wegen der höheren Möglichkeit der Zusammenarbeit" 48 erst am Nachmittag des 25. April veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt verhandelten Delegierte des Parlamentarischen Rates in einer fast sechsstündigen Konferenz mit den Militärgouverneuren in Frankfurt über die Annahme des inzwischen in Bonn ausgearbeiteten neuen Entwurfs. Darüber kam es am gleichen Abend zu einer Verständigung auf der Grundlage gegenseitiger Kompromisse 49 . Im Ergebnis waren das Gesetzgebungsrecht des Bundes zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit (Art. 72) und ein doppeltes Finanzsystem akzeptiert (Art. 105 - 108). Der bis zuletzt umstrittene Länderfinanzausgleich (Art. 106, Abs. 4) wurde auf Verlangen der Alliierten ebenfalls 45 Wie Fn. 25. Dazu vgl. Fn. 4, S. 492, sowie Grabbe (Fn. 11), S. 409f. Ferner Keesings Archiv der Gegenwart 19, 25. April 1949, S. 1907: „Wie deutsche Konferenzteilnehmer [der Frankfurter Konferenz vom 25. April 1949, s. Fn. 49] . . . äußerten, gab General Clay der Vermutung Ausdruck, daß die britischen Vertreter die Beschlüsse der drei Außenminister frühzeitig an die SPD weitergeleitet haben." 46 Drucksache S 49 des Parlamentarischen Rates. 47 In Königswinter (Fn. 14). Dementsprechend kommentierte Paul Wilhelm Wenger am 30. April 1949 im „Rheinischen Merkur": Mit dieser Ehrenerklärung sei das schlimmste Hemmnis für eine Einigung, das „Hannoveraner-Führerdiktat vom 20. April", ausgeräumt worden. 48 So in der CDU/CSU-Fraktion am Abend des 23. April 1949. Vgl. Fn. 4, S. 512. 49 Dazu vgl. Carlo Schmid : „Es war schrecklich." Rückblick auf die Verhandlungen, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 667. Adenauer kommentierte am folgenden Tage in Königswinter (Fn. 14), daß sich die „deutschen Parteien" in Frankfurt untereinander, und „nicht etwa auf Druck oder unter der Leitung der Militärgouverneure", geeinigt hätten; es sei eine „historische Stunde" gewesen. Einige Monate später konkretisierte der CDU-Abg. Walter Strauss, die Formulierungen zu Art. 72 seien in „einer Ecke des Saales" vorgenommen worden, in dem die Verhandlungen mit den Militärgouverneuren stattgefunden hätten. Vgl. Bundesrecht und Bundesgesetzgebung. Bericht über die Weinheimer Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Frankfurt am 22./23. Oktober 1949, Frankfurt 1950, S. 119.
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getrennt; möglich waren neben einem Ausgleich zwischen „leistungsfähigen und leistungsschwachen Ländern" auch Zuweisungen aus Bundesmitteln 50 . Die während einer von mehreren Konferenzpausen zwischen den deutschen Vertretern erzielte Einigung betraf eine straffere Fassung der Grundrechte, die Nichterwähnung der Berufsschulen im nachmaligen Art. 7, die Formulierung der Beamtenrechtsvorschriften im nachmaligen Art. 33 und die Konkordatsfrage in Art. 123, Abs. 2 5 1 . Diese Verständigung wurde allgemein als historisches Ereignis gewürdigt, gleichzeitig aber auch von der CDU als Niederlage Schumachers bewertet 52 , vom französischen Militärgouverneur hingegen vornehmlich als Sieg der SPD verstanden 53 . Trotz der Konzentration des zeitgenössischen wie des späteren Interesses an Verlauf und Ausgang der Verhandlungen zwischen dem 21. und 26. April 1949 blieb ein Überlieferungsstrang dieser Tage außerhalb des Blickfelds der Öffentlichkeit, aber auch der Zeitgeschichtsforschung 54 : Was ist mit dem verkürzten Grundgesetzentwurf der SPD sowie mit den von der SPDFraktion am 21. April angekündigten 180 Abänderungsanträgen geschehen? Letztere sind - offensichtlich in den beiden folgenden Tagen - in Gestalt von elf Drucksachen im Parlamentarischen Rat eingebracht worden, unterzeichnet von den Abgeordneten Otto Heinrich Greve, Rudolf Katz und August Zinn, aber nicht datiert. Anders als der verkürzte Entwurf, auf dessen Vorlage die Fraktion von vornherein verzichtet hatte, wurden die elf Anträge der SPD vom Sekretariat des Parlamentarischen Rates registriert, numeriert (Drucksachen 715 bis 725) und vervielfältigt. Adenauer hat dann jedoch diese Fleißarbeit von 50 Am 19. Mai 1949 erklärte Pfeiffer im Bayerischen Landtag, die „Entstehungsgeschichte" des Finanzausgleichs in den Verhandlungen in Frankfurt sei „ein Vorschlag - man kann eigentlich sagen: eine Anordnung - der Militärgouverneure" gewesen. Fn. 26, S. 91. 51 Dazu vgl. Strauss (Fn. 15), S. 360. - Kurz nach der Verabschiedung des Grundgesetzes hat der FDP-Abg. Hermann Höpker Aschoff darauf hingewiesen, daß ohne Kenntnis „der wechselvollen Verhandlungen" die Genesis von Art. 106 nicht zu verstehen sei: „Wer in seinen Entschließungen nicht frei ist, hat als Gesetzgeber einen schweren Stand." Das Finanz- und Steuersystem des Bonner Grundgesetzes, in: Archiv des öffentlichen Rechts, NF 36 (1949), S. 326. 52 Der „Deutschland-Union-Dienst" vom 28. April 1949 kommentierte, durch diese Einigung sei die „Wirkung der hypernationalistischen Fanfaren" von Hannover „gottlob in der allgemeinen Befriedigung über einen wirklichen nationalen und internationalen Fortschritt" untergegangen. 53 Vgl. die Tagebucheintragung Heinrich Troegers vom 30. April 1949; ders., Interregnum. Tagebuch des Generalsekretärs des Länderrats der Bizone 1947 - 1949, hrsg. von Wolf gang Benz und Constantin Goschler, München 1985, S. 117. 54 Trotz des Hinweises bei Morsey, Adenauer und die Gründung (Fn. 7), S. 119; aufgenommen nur von Antoni (Fn. 22), Teil 1, S. 442 Anm. 2. Der verkürzte Grundgesetzentwurf der SPD ist nicht - so Grabbe (Fn. 11), S. 414 förmlich zurückgezogen worden.
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insgesamt 33 Seiten - entsprechend seinem am Abend des 21. April von der SPD akzeptierten Vorschlag - nicht verteilen lassen, sondern als „nur symbolisch" übergeben betrachtet 55 . Ihr Inhalt war durch das überraschende Einlenken der Westmächte zum Teil überholt, auch die Verfechter eines Organisationsstatuts in den Reihen der SPD-Fraktion inzwischen wieder in der Minderheit. Entscheidend wurde, daß die Anträge keine Grundlage für eine Lösung der vor allem strittigen Probleme, in erster Linie die Regelungen der Finanzverfassung, boten und deswegen von der CDU/CSU-Fraktion wie von den FDP-Abgeordneten nicht als Diskussionsgrundlage akzeptiert wurden. V. Als am 26. April 1949 die - fünf Tage zuvor telegraphisch eingeladenen Mitglieder der Führungsgremien von CDU und CSU in Königswinter ihre Beratungen begannen, fanden sie eine andere als die ursprünglich vorgesehene „Tagesordnung" vor. Denn aufgrund der inzwischen in Bonn und Frankfurt erreichten Verständigung ging es jetzt nicht mehr in erster Linie darum, ob die Unionsfraktion - nach dem Eklat von Hannover - den Versuch unternehmen sollte, das Grundgesetz gegebenenfalls auch gegen die SPD durchzubringen. Vielmehr drängte nunmehr eine von Adenauer geführte Gruppe der Fraktion darauf, die erzielten Kompromisse bestätigt zu bekommen. Eine der dafür vom Präsidenten des Parlamentarischen Rates vorgetragenen Begründungen lautete, nur so könne verhindert werden, daß sich Schumacher wieder gegen C. Schmid durchsetzen könne: Schmid aber sei ein wichtiger Verhandlungspartner, ein „für uns wertvoller Mann", der deswegen auch keinesfalls persönlich angegriffen werden sollte. In diesem Zusammenhang kommentierte Adenauer: „Ich könnte mir denken, daß gestern in Deutschland kein Mann so getobt hat wie Herr Dr. Schumacher. " Adenauer beschwor seine Parteifreunde, alles zu vermeiden, was dem SPD-Vorsitzenden Stoff geben könne, „dieses Toben fortzusetzen" und dadurch auf die Fraktion in Bonn „großen Einfluß" auszuüben. Angesichts des erzielten tragfähigen Kompromisses müsse alles vermieden werden, „was irgendwie nach Triumph aussieht"; vor allem die „Geschichte mit dem verkürzten Entwurf [der SPD] und daß die Anträge [der Abgeordneten
55 Vgl. Morsey (wie Fn. 54). Anton Pfeiffer ergänzte am 26. April 1949 i n Königswinter, Adenauer habe einen „sehr hübschen Ausweg" gefunden: die Anträge seien „schön gewissenhaft vervielfältigt", jedoch nicht verteilt worden, „so daß der Kurzentwurf und die darauf basierenden Anträge der SPD nicht einmal zum Range einer parlamentarischen Drucksache gediehen sind".
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Greve, Katz und Zinn] . . . nicht weitergegeben wurden, das wollen wir vergessen". Sein drängender Appell zu einer positiven Stellungnahme zielte zunächst auf die anwesenden CSU-Politiker - an ihrer Spitze Hans Ehard und Josef Müller - , die die in den letzten Tagen von der eigenen Fraktion konzedierte Schwächung des Bundesrats und der Länderkompetenzen ablehnten. Er galt aber auch jenen Unionspolitikern, die - zusammen mit den in Königswinter anwesenden Kirchenvertretern Prälat Böhler und Präses Held - aus anderen Gründen auf neue Verhandlungen drängten, um von SPD und FDP Konzessionen in kirchen- und kulturpolitischen Belangen zu erreichen (Elternrecht, Religionsunterricht auch in Berufsschulen, Abschaffung der „Bremer Klausel"). Schwierigkeiten bei den ab 28. April in Bonn fortgesetzten interfraktionellen Verhandlungen entstanden zunächst daraus, daß die Ergebnisse der Frankfurter Vereinbarungen höchst unterschiedlich interpretiert wurden. Nicht wenige Fraktionsmitglieder der CDU und mehr noch der CSU bewerteten - wie bereits am 26. April in Königswinter - die in Frankfurt erreichte Verständigung als „Sieg der SPD", als zu weit gehende Abkehr von föderalistischen Prinzipien 56 . Dazu trug ein entsprechend gefärbter Leitartikel der „Times" bei, den Adenauer am 28. April vor ausländischen Pressevertretern als „verhängnisvoll" beurteilte, weil darin auch noch nach der Einigung der Fraktionen von „Siegern und Besiegten unter den deutschen Parteien" gesprochen werde 57 . Da SPD und FDP auf den Kompromissen vom 24. und 25. A p r i l beharrten, waren weder „Nachbesserungen" im Sinne der CSU-Postulate, noch eine Revision der kirchen- und kulturpolitischen Regelungen durchsetzbar. Adenauer verteidigte auch im letzteren Falle die Konzessionen seiner Fraktion, da er das Grundgesetz nicht an noch so wichtigen Einzelbestimmungen scheitern lassen bzw. ohne oder gar gegen die Unionsparteien verabschiedet wissen wollte. Um keinen weiteren Zeitverlust hinnehmen zu müssen, sprach er sich auch - anders als die Mehrheit seiner Fraktion - gegen den Vorschlag aus, das Grundgesetz durch Plebiszit (anstatt durch die elf Landtage) bestätigen zu lassen.
56 So Claus Leusser am 28. April 1949 über eine Fraktionssitzung vom gleichen Tage; dabei habe „bei der Mehrzahl der Mitglieder eine ausgesprochene Katzenjammerstimmung" geherrscht (Fn. 30). Im Zusammenhang entsprechender Klagen hatte Adenauer erklärt, „wenn die SPD immer von Siegen spricht, muß noch einmal mit ihr Fraktur gesprochen werden". Fn. 4, S. 524. - Zu den Konzessionen i n kirchen- und kulturpolitischen Fragen vgl. Burkhard van Schewick, Die katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945 - 1950, Mainz 1980, S. 122 f. 57 Nach einem Bericht der „Allgemeinen Zeitung" (Mainz) vom 29. April 1949.
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Mit zunehmendem Abstand von der Hektik und den krisenhaften letzten Apriltagen wurde den Unionsabgeordneten deutlicher, daß sie gegenüber der SPD keineswegs zuviel nachgegeben hatten. Bei einem Vergleich zwischen den Forderungen der SPD vom 20. April und den Ergebnissen der Vereinbarungen der folgenden Tage - so urteilten die CDU-Abgeordneten v. Brentano und Walter Strauss 58 - seien die „größeren Zugeständnisse jedenfalls nicht von der CDU/CSU" gemacht worden. Der Journalist Rudolf Junges hatte bereits aus der Pressekonferenz Schumachers vom 20. April in Hannover den Eindruck gewonnen, daß der dortige „gesamte Riesenapparat" aufgeboten worden sei, „um den durch den geringfügigen Rückzug in der Finanzfrage befürchteten Prestigeverlust" Schumachers „zu verdecken" 59 . Am 30. April hatte auch ein sozialdemokratischer Kritiker, Heinrich Troeger, das Weiterverhandeln der SPD-Fraktion in Bonn nach dem 20. April als „Niederlage" des Parteivorsitzenden eingestuft 6 0 . Einige Wochen später, im polemischen Schlagabtausch des ersten Bundestagswahlkampfs, wurde dann von CDU-Seite der Ausgang der Verhandlungen in Bonn als „ausgesprochene Niederlage" der SPD, ja als „glorreicher Umfall", bewertet 61 . Nach Adenauers Einschätzung hat der Parlamentarische Rat von den in Hannover gefaßten Beschlüssen „nicht mehr als ein Prozent" angenommen 62 . VI. Dennoch bezeichnete sich die SPD in einem Wahlaufruf vom 9. Juli 1949 zur ersten Bundestagswahl erneut als Retterin Deutschlands: Sozialdemokraten hätten erst durch ihr „Eingreifen" vom 20. April die Möglichkeit für einen „lebensfähigen deutschen Staat" geschaffen, den die „Machtwünsche 58 Am 22. Juni 1949 an das SPD-Vorstandsmitglied Fritz Heine, in Abwehr von Behauptungen der SPD in einer Denkschrift über vermeintliche „Wahlbeeinflussungen bei der Abstimmung über den Bundessitz". Weiter hieß es dann: „Wir halten es aus Gründen des innenpolitischen Friedens nicht gerade für wünschenswert, diese Frage aufzuwerfen." Zit. bei Morsey, Die Rolle Adenauers (Fn. 7), S. 81 Anm. 112. 59 Vgl. Fn. 4, S. 491. 60 Fn. 53. 61 Vgl. die Broschüre „Kampf der CDU im Parlamentarischen Rat", hrsg. vom Zonensekretariat der CDU der britischen Zone, Köln-Marienburg (1949), S. 4, 7. Nach Heinz Joachim Fischer, Parlamentarischer Rat und Finanzverfassung. Jur. Diss. Kiel 1970, S. 148, hat die SPD „gerade auf dem Gebiete der Finanz Verwaltung" eine Niederlage einstecken müssen; diese sei sehr bitter gewesen, „da man schon im Anfangsstadium der Arbeit des Parlamentarischen Rates zugunsten einer Finanzverwaltung des Bundes allein die Gedanken an einen Senat als zweiter Kammer hatte fallen lassen". 62 So am 26. Juli 1949 in einer Sitzung der von ihm geleiteten CDU-Fraktion des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Vgl. Morsey, Adenauer und der Weg (Fn. 7), S. 119.
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der Alliierten und ihrer deutschen Helfer" andernfalls „unmöglich gemacht" hätten 63 . Auf diesen erneuten Versuch hin, die nationale Karte zu spielen, antwortete Adenauer bei der Eröffnung des Wahlkampfs seiner Partei am 21. Juli 1949 in Heidelberg mit einer spektakulären „Richtigstellung": Der Unionspolitiker enthüllte die Vorgeschichte der „Rettungstat" von Hannover als ein mit der Labour-Regierung „abgekartetes Spiel", um auf diese Weise den Sozialdemokraten den „Nimbus" der „nationalen Partei par excellence" zu verschaffen. Dabei habe doch General Robertson bereits am 14. April 1949 in Frankfurt die SPD-Abgeordneten Menzel und C. Schmid über die Konzessionsbereitschaft der Westmächte ins Bild gesetzt 64 . Dieser Kollaborationsvorwurf war nicht neu, sondern von Adenauer bereits am 7. Mai gegenüber einer Delegation britischer Finanz- und Wirtschaftsjournalisten in Bonn erhoben worden. Daraufhin hatte sich der Korrespondent der Londoner Reuter-Agentur noch während des Empfangs telefonisch mit dem Leiter des britischen Verbindungsstabs in Bad Godesberg, Chaput de Saintonge, in Verbindung gesetzt und die Richtigkeit dieser Information bestätigt erhalten 65 . Aber erst Adenauers Paukenschlag von Heidelberg machte Schlagzeilen und führte infolge heftiger Proteste des SPD-Vorstands („Lügenauer") zu einer wochenlang anhaltenden Kontroverse. Am 26. Juli wiederholte der Unionspolitiker vor der CDU-Fraktion des Landtags von Nordrhein-Westfalen seine Vorwürfe und drängte darauf, von deren Inhalt auch „öffentlich Gebrauch" zu machen 66 . Als gesichert kann gelten, daß Robertson am 14. April 1949 in Frankfurt, in Anwesenheit seines politischen Beraters Steel, Walter Menzel und Carlo Schmid nicht den - ihm inzwischen bekannten, vom 8. April datierten „Versöhnungsbrief" der drei Außenminister vorgelesen hat 6 7 ; vermutlich 63 Zit. Adenauer (Fn. 21), S. 218 f. Dazu eine Zusammenstellung „Wer lügt? Dokumentarisches Material zur Information der Sozialdemokratischen Partei durch die britische Militärregierung am 14. April 1949" (6 Seiten). Fn. 15, Nachlaß Adenauer 12.01. 64 Druck: Konrad Adenauer, Reden 1917 - 1967. Eine Auswahl, hrsg. von HansPeter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 144f. Dazu vgl. Adenauer (Fn 21), S. 218. Nach dem von Adenauer ebd. zit. Aktenvermerk Herbert Blankenborns vom 30. April 1949 war die Vorinformation der SPD durch General Robertson „ i m Einverständnis" mit General Clay erfolgt. Dieses Einverständnis betraf nur einen Teil der Außenminister-Botschaft. Vgl. Grabbe (Fn. 11), S. 410; Krieger (Fn. 11), S. 462. 65 Nach einer Aufzeichnung im Nachlaß Adenauer. Vgl. Fn. 63. 66 Wie Fn. 62. 67 In einem detaillierten Bericht („secret") des Leiters des britischen Verbindungsstabs in Bad Godesberg, Chaput de Saintonge, vom 6. Mai 1949 über die Arbeit des Parlamentarischen Rates heißt es: C. Schmid und Menzel seien von General Robertson „the general lines of the message of the Foreign Ministers on the Basic Law" mitgeteilt worden. BA (Fn. 6).
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h a t er auch die Existenz dieses Schreibens n i c h t e r w ä h n t . Hingegen erhielten beide S P D - P o l i t i k e r v o n i h m eindeutigen Aufschluß darüber, „ z u w e l cher Verfassung die A l l i i e r t e n - n a c h b r i t i s c h e r A n s i c h t - i m äußersten F a l l ihre Z u s t i m m u n g erteilen k ö n n t e n " 6 8 . D i e öffentliche Kontroverse v o n Ende J u l i / A n f a n g A u g u s t 1949 verstärkte die Personalisierung des W a h l k a m p f s . Sie aber k a m i n erster L i n i e A d e nauer zugute, der gegenüber Schumacher damals einen geringeren B e k a n n t heitsgrad besaß. D e m U n i o n s p o l i t i k e r ist es gelungen, die C D U v o m O d i u m einer n i c h t e i n d e u t i g n a t i o n a l e n H a l t u n g zu befreien u n d der S P D das A r g u m e n t zu e n t w i n d e n , a m 20. A p r i l 1949 D e u t s c h l a n d gerettet zu haben.
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68 So Walter Menzel in einem Schreiben vom 29. Juli 1949 an Carlo Schmid, in dem er an ihre Unterredung vom 14. April mit Robertson erinnerte; dabei habe dieser zu erkennen gegeben, daß die britische Regierung bereit sei, sich bei ihren Verbündeten „für ein Nachgeben in einigen Punkten" einzusetzen; ein Hinweis auf eine bereits erfolgte Einwirkung sei jedoch nicht erfolgt. Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, Nachlaß Menzel R 3. Dazu vgl. Gerhard Hirscher, Carlo Schmid und die Gründung der Bundesrepublik, Bochum 1986, S. 253. - Bereits am 29. April 1949 war der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier vom französischen Gouverneur in Koblenz darüber informiert worden, daß Schumacher „durch eine Indiskretion der englischen Besatzung" über die „Auffassung der Außenminister" unterrichtet worden sei. General Koenig sei „hinsichtlich der Veröffentlichung" des Schreibens nicht informiert gewesen; darüber habe es am 25. April in Frankfurt zwischen den Generalen Clay und Robertson eine „lebhafte Auseinandersetzung" gegeben. Nach einer Aufzeichnung Altmeiers, Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 860/2731. Im „Spiegel" Nr. 18 vom 30. April 1949, S. 3, hieß es, die SPD habe von dem Brief der drei Außenminister „genug gewußt, um sich ihre Renitenz leisten zu können". Dort ist ferner ein (nicht datierter) Bericht eines Korrespondenten der „New York Herald Tribune" zitiert, wonach die Briten die SPD den „Inhalt des Versöhnungsmemorandums in der Hinterhand haben wissen lassen".
Leichen für Heidelberg und Tübingen Von Ludwig Schmugge* I. Am 27. 9. 1299 erließ Papst Bonifaz VIII. eine Bulle, welche für die Entwicklung der Medizin weitreichende Folgen hatte, obgleich sie keineswegs auf eine Behinderung medizinischer Studien und anatomischer Sektionen abzielte. Mit der Bulle „Detestandae feritatis" 1 , welche - in die Extravagantes communes aufgenommen - kirchenrechtliche Maxime wurde 2 , wandte sich der Papst vielmehr gegen eine im 12. und 13. Jahrhundert weit verbreitete Praxis, die Körper von Verstorbenen zu zerlegen und die Knochen von den Eingeweiden und den Muskeln durch Abkochen zu trennen, damit beim Tod fern der Heimat wenigstens die Gebeine in heimischer Erde begraben werden konnten. Der Papst belegte derartige Praktiken mit der Strafe der Exkommunikation ipso facto. Trotz des päpstlichen Verbots beweisen zahlreiche Beispiele, daß diese Methode der Konservierung von Leichen auch weiterhin angewandt wurde. 3 In der Folge wurde diese Dekretale dahingehend interpretiert, daß auch die seit dem 13. Jahrhundert aufgekommenen Sektionen zum Zwecke anatomischer Studien, wie sie an manchen medizinischen Fakultäten bereits durchgeführt wurden, prinzipiell diesem Verbot unterlägen, zumal sich * Dieser Beitrag sei dem Förderer so vieler wissenschaftlicher Unternehmungen als ein Beispiel der Wissenschaftsförderung im 15. Jahrhundert gewidmet. Im Folgenden werden folgende Abkürzungen verwendet: ASV = Archivio Segreto Vaticano BEFAR = Bibliothèque de l'Ecole Française d'Athène et de Rome CIC = Corpus Iuris Canonici QFIAB = Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 1 Potthast 24 881. Hrsg. von G. Digard, Les registres de Boniface VIII., BEFAR 2,4, Paris 1884f, Nr. 3409. 2 CIC, hrsg. Emil Friedberg II, 1272 - 73 unter dem Datum der zweiten Ausgabe vom 28. 2. 1300. 3 Zu den Hintergründen des Erlasses dieser Bulle zuletzt Elizabeth A. R. Brown, Death and the Human Body in the Later Middle Ages: The Legislation of Boniface V I I I on the Division of the Corpse, Viator 12 (1981), S. 221 - 270, bes. S. 246 - 250; Zur Praxis bei verstorbenen Kardinälen vgl. Agostino Paravicini Bagliani, I Testamenti dei cardinali del Duecento (Miscellanea della Società Romana di Storia Patria XXV), Rom 1980, S. CVIII - CXII. Generell auch Tilmann Schmidt, Die Grablege Heinrichs des Löwen im Dom zu Braunschweig, Braunschweigisches Jahrbuch 55 (1974), S. 9 23.
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auch Mediziner der Praxis des Leichenabkochens bedienten, um am Skelett Studien zu betreiben. Guido da Vigevano, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Paris lehrte, behauptete jedenfalls in seiner um 1345 entstandenen Anatomia, die Kirche habe die Sektion am menschlichen Körper verboten. 4 Sinngemäß wird auch in der Glossa ordinaria zu „Detestandae feritatis" jeder „abusus corporum humanorum" untersagt, insbesondere die Öffnung des Leichnams („intestina per incisionem corporis non debere extrahi"). 5 Nach den Dekretalen Gregors IX. war es Inhabern der höheren Weihen untersagt, die ars chirurgica in Verbindung mit Sektionen (incisionem) auszuüben. 6 Die kirchenrechtlichen Bestimmungen waren eindeutig. Gleichwohl wurde die Praxis anatomischer Sektionen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zumindest in Italien gepflegt. Schon Friedrich II. hatte im Jahre 1240 für seine Universität Neapel eine anatomische Ausbildung zur Voraussetzung für die Approbation als Arzt gemacht.7 In den Statuten des Herzogs von Anjou für Montpellier, einer Hochburg der Medizin seit dem 12. Jahrhundert, wird alle zwei Jahre eine „anathomia corporalis" vorgeschrieben (um 1340).8 Wie aber sollten sich die angehenden medici anatomische Kenntnisse aneignen, wenn die Beschaffung von Leichen für die Sektionen schwierig war? An der Universität von Bologna z.B. war es jedem untersagt, einen Leichnam zu anatomischen Studien ohne Einwilligung des Rektors zu erwerben, selbst für die Studenten und Magister der Medizin. 9 In gleicher Weise standen die jungen Hochschulen nördlich der Alpen - wie Tübingen oder auch das 90 Jahre ältere Heidelberg - vor dem Problem, Leichen für medizinische Zwecke zu erhalten. Die studia des Reiches durften den Anschluß nicht verlieren, zumal in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts anatomische Sektionen mittlerweile an fast allen Universitäten vorgenommen wurden, in Prag seit 1460, in Paris seit etwa 1470.10
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Vgl. Walter Artelt, Die ältesten Nachrichten über die Sektion menschlicher Leichen im mittelalterlichen Abendland, Abhandlungen zur Geschichte der Medizin 34 (1940), S. 3 - 19. Ferner Mary Niven Alston, The Attitude of the Church towards Dissection before 1500, Bulletin of the History of Medicine 16 (1944), S. 225 mit Anm. 19; Ernst Wickersheimer, Anatomies de Mondino dei Luzzi et de Guido di Vigevano, 1926, (Reprint Genf 1977), S. 72 sowie Schultz (Fn. 13), S. 56, Anm. 31. 5 Glossa ord. s.v. Improbandae und Exenterant. e X.3.50.9. 7 Vgl. Aiston (Fn. 4), S. 225. 8 Aiston (Fn. 4), S. 229 mit Anm. 34. 9 Aiston (Fn. 4), S. 227/28. Noch im 16. Jahrhundert holten sich angehende Mediziner ihre Leichen auf abenteuerlichste Weise: Thomas Platter beschreibt in seinem Tagebuch den Raub dreier Leichen vom Friedhof in Montpellier im Dezember 1554, die er des nachts zusammen mit einigen Kommilitonen mit den bloßen Händen ausgegraben hatte, um an ihnen heimlich anatomische Studien zu treiben. Vgl. H. Kohl, Felix Platter. Tagebuchblätter aus dem Jugendleben eines deutschen Arztes des 16. Jahrhunderts (Voigtländers Quellenbücher 59), Leipzig o. J., S. 110 - 112.
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Auf alle Fälle führte die Bulle des Papstes Bonifatius nicht zu einem generellen Verbot der medizinischen Anatomie. Papst Clemens VII. z.B. erlaubte im Jahre 1386 den Chirurgen in den Königreichen Leon und Kastilien, zu Studienzwecken Leichen sezieren zu dürfen. 11 Der Weg zu Leichen für den Anatomieunterricht führte über den Gnadenweg, denn jeder Papst konnte selbstverständlich von Regeln des Kirchenrechts dispensieren. Auch in Tübingen und Heidelberg beschritt man diesen Weg. II. Daß die medizinische Fakultät der Universität Tübingen nicht lange nach ihrer Gründung im Jahre 1477 eine Bulle Papst Sixtus IV. erhalten hatte, in welcher ihr die Erlaubnis zur Sektion von Leichen zu Unterrichtszwecken gegeben wurde, ist seit langem bekannt. 12 Im „Magazin vor Aerzte, herausgegeben von Ernst Gotfried Baldinger" aus dem Jahre 1778 (?) ist ein Dispens der Poenitentiarie Papst Sixtus IV. abgedruckt, welcher in der einschlägigen Literatur fälschlich als Papstbulle angesehen wurde. 13 Es ist zutreffend, daß der gelehrte Papst der Tübinger Hohen Schule die Erlaubnis zur anatomischen Sektion von Leichen gegeben hat, auch wenn dieses in der Literatur bisweilen bestritten worden ist. 1 4 Die Urkunde ist aber kein päpstliches Schreiben, sondern von „Iulianus episcopus Sabinensis" ausgestellt „auctoritate domini Pape cuius penitentiarie curam gerimus". Der Kardinal der Sabina, Giuliano della Rovere, der spätere Julius II., vom 19. April 1479 bis zum 31. Januar 1483 Kardinalbischof der Sabina, hatte in jener Zeit das Amt des Grosspoenitentiars inne, und an die Poenitentiarie haben sich - ordnungsgemäß, wie man anmerken muß - die Tübinger auch gewandt. Tatsächlich findet sich in den Registern dieser päpstlichen Behörde unter dem 6. April 1482 eine dem oben erwähn10 Vgl. E. Coturri, L'insegnamento dell' anatomia nelle università medioevali, in: Università e società nei secoli X I I - X V I (Centro Italiano di Studi di Storia e d'Arte Pistoia. Nono convegno internazionale), Pistoia 1982, S. 131 - 143, hier S. 140. 11 Coturri (Fn. 10), S. 137, Anm. 28. 12 Vgl. Heinrich Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin, Band I, Jena 1875, S. 746. Coturri (Fn. 10), S. 140/41.: „ A Tubinga si ha notizia di una dissezione nel 1482 e sembra sia stata autorizzata da Sisto IV. con una bolla diretta ai medici e agli studenti della citta". 13 Eine Kopie des Artikels findet sich in der UB Tubingen 17 Β 1650 Nr. 88, vgl. Anhang I. Das Original findet sich im Universitätsarchiv Tübingen AS 20/7 a Nr. 1. Ein spitzovales, rotes Sigel an einer Hanfschnur ist angehängt. Die etwas fehlerhafte Transskription des 18. Jahrhunderts ist in einem Artikel von Bernard Schultz, A Fifteenth-Century Papal Brief on Human Dissection, in: Medical Heritage, Jan./Febr. 1986, S. 51-56, teilweise verbessert worden (Text S. 53 - 54, mit einer Fotokopie des Originals). Kopien der Dokumente und Artikel verdanke ich Tilmann Schmidt, Tübingen, der auch den Text erneut kollationiert hat. Im Anhang I findet sich das Ergebnis. 14 Vgl. dazu Schultz (Fn. 13), S. 51 mit Anm. 5 - 10.
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ten Brief entsprechende Supplik, in welcher „Rector, doctores ac universitas studii universalis opidi Tuwingen" den Papst um Erlaubnis bitten, die Leichen hingerichteter Verbrecher im Anatomieunterricht sezieren zu dürfen. 15 Die Vermittlung dieser Dispens hatten die Tübinger Mediziner ihrem Landesherrn zu verdanken. Graf Eberhard „ i m Bart" von Württemberg war Mitte Februar 1482 nach Rom aufgebrochen, um am 17. März, dem Sonntag „Laetare", von Papst Sixtus feierlich die Auszeichnung der goldenen Rose zu erhalten. 16 In der etwa 60 Pferde umfassenden Reisegesellschaft befanden sich auch der Gründungsrektor der Tübinger Hochschule, Johannes Vergenhans, gen. Nauclerus, sowie Gabriel Biel und Johannes Reuchlin, vielleicht auch der in Pavia zum Dr. med. promovierte Tübinger Professor und Leibarzt des Grafen, Johann Widmann, gen. Salicetus. 17 Kurz vor dem Abschluß seines mehrwöchigen Romaufenthaltes begab sich Graf Eberhard am 28. März nochmals zur Audienz bei Papst Sixtus, und hier ist mit Sicherheit auch über das junge Studium in Tübingen gesprochen worden, denn die universitas erhielt damals eine päpstliche Bulle in Sachen der Pfründen des Tübinger Georg-Stifts. 18 Wir dürfen getrost annehmen, daß auch das Anliegen der Mediziner nach diesen Gesprächen in die korrekte Form einer Supplik an den Papst gegossen worden ist, und Graf Eberhard die Bulle bei seiner Abreise aus Rom am 16. April im Gepäck mitführen konnte, welche den Anatomie-Unterricht an seiner Landesuniversität sichern sollte. Durchaus in Übereinstimmung mit den medizinischen Curricula an anderen studia sahen in Tübingen die ältesten erhaltenen Statuten von 1497 für den Kandidaten der „chirogia" vor, „quod anathomiam sive corporis dismembrationem fieri viderit". Diese dismembratio war laut Statut „De anothomia fienda" allerdings nur alle 3 bis 4 Jahre vorgesehen und kostete pro Teilnehmer einen rheinischen Gulden. 19 Dennoch scheint sich die praktische Anatomie am Neckar nicht allzugut entwickelt zu haben, jedenfalls wurde anläßlich einer Visitation der Hochschule am 15. 4. 1584 festgehal15 ASV S. Paenit. Reg. 31 f 174r, Text im Anhang II. Die Supplik ist durch den Regens Julius genehmigt. Julius oder Julianus de Matteis war von 1477 bis 1505 Bischof von Bertinoro und Regens der Poenitentiarie. Vgl. Emil Goeller, Poenitentiarie 11,2, S. 191 und 11,1 S. 58, nach Eubel, II, S. 124. 16 Vgl. Elisabeth Cornides, Rose und Schwert im päpstlichen Zeremoniell, Wien 1967, S. 98. Ferner den Ausstellungskatalog „Württemberg im Spätmittelalter", bearbeitet von J. Fischer u.a., Stuttgart 1985, Nr. 14, S. 24 - 27 mit der älteren Literatur, insbesondere Johannes Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen 1477 - 1537, 2 Bde., Stuttgart 1927/29. 17 Vgl. Haller (Fn. 16), Bd. I, S. 134f. 18 Vgl. Waldemar Teufel, Universitas Studii Tuwingensis. Die Tübinger Universitätsverfassung in vorreformatorischer Zeit (Contubernium 12), Tübingen 1977, S. 129f. 19 Vgl. Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, Tübingen 1877, S. 305 - 306.
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ten, die Medizinstudenten würden mit Recht „anatomias" verlangen. Diese würden, so antwortete die Fakultät, gelehrt, sooft man Leichen habe. 20 Der päpstliche Dispens allein garantierte noch keinen ordnungsgemäßen Anatomieunterricht. III. Der Weg, welchen die Mediziner der Universität Tübingen 1482 eingeschlagen haben, um sich ihre Leichen für den Anatomieunterricht zu beschaffen, stand im Prinzip jedem offen. Nur mußte man mit den Reglementen, Formularien und dem Geschäftsgang der kurialen Behörden vertraut sein. Andere doctores haben sich offenbar ihre Leichen auch ohne päpstliche Erlaubnis zu verschaffen gewagt. Über einen solchen Fall gibt ein Dokument Auskunft, welches ebenfalls aus dem Archiv der Poenitentiarie stammt und einen bekannten Heidelberger Arzt, Konrad Schelling, betrifft. 2 1 In einer Supplik an Papst Innozenz VIII. vom 29. Mai 1487 bekennt Schelling, in medicinis doctor, in drei Fällen „ad perfectionem medicinalis scientiae acquirendam" den Auftrag zur Sektion von Leichen gegeben zu haben. Da dieses offenbar ohne entsprechende päpstliche Genehmigung geschehen war, galt Schelling automatisch als exkommuniziert. Aus diesem Kirchenbann suchte er sich mittels einer Supplik an die für Gnaden und Dispense in erster Linie zuständige Poenitentiarie wieder zu befreien, und zwar mit Erfolg, wie aus dem Text hervorgeht. Daß der Heidelberger Mediziner bei den von ihm veranlaßten anatomischen Sektionen nicht selbst Hand angelegt zu haben scheint (interfuit), entspricht den spätmittelalterlichen, auch an den Universitäten geübten Traditionen, nach denen die ärztliche Autorität der Prozedur erklärend und kommentierend vorsitzt, aber nicht selbst Hand anlegt. Wer war dieser Heidelberger Mediziner? Konrad Schelling (Cerdonis) hatte zunächst in Heidelberg, dann bis 1464 in Padua Medizin studiert. Von dort kehrte er 1465 frisch promoviert zurück. Wahrscheinlich las er darauf an der Heidelberger Universität, deren medizinische Fakultät aber nicht bedeutend gewesen zu sein scheint. Bis 1482 gab es hier nur einen einzigen „hauptamtlichen" Lehrer, der dazu noch vielfach durch seine Verantwortung als Leibarzt des Kurfürsten von seinen Aufgaben als Professor abgehalten wurde. Für alle Landeskinder aber bestand die Verpflichtung, in Heidelberg Medizin zu absolvieren, denn Bischof Erhard von Worms hatte bereits 1404 der Universität im Bistum Worms das Approbationsmonopol bestätigt. 22 20 Teufel (Fn. 18), S. 132. 21 ASV S. Paenit. Reg. 36 f 201 r., Text Anhang III.
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Schon bald knüpfte Schelling Kontakte zum Pfalzgrafen Philipp, auf dessen Geheiß er zusammen mit Erhard Knab 1469 die „Heidelberger Pharmakopoe" verfaßte. 23 Am bekanntesten wurde Schelling durch seine Schriften gegen die Pest und gegen die Syphilis, die im 16. Jahrhundert mehrfach gedruckt worden sind. Von 1476 bis zu dessen Tod im Jahre 1508 diente er dem Pfalzgrafen als Leibarzt, sechs Jahre später starb er in Heidelberg. Über die letzten Lebensjahre Schellings ist nur weniges bekannt. In den Codices Vat. Pal. lat. 1251 und 1295 sind uns zwei wahrscheinlich noch während des Studiums in Padua geschriebene Handschriften aus Schellings Besitz erhalten, in weiteren Manuskripten der ehemaligen Heidelberger Bibliothek finden sich zahlreiche Glossen von seiner Hand. 2 4 Schellings Beziehungen zur Heidelberger Fakultät scheinen zeitlebens nicht die besten gewesen zu sein. Dort lehrten nach dem Tode Eberhard Knabs 1481 Rentz von Wisensteig und Jodocus von Gengen als Ordinarien, nicht jedoch der Leibarzt des Kurfürsten, der mit den Universitätsmedizinern offenbar auf Kriegsfuß stand. 25 Da an der Universität damals Sektionen überhaupt nicht oder nur höchst selten vorgenommen wurden oder er (aus Neid?) zu diesen nicht zugelassen wurde, hatte Konrad Schelling - vielleicht durch Vermittlung des Hofes - sich seine Leichen selber besorgt, ohne jedoch zuvor den nötigen Dispens einzuholen. 26 Es ist nicht auszuschließen, daß ihn ein Neider deshalb angeschwärzt hatte. Er suchte sich daher durch eine Supplik von der Exkommunikation zu befreien. Da er sich auf dem Rechtswege an die Dispensvollmacht der Kirche wandte und sich auch bei den Exequien des Leichnams nach der Sektion korrekt verhalten hatte, war ihm der Erfolg sicher. Interessant ist, daß im Text der Supplik ein Zitat aus „Detestandae feritatis" vorkommt und damit die Gültigkeit der Dekretale für diesen Fall ausdrücklich vorausgesetzt wird.
22 Vgl. Eberhard Stübler, Geschichte der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg 1386 - 1925, Heidelberg 1926, S. 1 - 31; Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität, Heidelberg 1936, S. 446f.; Ludwig Schuba, Die medizinische Fakultät im 15. Jhdt., in: Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Band 1: Mittelalter und frühe Neuzeit 1386 - 1803, hrsg. von Wilhelm Dörr, Heidelberg 1985, hier S. 176 und 181. 23 Stübler (Fn. 22), S. 15 nennt als Datum der Abfassung 1471. Anders C. Jeudy / L. Schuba, Erhard Knab und die Heidelberger Universität im Spiegel von Handschriften und Akteneinträgen, QFIAB 61 (1981) 60 - 108, hier 68 - 72. 24 Ludwig Schuba (Hrsg.), Die medizinischen Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg I), Wiesbaden 1981, S. 286f. und 376f. Ferner Sudhoff, in: Verfasserlexikon (hrsg. von Karl Langosch), Bd. 4, 1953, Sp. 46/47. 25 Vgl. Stübler (Fn. 22), S. 18/19. 26 Vgl. Stübler (Fn. 22), S. 24, wonach Anatomie in Heidelberg nur nach den Lehrbüchern des Mondinus und Galens gelehrt worden ist.
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IV. Unsere Dokumente zeigen deutlich, daß sich die Tübinger Mediziner schon kurz nach Gründung der Universität erfolgreich um einen modernen und praxisnahen Anatomieunterricht bemühten und dabei die Unterstützung des Landesherrn fanden, der ihrer Supplik auf seinem Romzug zum Erfolg verhalf. In Heidelberg wurde Anatomie hingegen zur gleichen Zeit außerhalb der Universität vom Leibarzt des Kurfürsten von der Pfalz in „außeruniversitärer Forschung" betrieben. Die römische Kirche hat sich den Sektionen trotz der Bulle „Detestandae feritatis" in der Praxis offenbar nie widersetzt. 27 Sie ist zwar auf diesem Gebiet nicht aktiv geworden, hat aber allen denen, die es verstanden, den juristisch korrekten Weg zu beschreiten, den nötigen Dispens nicht versagt, wie am Beispiel der hier vorgelegten Fälle aus Tübingen und Heidelberg ersichtlich wird. Anhang I Tübingen, Universitätsarchiv AS 20/7 Nr. 1 Iulianus miseratione divina Episcopus Sabinensis. Dilectis in Christo, Rectori, doctoribus ac scolaribus universitatis studii generalis opidi Tubyngen, Constantiensis diocesis salutem in Domino. Ex parte vestra fuit propositum coram nobis, quod vos, ut doc t i et experti in arte medicinae efficiamini, cupitis corpora sive cadavera nonnullorum malefactorum, qui propter eorum demerita ultimo supplicio per iustitiam secularem contigerit morte subsecuta de loco, ubi vita functi erunt, recipere ipsaque corpora sive cadavera secundum medicorum canones et praxim scindi et dismembrari facere, idque vobis minime permittitur absque sedis apostolicae dispensatione seu licentia speciali. Quare supplicari fecistis humiliter vobis super hiis per sedem eandem nunc provideri. Nos igitur auctoritate Domini Pape, cuius penitentiariae curam gerimus, et de cuius speciali mandato super hoc vive vocis oraculo nobis facto, ut corpora sive cadavera huiusmodi ex ipsis locis recipere ipsaque secundum canones et praxim huiusmodi scindi et dismembrari facere possitis et valeatis vobis tenore praesentium veris existentibus premissis liberam concedimus facultatem ac vobiscum super hiis nunc dispensamus, proviso, ut condemnatos huiusmodi, postquam scisi et dismembrati fuerint, prout tales sepiliri consueverunt, sepeliri faciatis. Datum Rome apud Sanctum Petrum sub sigillo penitenciarie iiij Non. Aprilis Pontificatus Domini Sixti Pape I U I Anno undecimo.
27 Vgl. Alston (Fn. 4), S. 221 - 238. Ferner Charles Singer , The Evolution of Anatomy, 1925, (Reprint: A Short History of Anatomy, New York 1957) und Schultz (Fn. 13), S. 51.
27 Festschrift P. Mikat
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Anhang II ASV S. PAENIT. Reg. 31 f 174r. Rector, doctores ac universitas studii universalis opidi Tuwingen Constantiensis diocesis, quod ipsi et facultas dicte universitatis medicine et alie facultates inibique doctores magistri in medicinis (et) aliarum facultatum praxi antomie corporum mortuorum etiam in vita ad supplicium et mortem pro maleficiis dampnatorum et qui mortem subiecerint postquam iudicium de ipsis factum et executionem demandatum extitit, de locis dampnatis et supplicio huiusmodi recipi possunt etiam defunctos (?) deponi facere et receptos demum juxta (?) dictorum medicorum . . . et praxim studii etc dismembratim dividere possunt pro ipsorum et ipsa facultate et studio studentium studio et informatione valeat misericorditer indulgere et concedere et ad ipsis dispensari dignemini de gratia speciali. Fiat de speciali, Julius Ep. Bertinoricensis Regens.
Anhang III ASV S. PAENIT. Reg. 36 f 201 r. Conradus Schelling in Medicinis doctor Wormatiensis diocesis exponit, quod ipse olim ad perfectionem medicinalis scientie acquirendam quedam tria corpora humana cadavera dilacerari eaque membratim et infrusta 28 scindi iussit et premissis sic factis interfuit, sententiam excommunicationis per consequens ita ineurrendo. Cum autem dictus exponens ad scientie medicinalis professionem, ut praemittitur, acquirendam et ut talia corpora juxta morem et consuetudinem nobilium et ingenuorum rite minori rectore sepelirentur praemissa sic fieri iusserit, supplicat quatenus ipsum a dicta sententia absolvi misericorditer dignemini de gratia speciali. Fiat de speciali. Julius Episcopus Bertinoricensis Regens.
28 Zitat aus Detestandae feritatis. Für Rat und Hilfe danke ich O. Clavuot, Zürich, R. Elze, Rom / München, J. Miethke, Heidelberg und P. Ubaldo Todeschini, Sacra Paenitentiaria Apostolica, Rom.
„Naturrecht bricht positives Recht" in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts? Von Jan Schröder In der modernen Naturrechtsdiskussion spielt die Vorstellung eine große Rolle, daß das Naturrecht abweichendem positivem Recht vorgehe. 1 Für die Naturrechtsrenaissance in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Vorstellung geradezu essentiell. Wollte man die Befolgung von nationalsozialistischen Gesetzen oder Befehlen als Unrecht, oder den Widerstand gegen sie als Recht, ansehen, dann bedurfte man einer Naturrechtstheorie, die den absoluten Vorrang des natürlichen vor dem positivem Recht behauptete. So lehrte denn auch etwa Gustav Radbruch, das Naturrecht sei ein Recht, „an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist", 2 und Heinrich Mitteis erklärte kurz: „Naturrecht bricht positives Recht" 3 . Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Sicht des Naturrechts auch das Bild beeinflußte, das man sich vom historischen Naturrecht der frühen Neuzeit machte. 4 So war es etwa für Hans Welzel bei seinen Untersuchungen zur Geschichte des Naturrechts mehr oder weniger selbstverständlich, daß auch noch das frühneuzeitliche Naturrecht einen Geltungsanspruch gegenüber dem positiven Recht erhoben hat 5 und es zu einem „Positivismus" erst nach 1 Günther Ellscheid, Das Naturrechtsproblem, in: Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl., Heidelberg 1985, S. 125ff. (130f.); José Llompart, Die geschichtliche und übergeschichtliche Unbeliebigkeit im Naturrechtsdenken der Gegenwart, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für R. Marcic, Berlin 1983, S. 97 ff. (101). 2 Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts, in: Die Wandlung 1947, S. 8 - 16, auch in: Werner Maihof er (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Bad Homburg 1966, S. 1 - 10 (2). 3 Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht (= Deutsche Akad. der Wissenschaften zu Berlin, Vorträge und Schriften, Heft 26), 1948, S. 38. Ähnlich Adolf Süsterhenn, in: Maihofer (Fn. 2), S. 21; Otto Veit, in: Maihofer (Fn. 2), S. 36; Hermann Weinkauff, in: Maihofer (Fn. 2), S. 211, 557; Heinrich Ryffel, in: Maihofer (Fn. 2), S. 495. 4 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Göttingen 1959, S. 20, ordnet dem historischen Naturrecht u.a. den Wesenszug zu, daß es an die Stelle des positiven Rechts tritt, wenn dieses mit ihm im Widerspruch steht. Eine richtigere Sicht findet sich demgegenüber in neueren rechtsphilosophischen Werken: Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Berlin 1985, S. 34; Wolfgang Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1986, S. 92. 5 So für Pufendorf: Hans Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin 1958, S. 57.
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dem „Zusammenbruch" des Naturrechts kommen konnte 6 . Andererseits erkannte Welzel aber natürlich, daß Naturrechtslehren inhaltlich eine ganz unterschiedliche Haltung zum positiven Recht einnehmen können und er beobachtete auch schon für das 18. Jahrhundert eine allmähliche Verflüchtigung des „Rechts"-Charakters des Naturrechts. 7 Das mußte eigentlich eine genauere historische Untersuchung der Frage, wie denn die frühneuzeitliche Naturrechtslehre das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht gesehen hat, geradezu herausfordern. Eigentümlicherweise gibt es aber eine solche Untersuchung bis heute nicht, und es besteht nicht einmal im Hauptpunkt Einigkeit. So sieht Diet helm Klippel von der Mitte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung zu einem „absoluten Geltungsanspruch" des Naturrechts, allerdings wohl nur für die Gesetzgebung und nicht für die Rechtsanwendung.8 Andererseits meint Christoph Link, daß der von Pufendorf und Wolff bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch erhobene „normative Geltungsanspruch" des Naturrechts am Ende des 18. Jahrhunderts von Kant aufgegeben worden sei.9 Die folgenden Überlegungen beanspruchen natürlich nicht, in dieser schwierigen Frage abschließend Stellung zu nehmen. Sie möchten nur einiges von dem bereits vorliegenden Wissen zusammenfügen und um einige Beobachtungen ergänzen und beschränken sich auf die deutsche Rechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei erscheint es zweckmäßig, die Frage nach der Verdrängung des positiven Rechts durch das Naturrecht (oder umgekehrt) von Anfang an auf zwei Ebenen zu erörtern, nämlich aus der Sicht der naturrechtlichen Staatslehre (I.) und aus der Sicht der Rechtsquellenlehre (II.). Das Ergebnis wird sein, daß es einen allgemein anerkannten Satz „Naturrecht bricht positives Recht" im 18. Jahrhundert nicht gegeben hat und daß die Alternative „Naturrecht oder Rechtspositivismus?" historisch gesehen fragwürdig ist.
6 Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, S. 186 (der hier Hans Kelsen gemachte Vorwurf könnte, wie zu zeigen sein wird, auch den Naturrechtlern des 18. Jahrhunderts gemacht werden). 7 Welzel (Fn. 6), S. 114 ff. (zu Hobbes), S. 163 ff. (zu der seit Hobbes schärferen Unterscheidung von Naturrecht und positivem Recht). 8 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 189 - 191; ders., Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturrechts im 18. und 19. Jahrhundert, in: Hans Erich Bödeker / Ulrich Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, S. 267 - 293 (272, 275f.). Ähnlich Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre, Göttingen 1983, S. 9Iff., 193 - 195, 224f. 9 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien 1979, S. 114-131.
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I. Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht nach der naturrechtlichen Staatslehre Das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht ist in Deutschland natürlich schon lange vor der Begründung der weltlichen Naturrechtslehre durch Samuel Pufendorf diskutiert worden. Die römisch-gemeinschaftliche Literatur erörtert es z.B. im Zusammenhang mit den römischen Quellenstellen über die Lex Regia (11, 2, 6; D 1, 4, 1 pr.), über den Satz „Princeps legibus solutus est" (D 1, 3, 31) und den Aussagen über das Naturrecht, vor allem der Bemerkung, das ius civile entstehe daraus, daß wir dem Naturund Völkerrecht „aliquid addimus vel detrahimus" (D 1, 1, 6 pr.). Dabei besteht weitgehende Einigkeit im Hinblick auf vier Fallgruppen: 1. Das positive Recht kann das Naturrecht, dessen Verbote sanktionslos sind, durch Androhung von Strafen und anderen Sanktionen ergänzen. 10 2. Es kann auch die naturrechtlichen Anforderungen an die Wirksamkeit von Verträgen verschärfen: Nach dem Naturrecht sind bereits „pacta nuda" wirksam. Das positive Recht kann aber weitere Wirksamkeitserfordernisse einführen, etwa Formvorschriften bei Schenkungen, oder auch bestimmten Verträgen ganz die Wirksamkeit versagen, z.B. Darlehnsgeschäften von Haussöhnen (nach dem SC Macedonianum) oder Interzessionen von Frauen (nach dem SC Velleianum). 11 3. Weiterhin kann das positive Recht die natürliche Freiheit einschränken, z.B. dadurch, daß der Herrscher das Jagdrecht, das von Natur aus jedermann zusteht, für sich allein beansprucht oder daß er sonst in erworbene Rechte des Untertanen eingreift. 12 4. Schließlich kann das positive Recht auch gewisse Verbote des Naturrechts außer Kraft setzen, wenn sie mit anderen Vorschriften kollidieren: so ist Tötung eines Angreifers in Notwehr erlaubt. 13 Diese positivrechtlichen Beschränkungen werden von einigen Autoren auch als bloße Interpretation oder Unterstützung des Naturrechts gedeutet, die den grundsätzlichen Vorrang des Naturrechts vor dem positiven Recht nicht beeinträchtigen. 14 10 Melchior Kling, In quatuor Institutionum Iuris Principis Iustiniani Enarrationes, Lyon 1557, Lib. I, Tit. I. De iure positivo, Nr. 3 (S. 7f.); Georg Adam Struve, Syntagma Iurisprudentiae secundum ordinem Pandectarum concinnatum hrsg. v. Peter Müller, Jena 1687, Exerc. 1 (Lib. I, Tit. I), Nr. 58, S. 30. 11 Kling (Fn. 10), S. 8; Franciscus Hotomanus, Commentarius in IV libros Institutionum iuris civilis, Basel (Herwagen) o. J., zu I 1, 2, 11, S. 24; Arnold Vinnius, In IV libros Institutionum Imperialium Commentarius, ed. noviss., Venedig 1712, zu I 1, 2, 11 „Sed naturalia", Nr. 2, S. 28f.; Struve (Fn. 10), S. 31. 12 Johann Brunnemann, Commentarius i n L libros Pandectarum, ed. noviss., I, Genf 1762, zu 1,1, 6, S. 4; Struve (Fn. 10), S. 31f.; Wolfgang Adam Lauterbach, Collegium Pandectarum theoretico-practicum, hrsg. von Ulrich Thomas Lauterbach, I, 6. Ausg., Tübingen 1784, Lib. I, Tit. I, Nr. 25, S. 40). So auch schon Hugo Grotius, De jure belli ac pacis (1625), Lib. 2, cap. 2, Nr. 5. 13 Kling (Fn. 10), Lib. I, Tit. I, De iure civili, Nr. 26 (S. 13); Johannes Harpprecht, Commentarli in IV libros Institutionum iuris civilis, I, 2. Ausg., Frankfurt 1658, zu 11, 2, 11 „Sed naturalia", Sp. 155; Vinnius (Fn. 11), S. 29. 14 So Harpprecht (Fn. 13), Sp. 155; ähnlich Vinnius (Fn. 11), S. 28f.
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Sehr viel heikler war demgegenüber die Frage, ob der positive Gesetzgeber auch generell naturrechtliche Ge- oder Verbote, wie das Tötungsverbot, aufheben oder sogar das naturrechtlich Gebotene verbieten und das naturrechtlich Verbotene gebieten kann. Das wird bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts von keinem der genannten Autoren bejaht. 15 Eine Diskussion darüber scheint sich in Deutschland erst entwickelt zu haben, nachdem Thomas Hobbes in seiner radikal-absolutistischen Schrift „De cive" (1642) die Frage in provozierender Weise erörtert hatte. Hobbes hatte geschrieben: An sich darf das Staatsgesetz nicht gegen göttliche (das sind auch naturrechtliche) Ge- und Verbote verstoßen. 16 Es kann aber auch gar nicht dagegen verstoßen, denn was ge- und verboten ist, ergibt sich erst aus dem staatlichen Gesetz; erst dieses füllt sozusagen die Tatbestandsmerkmale des natürlichen Gesetzes aus: „Denn wenn dieses (sc. das Naturrecht) auch den Diebstahl, den Ehebruch usw. verbietet, das Staatsgesetz aber gebietet, über etwas herzufallen, so ist dies dann kein Diebstahl oder Ehebruch usw. So erlaubten die Lacedämonier einst den Knaben durch ein bestimmtes Gesetz, fremde Sachen heimlich wegzunehmen; aber damit hatten sie verordnet, daß diese Sachen nicht dem bisherigen Besitzer, sondern dem gehören sollten, der sie heimlich weggenommen; mithin war diese Wegnahme kein Diebstahl." 1 7 Pufendorf erörtert diese Hobbesschen Überlegungen in seinem 1672 erschienenen naturrechtlichen Hauptwerk. Obwohl er Hobbes energisch widerspricht, kommt er doch in der Sache zu ganz ähnlichen Ergebnissen. 18 Er erwägt: In Sparta gab es ein Gesetz, das es einem alten Ehemann erlaubte, seine Frau zwecks Erzeugung eines Kindes mit einem jungen Mann zusammenzubringen. Bei den Tartaren gab es ein Gesetz, wonach jeder das, was er brauchte, einem anderen wegnehmen konnte. Diese staatlich erlaubten Akte blieben dann aber nach Naturrecht doch Ehebruch und Diebstahl. Aber, und das ist das Entscheidende, der Staat konnte in der Tat wirksam bestimmen, daß sie nicht bestraft würden. Man müsse nämlich unterscheiden, ob der Staat etwas naturrechtlich Verbotenes nur zulasse, oder es geradezu gebiete. Die Spartaner hätten den Ehebruch, die Tartaren den Diebstahl ja nicht vorgeschrieben, sondern nur geduldet. Eine solche Duldung sei positivrechtlich wirksam. Damit stand im Ergebnis fest, daß der staatliche Gesetzgeber nicht nur naturrechtliche Freiheiten einschränken, sondern auch naturrechtliche Ge15
Allerdings findet sich (ob schon unter dem Einfluß der Naturrechtslehre kann ich nicht sagen) bei Lauterbach (Fn. 12), S. 40 schon die Unterscheidung zwischen vorschreibenden und erlaubenden Naturrechtssätzen und bei Struve (Fn. 10), S. 31 die zwischen bloßer Duldung und echter Billigung der naturrechtswidrigen Handlung. 16 Thomas Hobbes, De cive, Kap. 14, Nr. 3. 17 Hobbes (Fn. 16), Kap. 14, Nr. 10, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe von Günter Gawlick (T. Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, 2. Aufl., Hamburg 1966), S. 224. Ebenso Kap. 6, Nr. 16. 18 Samuel Pufendorf, De Jure naturae et gentium libri VIII, 2. Ausg., Frankfurt/ Main 1684, Lib. 8, Cap. 1, § 3, S. 1122 - 1125.
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und Verbote - wenn auch nur durch „Duldung" des normwidrigen Verhaltens - außer Kraft setzen konnte. Thomasius und Wolff folgen dieser Lehre, Thomasius mit nur wenigen Bemerkungen, indem er zwar ein Abweichen des positiven Rechts vom strikt verbietenden Naturrecht für unwirksam erklärt, dem positiven Recht aber doch die Möglichkeit zuspricht, zu „bewirken, daß etwas, das sonst eine Verletzung wäre, es nicht ist", 1 9 Christian Wolff, indem er diese Lehre deutlicher als seine Vorgänger mit der Theorie des Staatszwecks verbindet und sie breit ausführt: Die positiven Gesetze schreiben die Mittel vor, durch die das Wohl des Staates gewahrt wird. 2 0 Zwar kann der Gesetzgeber nicht gegen ge- und verbietende Gesetze verstoßen. 21 Er kann aber das Unerlaubte dulden und es dadurch straflos machen. 22 Man darf hinzufügen: wenn es dem Staatszweck, der allgemeinen Wohlfahrt, dient. So kann der Gesetzgeber z.B. öffentliche Bordelle erlauben, um größere Übel (Ehebruch, Vergewaltigungen) zu verhindern. 23 Daß der Gesetzgeber außerdem naturrechtliche Freiheiten einschränken, naturrechtliche Normen mit Sanktionen versehen, Formvorschriften hinzufügen konnte usw., war schon nach der älteren Lehre klar, und Wolff legt es noch einmal umständlich auseinander. 24 Die immer noch bestehende Einschränkung, daß der Gesetzgeber sich über das ge- und verbietende (anders als über das erlaubende) Naturrecht nicht völlig, sondern nur durch Duldung normwidriger Handlungen hinwegsetzen kann, wird dann bald bedeutungslos. Schon bei Wolff war klar, daß diese „Duldung" nicht nur ein staatlicher Gnadenerweis gegenüber an sich Unrechtem Handeln ist, sondern eine echte Erlaubnis: denn gegen das „geduldete" naturrechtswidrige Verhalten darf nach ihm keine Notwehr geübt werden. 25 So läßt schließlich Höpfner die alte Differenzierung ganz fallen und formuliert: „Das geben alle zu, daß der Gesetzgeber, um des gemeinen Bestens willen und um ein grösseres Uebel zu verhüten, etwas befehlen, erlauben oder verbiethen könne, was nach dem N.R. gleichgültig, verboten oder erlaubt ist." 2 6 Das bedeutete, daß der Herr19 Christian Thomasius, Fundamenta iuris naturae et gentium, Halle 1705, Lib. I, Cap. V, § 53 (das Textzitat ist aus der Anmerkung). 20 Christian Wolff, lus naturae, methodo scientifica pertractatum, Pars VIII, Halle 1748, § 969, S. 746. Eine kurze Darstellung seiner Lehre gibt Wolff auch in: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754, §§ 1068ff., S. 777ff. 21 Wolff, lus naturae (Fn. 20), § 973, S. 748. 22 Wolff, lus naturae (Fn. 20), § 975, S. 750. 23 Wolff, lus naturae (Fn. 20), § 976 Anm., S. 751. 24 Wolff, lus naturae (Fn. 20), §§ 977 - 979 und folgende, S. 751 ff. 2 5 Wolff, lus naturae (Fn. 20), § 976, S.'750. 26 Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker, 3. Aufl., Gießen 1785, S. 168, Anm. 4, zit. nach Klippel, Pol. Freiheit (Fn. 8), S. 190. Weitere Hinweise auf die Diskussion in der älteren naturrechtlichen Staatslehre bei Klippel, Naturrecht als pol. Theorie (Fn. 8), S. 272, 275 mit Anm. 41 und 80f. Eine ausführliche zeitgenössische Darstellung des Meinungsstandes findet sich bei Carl Weitzel, Philosophisch-juristische Abhandlung von der Macht weltlicher Regenten wider die göttliche Rechte Gesetze zu geben, Frankfurt und Leipzig 1749, S. 20ff.
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scher nach Belieben vom Naturrecht abweichen konnte, solange seine Gesetze nicht dem gemeinen Wohl widersprachen. Damit blieb zwar theoretisch noch die Möglichkeit einer unzulässigen Abweichung vom Naturrecht bestehen, aber der Fall war praktisch kaum vorstellbar, weil auch die Beurteilung dessen, was dem gemeinen Wohl nützt, allein dem Herrscher zugesprochen wurde. 27 Das jüngere Naturrecht hat dann allerdings diese Lehren in einem wichtigen Punkte modifiziert. Nach der alten Auffassung konnte der Staat ohne weiteres in „erlaubende" Naturrechtssätze eingreifen. Grundlage dieser Auffassung war die Vorstellung gewesen, daß die natürliche Freiheit des einzelnen veräußerlich ist 2 8 : Bei ihrem vertraglichen Zusammenschluß zum Staat verzichten die Bürger auf ihre Freiheit, sie wird insoweit „eingeschränckt", als es die „Beförderung der gemeinen Wohlfahrt" gebietet. 29 Die jüngere Naturrechtslehre der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts betrachtet nun, unter dem Einfluß der amerikanischen und französischen Rechteerklärungen, die natürlichen Freiheiten als ganz oder teilweise unveräußerlich 30 , so daß insbesondere Sklaverei und Leibeigenschaft nicht mehr durch Vertrag begründet werden können. Zugleich wandelt sich die Staatszwecklehre: Der Zweck des Staates wird nicht mehr in der Beförderung der gemeinen Wohlfahrt, sondern nur noch in der Sicherung der Rechte seiner Mitglieder gesehen.31 Deshalb zieht man nun den positivrechtlichen Eingriffen in „erlaubende" Naturrechtssätze enge Grenzen. Eine völlige Aufhebung der unveräußerlichen Rechte hält man fast durchweg für unzulässig. 32 Allenfalls kann, wie zuweilen formuliert wird, die „Ausübung der Rechte" entsprechend dem Staatszweck beschränkt werden, nämlich „auf 27 Pufendorf (Fn. 18), Lib. 8, Cap. 1, § 5, S. 1128; Wolff , Grundsätze (Fn. 20), § 1079, S. 754. 28 Vgl. etwa Wolff , Grundsätze (Fn. 20), § 948, S. 684 f. 29 Wolff Grundsätze (Fn. 20), § 980, S. 701. 30 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Aufl., Königsberg 1798, S. 117; Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, S. 88; Carl Heinrich Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien, 1. Teil, Leipzig 1794, S. 198; Johann Christoph Hoffbauer, Naturrecht aus dem Begriff des Rechts entwickelt, 1793, 4. Aufl. 1825, S. 91; Johann Christian Gottlieb Schaumann, Wissenschaftliches Naturrecht, Halle 1792, S. 288. Einschränkend aber z.B. Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts, Jena 1790, S. 68, 159; ganz abweichend Gustav Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, als einer Philosophie des positiven Rechts, 2. Versuch, Berlin 1799, S. 139ff. Zum Ganzen Klippel, Pol. Freiheit (Fn. 8), S. 125ff. 31 Kant (Fn. 30), S. 193f.; Buhle (Fn. 30), S. 219, auch S. 233; Hoffbauer (Fn. 30), S. 183. S. dazu Klippel, Pol. Freiheit (Fn. 8), S. 132f.; Ulrich Scheuner, Die Staatszwecke und die Entwicklung der Verwaltung im deutschen Staat des 18. Jahrhunderts, in: Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, hrsg. von G. Kleinheyer / Paul Mikat, Paderborn 1979, S. 467ff. (486 - 489); Preu (Fn. 8), S. 226ff. 32 Siehe etwa Theodor Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, 2. Aufl., Königsberg 1804, S. 99; Hoffbauer (Fn. 30), S. 199 - 201; Buhle (Fn. 30), S. 241; Hufeland (Fn. 30), S. 253.
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die Bedingungen, ohne welche die Ausübung der Rechte aller und jeder nicht möglichst sichergestellt werden könnte" und „insofern die Sicherheit des Staates selbst es erfordert". 33 Dieses neue Element wird nun in die alte Doktrin von der (Nicht-)Bindung des positiven Gesetzgebers an das Naturrecht eingebaut. In den zusammenfassenden Darstellungen, die man am Ende des Jahrhunderts in der römisch-gemeinrechtlichen Literatur findet, liest sich das dann so: Der Gesetzgeber kann unveräußerliche Rechte nicht entziehen, wohl aber „die Art und Weise ihrer Ausübung" bestimmen, „um die Ordnung in seinem Staate aufrechtzuerhalten". 34 Über ver äußerliche Rechte kann er „zum gemeinen Besten" disponieren. 35 Sonst bleibt alles beim alten: Der Gesetzgeber kann Formvorschriften und spezielle Nichtigkeitsgründe einführen, naturrechtlich verbotene Handlungen mit Strafen bedrohen 36 , naturrechtliche Verbote aufheben 37 und natürlich auch dort Regeln treffen, wo das Naturrecht gänzlich schweigt. Im ganzen hält sich danach auch die jüngere naturrechtliche Staatslehre im Rahmen der Tradition seit Pufendorf : Das Naturrecht ist für den positiven Gesetzgeber nach Maßgabe des Staatszwecks weitgehend verfügbar; und die Beurteilung der Staatsnotwendigkeiten wird dem Herrscher überlassen.38 Aber durch die Anerkennung (der Substanz, wenn auch nicht der Ausübung nach) unveräußerlicher Rechte und die Einengung des Staatszwecks werden nun unzulässige Eingriffe des Gesetzgebers in das Naturrecht sehr viel leichter vorstellbar. Zum Stein des Anstoßes mußte vor allem die Leibeigenschaft werden. Damit mußte sich nun erst recht die Frage stellen, welche Folgen diese „unerlaubten" und „unzulässigen" Eingriffe des Gesetzgebers in das Naturrecht eigentlich hatten. Machten sie die entsprechenden Gesetze ipso jure nichtig, oder stellten sie lediglich einen sanktionslosen Verstoß des Herrschers gegen das Naturrecht dar, der sein Gesetz nur in einem rechtlich unverbindlichen Sinne „falsch" und reformbedürftig erscheinen ließ? Diese Frage läßt sich aus der naturrechtlichen Staatstheorie nicht mehr beantworten. Denn diese Staatstheorie ist selbst Naturrecht, ob sie für das positive Recht verbindlich ist, kann sich nur aus dem Rechtscharakter des positiven und des natürlichen Rechts ergeben. 33
Hoffbauer (Fn. 30), S. 195. Adolph Dieterich Weber, Systematische Entwicklung der Lehre von der natürlichen Verbindlichkeit und deren gerichtlichen Wirkung (1. Aufl. 1784), 4. Aufl., Schwerin und Wismar 1805, S. 196; Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, 1. Bd., 2. Ausg., Erlangen 1797, S. 122f. 35 Weber (Fn. 34), S. 197; Glück (Fn. 34), S. 123. 36 Weber (Fn. 34), S. 197f.; Glück (Fn. 34), S. 123f., 125. 37 Glück (Fn. 34), S. 126, spricht im Sinne der älteren Lehre nur von „Duldung" der verbotenen Handlungen. 38 Z.B. Heydenreich (Fn. 30), 2. Teil, Leipzig 1795, S. 226; Schmalz (Fn. 32), S. 48, 63. 34
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II. Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht nach der Rechtsquellenlehre Einen ersten Aufschluß über das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht nach der Rechtsquellenlehre könnten deshalb schon die Begriffe geben. Das positive („bürgerliche") Recht w i r d jedenfalls seit Pufendorf als dasjenige bezeichnet, das „aus dem Willen der höchsten bürgerlichen Gewalt hervorgeht". 39 Die Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts sehen deutlich, daß diese Definition ganz wertneutral ist. Beschwichtigend versichern sie zuweilen, das Naturrecht müsse doch wenigstens Richtschnur des positiven Rechts sein. 40 Aber definitionsgemäß legen sie keine naturrechtlichen Maßstäbe an das positive Recht an. Es gilt, weil der menschliche Herrscher es willentlich gesetzt hat. Das schließt allerdings eine naturrechtliche Gültigkeitskontrolle des positiven Rechts noch nicht aus. Es wäre ja denkbar, daß das Naturrecht als übergeordnete Rechtsquelle angesehen worden ist, die jedenfalls im Kollisionsfall (d.h. in den nach der naturrechtlichen Staatslehre noch verbleibenden Kollisionsfällen) dem positiven Recht vorgeht. Eine derartige Vorstellung vom „Stufenbau" der Rechtsordnung, in dem das geoffenbarte (positive) göttliche Recht dem natürlichen Recht - das gleichfalls von Gott, als dem Schöpfer der Natur, stammt - vorgeht und dieses wiederum dem positiven menschlichen Recht, hat die mittelalterliche Rechtsauffassung bestimmt. 41 Reste dieser Vorstellung finden sich auch noch bei Hobbes 42 und beim jungen Thomasius: Das Gebot der untergeordneten Gewalt muß dem höheren weichen, „deshalb muß man Gott mehr gehorchen als den Menschen, und die Gebote der Könige gehen denen der Familienväter vor". 4 3 Thomasius selbst hat dann allerdings durch eine radikale Positivierung und Säkularisierung des Rechtsbegriffs diese „Stufenbau"-Lehre aufgegeben. 44 39 Pufendorf (Fn. 18), Lib. 8, Cap. 1, § 1, S. 1120; Wolff, Grundsätze (Fn. 20), § 1068, S. 777f. Aus dem späteren Naturrecht z.B. Kant (Fn. 30), S. 44; Hoffbauer (Fn. 30), S. 3; Buhle (Fn. 30), S. 28. Nach Christoph Link, Das Gesetz im späten Naturrecht, in: Okko Behrends / Christoph Link (Hrsg.), Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, Göttingen 1987, S. 150ff. (152f.), hat die deutsche Staatstheorie den voluntaristischen Gesetzesbegriff von Hobbes übernommen. Eine detailliertere Untersuchung fehlt offenbar. Anders wird das ius positivum noch im 16. Jh. definiert, vgl. Kling (Fn. 10), Nr. 2 (S. 7), von Rechtsgelehrten und klugen Männern gesetzt. 40 Siehe die deutsche Pufendorf-Übersetzung (Herrn Samuels Freyherrn von Pufendorff acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte mit Anm. von J. N. Hert, Jules Barbeyrac u.a.), 2. Teil, Frankfurt/Main 1711, S. 717, Anm. 5 und Wolff, lus naturae (Fn. 20), § 965 Anm., S. 743. 41 Vgl. etwa Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus, Berlin 1979, S. 122f.; Link (Fn. 8), S. 203 ff. 42 Hobbes (Fn. 16), Kap. 14, § 3. 43 Christian Thomasius, Institutiones jurisprudentiae divinae (1688), 7. Aufl., Halle 1720, Lib. 2, Cap. 12; § 135, S. 244. 44 Zur Entwicklung seiner Lehre vom positiven göttlichen Recht s. Link (Fn. 8), S. 253 ff.
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In seinen „Fundamenta iuris naturae et gentium" (1705) w i l l er als Recht nur noch das bezeichnen, was eine äußere Verbindlichkeit erzeugt, d.h. auf einem Befehl beruht, der die Macht hat zu zwingen. 45 Diese Qualität hat eigentlich nur das positive Recht, während das Naturrecht - wie Moral und Sitte - mehr zu den „Ratschlägen" gehört. 46 Daher ist „Gesetz" im eigentlichen Sinne nur der Befehl des Herrschers im Staat. 47 Hätte sich diese Lehre vom fehlenden Rechtscharakter des Naturrechts sofort durchgesetzt, dann wäre unsere Frage einfach zu entscheiden: Der Verstoß eines positiven Gesetzes gegen das Naturrecht wäre zwar nicht „ratsam" und politisch unvernünftig, er würde das Gesetz aber nicht unwirksam machen. Tatsächlich hat sich Thomasius' Theorie aber nicht einmal in seiner Schule behauptet. 48 Man übernahm hier zwar die Lehre vom Zwangscharakter des Rechts, sprach diesen Zwangscharakter aber eben auch dem Naturrecht zu. 49 Daß diese Vorstellung brüchig war und im Grunde nicht erklären konnte, inwiefern dem Naturrecht eine dem positiven ähnliche Zwangsbefugnis innewohnen soll 50 , ändert nichts daran, daß sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wirksam blieb. Überall stellt man das Naturrecht als Rechtsquelle neben das positive Recht 51 , und wo man als Recht nur die „Zwangsrechte" (und -pflichten) versteht, behauptet man eben, daß auch das Naturrecht solche Zwangsrechte und -pflichten enthalte 52 . Die Begriffsgeschichte zeigt also nicht mehr, als daß das positive Recht jedenfalls seit dem späten 17. Jahrhundert wertfrei konzipiert wurde und 45 Thomasius (Fn. 19), 4. Aufl., Halle u. Leipzig 1718, Lib. 1, Cap. 4, §§ 55 u. 62, S. 134f.; Lib. 1, Cap. 5, § 25, S. 150. 46 Thomasius (Fn. 45), Lib. 1, Cap. 5, § 34, S. 152. Allerdings wird damit Thomasius' Abgrenzung zwischen Moral und Sitte einerseits und Naturrecht andererseits nach dem Merkmal der Erzwingbarkeit hinfällig, zu dieser Inkonsequenz Hinrich Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Bonn 1968, S. 44f. 47 Thomasius (Fn. 45), Lib. 1, Cap. 5, § 3, S. 146. 48 Dazu Rüping (Fn. 46), S. 104ff., zusammenfassend S. 139. 49 Wichtig insofern Nicolaus Hieronymus Gundling, lus naturae et gentium, 1714, neue Ausg., Genf 1751, Cap. 1, §§ 28 - 37, S. 9 - 12. 50 Vgl. etwa die K r i t i k von Hugo (Fn. 30), S. 18, 20f. 51 Vgl. etwa aus der Enzyklopädie-Literatur: Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1767, S. 7ff.; August Friedrich Schott, Entwurf einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, 1772, 5. Ausg., Leipzig 1790, S. 17 ff.; Johann Friedrich Gildemeister, Juristische Encyklopädie und Methodologie, Duisburg 1783, S. 18ff.; Johann Friedrich Reitemeier, Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland, Göttingen 1785, S. 7ff.; Ernst Ludwig August Eisenhart, Die Rechtswissenschaft nach ihrem Umfange, ihren einzelnen Theilen und Hülfswissenschaften, Helmstedt 1795, S. 16ff.; Gottlieb Hufeland, Abriß der Wissenschaftskunde und Methodologie der Rechtsgelehrsamkeit, Jena 1797, S. 13f.; Anton Friedrich Justus Thibaut, Juristische Encyclopädie und Methodologie, Altona 1797, S. 17ff. Als einziger Autor vor 1800 behandelt Gustav Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, 1. Bd. (Juristische Encyclopädie), Berlin 1792, das Naturrecht nicht mehr als einen Teil des positiven Rechts, vgl. S. 183. 5 2
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Schott
( F n .
51),
S.
1 7 ;
Thibaut
( F n .
51),
S.
9.
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der Rechtscharakter des Naturrechts in Zweifel geriet. Da aber das Naturrecht doch noch als Rechtsquelle verstanden wurde und seine subsidiäre Geltung bei Lücken des positiven Rechts unbestritten war 5 3 , läßt sich die Lösung der Frage, ob das Naturrecht auch positives Recht „brechen" konnte, aus den Begriffen allein noch nicht ablesen. Man muß sich dazu näher auf die rechtstheoretischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts einlassen. Ich meine, daß in zwei Brennpunkten dieser Diskussion die Lösung der Frage mit ausreichender Deutlichkeit sichtbar wird. 1. Der Streit um die „demonstrative Methode" in der positiven Rechtswissenschaft
Christian Wolff hatte 1731 angeregt, die mathematische Methode des strengen Beweises auch auf das positive Recht zu übertragen. 54 Das bedeutete, daß alle Rechtssätze - wenn möglich aus notwendigen Gründen erwiesen werden sollten. Solche notwendigen Gründe konnten sich natürlich vor allem aus dem Naturrecht ergeben. Wäre man sich darüber einig gewesen, daß das Naturrecht dem positiven Recht vorgeht, dann hätte Wolffs Vorschlag wohl keine große Aufregimg hervorgerufen. Daß er zu einer erbitterten Diskussion führte, zeigt, wie wenig selbstverständlich schon im frühen 18. Jahrhundert der Vorrang des natürlichen vor dem positiven Recht war. Ludewig wendet gegen den Wolff-Schüler Cramer ein, es komme doch im positiven Recht „blos auf Sazungen desjenigen an", „welcher die Macht habe Geseze zu machen". 55 Und Cramer muß zugestehen, „daß . . . hier oder dort ein vernünftiger Gesezgeber ohne raison etwas für recht erkläret, und dieses für recht gelten muß, weil sich der Unterthan seinem Willen nicht widersezen darf noch kan". 5 6 Adolf Friedrich Reinhard erklärt, der Beweis einer juristischen Wahrheit liege „bloß in dem Gesetze", und es sei ein Fehler der „heutigen Demonstrirer des Rechts", wenn sie statt dessen gelten lassen wollten, was nur „so seyn sollte". 5 7 In demselben 53 So schon Pufendorf (Fn. 18), Lib. 8, Cap. 1, § 1, S. 1120; Christian Wolff , Gesammelte kleine philosophische Schriften, 3. Teil, Halle 1737, S. 25. Im späten Naturrecht etwa Hufeland (Fn. 30), S. 13; Hoffbauer (Fn. 30), S. 5; Schaumann (Fn. 30), S. 64f. 54 Christian Wolff De Jurisprudentia civili in formam demonstrativam redigenda, in: ders., Horae subsecivae Marburgenses, 1730 (Trimestre Brumale), Frankfurt u. Leipzig 1731, S. 84 - 150. Vgl. dazu aus der neueren Literatur Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1979, S. 133ff.; Preu (Fn. 8), S. 9Iff. 55 Nach Johann Ulrich Cramer, Ungrund der Beschweerden des Herrn Geheimden Raths und Canzlers von Ludewig über den Methodum demonstrativum in iure, 1734, in: ders., Opuscula . . . tom: III, Marburg 1755, S. 232ff. (282). 56 Cramer (Fn. 55), S. 284. 57 Adolph Friedrich Reinhard, Schreiben an einen Freund über des Herrn Hofraths und Professons Nettelbladts in Halle Systema Elementare Universae Iurisprudentiae positivae, Frankfurt und Leipzig 1757, S. 11 f.
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Sinne äußert Johann Christian Claproth, die Anwendung der mathematischen Methode im positiven Recht bedeute nicht, daß man „aus dem Recht der Natur, der Politic . .. beweisen (sc. müsse), daß das Gesetz . .. weißlich gegeben sey". Diese Fähigkeit brauche „nur ein Minister und ein Fürst. . . denn diesem ist die erhabene Beschäftigung aufgetragen, die Wolfarth ihres Volkes durch richtige Gesetze zu besorgen". Von dieser „Klugheit Gesetze zu geben" ist aber die „Rechtsgelehrsamkeit" ganz unterschieden. 58 Für den positiven Juristen genügt also die Feststellung, daß ein Gesetz gegeben ist. Ob es gerecht und vernünftig ist, entscheidet die Politik, die unter anderem aus dem Naturrecht fließt. Demgemäß teilt Ickstatt, ein anderer juristischer Wolffianer, die menschlichen Gesetze auch ganz unbefangen in gerechte und ungerechte ein 5 9 , offenbar ohne am Rechtscharakter der letzten zu zweifeln. Diese Aussagen deuten darauf hin, daß das Naturrecht hier - abgesehen von seiner ergänzenden und erläuternden Funktion im positiven Recht nicht mehr als Gültigkeitsmaßstab, sondern nur noch als unverbindliche Anforderung an das positive Recht, als Element der Politik, der Gesetzgebungsléhre verstanden wird. Bei Daniel Nettelbladt, dem einflußreichsten juristischen Wolff- Anhänger, wird dieses Verständnis gut deutlich. Er sagt zum Nutzen des Naturrechts im positiven Recht: Es dient dazu, das positive Recht zu ergänzen und zu erläutern; „nicht aber zu verbessern". Der Rechtsgelehrte solle nicht in einen juristischen Naturalismus verfallen und immer dessen eingedenk sein, daß er der Diener der Gesetze sei und nicht über sie, sondern nach ihnen zu urteilen habe. 60 An anderer Stelle bemerkt er: „Es ist leicht zu ermessen, daß ein Rechtslehrer die Gesetze, wie sie sind, zu lassen schuldig sey, und deren Aenderung von einer höheren Hand erwarten müsse." 61 Die Gesetze demonstrieren heiße demgemäß nicht, sie beurteilen. Zu der richtigen Beurteilung der Gesetze werde „eine theoria naturalis legum positivarum erfordert, dergleichen unser Herr Canzler Freyherr von 58 Johann Christian Claproth, Vertheidigung der mathematischen Lehrart in der Rechtsgelehrsamkeit, in: ders., Sammlung juristisch-philosophisch- und critischer Abhandlungen, 2. Stück, Göttingen 1743, S. 195ff. (231, 233f., 235). 59 Johann Adam Ickstatt, Meditationes Praeliminares de studio juris ordine atque methodo scientifica instituendo, Würzburg 1731, Cap. 1, § 21. 60 Daniel Nettelbladt, Nova introductio in iurisprudentiam positivam Germanorum communem, Halle 1772, S. 48. Dieselbe Beschränkung des Naturrechts auf Ergänzung und Erläuterung des positiven Rechts in: ders., Unvorgreif fliehe Gedanken von dem heutigen Zustand der bürgerlichen und natürlichen Rechtsgelahrtheit in Deutschland, Halle 1749, S. 113 (außer diesem „materiellen" besteht nur noch ein „formeller" Einfluß des Naturrechts auf das positive Recht). Ebenso schon vorher z.B. Adam Friedrich Glafey, Grund-Sätze der Bürgerlichen Rechts-Gelehrsamkeit nach Ordnung derer Institutionum, Leipzig 1720, S. 9f. und aus der Schule Nettelbladts z.B. Reinhard Friedrich Terlinden, Versuch einer Vorbereitung zu der heutigen positiven in Teutschland üblichen gemeinen Rechtsgelahrtheit, Münster und Osnabrück 1787, S. 55. 61 Nettelbladt, Unvorgreifl. Gedanken (Fn. 60), S. 19.
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Wolff Iur. Nat. part. V I I I c. V. gründlich abgehandelt." 62 Das Zitat verweist auf den oben dargestellten Abschnitt von Wolffs Werk, der sich mit dem Recht des Herrschers beschäftigt, vom Naturrecht abzuweichen. Für Nettelbladt ist also diese naturrechtliche Staatstheorie nur Gesetzgebungslehre; das ihr widersprechende positive Recht ist verbindlich. Von einer allgemein akzeptierten Regel „Naturrecht bricht positives Recht" 6 3 kann also schon für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts - selbst in der naturrechtsfreundlichen Wolff-Schule - keine Rede mehr sein. So sieht denn auch Adolph Dieterich Weber 1784 geradezu ein Charakteristikum der „bisherigen Behandlung des positiven Rechts" darin, daß „Richter und Rechtsgelehrte . . . es höchstens für die Sache des Politikers, und der Gesetzgebung halten, sich in irgend eine nähere Prüfung des Gesetzes von dieser Seite (sc. seiner Übereinstimmung mit dem Naturrecht) einzulassen." 64 2. Die Diskussion um das neue Naturrecht
Daß gleichwohl die Diskussion um 1790 noch einmal auflebt, ist deshalb auf den ersten Blick überraschend, aber doch gut zu erklären. Die positive Rechtslehre sah sich jetzt einem ganz anderen Naturrecht gegenüber als um 1750.65 Das neue Naturrecht behauptete die Geltung unveräußerlicher Rechte im Staat, forderte Aufhebung der Leibeigenschaft und Begrenzung der herrscherlichen Gewalt. Die Erfahrung der Menschenrechtserklärungen und der französischen Revolution zeigten, daß sich derartige Vorstellungen auch verwirklichen ließen. So findet jetzt der Gedanke, daß das Naturrecht der „Grund" des positiven Rechts sei und auch dessen Gültigkeit bestimme, noch einmal neue Anhänger. Karl Salomo Zachariä propagiert 1795 noch einmal die weitgehende Ableitung des positiven Rechts aus dem Naturrecht. 66 Der Philosoph Karl Leonhard Reinhold verspricht sich 1789 von der Klärung naturrechtlicher Grundfragen auch eine Beseitigung ungerechter positiver Gesetze: Bisher glaubten die Rechtslehrer „an den leidigen Buchstaben des Gesetzes", so daß der Despot, „wenn er die heiligsten Verträge der Nation umstößt, die Güter seiner Unterthanen wie sein Eigenthum behandelt, und das Leben von Hunderttausenden seinem Ehrgeitze, seiner Ländersucht oder auch nur seinem Zeitvertreibe aufopfert. . . weder 62 Nettelbladt, Unvorgreifl. Gedanken (Fn. 60), S. 50 - 52, der Hinweis auf Wolff, S. 52 Anm. gg. 63 Immerhin gibt es auch vereinzelte Belege dafür. Wolff (Fn. 20), § 974 Anm., S. 749, bezeichnet Gesetze, die unerlaubt gegen das Naturrecht verstoßen, als „improbae . . . immo revera nullae, cum nullo jure fer antur". Glafey (Fn. 60), S. 52 billigt es, daß sich die Halleschen Juristen über unvernünftige Gesetze hinwegsetzen. 64 Weber (Fn. 34), S. 188 f. 65 Siehe oben zu Fn. 30ff. 66 Karl Salomo Zachariä, Über die wissenschaftliche Behandlung des römischen Privatrechts, Wittenberg 1795, S. 7ff.
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Schande noch Widerstand zu besorgen hat, so lange die natürlichen Rechte der Menschheit selbst unter dem Lehrstande noch unentschieden sind." 6 7 Die K r i t i k an diesen Vorstellungen zeigt aber, daß die Entwicklung nicht mehr umkehrbar und ein neuer Konsens über den Vorrang des natürlichen vor dem positiven Recht nicht mehr herzustellen war: Gegen Zachariä wenden sich Kohlschütter, Gros und Thibaut. 68 Gegen Reinhold erklärt Gustav Hugo ganz unverblümt, die Forderung, daß man positives Recht wegen seiner behaupteten Naturrechtswidrigkeit „auch in der Anwendung nicht beobachte", sei „ein Unfug, den eine gute Polizey" nicht dulden könne. 69 Nun ist Hugo allerdings kaum noch der späten Naturrechtslehre zuzurechnen, da er auch die subsidiäre Anwendung des Naturrechts verneint und es nur noch als „Philosophie des positiven Rechts" gelten lassen will. Aber auch Anhänger des späten Naturrechts bestreiten dessen Vorrang vor dem positiven Recht. Karl Christian Kohlschütter schreibt, die positive Rechtswissenschaft sei historisch, empirisch, sie könne nicht „aus allgemeinen Principien geschöpft werden". Wer das behaupte, mache „sich offenbar lächerlich, und zeigt, daß er von dem Wesen seiner Wissenschaft ganz verwirrte Begriffe habe". 7 0 Es sei allerdings bedauernswert, daß es positive Rechtsvorschriften gebe, „die mit der Behauptung der menschlichen Würde im Widerspruch stehen". Abhilfe sei hier aber nur von der Gesetzgebung selbst zu erwarten, die „Ehrfurcht gegen die Gesetze der Vernunft" müsse „allgemein unter den Menschen, besonders unter den Gesetzgebern der Staaten, ein lebendiges und würksames Princip ihrer Handlungen werden". 7 1 Karl Heinrich Gros meint, Reinhold verstehe offenbar das Wesen des positiven Rechts nicht. Auch wenn die Naturrechtslehre noch so vollkommen wäre, würde das an der Gestalt der positiven Rechtswissenschaft nichts ändern. 72 Ein materieller Einfluß der Philosophie (d.h. hier des Naturrechts) bestehe nur bei der Erläuterung und Ergänzung des positiven Rechts, im übrigen habe die Philosophie (d.h. die Logik) nur einen formellen Einfluß. 73 Damit kommt also auch für Gros eine Verdrängung des positiven Rechts durch das Naturrecht nicht in Betracht. Die schon von Nettelbladt gemachte Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Einfluß der Philo67 Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789, S. 119f. 68 Karl Christian Kohlschütter, Vorlesungen über den Begriff der Rechtswissenschaft, Leipzig 1798, S. 185f., Karl Heinrich Gros, Meditationes quaedam de justo philosophiae usu in tractando jure Romano, Erlangen 1796, S. 8ff.; Anton Friedrich Justus Thibaut, Über den Einfluß der Philosophie auf die Auslegung der positiven Gesetze, in: ders., Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, 1798, 2. Aufl., Jena 1817, S. 124ff. (169ff.). Siehe dazu Schröder (Fn. 54), S. 151ff. 69 Hugo (Fn. 30), S. 55f. ™ Kohlschütter (Fn. 68), S. 185f. 71 Kohlschütter (Fn. 68), S. 189, 192. 72 Gros (Fn. 68), S. 7. 73 Gros (Fn. 68), S. 4 - 6.
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Sophie auf das positive Recht 74 nimmt schließlich auch Feuerbach auf: Die Philosophie hat in der positiven Jurisprudenz „blos formellen Gebrauch", sie verhilft u.a. zu „deutlichen und erschöpfenden positiven Begriffen". Einen materiellen Gebrauch in dem Sinne, daß sich der Richter „über die Gesetze erheben und ihre Strenge aus eigner Macht mildern" könne, w i l l Feuerbach nicht zulassen, wenn er auch im Strafrecht (aber nur dort) üblich geworden sei. 75 Damit bleibt es für diese Juristen bei der schon im frühen 18. Jahrhundert verbreiteten Lehre, daß das Naturrecht allenfalls das positive Recht ergänzen und erläutern, nicht aber es verdrängen kann und insoweit nur für den Gesetzgeber von Bedeutung ist. So liest man es auch in einer Reihe von juristischen „Enzyklopädien" und sogar bei Nur-Philosophen aus der neuen Naturrechtsschule. 76 Die Konsequenz, daß dann etwa die naturrechtlich unzulässige Leibeigenschaft nicht ipso jure nichtig ist, sondern nur aufgehoben werden muß (oder gar nur „darf") wird zum Teil ausdrücklich gezogen. 77 Das soll allerdings nicht heißen, daß der Nachrang des Naturrechts völlig unumstritten war. Immer wieder findet man auch Äußerungen der Art, daß das Naturrecht die „Gültigkeit", die „Verbindlichkeit" oder die „Rechtmäßigkeit" des positiven Rechts bestimme. 78 Auffälligerweise bleibt dabei aber oft undeutlich, ob man wirklich an eine Nichtigkeit oder nur an eine - für die Rechtsanwendung bedeutungslose - Ungerechtigkeit und Reformbedürftigkeit des naturrechtswidrigen positiven Rechts denkt. Es lag vielleicht sogar in der Natur der Sache, daß man diese heikle Frage gerne etwas im Dunkeln ließ. Einerseits war es im absolutistischen Staat aufrührerisch, die Nichtigkeit staatlichen Rechts zu behaupten, andererseits nahm man dem revolutionären neuen Naturrecht einen guten Teil seiner Wirksamkeit, wenn man es nur als unverbindliche Anforderung an den Gesetzgeber darstellte. Ganz unbefangen war hier wohl nur ein Jurist wie Hugo, der 74
Siehe oben Fn. 60. Paul Johann Anselm Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, 1. Teil, Erfurt 1799, S. X X , XXVII. 76 Schaumann (Fn. 30), S. 64f.; Hoffbauer (Fn. 30), S. 5; Buhle (Fn. 30), S. 31 (nur zum Naturrecht als Gesetzgebungslehre). Ebenso in der juristischen EnzyklopädieLiteratur auch Schott (Fn. 51), S. 21. Bei Pütter (Fn. 51), S. 68f. und Thibaut (Fn. 51), S. 11 wird nur die Funktion des Naturrechts als subsidiäre Rechtsquelle erwähnt. 77 Buhle (Fn. 30), S. 315. Sofortige Aufhebung ist auch nicht tunlich, denn „würden die Neger und die Leibeigenen auf einmal freygegeben, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Herrn ermorden, und i n der Anarchie sich selbst aufreiben". 78 Vgl. etwa Gildemeister (Fn. 51), S. 25 (Probierstein der Rechtmäßigkeit); Eisenhart (Fn. 51), S. 16 (bestimmt die „Verbindlichkeit positiver Gesetze"); Hufeland (Fn. 51), S. 14 (bestimmt „die Gültigkeit der positiven Gesetze"); Carl August Gründler, Encyklopädie der allgemeinen Begriffe und Grundsätze der in Teutschland geltenden Rechte, Erlangen 1808, S. 11 (beurteilt die „objective Gültigkeit der positiven Gesetze"). Weiter dazu Klippel, Naturrecht (Fn. 8), S. 275 - 277; Klippel, Pol. Freiheit (Fn. 8), S. 190 f. Im Ergebnis meint Klippel wie hier, daß das revolutionäre Naturrecht sich nach der Mehrheit der Autoren nur an die Gesetzgebimg wenden sollte (S. 191). 75
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den Gedanken an ein überzeitlich gerechtes Recht längst aufgegeben hatte. Es kommt aber auch nicht darauf an, in welchem Sinne nun die Stimme des einen oder anderen Autors zu zählen ist. Fest steht, daß eine Reihe von Juristen - und gerade einige der einflußreichsten - im späten 18. Jahrhundert dem Naturrecht keinen Vorrang vor dem positiven Recht gab. Damit ist sicher, daß ein allgemein anerkanntes Prinzip „Naturrecht bricht positives Recht" im 18. Jahrhundert nicht existiert hat. 7 9 III. Zusammenfassung Insgesamt kann man die Zeit des weltlichen Naturrechts in Deutschland von Pufendorf bis Hugo vielleicht als Übergangsstadium in der Entwicklung des Rechtsbegriffs vom vorgegebenen zum frei gesetzten Recht 80 bezeichnen. Einerseits ist das Naturrecht noch nicht zum positivrechtlich unverbindlichen Maßstab des Rechts, zur Politik und „materialen Rechtsethik" abgesunken. Andererseits behauptet es nicht mehr einen unbestrittenen Vorrang vor dem positiven Recht. Es ist noch (subsidiäres) Recht und es ist schon Gesetzgebungslehre, soweit es nicht unmittelbar geltendes Recht enthält. Im ganzen dominiert aber gegenüber dem Naturrecht als Rechtsquelle schon im 18. Jahrhundert eindeutig das positive Recht. Ob man im Hinblick darauf schon für das 18. Jahrhundert von „Positivismus" sprechen w i l l , 8 1 ist vielleicht keine so wichtige Frage; jedenfalls aber muß man sich darüber klar sein, daß sich Naturrecht und Rechtspositivismus historisch betrachtet keineswegs ausschließen.
79 So im Ergebnis auch, auf Grund einer Reihe von Beobachtungen zu einzelnen Rechtsinstituten, Klaus Luig, Der Einfluß des Naturrechts auf das positive Privatrecht im 18. Jahrhundert, in: ZRG GA 96 (1979), S. 38 - 54. 80 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (= Grundriß der Sozialökonomik, III. Abteilung), Tübingen 1922, S. 503; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Hannover 1956, S. 9 - 26; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Rechtsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung. Aufriß eines Problems, in: Archiv für Begriffsgeschichte 12 (1968), S. 145 - 165. 81 Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm 1960, S. 72, 76 spricht, scheinbar paradox, aber im Hinblick auf die hier behandelte Frage ganz zutreffend, sogar von einem „Gesetzespositivismus" Christian Wolffs.
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Vom Inquisitionsverfahren zum Ketzer- und Hexenprozeß Fragen der Abgrenzung und Beeinflussung Von Winfried Trusen Wenn w i r entscheidende Forschungsergebnisse in der mittelalterlichen Rechtsgeschichte erreichen wollen, dann muß auch bei uns in bestimmten Bereichen die zumindest anzustrebende, wenn auch nie ganz zu verwirklichende, Erkenntnis der Breite rechtshistorischer Entwicklungen über die lehrstuhlmäßig gegebenen Grenzen hinaus das Ziel sein. Der in dieser Festschrift zu Ehrende hat durch seine Arbeiten darin Maßstäbe gesetzt und neue Perspektiven eröffnet. Der hier vorgelegte kurze Beitrag zielt in die Richtung seiner Intention, zumal er sich selbst mit diesen Fragen stark beschäftigt hat. Mehr als in anderen Bereichen steht bei uns die Geschichte des Strafrechts und besonders des Strafprozesses im argen. Vieles ist neu zu erforschen und zu durchdenken. Der Inquisitionsprozeß war ein hervorragendes Beispiel dafür. 1 Welche unterschiedlichen Hypothesen seiner Entstehung wurden in der Vergangenheit aufgestellt! Innozenz III. hat im Grunde das aus der fränkischen Zeit stammende Infamationsverfahren, welches nur einen Reinigungseid zuließ, durch den Einschub des rationalen Beweises, etwa durch Zeugen, gemäß den damals in der Kanonistik entstandenen Forderungen verändert, wie er durch das 4. Laterankonzil von 1215 auch die Gottesurteile abschaffen ließ. Dieses gewandelte Verfahren richtete sich im Rahmen seiner Reformbestrebungen zunächst vor allem gegen renitente Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, denen auf dem Wege des Akkusations- und Infamationsverfahrens nicht beizukommen war. I m Grunde war hier an ein Disziplinarverfahren gedacht. Innozenz III. gestand schließlich bei Mord, Häresie und Simonie auch eine Degradation des Klerikers und die Überlieferung an den weltlichen Arm zu. Er bestand aber ausdrücklich auf den weitesten Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten. Roffredus hat diesen Prozeß für die weltliche Praxis aufbereitet, indem er inquisitorische Möglichkeiten aufwies, die bereits das römische Recht bot. Der Inquisitionsprozeß wäre von 1 Vgl. Winfried Trusen, Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, ZRG K A 74 (1988), S. 168 - 230.
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der Intention her der größte Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit geblieben, hätte nicht die in oberitalienischen Städten aus dem römischen Recht entnommene und praktizierte Folter bei schwersten Verbrechen Eingang in ihn genommen, auch durch die päpstliche Sanktion ihrer Anwendung gegenüber Ketzern aufgrund des crimen laesae majestatis divinae. Die italienische Kriminalistik hat in der Folgezeit versucht, Übergriffe durch den vorangegangenen Beweis starker Indizien einzuschränken und Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten anzuerkennen. Die großen Ketzerbewegungen in Südfrankreich, aber auch in Oberitalien, brachten die Kirche und die damalige weltliche Gesellschaftsordnung in eine ernste Gefahr. Man glaubte, ihr mit rechtlichen Mitteln entsprechend entgegentreten zu können. Das geschah in verstärkter Weise unter Innozenz III., aber keineswegs mit den Mitteln des Inquisitionsprozesses. Noch im 4. Laterankonzil wurden die Verfolgungsformen Lucius' III. aus der Konstitution „ A d abolendam" wörtlich wiederholt. Es ist also falsch zu behaupten, der Inquisitionsprozeß sei wegen der Ketzerverfolgung entstanden. Aber es zeigte sich, daß man auf diesem Wege keine aussichtsreichen Ergebnisse zu erzielen in der Lage war. Die bischöflichen Gerichte konnten den Ketzern nicht Einhalt gebieten. Mit der Ernennung besonderer päpstlicher Inquisitoren begann eine neue Phase. Die Einrichtung jener Institution, die allgemein als „Inquisition" 2 bezeichnet wird, läßt man 1231, dem Jahre beginnen, in dem Konrad von Marburg und andere ausschließlich mit der Ketzerbekämpfung betraut wurden, und man den Inquisitoren das Recht zugestand, neben den nach überkommenen Regeln arbeitenden bischöflichen Gerichten den Prozeß von der Ermittlung bis zum Urteil selbständig durchzuführen. Das aber bedeutet noch nicht, daß sie seitdem schon in prozessual anerkannten Formen vorgingen. Das geschah erst einige Jahre später. Denn die summarischen und dem bisherigen Recht nicht entsprechenden Verfahren des Konrad von Marburg, der 1233 ermordet wurde, das Vorgehen des Dominikaners Robert le Boucre, der schließlich wegen seiner Willkürjustiz zu lebenslänglicher Klosterhaft verurteilt worden ist, aber auch das Verhalten anderer Inquisitoren zeigt, daß ihnen eigentlich die prozessuale Basis fehlte, um wirkungsvoll und nicht angefeindet vorgehen zu können. Das früher angewandte Beweismittel der Gottesurteile durfte mit kirchlicher Mitwirkung nicht mehr angewandt werden, auch der Reinigungseid erschien weithin obsolet. Lothar Kolmer konnte feststellen: „Robert und Konrad hatten die früheren formalen Beweismittel nicht mehr und die kommenden Ermittlungsverfahren noch nicht zur Verfügung". Es „dominierte die subjektive spontane Entscheidung, wobei der Irrationalität breitester Raum gelassen wurde". 3 Die Unsicherheit der Inquisitoren ist aus 2 Vgl. Paul Mikat, Inquisition, Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 5, Sp. 698 - 702, mit Lit.
Vom Inquisitions verfahren zum Ketzer- u n d Hexenprozeß
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den Quellen deutlich zu erkennen. Dazu kommen Auseinandersetzungen mit den Bischöfen, die nun versuchten, für ihre Gerichte, aber damit auch indirekt für die Inquisitoren, bindende Normen aufzustellen. Selbst die Päpste konnten ihnen nicht freie Hand lassen und schritten in Einzelfällen ein. Das Anklageverfahren mit der dem Kläger aufgebürdeten Beweislast war schon früher als unzureichend auf diesem Gebiet angesehen worden. Aber auch der eigentliche Inquisitionsprozeß mit seiner von Innozenz III. intendierten Form erschien als nicht ausreichend. Eine Grundlage zur Modifizierung bot die in der Bulle „Vergentis" 4 und in der Gesetzgebung Friedrichs II. erfolgte Gleichstellung des römisch-rechtlichen „crimen laesae majestatis" mit dem „crimen laesae majestatis divinae" der Häretiker. Bezug hierfür war das Corpus Justinians, besonders die Konstitution „Quisquis" von Honorius und Arcadius 5 , welche im Auszug auch von Gratian 6 wiedergegeben wurde, ferner die Konstitutionen „Manichaeos" von Arcadius, Honorius und Theodosius II. und „Ariani" von Theodosius II. und Valentinian III. 7 , wo die Häresie als „crimen publicum" angesehen wird. Darauf gründete die Zulassung der Folter bei Häretikern 8 , wenn auch zunächst eingeschränkt durch die Konstitution „ A d exstirpanda" Innozenz' IV. von 12529. Die Möglichkeit der Verhängung der Todesstrafe ist im römischen Recht gegeben. Eine Fülle von Anordnungen gegen Häretiker findet sich in den Codices von Theodosian 10 und Justinian 11 , von denen nur einige erwähnt werden sollen. Die Unterlassung der Anzeige war strafbar. Eine Strafverschärfung geschah in der Vermögenskonfiskation und sogar in der Ausweitung auf die Kinder. Gegen Majestätsverbrecher wurden als Ankläger und als Zeugen solche Personen akzeptiert, die sonst nicht zugelassen waren: Ehrlose, Verurteilte, Verbrecher, Mitschuldige, Sklaven gegen ihre Herren, Freigelassene gegen ihre Patrone, Kinder gegen ihre Eltern und Ehefrauen gegen die Gatten. Gehilfen wurden wie die Täter bestraft. Hier fand man also eine Basis. 3 Ad capiendas vulpes. Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitions Verfahrens (Pariser hist. Studien 19), 1982, S. 123. 4 3. Comp. 5, 4,1; X 5, 7, 10. 5 Cod. Theod. 9, 14, 3 u. Cod. Just. I X 8, 5. e c. 22 C. 6 q. 1. 7 Cod. Theod. 16, 5, 40 u. 65; Cod. Just. I, 5, 4 u. 5. 8 Vgl. Cod. Just. 9, 8, 3. 9 Vgl. Piero Fiorelli, La tortura giudiziaria nel diritto commune, in: lus Nostrum I (1953), S. 78ff. 10 XVI, 5, wo sich 66 Konstitutionen von Konstantin bis Theodosius II. finden. 11 I, 5. Hier sind 22 Konstitutionen bis Justinian wiedergegeben, wobei einige aus dem Cod. Theod. wiederholt werden. Ihre genaue Auswertung im Hinblick auf die Übernahme in den Ketzerprozeß des Mittelalters kann hier aus Raumgründen nicht erfolgen.
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Innozenz III. wies ausdrücklich darauf hin, daß niemand bestraft werden dürfe, wenn nicht bezüglich eines Verbrechens eine „infamia seu clamosa insinuatio" vorliege. Diese sei nicht bei Einzelpersonen ausreichend, sondern es müsse eine Schmälerung des Rufes „apud bonos et graves", also in der Öffentlichkeit, eingetreten sein. Auch die geheime Übergabe eines „libellum infamationis" reiche nicht aus, um ex officio einen Inquisitionsprozeß zu beginnen. Nur „per viros idoneos" als Zeugen solle die Wahrheit ermittelt werden. Auf eine Anfrage, ob Aussagen und Namen von Zeugen, wie im Akkusationsprozeß, auch hier mitgeteilt werden müßten, oder ob es genüge, unter Fortlassung der Namen nur das Erklärte dem Angeklagten mitzuteilen, erwiderte der Papst, es müsse genau was von wem ausgesagt wäre bekanntgegeben werden. Rechtmäßige Exceptionen und Replikationen seien zuzulassen.12 Bei dem Ketzerprozeß 13, der sich nun aufgrund des römischen Rechts und der anerkannten Praxis der Inquisitoren herausgebildet hat, sieht das alles ganz anders aus. Die vorgeschriebene „inquisitio famae" konnte wegen eines „periculum animarum" entfallen. Eine einfache Denunziation wurde als ausreichend für die Einleitung des Prozesses erachtet. Wie in den leges durften Zeugen zugelassen werden, die sonst ausgeschlossen blieben. Exceptionen gegen sie waren nur möglich, wenn eine Todfeindschaft erwiesen war. Ihre Namen durften, entgegen der Anweisung Innozenz' III., unterdrückt werden. Advokaten brauchte der Richter nicht zuzulassen, und wenn er das tat, liefen sie Gefahr, selbst als fautores des Häretikers verurteilt zu werden. Neben der Anwendung der Folter durften die Verdächtigen durch schwere Kerkerhaft zum Geständnis gezwungen werden. Wie beim crimen laesae majestatis waren hier sämtliche früher erteilten Privilegien aufgehoben. Außerdem sind noch weitere Regelungen bemerkenswert, die zum Teil auch aus dem römischen Recht übernommen wurden. Alle, die Häretiker aufnahmen, schützten oder sie anderweitig unterstützten, sollten wie diese selbst bestraft werden. Das findet sich bereits in der aufgrund einer Vereinbarung von Papst Lucius III. mit Kaiser Barbarossa in Venedig 1184 erlassenen Konstitution „ A d abolendam" 14 . Sog. „relapsi", die sich wegen eines Häresieverdachts vor ihrem Bischof früher einmal gereinigt hätten und
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Für einzelne Belege vgl. die in Fn. 1 genannte Untersuchung. Vgl. Eymericus, Directorium inquisitorum (1376). Drucke u.a.: Rom 1578, 1585, 1587; Venedig 1595, 1607. Französische Übersetzung: Nicolaus Eymerich - Franzisco Pena, Le manuel des inquisiteurs, hrsg. ν. Louis Sala-Molins, Le savoir historique 8 (Paris, La Haye 1973). Für die praktische Anwendung der Normen vgl u.a. Winfried Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- u. staatswiss. Veröff. d. Görresges., hrsg. v. Alexander Hollerbach / Hans Maier / Paul Mikat, NF 54), 1988. 14 1. Comp. 5, 6,11; X 5, 7, 9. 13
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rückfällig würden, seien ohne ein besonderes Verfahren dem weltlichen Arm zu übergeben. Als rückfällig wurden auch diejenigen angesehen, die früher wegen eines anderen Häresiedelikts straffällig wurden. Die „fictio iuris" betraf ebenfalls diejenigen, die ein Jahr in der Exkommunikation verharrten, z.B. wenn sie der richterlichen Vorladung nicht folgten. Folgenschwer wurde die mögliche Verurteilung allein auf Verdacht hin. Hier spielte die aus dem römischen Recht stammende „praesumptio iuris" eine Rolle, die allerdings zunächst nur im Zivilrecht angewandt wurde und einen Gegenbeweis zuließ. Letzterer wurde dann von den Juristen des Spätmittelalters nicht mehr akzeptiert, wenn eine sog. „praesumptio iuris et de iure" vorlag. 15 Eine Übertragung in das Strafverfahren ist dann, meist mit der Beschränkung auf leichtere Delikte, in der Weise erfolgt, daß einer solchen praesumptio die Kraft eines halben Beweises auch hier zugestanden wurde. Während die italienische Kriminalistik grundsätzlich eine Verurteilung zum Tode aufgrund einer praesumptio ablehnte und ihr die Kanonistik weitgehend folgte, ist im Ketzerverfahren die Verdachtsstrafe als anwendbar angesehen worden. Also finden wir auch hier einen wesentlichen Unterschied zum gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren. Eine Gleichsetzung, wie sie so häufig geschieht, entspricht nicht der Rechtslage. Der Ketzerprozeß als „summarisches" Verfahren kennt zwar die Offizialmaxime und einige andere Elemente des Vorbildes, weicht aber in ganz wichtigen Punkten von ihm ab. Entscheidend ist hier die Übernahme von Normen der spätrömischen Ketzergesetzgebung. I n der Praxis gab es verschiedene Varianten, etwa die Hinzuziehung eines kirchlichen Anklägers. Die damit verbundenen furchtbaren Konsequenzen lassen sich nur aus der damals angenommenen großen Gefahr der umfangreichen häretischen Bewegungen für die Kirche wie für die etablierte gesellschaftlich-weltliche Ordnung erklären, aber nicht billigen. Während prozessual die Strafverfolgung der Ketzerei vorrangig als kirchliche Angelegenheit den geistlichen Richtern zufiel und die weltlichen Behörden nur zur Vollstreckung bzw. Hilfeleistung aufgrund kaiserlicher Anordnung verpflichtet waren, zeigt die sich im Spätmittelalter anbahnende Hexenverfolgung ein durchaus unterschiedliches Bild. Eine Monokausalität gibt es hier nicht. Schadenszauber ist schon früh und oft als verfolgungswürdig angesehen worden. Insofern sind gewiß eigenständige Grundlagen in der germanischdeutschen Rechtsentwicklung vorhanden gewesen. 15 Vgl. Rudolf Motzenbäcker, Die Rechtsvermutung im kanonischen Recht (Münchener theol. Studien, III, Kan. Abt., 10. Bd.), 1958. Diese Arbeit behandelt allerdings nicht das Strafrecht.
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Aber auch hier können wir nicht übersehen, daß im Früh- und im Spätmittelalter das römische Recht eine wichtige Rolle spielte. Daher sollen seine Grundlagen kursorisch erwähnt werden. 16 Wenn auch die Zauberei (magia) im Römerreich zunächst noch nicht allgemein bestraft wurde, sondern nur dann, wenn diese darauf gerichtet war, anderen an Gesundheit, Leben oder Vermögen zu schaden, wurden in der späten Kaiserzeit wegen der Lebensgefährdung die Verabreichung der häufig angewandten Liebesgetränke und ihrer Gegenmittel unter Strafe gestellt. Gegenüber der jüngst aufgestellten absurden These, die frühneuzeitliche Hexenverfolgung sei vorrangig von der Kirche und dem Adel eingeleitet worden, um eine durch weise Frauen initiierte Geburtenregelung zu hintertreiben 17 , sei darauf hingewiesen, daß schon im Römerreich die Verabfolgung von Mitteln zur Abtreibung der Leibesfrucht schwer verfolgt wurde. Unter Strafandrohung bis hin zum Tode standen ebenfalls bereits seit den Zeiten der Republik der Wetterzauber, das Beschwören von Toten und das Vergraben von Fluchtafeln. Generell sollte in der Kaiserzeit die Todesstrafe ausgesprochen werden, wenn der schädigende Zauber oder ein Gifttrank zum Tode führte, sonst eine mildere Strafe. Für Veranlasser eines solchen Verbrechens wurde seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. bei Personen niederen Standes die Strafe des Todes am Kreuze oder durch wilde Tiere verhängt, bei Vornehmen schritt man zur Enthauptung. Der Zauberer selbst sollte lebendig verbrannt werden. Eigenartig sind bereits die scharfen Erlasse Diokletians, also noch in heidnischer Zeit. Man hat wohl richtig vermutet, wenn man sein hartes Vorgehen auf die Zauberbräuche, die man dem orientalischen Manichäismus zur Last legte, zurückführt. Den Anführern wurde der Feuertod, den Anhängern je nach Stand Zwangsarbeit oder Enthauptung angedroht. In der christlichen Kaiserzeit wurde dann die Verfolgung der Manichäer und anderer Sekten mit der Begründung der Häresie weitergeführt. Ihr Verhalten wurde als gegen den Bestand des Staates gerichtet angesehen. Verfolgt wurde also damals grundsätzlich nur der Schadenszauber. Magische Mittel zur Heilung von Krankheiten, gegen Mißernten und Wetterschä16 Vgl. Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, S. 635ff.; Wilhelm Rein, Das Kriminalrecht der Römer, 1962, S. 426ff.; Gustav Geib, Geschichte des römischen Criminalprocesses bis zum Tode Justinians, 1842; Joseph Hansen, Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgungen, Hist. Bibl. 12 (1900), S. 50ff. 17 Gunnar Heinsohn / Rolf Knieper / Otto Steiger, Menschenproduktion - Allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit, 5. Aufl., 1985. Dazu Günter Jerouschek, Des Rätsels Lösung - Zur Deutung der Hexenprozesse als staatstheoretische Bevölkerungspolitik, in: Kritische Justiz 1986, S. 443 ff. Ders., Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots, in: Medizin in Recht und Ethik, Bd. 17, 1988.
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den entbehrten zunächst der Beachtung. Das galt auch für die Wah'rsagekunst, die allerdings bei einer Aussage über das Schicksal des Kaisers eine Ausnahme bildete, dann seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. ausgedehnt wurde. Schließlich setzte Constantius 357 generell die Todesstrafe durch das Schwert für die sog. divinatio und alle zauberischen Delikte fest. 18 In der Praxis wurde, nach einigen Schwankungen, das sogar auf zauberische Krankenheilungen bezogen. In der christlichen Kaiserzeit waren Zauberer und Wahrsager generell mit dem Tode zu bestrafen. 19 Sie wurden weitgehend unter dem Begriff der „malefici" zusammengefaßt. Gewiß wird die Einstellung des germanischen Volksempfindens auch gegen Schadenszauber gerichtet gewesen sein. Wie aber die sonst nicht nachweisbare Folter unter dem Einfluß des römischen Vulgarrechts in frühe Stammesrechte eindrang, so liegt die Vermutung nicht fern, daß dieses auch in der Verfolgung der Zauberei nicht ohne Wirkimg gewesen ist. Manches ist von der rein germanischen Deutung der Volksrechte in jüngster Zeit ins Wanken geraten. Sicher stand damals der Schadensausgleich durch das Kompositionensystem im Vordergrund. In einer Wolfenbütteler Handschrift, die in Tours im 8. Jahrhundert entstanden ist, lesen wir eine Fassung der Lex Salica, Art. 19, die so lautet: „De maleficiis. Si quis alteri herbas dediderit bibere, ut moriatur, solidos 200 culpabilis iudicetur (aut certe ignem tradatur)". 2 0 Schon der in der römischen Spätantike eingeführte Begriff „De maleficiis", nicht nur der Feuertod bei Nichtleistung der Komposition, deuten auf das Vorbild. Die Verbrennung wird auch in anderen Volksrechten angedroht. Wir können hier aus Raumgründen nicht näher darauf eingehen. Erwähnt werden soll jedoch wegen der schon genannten völlig abseitigen neuen Theorien, daß bereits die Volksrechte ebenfalls schwere Strafen, bis hin zum Tod, auf die Verabfolgung von Mitteln androhten, die eine weibliche Unfruchtbarkeit bewirkten, ebenso auf die Anwendung von Abortivgetränken. Die volksrechtliche Tradition hat sichér in Deutschland weit er gewirkt, bis hin zum Sachsenspiegel21. Die prozessuale Verfolgung von Schadenszauber im weltlichen Bereich läßt sich aus vielen Quellen darlegen. In der kirchlichen Gerichtsbarkeit hat man, von Ausnahmen abgesehen, lange diesem Volksaberglauben wenig Bedeutung beigemessen, ihn bekämpft, aber im Grunde nur mit verhältnismäßig geringen Kirchenbußen belegt. Wenn nicht alles täuscht, wandelt sich diese Auffassung erst mit dem is Cod. Theod. 9, 16, 4; Cod. Just. 9, 18, 5. 19 Cod. Theod. 9, 16, Iff.; Cod. Just. 9, 18, 3ff. 20 Vgl. Hansen (Fn. 16), S. 55. 21 LW II, 13, 7.
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Überhandnehmen der großen ketzerischen Bewegungen in Südfrankreich und Oberitalien. Vor allem den Katharern wird nun, ebenso wie früher den Manichäern, zauberisches Verhalten, eine Verbindung mit den Dämonen vorgeworfen. Das Unwesen der Hexerei - begrifflich noch nicht so ausgedrückt - wird mit der Häresie in Verbindung gebracht, wenn auch nicht mit dieser identifiziert. So brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Inquisitoren beginnen, ihre Verfolgung auf diesen Bereich auszudehnen. Aber ihrer Tätigkeit sind Grenzen gesetzt. Bonifaz VIII. bestimmte in seiner Konstitution „Accusatus de haeresi": „... pestis inquisitores haereticae, a sede apostolica deputati, de divinationibus aut sortilegiis, nisi haeresim saperent manifeste, intromittere se non debent, nec punire talia exercentes, sed eos relinquere suis iudicibus puniendos". 22 Infolgedessen war man bemüht, bei allen Hexen generell eine Verbindung zur Häresie zu finden. Während früher die einzelnen Delikte verfolgt wurden, gewinnt man den Eindruck, daß erst infolge jener rechtlichen Verfolgungsbeschränkung versucht wurde, alles, was man im Volksaberglauben, im Alten Testament, bei den Kirchenvätern, in der scholastischen Teufels- und Dämonenlehre auch nur erfahren konnte, zu einem rechtlichen kumulativen häretischen Hexenbegriff zusammenzufassen. Wirkliche Zauberei beruhe nicht auf Menschenkraft, so glaubte man, sondern könne nur mit Hilfe des Teufels und der Dämonen Zustandekommen. So werden, sich theoretisch immer mehr verdichtend, Schadenszauber, Buhlschaft mit dem Teufel und den Dämonen, Incubus, Tierverwandlung, Hexenflug und Hexensabbat in jener Zeit zu einem Bild zusammengefügt. Trotz dieser für uns absurden Vorstellungen darf man aber nicht übersehen - und die Quellen zeigen das ganz deutlich - , daß es in jener Zeit, wie früher und später, tatsächlich Vertreter einer schwarzen Magie gab, Leute, nicht selten Außenseiter der Gesellschaft, die sonst nicht geachtet waren, die sich rühmten, auch gegen Entgelt, anderen einen Schaden an Leib und Vermögen zufügen, das Wetter beeinflussen, Liebes- und Abtreibungsgetränke herstellen zu können. Man wird heute auch nicht mehr den vielfachen Berichten über die Anwendung von sog. Hexensalben zur Vorbereitung des Fluges ablehnend gegenüberstehen, nachdem man nach Anwendung alter Rezepte weiß, daß die Einreibung tatsächlich Halluzinationen hervorrufen konnte. Auch in jener Zeit hat man bereits manches auf Wahnvorstellungen zurückgeführt. Es drängt sich die Frage auf: Gab es damals vielleicht schon ein nicht erkanntes Drogenproblem? Diese Fakten treten jedoch zurück gegenüber dem neuen rechtlich und theologisch begründeten Hexenbegriff, der erst die Verbindung zur Häresie herstellte und den Inquisitoren die Basis zur Verfolgung geben sollte. Abgeschlossen ist diese Entwicklung allerdings erst Mitte des 15. Jahrhunderts. 22
V I 5, 2, 8, 4.
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Von den zahlreichen in dieser Zeit entstandenen Abhandlungen, in denen sich schon diese neue Form zeigt, sei für den deutschen Rechtsbereich nur auf die Traktate von Johannes Nider 23 und des Arztes Johann Hartlieb 24 hingewiesen. Das wirksamste Werk wurde jedoch der „Malleus maleficarum" 25 von 1486. Der eigentliche Verfasser war wohl der Dominikaner Heinrich Institoris (Krämer), während der als Mitautor genannte Ordensbruder Jacob Sprenger, der die vorangesetzte Apologie verfaßte, als Kölner Professor der Theologie wohl mehr als wissenschaftliches Aushängeschild dienen sollte. Beide waren zu päpstlichen Inquisitoren bestellt worden und erhielten eine besondere Unterstützung durch die berüchtigte Bulle „Summis desiderantes affectibus" Innozenz' VIII. von 1484 26 , welche die vielfältigsten Beschuldigungen der Hexen aufnahm. Aber gerade diese Bulle zeigt, daß die Inquisitoren bei ihrer Tätigkeit auf den Widerstand der Geistlichkeit gestoßen sind und dort nicht die erhoffte Unterstützung fanden. Bezeichnend ist die Landesverweisung des Heinrich Institoris durch den Bischof Georg Golsar von Brixen, der über ihn bemerkte: „Er bedunkt mich propter senium ganz kindisch sein worden, als ich in hie zu Brixen gehört hab cum capitulo". 2 7 Die hier und woanders aufgetretene Skepsis gegenüber der Annahme einer „Hexensekte" und damit der häretischen Grundlagen mancher Ausformungen des Schadens- und besonders des Liebeszaubers ist wohl die Veranlassung zur Abfassung des „Hexenhammer" gewesen. Sicher war er als Verteidigung des eigenen Vorgehens gedacht, hatte daneben aber die nicht zu übersehende Intention, die weltlichen Obrigkeiten bei diesem delictum m i x t i fori aufzufordern, eigenständig vorzugehen und ihnen Prozeßanleitungen zu geben. Uns interessieren in diesem Zusammenhang nicht die absurden und abergläubischen Darlegungen der ersten beiden Bücher des Werkes. Rechtsge23 Formicarius (1435 - 37 entst.), mehrfach gedruckt, auch im Zusammenhang mit dem „Malleus maleficarum". 24 Buch aller verbotenen Kunst, Unglaubens und der Zauberei, 1456. 25 In Kürze werden die Erstausgabe von 1487 sowie der handschriftliche deutsche Text aus Nürnberg durch Günter Jerouschek veröffentlicht werden. Eine wissenschaftliche deutsche Ausgabe von Trautmann wird ebenfalls demnächst erscheinen. Die Übersetzung von J. W. R. Schmidt (1906; dtv, 7. Aufl. 1987) ist äußerst fehlerhaft. Weil sie jedoch leicht greifbar ist, w i r d sie hier mit Verbesserungen zitiert. Vgl. auch P. Segl (Hrsg.), Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficerum von 1487. Bayreuther Histor. Kolloquien, Bd. 2, 1988. 26 Abdruck u. a. bei Joseph Hansen, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der HexenVerfolgung im Mittelalter, 1901 (Neudruck 1963), S. 25 ff. Übersetzung in: Wolfgang Behringer (Hrsg.), Hexen und Hexenprozesse, 1988, S. 88 ff. 27 Gottlieb Wilhelm Soldan / Heinrich Heppe / Max Bauer, Geschichte der Hexenprozesse, Bd. I, 1911, S. 253; Behringer (Fn. 26), S. 112.
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schichtlich bedeutsam ist nur der dritte Teil, der dem Verfahren ist.
gewidmet
Hier wird einleitend durchaus zutreffend bemerkt, daß den Inquisitoren auf dem fraglichen Gebiet nur eine Kompetenz zustehe, wenn ein Verhalten „offenbar nach Ketzerei rieche" 28 . Daneben bestünde die Möglichkeit des Vorgehens der bischöflichen Gerichte. Mit Normen des römischen Rechts wird dann die Kompetenz weltlicher Richter bestätigt, ja die Bischöfe könnten ihre Rolle beim Erkennen und Urteilen in Hexensachen ganz an das weltliche Forum abtreten. Denn wenn ein in der Öffentlichkeit zu fürchtender Richter tätig werden würde, könnte das sehr zur Ausrottung der Hexen beitragen und Bischöfen wie Inquisitoren eine Entlastung bringen. Die weltliche Obrigkeit sei ausdrücklich dazu berechtigt und verpflichtet. So dient der dritte Teil des Buches dem Zwecke, „damit die Richter sowohl im geistlichen wie im bürgerlichen Forum die Arten der Untersuchung, Erkenntnis und Urteilsfällung immer in Bereitschaft haben konnten". 2 9 Von den möglichen Verfahrensarten wird zunächst der Akkusationsprozeß erwähnt. Aber dieser erscheint dem Verfasser als wenig geeignet, da der Kläger das Delikt beweisen müsse und zurückgehalten werde, weil er infolge der inscriptio mit einer Talionsstrafe rechnen müsse, falls die Beweisführung fehlschlage 30 . Besser sei schon die Einleitung des Verfahrens aufgrund einer Denunziation, zu der die Bevölkerung unter Strafandrohung aufgefordert würde. Das wird auch weltlichen Richtern empfohlen. 31 Die dritte Art, den Prozeß zu beginnen, sei die gewöhnliche und gebräuchliche. Es ist die des summarischen Ketzerinquisitionsprozesses 32. Hier übernimmt Institoris im Grunde alles, was er im „Directorium inquisitorum" (1376) des Nicolaus Eymericus fand, der wegen seiner Maßlosigkeit in der Ketzerbekämpfung vom Generalkapitel seines Ordens in Perpignan abgesetzt worden war. Anders als im regulären Inquisitionsverfahren sollen im Hexenprozeß auch Exkommunizierte, Mittäter, Infame und Verbrecher, Unfreie gegen ihren Herrn, Hexer gegen Hexer, Ehegatten, Kinder und Angehörige, selbst Meineidige als Zeugen zugelassen werden, wenn es keine anderen gäbe, aber immer nur gegen und nicht für den Angeklagten. Eine Ausnahme bildeten 28 Die folgenden Zitate sind der Ausgabe von Schmidt (Fn. 25) entnommen. Hier 3. Teil, Einleitung. 29 Ebd., S. 30. so Ebd., S. 32 f. 31 Ebd., S. 34ff. 32 Ebd., S. 37 ff.
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nur Todfeinde, d.h. besonders solche, die mit der Aussage den Tod des anderen bezweckten. Ein besonderer Trick der Inquisitoren war es, den Angeklagten nach den Namen derer zu fragen, die nach seinem Leben trachteten. Nannte er einen solchen, ohne überhaupt mögliche Zeugen zu kennen, nicht, so war das Hindernis beseitigt. Bei der Bekanntmachung der Zeugenaussagen brauchten die Namen, wie wir bereits beim Ketzerprozeß sahen, nicht angegeben zu werden. Ja die Formulierung durfte dabei so gestaltet werden, daß man aus ihr nicht auf eine bestimmte Person schließen konnte. Alle Beteiligten waren überdies unter Androhung der Exkommunikation zur Geheimhaltung verpflichtet. Die Fragen an die Angeklagten sind oft mit einer gewissen Raffinesse ausgeklügelt worden, um sie aufs Glatteis zu führen. Davon zeugt auch die Aufstellung im „Hexenhammer". 33 Besonders erschreckend ist die Feststellung des Autors, wenn der Richter, da in Glaubenssachen summarisch, einfach und ohne Umstände vorgegangen werden könne, aufgrund des Rufes und der Indizien „die Angeklagte auf einige Zeit oder einige Jahre dem Gefängnis über antworte", damit sie vielleicht nach einem Jahre, von der Schauerlichkeit des Gefängnisses niedergedrückt, ihr Verbrechen gestehe, so würde er nicht ungerecht, sondern gerecht vorgehen. 34 Es sei erlaubt, auf diese Weise die Hexenkünste zu beheben. 35 Während im regulären Inquisitionsprozeß, wie wir sahen, die Verteidigung gewährleistet werden sollte, stellt Institoris es in das Ermessen des Richters, einen Advokaten 36 zuzulassen. Diesen könne jedoch nur er selbst, nicht der Angeklagte auswählen. Besonders betont wird, der Advokat dürfe dem Richter nicht entgegenhalten, er verteidige nicht den Irrtum, sondern die Person. Denn möge er auch den Irrtum nicht verteidigen, sei er in diesem Falle verdammenswerter als die Hexen selbst, ja ein „haeresiarcha". Er mache sich noch dadurch, daß er ungehörigerweise einen der Ketzerei schon Verdächtigen verteidige, gleichsam zu seinem schweren Begünstiger. Er müsse zumindest öffentlich vor dem Bischof abschwören. Welcher Jurist würde sich schon bei diesen Gegebenheiten einer solchen Gefahr aussetzen? Und falls das doch geschehen sollte, gibt Institoris dem Richter Anweisungen, wie er dessen Argumentation lahmlegen könne. In dieser Art des Verfahrens - und es muß nochmals betont werden, im Gegensatz zum eigentlichen Inquisitionsprozeß, in den bereits die Pervertierung durch die Folter eingedrungen war, allerdings nach dem Vorhanden33 34 35 36
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 51 ff. S. 57. S. 60 S. 65ff.
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sein zwingender Indizien - war die Beweisführung erschreckend einfach. Die Hexe (oder der Hexer) könnte auf vier Arten überführt werden, nämlich durch Zeugen, durch die Evidenz der Tat, durch Indizien der Tat und durch eigenes Geständnis. Der Verdacht könne als leicht, heftig oder schwer beurteilt werden, und dies ohne eigenes Geständnis. 37 Das letztere, durch Folter erzwungen, erschien den Richtern häufig als der einfachste Weg der Überführung, bei der sie keine umfangreiche Begründimg benötigten; auch wenn Institoris ausführt, daß sie nicht zu schnell dazu bereit sein sollten, sondern nur aufgrund sicherer Indizien 3 8 . Diese aber waren schnell gefunden. Die Darlegungen über die Durchführung der Folter müssen den Leser heute erschrecken. Aber wir dürfen dabei nicht übersehen, daß man damals allgemein an die Kraft des Teufels und der Dämonen, an die Wirkmöglichkeiten von Hexen glaubte, auch in den gebildeten Kreisen, und es nur wenige gab, die Zweifel in Einzelfällen hegten, aber das Grundsätzliche kaum in Frage zu stellen glaubten. Mit den Maßstäben unserer Zeit sind jene Auffassungen nicht zu messen. Es ist bezeichnend, daß hier sogar die Anordnungen Innozenz' III. und des 4. Laterankonzils von 1215, die nur rationale Beweismittel zulassen wollten, über den Haufen geworfen wurden. Mit dem Glauben an Teufelspakt, Dämonie und Hexerei kamen wieder jene irrationalen Beweismittel zum Vorschein, die man in der Jurisprudenz längst als abgelegt und überholt ansah. So gestand man vermeintlichen Hexen, die in ihrer Not auf ein Gottesurteil rekurrierten, sogar die Probe mit dem glühenden Eisen zu 3 9 , auch wenn das Institoris ablehnte, allerdings mit der anfechtbaren Begründung, daß vielleicht die Hexen durch die Hilfe der Dämonen vor Verletzungen bei einer solchen Probe bewahrt blieben 40 . Wenn sie sich ihr unterziehen, seien sie um so mehr als verdächtig zu beurteilen. Auch bei diesem Hexenverfahren - und das wird meist übersehen konnte nicht nur auf Zeugenbeweis und Geständnis hin, das durch die Folter erzwungen werden konnte, verurteilt werden, sondern auch auf bloßen Verdacht 41 hin. Zitiert ist hier zwar die Dekretstelle: „Verurteilt niemanden aufgrund der Willkür des Verdachtes" 42 , doch sie wird nur auf eine völlige Unbegründetheit bezogen, die jedoch auch die Forderung der Reinigung zur Folge haben konnte. Aus der Praxis der Ketzergerichte und der theoretischen Begründung, wie sie u.a. Eymericus gab, entnimmt nun Institoris dieselben Stufen und Folgen für den Hexenprozeß. Er spricht zunächst von der praesumptio Zerns43, 37
Ebd., S. 72 Ebd., S. 81 ff. 39 Ebd., S. 105. 40 Ebd., S. 109. 4 1 Ebd., S. 114ff. 42 c. 13, C. II, q. 1 38
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wobei eigentlich nur die Hinweise des „Directorium inquisitorum" übernommen werden. Dabei muß beachtet werden, daß schon hier empfindliche Bußleistungen oder eine kürzere Haft verhängt wurden. Die praesumptio vehemens, als weitere Stufe, finde sich bei denen, die jene, welche sie als Ketzer kennen, verbergen, ihnen ihre Gunst zuwenden, sich ihnen zugesellen, sie besuchen, ihnen Geschenke machen, sie aufnehmen, verteidigen oder ähnliches ausführten. So sei es auch bei der Hexenketzerei, etwa wer nach ungewöhnlicher Liebe oder Haß trachte, wenn auch nicht nach anderen Schädigungen an Menschen oder Tieren. Solche Personen konnten für mehrere Jahre inhaftiert werden. Die dritte Stufe, so w i r d weiter ausgeführt, sei die praesumptio violenta. Diese entstehe aus ungestümen, überführenden und zwingenden Vermutungen, etwa wenn man Ketzer verehre, von ihnen das „consolamentum" oder die Kommunion empfange oder an ihrem Ritus teilnehme. Sie seien durch die praesumptio violenta der Ketzerei schuldig, verfielen also in der Regel der Todesstrafe. Das wird nun auf die Hexen bezogen: Diejenigen, die das tun, was zum Ritus der Hexen gehöre, seien durch die praesumptio violenta der Hexenketzerei überführt, besonders wo die Wirkung der Behexung, sei es sogleich, sei es im Verlauf der Zeit, erfolge. Hier komme die evidente Tatsache dazu oder das Indicium der Tat, wenn Werkzeuge der Behexung an irgendeinem Ort niedergelegt gefunden werden 44 . Was aber gehört nun nach der Auffassung des Verfassers zum Ritus der Hexen? Hier stehen wir der Argumentation fassungslos gegenüber. Es werden als Beispiel die Worte angeführt: „ D u wirst in kurzem fühlen, was dir geschehen wird". Es sind die Berührung mit den Händen oder auch nur der Blicke wie andere Arten der angeblichen Behexung 45 , bei denen eine Wirkung eingetreten sein soll. Übernommen werden aus dem Ketzerprozeß auch die Ansichten, daß diejenigen, die selbst bei nur leichtem Verdacht ein Jahr hindurch in der Exkommunikation verharrt haben, von da ab wie Ketzer verurteilt werden, oder daß relapsi der Rechtsfiktion der Ketzerei verfallen und grundsätzlich dem Tode überantwortet werden. Ausdrücklich wird diese Verfahrensart, die ja nach gemeinem Recht sonst nicht zulässig war, den weltlichen Richtern empfohlen. Hier könne also der weltliche Richter „wegen der die Allgemeinheit betreffenden Taten bezüglich zeitlicher Schädigungen mit der letzten Strafe strafen, und der geistliche soll ihn nicht hindern, der jenen zwar nicht zur Bestrafung übergibt, aber doch überlassen kann". 4 6 Bemerkenswert ist, daß Institoris die Grund43 44 45 46
Vgl. V I 5, 2, 8. Schmidt (Fn. 28), S. 119. Ebd. Ebd., S. 124.
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lagen des gelehrten weltlichen Rechts wohl kennt, indem er nur auf den Schadenszauber abhebt. Es wäre zwar interessant, die folgenden Ausführungen des „Hexenhammers" über die verschiedenen Möglichkeiten des Urteils zu verfolgen. Der zur Verfügung stehende Raum erlaubt das nicht. Die zunächst noch nicht so intensiven Hexenverfolgungen haben im Spätmittelalter begonnen, ihren Höhepunkt aber hatten sie im endenden 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Kann man zwar die Anfänge bei der geistlichen Gerichtsbarkeit bemerken, so trat daneben, abgesehen von früheren Einzelfällen, auch die weltliche Gerichtsbarkeit, besonders etwa seit 1400, stark in Erscheinung. Gewiß mögen dabei schon frühere Gewohnheiten eine Rolle gespielt haben. Auch Sachsen- und Schwabenspiegel hatten die Verfolgung der Zauberer sanktioniert. Inwieweit später der „Hexenhammer" tatsächlich als Grundlage weltlicher Prozesse benutzt wurde, muß der Einzelforschung überlassen bleiben. Wir dürfen diese Weiche nicht unterschätzen. Immerhin läßt sich eine gar nicht so unbedeutende geistige Brücke feststellen, nämlich der „Layenspiegel" Ulrich Ίengler s47. Hier konnte man lesen: „Wan darum bey den rechtgeleerten etwo manigerlay zweifei und disputation entstanden, als ob nichts an solhem kaetzerlichem gebrauch der unholden noch zuglauben sein, das sy dardurch treiben, ainichen schaden thun oder zufuegen solten, moegen deßhalben die weltlichen richter zu zeiten erpleügt, das solh übel an mer enden ungestrafft beleiben, biß diese kaetzerey mercklich überhand genommen, und das zu iungst durch paebstlich inquisitores solich geschichten in iren erfarungen, so kundtlich erfunden und geursacht, ettlich besonder lateinisch und teütsche püchlin, so ains tails und besonder ains genannt Mallus maleficarum gemacht, durch hochgeleert menner approbiert, auch von der röm. kön. Maiestät als zahlt man von Christi unsers lieben herrn geburt viertzehenshundert im sechßundachtzigsten jar zuegelassen in ainen gedruckten puchstaben kommen und in drey besonder tayl, mit etwovil fragen und argumenten, unterschieden". Die ersten beiden Teile w i l l aber Tengler nicht behandeln, weil sie „nit vil zu disem Layenspiegel und weltlichen regiment dienen". Aber das, was der dritte Teil enthalte, nämlich, „wie solch übel und missetaten außgereüt, mit woehlen Ordnungen die gaistlichen und weltlichen gericht da wider procediren und verurtailen, peynigen und straffen, ist ain meidung hyerin beym kurtzsten angetzaigt, damit sich die weltlichen regenten auch des mit pesser sicherhait darein schicken, wie die selben unholden durch erfahrungen und gefancknus zu der pein und straff am fuegklichisten zu bringen sein moegen". 47 Augsburg 1510, fol. 191r. Rechtsgeschichtlich bedeutsam ist u.a. auch der Einfluß auf die Démonomanie des Jean Bodin, Paris 1580 (Neudruck 1988).
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Es wäre unzureichend, bei der Behandlung der einzelnen Prozeßarten hier nicht auf die eigentliche regionale weltliche Entwicklung in Deutschland hinzuweisen. Auf diesem Gebiet sind die Forschungsergebnisse nur für wenige Regionen vorhanden, meist von Historikern. Klar ist, daß hier schon frühmittelalterliche Formen der Verfolgung von Zaubereidelikten Grundlagen für spätere Entwicklungen boten. Ob der in Deutschland im Spätmittelalter anzutreffende Leumundsprozeß, der auch hier nicht selten angewandt wurde, in diese Tradition gehört, muß noch untersucht werden. Nicht abwegig ist die Annahme, daß man unter Übernahme der im kanonischen Recht auf germanischer Grundlage ausgebildeten „inquisitio famae" den von der Kirche nicht mehr anerkannten Reinigungseid als primäres Beweismittel durch diese neue Prozeßform auszuschalten suchte. Die „Treuga Henrici" vom Jahre 1224 48 spricht zum ersten Mal vom Richten auf Leumund, der hier bezeichnenderweise als „fama publica" auftritt. Dem übel Beleumdeten kann das Gericht die Reinigung versagen. Weiter darf nicht übersehen werden, daß der ursprüngliche deutschrechtliche formale Anklageprozeß sicher nicht ohne Einfluß kanonistischer Vorbilder, im Spätmittelalter modifiziert worden ist. 4 9 Es muß ferner bemerkt werden, daß sich infolge der Rezeption des römischen Rechts dessen eigenständige Grundlagen, die sich zum Teil schon im kanonischen Recht durchgesetzt hatten, verselbständigt haben. Der „Richterlich Klagspiegel" 50 , der um 1450 entstand, entnimmt seine Begründung zur Hexenverfolgung nur dem römischen Recht, nämlich zahlreichen Codex-Stellen. Die Todesstrafe ist dem Verfasser auf dieser Grundlage selbstverständlich. Aber auch das, was das kanonische Recht aus dem römischen entnahm, nämlich die Zulassung aller Kläger und Zeugen wie beim crimen laesae majestatis, wird von ihm erwähnt, ferner die Anwendung der Folter. Andreas Perneder 51 hat in seiner populären „Halsgerichtsordnung" ebenfalls die 1.3 bis 9 des Codex, Tit. „De maleficiis", und Stellen aus dem kanonischen Recht übernommen. Abgesehen von der sicher nicht abzustreitenden Wirkung der ersten beiden Bücher des „Hexenhammer" bleibt schließlich die Erkenntnis, daß die Intention seines Verfassers, kirchliche Ordinarien und Inquisitoren von der HexenVerfolgung „zu entlasten" und weltlichen Richtern eine Handreichung zu bieten, in der beginnenden Neuzeit tatsächlich ihre Früchte getra48 Treuga Henrici (1224). Quellensamml. z. Gesch. d. dt. Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. v. Karl Zeumer, 2. Aufl., 1913, S. 49. 49 Vgl. Winfried Trusen, Strafprozeß und Rezeption. Zu den Entwicklungen im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina, in: Peter Landau / Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, 1984, S. 29ff. 50 Mehrfache Druckausgaben seit 1470. 51 Von straff vnnd peen aller und jeder Malefitz, Ingolstadt 1559, fol. VII r .
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gen hat. Die Kirche zog sich zurück. Die durch den verstärkten Einsatz gelehrter Richter ermöglichte direkte Heranziehung des römischen Rechts ist nicht zu übersehen, besonders bei den territorialen Regierungen und Obergerichten. Das erst war die Voraussetzung für die bisher fast unerklärliche Verstärkung der Verfolgung. Weltliche Behörden waren auch leichter von der aufgebrachten Bevölkerung, die sich manche Schadensereignisse nicht erklären konnte, unter Druck zu setzen, bis hin zur Verweigerung der Leistung von Abgaben. Ahnliches konnte man früher bei der Kirche nicht so leicht erreichen. Der alte Anklageprozeß war modifiziert worden. Das im geistlichen Bereich ausgebildete Hexenverfahren wurde weitgehend, wenn auch nicht in allen Formen, übernommen. Insofern ist nicht zuletzt die Prozeßgeschichte ein Schlüssel zur Erklärung der furchtbaren Exekutionen in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit, auch wenn sie bisher kaum das Interesse der Rechtshistoriker gefunden hat. Aus Raumgründen sollen diese Fragen an anderer Stelle vertieft werden. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß nur eine rechtsgeschichtlich vergleichende Forschung zu befriedigenden Ergebnissen führen wird. Die Formen des ius commune können nicht ausreichend erklärt werden, wenn man sie in überkommenem Spartendenken behandelt. Der kirchliche Inquisitionsprozeß beruht auf fränkischen Grundlagen. Er ist von den Legisten akzeptiert worden, weil sie in ihrem eigenen Rechtsgebiet Parallelen fanden. Der von ihm zu trennende Ketzer- und Hexenprozeß gemeinrechtlicher Form und die prozessuale Anwendung der Folter haben erst unter der Übernahme von Regelungen des spätrömischen Rechts oder zumindest seines Vorbildes jene verhängnisvolle Wirkung entfaltet. Aber auch angeblich typisch nationale Ausprägungen dürfen nicht mehr isoliert betrachtet werden.
War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat? Von Dietmar Willoweit I. Wenige Monate vor dem Ende der preußischen Monarchie und kurz vor seinem eigenen Tode hat der große Preußenforscher Otto Hintze eine Abhandlung mit dem Titel fertiggestellt: „Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat". 1 Hintze hat darin eine These entworfen und zugleich einen Topos geprägt. Die These lautet: „Die Herrschaft des Rechtes im Staat ist im Grunde eine Idee, die aus dem Naturrecht stammt und mit der Doktrin von dem alleinigen oder überwiegenden Rechtszweck des Staates zusammenhängt. Diese Idee ist allerdings gerade im preußischen Staat in eminentem Sinne praktisch wirksam geworden", und zwar seit Samuel von Cocceji, „mit dem zuerst ein Vertreter des Naturrechts zum Posten eines leitenden Justiz- und Reformministers in Preußen gelangt ist". 2 Die weiteren Ausführungen lassen erkennen, daß Hintze den Gedanken des Rechtsstaats vor allem mit „einer Kontrolle der Gerichte über die Verwaltung" verbunden hat. Seitdem ist die Frage der Rechtsstaatlichkeit Preußens nachdrücklich bejaht, aber auch bezweifelt worden, ohne daß man darin ein wissenschaftliches Problem gesehen und dieses zum Gegenstand gezielter Überlegungen erhoben hätte. Die Rechtsstaatlichkeit Preußens avancierte zu einem Topos, der sich gerade angesichts des Niederganges dieses Staates nach 1918 und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg behauptete. Seit dem Ende der 50er Jahre hat Hermann Conrad mit Nachdruck auf die Rechtsstaatlichkeit Preußens hingewiesen und dafür die Entstehungsgeschichte des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 sowie den Inhalt dieses großen Gesetzbuches ins Feld geführt. Das Studium der von ihm edierten Kronprinzenvorträge des Carl Gottlieb Svarez führte Conrad zu der Schlußfolgerung: „Diese Ausführungen lassen ein rechtsstaatliches Programm der preußischen Rechtsreformer erkennen. Der Staat beruht auf bestimmten Rechtsgrundsätzen, durch die die Ausübung der Staatsgewalt grundgesetzlich gebunden wird. Die bürgerliche Freiheit ist grundgesetzlich gewährleistet. Sie kann zwar eingeschränkt, nicht aber aufgehoben wer1
Otto Hintze, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat, 1920, in: ders., Regierung und Verwaltung (Ges. Abh. Bd. 3), 1967, S. 97 ff. 2 Hintze (Fn. 1), S. 104; zu Cocceji: HRG, Bd. I Sp. 616ff. m.w.N.
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d e n — " . 3 Damit war zugleich gesagt: Preußen war eben nicht nur „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland", wie es im Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. 2. 1947 heißt, welches die Auflösung des preußischen Staates verfügte. 4 Die Aufhellung rechtsstaatlicher Entwicklungen in der preußischen Geschichte erfolgte also nicht von ungefähr. Doch gab es nicht nur politische, sondern auch wissenschaftliche Gründe für eine intensive Auseinandersetzung mit den preußischen Reformen des Rechtswesens im späten 18. Jahrhundert. Die von der Historischen Schule geprägte deutsche Jurisprudenz des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Leistungsfähigkeit und Selbstbewußtsein sich in der Kodifikation des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches manifestierte, blickte ohne Verständnis auf das Zeitalter des Vernunftrechts, seine allgemeinverständliche Begrifflichkeit und lebensnahe Kasuistik zurück. 5 Hermann Conrad gehörte ebenso wie der schon in den 30er Jahren das preußische Recht wiederentdeckende Hans Thieme 6 jener Generation an, welche die Historische Schule selbst als eine geschichtliche Erscheinung begreifen und damit zugleich die Rechtskultur der Aufklärung wiederentdecken konnte. „Das Königreich Preußen als Rechtsstaat" umschreibt also keineswegs nur eine apologetische Thematik, sondern eine sachliche, durch eine Fülle bemerkenswerter Quellen diktierte Aufgabe. Hinter dieser verbirgt sich ein tief ersitzendes Problem. Mit zunehmender zeitlicher Distanz verringert sich die Epochengrenze des Jahres 1806, und die gemeinsamen Strukturen der spätabsolutistisch-aufgeklärten und frühliberal-restaurativen Staats- und Rechtsordnung treten deutlicher hervor. Beginnt die Geschichte des Rechtsstaates in Preußen also schon im 18. Jahrhundert? Wer nach der Rechtsstaatsqualität Preußens fragt oder diese behauptet, muß sich vorab mit dem Begriff des Rechtsstaats auseinandersetzen. Dabei ist rasch festzustellen, daß die Komplexität des modernen Rechtsstaatsbegriffs nicht geeignet ist, ältere historische Sachverhalte adäquat zu erfassen: „Rechtsstaat schließt ... eine politische Organisationsform als Entstehensund Bestandssicherung ein, in der Volksrepräsentation, Unabhängigkeit der Gerichte, Gleichheit vor dem Gesetz und bürgerliche Freiheit aufeinander bezogen sind. Erst das Zusammenwirken dieser Faktoren sichert den vernünftigen und damit gerechten Staat". 7 Der Rechtsstaat in diesem Sinne ist 3 Hermann Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates (Schriftenreihe der Jur. Ges. Berlin 22), 1965, S. 10; Hermann Conrad l Gerd Kleinheyer (Hrsg.), Vorträge über Recht und Staat von Carl Gottlieb Svarez (1746 - 1798), 1960. 4 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 14 vom 31. 3. 1947, S. 262. 5 Grundlegend Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 348ff., 458ff. 6 Hans Thieme, Die preußische Kodifikation, in: ZRG GA 57 (1937), S. 355ff. 7 Christoph Link, Anfänge des Rechtsstaatsgedankens in der deutschen Staatsrechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juri-
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ein Modell, das den Qualitätsanforderungen modernen Staatsdenkens entsprechen soll. Es ist als geschichtliche Kategorie unbrauchbar, weil seine verschiedenen Tatbestandselemente ganz unterschiedlichen historischen Schichten angehören. So wäre über die Unabhängigkeit der Gerichte schon im Rahmen der mittelalterlichen Geschichte nachzudenken, weil dieser Grundsatz zum Begriff der Gerichtsbarkeit überhaupt gehört und in zeitspezifischer Form schon früh nachweisbar ist. Die Gleichheit vor dem Gesetz und damit zugleich die Bindung des Herrschers an das positive Recht läßt sich dagegen erst für die frühe Neuzeit sinnvoll thematisieren, 8 weil sich dieses Problem für die mittelalterliche, vornehmlich auf Herkommen beruhende Rechtsordnung so nicht stellte. Die Volksrepräsentation endlich ist im heutigen Sinne des Wortes ein Beitrag des 19. Jahrhunderts zur modernen Staatlichkeit und daher kein Maßstab, mit welchem vorangegangene Epochen gemessen werden können. Der Rechtsstaatsgedanke hat also seine eigene Geschichte, so daß vorsichtig zu überlegen ist, mit welchen seiner Elemente ein Staatswesen des 18. und 19. Jahrhunderts gemessen werden darf. Ausführlicher hat sich mit dieser Frage erstmals Gerd Kleinheyer auseinandergesetzt. Er sah das „Wesenselement des Rechtsstaatsgedankens" in der „Bindung des Staates an außerstaatliche Rechtsgrundsätze", woraus folgt, daß dem Staat „echte Rechtsschranken" im Verhältnis zu seinen Bürgern gesetzt sind. 9 Dieser Ansatz läßt sich präzisieren, wenn wir nach den historischen Wurzeln des Wortes selbst und seines Bedeutungsfeldes fragen. In Gebrauch kommt das Wort „Rechtsstaat" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 10 Gründlich reflektiert wird es zuerst von dem konservativen Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl, und dann von Otto Bähr, Richter am Kasseler Oberappellationsgericht, wo man im kurhessischen Verfassungskonflikt Erfahrungen mit staatlichen Willkürakten gesammelt hatte. Stahl formulierte als „Entwicklungstrieb der neueren Zeit", der Staat solle als Rechtsstaat „die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmten und unverbrüchlich sichern und ... die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen) als es der Rechtssphäre angehört, d.i. bis zur notwendig-
sten bei der Entstehung des modernen Staates, 1986, S. 777. Zur Geschichte des Rechtsstaatsbegriffs insbesondere auch Ernst-Wolf gang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, 1969, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 65ff.; Ulrich Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, 1960, in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 461f. β Link (Fn. 7), S. 779. 9 Gerd Kleinheyer, Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem preußischen Kronprinzen (1791 - 92), 1959, S. 144, 143. 10 Böckenförde (Fn. 7), S. 66ff.; Hans Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. Aufl. 1983, RdNr. 298.
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sten Umzäunung. Dies ist der Begriff des Rechtsstaates, nicht etwa, daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze .. . " . n Denn die Handhabung der Rechtsordnung und der Individualrechtsschutz sind jeder Staats- und Rechtsordnung immanent, sofern sie sich nicht als bloße Despotie darstellt. Was der Rechtsstaatsbegriff postuliert, ist einerseits die genaue Bestimmung der staatlichen Wirksamkeit und andererseits die unverbrüchliche Sicherung der freien Sphäre seiner Bürger - jeweils „ i n der Weise des Rechts". Dies aber ist nur - seitdem es ein verbindliches Rechtsherkommen kraft Gewohnheit nicht mehr gibt - durch das für alle geltende Gesetz möglich. Zu derselben Konsequenz, wenn auch aus einer anderen Perspektive, führt der von Otto Bahr entwickelte Gedankengang: „Staat und Recht sind unzertrennliche Begriffe. In der Verwirklichung des Rechts verwirklicht der Staat den ersten Keim seiner eigenen Idee. Die Verwirklichung geschieht, indem der Staat die Aufgabe übernimmt, sowohl das Recht in abstracto, als das in concreto mit formal-endgültiger Kraft festzustellen. Ersteres geschieht durch das Gesetz, letzteres durch den Spruch der Gerichte. Das Gesetz ist ,Feststellung der Rechtsgrundsätze' ... Noch weniger als des Gesetzes kann aber das Recht des Richterspruches entbehren ... Mit dem Richterspruch tritt das Recht in diejenige vollendete Erscheinung, welche dessen unmittelbar praktische Realisierung gestattet ...". 1 2 Diese Ausführungen zielen auf den Vorrang des Richteramtes gegenüber der politischen Administration. Sie bringen auf Begriffe, was schon seit Jahrzehnten als unverzichtbare Voraussetzung staatlicher Kultur galt. Daher hatte bereits das Paulskirchenparlament in der von ihm ausgearbeiteten Verfassungsurkunde einen Verfassungsgerichtshof mit umfassenden, auch heute noch beachtenswerten Kompetenzen vorgesehen. 13 Notwendige Voraussetzung eines solchen vom Richteramt beschirmten Staates ist jedoch die Verbindlichkeit und Respektierung allgemeiner Gesetze, die dem Richter als Entscheidungsregel dienen. Der Gesetzesstaat in diesem Sinne darf daher als unverzichtbares Element und erste Stufe des Rechtsstaats bezeichnet werden. Damit aber ist es auch gestattet, die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit 11 Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts, 3. Aufl. 1856, benutzt: Nachdruck 1963 der 5. Aufl. 1878, 2 Bde., Bd. 11,2, S. 137f. (§ 36). Stahl grenzt den Rechtsstaat insbesondere ab vom „Polizey-Staate, in welchem die Obrigkeit darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die Nützlichkeitszwecke in ihrem ganzen Umfang und nach einer moralischen, daher arbiträren Würdigung eines jeden Falles zu realisiren" und andererseits vom „Volksstaate . .., in welchem das Volk die vollständige und positive politische Tugend von Staatswegen jedem Bürger z u m u t h e t . . . " (ebd., S. 138). 12 Otto Bähr, Der Rechtsstaat, 1864, § 4. 13 §§ 125 ff. der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, in: Dokumente zur deutschen Verfasssungsgeschichte, hrsg. von Ernst R. Huber, Bd. 1,3. Aufl. 1978, S. 375ff., 388f.; Hans Joachim Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Reichsverfassung vom 28.3. 1849, in: Gerhard Leibholz u.a. (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung (Festschrift für Willi Geiger), 1974, S. 827 ff.
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eines Gemeinwesens schon an die Staaten des alten deutschen Reiches zu richten. Denn sie haben, getreu den Maximen der absolutistischen Staatstheorie, das Gesetz als einen vorrangigen Ausdruck des Herrscherwillens betrachtet. Der Normcharakter des Gesetzes jedoch schränkt die politische Entscheidungsfreiheit des absoluten Monarchen zugleich ein. Sofern auf diese Weise tatsächlich der Prozeß einer Selbstfesselung absoluter Herrschermacht in Gang gesetzt wird, beginnt die Geschichte des Rechtsstaats. Π. Preußen fällt im Rahmen dieser Entwicklung zunächst nicht besonders auf. Wie in anderen deutschen Territorialstaaten nimmt im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur die Zahl der kleineren - Mandate, Reskripte, Patente u. a. - und größeren - insbesondere: Edikte - Gesetzeswerke zu, sondern es wächst auch das Bewußtsein für die Bedeutung der Gesetzgebimg. In den größeren Staaten werden offiziöse Ediktensammlungen publiziert, deren Ziel die Verbesserung der Gesetzeskenntnis bei den subalternen Beamten und damit zugleich die Gesetzesbindung der Verwaltung gewesen ist. Freilich war es vorerst nur der Wille des gesetzgebenden Herrschers, der beachtet werden wollte, so daß abweichende Entscheidungen des Monarchen im Einzelfall ebenso legitim waren wie umgekehrt die analoge Anwendung des aus einem bestimmten Anlaß ergangenen Reskripts auf parallele Fälle. Je mehr sich die Politik der absoluten Monarchie jedoch an theoretischen Zielvorstellungen orientierte - etwa denen des Merkantilismus - , um so stärker mußte der Herrscher daran interessiert sein, seinen Gesetzesbefehlen Kontinuität und Dauer zu verleihen. 14 Schon die Logik der Gesetzgebung, der Zweck des Gesetzes, erwies sich den wechselnden Launen des Alleinherrschers überlegen. Indessen blieb dieser jeder Gesetzgebung immanente Mechanismus am Ende von zweitrangiger Bedeutung. Die größere geschichtliche Kraft entfaltete das Vernunftrecht, welches die inhaltliche Richtigkeit, Beständigkeit und Verbindlichkeit von Rechtsnormen im Lichte der menschlichen ratio zu begründen unternahm. Gesetze, die sich unter diesen Anspruch stellten, mußten eine bis dahin mit staatlichen Anordnungen nicht in Verbindung gebrachte Autorität entfalten. Preußens besonderer Beitrag zur Geschichte des Rechtsstaats beginnt damit, daß es seit 1780 einer vernunftrechtlich inspirierten Gesetzgebung relativ viel Raum gab. Der Staat Friedrichs des Großen sprengte nicht nur 14 Zur Gesetzgebungsgeschichte in der Zeit des Absolutismus Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. 1958, S. 57ff.; Heinz Mohnhaupt, Po testas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: lus Commune IV (1972), S. 188 ff.; Gerhard Immel, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozeßrechts, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 11,2, 1976, S. 3ff.
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mit seinem politischen Expansionswillen den Rahmen der Reichsverfassung, sondern auch durch den konsequenten Säkularismus seiner Innenpolitik. Preußen wirkte im Kreise der deutschen Staaten deshalb so ungemein modern, weil es den längst überalterten Konfessionalismus als Integrationselement des Staates verabschiedet hatte und durch die innerweltliche Moral des staats- und königstreuen, opferbereiten Untertanen zu ersetzen trachtete. Ein solches Umdenken setzte voraus, daß die Rolle des Gesetzes in der Gesellschaft neu überdacht und bewertet wurde. Dazu bildete die wichtigste Initialzündung das 1748 publizierte Werk Montesquieus „De l'esprit des Loix". Dort ist der Weg beschrieben, der zur Herrschaft der Gesetze führt: durch die strikte Bindung des Richters an den Gesetzes Wortlaut. Zugleich w i l l Montesquieu mit der Forderung nach richterlicher Unabhängigkeit diese gegenüber der legislativen und exekutiven Gewalt sichern und damit der Gefahr despotischer Willkür begegnen.15 Friedrich der Große zeigte sich bekanntlich von diesem Gedanken tief beeindruckt. 16 Er hat damit, ohne selbst wirklich gesetzgeberische Leidenschaft zu entfalten, die Entwicklung des vollkommenen Gesetzesstaates durch aufgeklärte Juristen seines Vertrauens fördern und damit eine Vorbedingung des Rechtsstaats realisieren können - wenn seine eigene Regierungspraxis auch noch in starkem Maße vom Stile monarchischer Selbstherrschaft geprägt war. Was aber nach der vom alternden König ausgelösten Justizkrise des Müller-Arnold-Prozesses seit Ende des Jahres 1779 unter den Händen Johann Heinrich Casimir von Carmers und seines führenden Mitarbeiters Carl Gottlieb Svarez an Gesetzgebungswerken entstand, trug den Stempel einer neuen Zeit und ließ den Militärstaat Preußen als Herold einer neuen staatlichen Kultur erscheinen. 17 Die allgemeine Gerichtsordnung von 1793 und das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 zeichnen sich nicht nur durch eine sprachliche Vollkommenheit aus, wie sie in neueren Rechtstexten nur selten anzutreffen ist, sondern auch durch eine große Klarheit der Regelungen. Das von Montesquieu formulierte Ideal, der Richter solle als „Mund des Gesetzes" amtieren, schien erreicht. Die große preußische Kodifikation war schon deshalb ein rechtsstaatliches Ereignis der deutschen Geschichte. Zur Herrschermoral gehörte es fortan, sich der im Gesetz positiv formulierten Vernunft unterzuordnen. Dieses Beispiel ließ andere deutsche Herrscher und Staatsmänner nicht unbeeindruckt. Die einst auf den Kriegsschauplätzen unter Bruch des Reichsfriedens errungene Großmachtstellung Preußens erwies sich nun als ein Kapital, von dem auch der Rechtsstaatsgedanke in Deutschland zehren 15
tel.
Montesquieu (Charles de Secondât), De l'esprit des Loix, 1748, XI. Buch 6. Kapi-
16 Vgl. dazu Richard Dietrich, in: ders. (Hrsg.), Politische Testamente der Hohenzollern, 1986, S. 95 ff. 17 Dietmar Willoweit, Johann Heinrich Casimir von Carmer und die preußische Justizreform, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen (Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte 9), 1988.
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konnte. Darin liegt sicher eine geschichtliche Paradoxie, die auch Mißtrauen weckt und zur Vorsicht mahnt: Wie ernst war es dem preußischen Staate mit der Selbstbeschränkung durch seine eigene Gesetzgebung? Die Antwort auf diese Frage sollten wir uns nicht zu leicht machen. Immer wieder ist in der Literatur darauf hingewiesen worden, daß in die endgültige Fassung des preußischen Allgemeinen Landrechts das Verbot des königlichen Machtspruches nicht aufgenommen werden durfte. 18 Die absolute Stellung des Monarchen sollte nicht durch eine so demonstrative Regelung beschränkt erscheinen. Noch wichtiger ist wohl, daß die Redaktoren des ALR Fragen des Staatsrechts nur in sehr engen Grenzen geregelt haben. Günter Birtsch hat gezeigt, daß der schon unter den Zeitgenossen verbreitete Eindruck und in unseren Tagen von Hermann Conrad vertretene Gedanke, 19 mit dem ALR sei eine Art Grundgesetz und Verfassung geschaffen worden, falsch ist. 2 0 Carmer und Svarez wollten eine Gesamtordnung des preußischen Staates gerade nicht schaffen, weil sie aus Überzeugung die absolute Stellung des Monarchen nicht anzutasten gedachten. Nur jene Beziehungen des Staates gegenüber dem einzelnen Bürger wurden geregelt, die den privaten Status des Bürgers betrafen und daher Gegenstand richterlicher Erkenntnis sein konnten. Daraus ergab sich immerhin eine breitgefächerte Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz, wie sie vordem unbekannt war. Grundrechte aber im Sinne der französischen Déclaration von 1791 kannte die preußische Kodifikation nicht. Das Handeln des Monarchen als Oberhaupt des Staates sollte im Prinzip frei bleiben. Hier klaffte eine Lücke im Gesetzesstaat, die nur solange nicht auffiel, wie nirgendwo in Deutschland eine Regierung an die verfassungsgesetzliche Regelung seines Staatsrechts und damit zugleich an Bürgerrechte gebunden war. Die rechtsstaatliche Entwicklung Preußens im späten 18. Jahrhundert erscheint von den skizzierten Defiziten aber auch deshalb kaum beeinträchtigt, weil sich vorerst die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit des absoluten Monarchen permanent mit den Forderungen der aufgeklärten Vernunft konfrontiert sieht. Der Machtspruch hatte tatsächlich keine Zukunft mehr. Daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden und der Regent 18 Zur Problematik des Machtspruchs grundlegend Eberhard Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche der preußischen Könige des 18. Jahrhunderts, 1943, in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, 1980, S. 210ff.; Hermann Conrad, Staatsgedanke und Staatspraxis des aufgeklärten Absolutismus (Rhein.Westf. Ak. d. Wiss., Geisteswiss., Vorträge G 173), 1971, S. 49ff.; ders., Richter und Gesetz im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 1971, S. 16ff. 19 Conrad (Fn. 3), S. 6 ff. 20 Günter Birtsch, Zum konstitutionellen Charakter des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Kurt Kluxen / Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift für Theodor Schieder zum 60. Geb., 1968, S. 97ff.; ebenso Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1976, S. 157.
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Gerichtsurteile nicht aufheben und ändern dürfe, bezeichnete Svarez als „die Schutzwehr der bürgerlichen Freiheit eines preußischen Untertanen. Sie unterscheiden den Bürger der preußischen Monarchie von dem Sklaven eines orientalischen Despoten". 21 Daher erzielt die preußische Rechtspolitik in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch wesentliche Fortschritte auf dem Wege zu einer eigenständigen Verwaltungs- und selbst Arbeitsgerichtsbarkeit. Die 1782 eingerichteten Kammer j us tizdeputationen dienten mit Verfahrensförmlichkeiten und vor allem juristischem Personal der Juridifizierung von Streitigkeiten der Untertanen im Kompetenzbereich der Kriegs- und Domänenkammern. 22 Dieselben Mittel setzte Carmer ein, um Streitfälle aus der Berliner und Potsdamer Industrie vor den dort etablierten Fabrikengerichten der bis dahin bestehenden Jurisdiktion des Polizeidirektors zu entziehen. 23 Mit dem Ausbau des Rechtsprechungsapparates für verschiedene Teilbereiche der Ständegesellschaft wurde aber zugleich die Möglichkeit administrativer Willkür reduziert. Am klarsten zeigt die Institution der seit 1781 existierenden Gesetzeskommission, wie sich der aufgeklärte Jurist jener Zeit die Bindung der Staatsgewalt vorstellte. Das neue Gremium hatte Gesetzesprojekte sachverständig zu beraten und nach der Verkündung des ALR dessen Lücken auszufüllen. Es sollte eine „Stimme der Wahrheit und des gemeinen Besten" sein, wie eine Kurzformel von Svarez lautete. 24 Die Maßstäbe der Vernunft und das Fachwissen der Sachverständigen schienen auszureichen, um jede politische Entscheidung von Gewicht zu determinieren. Für einen kurzen geschichtlichen Augenblick mag hier die Idee eines Zeitalters fast vollkommen verwirklicht worden sein. Jene Generation, die ein Menschenalter lang glaubte, eindeutige Handlungsmaximen der Vernunft entnehmen zu können, sah sich am Ziel: In erster Linie regierten nun die Gesetze, und die Richter lernten, vor allem ihnen zu gehorchen. Wie tiefgreifend dieser Umbruch gewesen ist, läßt sich am einfachsten an einer scheinbar äußerlichen organisatorischen Maßnahme ablesen. Nach einer langen, mühsamen Anlaufphase beginnt nun die Zeit der wirklich regelmäßigen und lückenlosen Gesetzespublikationen; seit dem frühen 19. Jahrhundert haben bald alle deutschen Staaten ihre Gesetzesblätter. Kein Zweifel, daß Otto Bährs Anforderungen an den Rechtsstaat zu einem gutem Teil erfüllt waren.
21
In: Conrad /Kleinheyer (Hrsg.), Vorträge (Fn. 3), S. 236. Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, 1962, S. 78ff.; Hintze (Fn. 1), S. 123ff. 23 Dietmar Willoweit, Die Entstehung der preußischen Fabrikengerichte im späten 18. Jahrhundert, in: ZNR 4 (1982), S. Iff. 24 In: Conrad / Kleinheyer (Hrsg.), Vorträge (Fn. 3), S. 480. 22
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III. Warum aber ist dann für das 19. Jahrhundert nur noch selten vom preußischen Rechtsstaat die Rede? Nach der Radikalkur der von Stein und Hardenberg durchgeführten Reformen bietet die norddeutsche Großmacht nun im Verein mit Österreich den Anblick eines Vorreiters der Reaktion. Als Miturheber und Schutzherr der Karlsbader Beschlüsse, als Saboteur der Reichsverfassung von 1849, als Land des Dreiklassenwahlrechts und Bollwerk gegen die Rechte des Parlaments im preußischen Verfassungskonflikt hat der Hohenzollernstaat im Laufe eines halben Jahrhunderts zahlreiche Minuspunkte gesammelt und sein historisches Prestige schwer belastet. Berührt das alles die preußische Rechtsstaatlichkeit überhaupt nicht? Die Gesetzlichkeit der Staatstätigkeit freilich war selbstverständlich geworden - so sehr, daß etwa König Friedrich Wilhelm IV. die 1850 erlassene preußische Verfassung respektierte, obwohl sie seinen Überzeugungen vom Herrscheramt widersprach. Und der Rechtsschutz des Bürgers gegenüber den ihn betreffenden Staatsakten wurde weiter ausgebaut; die Geschichte der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit begann. 25 Doch scheint es mir nicht zulässig, die Geschichte des Rechtsstaats jetzt von der Entwicklung der Staatsverfassung insgesamt abzukoppeln. In der Mitte des Jahrhunderts, vom Vormärz bis in die Zeit der Reichsgründung hinein, ist die politische Diskussion in Deutschland von zwei neuen Themen beherrscht. Die Forderungen nach der Anerkennung von Bürgerrechten und nach der Einrichtung von Volksrepräsentationen finden breite Resonanz und treiben die qualitativen Ansprüche an die Organisation und Rechtsgestalt des Staates höher. Davon bleibt der Rechtsstaatsgedanke nicht unberührt. Das Königreich Preußen hat sowohl in seiner rechtsstaatlichen Entwicklungsphase während der Spätaufklärung wie auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Charakter eines autokratischen, nicht demokratischen Staates. Autokratisch war Preußen insofern, als Politik eine Sache von Erkenntnis, nicht von Meinung und gesellschaftlichen Interessen ist. Politische Entscheidungen werden daher durch den Sachverstand politischer Ratgeber und den Monarchen selbst getroffen, nicht in öffentlichen oder landständischen Diskussionen um alternative Handlungsmodelle gefunden. 25 Rüfner (Fn. 22), S. 158ff.; Ulrich Stump, Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit 1875 - 1914, 1980, und dazu Rolf Grawert, Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Die Verwaltung 16 (1983), S. 66ff. mit Hinweisen auf die Bedeutimg des Buches von Rudolf v. Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 1872, (2. Aufl. 1879); zu Gneist: Gerd Kleinheyer / Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl. 1983, S. 99ff. m. w. N., auch zur Geschichte des Rechtsstaatsbegriffs. Aus der reichhaltigen Literatur zur Geschichte der Verwaltungsgerichte außerhalb Preußens sei noch hingewiesen auf Friedrich Merzbacher, Die Vorgeschichte der Errichtung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, in: Verwaltung und Rechtsbindung. Festschr. zum hundertjährigen Bestehen des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes, 1979, S. 387 ff.
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Nicht Kant stand diesem Staatsdenken Pate, sondern Hegel brachte es auf den Begriff. Der Königsberger Philosoph verstand das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann". 2 6 Dieses Gesetz kann folglich nur aus dem „vereinigten Willen des Volkes" hervorgehen. „Staatsbürger" sind daher „die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder . . . eines Staates", zu deren „unabtrennlichen Attributen" gehört: die „gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat". 2 7 Was Kant hier, weit über seine Zeit vorausschauend, gesehen hat, war den preußischen Rechtsreformern noch verschlossen geblieben. Recht und Politik gewinnen bei Kant ihre Verbindlichkeit nicht lediglich durch die Vernunft, sondern durch den Willen der Betroffenen. Die spezifische „Progressivität" der preußischen Rechtspolitik spiegelt sich dagegen wenig später in Hegels Rechtsphilosophie wider. 2 8 Hegel erkennt zwar an, daß in der gesetzgebenden Gewalt nicht nur das monarchische, sondern auch das ständische Element wirksam wird. Aber: „ I n der organischen Einheit der Staatsgewalten liegt es selbst, daß es ein Geist ist, der das Allgemeine festsetzt und der es zu seiner bestimmten Wirklichkeit bringt und ausführt" (§ 299). Daher gibt es keine Spielräume, um die „Willkür" des einen und des anderen zu vereinigen. Vielmehr ist das in der Gesetzgebung wirkende monarchische Element „die Regierungsgewalt als das mit der konkreten Kenntnis und Übersicht des Ganzen in seinen vielfachen Seiten und den darin festgewordenen wirklichen Grundsätzen, sowie mit der Kenntnis der Bedürfnisse der Staatsgewalt insbesondere beratende Moment" (§ 300). Im ständischen Element soll dementsprechend nicht der bloße Wille des Volkes zum Ausdruck kommen. Das Volk ist „ein besonderer Teil der Mitglieder eines Staates", und zwar jener Teil, „der nicht weiß, was er will. Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und Einsicht, welche eben nicht die Sache des Volkes ist". Daher findet Hegel „bei einigem Nachdenken", daß „die Gewährleistung, die für das allgemeine Beste und die öffentliche Freiheit in den Ständen liegt. . . nicht in der besonderen Einsicht derselben . . ., sondern . . . wohl in einer Zutat von Einsicht der Abgeordneten (liegt)", weil es den ständischen Abgeordneten besser möglich ist, die subalternen Beamten vor Ort zu kontrollieren (§301). Darüber hinaus stehen die Stände „als vermittelndes Organ" zwischen der Regierung „und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke .. . Ihre Bestimmung fordert an sie so sehr 26 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, hrsg. v. Karl Vorländer, 4. Aufl. 1922, Einleitung § B, S. 34f. 27 Kant (Fn. 26), Erster Teil § 46, S. 136. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, hrsg. v. Helmut Reichelt, 1972, S. 266ff.
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den Sinn und die Gesinnung des Staats und der Regierung als der Interessen der besonderen Kreise und der Einzelnen" (§ 302). Daher ist „die eigentümliche Begriffsbestimmung der Stände . . . darin zu suchen, daß in ihnen das subjektive Moment der allgemeinen Freiheit, die eigene Einsicht und der eigene Wille der Sphäre, die in dieser Darstellung bürgerliche Gesellschaft genannt worden ist, in Beziehung auf den Staat zur Existenz kommt" (§301). Aufgabe der Stände ist also nicht Wahrnehmung ihrer jeweils besonderen Interessen: „Da die Abordnung zur Beratung und Beschließung über die allgemeinen Angelegenheiten geschieht, hat sie den Sinn . . . daß sie (d.h. die Abgeordneten) nicht das besondere Interesse einer Gemeinde, Korporation gegen das Allgemeine, sondern wesentlich dieses geltend machen" (§ 309). Dafür bedarf es nicht eines - zufälligen - politischen Willens, sondern richtiger Erkenntnis. Es werden daher solche Personen abgeordnet, „die sich besser auf diese (d.h. allgemeinen) Angelegenheiten verstehen als die Abordnenden" (§ 309). Denn „die . . .Vorstellung, daß alle an den Staatsangelegenheiten teilhaben sollen . . . daß nämlich alle sich auf diese Angelegenheiten verstehen, ist ebenso abgeschmackt, als daß man sie dessenungeachtet häufig hören kann" (§ 308 a.E.). Und selbst bei dieser stringenten Ausrichtung der ständischen Repräsentanten auf die für richtig erkannte Politik gibt es doch im Zweifel einen Erkenntnisvorsprung der Staatsbeamten, „denn die höchsten Staatsbeamten haben notwendig tiefere und umfassendere Einsicht in die Natur der Einrichtungen und Bedürfnisse des Staats, sowie die größere Geschicklichkeit und Gewohnheit dieser Geschäfte und können ohne Stände das Beste tun, wie sie auch fortwährend bei den ständischen Versammlungen das Beste tun müssen . . . " ( § 301). Es ist nicht der Sinn der vorstehenden Überlegungen und Zitate, Hegel ein weiteres Mal als „preußischen Staatsphilosophen" anzuprangern. Er steht ja, wie deutlich geworden ist, in der zu seiner Zeit noch jungen rechtsstaatlichen Tradition Preußens. 29 Aber dieser Zusammenhang ist eben gegeben. Und es wird an Hegels Reflexion zugleich die tiefe Ambivalenz der preußischen Rechtsstaatlichkeit deutlich. Der Weg zur Demokratie ist verschlossen, wenn das jeweils besondere Interesse der einzelnen Staatsbürger nicht ernst genommen wird. Jene schon festgestellte Lücke des preußischen Gesetzesstaates im politischen Bereich war nicht mehr zu übersehen, als die vernünftige Erkenntnis ihre Zuverlässigkeit einbüßte und politische Parteiungen entstanden. Die mit einer Volksrepräsentation ausgestattete, gesetzlich fixierte Staatsverfassung war nun das adäquate Mittel, um den Widerstreit der gesellschaftlichen Interessen auszugleichen. Zu diesem Modell des 29 Insofern zutreffend Gertrude Lübbe-Wolff, Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf, in: Zs. f. philosophische Forschung 35 (1981), S. 476ff.; doch ist mit Nachdruck auf die Grenzen des Repräsentationsgedankens in Hegels Staatsrecht hinzuweisen, vgl. die vorstehenden Zitate und den nachfolgenden Text.
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konstitutionellen Staates gewinnt Preußen keinen Zugang mehr. Der Plan einer preußischen „National-Repräsentation" scheitert, weil Hardenberg nur die Schaffung eines von „Gemeingeist" erfüllten Repräsentativorgans wollte und dies nicht gelingt. Konsequent lautet im Jahre 1821 das Ergebnis einer preußischen Verfassungskommission: Eine besondere Urkunde über die Verfassung Preußens erübrige sich, weil diese als eine rein monarchische feststehe. 30 Inmitten einer Gesellschaft aber mit zunehmend weit auseinanderstrebenden Interessen haftet den Entscheidungen des Monarchen und seiner Regierung zunehmend etwas Willkürliches an, dabei inhaltlich vielfach geprägt von konservativen Prioritäten. Vor einer völlig veränderten gesellschaftlichen Szenerie mit zunehmend härter werdenden politischen Alternativen erscheint die Autokratie des Monarchen und seiner Regierung wie eine gespenstische Wiederkehr des einst durch die Aufklärung gebändigten Absolutismus. Die Durchsetzung der Heeresreform im preußischen Verfassungskonflikt bietet ein Beispiel für die fortdauernde Monopolisierung hochrangiger politischer Entscheidungen bei der Staatsspitze. 31 Der Vorgang zeigt, daß im Zeichen des sich ausbildenden politischen Pluralismus der Gedanke des Rechtsstaates nicht mehr von dem der Volksrepräsentation getrennt werden konnte. Denn Rechtsstaatlichkeit heißt letztlich, die Berechenbarkeit der Staatstätigkeit organisieren - durch Gesetz und Richteramt, nunmehr aber auch durch geregelte Verfahren, welche den Volkswillen rational zu ermitteln unternehmen. Die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich gestiegenen Ansprüche an die Rechtsstaatlichkeit des Gemeinwesens schlugen sich in zwei sehr charakteristischen Forderungen nieder. „Männer des Vertrauens" sollten die politischen Geschäfte übernehmen und damit dem Volkswillen anstelle bürokratisch erdachter Beamtenpolitik zum Durchbruch verhelfen. Dieses Anliegen korrespondiert unmittelbar mit jenem zweiten, welches auf die gesetzliche Gewährleistung von „Grundrechten des deutschen Volkes",
30 Ernst Walter Zeeden, Hardenberg und der Gedanke der Volksvertretung 1807 1812, 1940, S. 89f., 98ff., 125ff.; Ernst Klein, Von der Reform zur Restauration. Finanzpolitik und Reformgesetzgebung des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, 1965, S. 171 ff., 202 f. 31 Die neuere Diskussion über den preußischen Verfassungskonflikt wurde zunächst bestimmt durch Ernst Rudolf Huber, Bismarck und der Verfassungsstaat, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 188 ff., und Ernst-Wolf gang Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, 1967, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 112ff., auch Dian Schefold, Verfassung als Kompromiß? - Deutung und Bedeutung des preußischen Verfassungskonflikts, in: ZNR 3 (1981), S. 137 ff. Zu einer konsequent historisierenden Betrachtungsweise, die auf juristische Urteile ex post verzichtet, hat in jüngerer Zeit vor allem Hans Boldt beigetragen: Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie, in: Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert (Der Staat, Beiheft 1), 1975, S. 75ff.; ders., Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850, in: Preußen im Rückblick (GuG, Sonderheft 6), 1980, S. 224ff.
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Menschen- und Bürgerrechten, gerichtet war. Beide Ziele schien die in der Frankfurter Paulskirche versammelte deutsche Nationalversammlung zu verwirklichen. 32 Wäre ihr Erfolg beschieden gewesen, so hätte es in der neueren deutschen Geschichte jedenfalls eine Chance gegeben, die wesentlichen politischen Entscheidungsprozesse in das Parlament zu verlagern. Immerhin hat Preußen eine solche Entwicklung nicht nur abgeblockt durch die Ablehnung der Kaiserkrone, die Aufhebung der Grundrechte im Deutschen Bund, durch die monarchistische Lösung seines Verfassungskonflikts. Es war bekanntlich der konservative Bismarck, welcher im Norddeutschen Bund das allgemeine, geheime, direkte Wahlrecht von 1849 einführte und damit auch dem deutschen Kaiserreich die Möglichkeit zu demokratischer Traditionsbildung verschaffte. Der Geburtsfehler dieses Verfassungssystems lag nur darin, daß Bismarck ja keineswegs eine prinzipielle Entscheidung zugunsten der Parlamentsrechte und gegen das Politikmonopol der monarchischen Regierung treffen wollte. Es war im Gegenteil während des preußischen Verfassungskonflikts selbst das altliberale Modell des einverständlichen Zusammenwirkens von Parlament und Monarch 33 von Bismarck verabschiedet worden. Der demokratisch zu wählende Reichstag war aus machtpolitischem Kalkül hervorgegangen, um die Integration des Reiches - deren Erfolg noch nicht vorauszusehen war - auf der Basis einer breiten Artikulation des Volks willens voranzutreiben. Das tiefe Mißtrauen des ersten Reichskanzlers gegenüber politischen Willensbekundungen der Gesellschaft im übrigen offenbarte sich bald im Kulturkampf und in der Sozialistengesetzgebung. Und der politisch-militärische Bereich blieb den Bestimmungsbefugnissen des Reichstags in erheblichem Umfang verschlossen. Eine so gravierende Entscheidung wie die über den Schlieffenplan fiel, trotz der zu erwartenden politischen Folgen, in den engen Zirkeln des militärischen Sachverstandes. Scheint damit das Deutsche Reich vom politischen Stil Preußens geprägt, so ist andererseits doch nicht zu übersehen, daß seit 1871 eine Reihe rechtsstaatlicher Errungenschaften bald zur Selbstverständlichkeit gehörten: die Vervollkommnung des Rechtsschutzes etwa oder die Pressefreiheit, die jetzt den verschiedenartigen politischen Meinungen im Lande ein Forum auch außerhalb der Parlamente verschaffte. Per saldo werden wir festhalten müssen, daß der Rechtsstaat in Preußen nicht vollendet worden ist. Aber es ist andererseits auch nicht zu bestreiten, 32
Heinrich Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, 1973; JörgDetlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985; Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, 1985. 33 Dies, und nicht etwa der seit dem preußischen Verfassungskonflikt etablierte starre Dualismus beider Institutionen, ist der ursprüngliche Sinn des Konstitutionalismus auch in Deutschland; vgl. dazu die neueren Untersuchungen von Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 - 1850, 1977, S. 91 ff., 115, 647; Dieter Langewiesche, Die Anfänge der deutschen Parteien - Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, in GuG 4 (1978), S. 324ff., 336.
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daß der machtpolitisch erfolgreichste deutsche Staat dem Gedanken des Rechtsstaats einst kräftige Impulse gegeben hat, die aus der deutschen Geschichte nicht hinwegzudenken sind.
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Gedanken zum frühen Christentum in den rheinischen Civitates Von Carlrichard Brühl Obwohl der Altersunterschied zwischen dem Jubilar der Festschrift und mir nur geringfügig ist, war es mir vergönnt, in den Jahren 1955/56 an seinen „Proseminaren" teilzunehmen, die in Wahrheit den Charakter von rechtshistorischen Seminaren hatten. In dankbarer Erinnerung an jene inzwischen so fernen Jahre seien ihm die folgenden, aus meinen Studien zu „Palatium und Civitas", t.II, hervorgegangenen Überlegungen gewidmet. 1982 veröffentlichte ich in der Festschrift für FrantiSek Graus „Studien zu den Bischofslisten der rheinischen Bistümer" 1 , deren Ergebnis ich wie folgt resümieren möchte: In den Bistümern Köln, Mainz, Worms, Speyer und Straßburg zeigen die Bischofslisten z.T. erhebliche Lücken, die auf eine Unterbrechung der bischöflichen Sukzession auf viele Jahrzehnte, wahrscheinlich auf über ein Jahrhundert, schließen lassen. In allen vier Civitates der Germania I a (Mainz, Worms, Speyer, Straßburg) ist der älteste bezeugte Bischofsname jeweils als Teilnehmer des ang. Kölner Konzils von 346 überliefert, dessen Echtheit in der Forschung lange umstritten war, bis Hanns Christof Brennecke und Hans Hubert Anton dieses angebliche Konzil endgültig als eine Fälschung des 10. Jahrhunderts erwiesen haben 2 . Dies hat erhebliche Konsequenzen für Städte wie Worms und Speyer, wo die auf die Bischofsnamen von ang. 346 folgenden Bischöfe Berchtulf und Hilderich in das Jahr 614 datiert werden müssen3. Damit ist natürlich die Frage nach der Existenz eines spätrömischen Bistums in diesen Städten gestellt, was selbst für Straßburg im 4. Jahrhundert nicht über jeden Zweifel erhaben ist: der erste zuverlässig bezeugte Bischof Arbogast gehört jedenfalls in das späte 6. Jahrhundert. Etwas besser bestellt ist es um Mainz, wo jedoch der erste 1 Politik, Gesellschaft und Geschichtsschreibung. Gießener Festgabe für Frantiâek Graus zum 60. Geburtstag, hrsg. von Herbert Ludat und Rainer Christoph Schwinges (Köln - Wien 1982), S. 39 - 48. 2 Hanns Christof Brennecke, Synodum congregavit contra Euphratam nefandissimum episcopum. Zur angeblichen Synode gegen Euphrates, in: ZKG 90 (1970), S. 176 200; Nancy Gauthier, L'évangélisation des pays de la Moselle. La province romaine de Première Belgique entre Antiquité et Moyen-Age (Paris 1981), S. 447-53, bes. S. 450 - 52; und zuletzt Hans Hubert Anton, Die Trierer Kirche und das nördliche Gallien in spätrömischer und fränkischer Zeit, in: La Neustrie. Les pays du nord de la Loire 650 - 850, hrsg. von Hartmut Atsmat (Sigmaringen 1988), S. 53 - 73, bes. 54 - 57. 3 Vgl. Brühl (Fn. 1), S. 41 m. Anm. 15, S. 43 m. Anm. 26 - 28.
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Name der Bischofsliste, Aureus, wohl ein Bischof des 5. Jahrhunderts gewesen sein muß, da er von den Hunnen erschlagen worden sein soll. Martin, der ang. Bischof des Jahres 346, ist dem ältesten Bischofskatalog unbekannt! Nur Köln reicht von den bisher behandelten Bistümern in vorkonstantinische Zeit zurück und bietet für das 4. Jahrhundert drei weitere, historisch gut beglaubigte Namen. Danach klafft allerdings eine Lücke von über hundert Jahren. Daß diese Lücke kein „Zufall der Überlieferung" sein kann, zeigt zum einen der Vergleich mit den übrigen rheinischen Civitates, zum anderen der mit den etwas von der Rheingrenze abgelegenen Civitates Trier und Metz, wo die Kontinuität nicht gestört ist. An diesem Befund vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, daß die Bischofslisten etwa von Köln, Mainz und Speyer mit Sicherheit unvollständig überliefert sind. Es bleibt dabei, daß alle rheinischen Civitates in römischer Zeit entweder noch nicht bestanden haben (Speyer und sehr wahrscheinlich auch Worms) oder aber die bischöfliche Sukzession erheblich gestört ist (Köln, Mainz, Straßburg). An diesem schon 1982 gewonnenen Ergebnis halte ich auch heute noch fest, wobei meine Skepsis gegenüber der Existenz eines römischen Bistums in Worms eher noch größer geworden ist. Die folgenden Überlegungen wollen versuchen, die Nutzanwendung obiger Ergebnisse für die Topographie der römisch-frühmittelalterlichen Civitas zu ziehen. Hierbei ist von der Tatsache auszugehen, daß das Christentum in den Civitates beider Germanien vor der konstantinischen Wende mit Sicherheit keine Rolle gespielt - lediglich in Köln kann mit einer bescheidenen Gemeinde gerechnet werden - und auch noch im 4. Jahrhundert trotz staatlicher Förderung keine zentrale Bedeutung gewonnen hat. Auf die Topographie bezogen bedeutet dies, daß es abwegig wäre, im intramuralen Bereich einer Civitas mehr als einen christlichen Kultbau zu erwarten, d. h. also die Kathedrale mit einem Baptisterium. Vor den Mauern ist u. U. noch mit Coemeterialbasiliken über einem Märtyrer- oder auch nur einem Bischofsgrab zu rechnen. Bekannte Beispiele hierfür sind etwa St. Alban bei Mainz, St. Gereon und St. Severin bei Köln; aus der Belgica I a wären etwa St. Arnulf (ursprünglich St. Aposteln) vor Metz, St. Maximin, St. Paulin, St. Matthias (ursprünglich St. Eucharius) vor Trier zu nennen. „Infra muros" residierte der Bischof neben oder in nächster Nähe seiner Kathedrale. Die Legende, die Bischöfe hätten vor den Mauern und ausgerechnet auf Friedhöfen residiert, beruht auf dem häufig zu lesenden Irrtum, daß eine Kirche mit Bischofsgräbern vor den Mauern die erste Kathedrale gewesen sein müsse. Die Tatsache, daß in einer Kirche vor den Mauern Bischöfe beigesetzt sind, beweist vielmehr das genaue Gegenteil, denn in der Frühzeit wurden Bischöfe nicht in ihrer Bischofskirche bestattet: frühestens seit dem 11. Jahrhundert können Bischofsgrablege und Bischofskirche identisch sein. Die Kathedrale lag selbstverständlich ebenso „infra muros" wie die Residenz des Bischofs, obwohl man das in der Forschung lange Zeit nicht hat
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wahr haben wollen. Dafür sprachen an der militärisch so unsicheren Rheingrenze zunächst einmal reine Sicherheitskriterien, darüber hinaus aber auch das Geltungsbedürfnis der Bischöfe, die quasi über Nacht in die Beamtenhierarchie eingegliedert worden waren und das natürliche Bedürfnis haben mußten, nach den harten Jahren der Verfolgung nun ihre neue Würde und ihr soziales Ansehen aller Welt, insbesondere aber den „Heiden", die ja gerade im Westen noch sehr zahlreich waren 4 , vor Augen zu führen: wenn der römische Militärbefehlshaber und alle staatlichen Würdenträger innerhalb der Mauern residierten, dann verstand sich dies für den Bischof wie für die Vorsteher aller übrigen staatlich anerkannten Kultgemeinschaften in gleicher Weise. Ich werde daher in der Folge auf alle in der Forschung einst geäußerten Vermutungen über eine ang. erste Kathedrale vor den Mauern nicht weiter eingehen, da die Abwegigkeit solcher Hypothesen - zumindest für den nordalpinen Raum - auf der Hand liegt und nicht der ständigen Widerlegung bedarf. Ebenso versteht es sich wohl von selbst, daß im gesamten Westen eigene christliche Kultgebäude vor 313 nicht nachgewiesen und nicht nachweisbar sind. Die Versammlungen der christlichen Gemeinde selbst in einem so wichtigen und alten christlichen Zentrum wie Rom fanden ausschließlich in Privathäusern statt, in denen ein bestimmter Raum ad hoc als Kultraum eingerichtet wurde. Es ist m. E. nicht einmal in Rom bisher gelungen, eine vorkonstantinische Kultstätte archäologisch zweifelsfrei nachzuweisen5. Was die Lage der Kathedralen anbelangt, so können sie auf keinen Fall am Forum, dem städtischen Zentrum, gelegen haben, da dort zum einen für einen Kultbau im Zweifel kein Platz war, zum andern aber auch die Furcht der Christen vor den in den Tempeln hausenden heidnischen Dämonen die direkte Nachbarschaft zu solchen Tempeln ausschloß6. Die immer wieder zu lesende Behauptung, die Kathedralen seien an der Stelle heidnischer Tempel errichtet worden, beruht nicht auf archäologischen Befunden, sondern ist das Ergebnis der Mißdeutung einer bekannten Stelle bei Gregor d. Gr., in der dieser den Missionaren der Angeln um 600 (!) Ratschläge dieser Art für 4 In Gallien war das Christentum ganz allgemein vor 313 eine relativ unbedeutende Größe gewesen, was z.T. auch die geringere Intensität der Verfolgung im Westen im Vergleich zum Osten erklärt, wo die Christen schon vor 300 einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ausmachten. Noch um 350 dürfte mit Ausnahme vielleicht von Trier in keiner gallischen Stadt die absolute Mehrheit der Bevölkerung Christen gewesen sein; bestenfalls stellten die Christen die relativ größte Kultgemeinschaft. 5 Dies gilt auch für die im übrigen höchst verdienstvollen Grabungen unter SS. Giovanni e Paolo. Die Gestalt einer Orans in einem im übrigen völlig heidnischen Kontext darf m. E. keinesfalls in christlichem Sinne gedeutet werden. Vgl. Pasquale Testini, Archeologia cristiana. Nozioni generali dalle origini alla fine del sec. V I (Roma - Paris - Tournai - New York 1958), S. 551 ff., bes. S. 552 - 53 mit Abb. 269, der allerdings positiv urteilt. 6 Vgl. auch Carlrichard Brühl, Palatium und Civitas. Studien zur Profantopographie spätantiker Civitates vom 3. bis zum 13. Jahrhundert, Bd. I: Gallien (Köln - Wien 1975), S. 248.
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ihre Missionsarbeit in England gibt, wobei überdies nicht beachtet wird, daß es sich bei den Heiligtümern der Angeln und Sachsen in der Regel nur um heilige Bäume, Haine, Idole u. ä. handelte und nicht um Tempelbauten aus Stein; schließlich ist zu bedenken, daß Gregor d. Gr. fast drei Jahrhunderte nach Konstantin lebte, der Horror der Christen vor den heidnischen Kulten angesichts der Überlegenheit und damit gewonnenen Selbstsicherheit des Christentums nicht mehr mit dem des 4. Jahrhunderts verglichen werden kann. Ich gedenke nun so vorzugehen, daß ich, beginnend mit Straßburg, von Süd nach Nord die Lage der Kathedrale in den einzelnen Civitates bespreche und in Zusammenhang mit dem Befund der Bischofslisten zu stellen versuche 7. In Straßburg erhebt sich das heutige romanisch-gotische Münster fraglos an der Stelle der merowingischen Kathedrale, die Bischof Arbogast zu Ausgang des 6. Jahrhunderts gelegentlich der Neuorganisation des Straßburger Bistums errichtet hatte, und zwar in nächster Nähe des antiken Forum. Dies kann also nicht der Ort der spätrömischen Kathedrale gewesen sein - falls eine solche bestanden haben sollte, was ja keineswegs sicher ist. Geht man aber einmal davon aus, daß Straßburg im 4. Jahrhundert Bischofssitz war, so kann sich die Kathedrale im Zweifel nur in einer der vier Ecken des Castrum befunden haben. Ohne daß ein zwingender Beweis geführt werden könnte, würde man diesen Bau am ehesten an der Stelle des späteren Stephan-Klosters, einer Gründung wohl des 8. Jahrhunderts, zu vermuten haben. In Speyer und Worms, die ich zusammen behandeln möchte, finden sich bekanntlich keine Spuren eines spätantiken Bischofssitzes. In beiden Städten wird man daher mit der Neugriindung eines Bistums im späten 6. Jahrhundert zu rechnen haben. Dazu paßt es, daß sich auch in Worms die heutige Pfarrkirche und einstige Kathedrale an der Stelle der merowingischen erhebt und - ganz wie in Straßburg - am ehemaligen Forum gelegen war. Doch während sich für Straßburg immerhin Möglichkeiten für die Lage einer spätantiken Kathedrale abzeichnen, ist dies in Worms nicht der Fall 8 . In noch höherem Maße gilt dies für Speyer, wo der erste faßbare Kichenbau „infra muros" in der SO-Ecke der Mauer gelegen war und frühestens in merowingische Zeit herabreicht. Der stolze Salierdom liegt in nur geringer 7 Für die folgenden Darlegungen verweise ich für eine detaillierte Untersuchung der hier angeschnittenen Fragen auf den bereits im Satz befindlichen 2. Band von „Palatium und Civitas", der hoffentlich noch 1989 im Böhlau-Verlag, Köln, erscheinen wird. 8 Die einst für gesichert gehaltene Römermauer von Worms mit dem märchenhaften Umfang von fast 4000 m hat sich nach den Forschungen von Marg. Grünewald in Luft aufgelöst: in Wahrheit ist gerade in Worms der Verlauf der Römermauer völlig unbekannt und konnte auch bei den jüngsten Grabungen an keiner Stelle aufgedeckt werden. Mit Sicherheit ist der Umfang der spätantiken Civitas ganz wesentlich geringer, als man bisher angenommen hatte.
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Entfernung; ein Vorgängerbau an dieser Stelle konnte bei den Domgrabungen nicht ermittelt werden. In Mainz liegen die Dinge etwas verwickelter als in Worms und Speyer. An der Existenz eines Bistums im 4. Jahrhundert kann so wenig gezweifelt werden wie an der Tatsache einer längeren Unterbrechung der bischöflichen Sukzession im 5. und wohl auch noch im frühen 6. Jahrhundert, womit sich auch für Mainz die Frage nach einer Verlegung der Kathedrale stellt, die hier jedoch im Gegensatz zu Straßburg verneinend zu beantworten ist. Zwar wird in der Forschung erbittert darum gestritten, ob die römische Kathedrale unter dem heutigen Dom oder unter der Johanniskirche zu suchen ist, aber selbst wenn die erste Kathedrale tatsächlich unter St. Johann gelegen wäre, was weit davon entfernt ist, bewiesen zu sein, so kann von einer eigentlichen Verlegung noch immer nicht gesprochen werden, da es sich nur um einen Transfer von vielleicht 50 m innerhalb des gleichen Areals der spätantiken Kathedralgruppe handeln würde und nicht um eine Verlegung im Vollsinn des Wortes. Auch in Trier, das ich zur Vervollständigung des Bildes mit heranziehen möchte, ist von einer Verlegung der Kathedrale keine Rede: der heutige Dom erhebt sich innerhalb der Kathedrale des 4. Jahrhunderts. Während jedoch in fast allen Civitates die Kathedralen des 11.-13. Jahrhunderts ihre Vorgängerbauten in der Regel um ein Beträchtliches übertreffen, ist es in Trier gerade umgekehrt: der konstantinische Bau, der selbst St. Peter in Rom an Größe übertraf, lebt nur noch bruchstückhaft in der Kathedrale des 10. - 11. Jahrhunderts fort, da auch die nahe Liebfrauenkirche noch zum Areal der römischen Kathedrale gehört, die erst bei der Zerstörung Triers durch die Normannen im Jahre 881 den Todesstoß erhalten hatte. Auf Metz möchte ich nur am Rande eingehen. Wie in Trier ist auch hier mit ungebrochener bischöflicher Sukzession zu rechnen: in Trier seit ca. 270/80, in Metz seit ca. 340. Daß es in Metz nach dem 5. Jahrhundert wohl dennoch zu einer Verlegung der Kathedrale innerhalb der Mauern gekommen ist, dürfte auf die Folgen des Hunnensturms 451 zurückzuführen sein, doch da Metz nicht zu den rheinischen Civitates zählt, begnüge ich mich mit der Feststellung der Verlegung. Die wichtigste hier zu behandelnde Civitas ist jedoch Köln, die Hauptstadt der Germania II a , wo die Frage nach der ältesten Kathedrale seit vielen Jahren mit besonderer Intensität gestellt worden ist 9 . Die Literatur füllt ganze Bibliotheken, doch sind seit den Domgrabungen von Otto Doppelfeld und Willy Weyres vor allem die Befunde der Archäologen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Eben darum verzichte ich an dieser Stelle auf eine erneute Auseinandersetzung mit der zeitlich vor der Domgrabung liegenden 9
Vgl. ausführlich in: Palatium und Civitas (Fn. 7), t. II, S. 18 - 27.
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Literatur und konzentriere mich auf die wenigen unstreitigen Fakten und auf die alles andere als unstreitigen Ergebnisse der Domgrabungen. Unstreitig ist, daß sich der heutige gotische Dom zumindest an der Stelle der karolingischen Kathedrale aus dem 1. Viertel des 9. Jahrhunderts erhebt. Da Köln aber im 4. Jahrhundert mit völliger Sicherheit eine Kathedrale besessen haben muß, im 5. und 6. Jahrhundert jedoch nicht nur kein Bistum mehr, sondern sogar einer starken Repaganisierung ausgesetzt war, darf aus der Tatsache, daß sich der karolingische Dom an der Stelle des heutigen befindet, nicht automatisch geschlossen werden, daß dies auch für das 4. Jahrhundert zuträfe. Erst die sensationelle Entdeckung eines Fürstengrabs merowingischer Zeit im Areal des Domes hat es fast zur Gewißheit werden lassen, daß auch die merowingische Kathedrale des 6. Jahrhunderts an der Stelle der heutigen zu suchen ist. Damit ist die Lage in Köln etwa mit Straßburg zu vergleichen, wo ja gleichfalls eine Ortskontinuität seit dem 6. Jahrhundert nachgewiesen werden kann. Aber geht die Parallele noch weiter und müßte auch in Köln mit einer Verlegung der Kathedrale anläßlich ihres Neubaus gerechnet werden? Dies ist der eigentliche Streitpunkt. Während Otto Doppelfeld, der Entdecker des Merowingergrabs, sich in dieser Frage betont zurückgehalten und selbst einen Rekonstruktionsversuch der merowingischen Kathedrale mangels ausreichender Indizien abgelehnt hatte, glaubte Weyres zunächst nur andeutend, später immer dezidierter die spätantike Kathedrale gefunden zu haben. Der derzeitige Dombaumeister A. Wolff entwarf sogar eine eindrucksvolle Rekonstruktion der gesamten spätantiken Anlage mit Kathedrale, Episcopium und - einem heidnischen Tempel im direkten Verbund mit dieser Anlage! Doch während die archäologische Grundlage für die Rekonstruktion des ang. Episcopium aus den Resten zweier Hypokausten besteht, ist der heidnische Tempel nicht nur in seinem exakten Grundriß vollständig nachgewiesen, es steht auch fest, daß er frühestens in den letzten Jahren des 4. Jahrhunderts, wahrscheinlich aber erst in merowingischer Zeit abgerissen worden ist. Die ang. Baptisterien des 4 . - 5 . Jahrhunderts, die in der „Beweisführung" von Weyres eine große Rolle spielen, hat Hansgerd Hellenkemper als simple Piscinen römischer Privathäuser des 3. Jahrhunderts erwiesen. Auch dem archäologischen Nachweis der römischen Kathedrale, der immer auf schwachen Füßen gestanden hatte, wurde 1984 durch J. Engemann die Grundlage entzogen, so daß von der Theorie von Weyres und Wolff heute nichts mehr übrig geblieben ist. Aber was ist damit bewiesen? Bewiesen ist nur, daß die bisherigen Grabungsergebnisse für den Nachweis einer spätantiken Kathedrale nicht ausreichen, aber nicht, daß diese Kathedrale auf gar keinen Fall unter der heutigen Kathedrale gelegen haben kann, auch wenn ich das persönlich für in hohem Maße unwahrscheinlich halte. Hypothesen über die Lage der römi-
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sehen Kathedrale an anderer Stelle (ζ. B. unter dem Komplex St. Peter St. Caecilien) sind häufig geäußert worden, doch auch hier kann von einem archäologischen Nachweis nicht gesprochen werden. Ohne die vage Möglichkeit grundsätzlich ausschließen zu wollen, scheint mir auch hier Zurückhaltung am Platze. So bleibt es also im Falle Kölns bei einem „Non liquet", das zwar unbefriedigend, aber doch wenigstens ehrlich ist. Wenn ich versuche, ein Fazit aus obigen, notwendig knappen Darlegungen zu ziehen, so scheint mir ein Zusammenhang zwischen der Aussage der Bischofslisten und dem archäologisch-historischen Befund über Kultkontinuität oder Diskontinuität nicht von der Hand zu weisen. Für alle rheinischen Civitates lassen die Bischofslisten eine Lücke in der bischöflichen Sukzession im 5./6. Jahrhundert erkennen, eine Lücke, die wohl ein Jahrhundert und länger ausgemacht haben dürfte. In diesem Jahrhundert wird man, wie die Anekdote aus der „Vita s. Galli" für Köln deutlich zeigt, mit einem starken Repaganisierungsprozeß zu rechnen haben, der für uns aus einsichtigen Gründen historiographisch schwer zu fassen ist, darum aber in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Als Folge dieser Diskontinuität ist mit der Verlegung der Kathedrale an einen anderen Ort in merowingischer Zeit zu rechnen (Straßburg und wohl auch Köln), falls nicht überhaupt die Gründung eines Bistums erst im 6. Jahrhundert anzunehmen ist, wie das für Speyer und wohl auch für Worms vermutet werden muß. In all diesen Fällen zeigt sich, daß die exponierte Lage dieser Civitates an der Rheingrenze kein guter Nährboden für die Ausbreitung des Christentums gewesen ist und eine dauerhafte Kirchenorganisation erst eingerichtet werden konnte, als der Rhein im Merowingerreich seinen Charakter als Grenzfluß verloren hatte.
Ohne Ansehen der Person" Zur Frage der Gleichheit aller Menschen in frühchristlicher Theologie und Praxis Von Ernst Dassmann I. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß der Ausdruck προσωπολη(μ)ψία nicht erst i m Neuen Testament auftaucht, sondern bereits i m frühjüdischen Sprachgebrauch nachgewiesen werden kann, so steht doch fest, daß das Nichtbeachten des „Ansehens der Person" dem Wort und der Sache nach biblischen Ursprungs und kaum in der philosophischen Ethik verwurzelt ist 1 . Die im Alten Testament begegnende Wortverbindung D^lB ^ V t (LXX: λαμβάνειν πρόσωπον) bedeutet das ehrerbietige Emporheben des demütig zu Boden gesenkten Antlitzes bei der orientalischen Begrüßung als Zeichen der Wertschätzung 2 . Wird es zum Merkmal ungerechtfertigter Bevorzugung, gilt von Gott, daß er kein Ansehen der Person kennt. Er ist „der Gott der Götter und der Herr der Herren, die große, starke und furchterregende Gottheit, die kein Ansehen der Person kennt (LXX: ουδέ θαυμάσαι πρόσωπον; Vulgata: qui personam non accipit) und keine Bestechung annimmt" 3 . Da falsche Parteilichkeit auch menschliches Verhalten belasten kann, werden vor allem die Richter davor gewarnt, nach dem Ansehen der Person zu richten. „Ihr dürft im Gericht nicht parteiisch verfahren (LXX: ουκ έπιγνώση πρόσωπον; Vulgata: nulla erit distantia personarum); den Geringen und den Mächtigen sollt ihr anhören. Ihr sollt vor niemand Furcht haben, denn Gottessache ist das Gericht" 4 . 1 Vgl. Testamentum Hiob 43,13; dazu Eduard Lohse, Art. προσωπολημψία: Theol. Wörterbuch zum NT 6 (Stuttgart 1959), S. 780: „Von dem Hebraismus λαμβάνειν πρόσωπον ist das Substantiv προσωπολημψία gebildet, das zwar erst im Neuen Testament begegnet, aber wahrscheinlich schon im hellenistischen Judentum gebräuchlich gewesen ist". 2 Lohse (Fn. 1), S. 780. 3 Vgl. 2 Chr 19,7; Dtn 10,17; Sir 35,15. 4 Dtn 1,17; vgl. 16,19; Mal 2,9; Sir 4,27. Großen Einfluß erlangte auch Lev 19,15: „Benachteilige nicht den Niederen, und bevorzuge nicht den Vornehmen, sondern richte deinen Nächsten in Gerechtigkeit." Zur Übersetzung vgl. Günther Schwartz, „Begünstige nicht..."? (Leviticus 19,15b): Biblische Zeitschrift, Neue Folge 19 (1975), S. 100. Die Warnung vor ungerechtem Richten geht über die Stellen, die damit argu-
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Die alttestamentliche Tradition über den Verzicht auf eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Person wird im frühjüdischen Schrifttum fortgeführt 5 . Auch im Neuen Testament wird sie in breiter Form aufgegriffen. Jesus selbst bestätigen die Pharisäer: „Meister, wir wissen, daß du immer die Wahrheit sagst und dabei auf niemand Rücksicht nimmst; denn du siehst nicht auf die Person (ού γάρ βλέπεις εις πρόσωπον)"6. Zu den faszinierenden Zügen im Leben Jesu gehört in der Tat, daß er sich mit ungewohnter Unbefangenheit auch den gesellschaftlichen Randgruppen und sogar den Ausgegrenzten, Zöllnern, Dirnen und Aussätzigen, zugewandt hat. Die apostolische Predigt bleibt weitgehend im Rahmen der alttestamentlichen Verwendung angesiedelt. An der Spitze steht das Bekenntnis, daß Gott keinen Personenunterschied macht bei der Berufung zum Heil. Das versichern sowohl Petrus 7 als auch Paulus 8 . Mit der Zusammenfassung der alttestamentlichen Umschreibung durch das Substantiv προσωπολη(μ)ψία (samt den entsprechenden Ableitungen) gelingt es, den verurteilten Sachverhalt prägnant auszudrücken. Im Galaterbrief benutzt Paulus die bei Gott fehlende Berücksichtigung der Personen, um seine Berufung zum Apostel von der Zustimmung der Urapostel unabhängig zu machen. Das „πρόσωπον θεός άνθρώπου ού λαμβάνει" wird wie ein jüdisches Sprichwort parenthetisch eingeflochten 9 . In den deuteropaulinischen Briefen an die Epheser und Kolosser w i r d der Verzicht auf die προσωπολημψία nicht direkt von den Menschen gefordert, sondern mit Gottes Verhalten die Mahnung an sklavenbesitzende christliche Herren begründet, ihre Sklaven angemessen zu behandeln. „Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht ihnen nicht! Denn ihr wißt, daß ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt. Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person" 10 . Der erste Petrusbrief begründet mit der προσωπολήμπτως richtenden Unbestechlichkeit Gottes die Forderung christlichen Lebens in Gottesfurcht 11 . mentieren, daß vor Gott kein Ansehen der Person gilt, weit hinaus, Gerechtigkeit gegenüber Witwen und Waisen gehört zu den Hauptthemen der prophetischen Verkündigung. 5 Vgl. Aeth. Henoch 63,8; Slav. Henoch 42,7; Ps. Salom. 2,18f.; Apok. Baruch 44,4; Jub. 5,16f.; 33,18; Testamentum Hiob 4,8; 43,13; Mischnatraktat Pirque 'aboth 3,20. 6 Mk 12,14; vgl. Mt 22,16; L k 20,21. 7 Apg 10,34f.; vgl. Ernst Haehnchen, Die Apostelgeschichte = Kritisch-exeget. Komm. NT 3 (Göttingen 196113), S. 296. 8 Rom 2,11; vgl. Ernst Käsemann, An die Römer = Handbuch zum NT 8a (Tübingen 1973), S. 56; Heinrich Schlier, Der Römerbrief = Herders Theol. Komm. NT 6 (Freiburg 1977), S. 75. 9 Gal 2,6; vgl. Hermann W. Beyer / Paul Althaus, Der Brief an die Galater = Das NT deutsch 8 (Göttingen 1972 13 ), S. 16. 10 Eph 6,9; vgl. Kol 3,25 - 4,1; dazu Hans Conzelmann, Der Brief an die Epheser = Das NT deutsch (Fn. 9), S. 89.
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Erst im Jakobusbrief wird προσωπολημψία bei den Christen im Umgang mit Glaubensbrüdern in der Gemeinde verurteilt. Daß es den Unterschied der Personen gibt, wird nicht geleugnet, aber im Bereich des Glaubens an Christus, der allein der „Herr der Herrlichkeit" ist, darf es menschlichen Personenkult nicht geben 12 . Darum gebührt den Reichen kein besserer Platz im Gottesdienst als den Armen. Nur die Irrlehrer achten auf das Ansehen der Person (θαυμάζοντες πρόσωπα) um ihres eigenen Nutzens willen 1 3 . II. 1. In den Schriften der Apostolischen Väter werden die Mahnungen der Hl. Schrift aufgegriffen und weiter konkretisiert. Bereits im Ersten Klemensbrief (um 96) gehört ein Handeln „ohne Ansehen der Person" (άπροσωπολήμπ;τως) zu den Verhaltensweisen der korinthischen Gemeinde, die vom Verfasser des Briefes besonders hervorgehoben werden. Der Kontext macht deutlich, daß mit dem Absehen von der Person nicht Gleichmacherei gemeint, sondern gerade die Beachtung der als gottgegeben betrachteten Unterschiede eingeschlossen ist. „Alles tatet ihr ohne Ansehen der Person und in den Satzungen wandeltet ihr; ihr wart Untertan euren Vorgesetzten und erwiest die geziemende Ehre den Alten bei euch; die Jungen hieltet ihr zu maßvoller und ehrbarer Gesinnung an; den Frauen gebotet ihr, alles mit untadeligem, ehrbarem und keuschem Gewissen zu tun und ihre Männer in geziemender Weise zu lieben" 1 4 . Das Absehen von der Person schließt also die Anerkenntnis von Unterschieden in der Behandlung und im Hinblick auf Rechte und Pflichten nicht aus. Wenn die Liebe frei sein muß von Tadel und „menschlicher Parteineigung" (προσκλισεως άνθρωπινης), können damit nur falsche Bindungen und Rücksichtnahmen gemeint sein 15 . Die Didache (Anfang 2. Jh.) greift in ihrer Zwei-Wege-Lehre deutlich auf jüdische Vorbilder zurück. Die Mahnung: „ D u sollst gerecht urteilen, nicht die Person ansehen, um bei einer Übertretung zurechtzuweisen", erinnert an alttestamentliche Forderungen 16 und dürfte nicht das Verhalten christlicher Richter, sondern die correctio fraterna allgemein oder Schiedssprüche über geringfügige Streitsachen innerhalb der Gemeinde zum Ziel haben 17 . Sie wird nahezu wörtlich wiederholt im Barnabasbrief in einem Kontext, der 11 1 Petr 1,17; vgl. Lohse (Fn. 1), S. 781. 12 Jak 2,1.9; vgl. Franz Mußner, Der Jakobusbrief = Herders Theol. Komm. NT 13,1 (Freiburg 19753), S. 116. ι 3 Jud 16. 14 1 Klem 1,3 (24 Fischer). 15 Ebd. 50,2 (86 Fischer). ι 6 4,3 (72 Wengst); vgl. Lev 19,15; Dtn 1,17; Sir 4,9. 17 Klaus Wengst, Didache (Apostellehre) = Schriften des Urchristentums 2 (Darmstadt 1984), S. 73; Jean-Paul Audet, La Didachè (Paris 1958), S. 328f.
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eindeutig nicht das Verhalten eines bestimmten Berufsstandes, eines Richters oder Gemeindeleiters, sondern jedes einzelnen Christen meint 1 8 . Aus Menschenfurcht bei Übertretungen bestimmter Gemeindemitglieder wegzuschauen, war besonders für die schwächeren und möglicherweise abhängigen Gemeindemitglieder eine Versuchung. Didache und Barnabasbrief halten an der Verantwortung aller für die Sittenzucht in der Gemeinde fest, wie sie im Matthäusevangelium, mit dem sich die Didache nachweislich berührt, vorgeschrieben wird 1 9 . Die Übereinstimmung zwischen Didache und Barnabasbrief ist nicht zufällig. Sie zeigt sich gehäuft in der Zwei-Wege-Lehre und läßt auf eine gemeinsame jüdische Vorlage schließen 20 . Noch an einer zweiten Stelle, bei der richtigen Behandlung der Sklaven, gehen beide Schriften zusammen. Die Didache schreibt: „ D u sollst deinem Sklaven oder deiner Magd, die auf denselben Gott hoffen, nicht gebieten, wenn du bitter bist, damit sie nicht etwa aufhören, den zu fürchten, der Gott über beiden ist! Denn er kommt nicht, um nach dem Ansehen der Person zu berufen (κατά πρόσωπον καλέσαι), sondern zu denen, die der Geist bereitet hat" 2 1 . Die Nähe der Aussage zu Eph 6, 9 ist unübersehbar; der Schriftvers läßt auch erkennen, daß der Ausdruck „Gott über beiden" (επ' άμφοτέροις) sich nicht auf Sklave und Sklavin, sondern auf Herren und Sklaven bezieht. Gott achtet nicht auf das Ansehen der Person, insofern beide im Geist zum Heil berufen sind; gesellschaftlich-soziale Folgen sind in dieser Berufung nicht eingeschlossen. Die Ungleichheit muß nicht behoben werden, solange sie nicht den Sklaven den Weg zum Heil verbaut durch die πικρία ihrer Herren. Die Herren müssen sich vielmehr so verhalten, daß sie von ihren Sklaven als Abbild Gottes (τύπος θεού) angesehen werden können 22 . Gott aber wird ebensowenig wie bei der Berufung der Menschen beim Gericht über die Welt auf die Person schauen; er richtet vielmehr άπροσωπολήμπτως23. Einen weiteren Aspekt des προσωπολημψία-Problems erwähnt der pseudoklementinische Brief De virginitate, wenn er mahnt, die Werke der Barmherzigkeit zu üben ohne Unterscheidung der Person und Beschämung des Wohltatenempfängers 24 . Polykarp von Smyrna (gest. 156) vertieft und konkretisiert diese Mahnung, indem er sie mit besonderer Eindringlichkeit an die Presbyter richtet. Sie sollen „barmherzig sein, mitleidig gegen alle, das Verirrte auf den rechten Weg bringen, alle Kranken besuchen, eine 18
19,4 (188 Wengst). Vgl. Mt 18,15/20; Wengst (Fn. 17), S. 23; É. Massaux, Influence de l'Évangile de saint Matthieu sur la littérature chrétienne avant saint Irénée = Univ. Cath. Lovaniensis Dissertationes 11,42 (Louvain/Gembloux 1950), S. 604/38. 20 Wengst (Fn. 17), S. 20/2; Audet (Fn. 17), S. 122/63. 21 4,10 (73/5 Wengst); vgl. Barnabasbrief 19,7 (188 Wengst). 22 Vgl. Barnabasbrief ebd. 23 Barnabasbrief 4,12 (146/8 Wengst). 24 1,12,8 (2,12 Funk). 19
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Witwe, ein Waisenkind oder einen Armen nicht vernachlässigen, sondern stets bedacht sein auf das, was gut ist vor Gott und den Menschen, sich fernhalten von allem Zorn, von Parteilichkeit (προσωπολημψια), von ungerechtem Urteil, fernbleiben von aller Geldgier, nicht rasch eingenommen werden gegen jemand, nicht schroff sein im Urteil, wissen, daß wir alle Schuldner der Sünde sind" 2 5 . In diesem frühen Brief kündigt sich bereits an, daß das „Absehen von der Person" besonders von den Klerikern gefordert werden muß und zwar in vielfältiger Hinsicht: im Strafen wie im Wohltaten-Erweisen, gegenüber Höhergestellten wie gegenüber Abhängigen. 2. Bei Irenäus beschränkt sich die Heranziehung des Grundsatzes von der nicht vom Ansehen der Person abhängigen Gerechtigkeit auf Gottes Tun selbst. Von einem Presbyter, der es von Apostelschülern gehört hatte, w i l l er vernommen haben, daß Gott kein acceptor personarum ist. Das beweist sein Verhalten gegenüber David und Salomon, über die er geziemende Strafen verhängte, als sie nicht mehr nach seinem Willen handelten 2 6 . Die Überlegungen des Irenäus stehen im größeren Zusammenhang mit Ausführungen über die Gerechtigkeit Gottes im Gericht. Lohn und Strafe werden von Gott allen Menschen nach Verdienst zuerkannt. Das gilt heilsgeschichtlich betrachtet auch für den Unterschied von Juden und Heiden. Petrus erfährt in dem Gesicht auf dem Dach des Hauses in Joppe, daß Gott im Gesetz zwar einen Unterschied macht zwischen reinen und unreinen Tieren, nicht aber zwischen erwählten und verworfenen Menschen, denn in jedem Volk ist ihm angenehm, wer Gott fürchtet und Gerechtigkeit übt. Zu solchen Heiden, die Gott durch das Blut seines Sohnes gereinigt hatte, gehört Kornelius, der - auch wenn er den Sohn nicht kannte - den Gott verehrt hatte, der ihm von Gesetz und Propheten verkündet worden war 2 7 . Gott sieht nicht auf die Person, das bedeutet für Irenäus ebenfalls, daß Gott nicht nur willens, sondern auch fähig ist, entsprechend zu handeln, weil er von den Menschen nicht getäuscht werden kann. Irenäus beruft sich dafür auf die kirchliche Gegenwart, indem er auf Presbyter hinweist, die ihren Begierden verfallen sind, Gott in ihrem Herzen nicht fürchten und den ihnen anvertrauten Vorrang mißbrauchen, weil sie in dem Wahn befangen sind: Niemand sieht uns. Sie werden überführt von dem Wort der Hl. Schrift, daß Gott non iudicat secundum gloriam, neque faciem attendit , sed in cor 28. 3. In der frühchristlichen apokryphen Literatur spielt das προσωπολημψ ία-Thema vor allem in der Epistula Apostolorum eine Rolle, einer im 25
6,1 (256 f. Fischer). Adversus haereses 4,27,1 (2,238f. Harvey). 27 Ebd. 3,12,7 (2,60f. Harvey). 28 Ebd. 4,26,3 (2,236f. Harvey). Irenäus zitiert keine der einschlägigen Schriftstellen deutlich erkennbar. Ernst Klebba, Des heiligen Irenäus fünf Bücher gegen die Häresien 2 = BKV I I (Kempten/München 1912), S. 84 denkt an 1 Kön 16,7. 26
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2. Jahrhundert entstandenen Schrift, die ein fiktives Gespräch des Auferstandenen mit den Aposteln zwischen Auferstehung und Himmelfahrt wiedergibt 29 . Beim ersten Vorkommen ist leider der Zusammenhang gestört, so daß nur die allgemeine Mahnung Christi an die Apostel erkennbar wird: „Haltet meine Gebote und tut, was ich euch sage, ohne Zögern und ohne Scheu und ohne Ansehen der Person" 30 . Konkreter wird eine zweite Stelle, an der über die Schrecken des Weltendes gehandelt wird. Im Anschluß an L k 21,10 f. wird von der Erschütterung der Natur, Kriegen sowie „Uneinigkeit, Streit und Bosheit des Handelns gegeneinander" gesprochen. Unter den Verfeindeten gibt es solche, „die an meinen Namen glauben und (trotzdem) der Bosheit folgen und eitle Lehren lehren. Und diesen wird man folgen und wird sich ihrem Reichtum, ihrer Verworfenheit, ihrer Trunksucht und ihrem Bestechungsgeschenk unterwerfen, und Ansehen der Person wird unter ihnen herrschen" 31 . Wie häufig in apokalyptisch ausgerichteten Schriften wird nicht ganz klar, welche Personengruppen angesprochen werdçn. Die, welche an den Namen Jesu glauben und doch eitle Lehren vortragen, könnten (gnostische) Irrlehrer sein, gegen die die Epistula Apostolorum insgesamt Front macht. Im folgenden wird ihnen dann aber nur noch Verworfenheit, Trunksucht und Verwendung von Bestechungsgeschenken vorgeworfen. Der folgende Abschnitt, der von denen spricht, „welche das Antlitz Gottes schauen wollen", erwähnt die Irrlehrer überhaupt nicht mehr. Hier wird allein verlangt, die Person der sündigen Reichen nicht zu berücksichtigen, sich vor verführerischen Menschen nicht zu scheuen, sondern sie freimütig zur Rede zu stellen. Ebenso werden die gerettet werden, „welche ihre Nächsten tadeln" 3 2 . Vielleicht w i l l der Text, der in den Aussagedetails nicht ganz klar ist, schlichten Christen die Angst vor Menschen nehmen, die sich noch in oder schon am Rande der Gemeinde bewegen und mit ihrer Lehre, ihrem Auftreten, nicht zuletzt mit ihren finanziellen Möglichkeiten einfache Gemeindemitglieder zu verunsichern vermögen. Der Hinweis auf die Reichen erscheint deutlicher an einer weiteren Stelle, an der die Apostel von Christus angewiesen werden, wenn sie predigen, wahr und gerecht zu lehren und niemandes Person anzusehen, besonders aber nicht die der Reichen, „denn jene tun nicht meine Gebote, sondern schwelgen in ihrem Reichtum" 3 3 . Sogar Christus selbst wird von seinem 29 Vgl. Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur (Berlin 1975), S. 683/7; Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung Bd. 1. Hrsg. von Wilhelm Schneemelcher (Tübingen 19875), S. 205/7. 30 24(35) (1,218). 31 37(48) (1,226). 32 38(49) (l,231f.). 33 46(57) Koptische Version (1,232).
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Vater geboten, beim Endgericht weder Scheu zu haben vor den Reichen, noch aus falscher Rücksichtnahme die Armen zu schonen, vielmehr „einen jeden gemäß seiner Sünde ewiger Bestrafung" zu übergeben 34 . Reichtum hat Einfluß und Ansehen im Gefolge, Armut bedeutet zugleich Abhängigkeit und Hilflosigkeit 35 . Es erfordert daher Mut, einen reichen Bruder in der Gemeinde zurechtzuweisen, wenn man ihn sündigen sieht. Die Epistula Apostolorum verlangt mit Nachdruck dieses allen konventionellen Gepflogenheiten entgegengesetzte Verhalten. „Ein bedürftiger Mensch, wenn er sieht den, der ihm Gutes erwiesen hat, sündigen, und er weist ihn nicht zurecht, so wird er gerichtet werden in einem schlimmen Gericht" 3 6 . Schon der Prophet hatte gewarnt: „Wehe den Begünstigern, die den Sünder um eines Bestechungsgeschenkes willen gerecht sprechen" 37 , und Christus bestätigt: „Seht ihr wie das Gericht ist? Wahrlich ich sage euch: An jenem Tage werde ich mich vor dem Reichen nicht scheuen und mit dem Armen kein Erbarmen haben" 3 8 . Jüngeren Datums, in ihrem Grundbestand aber wohl doch bis in die Mitte des 3. Jahrhunders zurückgehend, ist die Paulusapokalypse 39 , die entsprechend ihren ausführlichen Gerichtsschilderungen, in denen das „Personenansehen" naturgemäß einen gewichtigen Platz hat, dieses Thema aufgreift. In feierlicher Weise wird zum einen die unbestechliche Gerechtigkeit Gottes gepriesen, in drastischen Farben werden zum anderen die Strafen derjenigen geschildert, die es Gott nicht gleichgetan haben. Paulus hört beim Gericht. einer vor den Thron Gottes geleiteten Seele die Stimme von tausend mal tausend Engeln, Erzengeln, Cherubim und der vierundzwanzig Ältesten, die Hymnen singend Gott verherrlichen und bekennen: „Gerecht bist du, Herr, und gerecht sind deine Gerichte, und es ist kein Ansehen der Person bei dir, sondern du vergiltst einem jeden nach deinem Urteil" 4 0 . Gottes Gerechtigkeit behandelt alle Menschen gleich im Guten wie im Bösen. Einer schlechten Seele hält Gott vor: „Habe ich einen Unterschied auch nur eines Tages zwischen dir und einem Gerechten gesetzt? Ließ ich nicht die Sonne aufgehen über dir wie über einem Gerechten?" Wiederum bestätigen die Engel und Erzengel die Gerechtigkeit Gottes: „Gerecht ist das Gericht Gottes, und 34 26(37) (1,220). 35 Zur sozialgeschichtlichen Bedeutung von Armut und Reichtum betreffenden Termini vgl. Georg Schöllgen, Ecclesia sordida? Zur Frage der sozialen Schichtung frühchristlicher Gemeinden am Beispiel Karthagos zur Zeit Tertullians = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 12 (Münster 1984), S. 258 (mit Literaturhinweisen). 36 4 7(58) Koptische Version (1,153). 37 Vgl. Jes 5,23. 38 47(58) Koptische Version (1,153 f.). 39 Vgl. Ernst Dassmann, Paulus in der „Visio sancti Pauli" : Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für A. Stuiber = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 9 (Münster 1982), S. 120. 40 14 (2,545 Hennecke/Schneemelcher 3). 31 Festschrift P. Mikat
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es ist kein Ansehen der Person bei Gott; denn wer Barmherzigkeit geübt hat, dessen wird man sich erbarmen, und wer nicht barmherzig gewesen ist, dessen wird sich Gott auch nicht erbarmen" 41 . Unter denjenigen, die es Gott nicht gleichgetan, sich der Schwachen nicht erbarmt und ungerechtes Gericht gehalten haben, wird alter Tradition folgend als erster ein kirchlicher Amtsträger genannt. An einem der Straforte sieht Paulus einen Greis, den vier Strafengel bis an die Knie in einen feurigen Fluß hinablassen, mit Steinen bewerfen und nicht erlauben, daß er um Erbarmen bittet. Paulus erhält auf seine Frage nach der Person des Gequälten die Antwort: „Der, welchen du siehst, ist Bischof gewesen, aber er hat sein Bischofsamt nicht gut ausgeführt; er hat zwar einen großen Namen erhalten, aber er ist nicht eingetreten in die Heiligkeit dessen, der ihm den Namen gegeben hat..., weil er nicht gerechtes Gericht gehalten und sich der Witwen und Waisen nicht erbarmt h a t " 4 2 ! Aber auch nicht zum Klerus gehörende Gemeindemitglieder werden hart bestraft, wenn sie Waisen und Witwen und Arme geschädigt und nicht auf den Herrn gehofft haben 43 . Mit der Verletzung des Personengleichheitsprinzips scheint auch eine jüngere Passage der Apokalypse zu tun zu haben, die in eine monastische Themen behandelnde Schicht gehört. Paulus sieht weinende Männer, die vor dem Tor stehen, das in die heilige Stadt führt. Auf die Frage, wer sie seien, erhält Paulus die Antwort: „Das sind die, welche eifrig mit Fasten Tag und Nacht Verzicht geübt haben, aber sie haben ein Herz gehabt, das stolzer war als die übrigen Menschen, indem sie sich selbst rühmten und lobten und dem Nächsten nichts taten. Denn die einen grüßten sie freundlich, andern sagten sie nicht einmal: Sei gegrüßt! und welchem sie wollten, öffneten sie die Pforte des Klosters" 44 . Da nicht anzunehmen ist, daß die Ungleichbehandlung der Klosterbesucher willkürlich erfolgte, wird man annehmen können, daß die Auswahl nach bestimmten Personenkriterien geschah, auch wenn diese nicht angegeben werden. 4. Bei den Vätern und Kirchenschriftstellern des 3. Jahrhunderts spielt die acceptio oder acceptatio personarum, wie die προσωπολημψια im lateinischen Sprachgebrauch meist genannt wird, nur eine bescheidene Rolle und erscheint häufig unspezifisch eingebunden in Aufzählungen von Geboten und Verboten der christlichen disciplina. Tertullian erinnert einmal an den Zusammenstoß zwischen Petrus und Paulus in Antiochien und eine falsche Unterscheidung der Personen auf41 42 43 44
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(2,547). (2,555). (2,556). (2,551).
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grand der Beschneidung 45 . „Jeder einzelne nämlich hat das Leben durch seinen Glauben und Gott macht keine Ausnahme hinsichtlich der Personen (nec acceptio personarum apud Deum), weil nicht die bloßen Hörer des Wortes gerechtfertigt werden, sondern diejenigen, die es t u n " 4 6 . Tertullian kämpft an dieser Stelle für das Recht des Laien, in Notzeiten sein eigener Priester sein, Eucharistie feiern und taufen zu dürfen. Wenn der Laie in Ausnahmefällen gezwungen sein kann, priesterliche Verrichtungen auszuüben, muß er, um vorbereitet zu sein, auch die disciplina sacerdotis in seiner Lebensgestaltung beachten, denn Gott sieht nicht auf die Person an sich, sondern auf die Lebensweise eines jeden. Cyprian führt in den Testimonien ohne besondere Betonung Eph 6,9 an mit der Mahnung an die Herren, ihren Sklaven nicht zu drohen 47 , weil es bei Gott kein Ansehen der Person gibt, nachdem er zuvor die vorhergehenden Mahnungen des Epheserbriefes an Kinder, Väter und Sklaven zitiert hat 4 8 . Wenn er in bewegten Worten nach gut stoischer Weise gleiches Geschick und gleiche Natur aller Menschen schildert, zieht er daraus allerdings lediglich den Schluß, daß der Herr, der mit strengen Strafen von seinen Sklaven Gehorsam erzwingt, seinerseits die Herrschaft Gottes anzuerkennen hat 4 9 . Ebenfalls mehr beiläufig taucht das Motiv vom Ansehen der Person in einem Brief an Konfessoren auf, in dem der Bischof diese auffordert, Sorgfalt bei der Ausstellung von Empfehlungsbriefen für die vom Glauben abgefallenen lapsi zur Wiederaufnahme in die Gemeinde walten zu lassen; sie sollen alles, was man von ihnen verlangt, in gewissenhafter Erwägung maßvoll behandeln und diejenigen durchschauen und mäßigen, „die unter Ansehung der Person" mit ihren Vergünstigungen Gefälligkeiten erweisen oder sogar in verwerflicher Weise einen gewinnbringenden Handel treiben 50 . In einem Cyprian zugeschriebenen Brief ad Novatianum, der für die strenge Bußauffassung wirbt, wird noch einmal mit mehreren Schriftworten an das göttliche Gericht erinnert, bei dem es keine acceptio personarum gibt: cum praeceperit in Deuteronomio non accipiendam esse personam in iudicio 51. Auch die bekannte Ezechielstelle 18,4 wird herangezogen, um zu unterstreichen, daß jeder Mensch nur für seine persönlichen Sünden zur Rechenschaft gezogen werden wird. Im Westen klingt um die Jahrhundertwende ohne direkte Zitation, verbunden mit einem ganzen Katalog von Verboten, bei Lactantius (gest. nach 45 46 47 48 49 50 51
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Adversus Marcionem 5,3,7 (CCL 1,669). Exhort, cast. 7,4 (CCL 2,1025). Ad Quirinum 3,72 (CSEL 3,1,171). Ebd. 70f. (170). A d Demetrianum 8 (CSEL 3,1,356). Epistula 15,3 (CSEL 3,2,519f.). Epistula ad Novatianum 16 (CSEL 3,3,66f.).
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317) noch einmal die Forderung aus dem Epheserbrief nach Milde an. Der Gerechte „ist nicht rauh gegen Sohn und Sklaven, sondern bleibt eingedenk, daß auch er einen Vater und Herrn hat. Mit diesen verfährt er so, wie er will, daß man mit ihm verfahre" 52 . Im Osten bezeugen Klemens und Origenes das Weiterwirken der einschlägigen Schriftstellen. Klemens benutzt sie in soteriologischem sowie in ethischem Zusammenhang. Hinsichtlich der Frage, wem Christus beim Abstieg in den Hades das Evangelium brachte, ob Juden und Heiden gleicherweise, meint Klemens, wenn nur den Juden, „denen die durch den Heiland vermittelte volle Erkenntnis und der Glaube fehlten, so ist doch wohl klar, daß, weil Gott kein Ansehen der Person kennt, die Apostel wie hier, so auch dort den zur Bekehrung geeigneten Heiden die frohe Botschaft verkündigten" 53 . Denn Petrus erklärt in der Apostelgeschichte 10,34, daß Gott nicht die Person ansieht und ihm jeder angenehm ist, welcher Gerechtigkeit übt, ganz gleich aus welcher Nation, daß dies immer so war und sein Gutestun weder irgendwann angefangen hat noch jemals auf bestimmte Örtlichkeiten oder Menschen beschränkt gewesen ist 5 4 . Gegen die Gnostiker, die verschiedene Menschenklassen aufstellen, welche in unterschiedlicher Weise zum Heil berufen sein sollen, verteidigt Klemens die Verkündigung des Paulus, die „jede Bevorzugung (προσωπολημψία) irgend eines einzelnen ausschließt: ,Denn ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus; denn ihr alle, die ihr in Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Es gibt keinen Juden oder Griechen, es gibt keinen Sklaven oder Freien, es gibt nicht Mann oder Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus'" 55 . Natürlich zieht auch Klemens aus diesem soteriologischen Gleichheitspathos nicht die Konsequenz einer gesellschaftlichen Gleichstellung aller Menschen. Im Schlußkapitel des Paidagogos, in dem eine Zusammenfassung der christlichen Lebensregeln nach den Worten der Hl. Schrift gegeben wird 5 6 , begnügt er sich damit, die einschlägigen Stellen in Anlehnung an Dtn 1,17 und Eph 6,1/9 wiederzugeben. Das Deuteronomium gebietet in der Version des Klemens dem Richter: „ D u sollst beim Gericht nicht die Person ansehen; denn die Geschenke blenden die Augen der Sehenden und verderben gerechte Sprüche" 57 ; der Epheserbrief ermahnt sowohl Sklaven als Herren: „Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern in der Einfalt eures Herzens wie Christus, indem ihr euren Dienst von Herzen mit Lust und Liebe tut! Und ihr Herren, behandelt eure Sklaven (οίκέτας) 52 Epitome 59,3 (CSEL 19,744). 53 Stromata 6,46,4 (GCS 2,455). 54 Ebd. 6,63,5-64,1 (463). 55 Paidagogos 1,31,1, (GCS 1,108). 56 Ebd. 3,12 (282). 57 Ebd. 3,91,2 (286).
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freundlich! Unterlaßt das Drohen! Ihr wißt ja, daß ebenso über ihnen wie über euch der Herr im Himmel steht und daß bei ihm kein Ansehen der Person g i l t " 5 8 . Von falscher Rücksichtnahme auf die Person handelt Klemens in seiner Schrift „Welcher Reiche wird gerettet werden?", indem er, allerdings ohne Hinweis auf die bekannten Schriftworte, denjenigen, die den Reichen „Lobreden als Geschenke darbringen", nicht nur den Vorwurf der Schmeichelei, sondern auch der Gottlosigkeit und Arglist macht, denn sie erschweren es den durch ihren Reichtum ohnehin schon in ihrem Heil gefährdeten Gliedern der Gemeinde, zur Wahrheitserkenntnis zu gelangen und den Siegespreis des ewigen Lebens zu gewinnen 59 . Nur geringen Gebrauch macht Origenes von den Schriftworten über das Ansehen der Person, am ausgiebigsten zudem in einem Zusammenhang, der ungewöhnlich ist. Es geht um die Engel. Origenes erörtert die Frage, ob die Seele des Menschen mit dem Körper zusammen gebildet worden ist oder schon vorher da war. Wenn nämlich „die Seele des Menschen, die ja als menschliche niedriger steht, nicht als mit dem Körper zusammen gebildet... sich erweist, dann um so mehr die Seelen jener beseelten Wesen, die himmlisch heißen" 60 . Schriftworte, die von einer vorgeburtlichen Tätigkeit des Menschen sprechen, führen Origenes zu dem Schluß von der Präexistenz der Seele. „Es darf ja nicht scheinen, als erfülle Gott irgendwelche Menschen mit dem Heiligen Geist ohne Urteil und nicht nach ihrem Verdienst... Wie würden w i r dann nämlich dem Wort ausweichen können: ,Gibt es denn Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei fern! ' und: ,Gibt es ein Ansehen der Person vor Gott?' Das wäre nämlich die Folge einer Lehre, nach der die Seelen zusammen mit den Körpern ins Dasein treten" 6 1 . Auch die Engel als geistige Wesen haben ihre Ordnungen und Ämter nicht willkürlich erhalten, sondern nach Verdienst. „Freilich ist es nicht unsere Sache zu wissen und nachzufragen, welche Handlungen es waren, durch die sie ihre Stellung verdient haben. Es genügt, nur Gottes Unparteilichkeit (aequitatem) und Gerechtigkeit nachzuweisen, soviel zu wissen, daß nach dem Wort des Apostels Paulus ,kein Ansehen der Person bei Gott ist', daß er vielmehr alles nach Verdienst und Fortschritt der einzelnen Wesen ordnet" 6 2 . In seinem Römerbriefkommentar erörtert Origenes das Problem der acceptio personarum im Zusammenhang mit Röm 2,11. Die Stelle dient ihm als Beweis dafür, daß auch Heiden, die nicht an Christus glauben und nicht wiedergeboren worden sind aus dem Wasser und Heiligem Geist (Jo 3,3), 58
Ebd. 3,95,1 (288). 1,1/5 (GCS 3,159); über eine falsche Einschätzung der Armen klagt ebenso Methodius, de lepra 16,8 (GCS 27,472). 60 De principiis 1,7,4 (238f. Görgemanns / Karpp). 61 Ebd. 1,7,4 (240f.). 62 Ebd. 1,8,4 (258/61). 59
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dennoch gerettet werden können, wenn sie entsprechend ihrer natürlichen Gotteserkenntnis gut und gerecht handeln. Sollte jemand an dem Wort des Paulus: Non enim personarum acceptio est apud Deum, zweifeln, möge er auf Petrus hören, der in Apg 10,35 bestätigt, daß bei Gott aus jedem Volk acceptus est, qui facit voluntatem eius 63. Außerhalb einer theologischen Interpretation im strengen Sinn kommt die Bevorzugung von Personen als Gegenstand ethischer Erörterung kaum vor. Von den vulgares homines wird gesagt, daß sie in unzulässiger Weise respectum personae haben, während ein aufrechter Mann vor einer res mala sich nicht unterwirft, sondern sie zurückweist 64 . Schließlich erscheint ein Rückgriff auf Lev 19,15 in der Disputatio cum Heraclide 65 in einem Zusammenhang, in dem es um die Ordnung rechten Betens im Gottesdienst geht. Leider ist der Text stark verderbt, so daß die genaue Aussageabsicht des Origenes nur vermutet werden kann 6 6 . 5. Einen weit stärker praktisch-pastoralen Bezug bekommen die Mahnungen, auf die Bevorzugung bestimmter Personen zu verzichten, in Kirchenordnungen, die Anweisungen für das Zusammenleben in der Gemeinde, insbesondere auch für das Verhalten der kirchlichen Amtsträger geben. Aufschlußreich für das 3. Jahrhundert ist vor allem die Didaskalie mit ihren Vorschriften für den Bischof. Da das Bischofsamt in dieser Zeit dabei ist, seine Stellung zu stärken und neben Kult und Liturgie das Bußverfahren und die Caritas vollverantwortlich zu übernehmen, wachsen für den Bischof die Gefahren, falsche Rücksichten zu nehmen. Daher fordert die Didaskalie: Der Bischof soll „nicht parteiisch sein (non personarum acceptor) und sich nicht scheuen vor den Reichen und ihnen nicht in pflichtwidriger Weise gefällig sein; und die Armen soll er nicht verachten oder vernachlässigen und sich nicht über sie erheben" 67 . Sich die Unabhängigkeit gegenüber den an Vermögen und Einfluß Reichen zu bewahren, war für den Bischof ebenso notwendig wie schwierig, weil die in der Didaskalie gemeinten Reichen als ευεργέτες und patroni für die finanziellen Bedürfnisse der Gemeinde aufkamen 68 . 63 Comment, in ep. ad Rom. 2,9 (PG 14,888f.); Theresia M. Heither OSB, Translatio religionis. Die Paulusdeutung des Origenes in seinem Kommentar zum Römerbrief (Diss. Bonn 1988), S. 65 f. (erscheint demnächst im Druck). ®4 Exp. in Proverbia 19,6 (PL 17,208). 65 4 (Sources Chrét. 67,64): ού μή λήμψτ] πρόσωπον άνθρώπου ούδέ θαυμάσεις πρόσωπον δυνάστου. 66 Jean Scherer , Entretien d'Origène avec Héraclide = Sources Chrét. 67 (Paris 1960), S. 65, interpretiert als Herausgeber des Textes so: „L'idée est, semble-t-il, que les συνθηκαι doivent prévaloir sur toutes les opinions personnelles, fussent-elles celles de grands personnages, princes de l'Église, ou pieux laïques sans autorité, qui se mêlaient d'affaires ecclésiastiques." 67 2,5,1 (1,36 Funk); Übersetzung nach Hans Achelis I Johannes Flemming, Die ältesten Quellen des orientalischen Kirchenrechts. Bd. 2: Die Syrische Didaskalia = Texte und Untersuchungen N.F. 10 (Leipzig 1904), S. 15.
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In welchen inneren Zwiespalt ein schwacher Bischof kommen konnte, machen einige Sätze deutlich, die wie eine Fortsetzung der in Jak 2,2/4 geschilderten Szene anmuten 69 . Die Didaskalie regelt an dieser Stelle die Platzordnung bei der congregatio in ecclesiis sanctis sowie das Verhalten gegenüber auswärtigen Besuchern. Wenn während des Gottesdienstes einer kommt, „sei es ein Mann oder eine Frau, denen Ehre in der Welt gebührt, entweder aus dem Orte selbst oder aus einer andern Gemeinde, dann nimm du, ο Bischof, wenn du das Wort des Herrn verkündigst oder zuhörst oder vorliest, keine Rücksicht auf die Person und verlaß nicht den Dienst deines Wortes und bestimme ihnen den Platz, sondern bleibe ruhig wie du bist und unterbrich nicht dein Wort" 7 0 . Die Platzanweisung für die Honoratioren mögen die Brüder übernehmen. Anders ist es, „wenn ein armer Mann oder eine arme Frau kommt, entweder von deinen Gemeindemitgliedern oder aus einer anderen Gemeinde, und besonders wenn sie in hohen Jahren stehen, und es ist kein Platz da für solche, so schaffe ihnen Platz von ganzem Herzen, ο Bischof, selbst wenn du auf dem Boden sitzen müßtest, daß du nicht seist wie einer, der die Person ansieht, sondern daß bei Gott dein Dienst wohlgefällig sei" 7 1 . Der emotionale Nebenton in dieser Anweisung verrät eine innere Anteilnahme des Verfassers der Didaskalie an diesem vergleichsweise geringfügigen Sitzordnungsproblem, in dem sich jedoch das Selbstverständnis der heiligen Versammlung widerspiegelt. Besonders groß war die Gefahr, auf die Person zu schauen, im kirchlichen Bußverfahren, in dem der Bischof Strafen verhängen oder den (zeitweiligen) Ausschluß aus der kirchlichen Gemeinschaft verfügen mußte, um den Anspruch der Heiligkeit seiner Gemeinde aufrecht erhalten zu können. Daß es ihm schwerfallen konnte, gegen Personen einzuschreiten, die als Wohltäter der Gemeinde galten, wurde schon erwähnt 72 . Wird der Bischof angerufen, Parteienstreit, Zwistigkeiten und andere Rechtshändel zwischen einzelnen Gliedern der Gemeinde zu schlichten, muß er damit rechnen, daß er getäuscht w i r d oder - was noch schlimmer ist - durch eigenes Unrechtes Tun seine Unbefangenheit verloren hat. Die Didaskalie warnt: „Wenn es sich aber findet, daß die Anschuldigung des Verleumders falsch ist, und ihr Hirten samt den Diakonen die Lüge für Wahrheit nahmt, entweder wegen des Ansehens der Person oder um der Geschenke willen, die ihr empfingt..., so müßt ihr Rechenschaft geben am Tage des Herrn. Denn es steht geschrieben: 68 Auf die interessanten sozialgeschichtlichen Hintergründe, deren Kenntnis zum Verständnis der Didaskalie unabdingbar sind, kann hier nicht eingegangen werden. Sie werden von G. Schöllgen, Bonn, demnächst in einer ausführlichen Untersuchung vorgelegt werden. Erste Hinweise finden sich bereits bei Achelis (Fn. 67), S. 282/4. 69 Mußner (Fn. 12), S. 118f. 70 2,58,4 (1,168 Funk); Übersetzung nach Achelis / Flemming (Fn. 67), S. 69 f. 71 2,58,6 (1,168/70 Funk); Übersetzung nach Achelis / Flemming (Fn. 67), S. 70. 72 Vgl. o. S. 486.
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,Du sollst beim Gericht nicht die Person ansehn4, und weiterhin sagt die Schrift: ,Das Geschenk macht die Augen der Sehenden blind und kehrt um Worte mit geradem Sinn'" 7 3 . Mehrere Stellen aus Propheten und Evangelisten werden aufgeboten und immer wieder wird vor der Annahme von Geschenken - die nicht unbedingt der persönlichen Bereicherung gedient haben müssen, sondern auch der Gemeindearbeit zugute gekommen sein können - gewarnt, um dem Bischof eindringlich vor Augen zu führen, welchen Schaden die Gemeinde durch ungerechte Richter erleidet. Sie werden ihrer Strafe nicht entgehen, „weil ihr den Menschen zu Gefallen gewesen und von der Wahrheit Gottes abgewichen seid um des Ansehens der Person willen und wegen der häufigen Annahme nichtiger Geschenke, und ihr habt zerstreut die katholische Kirche, die geliebte Tochter Gottes des Herrn" 7 4 .
III. Wegen der bei einem Festschriftbeitrag notwendig gegebenen Umfangsbeschränkung muß hier darauf verzichtet werden, das in nachkonstantinischer Zeit mächtig anschwellende Material in extenso auszubreiten. Viele Väter übernehmen das Thema, wenn auch in unterschiedlicher Intensität 75 . Die gewandelte Situation ergibt neue Aufgaben: die Übertragung der Zivilgerichtsbarkeit an die Bischöfe durch Konstantin verlangt die besondere Beachtung richterlicher Neutralität 7 6 , die zunehmend wachsende Verantwortung des Bischofs für karitative und soziale Fürsorge nicht nur in der eigenen Gemeinde, sondern in der gesamten Stadt (Region), erfordert die Ausweitung des Prinzips der Gleichbeachtung auch auf Nichtchristen 77 . 73
2,42,1 (1,132 Funk); Übersetzung nach Achelis / Flemming (Fn. 67), S. 56. 2,43,5 (1,136 Funk); Übersetzung nach Achelis / Flemming (Fn. 67), S. 58 f. 75 Im Westen vgl. besonders Hieronymus, Comment, in Esaiam 2,5,23; 8,24,1/3; 17,61; 18,66f.; 25,56,1; Comment, in Hiezechielem 6,18,5/9; 13,44,22; Comment, in Amos 3,6,12/5; Comment, in Malachiam 1,7; 2,8f.; 3,2/6; 3,7; Comment, in Sophoniam 1,4/6; Comment, in Zachariam 2,9,1; Tractatus de Ps. 81,6; 140,4; Comment, in Matheum 3,20,23; ep. ad Titum 1,9; Reg. Monachorum 6; adv. Jovinianum 1,34; ep. 106,1. Im Osten vgl. besonders Johannes Chrysostomus, Horn, in Acta Apost. 23, 55 (PG 60, 179f.); Panégyriques de S. Paul 4,21 (Sources Chrét. 300,228); 7,3 (300); Horn, in ep. ad Romanos 5,32; Comment, in ep. ad Galatas 17,61 (PG 61,637); Horn. 22,6 in ep. ad Ephesios (PG 62,157); Horn, in ep. ad Colossenses 10,4 (PG 62,368); A. Ehrhardt, Constantin d. Gr. Religionspolitik und Gesetzgebung, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, RA 72 (1955), 140/3. 76 Vgl. Isidor, Synonorum lib. 2,82 (PL 83,863): „Nullum contra veritatem defendas; dum judicas, nullius personae affectu deflectaris a vero. Pauper an dives sit, causam perspice, non personam. In omnibus veritatem custodi, nulla ambitione vel pretio movearis. Sperne etiam munus, ne per id justitia corrumpatur; munera semper veritatem praevaricant. Cito enim violatur auro justitia, cito corrumpitur munere; de justo judicio temporalia lucra non appetas, pro justitia nullum saeculi praemium quaeras. Justitiam pro sola aeterna remuneratione distribue". 77 Vgl. Valerianus, hom. 7,4 (PL 52,715): „Quid autem tibi est opus quaerere utrum Christianus an Iudaeus, utrum haereticus an gentilis, utrum Romanus an barbarus, 74
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Eine besondere Pflege macht der Verzicht auf das Ansehen der Person im monastischen Bereich nötig 7 8 . Trotz solch neuer Akzentuierungen sind wichtige Aspekte des Themas in den bisher ausführlich vorgestellten frühchristlichen Schriften der ersten drei Jahrhunderte aber bereits enthalten, so daß es gerechtfertigt erscheint, mit einigen zusammenfassenden und wertenden Bemerkungen zu schließen. Die Mahnung, den Glauben an Christus frei zu halten von προσωπολημψία 7 9 , zieht sich wie ein roter Faden durch die frühchristliche Literatur. Der Grund für ihre Häufigkeit ist an erster Stelle die offenbarungsmäßig begründete Einsicht, daß für Gott von Natur aus, d.h. im Bereich der Schöpfungsordnung, alle Menschen gleich sind und es bei ihm kein Ansehen der Person gibt; Unterschiede ergeben sich für Gott erst im Sittlichen, im Hinblick auf Tugend und Sünde, für die die Menschen verantwortlich sind. Wenn Gott belohnt und bestraft, dann sind sie der alleinige Maßstab. Die von Gott garantierte prinzipielle Gleichwertigkeit der Menschen hätte eigentlich eine Gleichheit aller vor dem Gesetz sowie im Hinblick auf Besitz und Freiheitsrechte zur Folge haben müssen. In Wirklichkeit gab es jedoch nicht nur de facto Unterschiede zwischen Mann und Frau, Freien und Sklaven, Römern und Barbaren, Bürgern und Fremden, Reichen und Armen, sondern auch in der theoretischen Reflexion wurde mehr oder weniger ausführlich begründet, daß eine wesensmäßige Gleichheit aller Menschen nicht angenommen werden muß, und vor allem im Bereich der distributiven Gerechtigkeit aequitas nicht gleichbedeutend mit iustitia ist 8 0 . Auch frühutrum liber an servus sit ille qui postulat?"; ibid. hom. 8,2 (717); Concilium Matisconense I I (585) can. 13: „Volumus igitur quod episcopalis domus, quae ad hoc deo f avente insti tuta est ut sine personarum acceptione omnes in hospitalitate recipiat.. 78 Vgl. Regula Benedicti 2,16/21 (65 Steidle): „Er [Abt] soll im Kloster niemand bevorzugen. Er soll den einen nicht mehr lieben als den anderen, außer er fände an ihm mehr Tugend und Gehorsam. Der Freigeborene soll keinen Vorzug vor dem haben, der als Sklave eingetreten ist, außer es läge sonst ein vernünftiger Grund vor. Wenn der Abt es aber aus Gründen der Gerechtigkeit für angebracht hält, kann er auch sonst jedem einen höheren Rang zuweisen. Im übrigen behalte jeder den Platz, der ihm zukommt; denn ob Sklave oder Freigeborener: In Christus sind wir alle eins und tragen unter dem einen Herrn die gleiche Last des Soldaten- und Sklavendienstes; bei Gott gibt es ja kein Ansehen der Person. Er bevorzugt uns nur dann, wenn unsere Taten besser sind als die der anderen und wenn wir demütig sind." Vgl. Liber Orsiesii 9. u. 16 (Heinrich Bacht, Das Vermächtnis des Ursprungs [Würzburg 1972], S. 77.93); dazu ders., Studien zum „Liber Orsiesii": Hist. Jahrb. 77 (1958), 112f.; Reg. IV Patr. 5,11 f. (Sources Chrét. 297,204). 79 Vgl. Jak. 2,1; o. S. 477. 80 Vgl. zu diesem wichtigen Problem, das hier auch nicht andeutungsweise ausgeführt werden kann, für den Zeitraum der Spätantike die wichtigen Arbeiten von Klaus Thraede, Art. Gleichheit: Reallexikon für Antike und Christentum 11 (Stuttgart 1981), Sp. 122/64, bes. 161/3; ders., Art. Frau: ebd. 8 (1972), Sp. 197/269; Erich Fascher, Art. Fremder: ebd., Sp. 306/47; Albrecht Dihle, Art. Gerechtigkeit: ebd. 10 (1978), Sp. 233/360; Rudolf Herzog, Art. Aequitas: ebd. 1 (1950), Sp. 141/4; Ilona Opelt / Wolfgang Speyer, Art. Barbar: Jahrbuch für Antike und Christentum 10 (1967), S. 251/90; dazu Giorgio del Vecchio, Gleichheit und Ungleichheit im Verhält-
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christliche Theologen haben - bei allem Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten und Mißstände vornehmlich durch individualethische Mahnungen und tatkräftige Hilfe - die Gleichheit aller Menschen nicht konsequent durchgehalten und Frauen, Sklaven oder Barbaren als Menschen niederer Art betrachtet 81 . Zwar wurde die Ungleichheit vor allem im Hinblick auf die massiven Unterschiede an Besitz, ζ. T. auch zwischen den Geschlechtern, auf den Sündenfall und seine Folgen zurückgeführt, am Rande lauerte jedoch immer die Gefahr, die Ungleichheit bis in die Schöpfungsordnung selbst zurückreichen zu lassen. Um so dringlicher wurde das Bemühen, die Gleichheit aller Menschen ohne irgendein Ansehen der Person im Bereich der Heilsordnung zu bekräftigen. Die Erlösung Christi verheißt das Heil allen Menschen ohne Unterschied; soteriologische Differenzierungen sind in keiner Weise ontologisch, sondern allein ethisch begründet. Entsprechend breit und durchgehend wird die Chancengleichheit bei der Erlösungshoffnung verkündet und gegen alle heidnischen, jüdischen und gnostisch-häretischen Einwände verteidigt. Eine Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes in die soziale Wirklichkeit des gesellschaftlichen Alltags hat lange Zeit auf sich warten lassen. Sklavenbefreiung, Gleichberechtigung der Frau, Asylrecht, Sozialfürsorge als gesellschaftliche Pflicht haben trotz der von der frühchristlichen Verkündigung ausgegangenen Impulse lange Zeit bis zu annäherungsweiser Verwirklichung benötigt. Immer noch vorhandene Defizite sind bis auf den heutigen Tag unübersehbar. Auch im innerkirchlichen Bereich dürften die Auswirkungen nur gering gewesen sein. Die gut gemeinten Mahnungen des Jakobusbriefes oder der Didaskalie, Reichen und Armen gleiche Plätze im Gottesdienst anzuweisen 82 , ließen sich auf die Dauer nicht durchhalten. Alle empfangen die gleiche Gnade in den gleichen Sakramenten, aber in durchaus gestuftem liturgischen Gepränge. Allein auf dem Sektor der bischöflichen Hirtengewalt bleibt die Forderung, das Ansehen der Person unberücksichtigt zu lassen, erhalten. Aber die Mahnung, mit den Sündern unbestechlich ins Gericht zu gehen und den Mächtigen nicht weniger zu tadeln als den Schwachen, grenzt schon wieder an den soteriologischen Bereich, bei dem es um die Rettung des Menschen geht. nis zur Gerechtigkeit: Festschrift Leibholz 1 (1966), S. 609/24 (mit weiterführender Literatur ebd. S. 624). 81 Vgl. Josef Vogt, Kulturwelt und Barbaren. Zum Menschheitsbild der spätantiken Gesellschaft = Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- u. sozialwissenschaftl. Klasse 1 (Wiesbaden 1967), S. 35/41.65; Richard Klein, Die frühe Kirche und die Sklaverei: Römische Quartalschrift 80 (1985), 259/83; Klaus Thraede, Ärger mit der Freiheit: G. Scharffenort / K. Thraede, Freunde in Christus werden = Kennzeichen 1 (Gelnhausen 1977), S. 134/41. 82 Vgl. o. S. 477; 487.
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Auf das Ansehen der Person zu verzichten und alle Menschen gleich zu achten und zu behandeln, ist in vollkommener Weise nur der schöpferischen Allmacht Gottes möglich. Daß Gott nicht auf das Ansehen der Person achtet, hat seit jeher den Gläubigen Zuversicht geschenkt. Menschen können im irdischen Bereich nur in sehr unvollkommener Weise Gottes Nachahmer sein.
Strafrecht in Staat und Kirche Einige vergleichende Beobachtungen* Von Albin Eser Dem verehrten Lehrer, dem man vor einem Viertel] ahrhundert im Zivilund Kirchenrecht assistiert hatte, einen Jubiläumsbeitrag aus dem nunmehr eigenen strafrechtlichen Forschungsbereich zu widmen und dazu einen Vergleich mit dem neuen Kirchenrecht anzustellen - dieser reizvolle Gedanke ward alsbald irritiert durch Gewahrwerden des eindringlichen Hinweises von Papst Paul VI., daß es nach dem II. Vatikanischen Konzil „unmöglich sei, Studien des kanonischen Rechtes ohne ernsthafte theologische Bildung zu betreiben". 1 Wenn es daher für den säkularen Strafrechtslehrer einer Legitimation für seine Annäherung an das ius sacrum bedürfte, so möchte er sich beeilen zu versichern, daß es hier nicht um eine Studie des kanonischen Rechts selbst gehen soll, geschweige um einen Einbruchsversuch weltlichen Rechtsdenkens, wie es noch vor wenigen Jahren der angesehene Kanonist Klaus Mörsdorf glaubte abwehren zu müssen.2 Vielmehr soll es hier allein darum gehen, anhand einiger Grundfragen, vor denen sich kirchliches wie weltliches Strafrecht gleichermaßen gestellt sehen, die Andersartigkeit der jeweiligen Lösungsansätze zu beleuchten, ohne freilich dabei Gemeinsamkeiten - da ohnehin oft Produkte wechselseitiger Beeinflussung - zu übersehen. Ein solcher Vergleich liegt einmal deshalb nahe, weil in der großen Codexrevision, die 1983 zur Verkündung eines neuen Codex Iuris Canonici führte und die auch in weltlichen Rechtskreisen nicht vollkommen unbemerkt geblieben ist, das Strafrecht sich gegenüber seinem Vorgänger aus dem Jahre 1917 in wesentlich neuem Kleid präsentiert. 3 Zum anderen lassen es auch die vielfältigen Beiträge des Jubilars zur Durchdringung des „Verhältnisses von Kirche und Staat in der Bundesrepublik" 4 angezeigt erscheinen, * Für seine Mitarbeit an diesem Beitrag bin ich Herrn Assessor Axel Reeg zu besonderem Dank verpflichtet. 1 Zitiert nach Klaus MörsdorfLehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, III. Band (Prozeß- und Strafrecht), 11. Aufl., Paderborn/München/ Wien/Zürich 1979, S. 6. 2 Mörsdorf ebd. 3 Nachfolgende Hinweise auf den CIC beziehen sich auf die im Auftrag der Deutschen und der Berliner Bischofskonferenz herausgegebene lateinisch-deutsche Ausgabe: Codex Iuris Canonici - Codex des kanonischen Rechts, 2. Aufl., Kevelaer 1984.
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über die übliche Beschränkung auf das öffentliche und Staatskirchenrecht hinaus auch auf dem Gebiet des Strafrechts gewisse Berührungspunkte zwischen kirchlichem und weltlichem Recht miteinander zu vergleichen. Dies soll zunächst im Hinblick auf die grundsätzliche Legitimation von staatlichem und kirchlichem S traf recht geschehen (I), um dann mit dem Schuldprinzip (II) und dem Gesetzlichkeitsprinzip (III) zwei Grundprobleme herauszugreifen, die für beide Rechtssphären gleichermaßen wichtig sind. Auf weitere vergleichswürdige Punkte wird im abschließenden Ausblick hinzuweisen sein (IV). I. Das Strafrecht unter Legitimationsdruck: ohne Widerhall im kanonischen Recht? Angesichts der allgemeinen Legitimationskrise, der sich das staatliche Straf recht heute weithin ausgesetzt sieht, 5 gibt es auch für das kirchliche Strafrecht keine fundamentalere Frage als die nach der Rechtfertigung der Existenz einer solchen Zwangsgewalt überhaupt, wie also das ius puniendi zu begründen sei. Am einfachsten kann man es sich natürlich dadurch machen, daß man dieses Recht zu strafen - wie es häufig geschieht - schlicht als schon bestehend voraussetzt oder ohne weitere Hinterfragung als ontisch vorgegeben ansieht. Während sich so das geltende deutsche Strafgesetzbuch jeder Äußerung über seine Existenzberechtigung enthält, erklärt es das den „ Strafbestimmungen in der Kirche" gewidmete Buch V I des CIC von 1983 einleitend als „das angeborene und eigene Recht der Kirche, straffällig gewordene Gläubige durch Strafmittel zurückzuweisen" (Can. 1311).6 Auch damit ist ein solches Strafrecht der Kirche allerdings nur behauptet, aber noch nicht materiell begründet. Eine solche sachliche Rechtfertigung ist freilich kein leichtes Unterfangen, weswegen sich die kanonistische Literatur denn auch häufig darauf beschränkt, die Existenz des kirchlichen ius puniendi affir4 Vgl. nur Paul Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik, Berlin 1964. 5 Vgl. Albin Eser, zu den Stichwörtern „Strafe" und „Strafrecht", in: Staatslexikon (hrsg. von der Görres-Gesellschaft), Bd. 5, 7. Aufl., Freiburg (im Druck), ferner unten zu Fn. 64. 6 Buch V I des CIC umfaßt mit seinen Cann. 1311 - 1399 das materielle kirchliche Straf recht, während der „Strafprozeß" in Teil IV des Buches V I I über die „Prozesse" geregelt ist (Cann. 1717 - 1728). Allgemeine Überblicke über das derzeitige Strafrecht finden sich namentlich bei Richard A. Strigi, in: Joseph Listi / Hubert Müller / Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, S. 921 - 950; Hugo Schwendenwein, Das neue Kirchenrecht. Gesamtdarstellung, Graz/ Wien/Köln 1983, S. 447 - 469, und Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht, Heidelberg 1986, S. 389 - 408. Vgl. zu diesen Darstellungen auch den Literaturbericht von Heribert Waider, Kirchliches Straf recht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 98 (1986), 145 - 177 (163 ff.).
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mativ festzustellen: So wird die kirchliche Strafgewalt als naturgegeben, 7 als unmittelbar von Jesus Christus der Kirche verliehen, 8 als ihr wesensmäßig zukommend, 9 als zur Struktur kirchlicher Verfassung gehörend 10 oder als nicht einmal einer Erörterung bedürfend 11 beschrieben. Dennoch wäre es falsch, daraus den Schluß ziehen zu wollen, als ob die Existenzberechtigung des kirchlichen Strafrechts immer unangefochten gewesen sei. Vielmehr wurde diese im Laufe der Geschichte mehrfach bestritten 12 , wovon nicht zuletzt zahlreiche Ketzerschicksale ein beredtes Zeugnis ablegen. 13 Stellvertretend für andere 14 sei Marsilius von Padua (1275/80 - 1342/43) genannt, ein auch von Paul Mikat in Leben und Werk beschriebener oberitalienischer Philosoph und Theologe. 15 Eines der Kernstücke seines Schaffens ist der Defensor pacts , mit dem er eine umfassende Rechts- und Staatslehre entwickelte, die ein normatives Naturrecht verwarf und die kirchliche Strafgewalt wie auch überhaupt ein von der Kirche gesetztes kanonisches Recht ablehnte und nur eine demokratisch legitimierte Kirche akzeptierte. Diese Anschauungen wurden vom kirchlichen Lehramt als häretisch verworfen, wie auch diejenigen der „Irrlehrer der Aufklärungszeit". 16 In neuerer Zeit hat nur noch Joseph Klein im Jahre 1946 eine K r i t i k des kirchlichen ius puniendi unternommen, sich dabei allerdings auf den Adressatenkreis kirchlichen Kriminalrechts beschränkt und behauptet, die Kirche könne mit Strafen nur gegen die sich zu ihr Bekennenden, also die kirchentreuen christifideles und nicht gegen alle ihr Untertanen vorgehen, 17 wie dies die Kirche noch im CIC von 1917 für alle „sibi subditi" in Anspruch nahm. 18 Doch schon diese vergleichsweise bescheidene Forderung nach bloßer Reduzierung des Kreises der dem kirchlichem Straf7
Oskar Kühn / Joseph Weier, Kirchenrecht, Heidelberg 1986, S. 104. Mörsdorf (Fn. 1), S. 306. 9 Strigi (Fn. 6), S. 928. 10 Benno höbmann, Die Reform der Struktur des kirchlichen Strafrechts, in: Karl Siepen / Joseph Weitzel / Paul Wirth, Ecclesia et ius, Festgabe für Audomar Scheuermann zum 60. Geburtstag, München/Paderborn/Wien 1968, S. 707 - 725 (722). 11 Vgl. Alexander Dordett, Das kirchliche Prozeß- und Strafrecht in der heutigen Gesellschaftsordnung, in: Theo Mayer-Maly / Albert Nowak / Theodor Tomandl, Festschrift für Hans Schmitz zum 70. Geburtstag, Wien/München 1967, Band I, S. 427 - 445 (437). 12 Vgl. Strigi (Fn. 6), S. 928. 13 Vgl. dazu Renate Riemeck, Verstoßen, Verfemt, Verbrannt. Zwölf Ketzerschicksale aus acht Jahrhunderten, Stuttgart 1986. 14 So namentlich Johannes de Janduno, der 1415 als Ketzer in Konstanz verbrannte Jan Hus, ferner John Wycliff, Pasquier Quesnel. Zu allen vgl. die Ausführungen in: Josef Höfer / Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 2. Aufl., Freiburg 1957 - 1968, Sonderausgabe Freiburg 1986. 15 Paul Mikat, Marsilius von Padua, in LThK (Fn. 14). 16 Mörsdorf (Fn. 1), S. 307 m.w.N. 17 Joseph Klein, Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, Tübingen 1947 (Recht und Staat 130), S. 25 et passim. is Vgl. Mörsdorf (Fn. 1), S. 355, 365. 8
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recht Unterworfenen löste entrüstete K r i t i k in Kirchenkreisen aus und führte 1950 zur Indizierung der Schrift. 19 So gesehen kann man es denn in der Tat als eine „bemerkenswerte Einschränkung" ihres Strafanspruchs bezeichnen, wenn die Kirche in zumindest teilweiser Verwirklichung des Kleinschen Postulats innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit bereit war, die Geltung des kanonischen Straf rechts nur mehr auf die „baptizati in Ecclesia catholica vel in eandem recepti" zu erstrecken. 20 In neuer Zeit hingegen wird die grundsätzliche Forderung einer Abschaffung kirchlicher Strafen - soweit ersichtlich - nicht mehr erhoben. Das mag daran liegen, daß vom kirchlichen Strafrecht - von spektakulären Fällen wie dem der mit Exkommunikation verbundenen Bischofsweihe durch Erzbischof Lefebvre einmal abgesehen - in der weltlichen Öffentlichkeit kaum Notiz genommen wird, weil es - in auffälligem Kontrast zu dem vor allem im Islam wiedererstarkenden religionsrechtlichen Fundamentalismus - als „weithin obsolet", 21 als „praktisch tot für die Laien", 2 2 „auf die geistliche Wirkung reduziert" 2 3 angesehen wird und dementsprechend auch in Gesamtdarstellungen des Kirchenrechts nur eine auffallend stiefmütterliche Behandlung erfährt. 24 Doch selbst dort, wo das kanonische Strafrecht am schärfsten kritisiert wird - wie etwa von Zapp, wenn er von „einer Belastung für die Kanonisten und deren Studenten", vor allem aber von „einer Qual für die Beichtväter" sowie davon spricht, daß es im Bewußtsein der Gläubigen „so gut wie keinen Raum" habe - , selbst dort wird das Recht der Kirche auf „ihr S traf recht" nicht grundsätzlich bestritten. 25 Das mag auf den ersten Blick erstaunen, fällt es doch nicht leicht, eine tragfähige materielle Legitimation für die 19 Klein im Nachwort zu seiner in Joseph Klein, Skandalon um das Wesen des Katholizismus, Tübingen 1958, S. 88 - 114, erneut abgedruckten Schrift. Zur K r i t i k siehe auch Mörsdorf (Fn. 1), S. 307. 20 Strigi (Fn. 6), S. 928. 21 So die Feststellung von Johannes Neumann, Grundriß des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981, S. 128. 22 Klaus Mörsdorf, Grundfragen einer Reform des kanonischen Rechtes, in: Münchener Theologische Zeitschrift (MThZ) 15 (1964), 1 - 16 (14). 23 Alexander Dordett, Erwägungen zur Reform des kirchlichen Straf rechts, in: Ulrich Mosiek / Hartmut Zapp, lus et salus animarum. Festschrift für Bernhard Panzram, Freiburg/Br. 1972, S. 307 - 325 (309). 24 Denn nachdem schon die Strafbestimmungen des CIC von 1983 ohnedies nur noch ein Drittel des ihnen im CIC von 1917 eingeräumten Umfangs einnehmen (Puza [Fn. 6], S. 390), sind beispielsweise von den über 1100 Textseiten des Handbuchs von Listi / Müller / Schmitz (Fn. 6)L nur 27 Seiten dem Strafrecht gewidmet. Vgl. dazu auch den Literaturbericht von Waider (Fn. 6), 166f. 25 Hartmut Zapp, Zur kanonischen Strafrechtsreform nach dem Entwurf der Kodexkommission, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht (ÖAKR) 27 (1976), 36 - 59 (37 bzw. 39). Vgl. etwa auch die von der Legitimation durch „göttlichen Auftrag" ausgehenden Überlegungen der ausgesprochen kritischen Studie von Wigand Siebel, Die Ausübung der Macht in der heutigen Kirche, in: Concilium 24 (198 8),196202 (197 f.).
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strafrechtliche Ahndung kirchlicher Vergehen zu finden: Denn - ganz abgesehen von der neutestamentlichen Warnung „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet" (Matthäus 7,1) - steht der mit kirchlichen Strafen regelmäßig verbundene Entzug geistlicher Güter nicht in gewissem Widerspruch zum Charakter der Kirche als Heilsgemeinschaft, die dem sündigen Mitglied eigentlich gerade besonderen Beistand bieten müßte, anstatt es von diesen Hilfsmöglichkeiten der Gemeinschaft auszuschließen? Und dürften Kriminalsanktionen im Hinblick auf das Ideal des salus animarum nicht sogar eher kontraproduktiv sein?26 Innerkirchlich betrachtet, nämlich in der „Logik der Kirche" gedacht, läßt sich dieser Widerspruch aber vielleicht doch lösen: Kirchliche Strafe steht im Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Heilsgemeinschaft und der Wirklichkeit der Sünde, zwischen dem Anspruch einer Jesus Christus würdigen Lebensführung und der Unmöglichkeit der Erfüllung dieses Anspruchs. 27 Sie wird zum Mittel, zur Hilfe bei der Erfüllung des Anspruchs, indem sie dem Straffälligen in Form der Beugestrafe nachhaltig das Fehlen der zum Seelenheil führenden Sakramente vor Augen führt, um ihn so zur Reue zu bewegen, die über den Dispens die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft ermöglicht und dem reuigen Sünder wieder den Genuß aller kirchlichen Heilmittel verschafft. Zweck einer so verstandenen Strafgewalt ist gleichsam die „Resozialisierung des Sünders" im Sinne seiner Wiedereingliederung in die kirchliche Gemeinschaft - systemimmanent gesehen also ein durchaus konsequenter Ansatz, wie er ja auch staatlichem S traf recht zugrundegelegt wird. 2 8 In einem weiteren Rahmen gesehen stößt dieser Ansatz freilich - wie auch im Falle der staatlichen Strafe - an seine Grenzen: „Die , S träfe 4 für den Häretiker ist von seinem Standpunkt aus keine Strafe, sondern eine Konsequenz, die er selbst ziehen muß": 2 9 Vertritt er eine Irrlehre, so muß ihm klar sein, daß ihn dies die Gemeinschaft kostet (Can. 1364 § 1 CIC 1983). Entscheidet er sich gleichwohl für ein Festhalten an seiner Lehre, so geht die Strafe ins Leere, nicht anders als bei dem weltlichen Straftäter, der sich aus Überzeugung nicht in das hierzulande herrschende Wertesystem (re)sozialisieren lassen will. Das - in dieser Form wohl eher seltene - Scheitern eines so verstandenen Heilsauftrags der Strafe spricht indes nach kirchlichem Selbstverständnis nicht „gegen eine grundsätzliche Eignung von Straf maßnahmen als Mittel zur Herbeiführung erzieherisch positiver Wirkungen". 3 0 Strafe wird in der 26 Vgl. den entsprechenden, bei Heribert Schauf, Einführung in das kirchliche Straf recht, Aachen 1952, S. 8, referierten Einwand. 27 Ähnlich Strigi (Fn. 6), S. 923. 28 Vgl. § 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz. 29 Klein (Fn. 17), S. 26.
32 Festschrift P. Mikat
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K i r c h e allenfalls gleichsam auf einer Meta-Ebene m i t dem E r w e i s einer W o h l t a t f ü r die arme Seele des Sünders begründet, gegenüber der die - auch i m w e l t l i c h e n Strafrecht w e n n g l e i c h m i t etwas anderen A k z e n t e n vertreten e n 3 1 - Strafzwecke der Vergeltung u n d P r ä v e n t i o n dominieren: quia peccatum
est, et punitur,
ne peccetur,
32
punitur,
Diese beiden F u n k t i o n e n k i r c h -
l i c h e r Strafe w e r d e n n i c h t zuletzt an der Benennung der beiden Strafarten des Codex I u r i s C a n o n i c i d e u t l i c h : den Beugestrafen, i h r e r heilenden W i r k u n g (Medizinal-Strafen) V o r d e r g r u n d steht, u n d den Sühnestrafen,
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33
bei denen neben
die (Speziai-) P r ä v e n t i o n i m deren „ p r i m ä r e r Z w e c k die V e r -
g e l t u n g einer S t r a f t a t " i s t . 3 5 Dieser Vergeltungszweck der letzteren Straf art w i r d auch n a c h i h r e r U m e t i k e t t i e r u n g v o n poenae vindicativae expiatoriae
37
36
i n poenae
i n der kanonistischen L i t e r a t u r g e m e i n h i n v e r t r e t e n , 3 8 so daß
insoweit eine andere G e w i c h t u n g der B e w e r t u n g der Strafzwecke als n a c h a k t u e l l e r w e l t l i c h e r Strafrechtsauffassung festzustellen ist, da d o r t jedenfalls v o r w i e g e n d die p r ä v e n t i v e n Strafzwecke als w e s e n t l i c h angesehen werden.39 Angesichts der K r i s e des Resozialisierungsgedankens 4 0 i m
weltlichen
Strafrecht d r ä n g t sich die an dieser Stelle n i c h t lösbare Frage auf, ob Strafe 30
Strigi (Fn. 6), S. 975. Näher zu den im weltlichen S traf recht vertretenen Straftheorien siehe Eser (Fn. 5), Stichwort „Strafe". 32 Vgl. etwa Strigi (Fn. 6), S. 924 f. 33 Titel IV, Kapitel I Cann. 1331 - 1335 CIC. 34 Titel IV, Kapitel I I Cann. 1336 - 1338 CIC. 35 So Norbert Ruf, Das Recht der katholischen Kirche nach dem neuen Codex Iuris Canonici, 3. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1984, S. 384. 36 So noch Can. 2286 CIC von 1917. 37 Siehe Fn. 34. 38 Neben Ruf (Fn. 35) etwa Strigi (Fn. 6), S. 924 et passim; Schwendenwein (Fn. 6), S. 457. 39 Vgl. etwa Claus Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, Berlin 1972, S. 1 - 31 (5 et passim), abgedruckt auch in Juristische Schulung 1966, S. 377 - 387, und Eser (Fn. 5), Stichwort „Strafe". 40 Siehe u. a. Albin Eser, Resozialisierung in der Krise?, in: Jürgen Baumann / Klaus Tiedemann (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Rechts. Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag. Tübingen 1974, S. 505 - 518; Günther Kaiser, Resozialisierung und Zeitgeist, in: Rüdiger Herren / Diethelm Kienapfel / Heinz Müller-Dietz (Hrsg.), Kultur - Kriminalität - Straf recht. Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag am 7. 10. 1977, Berlin 1977, S. 359 - 372; Günther Kaiser / Frieder Dünkel / Rüdiger Ortmann, Die sozialtherapeutische Anstalt - das Ende einer Reform?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 15 (1982), 198 - 207; Frieder Dünkel, Gegenwärtige kriminalpolitische Strömungen zur (sozialtherapeutischen) Behandlung im Strafvollzug, in: Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Sozialtherapie als kriminalpolitische Aufgabe, Bonn 1981, S. 27 - 52 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Ronald H. Preston, Social theology and penal theory and practice: the collapse of the rehabilitive ideal and the search for an alternative, in: A. E. Bottoms / Ronald H. Preston (Hrsg.), The coming penal crisis. A criminological and theological exploration, Edinburgh 1980, S. 109 - 125. Vgl. ferner die neuerdings vor allem in Skandinavien geführte Diskussion um den sog. Neo-Klassizismus in: Albin Eser / Karin Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik, Freiburg 1987. 31
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- wenn auch nicht in erster Linie, wie für kirchliches Strafrecht immer vertreten und von abolitionistischer Seite (Arno Plack) für das weltliche Recht als absolutum postuliert 4 1 - ihrem Wesen nach (auch) Vergeltung ist oder man zumindest ohne gewisse Vergeltungsmomente nicht auskommt. 42 Jedenfalls läßt sie sich von einem katholischen Standpunkt aus zwanglos als objektive Sühne verstehen, wie das etwa Mayerhofer auch für das weltliche Strafrecht nachzuweisen versucht. 43 Kirchlichem wie weltlichem Strafrecht kommen aber noch andere Funktionen zu, die allerdings nur begrenzt zu einer materiellen Legitimation beizutragen imstande sind. In erster Linie ist hier an die aus der ursprünglichen Aufgabe des Schutzes der Gemeinschaftsordnung erwachsene symbolische Funktion von Strafgesetzen zu denken. Im Falle der Kirchenstraîe ergibt sich dies daraus, daß sie zu einer Einrichtung geworden ist, die im wesentlichen nur das Gewissen angeht und deren Funktion im forum externum zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaftsordnung - nach kirchlichem Verständnis bedauerlicherweise - in die Marginalität abgedrängt wurde. 4 4 Die zunehmende Symbolhaftigkeit weltlichen Strafrechts hat freilich andere Gründe. 45 Im Gegensatz zur bisherigen Entwicklung dieses Jahrhunderts - von der Zeit der NS-Diktatur abgesehen - ist das bundesdeutsche Straf recht seit Mitte der 70er Jahre von einer beständigen Ausweitung 46 gekennzeichnet, insbesondere in Bereichen, in denen der Gesetzgeber sich genötigt sieht, allgemein als intolerabel empfundenen Verhaltensweisen mit dem Einsatz von Strafrecht zu begegnen. Umweltverschmutzung, 47 Wirt-
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Arno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München 1974, S. 17. Vgl. Eser (Fn. 5), zu „Strafe" sowie in Albin Eser / Björn Burkhardt, Strafrecht I, 4. Aufl., München 1989, Fall 1. 43 Christoph Mayerhofer, Die katholische Ansicht vom Wesen des Strafrechts im Spiegel der heutigen S traf rechts Wissenschaft, in: Theologisch-Praktische Quartalsschrift (ThPQ) 110 (1962), 25 - 33 (30f.). 44 Mörsdorf (Fn. 22), S. 15. 45 Vgl. etwa Hans Joachim Hirsch, Bilanz der Strafrechtsreform, in: Hans Joachim Hirsch / Günther Kaiser / Helmut Marquardt (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, Berlin/New York 1986, S. 133 - 165 (150 - 157), und noch deutlicher: Peter-Alexis Albrecht, Das Strafrecht auf dem Weg vom liberalen Rechtsstaat zum sozialen Interventionsstaat. Entwicklungstendenzen des modernen Strafrechts, in: Kritische Viertel]ahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 1988, 182 - 209 (188, 209 et passim). 46 Nachgezeichnet bei Albin Eser, Hundert Jahre deutscher Strafgesetzgebung, in: Arthur Kaufmann / Ernst-Joachim Mestmäcker / Hans F. Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihof er zum 70. Geburtstag, Frankfurt 1988, S. 109 - 134 (130ff.), ferner bei Hirsch (Fn. 45) und Albrecht (Fn. 45). 47 Albrecht (Fn. 45), S. 188 - 193, Hirsch (Fn. 45), S. 153 und vor allem Günter Heine / Volker Meinberg, Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz, insbesondere in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht? Gutachten D für den 57. Deutschen Juristentag, München 1988. 42
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schafts- 48 und Computerkriminalität, 49 zunehmender Betäubungsmittelmißbrauch 50 und bald wohl auch die Zweifel an den „Segnungen" der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie 51 haben diese „Flucht ins Strafrecht" 52 bewirkt. Fraglich ist aber, ob das damit anvisierte Ziel, die Ausübung einer wenigstens partiell erfolgreichen Sozialkontrolle, erreicht werden kann. So bleibt in den meisten Fällen der Wirtschafts- und Umweltkriminalität die Strafe auf dem Weg ihres dreistufig möglichen Einsatzes (Androhung - Verhängung - Vollziehung) auf der ersten Stufe stehen und damit oft bloßes Alibi. 53 Im Falle der Betäubungsmittelkriminalität werden zwar zahlreiche Strafen verhängt und vollzogen, was allerdings das Konsumentenverhalten kaum zu beeinflussen scheint 54 und im übrigen zu der Frage führt, ob die Kriminalisierung in diesem Bereich nicht eine kontraproduktive Komponente auf weist, indem sie zunehmende Professionalisierung und Organisierung von Kriminalität begünstigt, 55 was wiederum zu noch größeren Schwierigkeiten bei der Strafverfolgung führen dürfte. Eine so verstandene Symbolhaftigkeit staatlichen Strafrechts soll hier nicht etwa verworfen werden; wohl aber sei verdeutlicht, daß Straf recht in einigen bedeutenden Bereichen abweichenden Verhaltens kaum noch in der Lage sein dürfte, den von seinem Einsatz klassischerweise erwarteten Gesellschafts- 56 und Rechtsgüterschutz 57 zu gewährleisten. Es wird immer 48
Albrecht (Fn. 45), S. 193 - 200, Hirsch (Fn. 45), S. 151 f., Volker Meinberg, Geringfügigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen. Eine empirische Untersuchung zur staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 1 StPO, Freiburg/Br. 1985. 49 Hirsch (Fn. 45), S. 152 und Wolf gang Winkelbauer, Computerkriminalität und Strafrecht, in: Computer und Recht (CR) 1 (1985), 40 - 44. 50 Hirsch (Fn. 45), S. 154, allgemein und rechtsvergleichend hierzu: Jürgen Meyer (Hrsg.), Betäubungsmittelstrafrecht in Westeuropa, Freiburg 1987, und Rainer Endriß / Klaus Malek, Betäubungsmittelstraf recht, München 1986. 51 Hirsch (Fn. 45), S. 156f. und Albin Eser, Strafrechtliche Schutzaspekte im Bereich der Humangenetik, in: Volkmar Braun / Dietmar Mieth / Klaus Steigleder (Hrsg.), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, München 1987, S. 120 - 149. 52 Claus Roxin, Franz von Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alterna t iventwurfs, in: Claus Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, Berlin/New York 1973, S. 32 - 71 (41), abgedruckt auch in: Zeitschrift für die gesamten Strafrechtswissenschaften (ZStW) 81 (1969), 613 - 649. 53 So Hirsch (Fn. 45), S. 153 (Hervorhebung im Original). Zur bislang weitgehenden Wirkungslosigkeit des Umweltstrafrechts vgl. umfassend Volker Meinberg / Wolfgang Link, Umweltstraf recht in der Praxis. Falldokumentation zur Erledigung von Umweltstrafverfahren, Freiburg i.Br. 1988. 54 Hans-Jörg Albrecht, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Meyer (Fn. 50), S. 63 - 168 (119). ss Albrecht (Fn. 54), S. 116 - 118. 56 Vgl. hierzu Hans-Heinrich Jescheck, Lehrbuch des Straf rechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., Berlin 1988, S. 3. 57 Hierzu Jescheck (Fn. 56), S. 6 f. und ausführlich Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin/New York 1983, S. 30 - 38.
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deutlicher, daß trotz fahrlässiger abstrakter Gefährdungsdelikte - wie etwa beim Subventionsbetrug nach § 264 Abs. 3 StGB 5 8 - Strafrecht nicht überall das letzte Mittel staatlicher Sozialkontrolle sein kann, stattdessen also neue Ideen und Konzepte staatlicher (Re-)Aktion erforderlich sind. Dies ist jedoch keine neue Erkenntnis. Bereits Franz von Liszt stellte fest: „Ungleich tieferdringend und ungleich sicherer als die Strafe und jede ihr verwandte Maßregel wirkt die Sozialpolitik 59 als Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens .. .". 6 0 Das „Ausweichen der Gesellschaft vor ihren sozialpolitischen Gestaltungsaufgaben" 61 durch Neukriminalisierungen wurde also schon sehr früh als problematisch angesehen. Mit Recht sieht Roxin hier eine Hinweispflicht der Strafrechtswissenschaft, die ihrerseits selbstkritisch die Grenzen ihrer eigenen Wirkungsmöglichkeit abstecken solle. 62 In Konsequenz dieses Befundes w i r d die materielle Legitimation staatlichen Strafrechts schwieriger als in Zeiten, in denen man von größerer Effizienz seines Einsatzes ausgehen konnte. Gesellschafts- und Rechtsgüterschutz - von der bloß formalen Legitimation durch verfassungsgemäßes Zustandekommen 63 hier ganz abgesehen - rechtfertigen nicht ohne weiteres den Einsatz von Mitteln, die in weiten Bereichen sozialer Realität untauglich sind. Nicht ohne jeden Zusammenhang mit diesen Legitimationsschwierigkeiten 6 4 scheint die Tatsache einer wachsenden Zahl abolitionistischer Stimmen 65 zu sein. Besonders auffallend daran ist, daß sich diese abolitionistischen Tendenzen, die einen Gegenpol darstellen zu den Neukriminalisierungen der letzten zwölf Jahre, 66 auf das weltliche Strafrecht beschränken. Demgegenüber w i r d dem kanonischen Kriminalrecht - wie eingangs ge58
Dazu Hirsch (Fn. 45), S. 151. Hervorhebung im Original. 60 Franz v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21. und 22. Aufl., Berlin und Leipzig 1919, S. 12. ei Roxin (Fn. 52), S. 41. 62 Ebd. 63 Vgl. Jakobs (Fn. 57), S. 27. 64 Zu „neuen Legitimationsstrategien" vgl. insbes. Alessandro Baratta / Michele Silbernagel, Neue Legitimationsstrategien des Strafrechts und ihre K r i t i k als Realitätskritik, in: Kriminologisches Journal (KrimJ) 20 (1988), 32 - 49. 65 Früh schon Plack (Fn. 41) und Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt 1977 (französische Originalausgabe Paris 1975: Surveiller et punir. La naissance de la prison). Ein ausgezeichneter Überblick über abolitionistische Tendenzen findet sich bei Günther Kaiser, Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? Was läßt der Abolitionismus vom Straf recht übrig?, in: Wilfried Küper / Ingeborg Puppe / Jörg Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag, Berlin/New York 1987, S. 1027 - 1046. 66 Erwähnt sei außer den in der oben angegebenen Übersicht (Fn. 46) referierten Neukriminalisierungen etwa die Wiedereinführung des 1981 aufgehobenen § 130a StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus vom 19. 12. 1986, Bundesgesetzblatt I, 2566. 59
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zeigt - bei aller K r i t i k die grundsätzliche Existenzberechtigung in jüngerer Zeit nicht mehr abgesprochen. Dies könnte - und dieser Schluß mag überraschend sein - als ein Zeichen für eine gewisse Überlegenheit des kirchlichen über das weltliche Strafrecht gewertet werden. 67 Diese wesensmäßige Überlegenheit hat ihren Grund in der Andersartigkeit kirchlich pönaler Reaktion auf sozialpathologische Zustände. Der feine Unterschied liegt darin, daß die Kirche nicht nur deshalb etwas bestraft, weil es sozialschädlich oder die Gemeinschaftsordnung gefährdend ist wobei die Verletzung bloßer Moralvorstellungen staatliche Strafe kaum noch wird rechtfertigen können - , sondern auch deshalb, weil es den Weg zur salus animarum hindert. Diesen Weg wieder freizumachen, ist Aufgabe der Strafe, insbesondere der als Beugestrafe verstandenen „censura", die ihren Zweck dann erreicht, wenn der Täter Reue zeigt und daher die Strafe nachzulassen ist (Cann. 1354 - 1361 CIC 1983). Darin zeigt sich das Charakteristische der Kirchenstrafe, das Binden und Lösen, wie es auch in der wohl wichtigsten biblischen Grundlegung kirchlicher Strafgewalt (Matthäus 18, 15 - 20, insbesondere 18) zum Ausdruck kommt. Diese Binde- und Lösegewalt - das fast untrennbar miteinander verbundene Gegensatzpaar von Strafverhängung und Strafnachlaß - ist staatlichem Strafrecht in dieser Form fremd. Auch dort kennt man zwar den Gnadenerweis (Art. 60 GG, § 452 StPO), aber nicht als Regelfall, sondern als eher seltene Ausnahme, die zudem von weiten Teilen der Bevölkerung als problematisch empfunden wird, wie nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um die Gnadengesuche zweier reumütiger Terroristen an den Bundespräsidenten zeigt. 68 Staatliches Straf recht hat sich in jüngster Zeit allerdings durchaus offen gezeigt für diese Idee eines regelmäßigen Strafnachlasses, der schon bei Androhung und Verhängung der Strafe in Aussicht genommen wird. Gemeint ist die 1953 eingeführte 69 und dann 19 6 9 7 0 und noch einmal 1986 71 erweiterte Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung (§§ 56ff. StGB). 72 Dieses Institut hat sich bewährt und ist aus 67 Vgl. hierzu Louis de Naurois / Audomar Scheuermann, Der Christ und die kirchliche Strafgewalt, München 1964, S. 86. 68 Vgl. etwa Hans Schueler, in: Die Zeit Nr. 40 vom 30. 9. 1988, oder Karl-Heinz Krumm, in: Frankfurter Rundschau vom 11. 10. 1988. 69 Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 8. 1953, Bundesgesetzblatt I, 735. 70 Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. 6. 1969, Bundesgesetzblatt I, 645. 71 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. 4. 1986, Bundesgesetzblatt I, 393. 72 Vgl. hierzu u.a. Karl Lackner, die Strafaussetzung zur Bewährung und die bedingte Entlassung, in: Juristenzeitung (JZ) 1953, 428 - 432; Eduard Dreher I Herbert Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 44. Aufl. 1988, Vorbemerkungen zu § 56 StGB; Stree, in: Adolf Schönke / Horst Schröder, StGB, 23. Aufl., München 1988, Erl. zu § 56.
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der bundesdeutschen Strafrechtswirklichkeit nicht mehr wegzudenken. 73 Auch wenn es nicht in streng kausalem Sinne auf das kirchenstrafrechtliche Nebeneinander von Strafverhängimg und Straferlaß bei Reue rückführbar ist, so kann doch mit einiger Sicherheit vermutet werden, daß die hinter dieser kanonistischen Übung stehende Idee nicht ohne Einfluß auf den Gesetzgeber war, als er der Strafaussetzung zur Bewährung im weltlichen Recht zum Durchbruch verhalf. Ein weiterer Unterschied ist darin zu sehen, daß kirchliche Strafdrohungen sich mehr als staatliche an das Gewissen - das forum internum - richten. Der Vorzug der Kirchenstrafe ergibt sich daraus, daß die Kirche - anders als der Staat - das Vorhandensein eines entsprechenden Gewissens beim potentiellen Delinquenten, ihrem Mitglied, erwarten kann. Anders als der staatliche Gesetzgeber in den letzten Jahren, hat es die K i r che aber auch verstanden, ihr Strafrecht zu begrenzen, was schon bei einem äußeren Vergleich der Codices Iuris Canonici von 1917 und 1983 deutlich wird, und gleichzeitig die Bedeutung kirchlichen Strafrechts im Hinblick auf seinen erzieherischen Zweck zu behaupten. 74 Ob das insoweit als überlegen angesehene kirchliche Strafrecht das - jüngere - staatliche überleben wird, kann freilich nicht vorhergesagt werden. Bei alledem sollte man jedoch nicht vergessen, daß die dem staatlichem Straf recht gestellten Aufgaben schwieriger zu bewältigen sind: Es kann sich nämlich nicht - wie das kirchliche - weitgehend auf den Gewissensbereich und einen Heilauftrag zurückziehen; es steht unter ständigem Erfolgsdruck. Kirchliches Strafrecht kann sich eher als staatliches auf das bloße Angebot des Heilmittels Strafe an den Delinquenten beschränken. Nimmt er es an, wird er also reuig, hat die Strafe ihren Zweck erfüllt; nimmt er es nicht an, so bleibt er in letzter Konsequenz von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Damit ist die Angelegenheit für die Kirche erledigt - zumindest vordergründig. Staatliches Strafrecht ist an diesem Punkt erst richtig gefordert. II. Das Schuldprinzip: das kanonische vom weltlichen Strafrecht überholt? Anders als beim Institut der Strafaussetzung zur Bewährung, wo sich ein Einfluß kanonistischen Rechtsdenkens nur vorsichtig vermuten läßt, kann 73
Vgl. Dreher / Tröndle (Fn. 72), Rn. 7. - Von 96.561 im Jahre 1986 insgesamt ausgesprochenen Freiheitsstrafen wurden 64.561 oder 66,8% zur Bewährung ausgesetzt: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1986 (Arbeitsunterlage), Wiesbaden 1988, Tabelle 6, S. 124f. Vgl. außerdem Josef Kürzinger, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Heinrich Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Band 3, Baden-Baden 1984, S. 1737 1938 (1867 - 1885 und 1907f.). 74 Vgl. Puza (Fn. 6), S. 390; Strigi (Fn. 6), S. 927.
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mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß die große und wichtige Rolle, die das Schuldprinzip im weltlichen Strafrecht heute spielt, auf den kirchenrechtlichen Grundsatz nulla poena sine culpa 75 zurückzuführen ist. Dieses Erfordernis schuldhaften Handelns, das heute selbstverständliche Grundlage weltlichen Straf rechts ist, 7 6 hat wie kaum ein anderes kirchenrechtliches Prinzip prägende Wirkung für das moderne staatliche Strafrecht gehabt. Auf den kanonischen Ursprung des Schuldgedankens hat auch schon Paul Mikat hingewiesen. 77 Der Wert dieses kanonischen Fundaments für das weltliche Strafrecht, den etwa auch Schauf besonders hervorgehoben hat, 7 8 kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. „Strafe setzt Schuld voraus": Diese lapidare und doch so entscheidende Feststellung des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs 79 könnte auch die Einleitungsvorschrift eines Strafgesetzbuches bilden. Die Frage nach der Schuld ist „Schicksalsfrage des Strafrechts" 80 geworden, eines Strafrechts, das sich aus dem primitiven Straf recht der germanischen Welt entwickelte, für das allein der äußere Tatbestand wichtig war, und das erst nach und nach die wesentliche Bedeutung des inneren Tatbestands erkannte. 81 Vorläufiger gesetzgeberischer Schlußpunkt dieser Entwicklung, die Regelungen für Schuldfähigkeit, Notstand und etwa auch für die Rolle der Schuld für die Strafzumessung erbrachte, war - auf dem Boden der sog. (eingeschränkten) Schuldtheorie 82 - die Anerkennung do^ Verbotsirrtums (§17) durch das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4. 7. 1969."3 Dies soll jedoch nicht der Ort sein, Einzelheiten der Dogmatik des Schuldprinzips zu erörtern, das mit die schwierigsten Fragen aufwirft, die von Straf rechtslehre und -praxis zu bewältigen sind. 84 Wichtig erschien es indes, den großen Beitrag des kanonischen Rechts herauszustellen, den es zur Überwindung des archaischen, allein auf den äußeren Taterfolg abstellenden Prinzips „Die Tat tötet den Mann" durch Entwicklung des wohl auf 75
Siehe dazu etwa die Naur ois / Scheuermann (Fn. 67), S. 78 f. Vgl. vor allem die §§ 17, 19, 20, 35, 46 Abs. 1 Satz 1 StGB sowie Art. 6 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EuMRK). 77 Paul Mikat, Erfolgshaftung und Schuldgedanke im Strafrecht der Angelsachsen, in: Welzel, Hans / Conrad, Hermann / Kaufmann, Armin / Kaufmann, Hilde (Hrsg.), Festschrift für Hellmuth von Weber zum 70. Geburtstag, Bonn 1963, S. 9 - 31 (29f.). 78 Schauf (Fn. 26), S. 33. 79 BGHSt 2, 194 - 212 (200), im einzelnen analysiert bei Albin Eser, Strafrecht I, 3. Aufl., München 1980, Fall 13. 80 So Ernst Hafter, Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 1946, S. 101. 81 Hans Liermann, Das kanonische Recht als Grundlage europäischen Rechtsdenkens, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) 1957/58, 37 - 51 (39). 82 Näher dazu Jescheck (Fn. 56), S. 19f. und 363 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 83 Bundesgesetzblatt I, 717. 84 Näher dazu u.a. Eser (Fn. 79), Fälle 13, 14; Jescheck (Fn. 56), S. 364 - 387. 76
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Augustinus zurückgehenden, auch die inneren Vorstellungen des Täters berücksichtigenden „mens rea "-Erfordernisses geleistet hat. 8 5 Anders als man nun vielleicht vermuten möchte, tut sich jedoch selbst das „schulderfahrene" Kirchenstrafrecht offensichtlich schwer, das im Grundsatz anerkannte Schuldprinzip 86 auch mit der gebotenen Klarheit auszudrücken und auf allen Ebenen konsequent durchzuführen. Während so - zum einen - im CIC von 1917 für das Deliktum eine äußere Rechtsverletzung gefordert wurde, die „moraliter imputabilis" gewesen sein muß (Can. 2195 § 1), spricht der CIC von 1983 nur noch von einer externen Rechtsverletzung, die „graviter imputabilis ex dolo vel ex culpa" gewesen sein müsse (Can. 1321 §1), ohne daß sich jedoch dieser - aus der Sicht des weltlichen Strafrechts als Rückschritt zu betrachtende - Übergang von einem eher „normativen" (weil auf die moralische Verwerflichkeit abhebenden) zu einem nur „psychologischen" (weil sich auf den Vorstellungsmodus des Täters beschränkenden) Schuldbegriff in der allgemeinen kanonistischen Literatur problematisiert, geschweige mit der geradezu gegenläufig auf immer stärkere „Ethisierung" hinauslaufenden Schulddiskussion in der profanen Strafrechtsdogmatik verglichen fände. 87 Andererseits ist bei gewissen Einzelsanktionen eine nunmehr bessere Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip zu registrieren: Während sich die noch im CIC von 1917 vorgesehene Strafe des Lokalinterdikts in Form der Gottesdienstsperre (Cann. 2668 - 2274) in offensichtlichem Widerspruch mit dem Schulderfordernis befand, weil damit Schuldige und Unschuldige gleichermaßen betroffen wurden, 88 und diese Inkompatibilität nur recht mühsam mit einer Art „Gemeinschuld" der Gemeinschaft als solcher zur rechtfertigen war, 8 9 wurde dieser Art einer gleichsam „geistigen Sippenhaft" inzwischen durch
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Näher zu diesen Entwicklungen Mikat (Fn. 77), S. 11 f., 29f. Zur kanonistischen Schuldlehre siehe ausführlich Stephan Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX., Vatikanstadt 1935. 87 Zu diesen sowohl nach Umfang wie Vielfalt kaum noch überschaubaren Schulddiskussionen im weltlichen Strafrecht vgl. die derzeit aktuellste Zusammenfassung und Literaturübersicht bei Theodor Lenckner, in Schönke / Schröder (Fn. 72), Vorbem. 103 - 123 vor § 13. Auch in der im weltlichen Straf recht bereits weithin anerkannten Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung (vgl. dazu u. a. die rechtsvergleichenden Sammelbände von Albin Eser / George Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung - Justification and Excuse, 2 Bände, Freiburg 1987/88) scheint im Kirchenrecht noch kaum diskutiert, wie etwa die undifferenzierte Behandlung von (rechtfertigender) Notwehr- und (nur entschuldigender) Verbotsunkenntnis als offenbar gleichrangige Strafausschließungsgründe in Can. 1323 Nr. 5 bzw. Nr. 2 CIC von 1983 zeigt. Auch soweit ersichtlich überhaupt - wie bei Strigi (Fn. 6), S. 930f. - auf weltliches Schrifttum eingegangen wird, erschöpft sich dies in Hinweisen auf das insoweit überholte „Deutsche Straf recht" von Hans Welzel, 11. Aufl., Berlin 1969. 88 Vgl. Neumann (Fn. 21), S. 128, sowie Schwendenwein (Fn. 6), S. 456 m. Anm. 14, S. 618 zu der historisch offenbar großen Bedeutimg dieser Strafe. 89 So die Apologie von Mörsdorf (Fn. 1), S. 315 f. 86
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den CIC von 1983 durch Beschränkung auf das Personalinterdikt 1332) erfreulicherweise abgeholfen.
(Can.
Vor allem aber ist auf prozessualem Gebiet die Durchsetzung des Schuldprinzips im Kirchenrecht im Vergleich zum staatlichen noch wesentlich zurückgeblieben. Während letzteres - auf der Basis der inzwischen auch international weithin anerkannten „Unschuldsvermutung" (Art. 6 Abs. 2 Europäische Menschenrechtskonvention) - den Schuldnachweis dem Ankläger auferlegt, braucht dieser im Kirchenrecht lediglich das Vorliegen der äußeren Tat nachzuweisen, während es aufgrund der daran anknüpfenden - im CIC von 1917 noch als praesumtio doli (Can. 2200 § 2) bezeichneten, im CIC von 1983 zwar umformulierten (Can. 1321 § 3), im wesentlichen aber inhaltsgleichen -praesumtio imputabilitatis im Wege einer Beweislastumkehr dann dem Täter obliegt, den Mangel von Vorsatz und Fahrlässigkeit - und, so wird man wohl ergänzen müssen, das Vorliegen von etwaigen sonstigen Strafausschließungsgründen - nachzuweisen. 90 Selbst wenn man argwöhnen kann, daß auch in der täglichen Praxis des weltlichen Strafrechts allzu häufig die innere Tatseite zu wenig erforscht und der Vorsatz schlicht aus dem Nachweis der äußeren Tatbegehung abgeleitet wird, so bleibt doch als grundlegender Unterschied, daß eine solche Praxis im weltlichen Strafrecht jedenfalls nicht zum Programm erhoben, geschweige die Schuldvermutung als Rechtssatz statuiert wird. Ein solches Relikt im Kirchenrecht daher geradezu als „Ungeheuerlichkeit" und „schier unerträgliche Lösung" zu bezeichnen, 91 das ist jedenfalls nach dem inzwischen erreichten Standard des weltlichen Rechts verständlich. Doch auch kirchenrechtsimmanent ist letztlich schwer nachvollziehbar, wie sich eine solche systemfremd erscheinende Praxis in der vom Schuldgedanken geprägten kanonischen Kodifikation halten konnte - ganz abgesehen von der staatskirchenrechtlichen Frage, ob sich ein kirchlicher Delinquent die Beweislast für seine Unschuld überhaupt zumuten lassen muß, wenn er in einem Land wohnt, in dem nach den Menschenrechtskonventionen die Unschuldsvermutung für ihn spricht. 92
90 In diesem Sinne zum jetzigen CIC und ohne jede erkennbare Problematisierung Schwendenwein (Fn. 6), S. 452. Zur Entwicklung im weltlichen Strafrecht vgl. Heribert Waider, Die Bedeutung der praesumtio doli für die Strafrechtsentwicklung in Deutschland, in: Juristische Schulung (JuS) 1972, 305 - 309. Zum Einfluß des Beweisrechts auf das materielle Strafrecht siehe Klaus Lüderssen, Zur strafrechtsgestaltenden Kraft des Beweisrechts, in: Zeitschrift für die gesamten Strafrechtswissenschaften (ZStW) 85 (1973), 288 - 319. 91 So etwa die Apostrophierungen bei Heribert Waider, ZStW 98 (1986), 145 - 177 (167 f.) mit weiteren Nachweisen. 92 In diesem Sinne die zu Recht gestellte - allerdings auch bei ihm nicht weiterverfolgte - Frage von Waider (Fn. 91), S. 167 Anm. 28.
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III. Das Gesetzlichkeitsprinzip: nur ein Lippenbekenntnis im Kirchenrecht? Den auf die Formulierung von Feuerbach zurückgehenden Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege" glaubte kein geringerer als Jiménez de Asua, der unter Franco ins argentinische E x i l vertriebene große spanische Strafrechtler, einmal charakterisieren zu müssen als „Eckstein des liberalen Straf rechts: mit anderen Worten: des Rechts der Kulturmenschheit, es würde vielleicht genügen, einfach zu sagen: des Rechts der Menschen". 93 Diese Einschätzung ist Ausdruck des hohen Ranges, den das Erfordernis eines bereits bei Tatbegehung bestehenden Gesetzes im modernen Straf recht genießt. 94 Als eines der Hauptprinzipien des Straf rechts steht es seit der Strafrechtsreform von 1969/1975 als § 1 an der Spitze des StGB, nachdem es - nicht zuletzt als Reaktion auf seine Mißachtung in der NSZeit 9 5 - in Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz bereits verfassungsrechtlich verankert worden war. Zudem ist es auch international durch Art. 7 Abs. 1 S. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention jedenfalls für den Bereich des weltlichen Strafrechts abgesichert. 96 Was seinen Inhalt betrifft, so werden daraus heute schlagwortartig im wesentlichen folgende Einzelprinzipien abgeleitet: das Verbot von (strafbegründendem oder -schärfendem ungeschriebenem) Gewohnheitsrecht, das Bestimmtheitsgebot, das Analogieverbot sowie das Rückwirkungsverbot. 97 Auch im kanonischen Recht finden sich diese Grundsätze - wenngleich mehr oder weniger deutlich und umfassend - verankert: So wenn die Straftat als Verletzung eines (offenbar) schon zuvor festgesetzten Gesetzes oder Verwaltungsbefehls definiert w i r d (Can. 1321 §§ 1, 2 CIC von 1983),98, oder wenn in dem den „Pflichten und Rechten aller Gläubigen" gewidmeten Titel den Gläubigen das Recht eingeräumt wird, „daß kanonische Strafen über sie nur nach Maßgabe des Gesetzes verhängt werden" (Can. 221 § 3). 99 Auch das 93 Luis Jiménez de Asùa, Nullum crimen, nulla poena sine lege, in: Zeitschrift für die gesamten Strafrechtswissenschaften (ZStW) 63 (1951), 166 - 198 (197). 94 Zur historischen Entwicklung vgl. Jescheck (Fn. 56), S. 117 - 119, sowie Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Berlin/New York 1983. 95 Vgl. unten zu Fn. 116. 96 Entsprechendes gilt nach § 3 OWiG auch für den Bereich der Ordnungswidrigkeiten. 97 Zu weiteren Einzelheiten und Nachweisen vgl. die Kommentierung bei Albin Eser, in Schönke / Schröder (Fn. 72), zu § 1. 98 Deutlicher noch in Can. 2195 § 1 Codex Iuris Canonici von 1917: Nomini delicti, iure ecclesiastico, intelligetur externa et morali ter imputabilis legis viola tio cui addita sit sanctio canonica saltern indeterminata. 99 Nach Schwendenwein (Fn. 6), S. 134 ist gerade darin die Anerkennung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Gesetz" zu erblicken, wobei er freilich gleichzeitig auch schon auf die Aushöhlung dieses Grundsatzes durch den - nachfolgend noch zu behandelnden - Can. 1399 hinweist.
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schon vom CIC von 1917 anerkannte Analogieverbot (Can. 2219 § 3) 1 0 0 sollte nicht unerwähnt bleiben. Doch ganz abgesehen davon, daß letzteres im CIC von 1983 keinen ausdrücklichen Nachfolger fand und diese Merkwürdigkeit - soweit ersichtlich - noch zu keinem vernehmlichen kritischen Widerhall geführt hat, erscheinen im Vergleich zum weltlichen Recht vor allem zwei Beobachtungen bemerkenswert: Zum einen, daß hier die Entwicklungslinie nicht - wie etwa beim Schuldprinzip - vom kanonischen zum profanen Recht verläuft, sondern umgekehrt; denn während das weltliche Straf recht schon seit der Aufklärung vom Gesetzlichkeitsprinzip bestimmt w i r d , 1 0 1 hat es im kanonischen Recht erst im CIC von 1917 Anerkennung gefunden. 102 Zum anderen ist das Gesetzlichkeitsprinzip für die kanonische Dogmatik letztlich wohl denn doch nicht von derart fundamentaler Bedeutung, wie dies für das weltliche Strafrecht proklamiert wird. Diese Feststellung läßt sich namentlich an Einschränkungen des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots durch die norma generalis in Can. 1399 CIC von 1983 verdeutlichen: Nach dieser Generalklausel, die bereits im CIC von 1917 eine inhaltsgleiche Vorläuferin hatte (Can. 2222 § 1), kann die äußere Verletzung eines göttlichen oder eines kanonischen Gesetzes über die gesetzlich geregelten Tatbestände hinaus - zwar „nur dann", immerhin aber auch dann - „mit einer gerechten Strafe belegt werden, wenn die besondere Schwere der Rechtsverletzung eine Bestrafung fordert und die Notwendigkeit drängt, Ärgernissen zuvorzukommen oder sie zu beheben". Auch wer dies nicht gerade als „Mogelpackung" 1 0 3 bezeichnen will, wird mit Schwendenwein einräumen müssen, daß der auch das Kirchenrecht beherrschende Grundsatz „nulla poena sine lege" „praktisch durch die sehr weite allgemeine Klausel des Can. 1399 eine Aushöhlung (erfährt)". 104 Abgesehen von der Einschätzung von de Naurois und Scheuermann, die in dieser Generalklausel - etwas schönfärberisch vereinfachend 105 - einen Beweis für die „Geschmeidigkeit der kirchlichen Rechtsordnung" sehen wollten, 1 0 6 ist in der übrigen kanonistischen Literatur - auch soweit man letztlich die Generalklausel nicht glaubt verwerfen zu können - eine eher kritische Distanz zu spüren. So hält sie etwa Dordett für verzichtbar, um an ihrer Stelle „andere Mittel" vorzuschlagen, ohne freilich solche näher zu benennen. 107 Auch Herrmann hatte schon zur Generalklausel des CIC von 100
Vgl. Mörsdorf (Fn. 1), S. 348. Vgl. Jescheck (Fn. 56), S. 117. 102 So vor allem in dem in Fn. 98 wiedergegebenen Can. 2195 § 1; vgl. auch Strigi (Fn. 6), S. 949. los So Waider (Fn. 6), S. 170 Anm. 36. 104 Schwendenwein (Fn. 6), S. 134. 105 So die Charakterisierung von Neumann (Fn. 21), S. 124 Anm. 130. 106 de Naurois / Scheuermann (Fn. 67), S. 49. 101
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1917 nach einer „akzentverschiebenden Neubegründung" verlangt und dabei auf den Gemeinschaftscharakter kirchlichen Strafrechts rekurriert, mit dem eine individualisierende Deutung des kanonischen Strafanspruchs nicht vereinbar sei. 108 Aber auch nachdem seiner Forderung, daß Strafe jedenfalls „ i n der Regel nicht ohne gesetzliche Strafandrohung möglich sein solle", 1 0 9 nunmehr durch die entsprechende Fassung des Can. 1399 CIC von 1983 Rechnung getragen wurde, kommt man nicht daran vorbei, daß die damit verbundene und zudem nur sehr unbestimmt gefaßte Ausnahme eine Aushöhlung des Gesetzlichkeitsprinzips zur Folge hat. Demgegenüber ist Zapp - wenngleich mit etwas pauschaler Verneinung sonst anzutreffender K r i t i k an dieser „Bestrafung ohne Strafandrohung" - insofern von entwaffnender Ehrlichkeit, als er der Kirche im Hinblick auf ihren Heilsauftrag die Möglichkeit nicht vorenthalten möchte, „unverzüglich einzuschreiten, wenn die Erreichung dieses Ziels ernstlich bedroht oder gefährdet würde", wobei er dann aber auch zu Recht zu erkennen gibt, daß eine solche Vorschrift nicht erst am Ende der Strafbestimmungen stehen dürfe, sondern ihren Platz im Allgemeinen Teil haben müßte. 110 Nach Mörsdorf, der noch die alte Generalklausel - wenngleich ohne weiteren Begründungsversuch - erläutert hatte, 1 1 1 ist es heute vor allem Strigi, der sie eingehender zu legitimieren versucht. 112 Gegen eine naturrechtliche Begründung des „nulla poena sine lege "-Grundsatzes macht er geltend, daß die Autorität aller menschlichen Strafgewalt von der göttlichen Strafgerechtigkeit herzuleiten sei: „Gott will, daß das Böse bestraft und das Gute belohnt werde." Zudem biete der spezifische Charakter der Kirche als Heilsgemeinschaft Angriffsflächen, die nicht alle von vornherein kalkulierbar seien, so daß sich mögliche Verletzungen auch nicht im vorhinein abschließend festlegen ließen. Auch wolle die Kirche von vornherein nur Verletzungen von außerordentlicher Schwere unter Strafandrohung stellen, so daß ein möglichst lückenloses Strafrecht, wie es der staatliche Gesetzgeber anstrebe, für die Kirche nicht möglich sei. Auch wenn hier - wie schon eingangs erwähnt - jede kompetenzüberschreitende Einmischung in innerkanonische Auseinandersetzungen fernliegt, so kann dieser Rettungsversuch von Strigi doch jedenfalls insoweit nicht unwidersprochen bleiben, als er mit Zielsetzungen und Methoden des 107
Dordett (Fn. 23), S. 324. Horst Herrmann, Überlegungen zum Auftrag einer nachkonziliaren Codexrevision, in: Heribert Heinemann / Horst Herrmann / Paul Mikat (Hrsg.), Diaconia et ius, Festgabe für Heinrich Flatten zum 65. Geburtstag, München/Paderborn/Wien 1973, S. 275 - 285 (282f.). los Herrmann (Fn. 108), S. 283. n° Zapp (Fn. 25), S. 58f. m Mörsdorf (Fn. 1), S. 362 f., erläutert die Generalklausel zwar, läßt aber ihre Legitimation undiskutiert. u 2 Strigi (Fn. 6), S. 948 - 950. 108
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staatlichen Strafrechts argumentiert. Wenn er dies etwa - wie schon an anderer Stelle 1 1 3 - mit Verweis auf die Lückenlosigkeit staatlichen S traf rechts tut, dann geht er offensichtlich von einem falschen Verständnis von staatlichem Strafrecht aus. 114 Denn nicht nur, daß dieses zum Teil sogar bewußt und gewollt fragmentarisch ist, wie etwa von alters her bei bestimmten Eigentumsverletzungen oder neuerdings bei bestimmten Sexualdelikten; 1 1 5 auch wäre Lückenlosigkeit, selbst wenn sozial erwünscht, rechtstechnisch gar nicht machbar - es sei denn in Form einer analogieerlaubenden Generalklausel, wie sie der nationalsozialistische Gesetzgeber in der Fassung des § 2 RStGB vom 28. Juni 1935 eingeführt hatte. 1 1 6 Wenn diese damit begründet wurde, daß der strafrechtliche Schutz gegen strafwürdiges Verhalten nicht daran scheitern dürfe, daß das geschriebene Gesetz Maschen oder Lücken aufweise, durch die der geschickte Verbrecher hindurchzuschlüpfen wisse, und nicht die Sicherheit des Verbrechers vor verdienter Strafe, sondern die Sicherung der Volksgemeinschaft gegen jeden verbrecherischen Angriff das Ziel der Strafrechtspflege sein müsse, 117 so kann man sich eines Unbehagens nicht erwehren, wenn eine - jedenfalls rechtstechnisch ähnliche - Generalklausel des kanonischen Strafrechts damit begründet wird, daß die Kirche nicht der Möglichkeit beraubt sein dürfe, „störende Machenschaften, die unvorhersehbar in Erscheinung treten, unter veränderten Verhältnissen eben auch in wechselnden Formen, notfalls unter Einsatz ihres Strafschwertes, abzuwehren". 118 Auch daß - auf der Gegenseite des politischen Spektrums - dem Recht vieler sozialistischer Staaten das Gesetzlichkeitsprinzip lange fremd war, 1 1 9 sollte die Kirche 113 Richard A Strigi, Das Funktionsverhältnis zwischen kirchlicher Strafgewalt und Öffentlichkeit, München 1965, S. 205 - 208. 114 So auch Waider (Fn. 6), S. 173, und ders., Kirchliches Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamten Strafrechtswissenschaften (ZStW) 78 (1966), 524 - 534 (527). 115 Grundlegend zum fragmentarischen Charakter des Straf rechts Karl Binding, Lehrbuch des gemeinen deutschen Straf rechts, Besonderer Teil, 1. Band, 2. Aufl., Leipzig 1902, S. 20 - 22, ferner Jescheck (Fn. 56), S. 46, und Manfred Maiwald, Zum fragmentarischen Charakter des Strafrechts, in: Friedrich-Christian Schroeder / Heinz Zipf (Hrsg.), Festschrift für Reinhard Maurach zum 70. Geburtstag, Karlsruhe 1972, S. 9 - 23. Vgl. auch zur Theorie des „rechtsfreien Raums" Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis und sittliche Normen, in: Juristische Schulung (JuS) 1978, 361 367. 116 Reichsgesetzblatt 1935, Teil I, S. 839 zu § 2: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft." 117 Amtliche Begründung zu dem Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935, in: Die Strafrechtsnovellen v. 28. Juni 1935 und amtlichen Begründungen zu diesen Gesetzen, Berlin o.J. |1935| (Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz, Gesetze - Entwürfe - Begründungen, Zwanglose Sammlung Nr. 10), S. 27ff. (27 f.). ne Strigi (Fn. 6), S. 948. 119 Vgl. etwa die von der bayrischen Räterepublik erlassene Verordnung über die Einsetzung von Revolutionstribunalen vom 7. 4. 1919 (abgedruckt in ZStW 40 (1919),
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hellhörig machen; denn selbst wenn sich eine „Bestrafung ohne vorherige Strafandrohung" innerkirchlich durchaus von der göttlichen Strafgerechtigkeit ableiten und dies mit dem Charakter der Kirche als Gemeinschaft „sui generis" abstützen ließe, 120 bleibt es doch auch eine Frage der Klugheit, ob sich die Kirche angesichts der ohnehin geringen praktischen Bedeutung ihres Strafrechts weiterhin eine Generalklausel leisten sollte, mit der sie sich - auch wenn letztlich zu Unrecht - dem Verdacht eines ideologiebedingten Universalitätsanspruchs wie sonstige totalitäre Staaten aussetzt. Wäre es da nicht besser und längst an der Zeit, sich vorbehaltlos zu einem Grundsatz zu bekennen, der inzwischen in allen zivilisierten Staaten als Menschenrecht anerkannt ist? In diesem Ziel sollte man sich auch nicht dadurch irre machen lassen, daß es durchaus noch einige wenige Länder gibt, die hinsichtlich ihrer Rechtsstaatlichkeit außer Frage stehen und dennoch kein Analogieverbot kennen: So namentlich das dänische Strafgesetzbuch von 1930, nach dessen § 1 nur solches Verhalten strafbar ist, das entweder durch ein Gesetz unter Strafe gestellt oder völlig ähnlicher Natur ist. 1 2 1 Dazu findet sich die zweifellos interessante Begründung, daß moderne Kodifikationen unter den Auspizien des Gesetzlichkeitsprinzips zu immer weiteren und allgemeineren Tatbestandsfassungen tendierten, so daß es zum Schutz des Gesetzlichkeitsprinzips sogar besser sei, in engen Grenzen Analogien zuzulassen, und dafür die Tatbestände eng und klar zu fassen. 122 Doch auch wenn dieser Ansicht und zwar gerade angesichts sonst zu befürchtender Aufweichungen des Bestimmtheitsgebots, wie sie derzeit im bundesdeutschen Straf recht zu beobachten sind, 1 2 3 - Ehrlichkeit und Konsequenz nicht abgesprochen werden kann, ist die dänische Regelung aus guten Gründen nicht zum Modell für Nachahmungen geworden, sondern Marginalie geblieben; denn wenn der gesetzliche Damm einmal gebrochen ist, dann ist Mißbräuchen aller Art - wie gleichfalls an der dänischen Regelung zu beobachten 124 - sehr viel schwerer entgegenzutreten. 511 f.), worin jeder Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze unter Strafe und die Art der Strafe in das Ermessen des Richters gestellt wurde, ferner Jescheck (Fn. 56), S. 119 zur lange mangelnden Absicherung des Gesetzlichkeitsprinzips in sozialistischen Strafrechtsordnungen. 120 So namentlich auch der von Strigi (Fn. 6), S. 948 in Bezug genommene David Cortés , De principio: Nullum crimen, nulla poena sine lege in iure canonico, Kanonistische Dissertation München 1953, S. 89. Vgl. auch S. 62f. 121 Vgl. Hans Gammeltoft-Hansen / Bernhard Gomard / Allan Philip (Hrsg.), Danish Law - a general survey, Kopenhagen 1982, S. 353; vgl. auch Franz Marcus, Das Strafrecht Dänemarks, in: Edmund Mezger / Adolf Schönke / Hans-Heinrich Jescheck (Hrsg.), Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Erster Band, Berlin 1955, S. 67 - 207 (85). 122 Gammeltoft-Hansen / Gomard / Philip (Fn. 121), S. 354. 123 Vgl. Eser in Schönke / Schröder (Fn. 72), § 1 Rn. 17 ff. mit weiteren Nachweisen. 124 Vgl. Marcus (Fn. 121), S. 85 - 87.
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Damit soll selbstverständlich nicht behauptet sein, als ob ein positiv verkörpertes Gesetzlichkeitsprinzip etwaige Mißbräuche stets verhindern könnte. Zumindest aber macht es die Berufung auf dieses Prinzip leichter, Mißbräuche abzuwehren. Dies setzt natürlich sowohl das Bemühen des Gesetzgebers um hinreichend klare und bestimmte Tatbestandsformulierungen sowie maßvolle Anwendimg durch die Gerichte und nicht zuletzt kritische Wachsamkeit durch die Strafrechtswissenschaft voraus. Daß es damit derzeit bestens bestellt wäre, wird man mit Blick auf das gegenwärtige bundesdeutsche Strafrecht kaum behaupten können. Denn aus welchen Gründen auch immer, Tatsache ist, daß die Neigung des Gesetzgebers zur Verwendung von normativen Tatbestandsmerkmalen - wie „niedrige Beweggründe" in § 211 oder „grob verkehrswidrig und rücksichtslos" in § 315c StGB - bis hin zu unbestimmten Rechtsbegriffen - wie „verwerflich" in § 240 oder „gegen die guten Sitten" verstoßend in § 226a StGB - eher noch zunimmt, mit der Folge, daß die Grenzen strafbaren Verhaltens immer mehr von allgemeinen sozialethischen Wertungen abhängig werden und damit auch das richterliche Ermessen auf Kosten der Gesetzesklarheit und Rechtssicherheit größer w i r d . 1 2 5 Solche Einbruchsmöglichkeiten in das Gesetzlichkeitsprinzip zuzugeben, braucht jedoch nicht dazu zu führen, dieses selbst aufzugeben. Denn an seiner Stelle ist keine vertretbare Alternative in Sicht - auch nicht für das kanonische Strafrecht. IV. Ausblick Sicherlich wäre es reizvoll gewesen, über die allgemeine Legitimation der Strafe sowie über das Schuldprinzip und das Gesetzlichkeitserfordernis hinaus auch noch andere Kategorien des Strafrechts einer vergleichenden Betrachtimg zu unterziehen. So hätte man etwa daran denken können, die Tatbestände der Häresie und des Schismas 126 mit denen des politischen Strafrechts 127 oder die Wirkungen des strafrechtlichen Berufsverbots 128 mit denen des Interdikts 129 oder der Suspension 130 zu vergleichen. Doch ganz davon abgesehen, daß dies den hier zur Verfügung stehenden Raum noch weiter überschritten hätte, sieht dieser Vergleich sein wesentliches Ziel schon damit erreicht, hoffentlich klar gemacht zu haben, inwieweit das kirchliche und profane Strafrecht in wesentlichen Fragen bereits voneinan125
Vgl. Eser in Schönke / Schröder (Fn. 72), § 1, insbes. Rn. 20 - 22. Can. 1364 CIC von 1982. 127 w i e vor allem den unseligen § 130a StGB oder § 140 StGB. 126
128
§ 70 StGB. 1 29 Can. 1332 CIC von 1983. 130 Can. 1333 CIC von 1983.
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der gelernt haben und dies möglicherweise auch in Zukunft noch tun können. Vielleicht ist auch eines klar geworden, was zwar im Hinblick auf die Reform des kanonischen Strafrechts formuliert wurde, im Grunde aber für jede Strafrechtsordnung wichtig ist: „das Erkennen ihrer Grenzen und jener Wirklichkeit, die dem Recht vorausgeht und es übersteigt". 131
131
So Dordett (Fn. 23), S. 325.
33 Festschrift P. Mikat
Die Fälschungen Wibalds von Stablo für und gegen das Kollegiatstift zu Aschaffenburg* Von Hans Constantin Faußner I. Zur Frühzeit des Stiftes Aschaffenburg, Witwensitz und Grablege Königin Liutgards, Gemahlin König Ludwigs III. (t 882)1, kam anfangs des 10. Jahrhunderts an die Konradiner 2 und ging auf Herzog Hermann I. von Schwaben und mit seinem Tode im Dezember 949 auf seine Tochter und Erbin Ita über 3 . Ita, damals verheiratet mit Liudolf, Sohn Ottos des Großen und als Herzog von Schwaben Nachfolger seines Schwiegervaters, verheiratete sich nach seinem frühen Tode (t 957) mit dem Babenberger Konrad, dem späteren Herzog von Schwaben (983 - 997)4. Aus der Ehe Itas mit Liudolf waren zwei Kinder hervorgegangen, die 949 geborene Tochter Mathilde und der 954 geborene Sohn Otto, der spätere Herzog von Schwaben (973 - 982) und Baiern (976 - 982), aus der Ehe mit Konrad vier Töchter 5 . Auf ihrem väterlichen Erbbesitz Aschaffenburg errichtete Ita eine Kirche, geweiht St. Peter, mit einem Kollegiatstift 6 , deren aufwendige Anlage mit ihren beiden Türmen im Jahre 974 stand 7 . Itas Sohn Otto, der wie sein Vater in jungen Jahren ein Opfer Italiens wurde, starb am 31. Oktober 982 in Lucca in der Toskana und wurde in der Stiftskirche beigesetzt8. Hier fand * Gewidmet in Erinnerung an die gemeinsamen Jahre in Bonn bei Hermann Conrad. 1 Vgl. Heinrich Büttner, Die Mainlande um Aschaffenburg im frühen Mittelalter, in: „1000 Jahre Stift und Stadt Aschaffenburg", Festschrift zum Aschaffenburger Jubiläumsjahr 1957, 1. Teil (Aschaffenburger Jahrbuch 4, 1957), S. 123. 2 Ebd., S. 127. Vgl. auch I. (Dienemann-)Dietrich, Das Haus der Konradiner, Diss, masch. Marburg 1952, S. 184ff. 3 Vgl. H. C. Faußner, Kuno von Öhningen und seine Sippe in ottonisch-salischer Zeit, in: Deutsches Archiv 37 (1981), S. 35f. 4 Ebd., S. 51. 5 Ebd., S. 84ff. 6 Zum Meinungsstand über die Gründung siehe Eduard Hlawitschka, Königin Richeza von Polen - Enkelin Herzog Konrads von Schwaben, nicht Kaiser Ottos II.?, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter, Festschrift für Josef Flekkenstein, Sigmaringen 1984, S. 225 ff. 7 Zur Beweisführung siehe Hansmartin Decker-Hauff, Die Anfänge des Kollegiatstifts St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg, in: Festschrift (Fn. 1), S. 138. 8 Ottos Beisetzung in Aschaffenburg ist überliefert in Gerhardi Vita sancti Oudalrici episcopi: Otto autem dux etiam ad Luggam defunctus est; et a suis super montana
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dann auch im Mai 986 seine Mutter Ita ihre Grablege, wo sie in einer schemenhaften Erinnerung als Tochter Ottos des Großen fortlebte 9 . Ihre Tochter Mathilde, Äbtissin zu Essen (t 1011), veräußerte die Kirche mit Stift und Pertinenzbesitz an die Mainzer Domkirche unter Erzbischof Willigis (975 1011). II. Wibald von Stablo und Propst Arnold I. Die Erinnerung an Gründerin Ita verblaßte, nicht einmal im ältesten, vor 1287 entstandenen Nekrolog wurde sie verzeichnet, geschweige denn als fundatrix mit einem Ehrenplatz oder besonderer Meßfeier herausgestellt. Das hatte seinen guten Grund: denn um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurde ihr Sohn, Herzog Otto, zum fundator von Kirche und Stift,erhoben', ihm ein Stifterhochgrab im Chor errichtet 10 und die liturgische Ehrung des Stifters zuteil. Dies beruhte auf einer rechtlichen Überlegung, die vom damaligen Aschaffenburger Stiftspropst Arnold I. und seinen Nachfolgern 11 konsequent in die Tat umgesetzt wurde. Propst Arnold I. von Seiehofen gehörte wie Wibald von Stablo zum Führungskreis der Gregorianer und zur nächsten Umgebung König Konrads. Arnold, seit 1131 Archipresbyter der Mainzer Domkirche 12 , war von König Konrad sogleich zur Leitung der Hofkapelle berufen und unter Wiederaufnahme der Tradition der letzten Salier dazu mit der Würde und Pfründe des Propstes des Kollegiatstifts St. Marien zu Aachen ausgestattet worden. Hier war er Nachfolger von Hugo Graf von Spanheim, der als Kölner Domdekan auch die Aachener Propstei innehatte 13 . In Nachfolge von Bruno II. war dieser am 6. Juli 1137 von Papst Innocenz II. zum Erzbischof von Köln geweiht worden, aber bereits wenige Wochen später, am 1. Juli, in Melfi gestorben 14 . In seinem Auftrage hatte Wibald für das Marienstift ein pracht-
portatus, et usque ad Aschafaburg perductus, cum magno honore et nimia lamentatione ibi terrae commendatus est (MGH SS IV, ed. G. Waitz, S. 419, 3). Die Annalen, die Ottos Tod vermelden, sind zusammengestellt bei Karl Uhlirz, Jbb. des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III., 1. Band, Berlin 1902, ND 1967, S. 182 Anm. 16. 9 Vgl. Faußner (Fn. 3), S. 54. 10 Siehe Fritz Arens, Die Grabmäler des Herzogs Otto und der Königin Liutgard in der Aschaffenburger Stiftskirche, in: Festschrift (Fn. 1), S. 252ff. 1183 wurde eine Stiftung ad comparandum lumen super sepulchrum fundatoris ecclesie nostre beurkundet (Matthias Thiel, Urkundenbuch des Stifts St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg, Band 1: 861 - 1325 [Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg e. V., 1986], Urk. 28, S. 123). 11 Nach Thiel (Fn. 10), S. 94 folgte auf Propst Arnold I. (1141 - 49) Embricho I. (1149 - 52), Heinrich I. (1152 - 57) und Arnold II. (1157 - 69) (ebd., S. 106). 12 Vgl. Friedrich Hausmann, Reichskanzlei und Hofkapelle unter Heinrich V. und Konrad III. (Schriften der MGH 14, 1956), S. 124. 13 Vgl. Erich Meuthen, Die Aachener Pröpste bis zum Ende der Stauferzeit, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 78 (1967), S. 30ff.
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volles Evangeliar verfertigen lassen, das bei der Aachener Königserhebung Konrads am 13. März 1138 zum ersten Male als Krönungs-Evangeliar diente und uns als das Wiener Krönungs-Evangeliar überliefert ist, das die Kunstgeschichte der Aachener Hof- oder Palastschule Karls des Großen zuweist 15 . Als nach dem Tode von Erzbischof Adalbert II. von Mainz der Aschaffenburger Propst Markulf im Sommer 1141 zu dessen Nachfolger auf den Erzstuhl gewählt wurde, verzichtete er auf die Propstei, die bald darauf Arnold von Seiehofen übertragen wurde 1 6 . Ein Jahrzehnt später, im Herbst 1151, wurde dieser nach Arnold von Wied zum Reichskanzler und zwei Jahre später zum Mainzer Erzbischof und Erzkanzler berufen, nachdem es gelungen war, in einer grandiosen Intrige an der päpstlichen Kurie unter Eugen III. Erzbischof Heinrich (1142 - 1153) zu stürzen. Im Sommer 1160 beendete Arnold seine erfolgreiche wie zwielichtige Lebensbahn: Er wurde zum Opfer der Mainzer Volkswut. III. Das Aschaffenburger Originaldiplom Kaiser Ottos II. Der für Arnold und Wibald entscheidende Hinweis auf Herzog Otto und seinen wenig jüngeren Onkel, Kaiser Otto II., ging sicherlich von dem Diplom Ottos II. im Aschaffenburger Stiftsarchiv aus, der ,Vorurkunde' für D O.II.117. Dieses Diplom, wohl unter dem 29. August 975 auf der Pfalz Bodfeld am Harz ausgefertigt, dürfte in etwa gelautet haben: I n nomine sancte et individue trinitatis. Otto divina fa vente dementia imper ator augustus. Noverint omnes fideles nostri tarn présentes quam et futuri, qualiter nobis nepos et equivocus noster Otto dux Sueuorum tributum de locis Ozzenheim Tettinga villas nominatis in comitatu Eberhardi comitis i n proprium donavit. Nos vero predictum tributum nobis donatum ecclesie que in honore sancti Petri Askaffaburg constructa est, ad prebendam fratrum deo ibidem militantium per eius probatissimam ac dilectissimam peticionem ea ratione tradidimus, ut absque omnium contradictione personarum ac potestatum per succedentium curricula temporum pro instantissima victus acque vestitus necessitate uterentur. Et ut hec nostre donationis auctoritas
14 Vgl. Die Regesten der Erzbischof e von Köln i m Mittelalter, 2. Band, bearb. von R. Knipping (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XXI/2), S. 54 f. 15 Vgl. Die Karolingischen Miniaturen, hrsg. von Wilhelm, Koehler, III. Band, 1. Teil: Die Gruppe des Wiener Krönungs-Evangeliars, Berlin 1960, S. 11: „Die Gruppe muß als heimatlos betrachtet werden. Nicht besser steht es mit ihrer Datierung. Sie ist niemals einer ernsthaften Prüfung unterzogen worden, aber es besteht Einvernehmen darüber, daß sie kaum später sein kann als das erste Viertel des 9. Jahrhunderts. Das ist der Stand der Forschung." Bei der in Vorbereitung befindlichen Zusammenstellung der Urkundenfälschungen Wibalds und der von ihm initiierten Werke der Buchmalerei und Kalligraphie für deutsche Auftraggeber w i r d darauf zurückgekommen. 16 Vgl. Hausmann (Fn. 12), S. 125.
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firmior credatur, hanc cartam nostro iussu scriptam et signatam manu propria nostra sub tus earn firmavimus. Signum domni Ottonis (M.) imperatoris augusti Folgmarus cancellarius vice Willigisi archicappellani notavi. Data IIII.kl.sept. anno dominice incarnationis DCCCCLXXV, indictione III, anno vero regni Ottonis XV, imperii autem VIII; actum Botfeld.
Nach diesem Diplom war auf Veranlassung Herzog Ottos vom Kaiser die jährliche Gült der Fiskalinen von Kleinostheim der Stiftskirche ad prebendam fratrum übertragen und, da es sich um bisheriges Reichsgut handelte, darüber geurkundet worden 17 . Der Anlaß für diese Dotation war wohl die feierliche Einweihung der neuen Stiftskirche. Arnold und Wibald erkannten die Chance: Besitz, der einst von Herzog Otto oder auf seine Veranlassung vom Kaiser an die Stiftskirche in proprium übertragen und gar als Propstei- oder Kapitelgut deklariert wurde, war nach jüngster Rechtsentwicklung res ecclesiasticae und als solches der Verfügungsgewalt des Vogtes entzogen. IV. Das Kirchengut im engeren Sinne: res ecclesiasticae Diese Rechtsentwicklung hatte sich in Folge des Kompromisses durchgesetzt, der zur Beilegung des Investiturstreites mit dem Wormser Konkordat von 1122 zwischen Papst Calixtus und Kaiser Heinrich geschlossen worden war, und der über die Trennung von Spiritualien und Temporalien auch zu einer Scheidung des Kirchengutes geführt hatte, in das Kirchengut im engeren Sinne (res ecclesiasticae) und den kirchlichen Regalienbesitz, wobei als regalia , quae ad regnum pertinebant, nach der Promissio Papst Paschalis II. vom 4. Februar U l i 1 8 galten: civitates, ducatus, marchionatus, comitatus, monetas, teloneum, mercatum, advocatias regni, iura centurionum et curtes, quae manifeste regni erant, cum pertinentiis suis, militiam et castra regni. Diesen regalia ad regni servitium pertinentia 19 standen gegenüber die res ecclesiasticae: oblationes et hereditariae possessiones, que ad regnum manifeste non pertinebant 20, so vor allem einstiges Reichsgut, que per gratiam regis de ipsis regalibus intromittant 21. Wie Kaiser Heinrich V. am 4. Februar 1111 versprach 22 : dimittet ecclesias libéras cum oblationibus et possessionibus quae ad regnum manifeste non 17 Vgl. H. C. Faußner, Zu den Fälschungen Wibalds von Stablo aus rechtshistorischer Sicht, in: Fälschungen im Mittelalter, Teil III: Diplomatische Fälschungen (I) (MGH Schriften 33/III, 1988), S. 143 f. 18 Promissio papae per Petrum Leonis dicta, M G H Const. 1 η. 85, S. 138, 34. 19 Paschalis II. Privilegium primae conventionis, MGH Const. 1 η. 90, S. 141, 10. 20 Ebd., S. 141, 33. 21 Ebd., S. 141, 30.
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pertinebant, so bestand auch Einigkeit darüber, daß diese res ecclesiasticae der Verfügungsgewalt von Laien entzogen sind, wie dies das Laterankonzil vom März 1123, das zu den Konzilien von ökumenischer Geltung gehörte 23 , bestimmte: (VIII) ... ut laici, quamvis religiosi sint, nullam tarnen de ecclesiasticis rebus aliquid disponendi habeant facultatem. ... Si quis ergo principum vel aliorum laicorum dispositionem seu donationem rerum sive possessionem ecclesiasticarum rerum sibi vendicaverit, ut sacrilegus iudicetur 24, und das Laterankonzil von 113 9 2 5 im 25. Kanon sodann erneut klarstellte: Si quis praeposituras, praebendas vel alia ecclesiastica beneficia de manu laici acceperit indigne suscepto careat beneficio. Iuxta namque decreta sanctorum patrum laici quamvis religiosi sunt nullam tarnen habent disponendi de ecclesiasticis facultatibus potestatem. Bei dieser von den Gregorianern nach dem Wormser Konkordat vorangetriebenen Rechtsentwicklung zur libertas ecclesiae kam es nun für Arnold und seinen Diplomatiker Wibald darauf an, Stiftsgut, um es der Verfügungsgewalt seines Vogtes zu entziehen, als res ecclesiasticae zu deklarieren, indem es als possessiones, quae ad regnum manifeste non pertinebant, vor allem aber als regalia, per gratiam regis de ipsis regalibus intromittant, erwiesen wurde. Ein solcher Nachweis aber konnte für Aschaffenburg am überzeugendsten durch Diplomata über Besitzübertragungen durch Kaiser Otto II. auf Veranlassung des Stifters, Herzog Ottos, geführt werden. Somit mußte dieser zum fundator gemacht werden. V. Wibalds Fälschungen für den Stiftsbesitz a) Im alten Grabfeldgau Hier war das Ziel, die Vogtei über den Stiftsbesitz im Räume Meiningen, so vor allem in Rohr (Kr. Suhl), und in der Zentmark Brend(lorenzen)-Salz, im Umfeld des heutigen Bad Neustadt a. d. Saale, zu Fall zu bringen. Diese Güter, einstiger Babenberger Erb- und Hausbesitz, waren dem Stift, als es sich noch im Familienbesitz befand, überlassen worden, wobei in üblicher Weise die Vogtei vorbehalten wurde 2 6 . Diese Vogtrechte vererbten sich bei 22 Conventio praevia i n ecclesia S. Mariae in Turri facta, promissio regis, MGH Const. 1 η. 83, S. 137, 21. 23 Vgl. Carl Joseph von Hefele, Conciliengeschichte 1, Freiburg i. Br. 18732, S. 60. 24 Calixti II. concilium Lateranense generale, MGH Const. 1 η. 401, S. 575. Das Verbot der Verfügung über Kirchengut im engeren Sinne erging bereits auf dem Laterankonzil von 1110; vgl. Paschalis II. concilium Lateranense c. 1 et 2, M G H Const. 1 η. 397, S. 568. 25 J. D. Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio torn. X X I , p. 532. 26 Als z.B. Heinrich Marschalk von Lauer 1220 dem Aschaffenburger Stift nach einem Vergleich Güter überließ, erklärte er ausdrücklich den Verzicht auf Vogtei und Bemeierungsrecht: nec in hits bonis ecclesie collatis - utpote ad eius oblationem pre-
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den Grafen von Henneberg (Kr. Meiningen) 27 , die den Babenbergern im Grabfeld nachgefolgt waren, und wurden meist per beneficium überlassen 28 . Nun befand sich außer dem Otto-II-Diplom noch eine Königsurkunde im Stiftsarchiv, ein unter dem 8. Juli 861 ausgefertigtes Diplom König Ludwigs des Deutschen, in dem dieser einem Grafen Christian 14 namentlich aufgeführte dienstpflichtige Eigenleute in proprium übertrug. Nach diesem Originaldiplom ließ Wibald zwei Urkunden fertigen, die eine (D LdD 104) mit einer schwungvollen Arenga, im übrigen aber wohl weitgehend gleichlautend mit dem Diplom, das er seiner Vorlagensammlung einverleibte 29 . Nach der anderen Urkunde (D LdD 135) Schloß der König mit Graf Christian und seiner Gemahlin einen Prekarievertrag ab, nach dem dem gräflichen Paar das Kloster und der Besitz in Rohr sowie die zahlreichen Güter im Grabfeld, die der Graf dem König übertragen hatte, auf Lebzeiten überlassen wurden. Mit diesem Diplom sollte erwiesen werden, daß Rohr und der im einzelnen aufgeführte umfangreiche Besitz in seiner näheren und weiteren Umgebung, an die 206 Huben 30 , im ausgehenden 9. Jahrhundert zum Reichsgut geworden waren, so daß es unverständlich war, wie sich die Grafen von Henneberg Vogteirechte über Rohr als Erb- und Hausgut anmaßen und über sie zu Lehensrecht verfügen konnten. In einem folgenden Diplom (D O.II.98) 31 ließ Wibald sodann Kaiser Otto II. auf Bitten Herzog Ottos 32 quandam nostri iuris proprietatem, idest unam ecclesiam et unam curtem cum integris eorum appertinenciis in villa Rora sitas, der Stiftskirche übertragen, uti cetere res simili auctoritate ad ecclesias datae perpetuo deserviant et consistant. Für dieses Diplom übernahm Wibald das Eschatokoll der Otto-II-Urkunde des Stiftsarchivs vom 29.8.975 und ließ es mit dem 11. 3. 974 ausstellen. Dadurch mußten alle vier Jahreszahlen, das Jahr nach Christi Geburt, die Indiktion und das Königs- und das Kaiserjahr nur um eine Zahl herabgesetzt werden. Über den Stiftsbesitz in der Mark Meiningen ließ Wibald eine eigene Urkunde fertigen: D 0.11.284. Für das Eschatokoll zog er die ,Vorurkunde' von D 217 (Echternach) aus seiner Vorlagensammlung heran, wobei die Jahreszahlen um 2 erhöht wurden, der Schreiber jedoch die Königsjahre falsch las: aus X X I wurde XXV. Datiert wurde das Diplom mit Capua, den 1. eise spedare debentibus - advocatie potentiam seu villicationis officium exercebit (Thiel (Fn. 10), Urk. 41, S. 161). 27 Zu ihnen vgl. Hist. Atlas von Bayern, Teil Franken 1/27: Neustadt/Saale, bearb. von Heinrich Wagner (1982), S. 121 ff. 28 Vgl. Thiel (Fn. 10), Urk. 41, 60, 109. 29 Siehe Faußner (Fn. 17), S. 151. 30 So Thiel (Fn. 10), S. 7. 31 Die Aschaffenburger Otto-II-Diplomata werden nach Thiel (Fn. 10) zitiert, da hier eine ältere Abschrift von ihnen als in der MGH-Edition zugrunde gelegt ist. 32 Rogante dilecto equivoco nostro , fratris videlicet nostri beatissime memorie filio. Fasziniert von equivocus wurde der Name des Herzogs selbst vergessen.
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Oktober, des Monats, in dem Herzog Otto in Italien starb. Damit ging man mit der Datierung kein Risiko ein. In diesem Diplom ließ Wibald den Kaiser beurkunden, quomodo nos ob petitionem et interventum dilecti fratruelis nostri Ottonis . . . quicquid habuimus in villis Meininga et Uualachdorf vocatis et omne quod illuc pertinet in Meinig er amarca ..., ad ecclesiam s. Petri . . . fratribus deo ibi . . . servientibus in perennem expensam concessimus et easdem villas . . . in proprietatem tradidimus, ea videlicet ratione, ut omne .. . dehinc in potestate fratrum . . . Ulis ad victum et usum perpetualiter maneat. In dieses Diplom, mit dem dieser Besitz als Dotations- und Kapitelgut erwiesen wurde, arbeitete Wibald gegen Schluß wohl aus gegebenem aktuellen Anlaß noch einen Passus ein, in dem der Kaiser den Fiskalinen und dienstpflichtigen Eigenleuten, die zu diesen Besitzungen gehörten, die überkommene Rechtsordnung auctoritate imperiali bestätigte. In einem weiteren Diplom, D O.II.84, wurde der Stiftsbesitz in Brend(lorenzen) und Salz als Kapitelgut erwiesen. Auch für diese Urkunde übernahm Wibald das Eschatokoll einem Diplom seiner Vorlagenmappe, das uns als D 0.11.56b in einer Abschrift von G. F. Schott 33 überliefert ist. Er veränderte die vier Jahreszahlen wiederum nur um ein Jahr 3 4 und ließ den Kaiser beurkunden, quia nos ob . . . rogatum dilectissimi equivoci nostri 35, fratris videlicet nostri beate memorie filii , duas nostri iuris ecclesias cum omnibus earum appendiciis , quarum una in loco Salze et altera in villa Brende sita est, der Stiftskirche nostre imperialis potentia auctoritatis in proprium ac perpetuum usum concessimus . . . eo rationis tenore ut hec ecclesie . . . ad . . . ecclesiam s. Petri ... et ad servicium perpetuumque usum canonicorum ibidem . . . famulantium . . . appendant perpetuoque pertineant. b) In Kleinostheim Wibald ließ nach dem Otto-II-Diplom des Stiftsarchivs, das die Übertragung der Gült der Fiskalinen von Kleinostheim beurkundete 36 und wie 33 Zu der Schottschen Überlieferung von Originalvorlagen Wibalds siehe Faußner (Fn. 17), S. 151ff. D O.II.56b diente Wibald bereits für das kanzleigemäße Eschatokoll der DD O.II.39, 52 und 59 für das Erzstift Trier, des D 46 für das Hochstift Worms, des D 38 für das Kloster Lorsch und für die DD 42 und 57 für St. Maximin zu Trier als Vorlage. 34 In der Schottschen Abschrift ist das Kaiser jähr mit V I I statt richtig mit V I angegeben. Da aber für Th. Sickel und die Itinerarforschung, die ja weitgehend von den seinerzeitigen Inspirationen und Launen Wibalds abhängig ist und diese auf Karten gewissenhaft aufzeigt, D98(11.3.974) mit Rekognition Folgmarus cancellarius mit D 84 (20. 6. 974) mit Rekognition Willegisus cancellarius nicht in Einklang zu bringen ist, so wurde eben D 98 entgegen seiner eindeutigen Datierung in der MGH-Edition, in den Reg. Imp. (Nr. 679) und so auch bei Thiel (Fn. 10), Urk. 4 um ein Jahr später, zu 11. 3. 975, eingereiht. 35 Wie in D 98 (vgl. Fn. 32) wurde übersehen, Ottonis ducis einzufügen. 6 n S. 5 .
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üblich seiner Vorlagensammlung eingereiht wurde, eine weitgehend gleichlautende Urkunde schreiben: D 0.11.11131. In ihr wurde zwischen Tettinga villas nominatis und in comitatu Eberhardi eingefügt in argento etfruschingis atque in omni usu in pago Moinegouue, um den Anspruch des Stiftes auf die Fiskalinengült im ganzen Maingau zu belegen. Da der Abschreiber aber wohl mit der alten Ortsbezeichnimg ,vom Orte, genannt Ozenheim, der Hofmark Tettinga' nichts mehr anzufangen wußte, wurde daraus de locis Ozzenheim, Tettinga villis nominatis und in der MGH-Edition ,Abgaben der Orte Klein-Ostheim und Dettingen'. In einem weiteren Diplom (D 0.11.215) war dann nicht mehr die Fiskalinengült Gegenstand der Übertragung an die Stiftskirche ad prebendam fratrum, sondern jetzt wurde predium Ozzenheim selbst übertragen. Dabei ignorierte Wibald wieder einmal die Rechtstatsache, daß es zur Übertragung des Erbgutes (predium) Ozzenheim keiner Königsbeurkundung bedurft hätte, da es sich bei diesem nicht um Reichsgut wie bei der Fiskalinengült handelte, sondern um Erb- und Hausgut, das Herzog Otto seinem Hausstift hätte selbst übertragen können, ohne dazu seinen kaiserlichen Anverwandten bemühen zu müssen. Für das Eschatokoll dieses Diploms nahm Wibald wiederum als Vorlage die ,Vorurkunde' von D 217 (Echternach). Er ließ das Diplom unter Ingelheim 18. 4. 980 ausfertigen und übersah nicht, daß Otto zwischenzeitlich dux Sueuorum et Bauuuariorum geworden war. Gerne bewies er seine beachtlichen Geschichts- und Literaturkenntnisse. c) In Wirtheim
und Liebrighausen
In einem weiteren Diplom (D O.II.128) ließ Wibald den Kaiser beurkunden, daß Wir auf Ersuchen Herzog Ottos Unser Eigentum in den Orten Wirtheim, Kassel und Höchst 38 an die Stiftskirche nostra imperiali potentia in proprium et perpetuum usum concessimus firmiterque donavimus, cum utriusque sexus mancipiis . . . vinetis, venationibus, piscationibus . . . et cum omnibus iure legaliterque ad hec pertinentibus eo tenore , ut hec omnia ad iamdictam eclesiam et ad fratrum ibidem deo servientium certas expensas
37 Zu diesem Diplom Thiel (Fn. 10), S. 19: „Trotz der Auffälligkeit des Titels dux Sweuorum und auch trotz des etwas eigenartigen Inhalts von Urk. 5 (= D 117) scheint es mir angesichts des kanzleigemäßen Diktates nicht zulässig, die Echtheit des Diploms anzuzweifeln. Die Annahme der Echtheit findet schließlich ihre Stütze darin, daß Urk. 10 (= D 215), die als N U den Wortlaut von Urk. 5 fast vollständig übernimmt (mit richtiger Erweiterung der Herzogstitulatur! ) aufgrund ihres Eschatokolls ebenfalls unzweifelhaft echt ist." Ebenfalls unzweifelhaft hätte sich Wibald köstlich über die Dogmatik der diplomatischen Methode' zur Echtheitsfrage und die bedingungslose Folge ihrer Jünger amüsiert, wenn er seinen durchschlagenden Erfolg erahnt hätte. 38 Wirtheim und Kassel Gem. Biebergemünd, Höchst Gem. Gelnhausen, MainzKinzig-Kreis.
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uti cetere res a regibus et imperatoribus ad eclesias tradite pertineant ac perpetuo deserviant. Mit diesem Diplom war auch dieser Besitz als Dotationsund Kapitelgut und damit als res ecclesiasticae des Stifts ausgewiesen. Das Eschatokoll ließ Wibald nach dem Aschaffenburger Originaldiplom schreiben, wobei alle vier Jahreszahlen um eine Zahl erhöht wurden. Damit war die kanzleigemäße Beurkundungsform gewährleistet und die Urkunde »aufgrund ihres Eschatokolls ebenfalls unzweifelhaft echt' 39 . Beim Konzipieren von D O.11.188 kam es Wibald darauf an, den Besitz Liebrighausen 40 wohl aus ähnlichen Gründen wie den Stiftsbesitz im Grabfeldgau als ehemaliges Reichsgut und nicht als ehemaliges Erb- und Hausgut zu erweisen. So ließ er den Kaiser beurkunden, qualiter nos Ottoni duci , fratrueli nostro , rogatu ipsius et supplicatu locum quendem L. dictum in proprium donavimus , quem ipse paterque suus in beneficium habere videbantur. Auch dieser Besitz wurde durch die kaiserliche Übertragung Kapitelgut; denn sie erfolgte ea scilicet ratione, quatinus collegium in A. deo serviens annone sue supplementum in eo habeat ac in omnibus suis pertinentiis integrum ius sue utilitatis potestative retineat. Da Wibald dieses Diplom mit Dortmund 982 datierte, mußte er für das Eschatokoll wiederum die ,Vorurkunde' von D 217 heranziehen; denn sie war das einzige Diplom, das er aus den letzten vier Herrscher jähren Ottos II. in seiner Vorlagensammlung besaß. Die Datierung, die in der Abschrift einiges offen läßt, wird gelautet haben: Anno dominice incarnationis DCCCCLXXXII, indictione X, data est , anno vero regni secundi Ottonis XXI, imperii autem XV. Daß die Tagesangabe ausgespart wurde, lag in der Arbeitsweise Wibalds: Da er vom Tode Herzog Ottos in Italien Ende Oktober 982 wußte, war es ihm beim Diktat zu riskant, einfach so den Tag festzulegen, an dem der Kaiser zusammen mit dem Herzog in Dortmund gewesen sein sollte. Und dabei blieb es dann. Verbleibt noch das Falsifikat für den Stiftsbesitz. d) In Ebermannstadt (LK Forchheim) Anlaß für die Urkunde (D O.II.245) dürften aktuelle Auseinandersetzungen mit der Grafschaft gewesen sein. Dabei kam es diesmal Arnold und Wibald darauf an, daß der Besitz, bevor er an das Stift kam, als Erb- und Hausgut erwiesen wurde. Daher wurde in der Urkunde vermerkt: predium quod Razo quondam tradidit. Sodann verfügte der Kaiser auf Bitten Herzog Ottos, daß alle Bewohner der Hofmark (villa) Ebermannstadt von der gräflichen Gewalt frei seien, auf daß in omni lege ac iusticia agenda per hanc nostri imperii confirmationem nonnisi preposito et advocato eiusdem eccle39
Vgl. Fn. 37. Nach Thiel (Fn. 10), S. 41 ist Liebrekeshusen heute eine Wüstung zw. Battenberg und Dodenau (Kr. Waldeck-Frankenberg). 40
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sie dehinc alieni persone oboedientiam prebeant. Für das Eschatokoll wurde wiederum die ,Vorurkunde' von D 217 herangezogen. Die Abschriften dieser zehn für das Stift gefertigten Urkunden wurden in einer eigenen Archivale, bestehend aus fünf Pergamentblättern, zusammengefaßt 41 . VI. Einträge im Aschaffenburger Evangeliar Seinen Auftrag für das Stift führte Wibald jedoch noch weiter durch Eintragungen im ältesten Evangeliar der Stiftskirche. Dieses wies Johanna Autenrieth der Reichenauer Schreibschule des 3. Viertels des 9. Jahrhunderts zu 4 2 . Lassen wir es hier dabei 43 und wenden uns einigen Einträgen auf freien Stellen der Blätter des Evangeliars zu. Zu ihnen J. Hof mann 4 4 : „Eine genauere Datierung der verschiedenen Hände bietet, wie die z.T. stark auseinandergehenden Ansichten der bisherigen, gewiß fachkundigen Bearbeiter zeigen, Schwierigkeiten." Diese ,gewiß fachkundigen Bearbeiter' sind keine geringeren als die paläographischen Koryphäen Paul Lehmann 45 , Adolf Hofmeister 46 , Harry Bresslau 47 und zuletzt gar noch Bernhard Bischoff 48 . Aber wie sollten selbst sie zu einer einheitlichen Datierung kommen, da die Paläographie des 10. und 11. Jahrhunderts noch ,weitgehend eine terra incognita ist' 4 9 , für diese Jahrhunderte keine feststehenden Schrifttypen zur Schriftbestimmung herangezogen werden können und es sich dazu noch um Einträge handelt, die von Schreibern, im Duktus des 10. und 11. Jahrhunderts geübt, entsprechend ihrem Auftrage so geschrieben wurden, daß der gewünschte Alterseindruck erweckt wurde? 41 Zu diesem »fragmentarischen Kopialbuch des 12. Jahrhunderts' siehe Thiel (Fn. 10), S. 22*f. Die Abschriften haben die Reihenfolge: DD O.II.128, 98, 284, 84, 215, 117, 245, 188, DD LdD 104, 135. Zu den Abschriften Thiel, S. 10: „Da . . . kein Or. erhalten blieb, ist ihre Echtheit nicht von vorneherein gesichert, soweit nicht die Überprüfung des Formulars die damit kontrollierbaren Partien des Textes als kanzleigemäß erweist." Da die Wibaldschen ,Originaldiplome' bestimmen, was mit Kanzleibrauch und Kanzleidiktat zu verstehen ist (vgl. Faußner [Fn. 17], S. 168), so erweist sich selbstverständlich auch das Formular bei Urkunden mit ,Wibaldsyndrom' stets als ,kanzleigemäß'. 42 Vgl. Josef Hofmann, Das älteste Evangeliar der Aschaffenburger Stiftskirche, in: Festschrift (Fn. 1), S. 163 f. 43 Zur Problematik der Skriptorien-Theorie vgl. Faußner (Fn. 17), S. 191 f. 44 Wie vor, S. 176. 45 Paul Lehmann, Aus einem Aschaffenburger Evangeliar, in: Neues Archiv 36 (1911), S. 667 - 679. 46 Adolf Hofmeister, Die älteste Überlieferung von Aschaffenburg. Mit Beiträgen zur Geschichte des sächsischen Königshauses, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 35 (1914), S. 260 - 277. 47 Notae Aschaffenburgenses, ed. H. Bresslau, MGH SS 30, S. 757 - 762. 48 Zur paläographischen Überprüfung durch B. Bischoff siehe J. Hofmann (Fn. 42), S. 176ff. 49 So Hartmut Hoffmann, Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich. Textband (Schriften der MGH 30, 1, 1986), S. 193.
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Mit einigen dieser Eintragungen sollte die Frühzeit des Stiftes unter seinem fundator Herzog Otto abgerundet werden. So ließ Wibald bei seinem bekannten Faible für Reliquien 50 den Herzog eine stattliche Anzahl davon nach Aschaffenburg verbringen, wie sich dies für einen frommen Stifter gehörte, und dies im Evangeliar vermerken: Has reliquias obtulit Otto ad Asschafaburc 51, darunter eine seiner Reliquienspezialitäten: De sanguine sancti Stephani protomartyris. In einem weiteren Verzeichnis 52 wurden die angeblich in den Altären der Stiftskirche verwahrten Reliquien sanctorum martirum aufgeführt. Dabei nimmt er in seiner Ironie die Patrone auf, für deren Kirchen er in letzter Zeit Diplomatareihen gefertigt hatte, wie Hemerammus (St. Emmeram zu Regensburg), Quirinus (Tegernsee), Felix (Zürich), Gallus (St. Gallen). Weiter ließ er einen Eintrag über Tod und Beisetzung Herzog Ottos aufnehmen 53 und in einem anderen Eintrag 5 4 ,erfindet' er eine Gedächtnisstiftung des Mainzer Erzbischofs Willigis für Herzog Otto und seine Schwester Mathilde, qui istum locum ad altare Sancti Martini confessoris pro anime sue remedio tradidere. Mit einer Grenzbeschreibung des Aschaffenburger Forstes 55 und der Notiz über die Übergabe der Pfarrei Lohrhaupten an das Stifte wollte er sich wohl die Anfertigung weiterer Urkunden ersparen. Angeregt von einer vorgefundenen Notiz dürfte die Eintragung einer Gedächtnisstiftung der edlen Frau Richiza 56 geworden sein: Collectis colligendisque fratribus nostris sit cognitum, qualiter quedam nobilis matrona nomine Richiza hunc locum quem eius parentes coenobita religione primum extulerunt, bene operando ditavit. Communi enim fratrum utilitati I I I mansos in loco Criniszi sitos adiecit, ea videlicet conditione ut cum pro eius parentibus debita persolvatur oratio, pariter fiat illius commemoratio.
Auf matrona nomine Richiza werden wir sogleich zurückkommen. VII. Wibalds Fälschungen gegen das Stift Es wäre für Wibald fast ungewöhnlich gewesen, wenn er nicht auch im Falle Aschaffenburg sich eines Tages in seinen Erwartungen, die er mit seinem diplomatischen Einsatz verband, schmählich enttäuscht gesehen und nun in seiner Wut alles daran gesetzt hätte, daß dem Stift aus seinen 50 Vgl. H. C. Faußner, Wibald von Stablo, der Trierer Dom- und Reliquienschatz und die Reichskrone, in: Festschrift Nikolaus Grass zum 70. Geburtstag (Innsbruck 1986), S. 183 f. 51 Hofmann (Fn. 42), S. 186. 52 Ebd., S. 187f. 53 Ebd., S. 188f., und Thiel (Fn. 10), n. 16, S. 69. 54 Ebd., S. 194f., und Thiel (Fn. 10), n. 15, S. 65. 55 Ebd., S. 197, und Thiel (Fn. 10), n. 14, S. 58. se Ebd., S. 196, und Thiel\Fn. 10), n. 18, S. 79.
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Urkunden kein Vorteil erwachse, sondern, ganz im Gegenteil, gewaltiger Streit und Ärger. Und so fertigte er mit der ihm eigenen Energie, wie vormals in Trier 5 7 , Gegenurkunden. a) Gegen den Stiftsbesitz
im Grabfeld
Hatte er für den Stiftsbesitz im alten Grabfeldgau den Prekarievertrag zwischen König Ludwig und Graf Christian abschließen und Kaiser Otto über die Übertragung des Stiftsbesitzes in Salz, Rohr und in der Mark Meiningen urkunden lassen, so ließ er jetzt unter dem 3. März 1057 Bischof Adalbero von Würzburg mit nobilissima matrona Richiza, der Polen Königin, einen Prekarievertrag 58 abschließen, in dem diese der Würzburger Domkirche predium Salze, quod hereditario iure possedit, cum omnibus utensilibus ad eandem curtem rite aspicientibus übertrug und dafür ad huius reconpensationem de bonis ecclesie den Würzburger Hochstiftsbesitz in Thüringen (quod ad nostrum dominicatum respexit) und im Grabfeld neben anderen Orten auch Meiningeromarka auf Lebenszeit erhielt. Nicht genug, Wibald fertigte noch eine zweite Prekarieurkunde unter dem 29. Januar 1058 59 mit einigen abweichenden Formulierungen 60 und einem Zusatz, in dem das einstige feierliche Trauergeleit zur Grablege von Königin Richiza in Köln festgelegt wurde. Für Pomp hatte Wibald stets etwas übrig. Diese Prekarieurkunden sollten erweisen, daß die darin aufgeführten Orte im alten Grabfeldgau spätestens seit Mitte des vorigen Jahrhunderts Würzburger Besitz, die Aschaffenburger Otto-II-Diplome dagegen Historie waren. In seinem Bestreben, die Urkunden für und gegen zu verzahnen, ließ Wibald die matrona nomine Richiza der Aschaffenburger Gedächtnisstiftung den Würzburger Prekarievertrag abschließen. Doch hier irrte er, wie noch so mancher Gelehrter nach ihm 6 1 : nobilis matrona nomine Richiza der 57
Siehe Faußner (Fn. 50), S. 189. Monumenta episcopatus Wirziburgensis n. L X V I I (Monumenta Boica X X X V I I , 1864), S. 25. 59 Ediert bei Franz J. Bendel, Die Schenkungen der Königin Richiza von Polen an das Bistum Würzburg, in: Historisches Jahrbuch 34 (1913), 67 - 70. Zu den beiden (angeblichen) Würzburger Prekarieurkunden vgl. Peter Johanek, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg X X , 1969), S. 23ff. Zusammenfassend S. 26: „Der Schreiber von Ad 2 gestaltete seine Urkunde in den äußeren Merkmalen nach der Form der Kaiserurkunde, benutzt zur Beglaubigung eine Bleibulle, führt darüber hinaus Zeugen an und verwendet eine Symbolfigur, die ihren Platz dort hat, wo in der Königsurkunde das Monogramm des Herrschers steht, zwischen Kontext und Datierung. Auch darin wird also das Vorbild der Königsurkunde beibehalten." 60 In der Urkunde von 1057: manu propria et manu fideiussoris sui (= Richezae) Gozuuini comitis ad altare, dagegen in der von 1058: manu propria et manu mundiburdionis sui Chunradi Karentanie scilicet et Uenecie ducis in manum nostram in legitimo placito. 61 Siehe Hofmann (Fn. 42), S. 196 Anm. 178. 58
Die Fälschungen Wibalds von Stablo
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Gedächtnisstiftung war nicht identisch mit domina Richeza nobilissima matrona et religiosa Boloniorum regina, Ezonis palatini comitis filia, sorore vero Herimanni Coloniensis archiepiscopi ducisque Ottonis Alemmanici des Prekarievertrages 59 , wie er mit seinen genealogischen Kenntnissen brillierte. Denn Matrona Richiza der Gedächtnisstiftung war eine der vier Töchter Itas, der Stiftsgründerin, und damit eine Halbschwester Herzog Ottos. Sie war die erste Gemahlin Erenfrieds, genannt Ezzo, des späteren, in Nachfolge seines Vaters lotharingischen Pfalzgrafen, und die Mutter Königin Richizas 62 , der (angeblichen) Prekaristin. Mit der Identifizierung von Mutter und Tochter berücksichtigte Wibald nicht, daß die Gedächtnisstiftung der Mutter erfolgte, als sich das Stift noch im Familienbesitz befand, also bevor es an die Mainzer Domkirche unter Erzbischof Willigis (t 1011) überging, und damit die Tochter, Königin Richiza (t 1063), als Stifterin schon aus Altersgründen ausscheidet 63 . Kamen Wibald Bedenken, ob mit der bischöflichen Prekarieurkunde gegen seine Aschaffenburger Königsurkunden mit rechtlichem Erfolg angegangen werden konnte? Jedenfalls fertigte er noch drei Diplomata für Würzburg gegen Aschaffenburg. So läßt er Kaiser Otto II. für die Würzburger Domkirche beurkunden 64 : donavimus castellum et nostri iuris curtem Saltce dictam et omnia que ad earn pertinent ... villas ac silvas innumerabiles . . . sive in pago Grapfeldun seu comitatu Ottonis comitis sive in quibuscumque provincialibus pagis, cum omnibus pertinentiis utensilibus possessionibus ... in proprium firmissime tradidimus ... ut idem Heinricus pontifex omnesque sui successores in perpetuum eandem proprietatem totam in omnibus securiter possideant teneant et quicquid eis libuerit . . . usque finem seculi et diem iudicii longe remota. Konnte eine königliche Besitzübertragung auch kaum mehr umfassender und nachdrücklicher beurkundet werden, in seinem haßerfüllten Eifer ließ Wibald auch Kaiser Heinrich II. urkunden 65 , qualiter nos s.Chiliano .. . per hoc regale praeceptum tradidimus quandam nostri iuris villam .. . nomine Salza cum omnibus pertinentiis eius. 62
Vgl. H. C. Faußner, Die Rechtsgrundlage des passiven Königswahlrechtes in ottonisch-salischer Zeit, in: Forum des Lebens - Rechtsgeschichte, Festschrift für Louis Carlen, Zürich 1989, S. 147 ff. 63 Gegen die Identifizierung wandte sich auch Decker-Hauff (Fn. 7), S. 149: „Es kann keinem Zweifel unterliegen: Zu Lebzeiten der Königin Richiza hätte man sie in Aschaffenburg niemals als quedam nobilis matrona, als eine gewisse edle Frau namens Richiza bezeichnet. Diejenige Richiza, die bei ihrer Schenkung an das Stift dessen Gründer ihre parentes nannte, war nicht Richiza von Polen, sondern eine andere Frau aus einem weiter zurückliegenden Zeitraum." 64 D O.III.361 (Originaldiplom), das Eschatokoll nach der ,VU' von D O.III.368 (Erzstift Trier). Dagegen Thiel (Fn. 10), S. 14: „das erhaltene, von dem Kanzleinotar Heribert C verfaßte u. geschriebene O r . . . . ist aber offensichtlich gänzlich unverdächtig!" 65 D H.II.30 (Originaldiplom), das Eschatokoll nach der ,VU' von D H.II.92 (Hochstift Worms).
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Die Orte im Räume Meiningen aber ließ er durch Kaiser Heinrich an Würzburg gegen dessen Abtretung des Rednitzgaus und eines Teils des Volkfeldgaues an das neugegründete Bistum Bamberg übertragen 66 : tradentes econtra eidem Heinrico episcopo suaeque aecclesiae nostrae proprietatis loca in pago Grapfelt in comitatu vero Ottonis comitis sita Meininga et Meiningeromar cham et Walahdorf dicta cum omnibus eorum pertinentiis . . .67. b) Gegen das Zehntrecht in Kleinostheim An die vier Jahrzehnte bewegte ein Streit, der bis in die 40er Jahre zurückreichte 68 , zwischen dem Stift und dem Pfarrer von Kleinostheim um die Zehntrechte der dortigen Kirche 6 9 die Gemüter, bis er durch einen Schiedsspruch beigelegt werden konnte, den Erzbischof Christian im Auftrage Papst Lucius III. um 1182/83 bestätigte 70 . In diesem Streit, der das Mainzer Domkapitel, ja selbst die päpstliche Kurie beschäftigte, dem Stift eine rechtliche Fußangel zu legen, war Wibald ein inneres Anliegen: Hatte er vorher das predium Ozzenheim, das die Kirche und deren Zehntrecht einschloß, dem Stift ad prebendam fratrum durch Kaiser Otto auf Veranlassung Herzog Ottos übertragen lassen (D 215, Ingelheim 980 April 18), so ließ er nun Kaiser Otto den gesamten Zehnt in Kleinostheim der dortigen Kirche ad praebendam parrochini perpetuo iure übertragen (D 324, Goslar 980 November 4). Diese Urkunde zeigt so recht das große psychologische Geschick, um nicht zu sagen, die Perfidie, mit der Wibald eine Urkunde aufbaute, wenn er sich mit ihr rächen wollte. So läßt er den Kaiser formulargemäß auf Bitten Herzog Ottos dem Stift nostre proprietatis quandam villam Ascafa nominatam . .. nostra imperiali auctoritate in proprium et perpetuum usum ... ad fratrum ibidem deo servientium usw. übertragen. Da sich das Stift dieses Besitzes Mainaschaff samt des dortigen Zehnts seit Menschengedenken unangefochten erfreute, war die Urkunde unverdächtig. Und so konnte Wibald zum entscheidenden Schlag ausholen und den Kaiser weiter bekunden lassen: Damit das Stift in den Genuß des gesamten Zehnts von Mainaschaff kom66 D H.II.174 (Originaldiplom), das Eschatokoll nach der ,VU' von D H.II.176 (Hochstift Worms). 67 Da an diesem ,Originaldiplom' nach den Grundsätzen der diplomatischen Methode' kein Zweifel aufkommen kann, konnte sich H. Bresslau in der Vorb. auf die messerscharfe Folgerung beschränken: „Dieselben Orte waren durch DO.II.284 an die Kirche des h. Petrus in Aschaffenburg geschenkt worden und müssen also, insoweit diese Schenkung zur Ausführung gekommen ist, von Heinrich behufs der mit der Ausstattung Bambergs zusammenhängenden Geschäfte wiedererworben sein." 68 Vgl. Thiel (Fn. 10), S. 119. 69 Sie war die Pfarrkirche der alten Zentmark, die auch Dettingen, Aschaffenburg und Mainaschaff umfaßte. ™ Thiel (Fn. 10), n. 27, S. 117.
Die Fälschungen Wibalds von Stablo
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men konnte, der von Hause aus zur Kirche der Zent, der Pfarrkirche Ozzenheim, gehörte, habe er, der Kaiser, auf Bitten des Erzkapellans Willigis und im Hinblick auf die Verdienste seines Kapellans Altmann, der der Kirche Ozzenheim vorsteht, die verlehnte Hälfte des Zehnts von Ozzenheim zurückerworben, um somit den gesamten Zehnt der dortigen Kirche zum Unterhalt ihres Pfarrers auf ewig übertragen zu können 71 . Das Eschatokoll wurde selbstverständlich wie bei D 215 nach der gemeinsamen Vorlage, der,Vorurkunde' von D 217, kanzleigemäß verfaßt 72 . c) Gegen den Stiftsbesitz
Wirtheim
Gegen sein Diplom für Wirtheim (D O.II. 128) und den Aschaffenburger Forst- und Wildbann an der Kinzig dürfte Wibald die Wildbannverleihung Heinrichs IV. für das Kloster Fulda (D H.IV.61) und die Übertragung von Orb cum castro et ceteris appendiciis, scilicet . . . silvis venationibus piscationibus ... et cum omni utilitate an die Mainzer Domkirche (D H. IV. 13 6) konzipiert haben. Das aber bedarf, wie auch D 0.11.321 Mainzer Provenienz, noch der Untersuchung. Kommen wir zum gebotenen Schluß: Interessant wäre, wie stets in solchen Fällen, zu wissen, wie sich die von Wibald für und gegen das Kollegiatstift Aschaffenburg gefertigten Urkunden nun tatsächlich auswirkten oder ob sie vielleicht gar keine Folgen zeitigten und uns weitaus mehr als die Zeitgenossen beschäftigen. Jedenfalls aber wird uns Wibald von Stablo noch so manches Mal mit seinem Einfallsreichtum verblüffen und eine gewisse ,heilsame Unruhe' in unsere Mediävistik bringen, die mit der d i p l o matischen Methode' in einer Sackgasse sitzt, wie allein die Otto-II-Diplomata für Aschaffenburg zeigen.
71
Ut autem dictum praedium fratribus statutam expensam plenarie possit appendere, ipsius villae quae Askafa vocatur totam decimam ab aecclesia quae est in Ozzenheim ad quam pertinebat, hoc restauro comutavimus, . . . medietatem tocius decimae illius villae quae vocatur Ozzenheim, . . . tali tenore Uberrime redemimus ut ex tunc tota decima in Ozzenheim ad aecclesiam ipsius ville et ad praebendam parrochini perpetuo iure debeat pertinere. 72 Die Provenienz dieser Wibaldschen Urkunde ist Mainz. s
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Redefreiheit und Staatsgewalt Erwägungen zu Politik und Gesellschaft in nachtheodosianischer Zeit Von Ernst Ludwig Grasmück Als Johannes, Bischof von Konstantinopel, den eine christlich gewordene Nachwelt um der Berühmtheit seiner Reden willen und in Ablösimg eines Dio von Prusa wie diesen mit dem Beinamen Chrysostomus versah, im Jahre 404 endgültig den Weg in die Verbannung antreten mußte, war wohl die größere Zahl seiner Zeitgenossen der Ansicht, schrankenlose Meinungsäußerung sei die eigentliche Ursache für die Relegation des Bischofs der östlichen Haupstadt gewesen. Für die Parteigänger war das Unglück (tragodia) des Bischofs Folge seines freimütigen Wortes angesichts des Versagens der Staatsgewalt, für die Gegner Folge des von der Obrigkeit nicht mehr hingenommenen Einflusses ungezügelter Redefreiheit. 1 Nach dem Tode des Bischofs Nectarius von Konstantinopel hatte der seit dem Sturz des praefectus praetorio Rufinus fast allmächtige praepositus sacri cubiculi Eutropius Kaiser Arcadius bewogen, den Presbyter Johannes von Antiochien nach Konstantinopel zu bringen und (im Jahre 398) zum Bischof der Hauptstadt ordinieren zu lassen. Nectarius, der verstorbene Bischof, war für den Hof unproblematisch gewesen. Er gehörte dem Senatorenstande an. Bei seiner Wahl zum Bischof war er, wie Ambrosius von Mailand, noch nicht getauft; aber das Volk (demos) von Konstantinopel hatte ihn enthusiastisch akklamiert, da Nectarius noch kurz zuvor als praetor die Wagenrennen im Circus ausgerichtet hatte 2 . Vielleicht erwartete das Volk von dem Bischof ähnliche Freigebigkeit. Die Gründe, derentwegen der Hof nun den ungewöhnlich redegewandten Presbyter aus Antiochia ausgewählt hatte, lagen sicher nicht nur darin, den Kandidaten des politisch so
1 Die Problematik von parrhesia (in allen ihren Spielarten) und Staatsgewalt, die seit hellenistischer Zeit zur Tyrannentopik in der Rhetorik der philosophi gehörte, wurde anläßlich der Feier zur Vollendung des 75. Lebensjahres von Johannes Straub am 6. November 1987 in einem Vortrag thematisiert. Ein Ausschnitt aus diesen Untersuchungen wird hier zu Ehren dessen, dem diese Festschrift gilt, publiziert, weil Paul Mikat sich mehrfach zu der Frage der Obrigkeitshaltung und Widerstandsauffassung der Christen im 1. Clemensbrief und zu Röm 13 geäußert hat. 2 O. Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Bd. 5, Ndr. Stuttgart 1966, S. 156f.
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opportunistischen Bischofs Theophilus von Alexandria zu vermeiden 3 . Als es 388 in Antiochia wegen des neuen Steuererlasses zum Aufruhr gekommen war, bei dem die Standbilder der Kaiser angepöbelt und umgestürzt worden waren, hatten sich die Ansprachen des Johannes im Sinne der Beruhigungsstrategie politisch ganz außerordentlich bewährt. Angesichts der angespannten Lage, wie sie sich für Konstantinopel militärisch durch die dauernden Barbareneinfälle der Goten und Hunnen und die Bedrohung der Grenze zum Perserreich, durch die divergierenden Parteiinteressen in der Hauptstadt selbst und die Machtinteressen Stilichos ergab, konnte ein bischöflicher Redner wie Johannes, der seine Hörer ohne Unterlaß an die Erfüllung ihrer moralischen Pflicht erinnerte und selbst ein Bild der Askese bot, für das fromme Kaiserpaar und die zahlreichen Christen aus allen Schichten nur nützlich sein. Tatsächlich kam Johannes und mit ihm seine viel bewunderte Redekunst, mit der er - von der Schrift des Alten oder Neuen Testamentes ausgehend in gepflegtem Attisch wie der berühmte Rhetor Libanius alle Möglichkeiten pythagoreisch-kynischer Diatribe ausbreiten konnte, um seine Hörer zu besseren Christen zu machen. Aber Konstantinopel war nicht Antiochia. Zwar war die anatolike metropolis seit der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts stets ein Seismograph des Ostens für die Loyalität gegenüber den Kaisern gewesen, aber Struktur und Verhalten der Ortskirche von Konstantinopel, also der Christengemeinde am Ort der Residenz neuen Stils mit der ständigen Anwesenheit des Hofes, waren von denen der syrischen Metropole mit ihrer Tradition und der Nähe der syrischen Christen zum Synagogenbrauchtum sehr verschieden, mochte auch die soziale Problematik antiker Großstädte vergleichbar sein. Je nach ihrer Provenienz wollten die Christen mit hellenistischer Bildung den Heiden nicht nachstehen und - wie wir an Johannes Chrysostomus sehen - versuchten, es einem Libanius gleichzutun. Überraschenderweise (oder auch nicht) bewahrten die Christen Antiochias die Kaiser - außer Theodosius I. - in nicht besonders gutem Andenken, zumal Valens nicht und schon gar nicht „den Tyrannen" Julian. Das war anders als bei Libanius und nicht nur eine Frage der Orthodoxie. Bereits als Kleriker, aber noch ehe er zum Presbyter und Kirchenredner bestellt worden war, hatte Johannes Chrysostomus die literarische Auseinandersetzung mit Libanius in der Schrift De sancto Babyla contra Iulianum gesucht. In dieser Stellungnahme pries Johannes Chrysostomus die parrhesia des Märtyrers und einstigen Bischofs gegenüber dem römischen Kaiser. Zugleich richtete sich die literarische Invektive gegen den Tyrannen Julian, der den Märtyrer seines Grabes beim Apollohain von Daphnis (vor Antiochia) beraubt hatte 4 . Viel konkreter aber mußte Johannes, gerade zum 3
Vgl. e . ,
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2
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Presbyter ordiniert, die Haltung der Christen (und Bürger) angesichts der Macht des Herrschers und des Staatsapparates darlegen, als er nach dem Aufruhr in Antiochia - es ging um den Steuererlaß, bei dem die Kaiserbilder geschändet worden waren, - die verstörten und immer noch unruhigen Einwohner mit seinen vielgerühmten Reden des Jahres 386 zum Aufgeben aussichtslosen Widerstandes und zur Unterordnung um der eigenen Vergehen willen und aus Hoffnung auf Gottes Vergebung bewegen wollte: „Was soll ich sagen und was predigen? Tränen fordert die Gegenwart, nicht Worte; Klagen, nicht Reden; Gebet, nicht Erörterung vor allem Volk. So ungeheuer ist die frevelhafte Tat . . ., so groß die Wunde . . ., daß alle Städte rundum zu unserer Stadt kommen sollten, um voller Mitleid das Geschehene zu beweinen.. . . Wer hat dieses uns angetan, wer uns beneidet. Keine liebenswürdigere Stadt als die unsere gab es. Keine ist jetzt bedauernswerter als sie. Ein Volk, sonst so gehorsam und friedfertig und den Händen seiner Herrscher immer Untertan, . . . ist jetzt plötzlich so unbändig geworden und hat so viel Böses angerichtet. . . . Keine Stadt war zuvor glückseliger als unsere . . ., keine ist jetzt unglücklicher als sie.. . . Ich klage und weine jetzt nicht wegen der Größe des zu befürchtenden Unglücks, sondern wegen des Übermaßes des Wahnsinns, der zum Ausbruch gekommen ist. Denn wenn auch der Kaiser nicht voller Zorn straft und sich rächt, sage mir, wie werden wir die Schmach des Geschehenen ertragen können?" 5 Die Stadt liege verlassen; wer die Möglichkeit gehabt habe, sei geflohen; die anderen hielten sich versteckt, so fährt der Redner fort. Eine Stadt von solcher Größe, die Hauptstadt der Oriens, laufe Gefahr, ausgerottet zu werden und vom Erdboden zu verschwinden. „Nun ist die Kinderreiche plötzlich kinderlos geworden; keiner kann ihr helfen. Denn der, der beleidigt wurde, hat nicht seinesgleichen auf Erden. Der Kaiser ist Gipfel und Haupt aller Menschen auf Erden. Deshalb laßt uns zu dem König droben unsere Zuflucht nehmen; ihn laßt uns um Hilfe anrufen . . ." 6 . Zu einem anderen Zeitpunkt verweist der Redner darauf 7 , daß der Vater der Ortskirche (pater episcopus) in allem Freimut (parrhesia) vor die zu fürchtende maiestas des Kaisers hintreten und um Schonung für seine Stadt bitten werde, weil nicht der ganzen Stadt (im Sinne einer Kollektivhaftung) das Vergehen angelastet werden könne, da das Geschehene doch das Verbrechen einiger fremder, ausländischer Menschen sei, die der Vernunft entbehrten, die zu Unrecht in die Stadt eingedrungen seien und sich tollkühn und aufsässig verhielten 8 . Antiochia sei doch Herold des Christennamens, es
4 Vgl. Chr. Baur, Der heilige Johannes Chrysostomus und seine Zeit, Bd. 1, München 1929, S. 212 - 233. 5 Vgl. Joh. Chrys. hom. 2,1 de stat. 6 Vgl. Joh. Chrys. hom. 2,3 de stat. 7 Vgl. Joh. Chrys. hom. 3,1.2 de stat.
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sei die Stadt, in der die Christen zuerst ihren Namen erhalten hätten 9 . „Dieses wird der Bischof (hiereus) sagen und mehr als dieses mit noch größerem Freimut (parrhesia). Der Kaiser w i r d es hören; und da der basileus philanthropos ist und der hiereus treu zu seinem freimütigen Wort steht, haben wir von beiden Seiten Gutes zu erhoffen. Aber mehr noch als auf die Zuverlässigkeit des (Vaters und) Lehrers und auf die dementia Caesaris (die philanthropia des Kaisers) wollen wir auf die philanthropia (dementia/ misericordia) Gottes vertrauen. Denn während der Kaiser angefleht wird und der Bishof ihn anfleht, wird er (sc. der König der Könige) in der Mitte stehen, des Kaisers Herz besänftigen .. ., damit dieser das freimütig Gesagte mit Nachsicht aufnehme und die Bitte erhöre" 10 . Nicht wie die gottesfürchtigen Jünglinge (im Feuerofen) sollen die Bewohner Antiochias den Zorn des Tyrannen fürchten, sondern guten Mutes sein, weil sie einen philanthropos kai eirenikos basileus haben 11 . Vorsichtshalber wird der Vergleich fortgeführt in der Gegenüberstellung von Sklave und (innerer) Freiheit, von Verlust der polis (patria) und dem politeuma in den Himmeln. Johannes Chrysostomus läßt im weiteren Verlauf seiner Reden keinen Zweifel: Die Obrigkeit schreckt, deshalb sollen die Priester trösten. Die Machthaber drohen, deshalb soll die Kirche ermutigen. Denn die Kirche ist die gemeinsame Mutter aller. Wörtlich heißt es noch einmal: „Da nun die Obrigkeit auch euch (sc. die Antiochener) in Schrecken gesetzt und in (den Kampf der) Angst gestürzt hat, so öffnet die Kirche, unser aller gemeinsame Mutter, ihre Arme, tröstet und sagt, daß auch die Furcht vor der Staatsgewalt nützlich sei. . . . Gott selbst hat die Obrigkeit bewaffnet, daß sie die Tollkühnen schrecke. . . . Denn wenn wie hier, wo es Obrigkeit gibt und Soldaten unter Waffen stehen, eine Rotte fremden Gesindels .. . einen solchen Sturm entfacht, wie weit hätten sie ihren Wahnsinn getrieben, wenn die Furcht vor der Obrigkeit aufgehoben wäre?" 12 . . . Denn nimmst du uns die Gerichtshöfe, dann nimmst du uns alle Ordnung des Lebens 13 . Alsbald folgt dann ein Verweis auf Paulus (Rom 13): Es ist keine Gewalt außer von Gott 1 4 . Wenn w i r zwischen den Zeilen lesen, die kritischen Untertöne mithören und alle Quellen zu den Ereignissen in Antiochia 387/8 berücksichtigen, 8 Vgl. Joh. Chrys. hom. 3,1 de stat.; vgl. P. Mikat, Die Bedeutung der Begriffe Stasis und Aponoia im 1. Clemensbrief, in: ders., Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht (hrsg. v. J. Listi), Bd. 2, Berlin 1974, S. 719 751. 9 Ebd. 10 Vgl. Joh. Chrys. hom. 3,2 de stat. 11 Vgl. Joh. Chrys. hom. 4,5 de stat. 12 Vgl. Joh. Chrys. hom. 6,1 de stat. Zu der hier von dem antiochenischen Redner angesprochenen Problematik vgl. Mikat (Fn. 8). 13 Vgl. Joh. Chrys. hom. 6,1 de stat. .
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stellen w i r fest, daß die Wirklichkeit düster genug gewesen ist. Tisamenus, der Statthalter der Provinz Oriens, hatte im Sinne der Kollektivhaftung zunächst einmal schonunglos ein Exempel statuiert. Die von Theodosius entsandten Untersuchungsrichter, der magister officiorum Caesarius und der comes und magister utriusque militiae Hellebich, warteten auf weitere Anweisungen des Kaisers 15 . Johannes Chrysostomus wußte die Situation, daß Bischof Flavian beim Kaiser Gnade für die Stadt erflehen sollte, durchaus für die Kirche zu nützen, - erst recht als der heimgekehrte Bischof zum Osterfest des Kaisers Amnestie mitteilen durfte. In einem großen Entwurf pries der Redner noch einmal die parrhesia des Bischofs, die in praxi offensichtlich zunächst in nichts anderem als einem schweigenden Büß- und Demutsgestus (verhüllter Proskynese als Ausdruck der Bereitschaft stellvertretender Strafübernahme) bestand, und er verherrlichte die Güte des Kaisers als Ausdruck der philanthropia Gottes. Ziehen wir einige Sätze aus dieser Mischung von Panegyrikus und Propaganda heran: „Alle schauen auf uns, Juden und Heiden. Täuschen wir sie also nicht in ihrer Hoffnung auf uns. Denkt an den Mut des Bischofs und bedenkt die philanthropia Gottes." 16 Dann wird herausgestrichen, was der Bischof für die euergesia (salus) der polis getan hat. „So hat der Bischof vor Gott und den Menschen Ehre erworben. Den Kaiser aber hat diese Begebenheit herrlicher geschmückt als jede Krone (Diadem)... . Keinem gesteht er zu, was er den Bischöfen gewährt." Damit die Hörer aber (wörtlich) die dementia Caesaris, die sophrosyne des Bischofs und vor allem die philanthropia Gottes noch deutlicher erkennen können, erläutert der Redner, daß die Menschenfreundlichkeit des Kaisers Ausdruck und Zeichen der Menschenfreundlichkeit Gottes seien, der dem Kaiser das Diadem verliehen habe 17 . Der Kaiser als „secundus a deo" aber hat seine Herrschaft von Gott. Seine Milde ist Beweis für die Barmherzigkeit Gottes. Um der Güte des Kaisers willen sollte die Stadt fortan eher den Namen Philanthropia statt Antiochia tragen 18 . Auch jetzt sah die Realität ein wenig anders aus. In Scharen waren inzwischen die Mönche - natürlich auch im Blick auf das Osterfest - mit Knüppeln bewaffnet in die Stadt gekommen, um „interzessorisch" für die Verhafteten einzutreten. Nicht nur die Askese und der Kampf mit den daimones machte sie zur militia Christi, wie wir auch von Ägypten her nur allzu gut wissen. Sich vor oder gar zum Osterfest gründlich an diesen heiligen Män15 Vgl. G. Rauschen, Jahrbücher der christlichen Kirche unter dem Kaiser Theodosius dem Grossen, Freiburg 1897, S. 148, 264, 513 f. 16 Vgl. Joh. Chrys. hom. 21,1 de stat. 17 Vgl. Joh. Chrys. hom. 21,3 de stat. 18 Ebd.
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nern zu vergreifen, war nicht nur für Syrien wenig ratsam. Die Ereignisse, die uns ein Flavius Josephus Schildert, waren in Syrien und zumal Antiochia unvergessen, und auch der Ruhm der Makkabäerbrüder hatte sich einigermaßen ungebrochen gehalten. Selbstverständlich versuchte Chrysostomus das so zu verstehen, vielleicht auch zu beeinflussen, als hätten die Mönche zum Austausch mit den Verhafteten in die Gefängnisse gehen wollen. Die Behörden wußten die ordnungsaf firmier ende Art der Reden und deren beruhigenden und auf Gottes Erbarmen vertröstenden Einfluß auf das Volk zu schätzen. 19 Grundsätzlich hat Johannes Chrysostomus in späteren Jahren, aber noch ehe er Bischof von Konstantinopel wurde, in seiner Auslegung zu Röm 13 folgende Auffassung vertreten: Jedermann sei der Obrigkeit Untertan, bedeute, daß der Herrscher über die Untertanen gesetzt sei wie der pater familias über sein Haus. Paulus wolle zeigen, daß Christus seine Gesetze nicht zum Umsturz der staatlichen Ordnung, sondern zu deren Verbesserung gegeben habe, damit keine unnützen und überflüssigen Kämpfe gegen diese geführt würden. Wenn die Christen schon ihren Feinden mit dem Gegenteil heimzahlen sollten, sei Gehorsam um so mehr denen zu leisten, die sich als Wohltäter (euergetes) erweisen. Der Apostel stelle es einfach als Pflicht hin, so zu handeln. Und dies gelte nicht nur für Leute der Welt (Laien), sondern auch für Kleriker und Mönche. Unterordnung tue der Frömmigkeit keinen Abbruch. Wenn der Apostel sage, es gebe keine exousia außer von Gott, meine er damit aber nicht den einzelnen Inhaber der Macht, sondern die Institution. Ordnung, Über- und Unterordnung müsse es geben. Gleichheit im Rang sei nur Anlaß zum Streit. Das grundsätzliche Machtverhältnis sei ein Werk der Weisheit Gottes. Jeder, der sich gegen die staatliche Gewalt erhebe, widersetze sich der Anordnung Gottes 20 . Offensichtlich teilten nicht alle Christen diese Meinung. Denn Johannes Chrysostomus machte den Christen und Bürgern nicht nur das Steuerzahlen zur Pflicht, um der daraus für die polis resultierenden Wohltaten willen, sondern er mußte einem Einwand von christlicher Seite begegnen, der sich gegen jede Unterordnung richtete, da doch vor Gott alle Menschen gleich seien: „Damit nämlich Christen nicht sagen können, du erniedrigst uns ja, du machst uns verächtlich, wenn du uns, die wir einmal des Himmels Herrlichkeit genießen werden, denen, die Macht ausüben, unterwirfst, macht der 19 Zwei Jahre später, bei den Ereignissen von Saloniki, als energisches Durchgreifen der Umgebung des Kaisers nun doch angeraten schien, hat der magister officiorum und spätere praefectus praetorio Rufinus zwischen Ambrosius und Theodosius vermittelt, was Rufinus die amicitia des Bischofs von Mailand eingetragen hat; vgl. Ambros. epist. 52. 20 Vgl. Joh. Chrys. hom. 24 in Rom. Zu der bleibenden Aktualität der Gehorsamsund Widerstandsproblematik nach Röm. 13 vgl. P. Mikat, Zur Gehorsams- und Widerstandsproblematik nach Röm 13,1 - 7, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görresgesellschaft 1987, Köln 1988, S. 19 - 33.
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Apostel klar, daß er sie nicht den Machthabern, sondern Gott Untertan macht. Der Apostel sagt nicht", so Johannes Chrysostomus, „daß der Gott gehorcht, der den Machthabern gehorsam ist,. . . sondern daß der sich gegen Gott, der dieses Gebot gegeben hat, empört, wer der Obrigkeit nicht gehorcht" 21 . So wollte Paulus die ungläubigen Machthaber für die christianitas und die Christen für den Gehorsam gewinnen; denn es habe damals einen rumor gegeben, der den Aposteln Aufruhr (stasis) und Neuerungssucht nachsagte und sie bezichtigte, ihr ganzes Verhalten und Reden richte sich auf Umsturz der staatlichen Ordnung 22 . An anderer Stelle fordert der Redner, für die Obrigkeit, die nicht wenig zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Ordnung im irdischen Leben, beitrüge, zu beten. „Man halte mir nicht entgegen", fährt er wörtlich fort, „mancher Inhaber eines Amtes mißbräuche seine Macht, sondern man beachte die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung und erkenne die Weisheit, die in der Einrichtung als ganzer liegt" 2 3 . Die konkrete Begegnung mit Legislative und Exekutive ließ nicht auf sich warten, nachdem Johannes Bischof von Konstantinopel geworden war. Es ging um das Asylrecht der Kirchen. Mit Gesetz vom 27. Juli 398 versuchte Eutrop das Asylrecht der Kirchen in dem Sinne zu beschneiden, daß rechtmäßig verurteilten Verbrechern die Zuflucht zum Altar zu verweigern sei. Gerade bei Steuerschuldnern kam es zunehmend vor, daß Mönche (oft unter Führung von Klerikern) den Gerichtsbütteln die Verhafteten entrissen und ihnen in den Kirchen Asyl gewährten. Der Bischof protestierte gegen den Erlaß des Eutropius. Auch dies war eine Form der parrhesia. Natürlich bot das allgemeine Verständnis, der allmächtige Höfling wolle seinen persönlichen Gegnern die Möglichkeit der Asylsuche abschneiden, eine entsprechende Voraussetzung. Aber das muß nicht unbedingt so gewesen sein; denn immerhin versuchte Eutropius, die Flucht aus dem Decurionenstand in den Klerus aufzuhalten, während Stilicho im Westen die Immunität der Kleriker dahingehend ausweitete, selbst die Handel treibenden Mitglieder von der entsprechenden Steuer zu befreien. Der Dichter Claudian, wie immer man zu ihm stehen mag, hatte allen Anlaß, den exorbitanten frommen Aberglauben im Westen wie im Osten, aus dem Johannes Chrysostomus durchaus politisch Kapital zu schlagen wußte 24 , beißend zu verhöhnen 25 . Als Arcadius zögerte, der Verdrängung der Nicht christen aus allen leitenden Stellen der 21
Vgl. Joh. Chrys. hom. 24 in Rom. Vgl. ebd. und die genannte Problematik, wie sie von P. Mikat zu 1 Clem. erörtert worden ist; vgl. Mikat (Fn. 8); E. Demougeot, De l'unité à la division de l'Empire Romain 395 - 410, Paris 1951, S. 306 - 331. 23 Vgl. Joh. Chrys. hom. 24 in Rom. 24 Vgl. z.B. im Zusammenhang mit dem Erdbeben in Konstantinopel; vgl. Fl. van Ommeslaeghe, Jean Chrysostome en conflict avec l'impératrice Eudoxie. Le dossier et les origines d'une légende, in: Analecta Bollandiana 97,1979, S.131-159. 25 Claudius Claudianus, Carmina (ed. Wedekind). 22
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Stadt Gaza und der Zerstörung der Tempel zuzustimmen, weil die Stadt politisch loyal und steuerlich zuverlässig war, intervenierte der Bischof von Konstantinopel (auf die Vorstellung bestimmter Bischöfe hin) bei Hofe geschickt und stellte statt staatlicher Mittel die Finanzkraft reicher Diakonissen seiner Gemeinde bereit. In den Verwicklungen um Gainas und im Verhalten gegenüber den nichtnizänischen Goten scheint er Provokation und Konfrontation taktisch klug vermieden zu haben. Dabei gelang es ihm, in bewährter Manier auf das christliche Volk und offensichtlich darüber hinaus auch auf Juden und Heiden beruhigend einzuwirken 26 , als die Komplotte und Intrigen im Kreis der höchsten Beamten- und Militärchargen und die Truppenbewegungen sowie die Einfälle einzelner Goten- und Hunnenstämme die Stimmung in der Bevölkerung wegen drohender Kriegsgefahr und möglichem politischem Umsturz äußerst reizbar machte. Nicht anders als die Kyniker und die frühjüdische Weisheitsliteratur predigte er, daß Reichtum und Armut, Ehren und Würden, ja selbst das irdische, geplagte Leben Adiaphora seien. Aber ausnahmsweise hörte die Menge, wiewohl mit Wagenrennen im Circus u. ä. beschäftigt, auch einmal hin, weil das soziale Engagement des Bischofs, der sittliche Ernst, den er dem Klerus abverlangte, und die K r i t i k an dem Luxus der Reichen - auch der frommen Damen bis in die höchsten Kreise bei Hofe - bei denen, die nicht arm waren, ihm mehr Feindschaft eintrugen, als dem Bischof zuträglich sein konnte. Die manchmal ungewöhnlich deutliche K r i t i k wurde als ungebührliche, nicht zu duldende Redefreiheit zurückgewiesen, die Veräußerung von Weihgeschenken zugunsten der Armen als Frevel bezeichnet. Abgesehen von dem Unmut bei einem Teil seines Klerus, Damen des Hofes und schließlich der Kaiserin selbst, mußte der Versuch, ein abwasserfähiges und klimatisch günstiges Gebiet vor der Stadt für die Leprösen zu reklamieren, von den Besitzern der dort liegenden Gärten und Landhäuser als unverzeihlich empfunden werden 27 . Nicht der Bericht des Palladius, sondern die Deutlichkeit der Äußerungen in den Jahren 402/3 läßt erkennen, daß der Bischof wußte, er werde dem Einfluß der Mächtigen weichen müssen. 28 Darüber hinaus einen Bischof Theophilus von Alexandria nicht zum Freund zu haben, relativierte, um möglicher Versorgungsschwierigkeiten willen, ohnehin Gunst oder Schutz der Regierung. Denn Theophilus ließ mit seinen Mitteln und Möglichkeiten, 26
Zu diesem Umstand vgl. bereits Fn. 16. Vgl. Fl. van Ommeslaeghe, Jean Chrysostome et le peuple de Constantinople, in: Analecta Bollandiana 99, 1981, S. 329 - 349. 28 Zu Palladius, Vita Iohanni Chrysostomi, vgl. Joh. Chrys., Epist. ad Innoc.; Vener.; Chromat.; vgl. außerdem St. Verosta, Johannes Chrysostomus. Staatsphilosoph und Geschichtstheologe, Graz / Wien / Köln 1960, S. 244ff.; 351 ff. 27
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wann immer er es wollte, die Matrosen und Dockarbeiter streiken und die Getreideschiffe aus dem Hafen von Alexandria nicht auslaufen oder er ließ die Fracht in Konstantinopel nicht löschen.
Bei Johannes Chrysostomus selbst hören wir fast nichts von dem Tauziehen der germanenfreundlichen und germanenfeindlichen Gruppen in der gesellschhaftlichen Oberschicht und unter den höchsten Beamten und Militärs, die sich gegenseitig abzublocken versuchten, um den politischen Kurs bei Hofe zu bestimmen. Gerade aus diesen eben besprochenen Jahren zwischen 399 und 402 besitzen wir jedoch ein Werk des Synesius von Cyrene, literarisch inspiriert von Dio von Prusa, politisch dirigiert von Aurelianus, dem praefectus praetorio der Jahre 400/1, einem der einflußreichsten Barbarengegner am Hof 2 9 . Wieder geht es um parrhesia und gute Königsherrschaft oder Tyrannis 30 . Der Verfasser, Synesius, betont - sprachlich mindestens ebenso glanzvoll wie Johannes (Chrysostomus) - hier und in einer späteren Schrift das freimütige Wort gegenüber dem Herrscher. Er habe „kühner gesprochen als je ein Hellene". Es ist wahrscheinlich, daß Aurelian, zur Zeit seiner Präfektur wichtigster Mann der antibarbarischen (also antigermanischen) Politk, mit diesem Panegyrikus ein Stück seines Programms erkennen und publizieren lassen wollte. In diesem Werk ist es nicht die philosophia der Christen, sondern die der Hellenen, die die Seele des Herrschers bekränzen soll. Wieder ist es Theodosius, der prototypisch gepriesen wird. Ihm war die Herrschaft als Lohn der Tugend gegeben. Ihm verschaffte der Kriegsdienst die basileia. Er hat zwei Tyrannen (Maximus und Eugenius) bezwungen und starb selbst eines natürlichen Todes. Unbestritten hat er seinen Söhnen die Kaiserherrschaft hinterlassen. Diese haben sie ohne Mühe erhalten. Doch nur die eigene Tugend 31 und Gott können ihnen die Herrschaft erhalten. So wie der Kriegsdienst dem Vater die (Königs)Herrschaft gebracht habe, lege diese dem Sohn den Kriegsdienst auf. Das Verhalten des wahren Herrschers muß dem Gesetz gemäß sein, - im Gegensatz zum Tyrannen, der sein Verhalten zum Gesetz mache. So wie die maiores in ihren Gebeten zu Gott bei den heiligen Mysterien nicht dessen Macht, sondern Gottes Gunst und Fürsorge angerufen haben, wird auch der wahre (= gute) Herrscher, der ein Abbild Gottes ist, zum Wohltäter (euergetes) und Heilbringer (soter) seiner Städte
29 Vgl. Synes., Ägyptische Erzählungen oder Die Vorsehung; ders., Das Königtum (Migne, Patrologia Graeca 66); vgl. G. Grützmacher, Synesios von Kyrene, ein Charakterbild aus dem Untergang des Hellenentums, Leipzig 1913, S . 3 9 - 4 7 ; Chr. Lacombrade, Synésios de Cyrène. Hellène et Chrétien, Paris 1951, S. 97 ff. 30 Vgl. Dio, orat. 62: peri basileias kai tyrannidos. 31 Gemeint sind die vier sogenannten Kardinaltugenden als die Tugenden des Herrschers.
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(poleis). Das sicherste Fundament der Herrschaft ist die eusebeia (pietas). Nur dann steht der Herrscher fest, wenn er von der Liebe seiner Soldaten getragen ist. Deshalb muß er aus der Verborgenheit seines Palastes hervortreten, unter seine Soldaten und das Volk gehen und selbst beim Heer weilen. Denn wer ist schmählicher als ein Herrscher, den die, die für ihn kämpfen, nur durch die Maler kennenlernen? Nichts hat das Römertum so heruntergebracht wie die Verhüllung der maiestas des Herrschers und ihre Adoration. Der mos maiorum, durch den die Römer Herrschaft und Reich errungen haben, wird im Gegensatz zu der gegenwärtigen Entartung des Staates beschworen. Einst führten die Kaiser die Heere an. Sie verteidigten die Heimat gegen die Barbaren. Arcadius soll das imperium zur Sitte der Väter zurückführen und die salus populi wiederherstellen. Dazu muß er die Barbaren aus dem Heer entfernen und die Römer zur Verteidigung des Vaterlandes aufrufen, ganz gleich ob Bauern oder Handwerker, Lehrer oder Kaufleute, ja selbst den beschäftigungslosen Pöbel, der aus Langeweile sein Leben im Theater verbringt. Es soll der Römersinn, die Siege selbst zu erkämpfen, wieder geweckt werden. Der Kaiser muß für den Krieg gerüstet sein, um einen ehrenvollen Frieden zu bewahren. Den friedlichen Bürgern des Reiches soll er wie ein Vater (pater patriae) sein. Darum ist es erste Pflicht eines geordneten Staates, daß die Soldaten den Städten und Landbewohnern nicht zur Last fallen. Wenn die Soldaten so erzogen sind, daß sie mit den Unbewaffneten wie Brüder umgehen und nur das beanspruchen, was für sie bestimmt ist, dann wird der Friede vollkommen sein. Der Herrscher soll - als Abbild Gottes - der erste Lehrer seines Volkes sein. Reichtümer zu sammeln, soll künftig als Schande gelten. Inmitten seines Volkes soll der Kaiser seine Hände erheben und den allen gemeinsamen König, Gott, anbeten. Der gottliebende Herrscher (eusebes) wird auch menschenliebend sein. Seine dementia gegenüber den Untertanen wird diesen die philanthropia Gottes vorstellen. Synesius schließt mit dem Wunsch, in Arcadius möge das Bild des guten Herrschers verwirklicht werden, der der philosophia, der wahren Bildung, seine schützende Pflege zukommen lasse.32 Die Steuererleichterung, die Aurelian als praefectus praetorio Synesius für Cyrene und die Pentapolis gewährt hatte, wurden nach dessen Sturz von Caesarius als praefectus praetorio wieder rückgängig gemacht. Synesius mußte also noch in Konstantinopel ausharren, wenn er nicht unverrichteter Dinge in seine Heimat zurückkehren wollte. Auf den Umsturz dieser Jahre bezieht sich das Werk des Synesius „Der Ägypter oder die Vorsehung". Die historischen Berührungspunkte mit bestimmten Angaben des Johannes Chrysostomus in dessen Reden sollen hier unberücksichtigt bleiben, ebenso wie die Geschichtsperiodisierungen beider, des Neuplatonikers und des christlichen Bischofs, die sich durchaus als politische (= nämlich von der 32
Vgl. Synes., Das Königtum (Fn. 29).
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polis und dem polis-Verständnis ausgehende) Theologie verstehbar machen lassen. Synesius wurde in späteren Jahren wegen seiner konstruktiven wirtschaftlichen Maßnahmen in seiner Heimat und der erfolgreichen Organisation der Verteidigungs- und Abwehrmaßnahmen 33 gegen die immerzu plündernd einfallenden Grenzstämme von der Bevölkerung zum Bischof von Ptolemais gemacht. Als solcher geriet er in scharfen Konflikt mit Andronikus, dem Statthalter der Pentapolis. Johannes Chrysostomus mußte 404 endgültig, zunächst nach Kukusus, dann nach Arabissus, in die Verbannung gehen. In zahlreichen Briefen, von denen die wichtigsten im Stile der Konsolationsliteratur verfaßt sind, bemühte er sich - wie einst Ovid - , obgleich es ihm, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keineswegs schlecht ging, daß sein Los von der Regierung abgeändert werde; denn Kaiserin Eudoxia war bereits Ende 404 gestorben. Nicht theologische Lehrunterschiede hatten ihn zu Fall gebracht, sondern das ließ er deutlich erkennen - die Art zu reden, die er sich - er sagte „freimütig", die Gegner sagten „unzumutbar" - herausgenommen hatte. Und er wurde nicht müde, „wie die Jünglinge im Feuerofen" (!), die Opfer der tyrannis geworden waren, Gott zu loben, d.h. sich mit diesen Opfern der tyrannis zu vergleichen. Die parrhesia des Bischofs resultierte allein aus der zu verkündigenden philanthropia Gottes, deren sichtbarer Ausdruck und Ausfluß die dementia Caesaris sein sollte. Dieses letzte Bild war nicht neu. Hatte Synesius für sein Verständnis vom Herrscher als Abbild Gottes auf Dio von Prusa zurückgegriffen, so hatte Johannes Chrysostomus Themistius, der von Theodosius selbst zum Lehrer des jungen Arcadius bestellt worden war, zur Vorlage genommen und dessen Entwurf auch als christliche Meinung beansprucht. 34 Um abschließend einige Fragen an diese Zeit stellen zu können, wollen wir im Sinne von Erwägungen zu Politik und Gesellschaft der nachtheodosianischen Zeit einige Zusammenhänge in Erinnerung rufen. Wie Kaiser Julian haben Valentinian I. und Valens, die selbst ungern eine Gelegenheit ausließen, große Vermögen zu konfiszieren, versucht, die drükkende Lage der niederen Volksschichten zu mildern und Mißbräuche in der Steuererhebung zu verhindern 35 , um so der zunehmenden Korruption entgegenzutreten. Ausdrücklich wurde 365 den defensores civitatis, die seit Kon33 Es waren die Selbsthilfemaßnahmen eines politisch engagierten Großgrundbesitzers wegen des Versagens der Reichspolitik und kaiserlichen Administration. 34 Vgl. dazu Demougeot (Fn. 22), S. 240 - 242; ferner P. Mikat, Zur Fürbitte der Christen für Kaiser und Reich im Gebet des 1. Clemensbriefes, in: Religionsrechtliche Schriften (Fn. 8), Bd. 2, S. 829 - 844. 35 Vgl. E. Stein, Geschichte des spätrömischen Reiches, Bd. 1: Vom römischen zum byzantinischen Staate, Wien 1928, S. 277ff.; 344.
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stantin weitgehend die Bagatellgerichtsbarkeit der duoviri iure dicundo mitübernommen hatten, jetzt als defensores plebis der Schutz der niederen Klassen zur wichtigsten Aufgabe gemacht 36 . Doch bereits unter Theodosius und Valentinian II. sanken diese, weil jetzt von den curiales gewählt, zu munizipalen Beamten und damit zu fast völliger Ineffizienz herab. Hier erweiterte sich der Aktionsradius für starke Bischöfe großer Gemeinden; hier war ein möglicher Ort der parrhesia. Der wachsende Einfluß findet wohl seinen Niederschlag in einem Gesetz des Honorius von 409. 37 Die bischöfliche Schiedsgerichtsbarkeit seit Konstantin hatte die vorher genannte Gerichtsbarkeit der duoviri iure dicundo weitgehend verdrängt. Die Episkopen waren seit den letzten Jahrzehnten des 4. Jhs. eher denn die defensores in der Lage und interessiert, die kleinen Leute zu schützen. Ferner hatten Konstantin und seine Söhne die fundi rei publicae für die Krone eingezogen. Sie waren von Julian den Städten zurückgegeben worden, eine wirtschaftspolitische Maßnahme, die für Anliegen und Konzeption dieses Kaisers charakteristisch ist. Valentinian und Valens waren sich der Bedeutung dieser Maßnahme wohl bewußt und wählten einen Kompromiß, insofern ein Drittel der Einnahmen der fundi rei publicae den Städten, z.B. für Instandsetzungsarbeiten bei Stadtmauern, Zufahrtsstraßen oder Wasserleitungen, verblieb. 38 Auch hier nahmen die Möglichkeiten der Bischofsgemeinden in dem Maß zu, in welchem die munizipale Autonomie dahinschwand. Obgleich Valens 39 die Erhebung der von den coloni zu zahlenden Steuern den Grundherren übertrug - die Kurien wurden somit auf die Grundsteuer der curiales und freien Kleinbauern beschränkt - , bemühte er sich wie Konstantinus II., die Flucht der Bauern in den Schutz eines patronus einzudämmen. 40 Rufinus und Eutropius verstärkten diese Bemühungen. Die Lage der coloni war seit 396 desolat. Nicht nur daß sie an die Scholle gebunden waren, sondern sie wurden des Rechtes beraubt, mit einer Zivilklage gegen ihre Herren auf zutreten. Gerade auch in diesem Zusammenhang sind die Erlasse des Arcadius von 398 41 zu verstehen: Es wird Klerikern und Mönchen untersagt, rechtskräftig verurteilten Verbrechern Schutz zu bieten. Die Bischöfe werden für das Wohlverhalten der Mönche in diesem Punkt verantwortlich gemacht. Männer, die an einen anderen Stand gebunden sind, dürfen nicht in den Klerus aufgenommen werden. Den Kirchen wird das Asylrecht entzogen, und die 36
Cod. Theod. I 29,5 vom 10. Aug. 370. Cod. lust. I 55,8. 38 Cod. Theod. V 15,17; X 4,2. 39 Cod. Theod. X I 1,14. 40 Cod. Theod. X I 24,1. « Cod. Theod. I X 40,16; 45,3; X V I 2,32; Cod. lust. I 4,7. 37
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bischöfliche Gerichtsbarkeit bleibt auf Zivilprozesse beschränkt, die von den verschiedenen Parteien freiwillig akzeptiert sind. Auf dem Hintergrund der beschriebenen Vorgänge läßt sich einigermaßen erkennen, welche ambivalenten Möglichkeiten die Kirche im Rahmen der spätantiken Gesellschaft besessen und welchen Einfluß sie - positiv oder negativ - auf die politische Haltung bestimmter Bevölkerungskreise ausgeübt hat und welchen Druck sie auf die Staatsbürokratie oder die lokale Administration veranlassen konnte. Wir haben mit den christlichen Gemeinden unter der Leitung der Bischöfe je am Ort und im gesamten Staatsgebiet eine nicht nur zahlenmäßig bedeutende Gruppe vor uns, die - wann immer sie dies für erforderlich oder von ihren Interessen her (z.B. im Blick auf die Heterodoxen) für geboten hält um der Güte Gottes willen, von dem jede Herrschaft ihren Namen hat, interveniert. An dem Erfolg oder Mißerfolg der Interzession entscheidet sich, ob die Staatsgewalt eine gute Regierung, also als basileia ein Abbild der philanthropia Gottes, oder ob sie eine tyrannis ist. Die Ambivalenz von basileia als guter Herrschaft oder tyrannis gibt zugleich der parrhesia ihren Stellenwert: mutiger Einsatz für die Gemeinde oder die polis, wenn sie erfolgreich ist; confessio, Standhaftigkeit also, oder gar martyria, wenn die parrhesia vergeblich gewesen ist oder gar abgewiesen wurde. Es ist nicht zu übersehen, welche Dimension im Sinne einer politischen Theologie dann trotz Rom 13 - das Gebet der Gemeinde gewinnen mußte: deposuit potentes de sede et exaltavit humiles. 42
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Vgl. Luc. 1, 52.
Kulturkampfaspekte Der Kulturkampf als Lehrstück modernen Staatskirchenrechts Von Martin Heckel Der Kulturkampf war kein zufällig-singuläres und kein spurenlos verklungenes Ereignis; für den Rechtshistoriker und den Rechtsdogmatiker bietet er ein faszinierendes Paradigma. Der Zusammenprall der bekenntnisbestimmten, sich auf göttliches Recht gründenden Kirche mit dem modernen Staate als souveräner Ordnungsmacht des Weltlichen gibt Lehren für die Zukunft, zwar nicht weise für immer, doch klüger für ein andermal zu werden. Die Aporien des modernen Staatskirchenrechts werden im Kulturkampf manchmal schwindelnd offenbar. Und um so dringlicher rückt der Wert des staatskirchenrechtlichen Friedens- und Freiheitssystems ins Bewußtsein, auch wenn ein rechtlicher Ausgleich nur äußerlich und mit vielen Sinndivergenzen belastet glücken kann. Liegt nicht auch dem freiheitlichen Staatskirchenrecht der Gegenwart letztlich eine latente Kulturkampfsituation zugrunde, die nach umsichtiger Ausgleichsbereitschaft in differenzierten Freiheitslösungen ruft? Nur die Erkenntnis der tiefen Prinzipiengegensätze kann künftige Konflikte vermeiden und einen gerechten Interessenausgleich im Recht ermöglichen, der nicht in Historismus bzw. Wertrelativismus resigniert, auch wenn er die letzten Fragen des Kultus und der Kultur nicht in der Tiefe und Einheit des Geistes lösen kann, sondern sich auf das Vorläufige und Vorletzte, d. h. auf die äußeren Rahmenbedingungen der irdischen Existenz beschränken muß. I. Die äußeren Vorgänge und inneren Gegensätze Überraschend ist das Zögern zu Beginn. Wider Willen trieben Staat wie Kirche in den Strudel der Auseinandersetzungen 1, die rasch eskalierten. Bekanntlich verfolgten die protestantischen Regierungen, Preußen vorab, zunächst die Linie strikter Neutralität, als Papst Pius IX. durch den Sylla1
Aus Raumgründen muß auf detaillierte Nachweise verzichtet werden. Zum Folgenden vgl. die umfassende Dokumentation des Kulturkampfs in der Quellensammlung von Ernst Rudolf Huber / Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 2, Berlin 1976, S. 395 - 928, und die ausführliche Darstellung (m. Lit.) durch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1969, S. 637 - 831. 35 Festschrift P. Mikat
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bus von 1864 eine Kampfansage gegen die Souveränität und Liberalität des modernen Verfassungsstaates und gegen die Autonomie der liberalen Gesellschaft proklamiert und 1870 mit der Dogmatisierung der päpstlichen Allgewalt und Infallibilität einen weiteren Entrüstungssturm in der Öffentlichkeit entfesselt hatte. Während das katholische Österreich und Bayern, aber auch Sachsen alsbald Kampfmaßnahmen in die Wege leiteten, sah Bismarck im Vatikanum nur eine „innerkirchliche Angelegenheit". So stand schon am Anfang der problematische Versuch einer exakten Bereichsscheidung zwischen einem „staatlichen" und „kirchlichen Gebiet" 2 . Auch später wollte der Staat prinzipiell die Gültigkeit der vatikanischen Beschlüsse für den kirchlichen Bereich nicht bestreiten. Sein Kurs der Nichtintervention schien zunächst zu glücken, da die deutschen Bischöfe sich in ihrer Gesamtheit den vatikanischen Beschlüssen unterwarfen und der Staat sie im innerkirchlichen Bereich gewähren ließ. In den Konflikt mit der Kirche geriet der Staat mithin nicht durch die Romtreuen unter den Katholiken, sondern durch die Konzilsgegner, die den Neutralitätskurs des Staates durchkreuzten und ihn vor die Gretchenfrage stellten, wie er es halte mit der Religion, der „neuen"? In der Absicht jener exakten Bereichsscheidung wollte der Staat den vatikanischen Beschlüssen zwar für den innerkirchlichen Bereich die rechtliche Gültigkeit konzedieren, ihnen aber im weltlichen Bereich die Rechtswirkungen versagen: Die Entziehung der missio canonica führe nicht zum Verlust der staatlichen Statusrechte und Amtspositionen der altkatholischen Universitätsprofessoren, Religionslehrer, Anstalts- und Militärseelsorger. Kultusminister wie Disziplinargerichte sahen in der Nichtunterwerfung unter ein neues Dogma kein Dienstvergehen der katholischen Staatsbeamten, die entgegen den Vatikanischen „Neuerungen" sich weiterhin zu den alten Glaubensgrundlagen bekannten, unter denen sie vom Staat in ihr Amt berufen worden waren. Und als sich am Widerstand gegen das Vatikanum die Abspaltung der Altkatholiken als eigene Religionsgesellschaft herauskristallisierte, die ebenfalls die Identität, Rechtskontinuität und Absolutheitsgeltung als „die wahre" katholische Kirche in Anspruch nahm, traf den Staat die leidige Aufgabe der äußeren Friedens- und Rechtswahrung: Er mußte die strittigen Ämter, Pfründen, Kirchengebäude und Kirchengüter zwischen ihnen verteilen, ordnen, schützen - ohne doch die entscheidende kirchliche Vorfrage der wahren Katholizität und wahren kirchlichen Berechtigung von Staats wegen mit seinen weltlichen Maßstäben und Mitteln entscheiden zu können. Spektakuläre Einzelfälle heizten den Konflikt auf. Als der katholische Feldpropst einen Militärgottesdienst der Altkatholiken (!) in der evangeli-
2 Vgl. Bismarcks Schreiben an den Gesandten beim Vatikan von Arnim vom 13. 3. 1870, Bismarcks Ges. Werke, Berlin 1931, Bd. 6b, Nr. 1527; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4 (Fn. 1), S. 669.
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sehen (!) Kirche St. Pantaleon zu Köln verbot und diese Kirche mit dem Interdikt belegte, sich auch den Weisungen des Kriegsministers und des Königs widersetzte, wurde er im Disziplinarverfahren suspendiert und die Feldpropstei ganz aufgehoben. Die Kasuistik der Konfliktsfälle weitete sich rasch zum großen Prinzipienstreit um den Vorrang zwischen der Staatsgewalt und der Kirchengewalt und um die Grenze zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Recht im Normkonflikt zwischen staatlichen und kirchlichen Gesetzen und Befehlen. Darin hat man „die Kernfrage des Kulturkampfs schlechthin" 3 erblickt, dies auch als einen „fruchtlosen Streit um Prinzipien" gewertet 4 , der die pragmatische Aufgabe der konkreten Grenzbereinigung habe versäumen lassen. Der tieferen Problematik w i r d dies freilich kaum gerecht. Das Kernproblem lag nicht in diesen organisatorischen Kompetenz- und Rangkonflikten und nicht in der Grenzziehung zwischen dem staatlichen und kirchlichen „Gebiet". Es lag vielmehr in den tieferen materiellen Grundfragen der Freiheit und Bindung nach göttlichem und menschlichem Recht, und folglich in der Notwendigkeit der inneren wechselseitigen Abstimmung zwischen der staatlichen und kirchlichen Rechtsordnung, wie sie nur durch materiell-rechtliche Regelungen des Ausgleichs in Freiheit und Rücksichtnahme (nicht aber durch Abgrenzungen und Rangansprüche) zu lösen waren. In der Vielfalt und Verschiedenheit der Kulturkampfgesetze, auf die hier nicht im einzelnen einzugehen ist, äußern sich die beiden Grundmomente der Verfassungs- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts: Der Verweltlichung des Staates entsprach die Vergeistlichung und Verselbständigung der Kirchen. Das Konstantinische System der engen Verschmelzung staatlicher und kirchlicher Funktionen und Institutionen löste sich auf in das Gegenüber des weltlichen Staates und einer Kirche, die - ihrem transzendenten Grund und Ziel verpflichtet - sich aus den alten weltlichen Bindungen des Staatskirchentums entwand und ihren Platz in der Welt zum Dienst an der Welt erkämpfte. Am Anfang dieser Entwicklung stand die große Säkularisation des Jahres 1803, am Ende die Trennung von Staat und Kirche durch die Weimarer Verfassung von 1919. Auch die Rechtsnöte des Kulturkampfs lagen hierin begründet: Beide Kontrahenten wurden zunehmend inkommensurabel und versuchten auf verschiedenen Ebenen zu kämpfen. Der Staat war stark im Weltlichen, wo er sich die Kirche unterwarf, doch von überraschender Schwäche, wenn er im Geistlichen mit dieser geistlich kämpfenden Größe zusammenstieß. Geistliches und Weltliches aber waren untrennbar ineinander gelagert, weil das Weltliche seine geistliche Dimension besaß und das Geistliche weltliche Wirkungen zeigte. So bra3 4
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chen beide Gegner ständig in die andere Ebene ein und sahen sich dort mehr oder minder hilflos in einen Kampf mit fremden Waffen verstrickt. Diese Auseinandersetzung entbehrte nicht der tragischen Züge. Denn die Kirche kämpfte auf der Grundlage ihres neuthomistischen Rechtssverständnisses ja im Grunde nicht gegen den monarchisch-konservativen Staat und sein Recht, in welchem sie selbst Gottes Anordnung sah und gegen die Revolution verteidigte, sondern für diesen Staat und für sein besseres Recht und seine höhere Bindung, um diese - in ihrer Sicht - vor der Perversion der Staatsgewalt und vor dem Rechtsbruch der tieferen Rechtsgrundlage zu schützen. Der Regierung wie der Kirche ging es um die Bewahrung des eigentlichen, des „richtigen" Rechts. Und ebenso: Die liberalen Kräfte in Parlament und öffentlicher Meinung kämpften um die Freiheit, wie auch die Kirche um die Freiheit kämpfte. Das Ineinander-gelagert-sein der geistlichen und weltlichen Ebene, der staatlichen und kirchlichen Rechts- und Staatsvorstellung wie auch ihrer gegensätzlichen Freiheitsidee macht die eigentliche Schwierigkeit der Analyse und Bewertung des Kulturkampfgeschehens aus. II. Staatliche Abwehrmaßnahmen - staatliche Übergriffe Die Abwehr kirchlicher Übergriffe in den „weltlichen Bereich" erwies sich als schwierig und voller Tücken. Zwar konnte der Staat kirchlichen Normen und Akten die bürgerlich-rechtliche Recht s Wirksamkeit verwehren, so daß sie für die staatlichen Behörden und Gerichte wie für die Staatsbürger unbeachtlich waren. Aber de facto wurden sie von den katholischen Bischöfen, Geistlichen und Gläubigen auch dann für gültig gehalten und befolgt, wenn staatliche Gesetze sie ausdrücklich aufgehoben oder eingeschränkt hatten. Solche staatlichen Schrankennormen und Aufsichtsakte waren ein Schlag ins Wasser, wenn die Gläubigen den widerstreitenden bischöflichen Maßnahmen gehorchten - wenn sie die bischöfliche Entziehung der Lehrbefugnis und die Exkommunikation altkatholischer Religionslehrer, Universitätsprofessoren, Anstalts- und Militärseelsorger sowie die Amtssuspension altkatholischer Gemeindepfarrer bejahten und unterstützten. Die Liberalen waren empört und irritiert, daß die Bischöfe im innerkirchlichen Bereich die geistige Freiheit (nach liberalem Maß) „knechteten" und hierfür die liberalen Freiheitsgarantien gegen den Staatseingriff „mißbrauchten". Regierung und liberale Parlamentsmehrheit fühlten sich deshalb berufen, zur weltlichen Unterdrückung dieser kirchlichen Unterdrückung der weltlichen Freiheit ihrerseits die kirchliche Freiheit zu beschränken und die Freiheitsgarantie der Religionsgesellschaften durch Kassation der Artt. 15, 16, 18 der preußischen Verfassung im April 1875 schließlich ganz zu beseitigen. Weil die staatlichen Ungültigkeits-Sanktionen gegenüber kirchlichen Normen und Akten sich als wenig wirksam zeigten, wurden sie durch Sank-
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tionen des Strafrechts und vielfältiger Administrativeingriffe verschärft. Die staatlichen Abwehrmaßnahmen „des weltlichen Bereichs" steigerten sich zunehmend zu schweren Eingriffen in die innerkirchlichen Angelegenheiten. Auf den Kanzelparagraphen vom 10. 12. 1871 folgte das Jesuitengesetz vom 4. 7. 1872, das Gesetz über die kirchliche Disziplinargewalt und das Gesetz über die Grenzen kirchlicher Straf- und Zuchtmittel vom 12. und 13.5. 1873. Die kirchliche Disziplinierung deutscher Geistlicher war danach dem Papst und der Kirche genommen und deutschen Kirchenbehörden vorbehalten, das Verfahren dafür staatlich geregelt, die Maßnahmen staatlich begrenzt und durch ein staatliches Sondergericht kontrolliert, die Verhängung des großen Kirchenbanns verboten. Das Kirchenaustrittsgesetz vom 14. 5. 1873 behandelte die Kirche wie eine weltliche, auf menschlichen Willensakten beruhende Korporation; das stand in scharfem Gegensatz zum theologischen Selbstverständnis der katholischen Kirche und zu den Normen des Kanonischen Rechts über die Absolutheit und göttliche Stiftungsnatur der Kirche und über den Charakter indelebilis der Taufe als eines sakramentalen, auf göttlichem Recht beruhenden Erwerbsgrundes kirchlicher Mitgliedschaft. Das Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen vom 11. 5. 1873 unterwarf die Geistlichen-Ausbildung einem dreijährigen Studium an der Staatsuniversität; die kirchlichen Ausbildungsstätten unterfielen der Staatsaufsicht und die kirchliche Anstellung einer Anzeigepflicht und Einspruchsmöglichkeit durch die Staatsbehörden sowie der Gerichtskontrolle durch ein staatliches Sondergericht. Der Episkopat protestierte frühzeitig in einer Denkschrift vom 20. 9. 1872. Er lehnte jede Mitwirkung am Vollzug der Kulturkampfgesetze ab und proklamierte den passiven Widerstand gegen die Maigesetze, weil er in ihnen eine massive Verletzung der staatlichen Kompetenzen und der kirchlichen Freiheitsrechte erblickte. Seine Mitwirkung an den Maigesetzen hätte ja die Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit und Gültigkeit bedeutet und in kirchlichen Augen einen Verstoß gegen das ius divinum enthalten. Der passive Widerstand war höchst effizient, da die Maigesetze nach Art der liberalen Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts auf die Mitwirkung der Gesellschaft angelegt waren und unvollziehbar wurden, wenn die Kirche die Antragsrechte, Anzeigepflichten und Rechtswegemöglichkeiten boykottierte. Die Theologiestudenten unterzogen sich weder dem Kulturexamen noch beantragten sie einen Dispens, den ihnen der Kultusminister als goldene Brücke anbot. So waren die Anstellungsbedingungen staatsgesetzlich nicht erfüllt, die Anstellungsakte der Bischöfe ungültig und strafbar, die Amtshandlungen der dennoch Angestellten als unbefugte Amtsausübung gleichfalls kriminalisiert. Da die Wiederbesetzung einer vakanten Pfarrstelle binnen Jahresfrist staatsgesetzlich vorgeschrieben war, machte sich ein Bischof ebenso strafbar, wenn er die Anstellung unterließ. Bald saß die Hälfte des preußischen Episkopats im Gefängnis und wurde, weil die Stra-
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fen nichts fruchteten, durch das staatliche Sondergericht in dem dafür vorgesehenen Verfahren abgesetzt. Da aber die Kirche die Rechtswirksamkeit dieser Eingriffe in das ius divinum und ius humanum der Kirche bestritt, war für sie eine Wiederbesetzung der vakanten Bistümer ausgeschlossen, desgleichen schied für sie auch die Einsetzung von Bistumsverwesern aus, weil sie die gesetzlich vorgeschriebene Anzeige und Vereidigung auf die Staatsgesetze ablehnte. Wegen des eingerissenen Notstandes erließ der Staat das Gesetz über die Verwaltung erledigter Bistümer vom 20. 5. 1874, das die Einsetzung eines Staatskommissars durch den Oberpräsidenten vorsah; sein Vollzug scheiterte am Widerstand der Geistlichkeit, zumal der Staatskommissar mit weltlichen Zwangsmitteln nur die weltliche Vermögensverwaltung der Diözesen ausüben konnte, indes das Hirtenamt und geistliches Leben darniederlag. - Tiefe Staatseingriffe brachten die preußischen Kampfgesetze von 1875. Das Sperrgesetz vom 22. 4. 1875 ordnete die Einstellung sämtlicher Staatsleistungen an, das Ordensgesetz vom 31. 5. 1875 verbot alle Orden außer den Pflegeorden. Das Gesetz über die Vermögensverwaltung der katholischen Kirchengemeinden vom 20. 6. 1875 sprengte die hierarchische Verfassung der katholischen Kirche durch eine Demokratisierung der örtlichen Vermögensverwaltung, die der Staat in jeder katholischen Pfarrgemeinde einem gewählten Kirchenvorstand übertrug. III. Spannungen und Unstimmigkeiten 1. Das Säkularisierungsproblem führte den Staat in eine normative Aporie. Es lag ein Widerspruch darin, daß der Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts sich einerseits zunehmend säkularisierte und den Dienst wie die Verantwortung des Christlichen Staates für die - wahre - christliche Lehre aufgab, andererseits jedoch dessen religiöse Kompetenzen beibehielt und durch seine Maßnahmen tief in den Bereich der christlichen Lehre und Kirchenordnung einwirkte. Auch wo er nicht direkt in die Kirchenlehre eingriff (wie dies die bayerische Regierung tat, indem sie dem Vatikanum das Placet versagte und damit auch dessen innerkirchliche Gültigkeit bestritt) oder die hierarchische Kirchenverfassung aufsprengte (wie dies in zahlreichen Kampfgesetzen geschah), wog der indirekte Staatseingriff nicht geringer: Wenn etwa die kirchliche Lehre und Verfassungsstruktur in den gemeinsamen Angelegenheiten des Religionsunterrichts, der Universitätstheologie, der Anstaltsund Militärseelsorge, aber auch in den staatskirchenrechtlichen Regelungen der Geistlichen und Gemeinden staatlicherseits als unerheblich ignoriert oder in ihrer Gültigkeit bestritten oder anders entschieden wurde als es die betroffene Kirche und ihre Gläubigen taten! Schon die weltliche Frage der
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S t r a f f ä l l i g k e i t wegen A m t s a n m a ß u n g u n d unbefugten Beichthörens h i n g v o n der Vorfrage ab, ob die Voraussetzungen u n d Verfahrensakte des A m t s erwerbs n a c h k i r c h l i c h e m u n d staatlichem Recht e r f ü l l t waren. D e n k i r c h l i c h e n M a ß n a h m e n des Staates fehlten Maßstäbe
und Mittel.
jedoch die
kirchlichen
D a sich der Staat aus der c h r i s t l i c h e n Staatszielbe-
s t i m m u n g u n d V e r a n t w o r t u n g gelöst hatte, h i n g e n seine staatskirchenrechtl i c h e n Kompetenzen gleichsam i n der L u f t . D i e w e l t l i c h e n Maßstäbe u n d I n s t r u m e n t e des säkularen Staates versagten hier auf dem fremden „ k i r c h l i c h e n G e b i e t " . I n dieser Inkonsequenz u n d Unstimmigkeit und Maßstab, Aufgabe und Mittel
von
Kompetenz
l a g die H a u p t s c h w i e r i g k e i t u n d Schwäche
der staatlichen K u l t u r k a m p f p o l i t i k begründet. M i t der Verschärfung der K o n f l i k t e sprang die Unangemessenheit u n d U n t a u g l i c h k e i t des Vorgehens u m so grotesker ins Auge. D i e äußerliche b ü r o k r a t i s c h e V e r w a l t u n g der v a k a n t e n Diözesen d u r c h Staatskommissare w ä h r e n d der S t r a f h a f t
der
Bischöfe u n d des staatsgesetzlichen Ruhens i h r e r H i r t e n f u n k t i o n e n w a r f ein scharfes L i c h t auf den allgemeinen G r u n d b e f u n d . Besonders kraß äußerte sich dies der k a t h o l i s c h e n K i r c h e gegenüber, die sich seit der S ä k u l a r i s a t i o n v o n 1803 u n d seit der G r ü n d u n g des kleindeutsch-protestantischen B i s marck'schen Reiches aus dem alten K o n s t a n t i n i s c h e n Verbundsverhältnis gelöst h a t t e u n d d e m Reich w i e Preußen m i t innerer Reserve gegenüberstand. Der Säkularisierungsprozeß hatte im späten 19. Jahrhundert die Legitimitätsgrundlagen und Staatszielbestimmung, die Staatsorganisation und die Kompetenzordnung, die Bestimmung der Staatsgewalt und Staatsfunktionen, des Staatsbürgerstatus und auch des Staatskirchenrechts fortschreitend ergriffen und das Leitbild des christlichen Konfessionsstaates zunehmend abgestreift: Die Legitimität der Staatsgewalt wurde weithin aus der Idee des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages und des modernen Konstitutionalismus abgeleitet, der sich seit der Aufklärung säkular ausgeformt hatte, der deshalb den Staat als freie Schöpfung der Menschen auf die konstitutionelle Selbstorganisation und Repräsentation des Volkes stützte; dadurch wurde die Gegenposition der monarchisch-legitimistischen Erbdynastie zunehmend überrundet. Die christlich-konservative Staatsidee konnte sich in den Verfassungen nur in Restbereichen behaupten; dies hat das Ringen Friedrich Julius Stahl's und seiner politischen Freunde um die Verfassungsgarantie der christlichen Einrichtungen des Eides, der Schule, der Ehe 1848/50 gezeigt, zumal diese dann vollends durch die liberale Verfassungsrechtslehre inhaltlich entleert und juristisch minimalisiert worden sind. - Die Staatsauf gaben vor allem wurden im 19. Jahrhundert zunehmend säkularisiert bestimmt. Schon die Aufklärung hatte die Staatszwecke auf die weltliche Wohlfahrt und irdische Gerechtigkeit beschränkt und die alte evangelische cura religionis zur Wahrung der rechten Lehre in Staat und Staatskirche ausgeschieden - die Sorge für das Seelenheil gehöre nicht zu den Aufgaben der Regenten, hatte im 18. Jahrhundert Thomasius temperamentvoll gelehrt. Diese Linie konnte sich trotz mancher Verzögerungen und Widerstände durch den Sieg der liberalen Kräfte nach der Jahrhundertmitte weitgehend durchsetzen und jedenfalls das Verhältnis zur katholischen Kirche im späten 19. Jahrhundert bestimmen. Auch mit den religiösen Eingriffen und Auswirkungen der Kulturkampfmaßnahmen verfolgte der Staat kein eigenes religiöses Ziel. - Die Staatsgewalt wurde fortschreitend säkular verstanden. Das
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etatistische Erbe des aufgeklärten Absolutismus traf sich hier mit den verschiedenen Strömungen des Liberalismus und der erwachenden Nationalidee. Die weltliche Souveränität des Staates wurde von der Regierung wie von der Nation eifersüchtig gehütet, deshalb wurde die Ungültigkeitserklärung der Kulturkampfgesetze durch den Papst als Attentat zurückgewiesen. - Die Staatsorganisation sah sich mehr und mehr säkularisiert, da die Staatsverfassungen und das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. 7. 69 die Unabhängigkeit der öffentlichen Ämter und staatsbürgerlichen Rechte von religiösen Benachteiligungen unitarisch vorschrieben und das preußische Schulaufsichtsgesetz vom 11. 3. 82 das öffentliche Unterrichtswesen „entklerikalisierte". - Der Staatsbürger status wurde entsprechend säkularisiert durch das Expatriierungsgesetz vom 4. 5. 1874 mit seinen Möglichkeiten der Aufenthaltsbeschränkung und Ausweisung von Geistlichen und ebenso durch die Einführung der Zivilehe und des staatlichen Personenstandswesens in Preußen 1874 und im Reich 1875.
Das Staatskirchenrecht hat sich durch diese Säkularisierung der Staatsgewalt und Staatsaufgaben innerlich gewandelt. Die staatskirchenrechtlichen Aufsichtsrechte waren einst die Instrumente der kirchlichen Verantwortung der christlichen Obrigkeit für den wahren Glauben und die wahre Kirche, zur Korrektur einer depravierten oder hilfsbedürftigen Kirchengewalt - nun wurden sie zum Mittel des antiklerikalen Selbstschutzes der säkularen Staatsorganisation und bürgerlichen Gesellschaft. Auch die „Kirchenkuratel", d.h. die Fürsorge- und Unterstützungsmaßnahmen des Staatskirchenrechts, unterlagen einem analogen Sinnwandel: Die strenge Sorge für den wahren Kultus und die wahre Lehre in der wahren Kirche wurde relativiert zur staatlichen Kulturverantwortung und Kulturförderung, die tolerant, liberal und paritätisch allen Religionsgesellschaften von kulturellem Niveau zukommen sollte. Das Staatskirchenrecht trat in den Dienst der liberalen Kulturkonzeption, die sich vom katholischen Kulturbegriff wie vom katholischen Rechtsbegriff tief unterschied. - Die staatlichen Funktionen suchten sich deshalb auf weltliche Mittel, vorab auf den soliden weltlichen Zwang zu beschränken, jedoch die geistliche Dimension und Wirkung tunlichst auszublenden; doch wurden sie von dieser dann um so stärker überrascht. - Der Staat als säkularer Staat beschränkte sich auf das „weltliche Gebiet" bzw. den „weltlichen Bereich". Das Gebietsdenken war dem jungen deutschen Staat und Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts in hohem Maße eigen; so hatte sich ja der Typ des geschlossenen Gebietsstaates mit territorium clausum erst wenige Jahrzehnte zuvor durchgesetzt und noch 1866 die preußischen Annexionen mit dem Sturz vieler Throne durch das „konservative" Preußen veranlaßt. Auch der Kirche gegenüber beharrte man auf der Impermeabilität des staatlichen „Gebietes" und Bereiches, die keine Exemtionen dulden sollte. Das etatistische Gebietsdenken des Obrigkeitsstaates korrespondierte dabei der liberalen Trennungsidee, die die Trennung von Staat und Gesellschaft zur Trennung zwischen Staat und Religionsgesellschaften auszuformen und beide auf gesonderte „Gebiete" bzw. Bereiche zu verrechnen strebte.
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2. Das „Bereichs-Denken" und der Versuch einer „Bereichs-Scheidung" zwischen Staat und Kirche enthielt eine unangemessene Vereinfachung, die die komplexen Sach- und Rechtsprobleme paradoxerweise bis zur Unlösbarkeit komplizierte. Dieses verräumlichende Denken war ein methodischer Grundfehler, wenn es geistige und geistliche Prinzipien und Prozesse von vielfältiger Verschlungenheit und Wechselwirkung zu erfassen und zu ordnen galt. Der Kulturkampf bezog sich ja weitgehend auf die „gemeinsamen Angelegenheiten" des Staates und der Kirchen, also auf das theologische Fakultätenrecht, den Religionsunterricht, das christliche Schulwesen, Anstalts- und Militärkirchenwesen, Friedhofsrecht, Denkmalwesen, Kirchensteuerrecht, ferner auf alle Fragen der Kirchenaufsicht über die kirchlichen Amts- und Vermögensverhältnisse. Hier ging es gegenständlich um religiöse Dinge, geistliche Aufgaben, kirchliche Institutionen; von ihrer religiösen Natur und Funktion konnte der säkulare Staat nicht absehen, wenn er sie sachgerecht ordnen wollte. Alleine aber war er dazu nicht mehr imstande, weil ihm dies seine innere Säkularisierung, religiöse Neutralität, geistige Liberalität in der pluralistischen Gesellschaft und Kultur unmöglich machte. Im Kulturkampf zeigte sich überraschend deutlich, wie stark der weltliche Staat im Staatskirchenrecht auf die freie Kooperation der Kirchen und folglich auf die Koordinierung mit ihnen angewiesen war - wie ihn deshalb die kirchliche Totalverweigerung blamabel hilflos werden ließ. Deshalb erscheinen viele Darstellungen des Kulturkampfes korrekturbedürftig. Der Kulturkampf ist nicht nur und nicht einmal primär durch Grenzübergriffe - der Kirche in das weltliche Gebiet bzw. des Staates in das kirchliche Gebiet - entstanden, auch wenn es in seinem Verlauf mannigfach zu solchen Übergriffen kam. Der Kulturkampf konnte deshalb auch nicht einfach dadurch beigelegt werden, daß sich beide Teile auf ihr eigenes - kirchliches bzw. staatliches - „Gebiet" in klarer, gegenständlicher Grenzziehung zurückgezogen hätten. Die Bereichstrennung konnte nur in jenen Materien gelten, in denen Staat und Kirchen keine gemeinsamen Sachanliegen und Berührungspunkte hatten. Anderenorts kam es darauf an, die gemeinsamen Ordnungsaufgaben in der gegenseitigen Respektierung der Kompetenzen und in der Koordinierung und Kooperation der staatlichen wie kirchlichen Instanzen zu bewältigen. 3. Der Zusammenhang von Kirche und Welt, von Glaube und Leben, von Dogma und Recht wurde von der staatlichen Seite im Kulturkampf weitgehend unterschätzt. Diese Fehleinschätzung ist um so erstaunlicher, als sich die Regierung bekanntlich durch Experten von höchster wissenschaftlicher Kompetenz beraten ließ. Die Creme der deutschen Kirchenrechtler, Paul Hinschius, Emil Friedberg, Otto Mejer, leisteten ihr vielfältige Beratungsdienste und Formulierungshilfe.
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Auf evangelischer Seite neigte man dazu, die staatlichen Machtmittel im kirchlichen Bereich zu überschätzen, jedoch die Eigenständigkeit des kirchlichen Rechts, seine theologischen Grundlagen und seine Wirkungskraft auf das Volk zu unterschätzen. Die Kulturkampfgesetze waren einerseits inspiriert durch das zeitgenössische evangelische Verständnis von Kirche (bzw. seine vulgärprotestantischen Ableger), andererseits durch den säkularen Korporationsbegriff der Aufklärung und durch das Leitbild der Vereinigungsfreiheit des Liberalismus bestimmt. Die evangelische Kirche stand unter dem Landesherrlichen Kirchenregiment in enger Staatsanlehnimg; die zeitgenössische evangelische Theologie unterschied an der Kirche scharf die Geistkirche als theologische Größe von der Rechtskirche, die man den weltlichen Rechtsstrukturen zurechnete. Dem Kulturprotestantismus aber war die Glut und Kraft kirchlicher Glaubenstreue, Leidensbereitschaft und Angriffsfähigkeit in der katholischen Kirche fremd und unvorstellbar. Das Staatskirchenrecht der Kulturkampfgesetze war mithin auf ein theoretisches Modell von „Religionsgesellschaft" zugeschnitten, das auf die katholische Kirche nicht paßte und in der Praxis nicht funktionierte. Der Kulturkampf lehrte: Das Staatskirchenrecht (als Teilgebiet der weltlichen Verfassung und Rechtsordnung) und das innere Kirchenrecht sind zwar selbständige Rechtsordnungen, müssen aber aufeinander abgestimmt sein, wenn die Koexistenz und die Kooperation von Staat und Kirche sachgerecht und freiheitlich funktionieren soll. Auch von dieser Erfahrung hat das deutsche Staatskirchenrecht nach 1919 und nach 1949 seine Impulse erhalten. 4. Die Freiheitsverbürgungen des staatlichen Rechts wurden durch die Kulturkampfgesetze mit Einseitigkeiten und Inkonsequenzen belastet und verengt. Zwar lag es auf der Hand, daß der weltliche Staat angesichts des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus der Bevölkerung nicht die theologische Freiheitsvorstellung einer der großen Kirchen in seine weltliche Rechtsordnimg rezipieren konnte. Schon das Konfessionelle Zeitalter hatte für beide großen Konfessionen Religionsfreiheit (mit den Abstufungen des öffentlichen, privaten und häuslichen Religionsexercitiums nach dem Normaljahrsmaß von 1624) im Westfälischen Frieden gewährt. Im 19. Jahrhundert wurde dann allen Glaubensrichtungen und schließlich auch der Glaubenslosigkeit die volle religiöse Freiheit garantiert und durch Diskriminierungsverbote abgesichert. Die Freiheitsgarantie umfaßte die „positive" Religionsfreiheit zur ungehinderten Glaubensentfaltung wie auch die „negative" Religionsfreiheit zum Abfall und zur Distanzierung von Religion und Kirche für jedermann. Da die große Masse der kirchentreuen Bevölkerung ihre Religionsbedürfnisse in den Formen der öffentlich-rechtlichen Landeskirchen unbeeinträchtigt erfüllen konnten, brauchte sie auf ihre verbürgten Religionsfreiheiten in praxi nicht zurückzugreifen. Die Garantie
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der Religionsfreiheit wurde deshalb meist nur in der negativen Variante für den Freigeist und Dissidenten - aktuell. Die Religionsfreiheit als Rechtsinstitut erhielt dadurch einen antiklerikalen, ja antikirchlichen Akzent, und dieser wurde durch die Kulturkampfgesetze in pointierter Einseitigkeit verschärft. Darin läßt sich der gemeinsame Nenner zahlreicher Kampfmaßnahmen erblicken. Mit den Bedrängnissen des Episkopats, Klerus' und Kirchenvolkes im Verlauf des Kulturkampfes gewann jedoch auch für sie die positive Seite der Religionsfreiheit eine bisher ungewohnte rechtliche Dynamik. Die Liberalen waren irritiert, daß ihre Freiheitsschutzmaßnahmen (im antikirchlichen Sinn) sich zugleich als Freiheitsminderung, ja Unterdrückung erwiesen. Denn für den Klerus und das kirchentreue Kirchenvolk realisierte sich die Freiheit als Freiheit zum Glauben i.S. des Glaubens ihrer Kirchenlehre, im Gehorsam gegen Schrift, Tradition, Dogma und Hirtengewalt, als Freiheit zur Wahrheit und zum göttlichen Dienst, wie es die Kirche verstand. 5. Die Gleichheitsfrage fand in den Kulturkampfgesetzen Lösungen von analoger Einseitigkeit und Problematik wie die Freiheitsfrage. Alle Gleichheitsfragen kulminieren im Problem des Maßstabs der Gleichbehandlung. In den Kulturkampf gesetzen aber waren vielfach einseitige, diskriminierende Maßstäbe zugrunde gelegt, auch wo sie formal Gleichheit normierten. Sie waren zum Teil Sondergesetze, die sich speziell gegen die katholische Kirche oder einzelne ihrer Einrichtungen wendeten; das Jesuitengesetz, das Ordensgesetz u.a.m. enthielten unverhüllte Diskriminierungen. Die meisten Kulturkampfgesetze freilich ergingen als allgemeine Gesetze mit Geltung gegenüber allen Religionsgemeinschaften, um den Charakter des Ausnahme- und Kampfgesetzes zu verschleiern. Aber inhaltlich waren in ihrer allgemeinen Formulierung besondere Kampfmaßnahmen normiert, die sich speziell gegen die katholische Kirche richteten und auswirkten. Formalparität diente zur materialen Imparität. Gleiche Normen entfalten bei verschiedenen Voraussetzungen verschiedene Wirkungen; bei den meisten Kulturkampfgesetzen war dies zu Ungunsten der katholischen Kirche geplant und realisiert. Fraglos waren die Maßstäbe imparitätisch gewählt, wenn die katholische Kirche nach den Regelungsmaßstäben des weltlichen Korporationsmodells oder eines vulgärprotestantischen Gemeindemodells „gleich"-behandelt wurde. Die Eigenart und Eigenständigkeit des katholischen Kirchenrechts wurde so nivellierend unter weltliche, ihr wesensfremde Regelungsmaßstäbe gebeugt. Die Einseitigkeit des laizistischen Freiheitsgedankens zog eine analoge Einseitigkeit der laizistischen Nivellierung nach sich.
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IV. Die Ausgleichslösung der Kulturkampfprobleme durch das deutsche Staatskirchenrecht Welche Lehren hat das moderne deutsche Staatskirchenrecht aus dem Kulturkampf gewonnen? Verschiedene Lösungsmöglichkeiten boten sich an. Das deutsche Staatskirchenrecht hat sie in wechselnden Experimenten durchprobiert und in kunstvollen Kombinationen zum komplexen System verbunden: 1. Keine etatistische Entscheidung der geistlichen Fragen durch den säkularen Staat! Aus den Kulturkampfkonflikten hat das deutsche Staatskirchenrecht gelernt, daß der weltliche Staat die geistlichen Fragen des wahren kirchlichen Bekenntnisses und der rechten, bekenntnisgemäßen Rechtsgestalt der Kirche nicht durch staatlichen Souveränitätsakt entscheiden und durchsetzen kann. Weder direkt, noch indirekt war er dazu imstande. Deshalb verbot sich auch eine etatistische Entscheidung der geistlichen Vorfragen, die sich in weltlichen Rechtsverhältnissen incidenter stellten. Der Staat des 19. und 20. Jahrhunderts hat ein ius reformandi im religiösen Sinnverstand nicht mehr repristiniert. Die Fragen des Glaubens und der bekenntnisbestimmten Kirchenverfassung hat er den Religionsgemeinschaften als eigene Angelegenheit zur freien Selbstbestimmung überlassen, auch wenn die diesbezüglichen, im Kulturkampf kassierten Staatskirchenartikel der preußischen Verfassung von 1848/50 bis 1918 nicht wieder in Kraft gesetzt worden sind. Doch wurde diese aus der Paulskirchenverfassung stammende Linie dann im Weimarer und Bonner Staatskirchenrecht verfassungsrechtlich sanktioniert 5 . Durch den Abbau der Kulturkampfgesetze wurde die Lehrgewalt und Jurisdiktionsgewalt des Papstes und der Kurie für die katholische Kirche nicht mehr behindert, die vatikanischen Beschlüsse sahen sich in ihrer innerkirchlichen Rechtsgültigkeit, aber auch in ihren maßgeblichen weltlichen Auswirkungen anerkannt, das kirchliche Ämterrecht erhielt die Entfaltungsfreiheit zurück, die Beschränkungsmaßnahmen wurden Stück für Stück aufgehoben. Nur das Gesetz über die Vermögensverwaltung der katholischen Kirchengemeinden vom 20. 6. 1875 behielt seine Geltung, doch beruhte diese wesentlich auf der Rezeption durch die Kirche selbst, die dadurch die Gemeinden fester an die Bischöfe zu binden strebte. 2. Keine diffuse Ermächtigung zu religiösen Entscheidungen für den einzelnen staatlichen Amtsträger! Der Staat konnte sich der Schwierigkeiten nicht dadurch entschlagen, daß er den einzelnen Amtsträgern - den Theologieprofessoren, Religionslehrern, Militärgeistlichen - die religiöse Entscheidung über die konfessionelle Ausrichtung ihrer Amtsfunktionen zur 5 Vgl. heute Art. 4, 140 GG/137 I I I WRV und ihre Entfaltung in der modernen staatskirchenrechtlichen Lit.
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freien persönlichen Verfügung überließ. In der Anfangsphase des Kulturkampfes schien diese Lösung besonders verführerisch. Aber wenn der Staat die altkatholischen Amtsinhaber solcher konfessionsgebundener Staatsämter trotz des Entzugs der bischöflichen missio canonica weiter in ihrem Amt beließ und ihnen die katholischen Gläubigen gegen deren Bekenntnis zur religiösen Einwirkung unterwarf, so lag darin ein tiefer Eingriff in die kirchliche Selbstbestimmung: Das Bekenntnis der katholischen Kirche und ihre Geistlichenausbildung, ihre Jugendunterweisung und ihre Seelsorgefunktionen wurden dadurch freiheitswidrig verletzt und verfremdet. Die Freiheit dieser altkatholischen Theologen konnte der weltliche Staat nur in der weltlichen Form des Austritts- bzw. Übertrittsrechts in eine andere Religionsgemeinschaft unter Wahrung der persönlichen Beamtenrechte garantieren; er konnte ihnen nicht staatliche Einwirkungsrechte zur innerkirchlichen Reform der katholischen Kirche verschaffen oder erhalten, da dies deren kirchliche Freiheit verletzt hätte. Der Kulturkampf lehrte: Diese konfessionellen Staatsämter konnten nur in Übereinkunft mit dem Bekenntnis der betreffenden Religionsgemeinschaft besetzt und ausgeübt werden. In den Konkordaten der Zwanziger Jahre wurde deshalb die Erteilung der bischöflichen missio canonica für Religionslehrer und des nihil obstat für Universitätsdozenten zur staatsrechtlichen Vorausssetzung der Amtsernennung und weiteren Amtsführimg erhoben, so daß ihre Zurücknahme die Pflicht zur Ablösung aus den betreffenden Ämtern nach sich zog. 3. Keine strikte Ignorierung der Kirchen durch den weltlichen Staat! Der Staat konnte die kirchlichen Lehrentscheidungen, Rechtsnormen und -akte im Bereich des staatlichen Rechts nicht durchgehend ignorieren. Diese strikte „Bereichsscheidung" hätte die totale und beziehungslose Trennung zwischen Staat und Kirche bedeutet, die der monarchisch konstitutionelle Staat nach den Experimenten der Französischen Revolution in den Landesverfassungen und -gesetzen wie in der Paulskirche bewußt abgelehnt hatte. Die radikale Trennung hätte die Anschauungen einer kleinen, agnostizistischen Minderheit für das ganze Volk verbindlich gemacht und zahlreiche Freiheitsverkürzungen der religiös empfindenden Kreise gebracht. Die Kulturidee des Staates knüpfte deshalb an das christliche Erbe der europäischen Kulturtraditionen an, beließ die Theologie an der Universität, den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen und die kirchliche Seelsorge im staatlichen Militär- und Anstaltswesen. Statt der radikalen Trennung entschied sich das Staatskirchenrecht beim Abbau des Kulturkampfes für die Berücksichtigung des Religiösen auch im weltlichen Recht und deshalb für die Erhaltung zahlreicher institutioneller Verbindungen zwischen Staat und Kirche, die sich zusammenfügten zum System. Nicht die Bereichstrennung, sondern die Bereichsverknüpfung bot insoweit eine sachgerechte Lösung im differenzierten Zusammnenspiel der
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gesonderten Kompetenzen und der koordinierten Akte von Staat und Kirche. Staat und Kirche lebten ja auf gleichem Grund im gleichen Volk im gleichen Sozial- und Kulturbereich einer Kulturnation von reicher Vielfalt und Interdependenz des Geistigen und Geistlichen, dem der Kulturstaat Integrität, Entfaltungsfreiheit und vielfältige Förderung garantierte. Die „gemeinsamen Angelegenheiten" ließen sich nicht durch ein Urteil Salomons zerschneiden und zerstückelt auf getrennte Bereiche verteilen. Deshalb erwies sich als Notwendigkeit: 4. Respektierung der kirchlichen Entscheidung durch den weltlichen Staat, soweit die geistliche Seite eines gemischten Rechtsverhältnisses betroffen ist! Der weltliche Staat beschränkt sich seither darauf, die weltlichen Rahmenfragen dieser konfessionsbestimmten Staatsämter zu regeln und zu verwalten; hingegen ist die Frage des Bekenntnisses (etwa der Lehre und des Wandels des Amtsträgers) der Kirche zur freien Selbstbestimmung überlassen. Die geistlichen Vorfragen sind in diesen Ämtern also von entscheidender Bedeutung auch für das weltliche Recht. Die Entfaltung der kirchlichen Freiheit geschieht gerade auch im verwaltungsrechtlichen Vollzug, der eben deshalb auf Koordinierung und Kooperation zwischen Staat und Kirche angewiesen ist 6 . Darin äußert sich kein anachronistischer Überhang des alten Staatskirchentums des „christlichen" Staates von ehedem und ebensowenig ein klerikaler Übergriff in den „weltlichen Bereich". Es ist die moderne Weltlichkeit und Freiheitlichkeit des freiheitlichen Verfassungsstaates, die seinen Behörden die Pflicht zur Respektierung der geistlichen Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften und der Gläubigen auferlegt. Staat und Kirche sind hier innerlich getrennt und wirken doch äußerlich zusammen. Der Trennungsgedanke ist zwar auch hier nicht obsolet. Aber die Trennung realisiert sich hier nicht durch eine (undurchführbare) Trennung nach Gebieten bzw. Bereichen, sondern durch eine (unumgängliche) Trennung der Kompetenzen: Der Staat regelt und verwaltet die weltliche, die Kirche regelt und verwaltet die geistliche Seite der ihnen gemeinsam anvertrauten religiösen Kulturerscheinungen und Sozialbeziehungen. So wird der Einzelne nicht als Opfer von Normkonflikten und Institutionen-Rivalitäten zerrieben. Als „simul civis et christianus" kann er der Freiheit seines Glaubens in der Welt leben. 5. Ein striktes, äußeres Trennungssystem wurde nur in den Teilstücken realisiert, in denen es unausweichlich war: Das markanteste Beispiel dafür 6 Als exemplarische Beispiele vgl. meine Studien: „Staat Kirche Kunst. Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler", Tübingen 1968, S. l l f f . , 55ff., 138ff., 173ff., 194ff., 224ff.; „Die Kirchen unter dem GG", W D S t R L 26, Berlin 1968, S. 30ff., 38ff., 45ff.; „Die theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat", Tübingen 1986, S. 23ff., 3Iff. (Anm. 41), 47ff., 114ff. und passim; „Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie", ZRG K A 66 (1980), S. 133ff., 139 ff., 142 ff.
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waren die Zivilehe und das Kirchenaustrittsrecht. Es sind Rechtsformen, die sich über den Kulturkampf bis heute erhalten haben. Auf beiden Feldern waren die Grundpositionen des Staates und der katholischen Kirche so diametral verschieden und gegensätzlich, daß nur die unvermittelte Trennung des staatlichen und kirchlichen Rechts übrig blieb. Die Ehe wie die Taufe waren für die Kirche ein Sakrament, iuris divini vorgegeben und menschlicher Verfügung und Lockerung entrückt. Der Absolutheits- und Ausschließlichkeitsanspruch der katholischen Kirche verwehrte ihr hier das Eingehen auf säkulare, immanent-relativierte Formen des Mitgliedschafts- und Eherechts. Und andererseits war dem weltlichen Staat die Übernahme des kirchlichen Eherechts für seine gemischt-konfessionelle Bevölkerung ebenso unmöglich, da dies mit seinem Bedürfnis nach Rechtseinheit, Integration des Volkes in den jungen Staat, Homogenität der Sozialordnung, Freiheits- und Gleichheitswahrung für den Bürger unvereinbar war. - Ähnlich zog das Kirchenaustrittsrecht die gesetzlichen Konsequenzen aus der „negativen" Religionsfreiheit, die jedem Dissidenten und Freigeist den Abfall von seiner Kirche garantierte. Es schützte freilich zugleich die „positive" Religionsfreiheit dessen, der zu einer anderen Kirche seines lebendigen Glaubens konvertierte, ja mittelbar sicherte es auch die „positive" Religionsfreiheit derer, die ihrer Kirche treu blieben, weil dies nunmehr als Akt der freien religiösen Überzeugung, nicht aber als überkommene weltliche Zwangsmitgliedschaft anzusehen war. Die Kirche aber konnte das K i r chenaustrittsrecht des Staates nicht anerkennen, sondern nur äußerlich hinnehmen, da die staatlich gewährte Abfallfreiheit dem Charakter indelebilis der Taufe als Institut göttlichen Rechts widersprach und deshalb für sie nicht zur menschlichen Disposition stand. - Doch wurde dieser unüberbrückbare Gegensatz zwischen kirchlichem und staatlichem Recht gemildert: 6. Das Trennungsprinzip fand eine liberale Ausgestaltung. Das geschah vor allem durch die Selbstbeschränkung des Staates auf säkulare Rahmenformen: Die antireligiöse Sinnerfüllung der staatlichen Rechtsformen blieb dadurch verwehrt. Weder die Zivilehe, noch das Kirchenaustrittsrecht noch auch die Definition der Kirche als „Religionsgesellschaft" erhoben den Anspruch auf eine theologische Aussage; diese weltlichen Rahmenbegriffe des säkularen Staates dürfen darum nicht in negativem Sinne theologisch „aufgeladen" werden, wie dies vielfach von Theologen mißverstanden wurde und noch wird. Das weltliche Recht folgt zwar bei der Zivilehe und dem Kirchenaustritt nicht dem kirchlichen Anspruch; aber es bemächtigt sich auch nicht des kirchlichen Rechts und des theologischen Selbstverständnisses der Kirche. Das weltliche Eherecht beschränkt sich ebenso wie das Kirchenaustrittsrecht auf die Regelung äußerer Rechtsbeziehungen im staatlichen Rechtssystem. Es läßt den Sinn der katholischen Eheschließung und Taufe als Sakrament im katholischen Glauben und kirchlichen Rechts-
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Zusammenhang unberührt und unbestritten. Auch die weltliche Rechtsform der „Religionsgesellschaft" w i l l keineswegs das ekklesiologische Wesen der Kirche theologisch definieren bzw. negieren, sondern stellt ihr in unserer kulturell und religiös pluralistischen Gesellschaft eine äußere weltliche Rechtsform zur Verfügung, durch die sie ihren göttlichen Auftrag in freier Selbstbestimmung ihres Wesens und Wirkens situationsgerecht erfüllen kann. Auch alle anderen Zentralbegriffe des Staatskirchenrechts haben diesen offenen, weltlichen Rahmencharakter, der auf die inhaltliche Sinnerfüllung durch die betreffende Religionsgemeinschaft in freier Selbstbestimmung verweist: Was „Glaube", „Bekenntnis", „Religionsausübung", religiöse Unterweisung, Kirchengut, Kirchenwidmung, Kirchenamt usw. bedeuten, hat jede Religionsgesellschaft im Sinn ihres theologischen Selbstverständnisses eigenständig für sich zu bestimmen. Der Staat verzichtet hier in säkularer Selbstbeschränkung auf eine theologische (bzw. ideologische) Inhaltsdefinition; er bietet allen Religionsgemeinschaften den gleichen weltlichen Rahmen zur inhaltlichen Selbstbestimmung nach ihren divergenten Bekenntnisgrundsätzen an. Die Rahmenbestimmungen des Staatskirchenrechts verweisen deshalb auf die vielfältig divergierenden theologischen und kirchenrechtlichen Bekenntnis- und Rechtsformen der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Was Kirchengut bedeutet, wie es geweiht und gewidmet wird usw., bestimmen die Kirchen durch ihr Kirchenrecht, indes der Staat dies dann durch den Mantel seiner säkularen Kirchengutsgarantie als weltlicher Rahmenform in den weltlichen Rechtsbeziehungen sichert. Das Staatskirchenrecht bietet durch seine säkularen Formen die weltliche Arbeitskleidung, nicht zu verwechseln mit dem Meßgewand. - Selbst im Mitgliedschaftsrecht hat das Staatskirchenrecht nur das Kirchenaustrittsrecht als eigene, scharf getrennte Sonderregelung vom Kirchenrecht abgespalten. Aber für den Normalfall des Erwerbs der Kirchenmitgliedschaft verweist es auf die Taufe als innerkirchlichen Eingliederungsakt in eine Religionsgemeinschaft, verzichtet also auf einen säkularen Beitrittsakt nach Art des staatlichen Vereinsrechts und knüpft an die Taufe auch die bürgerrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Konsequenzen (etwa hinsichtlich der Steuerpflicht). - Im übrigen blieb nach dem Kulturkampf und nach der Weimarer Verfassung eine Vielzahl von Verbindungen zwischen Staat und Kirche erhalten, die ein sachgerechtes Ineinandergreifen geistlicher und weltlicher Kriterien, Kompetenzen und Instanzen garantiert. 7. Die Freiheitsgarantie wurde im umfassenden und zugleich differenzierten Sinn gewährt. Der Staat verzichtete - um der Freiheit aller willen auf die inhaltliche Definition des Freiheitsverständnisses in einem bestimmten religiösen wie in einem antireligiösen Sinn. Dadurch wird die Verengung der Verfassungsgarantie auf partikulare Vorstellungen und deren Verabso-
Kulturkampfaspekte
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lutierung zur Gruppenherrschaft ausgeschlossen. Er hat deshalb die Religionsfreiheit des weltlichen Rechts als einen weltlichen Rahmen garantiert, der jedem Gläubigen und jeder Religionsgemeinschaft die Sinnerfüllung dieses weltlichen Freiheitsrahmens im Sinne ihres Glaubens (bzw. ihrer Glaubenslosigkeit) erlaubt. Durch diesen Ausbau der (negativen) Religionsfreiheit wird dem Gläubigen ermöglicht, sich mit weltlicher Rechtswirkung von seiner Kirche zu lösen. Desgleichen wird den Religionsgemeinschaften (und d.h. den in ihr freiwillig vereinigten Gläubigen) die (positive) Religionsfreiheit eingeräumt, ihre innnere Kirchenrechtsordnung nach ihrem theologischen Freiheitsverständnis zu ordnen und zu begrenzen - einschließlich aller Konsequenzen in puncto Kirchengewalt, Infallibität, hierarchischer Autorität und gliedschaftlicher Obedienz, mitsamt der Freiheit der Kirche zur Disziplinierung ihrer Glieder. Wenn Bismarck den deutschen Bischöfen und Katholiken die Hilfe des Staates zur Verteidigung „ihrer Rechte" gegeÄ Papst und Kurie in Aussicht stellte 7 , hatte er die Differenziertheit des staatlichen und kirchlichen Rechts sowie ihrer verschiedenen Freiheitsrelationeh verkannt. An der Altkatholikenfrage erwies sich, daß der weltliche Staat dem Gläubigen letztlich nur die „negative" Freiheit der Abspaltung von der katholischen Kirche sowie die „positive" Religionsfreiheit zur Gründung einer neuen Religionsgemeinschaft gewährleisten konnte - nicht aber die „Freiheit", innerhalb der katholischen Kirche die Glaubensanschauungen einer dissentierenden Minderheit mit staatlicher Hilfe durchzusetzen. Ebenso mußten im Sinne einer umfassenden Freiheitsgewährung jene Kulturkampfgesetze abgebaut werden, die der Kirchenverfassung eine weltliche Überfremdung durch Modelle der Demokratisierung, Liberalisierung, Egalisierung und Beschränkung der kirchlichen Hierarchie nach dem Maße weltlicher Verfassungsvorstellungen aufoktroyiert hatten. Die staatlichen Schrankengesetze mußten den Wert der Kirchenfreiheitsgarantie ihrerseits respektieren, wie es später zum klassischen Satz der allgemeinen Grundrechtsinterpretation erhoben wurde. 8. Die Gleichheitsfragen wurden im Zusammenhang mit der Freiheitsfrage gelöst: Im liberalen System des 19. Jahrhunderts wird Freiheit als allgemeine Freiheit, d. h. in Gleichheit gewährleistet. Und Gleichheit wird freiheitlich akzentuiert im Sinne gleicher Freiheitsentfaltung anstatt freiheitsbeschränkender Nivellierung. Mit der Beseitigung des ancien régimes erfolgte die Umwandlung der vielfältig abgestuften, auf Tradition, Privileg, Vertrag beruhenden Freiheitsrechte in die Gleichheit und Allgemeinheit des Gesetzes und des Bürgerstatus; davon wurden auch die zählebigen staatskirchenrechtlichen Rechtsverhältnisse mehr und mehr ergriffen. Mit dem Abbau des Kulturkampfes wurde die Ausrichtung des Rechts nach religionsfremden bzw. religionsfeindlichen Kriterien und Maßstäben wieder 7
Vgl. oben Fn. 2.
36 Festschrift P. Mikat
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M a r t i n Heckel
weithin aufgegeben; das hat auch die indirekte, verschleiernde inhaltliche Diskriminierung der Katholiken durch formal gleiche Normen beseitigt. Die Entwicklung zur Allgemeinheit und Gleichheit der staatskirchenrechtlichen Rechtsverhältnisse ist freilich erst durch die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung sowie durch ihre Rezeption und Entfaltung unter dem Grundgesetz zu einem gewissen Abschluß gelangt 8 . Erst sie haben die überkommenen Statusverschiedenheiten zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche, ja auch zwischen den großen und kleinen Religionsgemeinschaften einander wesentlich angenähert. Die unleugbaren staatskirchenrechtlichen Verschiedenheiten zwischen diesen Religionsgemeinschaften beruhen heute auf dem Umstand, daß die gleichen Verfassungsnormen bei ungleichen faktischen Voraussetzungen zu ungleichen Wirkungen führen 9 : dieses entspricht der liberalen Idee der Rechtsgleichheit (als gleicher Chancenfreiheit), die nicht die Gleichheit des Faktischen, d.h. der tatsächlichen Nivellierung intendiert, sondern diese im Effekt gerade verhindert. Vor dem Umbruch von 1918 aber blieb der staatskirchenrechtliche Status der katholischen Kirche und der evangelischen Kirche noch sehr verschieden, wenn man das zersplitterte, unübersichtliche Staatskirchenrecht der deutschen Länder überblickt 1 0 . Im Ergebnis wurde die katholische Kirche nach dem Kulturkampf weitgehend im Sinn ihrer Selbstbestimmung staatsfrei gestellt, auch wenn jeweils ein Grundbestand von Kirchenaufsichtsrechten des Staates bestehen blieb. Die evangelische Kirche aber war in allen deutschen Ländern stärker staatsverhaftet und durch stärkere staatskirchenrechtliche Beschränkungen gebunden; sie ergaben sich aus den besonderen Verklammerungen des (innerkirchlichen) Landesherrlichen Kirchenregiments mit der (staatlichen) Kirchenhoheit des Monarchen. Diese Unterschiede in der Formalparität können indes nicht als imparitätisch angesehen werden, wenn man sie nach materialen Paritätsmaßstäben mißt 1 1 . Die evangelische Kirche suchte stärker die Verbundenheit mit dem Staat, die katholische Kirche stärker die Eigenständigkeit und Distanz, die sie sich im Kulturkampf mühsam errungen hatte. Soweit beide Kirchen formal verschieden behandelt wurden, geschah dies folglich nach ihren selbstgewählten Prinzipien gleichmäßig und gleichwertig, also ohne materialen Paritätsverstoß. - Mit der Einführung des - gemilderten - Trennungsprinzips durch Art. 137 I WRV wurde dieses sehr differenzierte Paritätssystem wesentlich im Sinne liberaler Formalparität modifiziert 12 . 8
Martin Heckel, Die religionsrechtliche Parität, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, hrsg. von E. Friesenhahn / U. Scheuner, Berlin 1974, S. 472 f f , 491 ff. 9 Ebd., S. 496ff, 498ff. 10 Ebd., S. 458ff, 463. n Ebd., S. 464. 12 Ebd., S. 471,490, 491 ff.
K u l t u r k a m p f aspekte
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Auf diesen Linien hat sich nach allen schmerzlichen Kulturkampferfahrungen in Deutschland das Staatskirchenrecht und Kulturverfassungsrecht eingespielt. Es dürfte im internationalen Vergleich den Rechtsordnungen der meisten anderen Staaten an Tiefgang und Freiheitlichkeit überlegen sein.
36'
Die Leprakranken im mittelalterlichen kanonischen Recht Von Peter Landau Zu den Minderheiten, die in der mittelalterlichen Rechtsordnung eine besondere Rechtsstellung hatten, gehören die Leprakranken. Die Zahlen der am Aussatz Erkrankten scheinen im 12. und 13. Jahrhundert verhältnismäßig hoch gewesen zu sein, nachdem die Krankheit selbst in Westeuropa seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. belegt ist. 1 Aufgrund der Zuständigkeit des kanonischen Rechts für die Hilfsbedürftigen sind die Rechtsverhältnisse der Leprosen im klassischen kanonischen Recht des 12. und 13. Jahrhunderts mehrfach behandelt worden; die Regelungen des Dekretalenrechts führten dann zu ausführlichen Diskussionen in der zeitgenössischen Kanonistik. 2 Will man den spezifischen Beitrag des kanonischen Rechts in dieser Rechtsmaterie zutreffend erfassen, so muß man vorerst die Frage stellen, in welcher sozialen und rechtlichen Position sich ein Leprakranker vor dem 12. Jahrhundert befand. Die rechtsgeschichtliche Forschung hat bisher die Stellung der Leprosen vor allem bei Untersuchungen zur Geschichte des Spitalrechts thematisiert, wobei w i r das deutsche Standardwerk Siegfried Reiche verdanken. 3 Reicke resümierte seine Auswertung gemeinrechtlicher und lokaler Quellen in folgender Weise: „Von den strengen Formen der ältesten Zeit, die den Leprosen in einen der Rechtslosigkeit nahen Zustand versetzte, stieg seine rechtliche Behandlung im Rahmen des Spitalrechtes zu einer nur noch in Einzelzügen geminderten Handlungsfähigkeit auf. Alles in allem ein Weg fortschreitender Abschwächung der strengen Auffassungen der Frühzeit und Hebung der sozialen und rechtlichen Lage der Aussätzigen." 4 Die für die Leprosen vor dem 12. Jahrhundert überlieferten Rechtsnornem sind außerordentlich spärlich, lassen aber doch erkennen, daß die Cha1 Eine neuere Zusammenfassung der historischen Forschung zu Lepra oder Aussatz im Mittelalter findet sich bei G. Keil / A. H. Murhen / G. Binding / C. Schott-Volm, Art.,Aussatz', in: LMA, Bd. I, München/Zürich 1980, Sp. 1249 - 57. 2 Hierzu bisher vor allem Friedrich Merzbacher, Die Leprosen im alten kanonischen Recht, ZRG Kan. Abt. 53 (1967), S. 27 - 45. 3 Siegfried Reiche, Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, Bd. I - II, Stuttgart 1932 (= Kirchenr. Abh. Bd. 111-14); hier zu den Leprosenspitälern in Bd. I, S. 310 - 26; zum Recht der Leprosen in Bd. II, S. 233 - 86. 4 Reiche (Fn. 3), Bd. II, S. 251.
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Peter Landau
rakterisierung ihres Status bei Reiche als ,der Rechtlosigkeit nahe' wohl zutreffend ist. Unter den germanischen Volksrechten geht nur das Edictum Rothari von 643 auf die Stellung der Leprosen ein. 5 Hier wird ein Feststellungsverfahren erwähnt, das zur Kenntlichmachung des Leprakranken führt und für diesen folgende Konsequenzen hat: 1. Er wird aus seinem Haus und sogar der Gemeinde vertrieben; 2. er gilt als ,tamquam mortuus', darf nichts mehr veräußern und sich keinen Erben bestellen (Verbot des ,thingare'); 3. er soll eine Art Unterhaltsanspruch haben - aber offenbar nur aus den Erträgen seines Vermögens. 6 Über diese minimale Fürsorge für die Leprosen gehen Bestimmungen fränkischer Konzilien der Merowingerzeit hinaus (Orléans 549 can. 21, Lyon 583 can. 6), in denen den örtlich zuständigen Bischöfen die Pflicht auferlegt wird, für Nahrung und Kleidung der Leprosen nach Möglichkeit aus den Mitteln der Kirche zu sorgen. 7 Hier wird zum erstenmal ausgesprochen, daß die Leprakranken als Bedürftige Anspruch auf Unterstützung der Kirche haben. Im ganzen ist aber auch die Haltung der Kirche gegenüber den Leprakranken im frühmittelalterlichen Frankenreich eher restriktiv. Nach einem Brief Papst Gregors II. an Bonifatius aus dem Jahre 726 soll den Leprakranken die Teilnahme an der Eucharistie nicht verweigert werden, aber sie dürfen mit Gesunden nicht zusammen an einem Mahl teilnehmen. 8 Die päpstliche Antwort setzt voraus, daß die Kirche prinzipiell die Absonderung der Leprakranken bejahte und auch ihr Anspruch auf Versorgung mit geistlichen Gnadenmitteln keineswegs unumstritten war. Das Konzil von Compiègne 757 hält es für möglich, daß die Ehe eines oder einer Leprosen in gegenseitigem Einverständnis aufgelöst wird. 9 Zwar wird hier die Auflö5 Ed. Rothari c. 176 (MGH, Leges IV, ed. Bluhme 1868, S. 41): „Si quis leprosus effectus fuerit et cognitum fuerit iudici vel popullo certa rei Veritas, et expulsus foris a civitate aut casam suam, ita ut solus inhabitet, non sit ei licentia res suas alienare aut thingare cuilibet personae. Qui in eadem die, quando a domo expulsus est, tamquam mortuus habetur. Tarnen dum advixerit, de rebus, quas reliquerit, pro mercedis intuitu nutriatur." 6 Vgl. Fn. 5. Zum ,thingare' vgl. Max Pappenheim, Launegild und Garethinx, Breslau 1882 (= Gierkes Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, H. 14), S. 45 - 76, besonders S. 64. 7 Nach Conc. Aurelianense 549 (Concilia aevi Merovingici ed. Friedrich Maassen, Hannoverae 1893, Nachdruck 1956, MGH Cone. I, S. 99 - 112, S. 107, Z. 18 - 19) hatte der Bischof ,de domo ecclesiae iuxta possibilitatem' für die Leprosen zu sorgen. 8 Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Michael Tangl, Berlin 1916 (MGH Epp. sel. I), nr. 26, S. 44 - 47, S. 46.: „Leprosis autem, si fideles christiani fuerint, dominici corporis et sanguinis participatio tribuatur; cum sanis autem convivia celebrare negentur." Vgl. auch Reiche (Fn. 3), Bd. I, S. 312, Anm. 5. 9 Conc. Compendiense c. 19 (Capitularia Regum Francorum I, ed. Alfred Boretius, Hannoverae 1893, Nachdruck 1960, MGH Cap. 1/1, Nr. 15, S. 37 - 39, S. 39): „Si quis
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sung der Ehe an die Zustimmung des Leprakranken gebunden; insofern versucht vielleicht das fränkische Reformkonzil, einer weitergehenden Praxis der Verstoßung des erkrankten Ehegatten gegen dessen Willen entgegenzuwirken. Im 8. Jahrhundert wurde die Lösung des ehelichen Bandes im Falle der Erkrankung eines Ehegatten und der dadurch gegebenen Unmöglichkeit ehelicher Gemeinschaft auch von päpstlicher Seite legitimiert, wie wir aus der Korrespondenz Gregors II. mit Bonifatius wissen. Der Papst meinte, daß eine Frau, die aufgrund einer Krankheit ihre eheliche Pflicht nicht mehr erfüllen könne, von ihrem Mann entlassen werden könne - dieser dürfe sich erneut verheiraten, müsse aber seine frühere Frau versorgen. 10 Der vom Papst allgemein formulierte Krankheitstatbestand (,infirmitate correpta') ließ sich unter Umständen auch auf die Lepraerkrankung der Frau anwenden. Insgesamt läßt sich sagen, daß das frühmittelalterliche Recht, auch sofern es kirchlichen Ursprungs war, vom Gedanken der Absonderung der Leprakranken beherrscht wurde, der besonders deutlich in einem Kapitular Karls des Großen von 789 - im ,duplex legationis edictum' c. 36 - zum Ausdruck kommt: „ U t [leprosi] se non intermisceant alio populo". 1 1 Diese karolingische Norm ist natürlich eine Wiederaufnahme des alttestamentlichen Isolierungsgebots in Leviticus 13.46: „Omni tempore quo leprosus est et immundus, solus habitabit extra castra". Diesem Isolierungsprinzip gegenüber bringt nun das 12. Jahrhundert wesentliche Verbesserungen in der sozialen und auch der rechtlichen Lage der Leprosen. Zunächst scheint es so zu sein, daß in dieser Epoche das Institut des Leprosenspitals weite Verbreitung fand, während vorher eine menschenwürdige Unterbringung der Kranken offenbar ganz selten war - nur ein Großkloster wie St. Gallen hatte um 750 zur Zeit des Abtes Othmar ein ,hospitiolum' für die Leprosen, was offenbar ganz ungewöhnlich war. 1 2 Für die Stellung der Leprosen war es weiterhin äußerst bedeutsam, daß die Ehe der Leprakranken als vollgültig und prinzipiell unscheidbar angesehen wurde. Hierfür mußte zunächst der Grundsatz festgehalten werden, daß die Erkrankung eines Ehegatten die Ehe nicht aufheben könne. Hier rezipierte das kanonische Recht einen Satz der Interpretation zu den Paulussenleprosus mulierem habeat sanam, si vult ei donare comiatum, ut accipiat virum, ipsa femina, si vult, accipiat. Similiter et vir." Vgl. hierzu Reiche (Fn. 3), Bd. II, S. 251 f.; Paul Hinschius, Das Ehescheidungsrecht nach den angelsächsischen und fränkischen Bußordnungen, Z. f. deutsches Recht 20 (1861), 79. 10 Die vieldiskutierte Stelle steht im Brief 26 Papst Gregors II. an Bonifatius MGH Epp. sel. I, S. 45 (Fn. 8). Hierzu vgl. die neuere Monographie von William Kelly, Pope Gregory II. on divorce and remarriage (Analecta Gregoriana Bd. 203), Roma 1976. 11 MGH Cap. I, S. 64 (Fn. 9), nr. 23, S. 62 - 64, S. 64. ι 2 Cf. Reiche (Fn. 3), Bd. I, S. 313.
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Peter Landau
tenzen, in dem es heißt: „Si qui matrimonium sani contraxerint, et uni ex duobus amentia aut furor accesserit, ob hanc infirmitatem coniugia talium solvi non possunt". 13 Regino von Prüm, der die Interpretation der Paulussentenzen in sein Handbuch (,enkyridion') aufnimmt, ergänzt ,amentia aut furor' durch den Zusatz ,aut aliqua infirtnitas' und erweitert somit das Scheidungsverbot auf jede Art von Krankheit. 1 4 Es scheint mir hier ein Fall eindeutiger Rechtsschöpfung durch Textveränderung bei Regino vorzuliegen. 143 Der Regino-Text wird von Burchard von Worms rezipiert (Burch. 9.28), der ihn als einen Text Papst Nikolaus' I. inskribiert und ihm dadurch das Ansehen eines genuin kirchlichen Rechtssatzes gibt, und gelangt schließlich wohl über weitere Sammlungen (Anselm, Polycarp) zu Gratian (C.32, q.7, c.25),15 der eindeutig herausstellt, daß man wegen Krankheit und Körperschäden eine Ehe nicht auflösen dürfe. 16 Gratian setzt sich auch mit der anstößigen Erlaubnis Gregors II. auseinander, die er für unwirksam hält, da sie sowohl den Canones als auch dem Evangelium widerspreche interessanterweise beruft sich Gratian dabei gegen Gregor II. auf Augustinus - bei der Auslegung des Evangeliums hat dieser für ihn hier die höhere Autorität. 1 7 Auch wenn man aber bejahte, daß die Ehe durch nachfolgende Lepraerkrankung nicht aufgelöst werde, mußte sich die Frage stellen, ob eine eheliche Gemeinschaft mit Leprakranken aufrechterhalten werden könne, in welchem Verhältnis die Eheverpflichtung zum Absonderungsgebot stünde
13 Überliefert über Lex Romana Visigothorum, Pauli Sententiarum lib. II, tit. XX. 4 (ed. Gustav Haenel, Lipsiae 1849, S. 368). 14 Regino von Prüm, L i b r i duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis 2.129 (ed. F. G. A. Wasserschieben, Lipsiae 1840, S. 264). i4a Zu Textveränderungen durch Regino cf. meinen Beitrag, Gefälschtes Recht in den Rechtssammlungen bis Gratian, in: Fälschungen im Mittelalter (MGH, Sehr. 33 II) Hannover 1988, S. 11 - 49, S. 22 - 25. 15 Burchard von Worms, Dekret 9.28 (Patrologia latina Bd. 140, sp. 819); Anselm von Lucca, Collectio canonum 10.25 (ed. Friedrich Thaner, Oeniponte 1915, S. 494); Ivo von Chartres, Dekret 8.166 (Patrologia latina Bd. 161, sp. 619); Ivo von Chartres, Panormie 6.93 (Patrologia latina Bd. 161, sp. 1264); Polycarp 6.4.26 - cf. Uwe Horst, Die Kanonessammlung Polycarpus des Gregor von S. Grisogono, Quellen und Tendenzen, München 1980 (= MGH, Hilfsmittel, Bd. 5), S. 174. Überall fehlt der letzte Passus bei Gratian: „aut a barbaris exsecti fuerint." Er taucht aber in der PolycarpHandschrift Vat. lat. 1354 auf fol. 131b auf. Der Zusatz fehlt in allen anderen Polycarp-Handschriften und dürfte eine nachgratianische Ergänzung in MS Vat. 1354 sein - cf. hierzu Ernst Pereis, Die Briefe Papst Nikolaus I., T. II, in: Neues Archiv für Geschichtskunde 39 (1914), S. 45 - 153, S. 118,7 N. 4. 16 Die Rubrik zu D. 32, q. 7, c. 25 lautet bei Gratian: „Ob infirmitatem vel dampna corporis coniugium solvi non licet." 17 Gratian, Diet, post C. 32, q. 7, c. 24: „illud vero Gregorii ad Bonifatium Anglicis pro tempore permissum est ... alias autem inane esset, cum Augustinus dicat in sermone Domini in monte: ,si uxorem quis habeat sterilem, etc'". Zur Frage der Autorität der Kirchenväter im Vergleich zu derjenigen der Päpste bei Gratian cf. Charles Munier, Les sources patristiques du droit de l'église du V I I I e au X I I I e siècle (Mulhouse 1957), besonders S. 183 - 88.
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und inwieweit ein bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung Leprakranker eine Ehe eingehen könne. Diese Probleme werden schon bald nach Gratian im Dekretalenrecht aufgegriffen und in einer differenzierten Weise gelöst. Das Dekretalenrecht beschäftigt sich bald auch mit der vermögensrechtlichen Stellung des leprakranken Klerikers, mit dem Ergebnis, daß dieser jedenfalls nicht im Sinne des Edictum Rothari als ,tamquam mortuus' galt. Die Bedeutung dieser Neuregelungen im Dekretalenrecht wurde schon bald auch von den Kanonisten erkannt, so daß es in den Dekretalensammlungen schon seit etwa 1177 eigene Titel mit der Überschrift „De leprosis" gab. 18 Man kann sagen, daß die Leprosen plötzlich zu einem bevorzugten Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung werden. Papst Alexander III. behandelte in zwei durch die Sammlungen überlieferten Dekretalen die Ehefragen der Leprosen. 19 In einer an den Erzbischof von Canterbury gerichteten Dekretale (JL 13794) geht der Papst davon aus, daß nach einer allgemein verbreiteten Gewohnheit ^generalis consuetudo') die Leprakranken von der menschlichen Gesellschaft getrennt würden und außerhalb von Siedlungen an einsamen Orten leben müßten. Das habe dann zur Folge, daß auch die Ehegatten sich von ihren leprakranken Partnern faktisch trennen würden. Der Papst hält nun eine solche Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft für unzulässig mit der biblischen Begründung ,cum vir et uxor una caro sint', und verlangt von den gesunden Partnern, daß sie dem kranken Ehegatten folgen und ihn versorgen sollten. Ausdrücklich wird hervorgehoben, daß dies sowohl für Männer als für Frauen gelte. Der Erzbischof solle durch Ermahnungen (,exhortationes') darauf hinwirken, daß die Ehegatten dieser Verpflichtung nachkämen. Sei dies jedoch nicht zu erreichen, was der Papst offenbar angesichts der generellen Absonderungspraxis einkalkuliert, dann sollen die getrennten Ehegatten jedenfalls Enthaltsamkeit üben und notfalls mit Exkommunikation dazu gezwungen werden. Die Dekretale kann innerhalb des Pontifikats Alexanders III. nicht näher datiert werden, dürfte aber wahrscheinlich während der siebziger Jahre verfaßt worden sein; die Datierung bei Merzbacher auf 1180 ist völlig willkürlich. 2 0 18 Zuerst taucht ein Titel „De leprosis" in der Dekretalensammlung Parisiensis I I um 1177 auf; danach wird er zum üblichen Bestandteil von Dekretalensammlungen bis zum Titel X 4.8 „De coniugio leprosorum" des Liber Extra 1234. Eine Zusammenstellung dieser Titel bei Stephan Kuttner, Index Titulorum decretalium, Mediolani 1977 (= lus Romanum Medii Aevi, Subsidia II), S. 136f. Zu den systematischen Dekretalensammlungen cf. meinen Aufsatz „Die Entstehung der systematischen Dekretalensammlungen und die europäische Kanonistik des 12. Jahrhunderts", ZRG Kan. Abt. 65 (1979), 120 - 44. 19 Es handelt sich um die Dekretalen JL 13794 (X 4.8.1) und JL 13773 (X 4.8.2). 20 Nach Merzbacher, (Fn. 2), S. 34, sollen beide Verordnungen Alexanders III. in das Jahr 1180 fallen. Für JL 13794 muß jedenfalls eine Entstehung vor 1179 angenommen werden, da diese Dekretale bereits in der Collectio Cantabrigensis als c. 82 erscheint - cf. Emil Friedberg, Die Canonessammlungen zwischen Gratian und Bern-
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Peter L a n d a u
Die zweite Dekretale Alexanders III. zu Leprosenfragen war an den Bischof von Bayeux (,Baiocensi' i n der ältesten Überlieferung) gerichtet (JL 13773). Diese Dekretale hat im Stil einen im Vergleich zu der nach Canterbury gerichteten viel prinzipielleren und entschiedeneren Charakter. Der Papst stellt zunächst fest, daß eine an Lepra oder einer anderen schweren Krankheit leidende Frau nicht verstoßen werden dürfe - der Mann dürfe sich von einer solchen Frau auch nicht trennen. Die Dekretale hebt ferner das Recht der Leprakranken zur Eheschließung ausdrücklich hervor, und stellt diese Erlaubnis der Versagung der Freiheit zur Eheschließung in bestimmten Fällen vorherigen ehebrecherischen Verhaltens gegenüber dieses Stück in X 4.7.3 - dadurch wurde verdeutlicht, daß Lepra etwas Unverschuldetes sei. Schließlich betont der Papst, daß der oder die Leprose die geschlechtliche Gemeinschaft (,carnale debitum') vom Gesunden fordern könne, da dies einer Vorschrift des Apostels entspreche, von der keine Ausnahme festgelegt sei. Die relativ starke Position des Leprakranken in der Ehe wird von Alexander III. primär biblisch begründet. Beide Dekretalen Alexanders III. wurden für die spätere Kanonistik grundlegend. Sie werden schon um die Mitte der achtziger Jahre durch eine Dekretale Urbans III. an den Bischof von Florenz ergänzt (JL 15734).21 Urban III. schränkt die Verpflichtung aus dem Ehekonsens für den Fall der Lepraerkrankung nach dem Eheversprechen ein, indem jede Ehe bei,lepra subsequens' wieder aufgelöst werden kann, sofern sie noch nicht vollzogen war. Diese Entscheidung Urbans wurde später aufgrund der Einführung des Zusatzes ,de futuro 1 durch Raymund von Penafort nur auf den Fall von Verlöbnissen und nachfolgender Lepraerkrankung bezogen,22 womit Raymund eine schon von dem Dekretisten Huguccio vertretene Lehrmeinung gesetzgeberisch positivierte - bei Urban selbst kann offenbar jede Art von Ehekonsens bei nachfolgender Lepraerkrankung nicht verpflichtend sein, wenn hard von Pavia (Leipzig 1897, Nachdruck Graz 1958), S. 19.; die Cantabrigensis wurde zwischen 1177 und 1179 kompiliert, cf. Charles Duggan, Twelfth-century decretal collections and their importance in English history (London 1963), S. 48. 21 Die kanonistische Überlieferung dieser Dekretale verzeichnet Walther Holtzmann, Kanonistische Ergänzungen zur Italia Pontificia, T. 1, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 37 (1957), S. 55-102, S.85 (nr. 24). Im Liber Extra ist die Dekretale auf drei Teilstücke aufgeteilt: X 4.8.3, X 4.19.6, X 3.28.7. 22 Urban III. geht von einem Tatbestand der Lepraerkrankung „post sponsalia inter aliquas légitimas personas contracta" aus. Im Liber Extra macht Raymund von Penafort daraus: „post sponsalia de futuro inter légitimas personas contracta." Das ,de futuro' fehlt in den Handschriften der Compilatio I, z.B. der von Friedberg für seine Edition herangezogenen Handschrift Leipzig 983, ohne daß dies in der Edition zum Ausdruck kommt, vgl. Corpus Iuris Canonici, Bd. I I (ed. Friedberg), Sp. 691. Das textkritische Problem ist juristisch deshalb wichtig, weil offenbar noch Urban III. davon ausging, daß der Konsens allein nicht ehebegründend sei. Cf. hierzu A. Esmein / R. Génestal , Le mariage en droit canonique, Bd. I ( 2 Paris 1929), S. 147 und Bd. I I ( 2 Paris 1935), S. 99. Hier wird bereits darauf hingewiesen, daß ,de futuro' ein späterer Zusatz sei.
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die Heimführung (,traductio') der Frau und die ,copula carnalis' noch nicht stattgefunden haben. Diese auf der Kopula-Theorie beruhende Ansicht Urbans III. wurde schon von Huguccio abgelehnt und mit den Worten kommentiert: „quod nullo modo credo verum esse".23 Für die Rezeption der Lepradektretalen Alexanders III. und später Urbans III. war es wichtig, daß sie schon seit dem Ende der siebziger Jahre - nämlich zunächst die beiden Dekretalen Alexanders III. - in einem eigenen Titel „De leprosis" zusammengestellt wurden. Die Kanonisten versuchten in ihrer Interpretation zu einer widerspruchsfreien Auslegung zu gelangen, und haben insgesamt die von Alexander III. entwickelten Prinzipien kaum restriktiv interpretiert. Zunächst einmal wird hervorgehoben, daß die Lepra weder die Eheschließung hindere noch eine Ehe auflöse, so von Bernhard von Pavia in seiner Summa decretalium. 24 Ferner ist es bald herrschende Meinung, daß der gesunde Ehepartner dem Kranken folgen und ihm die eheliche Pflicht leisten müsse. Aus dem Wort ,exhortatio' in Alexanders erster Dekretale wird nicht etwa geschlossen, daß es sich nur um eine moralische Pflicht handle - die Verpflichtung zum ehelichen Verkehr erscheint als Rechtspflicht. Das gilt für die Ansicht der Dekretisten Melendus 25 und Alanus26 am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Johann von Tynemouth, 21 ein englischer Kanonist gegen Ende des 12. Jahrhunderts, und Vincentius Hispanus 28 vertreten die Ansicht, daß man die Gesunden nicht zum ehelichen Verkehr mit Leprosen zwingen könne; die Folgepflicht für den Gesunden wird hier mit dem Satz verglichen, alles den Armen zu geben. Aber schließlich setzt sich in der Glossa ordinaria des Bernhard von Botone die Ansicht durch, daß die ,exhortatio' nur im Sinne eines ersten Versuchs gemeint sei, danach aber durchaus Zwang angewendet werden könne: 23 Urban III. geht in der Dekretale davon aus, daß die Lepraerkrankung eintrat: „antequam a viro mulier traducatur". Zur Lehre Huguccios cf. den Text bei Franz Gillmann, Die Dekretglossen des Cod. Stuttgart hist. f. 419,1927 (auch in AKKR 107, 1927, S. 192 - 250), S. 70, Anm. 3. 24 Bernardi Papiensis Summa decretalium (ed. E. A. Th. Laspeyres, Regensburg 1860, Nachdruck 1956), S. 152: „Idem in lepra puto dicendum, seil, quod nec impedit matrimonium contrahendum nec dirimit contractum." 25 Nach Apparat des Tancred ad 1 Comp. 4.8.1 ν. ,induci' (MS Leipzig 968, fol. 55ra): „Credit Melendus quod sanus tenetur reddere debitum infirmo vel leproso." 26 Nach Apparat des Tancred ad 1 Comp. 4.8.1 v. ,ministrent' (MS Leipzig 968, fol. 55ra): „Numquid in eodem lecto eadem domo morari tenentur? Resp. Nequaquam, dummodo ita prope sit, quod debito suo leprosus per distantiam non fraudetur. Ala" 27 Glosse des Johann von Tynemouth in MS 676 (283) Gonville and Caius College, Cambridge zu C. 32, q. 5, D. 18 (ediert bei Stephan Kuttner / Eleanor Rathbone, Anglo - Norman canonists of the twelfth century, in: Traditio 7, 1949/51, S. 279 - 358, S. 352: „Unde J. de Ti. dicit: quantumeumque sit leprosus, tenetur eum sequi, et tamen cogi non potest. Ad multa enim tenemur ad que non cogemur, ut est Pasce fame morientem, dare omnia pauperibus." 28 Nach Apparat des Tancred ad 1 Comp. 4.8.1 v. ,induci' d. MS Leipzig 968, fol. 55ra im Anschluß an den Text in Fn. 26: „Tarnen non est compellendus ... sepe enim tenetur quis ad aliquid nec tamen compelletur ... Vine
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„Tarnen si sani o m n i n o recusarent, bene compellerentur, sed p r i m o exhortandi sunt".29 D i e V e r p f l i c h t u n g geht n u n allerdings n i c h t so w e i t , daß die Gesunden m i t den Leprosen i m Leprosenheim w o h n e n sollten. D i e F o l g e p f l i c h t bezieht sich n u r auf das ,carnale d e b i t u m ' u n d auf eine d a m i t verbundene r ä u m l i c h e Nähe, aber n i c h t darauf, B e t t u n d Haus m i t dem l e p r a k r a n k e n Partner zu teilen (Huguccio, Alanus, später auch Glossa o r d i n a r i a ) . 3 0 D i e V e r p f l i c h t u n g auf die eheliche Gemeinschaft zwischen dem l e p r a k r a n k e n u n d dem gesunden Partner sollte jedenfalls n i c h t dazu führen, daß die L e p r a k r a n k e n entgegen dem i n can. 23 3. L a t e r a n k o n z i l w i e d e r h o l t e n Absonderungsgebot u n t e r den Gesunden leben w ü r d e n ; 3 1 so Johannes
Teutonicus
i n der Glossa
o r d i n a r i a . 3 2 D a m i t ergab sich n a t ü r l i c h die Frage, f ü r w e l c h e n Z e i t r a u m die Leprosen die Gemeinschaft des Ehepartners i n A n s p r u c h nehmen durften. N a c h A n s i c h t des Vincentius
sollte dies d u r c h r i c h t e r l i c h e n Schiedsspruch
entschieden werden; der Leprose h a t t e also gegenüber dem Gesunden einklagbare Rechte. 3 3 A l e x a n d e r I I I . hatte v o n der M ö g l i c h k e i t gesprochen, daß m a n sich d u r c h V e r p f l i c h t u n g auf E n t h a l t s a m k e i t der F o r d e r u n g des Leprosen auf eheliche Gemeinschaft entziehen könne. H i e r z u m e i n t e n die Kanonisten, daß dies n u r a u f g r u n d eines formellen Gelübdes m ö g l i c h sei (Alanus) oder a u f g r u n d spezieller Dispens (Vincentius, Tancredus). 3 4 D i e M ö g l i c h k e i t , sich d u r c h 29
Bernhard von Botone, Glossa ordinaria ad Χ 4.8.1 v. ,ministrent'. Huguccio nach Gillmann (Fn. 23): „Quod autem dicitur sanus debere sequi leprosum, non intelligo, quod cogatur essem continuo in uno lecto vel etiam i n una domo, set loco et tempore debet ei reddere debitum." Zu Alanus cf. oben Fn. 26. Ferner Glossa ordinaria ad Χ 4.8.1 ν. ,ministrent': „Non debent ad lectum continue compelli, sed sufficit leproso, quod suo debito non fraudetur." 31 3. Laterankonzil can. 23 in: Conciliorum Oecumenicum Decreta ( 3 Bologna 1973), S. 222: „Cum dicat Apostolus, abundantiorem honorem membris infirmioribus deferendum, ecclesiastici quidam, quae sua sunt, non quae Jesu Christi, quaerentes, leprosis qui cum sanis habitare non possunt et ad ecclesiam cum aliis convenire, ecclesias et coemeteria non permittunt habere nec proprii iuvari ministerio sacerdotis. Quod quia procul a pietate Christiana esse dignoscitur, de benignitate apostolica constituimus, ut ubicumque tot simul sub communi vita fuerint congregati, qui ecclesiam sibi cum coemeterio constituere et proprio gaudere valeant presbytero, sine contradictione aliqua permittantur habere." Cf. Merzbacher (Fn. 2), S. 31; Reiche (Fn. 3), Bd. I, S. 314f. Die Bestimmung soll den Bau von Leprosenhäusern wesentlich gefördert haben. Cf. auch Georg Schreiber, Kurie und Kloster, Bd. II, Stuttgart 1910 (= Kirchenrechtliche Abhd., H. 67/68), S. 21 und 113. 32 Johannes Teutonicus, Glossa ordinaria ad C. 32, q. 5, c. 18 v. ,si uxorem': „Sed pone quod vir vult retinere apud se uxorem leprosam, numquid potest? Videtur quod sic, quia uxor tenetur virum sequi, sed non econverso ... Econtra videtur, quod vicini non tenentur pati illam esse inter eos, quia de iure debet remo veri ab eis ... et etiam de consuetudine ... Ego credo, quod alter reliquum debeat taliter sequi, ut quandoque veniat ad ipsum, et quam cito solverit debitum recedat." Diese Lehre läuft auf eine Art,Besuchsregelung' für Leprose beim gesunden Partner hinaus. 33 Apparat des Vincentius ad 1 Comp. 4.8.1 v. ,sine altero esse diutius' (MS Leipzig 983, fol. 43 rb - mit Sigle ,Vinc.' auch in MS Leipzig 968): „hoc quanto tempore intelligitur, nec lege nec canone explicatur, et ideo arbitrio iudicis relinquatur." 30
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Enthaltsamkeit der Ehegemeinschaft mit dem Leprakranken zu entziehen, wird insgesamt restriktiv interpretiert. Hostiensis geht davon aus, daß die Enthaltsamkeit vereinbart sein müsse.35 Gelegentlich taucht in der kanonistischen Diskussion der Gedanke auf, daß die Verpflichtung zur Ehegemeinschaft nur gegenüber Leprakranken bestünde, von denen keine Infektionsgefahr ausgehe. Diese Lehre wurde während der achtziger Jahre von dem englischen Kanonisten Simon von Southwell oder Siwell vertreten. 36 Dazu bemerkt aber schon Bernhard von Pavia, daß eine solche Ansicht nicht durch die Autorität der Canones abgedeckt und deshalb abzulehnen sei. 37 Huguccio meint hierzu, daß sich diese Ansicht von der Berücksichtigung der Infektionsgefahr weder auf ratio noch auf Autorität stützen könne. Man müsse vielmehr festhalten, daß das Seelenheil dem körperlichen Wohl überzuordnen sei: „Debent enim salutem anime saluti corporis preponere"; für diesen Satz beruft sich Huguccio auf Augustinus, der eine entsprechende Regel allerdings nur für den Fall des Ehebruchs entwickelt hatte, zu dem sich jemand ,libidinis instinctu' verleiten lasse.38 Dies wird herrschende Meinung und so z.B. in der Summa aurea des Hostiensis vertreten. 39 Die Infektionsgefahr wird nur zugunsten der Kinder berücksichtigt; sie sollen in der Nähe des gesunden Elternteils bleiben (Goffredus), 40 unterliegen aber offenbar keiner Pflicht zum Kontakt mit leprakranken Eltern.
34 Apparat des Tancred ad 1 Comp. 4.8.1 ν.,servit' (MS Leipzig 968, fol. 55 ra): „ i d est se servaturum voveat Arbiter enim non debet sustineri, ut vivant separati, ut supra de conversione coniu. c. ult. Al. Vel dicas cum Vine., quod est hic comparativa permissio seu dispensatio. T." 35 Hostiensis, Summa aurea (ed. Lyon 1537, Nachdruck 1962, fol. 206 r): „de coniugio leprosorum ... „Monendi ergo sunt, ut debitum reddant. quod si moniti acquiescere noluerint, non cogantur, si continentiam servare volunt." 36 Glosse zu C. 32, Q 7, c. 18 bei Kuttner / Rathbone (Fn. 27), S. 352: „S. de S. disting u i si ita sit leprosus quod expellatur, vel quod timeatur infectio, non tenetur eum sequi coniunx." Eine ähnliche Glosse findet man auch in Dekretalensammlungen der achtziger Jahre - cf. meinen Aufsatz (Fn. 18), S. 141, Anm. 90. Zu Simon cf. bei Kuttner / Rathbone, S. 326f.: er war Kanoniker in Lincoln und lehrte in Bologna, Paris und vielleicht Oxford. 37 Bernardus Papiensis, Summa decretalium (ed. Laspeyres [Fn. 24], S. 153): „Fuerunt tarnen, qui duo genera leprae distinxerunt, aliud videlicet, quod inficit comparem ex contactu et aliud, quod non transit in alium ex huiusmodi participatione; in primo casu dicunt, sanum non teneri ad reddendum debitum infirmo, in secundo teneri; sed hanc suam opinionem nulla possunt canonum auctoritate vallare, ideoque tamquam superstetiosam credimus respuendam. " 38 Huguccio, Summa ad C. 32, q. 5, c. 18 v. ,pro societate fideque' bei Gillmann (Fn. 23): „Debent enim salutem anime saluti corporis preponere, ut dicit Aug. supra e. Q. § Cum ergo hec." (= C. 32, 5, diet. p. c. 14). 39 Hostiensis (Fn. 35): „ A l i i distinguimi inter lepram que inficit, ut tunc non cogatur precise ... et lepram que non inficit, et tunc cogatur precise ... quod non placet." 40 Goffredus Tranensis, Summa super titulis decretalium (ed. Lyon 1519, Neudruck 1968, fol. 180 ra): „De coniugio leprosorum ... Quid de filiis? Puto quod cum sano debeant remanere, ne inficiantur, cum sit morbus contagiosus."
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Die Gemeinschaft der Ehepartner wird, wohl aufgrund stärkerer Berücksichtigung der Sakramentsnatur der Ehe, um die Mitte des 13. Jahrhunderts eher noch mehr als im 12. Jahrhundert betont. Goffredus von Trani geht anders als Alanus davon aus, daß der gesunde Partner prinzipiell mit dem kranken zusammenwohnen solle, sofern sie ein eigenes Haus oder zumindest eine Einzelzelle im Leprosenheim haben; nur eine Gemeinschaftsunterkunft mit Leprosen erscheint als unzumutbar. 41 In der Praxis des Offizialats von Paris wird durch Richterspruch festgelegt, an welchem Ort der eheliche Verkehr zwischen den Ehegatten stattzufinden habe. 42 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die starke Betonung der ehelichen Gemeinschaft eine Isolierung und Ausstoßung des verheirateten Leprakranken verhindert. Die Ausstoßung der Leprosen aus der Gesellschaft, noch von Alexander III. als »generalis consuetudo' bezeichnet, bekommt bei Bernhard von Botone in der Glossa ordinaria das Etikett einer ,mala consuetudo' und wird trotz der Autorität des A. T. als hinfällig betrachtet. 43 Das zweite Hauptproblem, das sich im kanonischen Recht hinsichtlich der Leprakranken stellte, betraf den Rechtsstatus des leprakranken Klerikers. Durfte ein Kleriker nach einer Lepraerkrankung sein Benefizium behalten oder konnte es wegen seiner offensichtlichen Amtsunfähigkeit entsprechend dem Satz ,Beneficium datur propter officium' neu vergeben werden? Der uns überlieferte Dekretalenstoff läßt erkennen, daß jedenfalls Konzessionen von Kirchen zu Lebzeiten eines an Lepra erkrankten Inhabers des Kirchenbenefiziums vorkamen. Die zeitlich erste Dekretale, die sich mit dieser Frage beschäftigt, stammt von Alexander I I I . 4 4 und ist an den Bischof von Worcester und andere Prälaten gerichtet, vermutlich seinen Vertrauensmann und häufigen ,iudex delegatus' Bischof Roger von Worcester (1164 - 79). 45 Ein Kleriker R. hatte sich an den Papst gewandt und vorgetragen, daß ihm seine Kirche von Mönchen - einem Mönchskonvent - gewährt worden sei, nachdem der bisherige Benefizieninhaber William an Lepra erkrankt sei. R. appelliert an den Papst, da er befürchtet, daß die Konzession der Kirche zu Lebzeiten des leprakranken Klerikers rechtsunwirksam gewesen sein könne 41 Goffredus (Fn. 40, fol. 179 vb - 180 ra): „Sed quid si quis egrediatur domum leprosorum in qua multi leprosi sub magistro vivunt ... Numquid uxor sana tenetur sequi? Non credo cum in communi dormiant et in communi vexantur. Sed si cella aliqua daretur vel domus proxima in qua possent cohabitare vir et uxor, tunc videretur contrarium esse dicendum." 42 Cf. Esmein / Génestal (Fn. 22), Bd. I I ( 2 Paris 1935), S. 12, Anm. 4. 43 Bernhard von Botone, Glossa ordinaria ad Χ 4.8.1.ν. ,de consuetudine': „sed in hoc quod viri sani non sequuntur uxores, vel econverso, mala erat consuetudo." 44 JL 14134. Die Dekretale gelangte in die Compilatio I I (2 Comp. 3.7.1), wurde aber nicht in den Liber Extra aufgenommen. Der Text ist gedruckt bei Aemilius Friedberg, Quinque Compilationes antiquae (Leipzig 1882, Neudruck 1956), S. 82. 45 Zu Roger von Worcester cf. Mary G. Cheney, Roger, Bishop of Worcester 1164 1179 (Oxford 1980). Die Dekretale JL 14134 wird hier als Nr. 56 in Appendix I I auf S. 346 näher besprochen und ihre kanonistische Überlieferung verzeichnet.
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und ihm die Kirche aufgrund einer ,innovatio', offenbar einer Art von Nichtigkeitserklärung, aberkannt werden könne. Der Papst setzt nun eine Kommission von iudices delegati ein, die den Fall untersuchen und Zeugenvernehmungen durchführen sollen. Sollte es sich erweisen, daß der bisherige Benefiziat W. manifest an Lepra erkrankt war, dann soll die Neubesetzung wirksam sein und nicht etwa R. verdrängt werden können, weil er eine noch nicht vakante Kirche seinerzeit erhalten habe. Die Dekretale setzt somit für den Fall der Besetzung der Kirche durch Leprakranke das Verbot, nicht vakante Kirchen zu vergeben, außer Kraft, obwohl dieses Verbot gerade zur Zeit Alexanders III. in einem Kanon des dritten Laterankonzils neu formuliert worden war: „Nulla ecclesiastica ministeria seu etiam beneficia vel ecclesiae alicui tribuantur vel promittantur antequam vacent". 46 Die Dekretale gibt keine Begründung dafür, daß der leprakranke Kleriker sein Benefizium verlieren sollte. Spätere Dekretalen lassen allerdings erkennen, daß infolge der Furcht der Gläubigen vor dem Kontakt mit dem leprosen Priester für ihn eine Wahrnehmung seiner Amtspflichten faktisch unmöglich war. „Pro scandalo et abominatione populi" waren leprakranke Kleriker von der Verwaltung ihres Amtes zu entbinden, wie es in einer Dekretale Clemens' III. oder Coelestins III. heißt. 47 Der wesentlichste Gesichtspunkt war jedoch, daß dem leprakranken Kleriker das Benefizium als Versorgung erhalten blieb und er nur für die Zwecke der ,cura animarum' einen coadiutor zugeordnet erhielt. Das Institut des ,coadiutor', das im kanonischen Recht einen Ausgleich zwischen dem Rechtsanspruch des einzelnen auf Genuß seiner Pfründe und dem Recht der Allgemeinheit auf Teilhabe an der geistlichen Versorgung ermöglicht, wurde im Zusammenhang mit der Leprakrankheit entwickelt. 48 Papst Lucius III. erklärt in einer 1183 - 84 an den Bischof von Lincoln, Walter von Coutances, gerichteten Dekretale, daß dem leprosen ,rector ecclesiae' ein coadiutor beizuordnen sei, dessen Unterhalt durch eine ,portio congrua' der Kircheneinkünfte sichergestellt werden müsse.49 Diese Dekretale wurde sofort in einer großen Zahl 46
3. Laterankonzil can. 8 (Fn. 31), S. 215. JL 16607 = X 3.6.4. In der Compilatio I I und dem Liber Extra wird die Dekretale Clemens III. zugeschrieben, in den frühen Sammlungen jedoch begegnet auch eine Zuschreibung auf Cölestin III. Cf. hierzu Rudolf ν . Heckl, Die Dekretalensammlungen des Gilbertus und Alanus nach den Weingartener Handschriften, in: ZRG Kan. Abt. 29 (1940), S. 116 - 357, S. 197; Walther Holtzmann / Christopher and Mary Cheney, Studies in the collections of Twelfth-century decretals, Città del Vaticano 1979 (= Monumenta Iuris Canonici, Β 3), S. 183 und 215. Ich muß die Frage hier offenlassen. 48 Cf. hierzu Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, Bd. I I (Berlin 1878, Neudruck 1959), S. 324 mit Anm. 6. 49 JL 14965 = X 3.6.3. Eine Edition des Urtextes dieser Dekretale auf der Grundlage der frühen Dekretalensammlungen mit englischer Übersetzung findet man bei Walther Holtzmann / Eric Waldram Kemp, Papal Decretals relating to the Diocese of Lincoln in the twelfth Century, Lincoln Record Society vol. 47 (1954) Nr. X X I , S. 52. Die Dekretale wird auch von Merzbacher (Fn. 2), S. 40, erwähnt. 47
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von Sammlungen verbreitet und gelangte nach wenigen Jahren auch in Bernhards Compilatio I . 5 0 Diese für den leprosen Priester vorteilhafte Regelung Lucius' III. wurde aber wenige Jahre später durch Clemens III. oder Coelestin III. in einer Dekretale (JL 16607) modifiziert, die ebenfalls in das Corps des Dekretalenrechts und zwar über die Compilatio I I gelangte. 51 Der Papst ordnete an, daß der Leprose von der administratio seines Amtes zu entfernen sei und ihm nur der notwendige Lebensunterhalt ,iuxta facultates ecclesiae' zu gewähren sei. Diese Dekretale erwähnt den coadiutor nicht und geht offenbar davon aus, daß das Benefizium primär dem Ersatzmann zustünde. Die Kanonisten waren nun bemüht, sich mit diesen nicht ohne weiteres zu harmonisierenden Vorschriften auseinanderzusetzen und eine widerspruchsfreie Auslegung zu erreichen. Dabei wird zunächst das Interesse des leprakranken Priesters ganz in den Vordergrund gerückt, so bei Huguccio, der jede Substitution nur auf der Basis eines Verzichts des Leprakranken für möglich hält, 5 2 ihm folgte Laurentius Hispanus, der sich für seine Meinung offenbar bereits auf die coadiutor-Dekretale Lucius' III. berief. 53 Eine pragmatische Lösung versuchte der Dekretist Bazianus zu entwickeln: Der Verlust des Benefiziums sollte nur bei unheilbarer Lepra eintreten, was natürlich unter Umständen langandauernde unsichere Schwebezustände geschaffen hätte. 54 Am Ende setzte sich jedoch eine Lösung auf der Linie der Entscheidung Coelestins III. durch. Vincentius Hispanus 55 und Tancredi vertraten die Ansicht, daß der leprakranke Kleriker solange seine Stelle behalte, wie er ohne Ärgernis und Schrecken in der Gemeinschaft der Kleriker geduldet werden könne; danach sei er zu ersetzen; und der coadiutor Lucius' III. heiße nur uneigentlich so - er sei in Wahrheit ,praelatus ex toto'. Diese Lösung bedeutete dann auch, daß die Versorgung des neuen Amtsin50
Cf. hierzu die Angaben bei Holtzmann / Kemp (Fn. 49). 2 Comp. 3.5.2 = X 3.6.4. Hierzu cf. Merzbacher (Fn. 2), S. 41. 52 Nach Apparat des Vincentius ad 1 Comp. 3.6.3 v. „coadiutor' (MS Leipzig 983, fol. 25 r b): „Hug. dixit quod numquam substituitur alius vivo, nisi eo renunciante." 53 Bernhard von Botone, Glossa ordinaria ad Χ 3.6.4 ν. ,administrationis': „Ex hoc videtur quod propter morbum leprae sit removendus praelatus ... Super hoc est diversitas inter doctores. Hu. dixit quod numquam substituitur aliquis vivo, nisi eo renunciantes, et in hac opinione fuit Lau. et candus est ei coadiutor ut supra cap. proximo ... Et quod dicit hic, ab administrationis officio debet removeri, dicit Laur. ab officio quod est in actu, sed quo ad ius retinebit officium." Diese Glosse wird auch bei Merzbacher (Fn. 2), S. 41, inhaltlich wiedergegeben. 54 Nach Apparat des Vincentius ad 1 Comp. 3.6.3 v. „coadiutor' (MS Leipzig 983, fol. 25 r b): „Baz. distinguit nisi morbus sit curabilis nec ne." Ebenso die Glossa ordinaria ad Χ 3.6.4 ν. »administrationis'. 55 Nach Apparat des Vincentius ad 1 Comp. 3.6.3 v. „coadiutor' (MS Leipzig 983, fol. 25 rb): „Nos dicimus quod quamdiu potest remanere in suo collegio, non substituitur alius, ut hic. Si vero non potest, substituitur, ut ibi." 56 Tancred übernimmt die Glosse des Vincentius in seinem Apparat zur Compilatio I (MS Leipzig 968, fol. 33 r a). 51
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habers aus den Einkünften der Kirche Vorrang habe und der kranke Kleriker nur mit den Überschüssen zu versehen sei. Gegebenenfalls habe er einen Versorgungsanspruch gegen den Bischof, falls die Einkünfte der Kirche nicht ausreichten. Auf diese Weise wird bei Tancred und später in der Glossa ordinaria zu den Dekretalen das Problem der Interessenkollision zwischen ,cura animarum' und Schutz des leprakranken Klerikers gelöst. 57 Der Einwand, daß im Verlust des Amts für den Leprosen eine Sanktion ohne Schuld gesehen werden könnte, wird von Innocenz IV. in seinem Apparat damit gelöst, daß man auch ohne Schuld aufgrund eines Fehlers (vitium) ein Recht verlieren könne. 58 Die Frage, ob ein leprakranker Kleriker sein Amt verlieren könne, blieb aber auch noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts kontrovers. Goffredus von Trani kehrte in seiner weitverbreiteten Dekretalensumme zur Ansicht des Huguccio zurück. 59 Schließlich entwickelte Hostiensis in der Summa aurea die Lösung, daß sich die Entscheidung Lucius' III. nur auf Bischöfe beziehen könne - ihnen sei ein coadiutor beizugeben; der einfache Pfarrer sei aber durch einen Nachfolger zu ersetzen. 60 Der Terminus ,rector ecclesiae' sei eben bei Lucius III. als Bischof zu verstehen. Insgesamt läßt sich allso eine Entwicklung feststellen, die die Rechte des leprakranken Klerikers allmählich einschränkte. Sie wurden aber niemals völlig ignoriert. Bemerkenswert ist vor allem, daß man es ablehnte, die Leprakrankheit als ,divinum iudicium' aufzufassen, obwohl diese Möglichkeit von den Kanonisten diskutiert wurde. Hostiensis erwägt, daß etwa im Fall der Ansteckung durch Geschlechtsverkehr mit einer Frau die Lepra als ,divinum iudicium' betrachtet werden könnte. Dies lehnt er dann aber ab, da dies die Frage der Anwendung von Sanktionen in die Zuständigkeit der 57 Bernhard von Botone, Glossa ordinaria ad Χ 3.6.4 ν. ,administrationis': „Dicas cum Vin. et Tane, quod quamdiu aliquis potest remanere in collegio sine scandalo et horrore, non substituitur ei aliquis; alias alius erit substituendus, ut hic, qui erit praelatus in totum, et infirmo providebitur de bonis ecclesiae ... Ad idem satis concordat, quia talis coadiutor praelatus est ex to to. Et hoc patet ex eo quod dicit, quod habet curam animarum, et est hoc speciale in lepra, sicut etiam iudex mutatur si non potest dare operam iudicio." 58 Innocenz IV., Apparat ad X 3.6.4 v. »leprae4 (ed. Venetiis 1570): „his casibus privatur quis iure suo sine culpa sua." 59 Goffredus (Fn. 40), fol. 128 ν: „Quod autem dicit decretalis ilia Tua (= X 3.6.4) sic intelligo quod ab administrationis debet officio removeri, subaudio non tarnen a titulo prelationis vel sue institutionis." Goffredus argumentiert im übrigen damit, daß die oben behandelte Dekretale Alexanders III. an Roger von Worcester, in der einfach eine Neubesetzung bei Lepraerkrankung legitimiert wurde, wegen ihrer ,iniquitas' aufgehoben worden sei und deshalb nicht in den Liber Extra gelangte. 60 Hostiensis (Fn. 35), fol. 140 r: „De clerico egrotante vel debilitato ... Et an propter infirmitatem amittat clericus beneficium suum? Distinguo utrum sit prelatus, et is etiam propter lepram non removetur, sed datur ei coadiutor, cui portio competens reddituum episcopatus assignatur ... Notandum enim dicit de rectoribus, et quamvis sacerdos rector posset vocari ... hos tarnen per excellentiam dicat hic rectores cum sint loco apostolorum."
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Ärzte geben würde und außerdem den Menschen die Erkenntnis verschlossen bleibe, ob eine Krankheit ein Gottesurteil sei. 61 Zur Begründung zitiert er einen Satz Gregors I., der in das Decretum Gratiani übergegangen war: „Cum percussio corporalis imminet, utrum pro purgatione an pro vindicta contingat, Dei in hoc iudicium ignoratur" (C.7, q.l, c.2). Das Festhalten dieses Prinzips gegenüber der Aussatzseuche sehe ich als eine bemerkenswerte Leistung der mittelalterlichen Kanonistik.
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Hostiensis (Fn. 35), fol. 140 r: „ A l i i dicunt utrum morbus pervenerit a natura, et sic loquitur De rectoribus (= X 3.6.3), an divino iudicio, et sic loquitur Tua nos (= Χ 3.6.4), cuius cognitionem, discretionem et determinationem physicis relinquo ... Hec tarnen solutio reprobatur, V I I q. I Cum percussio."
Das kirchliche Besteuerungsrecht in der neueren Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland Von Joseph Listi I. Die Rechtsgrundlagen des kirchlichen Besteuerungsrechts. Die Bedeutung der Rechtsprechung zum Kirchensteuerrecht 1. Das kirchliche Besteuerungsrecht als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche Das Kirchensteuerwesen, wie es sich in Deutschland im Laufe einer 150 Jahre währenden geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat, 1 gehört zu den bedeutsamsten Einrichtungen und Errungenschaften des deutschen Staatskirchenrechts. 2 Im Gegensatz zu älteren Auffassungen, die im kirchlichen Besteuerungsrecht ausschließlich eine den Kirchen vom Staate verliehene hoheitliche Befugnis erblickten, rechnet das Bundesverfassungsgericht in Übereinstimmimg mit dem neueren Verständnis des kirchlichen Besteuerungsrechts, wie es in der Weimarer Reichsverfassung und im Grundgesetz Ausdruck gefunden hat, das Kirchensteuerwesen zutreffend zu den gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche, 3 d.h. zu jenen Sachgebieten des Staatskirchenrechts, die wie Link hervorhebt, wegen der Überlagerung von staatlichen und kirchlichen Aufgaben nicht durch isoliertes, noch weniger durch antagonistisches Handeln beider Institutionen, sondern nur durch „Kooperation und gegenseitige Rücksichtnahme" sachadäquat ausgestaltet werden können 4 . Wegen der Verwendung eines großen Teiles der Kirchensteuermit1 Dieser Beitrag behandelt die Rechtsprechung zum kirchlichen Besteuerungsrecht während des Zeitraums von 1970 bis 1989. Über die Rechtsprechung zum Kirchensteuerrecht von 1949 bis 1970 vgl. Joseph Listi , Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 1), Berlin 1971, S. 217 - 249. 2 Vgl. hierzu Paul Mikat, Grundfragen des Kirchensteuerrechts unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen, in: Gedächtnisschrift Hans Peters. Hrsg. von H. Conrad / H. Jahrreiß / P. Mikat / H. Mosler / H. C. Nipperdey / J. Salzwedel, Berlin/Heidelberg/New York 1967, S. 328ff.; vgl ferner Heiner Marré, Zum Wesen des gegenwärtigen kirchlichen Besteuerungsrechts, ebd., S. 302 ff. 3 BVerfGE 19, 206 (217); BayVerfGH 21, 153 (156).
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t e l f ü r k u l t u r e l l e u n d s o z i a l k a r i t a t i v e Aufgaben, f ü r deren F i n a n z i e r u n g andernfalls der Staat a u f k o m m e n müßte, b e r ü h r t das Kirchensteuerwesen auch u n m i t t e l b a r die Sphäre des staatlichen Interesses. Daß es sich b e i dem Rechtsinstitut der Kirchensteuer u m eine gemeinsame Angelegenheit v o n Staat u n d K i r c h e handelt, zeigt bereits der W o r t l a u t der grundlegenden Verfassungsbestimmung des A r t . 140 G G i.V.m. A r t . 137 Abs. 6 W e i m R V , der M a g n a Charta des k i r c h l i c h e n Besteuerungsrechts. D a n a c h sind diejenigen Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, berechtigt, a u f g r u n d der „ b ü r g e r l i c h e n " , d.h. der staatlichen Steuerlisten n a c h Maßgabe der landesrechtlichen B e s t i m m u n gen Steuern z u erheben. Aus dieser den Religionsgemeinschaften verliehenen Befugnis folgt ferner die V e r p f l i c h t u n g des Staates, die Voraussetzungen f ü r die Steuererhebung d u r c h den Erlaß v o n Landesgesetzen z u schaffen u n d dabei die M ö g l i c h k e i t einer zwangsweisen B e i t r e i b u n g vorzusehen. 5 Bei der Kirchensteuer h a n d e l t es sich u m eine i h r e m Wesen n a c h kirchliche Abgabe, die sich v o n einem K i r c h e n b e i t r a g d a d u r c h unterscheidet, daß sie v o n der staatlichen F i n a n z v e r w a l t u n g f ü r Rechnung u n d i m N a m e n einer ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e n Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft erhoben w i r d 6 u n d h o h e i t l i c h beigetrieben w e r d e n k a n n . 7 4 Christoph Link, Religionsunterricht, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdbStKirchR). Hrsg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner in Verbindung mit Joseph Listi, Bd. 2, Berlin 1975, S. 535. Zu den gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche werden - neben dem Kirchensteuerwesen - gemeinhin gerechnet der Religionsunterricht, die Anstalts- und Militärseelsorge, das Friedhofswesen und die Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Die Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer von dem zu versteuernden Einkommen stellt nach Isensee keine Steuervergünstigung dar, sondern vielmehr ein systemkonsequentes und verfassungsrechtlich bewehrtes Erfordernis der Steuergerechtigkeit. Als echte Steuer ist die Kirchensteuer für das Kirchenmitglied unabweislich. Die Kirchensteuerschuld mindert die Leistungsfähigkeit und entzieht sich somit dem Zugriff der Einkommensteuer. Vgl. hierzu Josef Isensee, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, in: 57. Deutscher Juristentag, Teil N, München 1988, S. Ν 54f.; vgl. hierzu ferner Paul Kirchhof, Die Einkommensteuer als Maßstaß für die Kirchensteuer, in: Deutsche Steuer-Zeitung 1986, S. 25 (32). 5 BVerfGE 19, 206 (217). 6 Lediglich in Bayern wird gem. Art. 17 Abs. 1 BayKiStG die Kircheneinkommensteuer nicht durch die staatliche Finanzverwaltung, sondern durch kircheneigene Finanzämter erhoben. Auch hierbei obliegt gem. Art. 17 Abs. 3 BayKiStG auf Ersuchen der Kirchen die Beitreibung der Umlagerückstände den staatlichen Finanzämtern. 7 Hanns Engelhardt, Die Kirchensteuer in der Bundesrepublik Deutschland, Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1968, S. 14, 19, 30; Heinz Paulick, Kirchensteuer und Grundgesetz, in: Staat und Gesellschaft. Festgabe für Günther Küchenhoff, Göttingen 1967, S. 159. Vgl. hierzu ferner Alexander Hollerbach, Kirchensteuer und Kirchenbeitrag, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts (HdbKathKR). Hrsg. von Joseph Listi / Hubert Müller / Heribert Schmitz, Regensburg 1983, S. 889 - 900; zum
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2. Die Bedeutung der Rechtsprechung auf dem Gebiete des kirchlichen Besteuerungsrechts Die Rechtsprechung zum Kirchensteuerrecht, die ihren Höhepunkt in acht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14.12.1965 erreicht hat, war auch im Zeitraum von 1970 bis 1989 außerordentlich umfangreich und vielgestaltig. In mehreren hundert Entscheidungen hatten sich die Finanz- und Verwaltungsgerichte und vor allem auch das Bundesverfassungsgericht mit Fragen des Kirchensteuerrechts zu befassen. Es gibt heute wohl kaum mehr eine kirchensteuerrechtliche Frage von größerer Relevanz, die nicht in der einen oder anderen Weise Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen wäre. Die Rechtsprechung zum K i r chensteuerrecht beruht auf dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten tragenden Grundsatz, daß Personen, die einer steuerberechtigten Kirche oder Religionsgemeinschaft nicht angehören, zur Kirchensteuer nicht herangezogen werden dürfen. 8 Diesen Grundsatz hat die Rechtsprechung unter Führung des Bundesverfassungsgerichts während der letzten beiden Jahrzehnte bis in die letzten Verästelungen des Kirchensteuerrechts mit äußerster Konsequenz fortgeführt und damit dem Grundrecht der sog. „negativen" Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG im Sinne einer „negativen religiösen Finanzierungsfreiheit" 9 eine rigorose Geltung verschafft. In den folgenden Ausführungen können nur die wesentlichen Entscheidungen, insbesondere diejenigen der obersten Gerichte und des Bundesverfassungsgerichts, inhaltlich dargestellt werden.
Kirchensteuerrecht allgemein s. Heiner Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, in: HdbStKirchR, Bd. 2 (Fn. 4), S. 5 - 50; ders., Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart. Die Kirchensteuer im internationalen Umfeld kirchlicher Abgabensysteme und im heutigen Sozial- und Kulturstaat Bundesrepublik Deutschland, Essen 1982; ders., Art. Kirchensteuer, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 3, Freiburg/Basel/Wien 1987, Sp. 447 - 451; Axel Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl., München 1983, S. 159 - 185; Christoph Link, Art. Kirchensteuer, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Sp. 1695 - 1707; Jörg Giloy / Walter König, Kirchensteuerrecht und Kirchensteuerpraxis in den Bundesländern, 2. Aufl., Wiesbaden 1988; zusammenfassender Überblick bei Alexander Hollerbach, Steuererhebungsrecht der Kirche, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, S. 584 - 586, m.w.N. 8 Vgl. BVerfGE 19, 226 (235 f.). 9 Vgl. hierzu von Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, Berlin und Frankfurt a.M. 1957, Art. 4, Erl. I I 3 (S. 216); Hans Joachim Schlenzka, Zur Verfassungsmäßigkeit der kirchlichen Haushaltsbesteuerung unter besonderer Berücksichtigung der glaubensverschiedenen Ehen, in: DVB1.1961, S. 19; von Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl., Bd. I, München 1985, Art. 4, Rn. 22 (S. 433).
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II. Beginn und Beendigung der Kirchensteuerpflicht 1. Beginn der Kirchensteuerpflicht Verschiedentlich war es gegen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre zu einem Problem geworden, ob die Kirchensteuerpflicht an die Aufnahme in die betreffende Religionsgemeinschaft, d.h. an eine innerkirchliche Regelung, anknüpfen dürfe oder ob nur Religionsmündige, die sich durch eine persönliche Entscheidung ausdrücklich zur Entrichtung der Kirchensteuer bereit erklärt hatten, der Besteuerung durch ihre Kirche unterliegen. Gegenüber derartigen kirchenfeindlichen Tendenzen hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung vom 25.5.1970 unter Bezugnahme auf seine frühere Rechtsprechung mit Deutlichkeit erklärt, daß eine kirchensteuerliche Regelung, wonach die Begründung der für die Kirchensteuerpflicht ausschlaggebenden Mitgliedschaft nach innerkirchlichem Recht zu beurteilen ist, mit der bayerischen Verfassung vereinbar sei. Der Gerichtshof sah keine Veranlassung, insoweit von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. 10 In Übereinstimmimg mit diesen Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs hat auch das Bundesverfassungsgericht in einem am 31.3.1971 ergangenen Beschluß von weittragender Bedeutung festgestellt, daß die Anknüpfung der Kirchensteuerpflicht an innerkirchliche Regelungen, die die Mitgliedschaft von Taufe und Wohnsitz abhängig machen, nicht gegen die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sowie gegen die negative Vereinigungsfreiheit verstößt, sofern der Kirchenangehörige jederzeit die Möglichkeit hat, seine Mitgliedschaft zu beenden. n Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ausführt, ist die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche keine „Zwangsmitgliedschaft". Eine solche könnte nicht Grundlage der Kirchensteuerpflicht sein. Schon durch die Anknüpfung der Kirchensteuerpflicht an die in einer evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde vollzogene Taufe sei hinreichend klargestellt, daß ein Kirchenangehöriger für die Kirchensteuer nicht ohne oder gegen seinen Willen der steuerberechtigten Kirche zugeordnet werde. Für den Regelfall der Kindestaufe erklärten die sorgeberechtigten Eltern die Bereitschaft zur Erziehung des Kindes in diesem Bekenntnis. Dabei wüßten sie, daß diesem Akt herkömmlich die Bedeutung der Zugehörigkeit zu der entsprechenden Kirche beigemessen werde. Daß somit nicht auf den Willen des noch unmündigen Kindes, sondern den seiner sorgeberechtigten Eltern abgehoben werde, beeinträchtige nicht das Grundrecht des Kindes auf Glaubens- und Be10 BayVerfGH 23, 106 = KirchE 11, 213, unter Bezugnahme auf BayVerfGH 21, 38 = KirchE 10, 21. 11 BVerfGE 30, 415 = DÖV 1971, S. 344 = NJW 1971, S. 931 = DVB1. 1971, S. 550 = KirchE 12, 101.
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kenntnisfreiheit. Insoweit handelten die Eltern kraft ihrer elterlichen Verantwortung für das Kind, das ihrer Hilfe bedürfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, und sein Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit noch nicht selbst ausüben könne. Belastende Rechtsfolgen für das K i n d würden an die Taufe in der Regel erst zu einem Zeitpunkt angeknüpft, in dem es die Religionsmündigkeit erlangt habe und daher jederzeit durch Austritt seine Mitgliedschaft beenden könne. 12 Durch die Taufe wird damit auch die Mitgliedschaft in der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts begründet. 13 Bestätigender Rechtsakte des Getauften nach Eintritt der Religionsmündigkeit bedarf es nicht. 1 4 Die Alternative, entweder Kirchensteuer zahlen zu müssen oder aus der Kirche auszutreten, verstößt daher auch angesichts der nach kanonischem Recht zulässigen Strafsanktionen gegenüber dem Ausgetretenen nicht gegen das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG. 1 5 Aus der Tatsache, daß die Kirchensteuerpflicht an den Empfang der Taufe und den Wohnsitz anknüpft, folgt, wie der Bundesfinanzhof entschieden hat, daß ein Steuerpflichtiger, der im Kindesalter mit der Zustimmung seiner Eltern katholisch getauft und vom Finanzamt mit einem Steuerbetrag zur Einkommensteuer veranlagt worden ist, auch vom katholischen Kirchensteueramt zur Kirchensteuer herangezogen werden kann. 1 6 Eine gegen dieses Urteil gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen.17 Wie das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung ausgeführt hat, ist durch die Möglichkeit des Kirchenaustritts sowie durch die Anknüpfung der Kirchensteuerpflicht an den auf einem entsprechenden Willensentschluß der sorgeberechtigten Eltern beruhenden Akt der Taufe hinreichend sichergestellt, daß ein Kirchenangehöriger nicht ohne oder gegen den Willen seiner sorgeberechtigten Eltern zur Kirchensteuer herangezogen werden kann. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers unterliege es auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn an die K i r chenmitgliedschaft anknüpfende belastende Rechtsfolgen in der Form der Kirchensteuerpflicht bereits zu einer Zeit einträten, in der der Betreffende sich noch nicht in religionsmündigem Alter befinde. 12 BVerfGE 30, 415 (424) = KirchE 12, 101 (108), unter Bezugnahme auf BVerfGE 24, 119 (144). 13 FG Münster, Urt. vom 14. 1. 1971, in: KirchE 12, 32. 14 VG Oldenburg, Urt. vom 24. 10. 1980, in: KirchE 18, 303. 15 So zutreffend der BFH, Beschl. vom 14. 7. 1972, in: KirchE 13, 19. 16 BFH, Urt. vom 4. 5. 1983, in: BFHE 138, 303 = JZ 1984, S. 49 mit zust. Anm. von Axel Frhr. von Campenhausen = NJW 1983, S. 2604 = KirchE 21, 107. 17 BVerfGE, Beschl. vom 30. 11. 1983, in: NJW 1984, S. 969 = KirchE 21, 303 = ArchKathKR, Bd. 153 (1984), S. 227.
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Nach dem jüdischen Religionsgesetz ist derjenige Jude, d.h. Angehöriger jüdischen Glaubens, der eine jüdische Mutter hat. In Anbetracht der durch das staatliche Recht gebotenen Möglichkeit eines Austritts aus der Religionsgemeinschaft ist deshalb, wie das Verwaltungsgericht Frankfurt a.M. zutreffend entschieden hat, auch die an Abstammung und Wohnsitz anknüpfende Mitgliedschaft in einer jüdischen Kultusgemeinde verfassungskonform. 18 Das Kirchensteuerrecht kennt auch eine Kirchenmitgliedschaft kraft eines konstanten und schlüssigen bekenntnismäßigen Verhaltens. In diesem Sinne hat das Verwaltungsgericht Hannover durch Urteil vom 24. 9.1975 zutreffend entschieden, daß jemand, der nach erfolgtem Kirchenaustritt anschließend fast 20 Jahre lang gegenüber kirchlichen und staatlichen Stellen durch entsprechendes Verhalten zu erkennen gegeben habe, er sei Mitglied der Kirche im Rechtssinne, sich nur durch einen erneuten Wiederaustritt vor der staatlich zuständigen Stelle von der Kirche trennen könne. 19 Eine Verfassungsbeschwerde des Klägers, die sich gegen die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover und des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg gemäß § 80 Abs. 5 VwGO richtete, wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. 20 Ähnlich entschied das Finanzgericht Nürnberg durch Urteil vom 12.11.1981, daß ein Kirchensteuerbescheid, durch den ein aus der Kirche Ausgetretener zur Kirchensteuer herangezogen wurde, nicht nichtig sei, wenn der Herangezogene in der Einkommensteuererklärung angegeben habe, daß er einer erhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft angehöre und die Kirchensteuerbehörde keinen Anlaß hatte, an der Richtigkeit dieser Angabe zu zweifeln. 21 Übereinstimmend mit diesen Entscheidungen vertrat auch das Verwaltungsgericht Oldenburg in einem Urteil vom 18.2.1986 die Auffassung, daß ein aus der Kirche Ausgetretener durch sein jahrelang gezeigtes späteres Verhalten wieder Glied der Kirche und damit kirchensteuerpflichtig werden könne. 22 18
So VG Frankfurt a.M., Urt. vom 12. 8. 1982 (rechtskräftig), in: KirchE 20, 97. VG Hannover, in: DVB1.1976, S. 911 = KirchE 15, 42; ebenso VG Hannover, Urt. vom 16. 5. 1975, in: KirchE 14, 279, sowie VG Schleswig-Holstein, Urt. vom 26. 10. 1971, in: KirchE 12, 307. 20 Vgl. im einzelnen KirchE 15, 42. 21 VG Nürnberg, Urt. vom 12. 11. 1981, in: KirchE 19, 139. Die Revision wurde zurückgewiesen, vgl. BFH, Urt. vom 1. 12. 1982, in: ZevKR 28 (1983), S. 434 mit zust. Anm. von Christian Meyer. 22 VG Oldenburg, Urt. vom 18. 2. 1986, in: NJW 1986, S. 3103. Im gleichen Sinne hat das VG Stade durch Urt. vom 27. 1. 1983 (Az: 1A43/80; rechtskräftig), in: ZevKR 28 (1983), S. 309 (nur LS), entschieden, mit der Angabe der Religionszugehörigkeit in der Einkommensteuererklärung erwecke ein Steuerpflichtiger selbst den Eindruck, daß Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuerpflicht bestünden. Seien diese Angaben gemacht, obgleich der Steuerpflichtige aus der Kirche ausgetreten sei, so sei der auf die Steuererklärung hin erlassene Kirchensteuerbescheid nicht nichtig, sondern 19
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Bei katholischen Kirchensteuerpflichtigen ist es in Anbetracht der Tatsache, daß sich die katholische Kirche als eine einzige universale Weltkirche versteht, ohne Belang, ob die für die Begründung der kirchlichen Mitgliedschaft konstitutive Taufe im In- oder Ausland gespendet worden ist. 2 3 Übereinstimmend mit dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte bereits die Vorinstanz, das Verwaltungsgericht Hannover, entschieden, der Kirchensteuerpflicht stehe nicht entgegen, daß die Taufe eines katholischen Steuerpflichtigen in einem Land empfangen worden sei, in dem die katholische Kirche eine Kirchensteuer im Sinne des deutschen Steuerrechts nicht erhebe. 24 Auch im Bereich der evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland gilt nunmehr allgemein der Grundsatz, daß der Umzug in das Gebiet einer anderen Landeskirche die Kirchensteuerpflicht unberührt lasse. Hierbei ist von Bedeutung, daß am 1.2.1970 eine „Vereinbarung zwischen den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) über die Kirchenmitgliedschaft" in Kraft getreten ist. In Abschnitt I dieser Vereinbarung wurde festgelegt, daß innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland nach herkömmlichem evangelischem Kirchenrecht die Kirchenmitgliedschaft begründet wird durch die Taufe, durch evangelischen Bekenntnisstand (Zugehörigkeit zu einem in der Evangelischen Kirche in Deutschland geltenden Bekenntnis) und durch Wohnsitz im Gebiet einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland. 25 Im Sinne dieser Vereinbarung hat der Bundesfinanzhof durchUrteil vom 26.11.1979 entschieden, daß ein evangelischer Christ durch Umzug in den Bereich einer anderen Landeskirche jedenfalls dann deren Mitglied wird, wenn er durch positive Handlungen seinen Willen bekundet, der für seinen Wohnsitz zuständigen Landeskirche anzugehören. Hierbei könne die Bezeichnung als „evangelisch" in der Steuererklärung und die widerspruchslose Entrichtung der Kirchensteuer ausreichen. 26 Auf derselben lediglich rechtswidrig und bei Verstreichenlassen der Rechtsbehelfsfrist bestandskräftig und vom Betroffenen hinzunehmen. 23 So zutreffend OVG Lüneburg, Urt. vom 8. 12. 1976, in: KirchE 15, 446. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers blieb erfolglos (BVerwG, Beschl. vom 10. 7. 1978 - V I I Β 62.77), Hinweis in KirchE 15, 446. 24 VG Hannover, I. Kammer Osnabrück, Urt. vom 5. 11. 1971, in: KirchE 12, 316 m.w.N. 25 Vgl. Beschluß des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 27728. November 1969 über die Verkündung der Vereinbarung über die Kirchenmitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland, 24. Jhg. (1970), S. 2 f. Über die Vorgeschichte dieser Vereinbarung vgl. im einzelnen bei Listi, Das Grundgesetz der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 204 ff. 26 ZevKR 25 (1980), S. 78 = KirchE 17, 318; ebenso FG Düsseldorf, Urt. vom 27. 2. 1973, in: KirchE 13, 177.
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Linie liegen bemerkenswerte rechtskräftige Entscheidungen verschiedener Instanzgerichte. Wie das Finanzgericht München durch Urteil vom 28.4.1981 entschieden hat, wird ein in der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien getaufter Christ bei Verlegung seines Wohnsitzes nach Bayern Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. 27 Ein der Evangelischen Kirche in Baden angehörender Kirchensteuerpflichtiger, der nach Austritt aus seiner bisherigen Landeskirche zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Baden übergetreten ist und in Bayern einen Zweitwohnsitz begründet hat, erwirbt in Bayern die auch kirchensteuerrechtlich maßgebende Kirchenmitgliedschaft und w i r d daher im Falle eines Antrags auf Lohnsteuerausgleich von dem Evangelisch-Lutherischen Kirchensteueramt in Bayern zu Recht zur Kirchensteuer herangezogen. 28 Ein in der Zwinglianischen Kirche der Schweiz getaufter Steuerpflichtiger wird, wenn er seinen Wohnsitz in Bayern nimmt, dadurch Angehöriger der Evangelisch-reformierten Kirche in Bayern und unterliegt der Kirchensteuererhebung durch das Evangelisch-Lutherische Kirchensteueramt. 29 Gemäß § 3 der KiStO der Evangelischen Kirche im Rheinland und Westfalen ist für die Kirchensteuerpflicht maßgebend die Zugehörigkeit zum Bekenntnisstand der steuererhebungsberechtigten Kirche sowie Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt innerhalb einer dieser Kirche angehörenden Kirchengemeinde. 30 Die Staatsangehörigkeit des Steuerpflichtigen ist dabei unerheblich. 31 Ist jemand rechtswirksam aus der Kirche ausgetreten, so kann kirchensteuerrechtlich seine erneute Kirchenzugehörigkeit nur angenommen werden, wenn feststeht, daß er nach den kirchenrechtlichen Vorschriften rechtswirksam in die Kirche wieder aufgenommen worden ist. 3 2 Der Wiedereintritt in die evangelische Kirche ist nach dem Recht der EvangelischLutherischen Landeskirche Hannovers, das insoweit auch für das Kirchensteuerrecht verbindlich ist, nicht formgebunden. 33
27 KirchE 18, 484. Ähnlich im Falle der Kirchensteuerpflicht eines Angehörigen der Französisch-reformierten Kirche, der seinen Wohnsitz in Bayern hat, FG München, Vorbescheid vom 15. 9. 1986 - V I I (XIII) 193/84 K i 2 - (rechtskräftig), in: ZevKR 33 (1988), S. 330. 28 FG München, Urt. vom 9. 2. 1982 (rechtskräftig), in: ZevKR 31 (1986), S. 475 = KirchE 19, 217. 29 FG München, Urt. vom 9. 11. 1982 - V I I 172/77 - (rechtskräftig), in: ZevKR 31 (1986), S. 477 ff. 30 FG Köln, Urt. vom 13. 10. 1982 (rechtskräftig), in: KirchE 20, 157. 31 FG Köln, Urt. vom 31. 8. 1983 (rechtskräftig), in: KirchE 21, 224. 32 BFH, Urt. vom 18. 11. 1977, in: ZevKR 23 (1978), S. 274 = KirchE 16, 239. 33 VG Braunschweig, Urt. vom 26. 1. 1978 (rechtskräftig), in: ZevKR 24 (1979), S. 380 = KirchE 16, 285.
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2. Beendigung der Kirchensteuerpflicht durch Erklärung des Kirchenaustritts Die Frage des Zeitpunkts der Beendigung der Kirchensteuerpflicht nach erfolgter Erklärung des Kirchenaustritts war, nicht zuletzt auch wegen der unterschiedlichen Kirchenaustrittsregelungen in den einzelnen Bundesländern, lange Zeit Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Entscheidungen. 34 Am weitesten ging hierbei das in den preußischen Nachfolgestaaten fortgeltende preußische Kirchenaustrittsgesetz vom 30.11.1920 (GS 1921, S. 119). Nach § 1 Abs. 2 dieses Gesetzes traten die rechtlichen Wirkungen der Austrittserklärung einen Monat nach Eingang der Erklärung beim Amtsgericht ein. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die Erklärung in der in Abs. 1 des Gesetzes vorgeschriebenen Form zurückgenommen werden (sog. „Überlegungsfrist"). Nach § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes trat die Befreiung des Ausgetretenen von allen Leistungen, die auf der persönlichen Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft beruhten, mit dem Ende des laufenden Steuerjahres, jedoch nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Abgabe der Kirchenaustritts er klärung ein. Durch Beschluß vom 8.2.1977 (1 BvR 329/71 u.a.) erklärte das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Frist („Überlegungsfrist"), aufgrund deren ein Kirchenaustritt erst einen Monat nach Eingang der Austrittserklärung bei der zuständigen Behörde rechtswirksam ist, für mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar. Ebenso erklärte das Bundesverfassungsgericht eine Regelung mit dem Grundgesetz für unvereinbar, nach der ein aus der Kirche Ausgetretener noch bis zum Ende des laufenden Steuerjahres zur Kirchensteuer heranzuziehen ist ( „ Nachbesteuerung " ). 35 In einem ergänzenden, ebenfalls am 8.2.1977 ergangenen Beschluß ( l B v L 7/71) erklärte das Bundesverfassungsgericht die Heranziehung eines aus der Kirche Ausgetretenen zur Kirchensteuer bis zum Ablauf des auf die Austrittserklärung folgenden Kalendermonats für mit dem Grundgesetz „noch vereinbar". 36 In diesen beiden Entscheidungen setzte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seine bisherige umfangreiche Rechtsprechung zum Kirchen34 Über die Entwicklung bis zum Jahre 1970 vgl. bei Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 190ff.; vgl. hierzu ferner ders., Die Rechtsfolgen des K i r chenaustritts in der staatlichen und kirchlichen Rechtsordnung, in: Festschrift für Matthäus Kaiser, Paderborn 1989 (im Druck); Bruno Primetshofer, Zur Frage der Rechtsfolgen eines Kirchenaustritts aus finanziellen Gründen, ebd. 35 BVerfGE 44, 37 = DÖV 1977, S. 442 mit zust. Anm. von Joseph Listi, S. 445 ff. = NJW 1977, S. 1279 = ZevKR 22 (1977), S. 418 = KirchE 16, 47. 36 BVerfGE 44, 59 = DÖV 1977, S. 444 mit krit. Anm. von Joseph Listi, S. 445 ff. = NJW 1977, S. 1281 = ZevKR 22 (1977), S. 425 = KirchE 16, 41.
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steuerwesen mit überzeugender Begründung und billigenswertem, wenn auch hinsichtlich der Zulässigkeit der Nachbesteuerung nicht einzig möglichem Ergebnis fort. Durch den Beschluß vom 8.2.1977 (BVerfGE 44, 37) hat das Bundesverfassungsgericht zahlreiche entgegenstehende gerichtliche Entscheidungen aufgehoben, wie z.B. das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 27.1.1971 37 und den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 20 . 7.1971, 38 durch den das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf sein früheres Urteil vom 27.2.1970 39 die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg zurückgewiesen hatte. Ferner das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 3.4.1973 40 und den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.7.1973 41 sowie zwei Urteile des Bundesfinanzhofs vom 13.3.1974 42 und zahlreiche weitere Entscheidungen, die in Band 44 Seite 38 der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im einzelnen genannt sind. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8.2.1977 (BVerfGE 44, 59) ist ergangen aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts Darmstadt. 43 In Ergänzung der beiden genannten Beschlüsse vom 8.2.1977 hat das Bundesverfassungsgericht durch Beschluß vom 7.10.1980 entschieden, daß die Bestimmung des § 3 Abs. 1 des niedersächsischen Kirchenaustrittsgesetzes vom 4.7.1973 (GVB1. S. 221), die bis zum 26.4.1978 in Geltung war, gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstößt. Nach dieser Bestimmung wurde die mündliche Erklärung des Kirchenaustritts einen Monat nach ihrer Abgabe, die schriftliche einen Monat nach ihrem Zugang wirksam. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte der Erklärende die Erklärung in der Form des § 2 Abs. 2 des Gesetzes gegenüber dem Standesbeamten widerrufen. 44 Nach rechtswirksam erklärtem Kirchenaustritt erlischt die Kirchensteuerpflicht. Weder ein Wohnsitzwechsel noch eine zwischenzeitliche Fortzahlung der Kirchensteuer noch die Beibehaltung des Bekenntnisses sind geeignet, eine Heranziehung zur Kirchensteuer zu rechtfertigen. 45 Eine Kirchenaustrittserklärung kann nicht mit Rückwirkung abgegeben werden. 46 37 KirchE 12, 38. 38 Az.: V I I Β 45.71, nicht veröffentlicht. 39 BVerwGE 35, 90 = KirchE 11, 146. 4( > KirchE 13, 204. 4 * KirchE 13, 327. 42 ZevKR 20 (1975), S. 162 = KirchE 14, 47 (VI R 240/71) sowie das Urteil des BFH - V I R 182/70 - (vgl. BVerfGE 44, 38). 4 3 VG Darmstadt, Beschl. vom 1. 12. 1970 (Az.: IV E 10/70), in: KirchE 11, 390. 44 BVerfGE 55, 32 = KirchE 18, 293. 45 FG Düsseldorf, Urt. vom 30. 10. 1974, in: KirchE 14, 171. Die Revision des Beklagten blieb ohne Erfolg: Urt. des BFH vom 18. 11. 1977, in: BFHE 124, 287. Vgl. den Hinweis in KirchE 14, 171. Bei dieser Entscheidung ging es um die vom FG im Ergebnis verneinte Frage, ob der Kläger die Erklärung seines Kirchenaustritts durch
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Ein deutscher Staatsangehöriger katholischer Konfession, der während des Zweiten Weltkriegs seinen Wohnsitz aus dem Reichsgebiet in das damalige Reichsprotektorat Böhmen und Mähren verlegte, sich dort bei seiner Kirche nicht meldete und daher nicht zur Kirchensteuer veranlagt wurde, konnte einen Kirchenaustritt nur durch ausdrückliche Erklärung gegenüber der zuständigen Behörde bewirken. 47 Wie das Landgericht Koblenz entschieden hat, kann ein in der Bundesrepublik Deutschland lebender und hier kirchensteuerpflichtiger Italiener katholischer Konfession rechtswirksam seinen Kirchenaustritt auch dann erklären, wenn das italienische Staatskirchenrecht keine entsprechende Regelung enthält. 48 3. Die Angabe der Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte Das Grundrecht der negativen Religionsfreiheit gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WeimRV, wonach niemand verpflichtet ist, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren, und andere Grundrechte werden durch die Eintragung der Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte nicht verletzt. 49 In diesem Sinne hat das Finanzgericht Hamburg durch Urteil vom 24.7.1972 entschieden, daß ein Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Ausstellung einer Lohnsteuerkarte ohne Eintrag über die Konfessionszugehörigkeit habe. 50 Der Bundesfinanzhof hat die Entscheidung des Finanzgerichts Hamburg durch Urteil vom 4.7.1975 bestätigt und ausgeführt, daß ein Arbeitnehmer nicht verlangen kann, daß seine Lohnsteuerkarte ohne Angabe seiner Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ausgestellt wird. 5 1 Eine gegen dieses Urteil gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen und festgestellt, daß die gesetzlich vorgesehene Eintragung der Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte mit dem Grundgesetz in Einklang steht und durch sie Grundrechte nicht verletzt werden. 52
formellen, aber nicht formgebundenen Wiedereintritt in die evangelische Kirche widerrufen hatte. 46 FG Münster, Urt. vom 19. 11. 1974, in: KirchE 14, 188. 47 FG Düsseldorf, Urt. vom 15. 2. 1977 (rechtskräftig), in: KirchE 16, 71. 48 L G Koblenz, Beschl. vom 25. 4. 1980, in: KirchE 18, 151. 49 Über die frühere Rechtsprechung zur Angabe der Religionszugehörigkeit vgl. bei Listi , Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 179f. 50 FG Hamburg, Urt. vom 24. 7. 1972, in: KirchE 13, 30. 51 BFG, Urt. vom 4. 7.1975, in: BFHE 116, 485 = ZevKR 21 (1976), S. 281 = KirchE 15, 1. 52 BVerfGE, Beschl. vom 23. 10. 1978 (1 BvR 439/75), in: BVerfGE 49, 375 = ZevKR 24 (1979), S. 196 = NJW 1979, S. 209 = BayVBl. 1979, S. 83 = KirchE 17, 93.
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In Übereinstimmung mit der Vorinstanz, dem Verwaltungsgericht Hamburg, 53 hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg durch Urteil vom 23.2.1973 festgestellt, daß die behördliche Erfassung von Angaben über die Konfessionszugehörigkeit jedenfalls insoweit verfassungskonform ist, als dies zur Erhebung der Kirchensteuer erforderlich ist. 5 4 Ebensowenig werden, wie der Bundesfinanzhof entschieden hat, durch die Eintragung eines Vermerkes in die Lohnsteuerkarte, durch den kenntlich gemacht wird, daß der Steuerpflichtige keiner Religionsgemeinschaft angehört, dessen Grundrechte verletzt. 55 4. Diskrepanz zwischen kanonischem Eherecht und staatlichem Kirchensteuerrecht Ein besonderes Problem des Kirchensteuerrechts bildet die Heranziehung von rechtskräftig geschiedenen Katholiken, deren Ehe wegen des Grundsatzes der Unauflöslichkeit der Ehe nach kanonischem Recht fortbesteht, zur Kirchensteuer. 56 Hierzu haben alle mit dieser Frage befaßten Gerichte einstimmig die Rechtsauffassung vertreten, daß eine kirchensteuerrechtliche Regelung, die eine katholische Kirchenbehörde in die Lage versetzt, geschiedene Katholiken trotz Fortbestandes des kanonisch-rechtlichen Ehebandes auf Kirchensteuer nach dem erhöhten Steuersatz für Ledige in Anspruch zu nehmen, mit den verfassungsrechtlichen Normen des Staatskirchenrechts im Einklang steht. Diese Rechtsauffassung hat auch das Bundesverwaltungsgericht in einem Beschluß vom 8.11.1977 vertreten. 57 Eine gegen diesen Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in dieser Entscheidung, Art. 3 Abs. 3 GG gebiete nicht, einen Geschiedenen nur deshalb steuerlich gegenüber anderen Geschiedenen zu bevorzugen, weil er der katholischen Kirche angehöre und deren innerkirchliches Recht vom staatlichen Recht abweiche. 58 53 54
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VG Hamburg, Urt. vom 11. 12. 1970, in: KirchE 11, 397. OVG Hamburg, Urt. vom 23. 2. 1973, in: ZevKR 20 (1975), S. 180 = KirchE 13,
BFH, Urt. vom 26. 6. 1970, in: KirchE 11, 237. Über die frühere Rechtsprechung und die Grundproblematik der Koexistenz der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung vgl. bei Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 247 f. 57 So VG Koblenz, Urt. vom 6. 5. 1975, in: KirchE 14, 263; ebenso OVG Rheinl.Pfalz, Urt. vom 31. 8. 1977, in: KirchE 16, 180. Die Nichtzulassungsbeschwerde blieb erfolglos. Vgl. hierzu BVerwG, Beschl. vom 8.11.1977, in: NJW 1978, S. 437 = KirchE 16, 230. Mit dieser Rechtsprechung übereinstimmend auch Hess. VGH, Urt. vom 8. 4. 1975, in: NJW 1976, S. 642 = KirchE 14, 251; ferner FG Münster, Urt. vom 20. 12. 1983, in: KirchE 21, 338. 58 BVerfG, Beschl. vom 8. 1. 1979 (1 BvR 1144/77), in: DÖV 1980, S. 450 = FamRZ 1980, S. 764 = KirchE 17, 141. 56
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III. Das kirchliche Besteuerungsrecht bei konfessions- und glaubensverschiedenen Ehen Besondere Probleme ergeben sich im Kirchensteuerrecht bei den konfessionsverschiedenen, d.h. im Sinne des Kirchensteuerrechts bei solchen Ehen, in denen beide Ehegatten verschiedenen steuerberechtigten und tatsächlich steuererhebenden Religionsgemeinschaften angehören, und bei glaubensverschiedenen Ehen, d.h. im Sinne des Kirchensteuerrechts bei denjenigen Ehen, in denen nur ein Ehegatte einer steuerberechtigten und tatsächlich steuererhebenden Religionsgemeinschaft angehört. 59
1. Das kirchliche Besteuerungsrecht bei konfessionsverschiedenen Ehen Die Rechtsfragen, die sich bei der Besteuerung von in konfessionsverschiedenen Ehen lebenden Ehegatten ergeben haben, sind in der Zwischenzeit durch die höchstrichterliche Rechtsprechung weitgehend geklärt. Heute gilt allgemein folgender Grundsatz: Gehören nicht dauernd getrennt lebende umlagepflichtige, d.h. kirchensteuerpflichtige Ehegatten verschiedenen umlageerhebenden Gemeinschaften an (konfessionsverschiedene Ehe), so wird die Umlage, d.h. die Kirchensteuer, in den Fällen der getrennten Veranlagung zur Einkommensteuer aus der Einkommensteuer jedes Ehegatten, in den Fällen der Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer für jede der beteiligten Gemeinschaften aus der Hälfte der Einkommensteuer erhoben. 60 Für die Lohnsteuer gilt folgendes: Gehören nicht dauernd getrennt lebende Ehegatten verschiedenen umlageerhebenden Gemeinschaften an (konfessionsverschiedene Ehe), so wird die Kirchenlohnsteuer für jede der beteiligten Gemeinschaften aus der Hälfte der Lohnsteuer erhoben. 61 Wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof zur Frage der Kirchenlohnsteuer durch Urteil vom 21.7.1970 entschieden hat, ist die Regelung des bayerischen Kirchensteuerrechts, wonach die Kirchenlohnsteuer in konfessionsverschiedenen Ehen nach dem sog. Halbteilungsgrundsatz zu berechnen ist, während in glaubensverschiedenen Ehen die Kirchenlohnsteuer des einer Kirche angehörenden Ehegatten aus dessen voller Lohnsteuer zu berechnen ist, nicht verfassungswidrig. 62 Der Bundesfinanzhof hat wieder-
59 Über die Entwicklung der früheren umfangreichen Rechtsprechung zum kirchlichen Besteuerungsrecht bei konfessions- und glaubensverschiedenen Ehen vgl. bei Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 231ff., 238ff. so Vgl. z.B. § 9 Abs. 1 BayKiStG. 61 Vgl. z.B. § 13 Abs. 3 BayKiStG. 62 BayVerfGH, Urt. vom 21. 7. 1970, in: BayVerfGH 23, 135 = KirchE 11, 244.
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holt entschieden, daß der Halbteilungsgrundsatz im Kirchensteuerrecht bei konfessionsverschiedenen Ehen nicht gegen das Grundgesetz verstößt. 63 Haben die in konfessionsverschiedener Ehe lebenden Ehegatten die Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer gewählt, ist die Anwendimg des Halbteilungsgrundsatzes auf die Kirchensteuer auch dann verfassungskonform, wenn das der Einkommensteuer unterliegende Einkommen ausschließlich oder überwiegend aus Einkünften nur eines Ehegatten besteht. 64 Die Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes für die Festlegung der Kirchensteuer ist jedoch unzulässig, wenn beide Ehegatten verschiedenen steuerberechtigten Kirchen angehören, jedoch nur die Kirche eines der Ehegatten von ihrem Recht, Kirchensteuer zu erheben, tatsächlich Gebrauch gemacht hat. In diesem Falle ist die gesamte Kirchensteuer von dem der steuererhebenden Religionsgemeinschaft angehörenden alleinverdienenden Ehegatten an dessen Kirche zu entrichten. 65 2. Das kirchliche Besteuerungsrecht bei glaubensverschiedenen Ehen Nach dem Kirchensteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland darf eine Religionsgemeinschaft innerhalb einer glaubensverschiedenen Ehe nur den ihr angehörenden Ehegatten besteuern. Daher ist die Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes sowohl bei der Einkommen- als auch bei der Lohnsteuer bei glaubensverschiedenen Ehen unzulässig. Es gelten hier die folgenden Grundsätze: Gehört ein nicht dauernd getrennt lebender Ehegatte keiner umlageerhebenden Gemeinschaft an (glaubensverschiedene Ehe) so wird die Umlage in den Fällen der Getrenntveranlagung zur Einkommensteuer aus der Einkommensteuer des umlagepflichtigen Ehegatten, in den Fällen der Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer für den umlagepflichtigen Ehegatten aus dem Teil der gemeinsamen Einkommensteuer erhoben, der auf diesen Ehegatten entfällt. Zur Feststellung des Anteils ist die für die Ehegatten veranlagte gemeinsame Einkommensteuer im Verhältnis der Einkommensteuerbeträge aufzuteilen, die sich bei Anwendung der für die getrennte Veranlagung geltenden Einkommensteuertabelle (Grund63 BFH, Beschl. vom 2. 3. 1973, in: KirchE 13, 196; BFH, Urt. vom 1. 3. 1974, in: ZevKR 19 (1974), S. 365 = KirchE 14, 44; ebenso FG Baden-Württemberg, Urt. vom 22. 10. 1969, in: KirchE 11, 54. Anderer Ansicht, jedoch nicht überzeugend, Uwe Bäcker, Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuerpflicht, Gerbrunn bei Würzburg 1980, S. 113ff. 64 FG Nürnberg, Urt. vom 27. 6. 1972, in: KirchE 12, 513. Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BFH (Beschl. vom 23. 6. 1973 - V I Β 78/72) zurückgewiesen. Hinweis in KirchE, ebd. Vgl. ferner BFH, Urt. vom 26. 9. 1979, in: KirchE 17, 314; ebenso die Vorinstanz, FG Nürnberg, Urt. vom 2. 12. 1976, in: KirchE 15, 421. 65 FG Baden-Württemberg, Urt. vom 17. 12. 1970, in: KirchE 11, 406; FG BadenWürttemberg, Urt. vom 21. 2. 1973, in: KirchE 13, 153.
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tabelle) auf die Einkünfte eines jeden Ehegatten ergeben würden. 66 Gehört ein Ehegatte keiner umlageerhebenden Gemeinschaft an (glaubensverschiedene Ehe), so wird die Kirchenlohnsteuer für den anderen Ehegatten nur aus der von diesem Ehegatten zu entrichtenden Lohnsteuer erhoben. 67 Es gilt hierbei somit der Grundsatz der strengen Individualbesteuerung. Zu unbefriedigenden Ergebnissen führt das Verbot der Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes in glaubensverschiedenen Ehen in denjenigen Fällen, in denen sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einer steuererhebenden Kirche angehörenden Ehegatten dadurch erhöht hat, daß sein keiner steuererhebenden Religionsgemeinschaft angehörender Ehegatte ein hohes Einkommen bezieht. In diesen Fällen bleibt der über kein eigenes Einkommen verfügende kirchenangehörige Ehegatte von jeder Kirchensteuer frei. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb zur Vermeidung dieses unbilligen Ergebnisses die Anknüpfung der Kirchensteuer an solche Besteuerungsmerkmale empfohlen, die, wie etwa der Lebensführungsaufwand, in der Person des kirchenangehörigen Ehegatten gegeben sind. 68 Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom 23.10.1986 die Anknüpfimg der Kirchensteuer an einen typisierten Lebensführungsaufwand als sachgerecht beurteilt und zugleich entschieden, daß die Ausgestaltung dieser als „besonderes Kirchgeld" bezeichneten Kirchensteuerart im einzelnen nicht staatlicher Rechtsetzung vorbehalten bleiben müsse, sondern durchaus den Kirchen überantwortet werden könne. 69 Das Bundesverfassungsgericht hat die in Aussetzungs- und Vorlagebeschlüssen des Bundesfinanzhofs vom 14.12.1983 enthaltenen Bedenken 70 sowie die Rechtsauffassung des Gerichts im Ausgangsverfahren, des Finanzgerichts Hamburg, 71 für unbegründet erklärt.
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Vgl. z.B. § 9 Abs. 2 BayKiStG. Vgl. z.B. § 13 Abs. 3 BayKiStG. 68 BVerfGE 19, 268 (282). 69 BVerfGE 73, 388 = NJW 1987, S. 943 = DVB1. 1987, S. 129 = ZevKR 33 (1988), S. 73 = EuGRZ 1987, S. 219. Kritisch zu dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, aber im Ergebnis nicht überzeugend, Wulf Damkowski, Kirchensteuer in glaubensverschiedenen Ehen, in: DÖV 1987, S. 705 - 714. Gegen die Auffassung von Damkowski mit überzeugenden Argumenten Christian Kusche und Reiner Papenfuß, Kirchgeld in glaubensverschiedener Ehe. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Damkowski, DÖV 1987, 705, in: ZevKR 34 (1989), S. 39 - 48. Dieses besondere Kirchgeld ist nur in den Kirchensteuergesetzen der Länder Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein als besondere Art der Kirchensteuer erwähnt und neben dem in allen Kirchensteuergesetzen der Bundesländer vorgesehenen allgemeinen „Kirchgeld" im Katalog der Kirchensteuerarten aufgeführt. Eine praktische Bedeutung kommt dem „besonderen Kirchgeld" auch noch in Berlin und Hamburg zu, wo es als Unterfall des Kirchgeldes nach einem besonderen Tarif erhoben wird. Vgl. hierzu Giloy / König, Kirchensteuerrecht (Fn. 7), S. 51 f. ™ Vgl. BVerfGE 73, 388 (398). 71 FG Hamburg, Urt. vom 24. 7. 1981, in: KirchE 19, 1. 67
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Auch zahlreiche andere Gerichte haben die Rechtsauffassung vertreten, daß die Heranziehung des in glaubensverschiedener Ehe lebenden Kirchenangehörigen zu einem besonderen Kirchgeld, das nach dem zusammengerechneten Einkommen beider Ehegatten, d. h. nach einem pauschalierten Lebensführung sauf wand, berechnet wird, verfassungskonform ist. 7 2 Im übrigen ist bei glaubensverschiedenen Ehen wegen der Unzulässigkeit der Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes im Gegensatz zu den konfessionsverschiedenen Ehen die Kirchensteuer des der steuererhebenden Kirche angehörigen Ehegatten aus der allein für seine Person gegebenen Bemessungsgrundlage zu errechnen. 73 Dies bedeutet, daß bei glaubensverschiedenen Ehen die Kircheneinkommensteuer in Bayern auch dann mit 8 v.H. aus der im Wege der Zusammenveranlagung festgesetzten Einkommensteuer erhoben werden kann, wenn in dem zu versteuernden Einkommen nur Einkünfte des umlagepflichtigen Ehegatten enthalten sind. 74 Wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof in einer am 14.11.1972 ergangenen Entscheidung festgestellt hat, ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, bei glaubensverschiedenen Ehen möglicherweise bestehende innerkirchliche Verpflichtungen zu berücksichtigen, die dem nicht verdienenden und einer nicht umlageberechtigten Religionsgemeinschaft angehörigen Ehegatten gegenüber seiner Religionsgemeinschaft obliegen. Es entbehrt nicht eines sachlichen Grundes, wenn der Gesetzgeber bei der Kircheneinkom-
72 BVerwG, Urt. vom 18. 2. 1977, in: BVerwGE 52, 104 = NJW 1977, S. 1304 = ZevKR 23 (1978), S. 289 = KirchE 16, 76. Hess. VGH, Urt. vom 28. 6.1979 (rechtskräftig), in: KirchE 17, 253; Urt. vom 3. 5. 1973, in: ZevKR 20 (1975), S. 168 = KirchE 13, 239; Beschl. vom 1. 4. 1981, in: KirchE 18, 463 - die Nichtzulassungsbeschwerde und die Verfassungsbeschwerde der Kläger blieben erfolglos, diesbezüglicher Hinweis in: KirchE 18, 463; Beschl. vom 5. 8.1983, in: KirchE 21, 212. VG Frankfurt, Urt. vom 12. 1. 1972, in: ZevKR 17 (1972), S. 306 = KirchE 12, 351. VG Kassel, Urt. vom 28. 3.1972, in: KirchE 12, 402. OVG Berlin, Urt. vom 15. 6. 1973, in: ZevKR 19 (1974), S. 363 = KirchE 13, 287; Urt. vom 23. 11. 1973, in: KirchE 13, 379. VG Berlin, Urt. vom 2. 11. 1972, in: KirchE 13, 67; Urt. vom 7. 12. 1972, in: KirchE 13, 98; Urt. vom 23. 11. 1979, in: KirchE 17, 365. Schleswig-Holsteinisches VG, Urt. vom 29. 4. 1983, in: KirchE 21, 89; Urt. vom 2. 5.1983 (1 A 13/81), in: KirchE 21,100; Urt. vom 2. 5.1983 (1 A 249/81), in: KirchE 21,104. OVG Lüneburg, Urt. vom 19. 3.1986 - 13 A 25/85 - (rechtskräftig), in: ZevKR 32 (1987), S. 193. 73 BFH, Urt. vom 1. 12. 1982, in: BFHE 137, 385 = KirchE 20, 223; OVG Lüneburg, Urt. vom 28. 8.1980 (rechtskräftig), in: ZevKR 27 (1982), S. 190 = KirchE 18, 245. Vgl. hierzu Christian Meyer, Zur Ehegattenbesteuerung bei der Kirchensteuer, in: ZevKR 27 (1982), S. 171 ff.; OVG Lüneburg, Urt. vom 24. 9.1981, in: KirchE 19, 42; VG Stade, Urt. vom 11. 2. 1983, in: KirchE 21, 34; FG Baden-Württemberg, Urt. vom 27. 11. 1974, in: KirchE 14, 204; FG Baden-Württemberg, Urt. vom 13. 11. 1981, in: KirchE 19, 143; FG Bremen, Urt. vom 6. 11. 1975, in: KirchE 15, 99; FG Düsseldorf, Beschl. vom 16. 1. 1974, in: KirchE 14, 6; FG Köln, Urt. vom 13. 1. 1981, in: KirchE 18, 375; FG München, Urt. vom 27. 4. 1976 - V I I 13/72 - (rechtskräftig), in: EFG 1976, 406 = KirchE 15, 252. 74 FG Nürnberg, Urt. vom 27. 6.1972, in: ZevKR 18 (1973), S. 286 = KirchE 12, 507.
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mensteuer, ausgehend vom Grundsatz der Individualbesteuerung, derartige Verpflichtungen nicht in seine Regelung mit einbezieht. 75
IV. Kirchensteuerarten Die Kirchensteuern sind weithin als Zuschlagsteuer ausgebildet. Der staatliche Gesetzgeber stellt den steuerberechtigten Religionsgemeinschaften in den Kirchensteuergesetzen mehrere Maßstäbe für die Anknüpfung der Kirchensteuer zur Verfügung, nämlich die Einkommensteuer, diese auch in der Erhebungsform der Lohnsteuer, die Vermögensteuer und die Grundsteuer. Von der Möglichkeit des Maßstabes „Vermögensteuer" haben die evangelische und die katholische Kirche bisher keinen Gebrauch gemacht. Der Zuschlag zur Grundsteuer wird nicht in allen Bundesländern erhoben. Etwa 98 v.H. des Kirchensteueraufkommens entfallen auf den Zuschlag zur Einkommen- und Lohnsteuer. Daneben haben das allgemeine Kirchgeld, das als Ortskirchensteuer erhoben wird, und das besondere Kirchgeld aus haushaltsmäßiger Sicht eine relativ geringe Bedeutung. 76 1. Kirchensteuer
vom Einkommen
Unter Bezugnahme auf die konstante Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 77 hat der Bundesfinanzhof durch Urteil vom 17. 9.1974 festgestellt, daß ein Verstoß gegen die in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses nicht darin liege, daß die staatliche Gesetzgebung zur Beendigung der Kirchensteuerpflicht nur die Möglichkeit des Kirchenaustritts nach den geltenden Kirchenaustrittsgesetzen eröffne und daß ein solcher Kirchenaustritt stets mit dem Ausscheiden aus der Religionsgemeinschaft verbunden sei. Gegenüber dem Vorbringen des Klägers, aus Art. 4 Abs. 1 GG folge, daß die Beendigung der Kirchensteuerpflicht auch ohne ein Ausscheiden aus der Religionsgemeinschaft selbst ermöglicht werden müsse, erklärte der Bundesfinanzhof, daß nicht nur Art. 4 Abs. 1 GG, sondern auch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WeimRV Bestandteil des Grundgesetzes sei. Eine Auslegung des Grundgesetzes könne sich nicht nur 75 BayVerfGH, Entscheidung vom 14. 11. 1972, in: ZevKR 19 (1974), S. 312 = KirchE 13, 74. 76 Vgl. zum Ganzen Giloy / König, Kirchensteuerrecht (Fn. 7), S. 45; ferner Christian Meyer, Bemerkungen zur Akzessorietät der Kirchensteuer, in: ZevKR 16 (1971), S. 29Iff. 77 BVerfG, Urt. vom 14.12. 1965 (1 BvR 413, 416/60), in: BVerfGE 19, 206 = KirchE 7, 338. Vgl. hierzu im einzelnen die Ausführungen von Joseph Listi, Rechtsnatur und Grenzen des kirchlichen Besteuerungsrechts, in: ders., Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 217 ff.
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an einzelnen Bestimmungen orientieren, sondern müsse den Zusammenhang aller grundgesetzlichen Bestimmungen berücksichtigen. 78 Auch der Auffassung des Klägers, daß eine Kirchensteuer nicht als Zuschlag zur Einkommensteuer erhoben werden dürfe, sondern allein an kirchlichen Maßstäben ausgerichtet sein müsse, hat der Bundesfinanzhof in dem einen Veräußerungsgewinn betreffenden Fall widersprochen. Der Gerichtshof erklärte hierzu unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 79 daß die landesrechtlichen Bestimmungen über die Erhebung von Kirchensteuern in Übereinstimmung mit den Verfassungsrechtssätzen, namentlich den Grundrechten des Grundgesetzes, stehen müßten. Der Landesgesetzgeber dürfe sich über das in diesen Verfassungsnormen zum Ausdruck kommende Wertsystem nicht hinwegsetzen. Weitere Einschränkungen bestünden vom Standpunkt des Grundgesetzes aus nicht. Insbesondere erfordere das Grundgesetz nicht, daß, wie der Kläger meine, die Kirchensteuer mit kirchenbezüglichen Erwägungen gerechtfertigt werden müßte. Derartige Erwägungen gehörten vielmehr dem Bereich an, den nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WeimRV jede Religionsgemeinschaft innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbst ordne und verwalte. Die Grenzen seien also nur durch die für alle geltenden Gesetze, das sei im Streitfall das Grundgesetz, gezogen. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Einkommensteuergesetzes über die steuerliche Erfassung von Veräußerungsgewinnen sei bisher nicht in Zweifel gezogen worden, jedenfalls soweit die Besteuerung der Veräußerungsgewinne vorgeschrieben werde. Das Bundesverfassungsgericht habe es im Gegenteil für verfassungswidrig angesehen, daß nach der Vorschrift des § 4 Abs. 1 letzter Satz EStG in der früher geltenden Fassung bei Land- und Forstwirten Gewinne aus Veräußerung von Grund und Boden nicht wie regelmäßig bei anderen Gewerbetreibenden zur Besteuerung herangezogen wurden. Im Streitfall sei die gegen den Kläger festgesetzte Kirchensteuer als Zuschlag zur Einkommensteuer erhoben worden. Soweit die der Kirchensteuer als Zuschlag zugrundeliegende Einkommensteuer auf einem Veräußerungsgewinn des Klägers beruhe, sei die Verfassungsmäßigkeit nicht zweifelhaft. Die hiervon als Zuschlag erhobene Kirchensteuer könne dann aber ebenfalls nicht gegen Bestimmungen des Grundgesetzes verstoßen, da die Erhebung der Kirchensteuer als Zuschlag zur Einkommensteuer für sich allein nicht als grundgesetzwidrig angesehen werden könne. Diese Regelung füge sich, wie die Kirchengemeinde zutreffend hervorhebe, organisch in das allgemeine Steuersystem der Bundesrepublik Deutschland ein. Sie entspreche insbesondere den Erfordernissen einer einfachen und praktikablen Steuererhebung. 80 78
BFH, Urt. vom 17. 9. 1974 (VI R 212/71), in: KirchE 14, 163 (165). BVerfG, Urt. vom 14. 12. 1965 (1 BvL 31, 32/62), in: BVerfGE 19, 226 = KirchE 7, 310. 79
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In einem ähnlich gelagerten weiteren Verfahren, in dem sich die Kläger gegen die von ihnen als verfassungswidrig, weil konfiskatorisch empfundene Gesamtsteuerbelastung wandten und eine Herabsetzung der Einkommensteuer, Kirchensteuer und Ergänzungsabgabe begehrten, erklärte der Bundesfinanzhof, daß das Vermögen des Steuerpflichtigen gegen die staatliche Auferlegung von Geldleistungspflichten einschließlich der öffentlichen Abgaben nicht geschützt sei, wenn die Steuer ihn nicht übermäßig belaste oder seine Vermögens Verhältnisse grundlegend beeinträchtige. Auch die Höhe der Besteuerung sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Insbesondere verstoße der Einkommensteuertarif nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG. Der Einkommensteuertarif sei nicht willkürlich gestaltet, sondern beruhe auf dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit. Das gelte auch für die von den Klägern als ungerechtfertigt empfundene Gesamtsteuerbelastung. Rechtsgrundlage dieser Belastungen könnten alle Gesetze sein, die nach Art und Höhe der Einkünfte sach- und zweckgerecht differenzierten. Diese Voraussetzungen seien hinsichtlich der die Kläger belastenden Gesetze erfüllt. Dies gelte sowohl hinsichtlich des Ergänzungsabgabegesetzes als auch hinsichtlich der Bremischen Kirchensteuerordnung, die so lange Anwendung findet, als die Kläger der steuerberechtigten evangelischen Kirche angehörten. 81 2. Allgemeines Kirchgeld als Ortskirchensteuer In sämtlichen Kirchensteuergesetzen ist gegenwärtig den Kirchen die Möglichkeit eingeräumt, als selbständige Steuerart neben der Kirchensteuer nach Maßgabe des Einkommens, des Vermögens oder des Grundbesitzes auch ein Kirchgeld zu erheben. Das Kirchgeld, das als Ortskirchensteuer eingehoben wird, hat grundsätzlich nicht den Charakter einer Mindestkirchensteuer mit der Folge, daß es nur zulässig wäre, wenn die Kircheneinkommensteuer oder die Kirchenlohnsteuer unter die Höhe des Kirchgeldes absinkt. Das Kirchgeld kann als fester Betrag oder gestaffelt erhoben werden. 82 Nach Art. 21 des bayerischen Kirchensteuergesetzes sind kirchgeldpflichtig alle über 18 Jahre alten Angehörigen der umlageberechtigten Religionsgemeinschaften mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Bezirk des gemeindlichen Steuerverbandes, wenn sie eigene Einkünfte oder Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind, von mehr als jährlich 3600 D M haben. Nach Art. 22 Abs. 1 BayKiStG dürfen die gemeindlichen Steuerverbände das Kirchgeld im allgemeinen nur in einem so KirchE, 14, 165 f. si BGH, Urt. vom 17. 2. 1976, in: BFHE 118, 221 = JuS 1976, S. 545 = KirchE 15, 220. 82 Vgl. hierzu Giloy / König, Kirchensteuerrecht (Fn. 7), S. 49.
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für alle Pflichtigen gleich hohen Betrag erheben, der 3 D M nicht überschreiten darf. Mit Genehmigung des gemeinschaftlichen Steuerverbandes, d.h. der betreffenden Diözese oder der evangelischen Landeskirche, können sie jedoch durch Satzung ein höheres, nach den Einkünften und Bezügen im Sinne des Art. 21 Abs. 1 BayKiStG oder dem Einheitswert des Grundbesitzes zu staffelndes Kirchgeld bis zum Höchstbetrag von 30 D M erheben. Die Rechtsprechung hat die Erhebung dieses allgemeinen Kirchgeldes für zulässig und verfassungskonform erklärt. Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 23.9.1969 sind die Erhebung von Kirchgeld neben der als Zuschlag zur Einkommensteuer erhobenen Kirchensteuer, die Staffelung des Kirchgeldes nach der Höhe des Jahreseinkommens mit einem Höchstbetrag von 30 D M bei einem Bruttojahreseinkommen von über 12 000 D M und die Veranlagung zum Kirchgeld aufgrund einer Schätzung des Jahreseinkommens nicht verfassungswidrig. 83 Im gleichen Sinne hat das Verwaltungsgericht Hannover durch Urteil vom 14.6.1971 festgestellt, daß die Erhebung des allgemeinen Kirchgeldes in der Form der Ortskirchensteuer nach Maßgabe der Grundsteuermeßbeträge neben der als Landeskirchensteuer erhobenen Kircheneinkommensteuer keine unzulässige Doppelbesteuerung darstellt. 84 Ebenso hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg durch Urteil vom 9.11.1976 festgestellt, daß die Erhebung von Ortskirchensteuer durch einzelne Kirchengemeinden nicht gegen den Gleichheitssatz verstößt und auch keine unzulässige Doppelbesteuerung darstellt. 85 Die Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluß vom 4. Mai 1977 zurückgewiesen und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts festgestellt, daß die kumulative Erhebung der als Landeskirchensteuer erhobenen Kircheneinkommensteuer und des als Ortskirchensteuer erhobenen allgemeinen Kirchgeldes Bundesrecht auch dann nicht verletze, wenn es sich, wie die Beschwerde meine, faktisch um dieselbe Steuerart handele. 86 Bei Streitigkeiten über die Erhebung von Kirchgeld ist nach einer Feststellung des Verwaltungsgerichts Hannover vom 17. 7.1979 die Klage auch dann gegen die Kirchengemeinde zu richten, wenn das Kirchgeld von der politischen Gemeinde festgesetzt und eingezogen wird. 8 7 83 VG Kassel, Urt. vom 23. 9. 1969 (rechtskräftig), in: ZevKR 15 (1970), S. 282 = KirchE 11, 31. 84 VG Hannover, I. Kammer Osnabrück, Urt. vom 14. 6. 1971 (rechtskräftig), in: ZevKR 17 (1972), S. 177 = KirchE 12, 188. 85 OVG Lüneburg, Urt. vom 9. 11. 1976, in: ZevKR 24 (1979), S. 198 = KirchE 15, 403. 86 BVerwG, Beschl. vom 4. 5. 1977, in: BB 1977, S. 1752 = KirchE 16, 106. 87 VG Hannover, I. Kammer Osnabrück, Urt. vom 17. 7. 1979 (rechtskräftig), in: = KirchE 17, 279.
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3. Kirchengrundsteuer Zur Frage der Zulässigkeit der Erhebung von Kirchengrundsteuer hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg durch Urteil vom 27.5.1971 festgestellt, daß die Heranziehung zur Kirchengrundsteuer in Höhe von 8 v. H. der Realsteuermeßbeträge im Landesteil Württemberg verfassungskonform ist. 8 8 Auch der Bundesfinanzhof hat durch Urteil vom 12.1.1973 entschieden, daß die Erhebung von Kirchensteuern nach den Grundsteuermeßbeträgen nur für das land- und forstwirtschaftliche Vermögen - und nicht auch für das übrige Grundvermögen - neben einer Erhebung der Kirchensteuer vom Einkommen nicht der Bestimmung des § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die Erhebung von Kirchensteuern im Lande Nordrhein-Westfalen (KiStG) vom 30.4.1962 (GVB1. NW 1962, S. 223) widerspricht und mit dem Grundgesetz vereinbar ist. 8 9 Eine Verletzung des Gleichheitssatzes des Art. 3 GG liege auch nicht darin, daß nur die evangelische und nicht auch die katholische Kirche von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, eine Kirchensteuer vom Grundbesitz zu erheben. 90 4. Kirchengewerbesteuer Nach der Bestimmung des § 12 des Gesetzes Nr. 587 über die Verwaltung von Kirchensteuern im Landesbezirk Württemberg vom 1.4.1952 (RegBl. S. 33) waren die Landeskirchen und Kirchengemeinden u.a. zur Erhebung einer Kirchengewerbesteuer in Form eines Zuschlags zur Gewerbesteuer ermächtigt. Eine Klage gegen die Zulässigkeit dieser Kirchensteuerart hatte das zuständige Verwaltungsgericht abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das Verfahren ausgesetzt, um durch Vorlagebeschluß vom 15.7.1971 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage einzuholen, ob die genannte Bestimmung des Gesetzes über die Verwaltung von Kirchensteuern im Landesbezirk Württemberg insoweit das Grundgesetz verletze, als hier nach Landesrecht die Kirchengemeinden ermächtigt werden, einen Zuschlag zur Gewerbesteuer in einem Hundertsatz der Realsteuer-Meßbeträge zu erheben. 91 Der Gerichtshof erblickte in der Erhebung einer Kirchengewerbesteuer einen Verstoß gegen die Art. 2 und 3 GG. Gewerbesteuer stelle sich als eine reine Objektsteuer dar, die als Ausgleich für die Aufwendungen erhoben werde, die den Gemeinden aus dem Vorhandensein der Gewerbebe88 VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 27. 5. 1971 (rechtskräftig), in: KirchE 12, 174. 39 BFH, Urt. vom 12. 1. 1973, in: BFHE 108, 464 = ZevKR 19 (1974), S. 318 = KirchE 13, 120. so BFH, in: KirchE 13, 120 (128). 9i VGH Baden-Württemberg, Vorlageschluß vom 15. 7. 1971 (Az.: V 750/71), in: ZevKR 17 (1972), S. 312 = KirchE 12, 264.
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triebe erwachsen. Eine reine Objektsteuer, die eine gebührenähnliche Gegenleistung beinhalte, eigne sich aber nicht zur Anknüpfung einer Kirchensteuer unter Verwendung derselben Besteuerungsgrundlagen. Die Kirchensteuer sei ihrem Wesen nach eine Personalsteuer. Die Realbesteuerung natürlicher Personen für ihren Gewerbebetrieb verletze unter verschiedenen Rücksichten die verfassungsrechtlich verbürgte Gleichbehandlung und habe daher, wie der Verwaltungsgerichtshof überzeugend feststellte, die Berechtigung verloren. 92 Dieser Aussetzungs- und Vorlagebeschluß vom 15.7.1971 wurde von dem später zuständigen 2. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch Beschluß vom 29.9.1977 aufgehoben. In dem unter dem Aktenzeichen I I 858/77 weitergeführten Verwaltungsstreitverfahren erreichte der Kläger, daß das vorinstanzliche Urteil abgeändert und die angefochtenen Beschlüsse auch insoweit aufgehoben wurden, als diese dem Kläger eine Kirchengewerbesteuer auferlegten. Der Senat begründete seine Entscheidung vom 15.6.1978 damit, daß die beklagte Kirchengemeinde nicht entsprechend den Anforderungen des § 17 des Gesetzes über die Kirchen vom 3.3.1924 - K i G - (Reg.Bl. S. 93) zur Überzeugimg des Senats nachzuweisen vermochte, daß bei ihr in den Jahren 1956 bis 1961 ein Bedürfnis für die Erhebung der Kirchengewerbesteuer bestanden hat. 9 3 Inzwischen w i r d auch in Baden-Württemberg eine Kirchengewerbesteuer nicht mehr erhoben. Das geltende Gesetz über die Erhebung von Steuern durch öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften in Baden-Württemberg i.d.F. vom 15.6.1978 (GVB1. 1978, S. 370) sieht die Möglichkeit der Erhebung einer Kirchengewerbesteuer nicht mehr vor. V. Kirchenlohnsteuerabzug durch den Arbeitgeber 1. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Kirchenlohnsteuerabzug s Das in sämtlichen Kirchensteuergesetzen vorgesehene und in sämtlichen Bundesländern praktizierte Kirchenlohnsteuerabzugsverfahren, nach dem der Arbeitgeber die Kirchensteuer der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer zu berechnen, einzubehalten, an die zuständige Finanzbehörde abzuführen und für die Einbehaltung und Abführung zu haften hat, war hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen Zulässigkeit längere Zeit Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen. 94 Ein bedeutsames rechtliches Dokument hier92
Vgl. im einzelnen VGH Baden-Württemberg, in: KirchE 12, 269f. VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 15. 6. 1978 - Az.: I I 858/77 - (rechtskräftig), in: KirchE 16, 428. 93
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für ist der Beschluß des Verwaltungsgerichts Frankfurt a.M. vom 7.11.1969, das Verfahren auszusetzen, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 GG einzuholen. Das Verwaltungsgericht Frankfurt hielt die den Kirchenlohnsteuerabzug regelnde Bestimmung des § 9 Abs. 2 Hess. KiStG wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG für nichtig. Das Verwaltungsgericht erblickte die Verfassungswidrigkeit des Kirchenlohnsteuerabzugs darin, daß die Arbeitgeber damit zwangsläufig im partikularen Interesse der Religionsgemeinschaften mit Mehrarbeit und zusätzlichen Kosten belastet würden. 95 Wegen Rücknahme der Klage im verwaltungsgerichtlichen Ausgangsverfahren gelangte die Richtervorlage nicht zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht. 96 In der Folgezeit wurden mehrere Gerichte mit der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Kirchenlohnsteuerabzugs befaßt. Durch Beschluß vom 17.2.1977 hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 23.2.1973 97 und das diese Entscheidung bestätigende Urteil des Bundesfinanzhofs vom 24.10.1975 98 mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidimg angenommen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in diesem Beschluß die Verpflichtung des Arbeitgebers, für seine Arbeitnehmer die Kirchenlohnsteuer einzubehalten und abzuführen, sowie die Haftung bei Nichterfüllung dieser Verpflichtung für verfassungskonform. 99 In einer weiteren, gleichfalls am 17.2.1977 ergangenen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht eine gegen das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 18.12.1973 100 und den Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 94 Zur früheren Rechtsprechung und zu den Auseinandersetzungen über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Kirchenlohnsteuerabzugs vgl. Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit (Fn. 1), S. 241 ff.; über die gegenwärtige Rechtslage vgl. bei v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 7), S. 169ff.; vgl. ferner Axel Frhr. von Campenhausen / Theodor Maunz / Ulrich Scheuner / Herbert Scholtissek, Die M i t wirkung der Arbeitgeber bei der Erhebung der Kirchensteuer. Vier Rechtsgutachten zur Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 2), Berlin 1971; Johannes Hofmann, Die Mitwirkung der Arbeitgeber bei der Erhebung der Kirchensteuer. Zur Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit, Jur. Diss., Freiburg/Br. 1973. 95 VG Frankfurt a.M., Aussetzungs- und Vorlagebeschluß vom 7. 11. 1969 (Az.: III/ 2 - E 128/69), in: KirchE 11, 64. 96 Über die rechtshistorisch und prozeßrechtlich interessanten Hintergründe dieser Klagerücknahme vgl. den Beitrag von Axel Frhr. von Campenhausen, Normenkontrollverfahren und öffentliches Interesse, in: Festgabe für Theodor Maunz zum 70. Geburtstag am 1. September 1971, München 1971, S. 27 ff. 97 FG Hamburg, Urt. vom 23. 2. 1973, in: KirchE 13, 166. 98 BFH, Urt. vom 24. 10. 1975, in: BFHE 117, 338 = ZevKR 21 (1976), S. 284 = KirchE 15, 81. 99 BVerfG, Beschl. vom 17. 2. 1977 (Az.: 1 BvR 33/76), in: BVerfGE 44, 103 = DÖV 1977, S. 447 = EuGRZ 1977, S. 176 = ZevKR 22 (1977), S. 428 = NJW 1977, S. 1282 = KirchE 16, 75. 100 FG Nürnberg, Urt. vom 18. 12. 1973, in: KirchE 13, 436.
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20. 6.1974 101 gerichtete Verfassungsbeschwerde ebenfalls mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen und die Verpflichtung des Arbeitgebers, für seine Arbeitnehmer Kirchenlohnsteuer einzubehalten und abzuführen, sowie die Haftung bei Nichterfüllung dieser Verpflichtung auch im Falle der vereinfachten Pauschalbesteuerung für verfassungskonform erklärt. 1 0 2 Das Finanzgericht Hamburg hat in einem Urteil vom 23.5.1978 entschieden, daß der Arbeitgeber, der aufgrund von Steuerpauschalierung Schuldner der Lohnsteuer ist, auch verpflichtet ist, die Lohnkirchensteuer abzuführen. 103 Für Streitigkeiten wegen der Haftung für Kirchenlohnsteuer ist im Lande Hessen nicht der Finanzrechtsweg, sondern der Rechtsweg zu den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit gegeben. 104 2. Betriebsstätten- und Wohnsitzbesteuerung Ein besonderes steuerrechtliches Problem kann sich bei der Einbehaltung der Kirchensteuer durch den Arbeitgeber insofern ergeben, als die Betriebsstätte und der Wohnort des Arbeitnehmers in verschiedenen Ländern liegen und deshalb der Kirchensteuerhebesatz an der Betriebsstätte höher oder niedriger als am Wohnort des Steuerpflichtigen sein kann. Die Rechtsprechung der in den einzelnen Bundesländern hierfür jeweils zuständigen Gerichte hat diese Frage übereinstimmend dahin gehend entschieden, daß die Höhe der Kirchensteuererhebung sich jeweils nach dem Wohnsitz des Steuerpflichtigen richtet und daß eine nach diesem Maßstab zu hohe oder zu niedrige Besteuerung beim Lohnabzug an der Betriebsstätte durch Erstattung bzw. Nacherhebung ausgeglichen w i r d . 1 0 5
101 BFH, Beschl. vom 20. 6. 1974, in: KirchE 14, 92. 102 BVerfG, Beschl. vom 17. 2. 1977 (Az.: 1 BvR 343/74), in: DÖV 1977, S. 448 = EuGRZ 1977, S. 176 = ZevKR 22 (1977), S. 430 = KirchE 16, 73. 103 FG Hamburg, Urt. vom 23. 5. 1978, in: KirchE 16, 398. Die Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil wurde vom BFH durch Beschluß vom 30. 3.1979 (Az.: VI Β 87/78) verworfen. Diesbezüglicher Hinweis in KirchE 16, 398. Zu dieser Problematik vgl. ferner die Untersuchung von Klaus J. Wagner, Die Pauschalierung der Lohnund Lohnkirchensteuer (= Der Rechts- und Steuerdienst. Kölner Schriftenreihe zeitnaher rechtswissenschaftlicher Abhandlungen, Heft 66), Köln 1988; sowie ferner die Rezension dieser Arbeit durch Christian Meyer, in: ZevKR 34 (1989), S. 104 - 108, m.w.N. 104 Hess. FG, Beschl. vom 18. 7. 1974, in: EFG 1974, 535 = KirchE 14, 89. 105 VG Stade, Urt. vom 21. 7. 1983, in: KirchE 21, 177. Die Revision des Klägers wurde durch Urteil des BVerwG vom 23. 5. 1986 (Az.: 8 C 47/84; unveröffentlicht) zurückgewiesen (diesbezüglicher Hinweis in KirchE 21, 177); ebenso FG Münster, Urt. vom 23. 4.1971 (rechtskräftig), in: KirchE 12,120; VG Hannover, Urt. vom 12.11. 1974 (rechtskräftig), in: KirchE 14, 182; VG Frankfurt a.M., Urt. vom 13. 3. 1980
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Weicht der Kirchensteuer-Hebesatz am Dienstort eines Bundeswehrangehörigen von demjenigen am Sitz des zuständigen Wehrbereichsgebührnisamtes ab, so ist nach einem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9.11.1973 der Dienstherr nicht aufgrund seiner Fürsorgepflicht verpflichtet, dem Bediensteten durch Überleitung des Besoldungsvorgangs an das für den Dienstort zuständige Wehrbereichsgebührnisamt den jährlich erforderlichen Antrag auf Erstattung zuviel gezahlter Kirchensteuer zu ersparen. Der Soldat darf auf den ihm gegenüber der kirchensteuerberechtigten Religionsgemeinschaft seines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts zustehenden Anspruch auf Erstattung der am Ort der Betriebsstätte zuviel erhobenen Kirchensteuer verwiesen werden. 106
VI. Kirchensteuererhebungsverfahren und Kirchensteuerverwendung 1. Gesetzmäßigkeit der Kirchensteuerbeschlüsse Gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WeimRV sind diejenigen Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, berechtigt, von ihren Gläubigen „nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben". Diese staatsgesetzlichen Bestimmungen bilden den Rahmen, den die Kirchen mit ihren eigenen Steuervorschriften, d.h. mit ihren Steuerordnungen und Kirchensteuerbeschlüssen, ausfüllen. Die Kirchensteuerordnungen müssen sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung halten. Die Kirchensteuerordnungen und die Kirchensteuerbeschlüsse bedürfen nach der staatlichen Anerkennung der Bekanntmachung. Wie der Bundesfinanzhof im Falle der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten in einem Urteil vom 19. 8.1969 entschieden hat, sind die von den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft an diese geleisteten Beiträge keine Kirchensteuer i.S. von § 10 Abs. 1, 4 EStG, wenn eine Religionsgesellschaft, die als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt ist, ihre „Steuer"-Beschlüsse nicht den entsprechenden Landesgesetzen gemäß durch staatliche Organe hat genehmigen lassen. 107 Die Kirchensteuerordnungen müssen den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips im Bereich des Abgabenwesens, und hier insbesondere dem Grundsatz der Bestimmtheit und der Tatbestandsmäßigkeit, entsprechen. Dies bedeutet, daß steuerbegründende Tatbestände so bestimmt sein müssen, daß der Steuerpflichtige (rechtskräftig), in: KirchE 18, 63. Anderer Auffassung lediglich VG Berlin, Urt. vom 24. 2. 1972, in: KirchE 12, 372; diese Entscheidung wurde jedoch durch Urt. des OVG Berlin vom 18. 7. 1973 aufgehoben (diesbezüglicher Hinweis in KirchE 12, 373). io6 BayVGH, Urt. vom 9. 11. 1973 (rechtskräftig), in: BayVBl. 105 (1974), S. 163 = ZevKR 20 (1975), S. 163 = VerwRspr. 25 (1974), S. 928 = KirchE 13, 365. !07 BFH, Urt. vom 19. 8. 1969, in: KirchE 11, 6.
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die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann. 1 0 8 Der Beschluß, durch den die zuständige kirchliche Stelle den Steuersatz festlegt, darf nach hessischem Kirchensteuerrecht nur für einen begrenzten Zeitraum, d. h. für ein Rechnungsjahr oder für mehrere Rechnungsjahre, nicht jedoch für einen unbegrenzten Zeitraum erlassen werden. 109 Ist ein Ortskirchensteuerbeschluß nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht worden, entbehrt er der rechtlichen Grundlage und ist daher nicht rechtswirksam geworden. 110 2. Verwendung der Kirchensteuer Über die Verwendung der Kirchensteuermittel bestimmen die Kirchen aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts unabhängig vom Staat. Kirchensteuerbeschlüsse können von staatlichen Gerichten nur unter der Rücksicht rechtlich überprüft werden, ob sie sich in dem verfassungsrechtlich gesteckten Rahmen halten und ob sie innerhalb der von der Kirche selbst gesetzten Normen zustande gekommen sind. In dieser Hinsicht hat in einem hessischen Fall das Verwaltungsgericht Darmstadt durch Urteil vom 12.2.1974 entschieden, daß die Beschlüsse der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zur Unterstützung des sog. Anti-Rassismus-Programms des Ökumenischen Rates ordnungsgemäß zustande gekommen seien und daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegneten. 111 3. Höchstbetragsbegrenzung
(„Kappung")
der Kirchensteuer
Die in sechs Bundesländern bestehende sog. Kirchensteuerkappung bedeutet eine Begrenzimg der Kirchensteuer nach dem Maßstab der Einkommensteuer auf einen bestimmten Hundertsatz des zu versteuernden Einkommens. Diese Begrenzung kann zu einer Unterschreitung der sich bei Anwendung des geltenden Zuschlagsatzes zur Einkommensteuer ergebenden Kirchensteuern führen. Beim Überschreiten eines bestimmten Einkommens, der sog. „Kappungsschwelle", tritt ein Steuervorteil ein. Der Hundertsatz des zu versteuernden Einkommens bleibt nämlich unabhängig von der Höhe des zu versteuernden Einkommens stets unverändert, während die
108
VG Kassel, Urt. vom 4. 11. 1969, in: KirchE 11, 59. 109 VG Frankfurt a.M., Urt. vom 16. 9. 1970, in: ZevKR 17 (1972), S. 172 = KirchE
11, 280.
no VG Braunschweig, I. Kammer Lüneburg, Urt. vom 31.7.1969 (rechtskräftig), in: KirchE 11, 239. Zur Frage der Wirksamkeitserfordernisse für einen Ortskirchensteuerbeschluß vgl. ferner OVG Lüneburg, Urt. vom 9. 11. 1976 - V I I I OVG A 147/75 (rechtskräftig), in: KirchE 15, 406. m VG Darmstadt, Urt. vom 12. 2. 1974 (rechtskräftig), in: KirchE 14, 13. Vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, Urt. vom 30. 5. 1979 (rechtskräftig), in: KirchE 17, 244, unten, bei Fn. 134.
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Kirchensteuer nach dem Maßstab der Einkommensteuer und dem Progressionstarif steigt. Im Hinblick auf den Gleichheitssatz wurden gegen die Kirchensteuerkappung vielfach verfassungsrechtliche Bedenken erhoben. 112 Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 20.1.1972 bestehen gegen die sog. Kappung der Kirchensteuer auf höchstens 4 % des steuerpflichtigen Einkommens keine verfassungsrechtlichen Bedenken. 113 Für den Bereich des Saarlandes, in dem die Möglichkeit der Kappung der Kirchensteuer nicht besteht, hat das Finanzgericht Saarland auf eine Klage hin entschieden, daß eine Verletzung des Gleichheitssatzes nicht darin liege, daß in einigen Bundesländern die Möglichkeit der Kappung gegeben sei, während in anderen Bundesländern diese Möglichkeit nicht bestehe. Nur wenn sich das Fehlen einer Höchstbetragsbegrenzung (Kappung) der K i r chensteuer als Gesetzeslücke in der kirchlichen Steuerordnung erweise, komme im Hinblick auf etwaige, dem Steuerpflichtigen günstigere Regelungen in anderen Kirchen ein teilweiser Steuererlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen in Betracht. 114 Nach einem Urteil des Finanzgerichts Hamburg haben Steuervergünstigungen nach §§16,17 des Berlin-Förderungsgesetzes keine Auswirkungen auf die Kirchensteuer, wenn diese gekappt und nach einem Vomhundertsatz des zu versteuernden Einkommens berechnet w i r d . 1 1 5 Die für den Unterhalt eines Kindes gemäß § 51 a EStG gewährte kirchensteuerliche Entlastung darf geringer ausfallen, wenn bei einem Steuerpflichtigen die Voraussetzungen der Kappung vorliegen. 116 4. Gemeinsamer Kirchensteuerfonds
in Niedersachsen
Im Land Niedersachsen besteht im Hinblick auf das Verfahren der Einziehung und Verteilung der Kirchensteuer die Besonderheit, daß die Kirchensteuern von den einzelnen Steuerpflichtigen nicht unmittelbar an die erhebungsberechtigten Religionsgemeinschaften fließen, sondern zunächst in einem gemeinsamen Fonds aller erhebungsberechtigten Religionsgemeinschaften gesammelt und sodann nach einem Schlüssel auf die einzelnen Religionsgemeinschaften verteilt werden. Das Verwaltungsgericht Hannover, 1 1 7 das Oberverwaltungsgericht Lüneburg 1 1 8 und das Bundesverwal-
112
Vgl. zum Ganzen Giloy / König, Kirchensteuerrecht (Fn. 7), S. 102 ff. VG Braunschweig, I. Kammer Lüneburg, Urt. vom 20.1.1972 (rechtskräftig), in: ZevKR 18 (1973), S. 284 = KirchE 12, 366. 114 FG Saarland, Urt. vom 23. 6. 1978 (rechtskräftig), in: KirchE 16, 434. 115 FG Hamburg, Urt. vom 6. 2.1980 - IV179/78 - (rechtskräftig), in: KirchE 18,7. 116 FG Hamburg, Urt. vom 6. 2. 1980 - IV 180/78 - (rechtskräftig), in: ZevKR 26 (1981), S. 372 = KirchE 18, 9. 117 VG Hannover, VII. Kammer Hannover, Urt. vom 22.10.1975, in: KirchE 15,67. 118 OVG Lüneburg, Urt. vom 23. 3. 1978, in: KirchE 16, 351. 113
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tungsgericht 119 haben hierzu übereinstimmend entschieden, daß die in Niedersachsen geltende vertragskirchenrechtliche Regelung, wonach das gesamte Kirchensteueraufkommen zunächst einem Sonderkonto zugeführt und dann nach einem von den steuererhebenden Religionsgemeinschaften vereinbarten Schlüssel verteilt wird, mit dem geltenden Recht in Einklang steht. 5. Die Zwölftelung der Kircheneinkommensteuer bei Kirchenaustritten Tritt ein Kirchensteuerpflichtiger im Lauf des Steuerjahres aus seiner steuererhebenden Kirche aus, so gilt allgemein der Grundsatz, daß der auf die Zeit der Umlagepflicht entfallende Einkommensteuerbetrag als Maßstabsteuer durch die sog. Zwölftelung der Jahreseinkommensteuer zu ermitteln ist. 120 Ein Problem ergibt sich hierbei in denjenigen Fällen, in denen nach der Erklärung des Kirchenaustritts ein einmaliger Gewinn, z.B. aus Veräußerung eines Grundstücks, anfiel. Hierzu entschied das Verwaltungsgericht Hannover in einem Urteil vom 22. 1. 1974, daß die zwingende Regelung des § 3 Abs. 1 der Niedersächsischen Kirchensteuerdurchführungsverordnung es verbiete, bei der Ermittlung von Kirchensteuervorauszahlungen einen nach dem Kirchenaustritt erzielten einmaligen Gewinn außer Betracht zu lassen. 121 Das Finanzgericht Nürnberg entschied in einem ähnlichen Fall durch Urteil vom 22. 1. 1981, daß der Grundsatz der Zwölftelung nur für ein während des ganzen Kalenderjahres etwa gleichbleibend erzieltes Einkommen gelte. Ausscheidbare, insbesondere getrennt von der laufenden Einkommensteuer ausgewiesene Einkünfte, die nach Beendigung des umlagepflichtigen Zeitraums erzielt worden seien, dürften nicht in Ansatz gebracht werden. 122 Das Bundesverwaltungsgericht erklärte zu dem vom Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht am 25. 2. 1983 entschiedenen F a l l 1 2 3 in einem am 12. 2. 1988 ergangenen Urteil die für das Kalenderjahr des Kirchenaustritts erfolgte Festsetzung der Kirchensteuer vom Einkommen nach der sog. us BVerwG, Beschl. vom 9. 8. 1978 (Az.: 7 Β 143.78), in: KirchE 17, 23. Vgl. auch den im wesentlichen gleichlautenden Parallelbeschluß des BVerwG vom 9. 8. 1978 (Az.: 7 Β 139, 142.78), in: ZevKR 25 (1980), S. 87. 120 BFH, Urt. vom 24. 10. 1975, in: KirchE 15, 74; VG Hannover, I. Kammer Hildesheim, Urt. vom 6. 2. 1980, in: KirchE 18, 10; Schleswig-Holst. VG, Urt. vom 25. 2. 1983, in: KirchE 21, 45. 121 VG Hannover, I. Kammer Osnabrück, Urt. vom 22. 1. 1974 (rechtskräftig), in: KirchE 14, 8. 22 ι FG Nürnberg, Urt. vom 22. 1. 1982 (rechtskräftig), in: KirchE 18, 385. 123 s. oben, Fn. 120.
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Zwölftelungsmethode für mit Art. 3 Abs. 1 und 3 GG sowie mit Art. 4 Abs. 1 GG vereinbar. Eine durch Anwendung der Zwölftelungsmethode im Einzelfall ausnahmsweise eintretende Sachwidrigkeit der Besteuerung müsse durch die Gewährung eines Billigkeitserlasses ausgeräumt werden. 124 Übereinstimmend mit dem Bundesverwaltungsgericht erklärte auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einer am 4. 10. 1988 ergangenen Entscheidung, daß der Normgeber verfassungsrechtlich nicht gehindert sei, aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung typisierende und generalisierende Regelungen zu treffen. Führe die sog. Zwölftelungsregelung bei der Berechnung und Erhebung der Kircheneinkommensteuer gemäß § 5 der Ausführungsverordnung zum Kirchensteuergesetz zu ungewöhnlichen Härten im Einzelfall, könne unter Umständen nur eine hiervon abweichende Billigkeitsentscheidung verfassungskonform sein. 125 6. Entlastungsbeträge für Kinder gemäß § 51a EStG Umstritten war auf dem Gebiete des Kirchensteuerwesens längere Zeit die Frage, ob in denjenigen Fällen, bei denen bei der Festsetzung der K i r chensteuer Beträge für Unterhaltsleistungen an Kinder von der Einkommensteuer als Maßstab abzurechnen sind, eine solche Vergünstigung bei geschiedener Ehe auch dem nicht sorgeberechtigten, aber unterhaltleistenden Elternteil zustehe. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hatte durch Urteil vom 25. 6. 1981 entschieden, daß ein Anspruch auf eine solche Vergünstigung bei geschiedener Ehe dem nicht sorgeberechtigten, aber unterhaltleistenden Elternteil vom Steuer jähr 1978 an im Unterschied zur früheren Rechtslage nicht mehr zustehe. 126 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt a.M. und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs 127 bestätigt und durch Urteil vom 16.8. 1985 festgestellt, daß die Regelung des § 2 Abs. 2 Hess. KiStG, welche den geschiedenen Elternteil, dem sein Kind nicht zugeordnet wurde und der seiner Unterhaltszahlungspflicht für das K i n d nachkommt, von den Abzugsbeträgen des § 51a EStG ausschließt, für den Veranlagungszeitraum 1978 den Gleichheitssatz nicht verletzt. 128 Nach einer Entscheidimg des Finanzgerichts Hamburg darf die für den Unterhalt eines Kindes gewährte
124 BVerwG, Urt. vom 12. 2. 1988, in: BVerwGE 79, 62 = NJW 1988, S. 1804. !25 BayVerfGH, Entscheidung vom 4. 10. 1988, in: BayVBl. 1989, S. 11. 126 VG Frankfurt a.M., Urt. vom 25. 6. 1981, in: KirchE 18, 504; ferner VG Berlin, Urt. vom 31. 7. 1981, in: KirchE 19, 9. 127 Hess. VGH, Urt. vom 28. 3. 1984 (V OE 130/81), unveröffentlicht, Hinweis in: KirchE 18, 504. 128 BVerwG, Urt. vom 16. 8.1985, in: BVerwGE 72, 69 = NJW 1986, S. 736. Vgl. eine ähnlich gelagerte Entscheidung des BVerwG vom selben Tag in: FamRZ 1985, S. 1254 = ZevKR 31 (1986), S. 244.
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kirchensteuerliche Entlastung geringer ausfallen, wenn bei dem Steuerpflichtigen die Voraussetzungen der Kirchensteuerkappung vorliegen. 129 7. Pauschalierung der Kirchensteuer Wie der Bundesfinanzhof durch Beschluß vom 20. 6.1974 entschieden hat, ist bei der Beschäftigung von Aushilfskräften, wenn der Arbeitgeber die pauschale Besteuerung des Arbeitnehmers beantragt hat, die Kirchenmitgliedschaft des Arbeitnehmers bei der Lohnsteuer- und LohnkirchensteuerPauschalierung nicht zu berücksichtigen, 130 Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundesverfassungsgericht durch Beschluß vom 17. 2. 1977 mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen. 131 8. Kirchensteuererstattung Im Hinblick auf den Anspruch auf Erstattung von Kirchensteuern hat das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluß vom 9. 6. 1978 entschieden, daß die infolge Nichtanfechtung eingetretene Bestandskraft des vom Finanzamt erteilten Kirchensteuerbescheides den Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht erhobener Kirchensteuer nicht konsumiert, sofern dieser Anspruch noch nicht verjährt ist. 1 3 2 VII. Rechtswegfragen und Rechtsmittel 1. Rechtsweg frag en Bei der Ausgestaltung des Rechtsweges gegen die Heranziehung zur Kirchensteuer sind nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik verschiedene Wege beschritten worden. Die Bundesländer Berlin, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein haben den Rechtsweg zu den allgemeinen Verwaltungsgerichten eröffnet; die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und 129
s. oben, Fn. 116. BFH, Beschl. vom 20. 6. 1974, in: KirchE 14, 92. Darüber, daß begründete Bedenken gegen eine Pauschalierung von Kirchenlohnsteuerforderungen nicht erhoben werden können, vgl. die überzeugenden Ausführungen bei Christian Starck, Rechtliche Grundlagen der Pauschalierung von Kirchenlohnsteuerforderungen, in: Deutsches Steuerrecht 1989, S. 3 - 10, mit zahlr. weiteren Nachweisen; a. A. Friedrich Sterner, Pauschale Kirchensteuer in Niedersachsen, ebd., S. 11 - 15. Vgl. auch oben bei Fn. 102 f. 131 BVerfG, Beschl. vom 17. 2. 1977 (1 BvR 343/74), in: DÖV 1977, S. 448. 1 32 BVerwG, Beschl. vom 9. 6. 1978, in: KirchE 16, 422. 130
Das kirchliche Besteuerungsrecht i n der neueren Rechtsprechung
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das Saarland haben den Finanzrechtsweg für zulässig erklärt. 1 3 3 Wenn die Kirchensteuer durch die Kirchen selbst verwaltet wird, ist in Baden-Württemberg und Bremen jedoch der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Kein Rechtsweg zu staatlichen Gerichten ist eröffnet bei Streitigkeiten über die Zuweisung von Finanzmitteln an einzelne Kirchengemeinden oder Gemeindeverbände. Derartige Streitigkeiten unterliegen ausschließlich innerkirchlichen Entscheidungen mit der Folge, daß ein von staatlichen Gerichten überprüfbarer Akt öffentlicher Gewalt i.S. des Art. 19 Abs. 4 GG nicht vorliegt. Wie das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hierzu zutreffend entschieden hat, würde eine Unterwerfung der kirchlichen Maßnahmen betreffend die Verteilung des Steueraufkommens unter die staatliche Rechtsprechung die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt verletzen. 134 Eine Zuständigkeit der Verwaltung s g ericht e ist gegeben in Berlin für K i r chensteuersachen, einschließlich der Rechtsstreitigkeiten über Aufrechnung von Kirchensteuern, 135 in Niedersachsen bei Haftungssachen wegen K i r chenlohnsteuer, 136 in Schleswig-Holstein wegen Einkommen- und LohnKirchensteuersachen. 137 Ebenso ist im Lande Niedersachsen auch in denjenigen Fällen, in denen das Finanzamt in einer Kirchensteuersache, für die nicht das Finanzamt, sondern die Kirchenbehörde zuständig ist, einen Bescheid erläßt, dieser Bescheid nicht im Finanzrechtsweg, sondern im allgemeinen Verwaltungsrechtsweg anfechtbar. 138 Dagegen ist im Land Bremen in einem Verfahren über den Erlaß von K i r chensteuer der Finanzrechtsweg gegeben. Die Verwaltung der Kirchensteuer durch Landesfinanzbehörden schließt deren Recht und Pflicht ein, über Anträge auf Erlaß in eigener Zuständigkeit zu entscheiden. Die Erlaßbefugnis der Finanzbehörden besteht unabhängig davon, ob nur der Erlaß von Kirchensteuer oder daneben auch der Erlaß von Einkommensteuer begehrt w i r d . 1 3 9 Der Bundesfinanzhof hat diese Entscheidung des Finanzgerichts Bremen durch Urteil vom 24. 10. 1975 aufgehoben. Erläßt im Lande Bremen das Finanzamt einen Bescheid in einer Kirchensteuererlaßsache, für den nicht das Finanzamt, sondern die Kirchenbehörde zuständig ist, so ist, soweit die Aufhebung des Bescheides begehrt wird, der Finanzrechtsweg gegeben. 140 133
Vgl. hierzu Engelhardt, Die Kirchensteuer (Fn. 7), S. 201ff.; Giloy / König, K i r chensteuerrecht (Fn. 7), S. 144 ff. 1 34 OVG Lüneburg, Urt. vom 30. 5. 1979 (rechtskräftig), in: KirchE 17, 244. Vgl. hierzu auch VG Darmstadt, Urt. vom 12. 2. 1974, oben, bei Fn. 111. 135 FG Berlin, Urt. vom 10. 2. 1976 (rechtskräftig), in: KirchE 15, 214. 136 Niedersächs. FG, Urt. vom 18. 9. 1973, in: KirchE 13, 351. 137 138
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Schleswig-Holst. FG, Urt. vom 13. 12. 1978 (rechtskräftig), in: KirchE 17, 134. Niedersächs. FG, Urt. vom 9. 7. 1980 (rechtskräftig), in: KirchE 18, 214. FG Bremen, Urt. vom 8. 12.1971, in: ZevKR 18 (1973), S. 417 = KirchE 12, 340.
Festschrift P. Mikat
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2. Rechtsmittel Im Falle einer glaubensverschiedenen Ehe, in dem der kirchenangehörige Ehegatte nach Maßgabe der Bestimmungen des niedersächsischen Kirchensteuerrahmengesetzes vom Finanzamt zur Kirchensteuer herangezogen worden war, hatte dieser dagegen Widerspruch erhoben mit der Begründung, diese Regelung verstoße gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und beeinträchtige sein Grundrecht der Glaubensfreiheit. Da seine Ehefrau einen eigenen Kirchenbeitrag entrichte, werde er im Vergleich zu Ehegatten, die verschiedenen Landeskirchen oder steuererhebenden Religionsgemeinschaften angehören und nach dem Halbteilungsgrundsatz besteuert werden, ungleich stärker belastet. Das Verwaltungsgericht Braunschweig wies den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Einkommen- und Kirchensteuerbescheid des Finanzamts mangels einer überwiegenden Erfolgsaussicht der Klage zurück. 1 4 1 Nach einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg hat das Finanzamt für den Fall, daß die Kirchensteuerbehörde das Bestehen der Kirchensteuerpflicht unanfechtbar feststellt, ohne eigene Prüfung von dieser Tatsache auszugehen. Die Entscheidung der kirchlichen Steuerbehörde stehe zu dem die Kirchensteuer einschließenden Steuerbescheid des Finanzamts in dem gleichen Verhältnis wie ein Feststellungsbescheid zum Veranlagungsbescheid. Die spätere Berichtigung des Steuerbescheides eröffne den Rechtsweg gegen die Entscheidung der kirchlichen Steuerbehörde nicht erneut. 142 Wie das Niedersächsische Finanzgericht am 14. 1. 1976 entschieden hat, ist die Kirchensteuer in Lohnsteuerhaftungsfällen nicht in die Streitwertbemessung einzubeziehen. 143 Die Verjährung des Anspruchs auf Kircheneinkommensteuer beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Einkommensteuererklärung für den jeweiligen Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum abgegeben wird. Der Anwendung von § 145 Abs. 2 Ziff. 1 AO η. F. steht nicht entgegen, daß das Gesetz eine eigene Kirchensteuererklärung nicht verlangt. 144
"o BFH, Urt. vom 24. 10. 1975, in: KirchE 15, 71. 141 VG Braunschweig, Beschl. vom 22. 5. 1975, in: KirchE 14, 289. 142 OVG Lüneburg, Urt. vom 25. 2. 1977, in: KirchE 16, 91. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger blieb ohne Erfolg; vgl. BVerwG, Beschl. vom 1. 11. 1977 (VII Β 56.77), Hinweis in: KirchE 16, 91. 143 Niedersächs. FG, Beschl. vom 14. 1. 1976, in: KirchE 15, 188. 144 FG München, Urt. vom 25. 1. 1977 (rechtskräftig), in: KirchE 16, 13.
Staatliche und kirchliche Kulturverantwortung auf dem Gebiet des Denkmalschutzes Von Wolf gang Loschelder I. Denkmalschutz als Paradigma Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik läßt sich nur zutreffend beurteilen, wenn man es als Ergebnis des geschichtlichen Prozesses begreift, in dem es sich entwickelt hat und in dessen fortschreitendem Zusammenhang es auch in der Gegenwart steht. Auf diesen elementaren Befund hat Paul Mikat immer wieder hingewiesen 1 und die doppelte Konsequenz betont, die aus ihm folgt: daß derjenige den Gegenstand verfehlt, der die historische Perspektive ausblendet - und damit in die Gefahr gerät, gewachsene Strukturen unbedacht preiszugeben - ; daß aber auch der ihm nicht gerecht wird, der rückwärtsgewandt, starr auf den einmal erreichten Positionen beharrt, also - wiederum ahistorisch - den ständigen Wandel der Bedingungen außer acht läßt, unter denen jeweils die beiderseitigen Belange zum Ausgleich zu bringen sind 2 . Denkmalschutz und Denkmalpflege sind zweifellos nicht die zentralen Felder, auf denen diese Abgrenzung und Zusammenordnung zu leisten sind 3 . Das dokumentiert sich schon in der - von einigen, allerdings gewichtigen Ausnahmen 4 abgesehen - vergleichsweise geringen dogmatischen 1 Vgl. u.a. Paul Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Karl August Bettermann / Hans Carl Nipperdey / Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV/1, Berlin 1960, S. 111, 113f.; ders., Gegenwartsaspekte im Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: Karl Siepen / Joseph Weitzel / Paul Wirth (Hrsg.), ECCLESIA ET IUS, Festgabe für Audomar Scheuermann, München/ Paderborn/Wien 1968, S. 79, 95; ders., Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, in: Paul Mikat, Religionsrechtliche Schriften, hrsg. von Joseph Listi, 1. Halbbd. 1974, S. 303,3031 2 Vgl. außer den Nachweisen in Fn. 1 insbes. auch Paul Mikat, Die religionsrechtliche Ordnungsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ernst Friesenh a h n / U l r i c h Scheuner i.V.m. Joseph Listi (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., Berlin 1974, S. 107, 117. 3 So zu Recht Hartmut Maurer, Denkmalschutz im kirchlichen Bereich, in: HansGernot Jung / Hans-Hartmann Freiherr von Schlotheim / Walter Weispfennig (Hrsg.), Autonomie der Kirche, Symposion für Armin Füllkrug, Neuwied/Darmstadt 1979, S. 82, 82f. 4 Insbes. Martin Heckel, Staat - Kirche - Kunst, Tübingen 1968; Alfred Albrecht, Kirchliche Denkmalpflege, in: Ernst Friesenhahn / Ulrich Scheuner i.V.m. Joseph
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Durchdringung, die das Thema bislang erfahren hat. Dennoch verspricht es Gewinn, gerade an ihm die Ergiebigkeit einer Fragestellung zu erproben, die den aktuellen Stand nicht isoliert, sondern seine Hintergründe, seine Einbettung in den zeitlichen Gang mit einbezieht. Daß eine bloße Momentaufnahme in rechtlicher Hinsicht die Probleme nicht ausschöpft, läßt sich an den einschlägigen Regelungen selbst ablesen. So lehnt sich bereits der allgemeine Auftrag an den Staat, für die Erhaltung der Kulturdenkmäler Sorge zu tragen, wie ihn einzelne Landesverfassungen ausdrücklich formulieren, bis in den Wortlaut hinein unmittelbar an Art. 150 WRV an 5 . Vor allem stehen die speziellen Vorschriften, die den Denkmalschutz im kirchlichen Bereich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausgestalten, nicht unverbunden nebeneinander. Sie ordnen sich zu Schichten, die, je nach der Entstehungssituation, den Phasen religionspolitischer und staatskirchenrechtlicher Sichtweise in der grundgesetzlichen Epoche insgesamt entsprechen 6. Damit sind sie zugleich, da diese Ansätze ihrerseits aus einer Vielzahl von Quellen gespeist werden, in die jeweiligen übergreifenden Bezüge eingefügt. Aber auch der Sache nach erschließt sich die Materie nur im geschichtlichen Kontext. Das gilt zunächst für die Feststellung, daß - quantitativ wie qualitativ - ein beträchtlicher Teil des kulturellen Erbes, auf dessen Pflege sich das allgemeine Interesse richtet, kirchliches Eigentum ist oder kirchlich genutzt wird 7 . Allein tatsächlich, seiner Bedeutung wegen, kann dieser Bestand - auch abgesehen von den verfassungsrechtlichen Vorgaben - aus der staatlichen Fürsorge nicht schlechthin ausgespart bleiben. So sehen sich Staat und Kirche im Umgang mit ihm notwendig zusammengespannt, vermögen einer Abstimmung ihrer Ziele und Befugnisse nicht auszuweichen. Nach welchen Maßstäben diese Abstimmung vorzunehmen ist, bestimmt sich ebensowenig abstrakt, muß aus den in einem institutionalisierten Miteinander gewachsenen Anschauungen und Verhältnissen abgeleitet werden 8 . Insoweit konzentrieren sich, natürlicherweise, die Bemühungen vornehmlich darauf, die jeweiligen Eigengesetzlichkeiten staatlicher und kirchlicher Zwecksetzung herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen demgemäß die dem Kultgebrauch dienenden kirchlichen Listi (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., Berlin 1975, S. 204ff.; Maurer (Fn. 3). 5 Heckel (Fn. 4), S. 59; Maurer (Fn. 3), S. 83. 6 Im einzelnen Maurer (Fn. 3), S. 86f., 88ff., insbes. zur Ablösung kirchenvertraglicher durch gesetzliche Regelungen. 7 Franz J. Ronig, in: August Gebeßler / Wolf gang Eberl (Hrsg.), Schutz und Pflege von Baudenkmälern in der Bundesrepublik Deutschland, Köln/Stuttgart/Berlin/ Mainz 1980, C 9, S. 386. 8 Zu dieser Problematik grundsätzlich auch Ulrich Scheuner, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, 1. Bd. (Fn. 2), S. Iff., insbes. S. 10f.
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Gebäude und sonstigen res sacrae, weil bei ihnen der Denkmalcharakter aus staatlicher Sicht - und die primär religiös-liturgische Funktion - nach kirchlichem Verständnis - aufeinanderstoßen 9. Weniger Aufmerksamkeit wird demgegenüber dem Umstand gewidmet, daß die Anliegen und Wertungen beider Seiten auf weite Strecken auch parallel laufen. Zwar wird regelmäßig hervorgehoben, daß sich - im Hinblick auf den nämlichen Gegenstand - die Sphären nicht reinlich scheiden lassen, sich, etwa bei einem sakralen Kunstwerk, der ästhetische und der religiöse Aspekt wechselseitig erhellen und zu einer „Sinneinheit" ergänzen 10 . Indessen bleibt auch hier das heteronome Moment vorherrschend, geht es vorwiegend darum, wieweit bei der Verfolgung des eigenen Zwecks jeweils der komplementäre Gesichtspunkt in Rechnung zu stellen ist - wobei dem religiös neutralen Staat freilich eine eigenständige inhaltliche Würdigung in der sakralen Sphäre versagt ist 1 1 . Ein wirklicher Gleichlauf der Interessen kann daher nur auf dem kulturellen Sektor bestehen, den historischen, künstlerischen, wissenschaftlichen Gehalt kirchlicher Denkmäler betreffen. Und in der Tat erscheint es bei einer abgewogenen Betrachtung sowohl des Ist-Zustandes wie seiner geschichtlichen Entwicklung zu schmal anzusetzen, würde man insoweit den eigenen Beitrag der Kirchen über den genuin religiösen Fragen vernachlässigen. Eine solche Blickverengung ließe sich weder mit dem kirchlichen Selbstverständnis noch mit der kirchlichen Praxis in Einklang bringen 12 . Es muß nicht im einzelnen vertieft werden, in welchem Maße die Kirchen selbst durch die Jahrhunderte als kulturelle Träger schöpferisch gewirkt, Werke der Kunst und Wissenschaft hervorgebracht haben. Es muß auch nicht ausgebreitet werden, welche Anstrengungen sie seit je und in der Gegenwart unternehmen, diese Werte zu pflegen und zu erhalten. Die Fülle der Erfahrung, des Sachverstandes, der Mittel und Möglichkeiten, die sie im Laufe der Zeit angereichert haben, sind heute für jedermann greifbar in dem personellen und finanziellen Aufwand, den sie auf diesem Gebiet treiben, in der Qualität und Effektivität ihrer Maßnahmen, die hinter dem staatlichen und kommunalen Standard gewiß nicht zurückstehen. Für die Diskussion des Themas bleibt dies alles jedoch merkwürdig folgenlos. Gelegentlich w i r d zwar auch die „Kulturverantwortung der K i r chen" angesprochen 13, allerdings eher beiläufig und ohne daß hieraus nach9
Vgl. etwa die Nachweise Fn. 4. Dazu insbes. Heckel (Fn. 4), S. 129ff.; Maurer (Fn. 3), S. 84 m.w.N. 11 Statt aller Albrecht (Fn. 4), S. 224. 12 Dazu etwa Alexander Hollerbach, Kunst- und Denkmalpflege, in: Joseph Listi / Hubert Müller / Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, S. 915, 916ff.; Bernhard Bach, in: Gebeßler / Eberl, Schutz und Pflege von Baudenkmälern (Fn. 7), C 8, S. 371 ff.; Ronig (Fn. 7), S. 381 ff. 13 Vgl. aber Heckel (Fn. 4), S. 171. 10
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drücklicher Schlüsse gezogen würden. Um so mehr liegt es nahe, auf diesem Punkt zu insistieren, zu prüfen, welche Rolle die Kirchen bei einem vollen Blick auf die geschichtliche Herausbildung wie auf die heutigen Bedingungen dieses Bereichs - ganz im Sinne der Mikatschen Anmahnung - beanspruchen können. II. Verengung der kirchlichen Spielräume Das Denkmalschutzrecht der Länder räumt der kirchlichen Eigenverantwortung und Eigendisposition höchst unterschiedlich bemessene Spielräume ein. Dabei verfahren die älteren Regelungen entschieden großzüger als die später entstandenen 14 . So verweisen, um das eine Ende der Skala zu bezeichnen 15 , die Denkmalschutzgesetze in Niedersachsen und Schleswig-Holstein im wesentlichen auf bestehende kirchenvertragliche Bestimmungen und lassen diese ausdrücklich unberührt. Nach wie vor sind damit die Kirchen in diesen Ländern kraft Vereinbarung lediglich gehalten, selbst ihre „denkmalswichtige(n) Gebäude nebst den zugehörigen Grundstücken und sonstige(n) Gegenstände" zu erhalten und zu pflegen, sie im übrigen nur „ i m Benehmen mit den Stellen der staatlichen Denkmalpflege" zu veräußern und umzugestalten 1 6 . Den Gegenpol bildet andererseits Bremen, dessen Denkmalschutzgesetz 17 religiöse Belange nicht einmal erwähnt, so daß hier, wenn überhaupt, allein eine verfassungskonforme Auslegung im Lichte des Art. 140 GG i. V.m. Art. 137 Abs. 3, 138 Abs. 2 WRV zu den gebotenen Differenzierungen verhelfen könnte 18 . Überaus restriktiv ist auch die Hamburger Regelung 19 . Sie verbietet zwar im Falle einer Veränderung der beweglichen Ausstattung von Baudenkmälern, die liturgischen Anliegen und Veranstaltungen der Religionsgesellschaften zu beeinträchtigen, erfaßt aber schon Veränderungen an den Baudenkmälern selbst nicht. Daß insoweit Konflikte mit den Mitteln bloßer Interpretation zu beheben wären, muß erst recht bezweifelt werden 20 . Zwischen diesen beiden äußersten Gestaltungsmöglichkeiten rangieren abgestuft die übrigen landesrechtlichen Konzepte. Mit im einzelnen variie14 Diesen Aspekt stellt insbes. Maurer (Fn. 3), S. 86ff., im Verhältnis des älteren kirchenvertraglichen und der jüngeren gesetzlichen Regelungen deutlich heraus. 15 Vgl. zum Folgenden den Überblick bei Albrecht (Fn. 4), S. 219ff.; Maurer (Fn. 3), S. 88ff.; Ronig (Fn. 7), S. 386ff. 16 Art. 20 des Niedersächsischen Kirchenvertrages von 1955 („Loccumer Vertrag"); weitere Nachweise bei Maurer (Fn. 3), S. 88. 17 Vom 27.5.1975 (GBl. S. 265). 18 Maurer (Fn. 3), S. 90f.; skeptisch Wolfgang Eberl, Mitwirkung der Kirchen und Gemeinden beim Schutz von Baudenkmälern, DÖV 1983, S. 455, 456. 19 § 9 Abs. 2 des Hamburger Denkmalschutzgesetzes vom 3.12.1973 (GVB1. S. 466). 20 Zu Recht kritisch auch insoweit Eberl (Fn. 13), S. 456.
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renden Formulierungen ordnen sie überwiegend an, daß bei behördlichen Entscheidungen, die gottesdienstlich genutzte kirchliche Denkmäler betreffen, die von den Religionsgemeinschaften geltend gemachten Gesichtspunkte der Kultusausübung zu respektieren sind 21 . In Baden-Württemberg etwa ist darüber hinaus alternativ vorgesehen, daß die res sacrae weitergehend aus der staatlichen Obhut entlassen werden, wenn die Kirchen ihrerseits im Einvernehmen mit der obersten staatlichen Denkmalschutzbehörde ausreichende eigene Schutzvorschriften erlassen 22. In ähnlicher Weise können in Rheinland-Pfalz kirchliche Konservatorämter bei entsprechender personeller und sächlicher Ausstattung staatlich anerkannt werden und sodann - im „Benehmen" mit den staatlichen Behörden - bestimmte Maßnahmen in eigener Verantwortung durchführen. Als Besonderheit ist anzumerken, daß hierbei nicht auf den Kultuszweck abgehoben ist, sondern alle Denkmäler in kirchlicher Verfügung erfaßt werden 23 . Vergleicht man die ältere und jüngere Regelungsschicht, so drückt sich eine Verminderung der Bewegungsfreiheit der Kirchen schon in der Wahl der Rechtsform aus. Die prinzipielle Gleichordnung der Parteien, die bei vertraglichen Verhandlungen vorausgesetzt ist 2 4 , bot nicht nur der konkreten Ausgangslage nach ein günstigeres Terrain, kirchlichen Belangen Wirkung zu verschaffen, als das auf einseitige Entscheidung angelegte Gesetzgebungsverfahren. Die unterschiedlichen Konstellationen signalisieren auch Veränderungen in der generellen Einschätzung jener Belange, wie gerade die späteren kritischen Stimmen zum Vertragskirchenrecht als solchem bestätigen 25 . Davon abgesehen ist zu Recht angemerkt worden 26 , daß eine weitere Öffnung des kirchlichen Dispositionsbereichs leichter gelingen muß, wenn eine einheitliche Gesamtlösung für eine Vielzahl von Gegenständen gesucht wird, als wenn sich die politischen Interessen auf ein spezielles Gesetzesvorhaben konzentrieren. Inhaltlich besteht die entscheidende Einbuße für die kirchliche Eigengestaltung darin, daß das neuere Denkmalschutzrecht den Kulturbesitz der Kirchen nicht mehr insgesamt als einen Bereich besonderer Sachgesetzlichkeiten wertet, sondern spezielle Regelungen von vornherein nur unter reli21 Nachweise im einzelnen bei Eberl (Fn. 18), S. 455 Anm. 5; dort auch, S. 456 Anm. 7, zur einschränkenden hessischen Regelung; zu den weiteren Bedenklichkeiten des Hessischen Denkmalschutzgesetzes vom 23.9.1974 (GVB1.1 S. 450) im Hinblick auf die bestehenden kirchenvertraglichen Regelungen Maurer (Fn. 3), S. 89f. 22 Hierzu Maurer (Fn. 3), S. 91f. m.w.N. 23 Näher hierzu Ronig (Fn. 7), S. 387f.; kritisch zum letzten Punkt Eberl (Fn. 18), S. 456. 24 Zur Bedeutung dieses Gesichtspunkts Joseph Listi, in: ders. (Hrsg.), Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987, S. 5. 25 Zum Überblick Axel Freiherr von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl., München 1983, S. 108f. m.w.N. 26 Maurer (Fn. 3), S. 90.
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giös-kultischen Kriterien in Erwägung zieht. Damit w i r d das Verwaltungsund Finanzvermögen der Kirchen wie selbstverständlich den für jedermann geltenden Bestimmungen unterworfen 27 . Hieran gemessen treten, unbeschadet ihrer erheblichen praktischen Bedeutung, die Modifikationen zurück, die für den engeren Kreis der res sacrae gelten. Sie besitzen indessen Indizcharakter, vertiefen das Bild in dieser oder jener Richtung. Insofern sind die Akzentuierungen aufschlußreich - ob die Belange der Religionsausübimg zu „berücksichtigen", zu „beachten" oder gar „vorrangig zu beachten" sind 28 . Erst recht hat die Verteilung von Letztentscheidungsbefugnissen - durch die Forderung nach „Einvernehmen" oder nach bloßem „Benehmen" Gewicht 29 . Schließlich macht es einen erheblichen Unterschied, ob sich die Kirchen Zugriffen des Staates durch eigene Vorkehrungen entziehen können, aber auch andererseits, ob sie in staatlichen Sachverständigengremien, Denkmalschutzämtern, von Gesetzes wegen über Sitz und Stimme verfügen oder nicht 3 0 . Wird der Denkmalschutz im kirchlichen Bereich, wie dies heute durchweg geschieht, allein aus dem Blickwinkel spezifisch religiöser Belange betrachtet, so sind damit nicht nur bedeutende Bestände an kirchlichen Kulturgütern aus der Problematik ausgeklammert. Es wird das Feld gleichlaufender kultureller Interessen zwischen Staat und Kirche, von dem eingangs die Rede war, schlechthin vernachlässigt. Zugleich wird die Rolle der Kirchen selbst empfindlich verkürzt, die nurmehr in ihrer - wenn schon zentralen religiösen Funktion erscheinen, nicht aber als prägende kulturelle Kräfte. III. Asymmetrien der Fragestellung Die Frage, die sich hieran knüpft, lautet demgemäß nicht, ob die Denkmalschutzgesetze der Länder den spezifischen Verfassungsvorgaben zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften gerecht werden. Denn da die große Mehrzahl der Regelungen auf die sakrale Funktion kirchlicher Kulturdenkmäler Bedacht nimmt, dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Raum gewährt, besteht insoweit kaum ein Zweifel. Das schließt Bedenken im einzelnen nicht aus. So werden mit guten Gründen insbesondere Einwände gegen den Rechtszustand in Hamburg und Bremen erhoben 31 , wo die 27 Vgl. z.B. Eberl (Fn. 18), S. 456; ferner Maurer (Fn. 3), S. 84; eingehend Heckel (Fn. 4), insbes. S. 183ff.; differenzierend Albrecht (Fn. 4), S. 214. 28 Beispiele und Nachweise bei Ronig (Fn. 7), S. 386ff. 29 Zur Bedeutung der Unterscheidung im konkreten Zusammenhang Heckel (Fn. 4), S. 167. 30 Vgl. z. B. einerseits die Regelung in § 14 Abs. 2 lit. d Bayerisches Denkmalschutzgesetz v. 25.6.1973 (GVB1. S. 328), andererseits § 23 Nordrhein-Westfälisches Denkmalschutzgesetz v. 11.3.1980 (GVB1. S. 226); zur Problematik der Einbeziehung der Kirchen in die „pluralistische Repräsentation" Maurer (Fn. 3), S. 93f. 3 * Vgl. Eberl (Fn. 18), S. 456.
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religiösen Belange - wie immer die praktische Handhabung sich darstellen mag 32 - positiv nur in einem allzu schmalen Segment bzw. überhaupt nicht berücksichtigt sind. Doch treffen diese Überlegungen nicht das hier erörterte Problem. Zu fragen ist vielmehr, ob eine Fixierung auf das religionsrechtliche Minimum - wie Art. 140 GG (Art. 137 Abs. 3, 138 Abs. 2 WRV) und die korrespondierenden landesverfassungsrechtlichen Verbürgungen es umreißen insgesamt geeignet ist, den geschichtlich gewachsenen Befund auszuschöpfen, oder ob nicht, gemessen an ihm, die Entwicklung des Denkmalschutzrechts sachwidrige Verengungen, Asymmetrien und blinde Flecken aufweist. Zu fragen ist mit anderen Worten, ob nicht den älteren vertragsrechtlichen Lösungen in dieser Hinsicht der Vorzug gebührt, zumindest ob derartige Lösungen nicht auch unter den Bedingungen der Gegenwart wieder nachdrücklicher in die Betrachtung der Gestaltungsmöglichkeiten einzubeziehen sind. Ein solch breiterer Ansatz würde sich allerdings sogleich erledigen, wenn die Freistellung der Kirchen von den allgemeinen Regeln auch jenseits der religiösen Sphäre eine verfassungsrechtlich unzulässige Privilegierung wäre. Hiervon geht ersichtlich die K r i t i k am rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetz aus, wonach die Erstreckung kircheneigener Zuständigkeiten auf alle Baudenkmäler den „Verfassungsauftrag" des Art. 137 Abs. 3 GG überschreite 33 . Soweit damit vorausgesetzt werden sollte, daß der Eigenraum, den das Verfassungsrecht den Religionsgemeinschaften gewährleistet, zugleich den äußersten Rahmen ihrer rechtlichen Betätigungsmöglichkeiten darstellt, wäre die Argumentation schon prinzipiell nicht zu halten. Denn von der Grundstruktur her bezeichnen verfassungsrechtlich ausgeformte Freiräume, dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip entsprechend, keine Grenzen für das Subjekt der Freiheit, sondern für den staatlichen Zugriff 3 4 . Die Schranken der Freiheit selbst - auch der Religions- und Kirchenfreiheit - können sich jeweils nur konkret, aus der konkurrierenden Freiheit anderer und sonstigen rechtlich gleich- und übergeordneten Gütern, ergeben. Auch spezielle Vorbehalte gegen eine Kompetenzausweitung zugunsten der Kirchen lassen sich aus den religionsrechtlichen Verfassungsverbürgungen nicht gewinnen. Denn es geht vorliegend eben nicht um die religiösen Bezüge, um den Glaubensaspekt 35 - weder unmittelbar im Sinne einer Meh32
Vgl. im Hinblick auf Bremen Ronig (Fn. 7), S. 387. So Eberl (Fn. 18), S. 456. Bedenken auch bei Winfried Schulz, Denkmalschutz und Denkmalpflege in der neuen kirchlichen Rechtsordnung, in: theologie und glaube 4/83, S. 351, 353; vgl. demgegenüber - verfassungsrechtlich zulässig, aber nicht geboten - Albrecht (Fn. 4), S. 216. 34 Grundlegend insoweit Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1928, S. 126. 35 Davon gehen ersichtlich auch die Auffassungen aus, die den nicht sakralen Kulturbesitz der Kirchen von vornherein aus der Betrachtung ausscheiden oder eine Frei33
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rung kirchlicher Möglichkeiten und Instrumente in diesem Bereich noch mittelbar, insofern gerade die religiöse Funktion wenigstens ein Motiv für die Übertragung der Befugnis darstellte. Diese hat vielmehr ausschließlich die kulturellen, denkmalpflegerischen - sozusagen säkularen - Erfahrungen, Fähigkeiten und Ressourcen der Kirchen im Auge und sucht sie für die Erhaltung des kulturellen Erbes nutzbar zu machen. Dem läßt sich auch nicht entgegenhalten, beide Kategorien, die religiöse und die kulturelle, seien - wie beim einzelnen sakralen Kunstwerk 3 6 , so auch bei der Tätigkeit der Kirchen allgemein 37 - untrennbar miteinander verbunden. So zutreffend diese Erwägimg ist, so steht sie doch außer Bezug zu einer bestimmten Verteilung der Kompetenzen. Auch wo die staatlichen Behörden, selbst hinsichtlich der res sacrae, die Letztentscheidung in denkmalschutzrechtlichen Fragen zu treffen haben, müssen sie die konservatorischen Gesichtspunkte und die gottesdienstlichen Belange - die von den Kirchen abschließend festgestellt werden - zu einem sachgemäßen, stimmigen Ergebnis zusammenführen 38 . Nichts anderes wird von den kirchlichen Ämtern erwartet, wenn die Materie in deren Hand gelegt ist. Daß sie, soweit die maßgeblichen Kriterien im Einzelfall in Spannung treten, nicht zu abgewogenen Lösungen finden oder gar im nichtsakralen Sektor ihre Zuständigkeit sachfremd mißbrauchen könnten, dürfte angesichts der kirchlichen Praxis nicht ernstlich angenommen werden 39 . Eher noch liegt der Gedanke nahe, daß sich problemgerechte Konzeptionen leichter ergeben, wo Sachkompetenz und Entscheidungsbefugnis für alle relevanten Aspekte zusammenfallen, als im Falle einer Aufteilung der Instanzen, bei welcher der einen die Beurteilung bestimmter Fragen von Rechts wegen schlechthin verwehrt ist. IV. Kirchliche Kulturverantwortung und staatlicher Denkmalschutz Das gewichtigste Bedenken gegen eine Vermehrung der kirchlichen Befugnisse ist denn auch nicht religionsrechtlicher Art, sondern beruft sich auf den kulturstaatlichen Verfassungsauftrag 40 . Diesem Auftrag, so wird Stellung der Kirchen insoweit jedenfalls nicht für verfassungsrechtlich geboten halten; zum letzteren Standpunkt vgl. Albrecht (Fn. 4), S. 216, sowie Heckel (Fn. 4), S. 185. 36 Vgl. oben bei Fn. 10. 37 Zum Selbstverständnis kirchlicher Denkmalpflege und zur Komplexität der Bezüge insoweit etwa Ronig (Fn. 7), S. 382f.; vgl. auch Bach (Fn. 12), S. 372f. se Eindringlich Heckel (Fn. 4), S. 130 ff. 39 Vgl. zur Parallelität staatlicher und kirchlicher Tendenzen - bis in die Fehlentwicklungen hinein, aber auch bei den Bemühungen, ihnen entgegenzuwirken - Ronig (Fn. 7), S. 381 f.; vgl. auch Bach (Fn. 12), S. 378f. 40 Grundlegend zur Problematik Heckel (Fn. 4); vgl. auch Albrecht (Fn. 4), S. 205f. m.w.N.; Maurer (Fn. 3), S. 83; allgemein Ernst Rudolf Huber, Zur Problematik des
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geltend gemacht, dürfe sich der Staat nicht dadurch entziehen, daß er die Denkmalpflege über das verfassungsrechtlich gebotene Maß hinaus den Kirchen auch dort überantworte, wo es nicht um liturgische, sakrale Fragen gehe 41 . Damit w i r d eine Aufgabenstellung in den Mittelpunkt gerückt, deren Rang nach den Dezimierungen des Krieges, aber auch stürmischer Wiederaufbau- und Modernisierungsaktivitäten 42 nicht weiter zu diskutieren ist. Infolgedessen setzen Zweifel an der Schlüssigkeit des Arguments auch nicht bei der Verantwortung des Staates an sich an. Wie immer man sie im einzelnen ableiten w i l l - jedenfalls, soweit eine ausdrückliche Verfassungsaussage fehlt - , so besteht doch Einigkeit darüber, daß dem Staat die Bewahrung des kulturellen Erbes obliegt und daß darin auch der Schutz der vorhandenen Kulturdenkmäler einbegriffen ist 4 3 . Nur - so lautet der Einwand - bedeutet dies nicht, daß solch weitreichende staatliche Verantwortung jede eigenständige Betätigung anderer Kräfte ausschließt oder unterschiedslos unter eine umfassende Kontrolle zwingt, noch daß auf sie grundsätzlich verzichtet wird, wo sie Spielräume läßt. Generell, schon im Hinblick auf den privaten Verfügungsberechtigten, kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Staat, mag man seine Verpflichtung auch noch so strikt formulieren, alle Vorkehrungen auf diesem Gebiete selbst zu treffen, alle Leistungen selbst zu erbringen hätte. Eine derartige Vorstellung ließe mit der grundrechtlichen Eigentumsordnung und der in ihr angelegten Sozialbindung elementare Gegebenheiten unbeachtet 44 . Entsprechend besteht, sieht man vom eigenen Kulturbesitz des Staates ab, das Problem ohnehin stets darin, ein gesetzliches und administratives Lenkungs-, Überwachungs-, Förderungs- und Durchsetzungsinstrumentarium mit Bezug auf fremde Dispositionen zu schaffen und ihm eine hinreichende, aber nicht überzogene Dichte zu geben. Erst recht muß dann, wenn die unmittelbare Verantwortung für den Denkmalschutz bei einem nach Verläßlichkeit und Vermögen 45 so exzeptionellen Träger wie den Kirchen liegt, die Prüfung legitim sein, welche Intensität die staatliche Einwirkung und Kontrolle ihnen gegenüber vernünftigerweise aufweisen sollte. Kulturstaats, Tübingen 1958; Peter Haberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982. 41 In diese Richtung deuten insbes. die Bedenken von Eberl (Fn. 18), S. 456; vgl. auch Hans Dörge, Das Recht der Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 1971, S. 99ff.; weitaus zurückhaltender Heckel (Fn. 4), S. 146, sowie unter Berufimg auf ihn Bernhard Keihl, Das staatliche Recht der res sacrae, Köln/Berlin/Bonn/München 1977, S. 179 Anm. 122. 42 Auf beides weist Heckel (Fn. 4), S. 1, hin; vgl. auch aus praktischer Sicht Ronig (Fn. 7), S. 381 f. („Bauhausgesinnung u). 43 Vgl. die Nachweise Fn. 40. 44 Hieran knüpft auch für den kirchlichen Bereich, und zwar auch für die res sacrae, Albrecht (Fn. 4), S. 215, an; dagegen zu Recht Maurer (Fn. 3), S. 85 f. 45 Zur Organisation kirchlicher Denkmalpflege im Überblick Ronig (Fn. 7), S. 388f.
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Damit ist der Punkt erreicht, an dem die historische Entwicklung und der heutige Stellenwert kirchlicher Kulturpflege voll in Ansatz zu bringen sind. Es wird dann erkennbar, daß ängstliche Bevormundung und bürokratische Beengung in diesem Zusammenhang fehl am Platze sind. Der Staat, der durch Erfahrung von langer Hand, auf einer geschichtlichen Grundlage, die weit über seinen eigenen Bestand zurückreicht, der Möglichkeiten der Kirchen und des Einsatzes dieser Möglichkeiten gewiß sein darf 4 6 , vernachlässigt nicht seinen Auftrag, wenn er der kirchlichen Kulturverantwortung auf ihrem Feld den Vortritt läßt. Er erfüllt diesen Auftrag im Gegenteil besonders wirkungsvoll, weil er Fachkunde und Energien in dessen Dienst stellt, die seine eigenen Mittel ergänzen und in der spezifischen Nähe zum Gegenstand vielfach übersteigen 47 . In einem solchen Vorgehen liegt kein unzulässiger Verzicht auf verfassungsverankerte staatliche Kompetenzen - zumindest solange sich die Regelungen zur kirchlichen Denkmalpflege im herkömmlichen Rahmen bewegen. Das gilt etwa für die im baden-württembergischen und rheinland-pfälzischen Modell vorgesehenen Alternativen, durch kirchliche Vorschriften und Einrichtungen nach einem einmaligen Prüfungs- und Mitwirkungsakt die staatliche Ingerenz ganz oder doch weitgehend abzulösen. Denn das gewachsene staatlich-kirchliche Vertrauensverhältnis zwingt auch gemessen am Verfassungsauftrag nicht zu einer fortlaufenden Überwachung 48 . Es genügt, wenn für den Eventualfall einer tatsächlichen schweren Störung als letzter Ausweg eine Revidierung der Gesetzeslage offen bleibt 4 9 . Aus dem gleichen Grund sind aber auch die älteren kirchenvertraglichen Lösungen bedenkenfrei. Zwar stellen sie, von gewissen Informationspflichten bei einschneidenden Maßnahmen abgesehen, den Denkmalschutz im kirchlichen Bereich insgesamt und auf Dauer in die Entscheidung der Kirchen 5 0 . Doch sind auch insoweit die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen gewahrt. Sollten nämlich - ein bislang theoretischer Fall - die Kirchen tatsächlich die übernommenen Erhaltungspflichten tiefgreifend verletzen, so stünde die vertragliche Bindung einem Einschreiten des Staates nicht im Wege 51 . Eine derartige Freistellung vom staatlichen Denkmalschutzrecht läßt sich endlich nicht dazu benutzen, aus Gleichheitsgründen entsprechende Hand46 Nachdrücklich - im Hinblick auf die beiden großen Kirchen - hierzu Heckel (Fn. 4), S. 212; Albrecht (Fn. 4), S. 216; Winfried Schulz (Fn. 33), S. 361; vgl. auch Hollerbach (Fn. 12), S. 915. 47 Aus diesem Gesichtspunkt insbesondere legitimiert sich auch die finanzielle Subventionierung kirchlicher Denkmalpflege durch den Staat. 48 So im Ergebnis offenbar auch Maurer (Fn. 3), S. 92. 49 Skeptisch Heckel (Fn. 4), S. 168 f. 50 Vgl. oben bei Fn. 16. 51 So auch Maurer (Fn. 3), S. 88, 92; anders - „Verzicht des Staates auf die Wahrnehmung von Kulturverantwortung" - Albrecht (Fn. 4), S. 217; Bedenken auch bei Heckel (Fn. 4), S. 164f.
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habungen für andere Einrichtungen und gesellschaftliche Gruppen zu verlangen 52 . Die gewachsene kulturelle Rolle der Kirchen, die institutionalisierte Stabilität ihres Selbstverständnisses und ihre Möglichkeiten zur Realisierung von Verantwortung bieten für eine Egalisierung keine Basis. Für den Bereich der res sacrae folgt ihre Sonderstellung bereits daraus, daß sie allein zur kompetenten Zusammenschau der allgemeinen - künstlerischen, geschichtlichen, wissenschaftlichen - und ihrer eigenen - religiösen Belange imstande sind 53 . Aber auch für die übrigen Kulturdenkmäler, über die sie verfügen, schließt ihre prägende, wirkmächtige Position eine Gleichstellung mit den partikularen Kräften der gesellschaftlichen Sphäre aus 54 . Andererseits werden hier Grenzen, Differenzierungsnotwendigkeiten innerhalb des kirchlichen Spektrums selbst sichtbar. Denn wenn eine Exemtion auf der geschichtlich fundierten kulturellen Kompetenz, Effektivität und Stabilität kirchlicher Verantwortungswahrnehmung beruht, so ist sie nur gerechtfertigt, wo diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen 55 . Demgemäß kann sie nicht unbesehen jeder Religionsgemeinschaft ohne Rücksicht auf Provenienz, Erfahrungshorizont, institutionelle Verfestigung und Gewicht zuerkannt werden. Wie sonst auch schließt auf diesem Gebiet Gleichbehandlung eine sachgerechte Abstufung nicht aus 56 . Nicht allein in dieser speziellen Frage bleibt den staatlichen Organen ein breites Gestaltungsermessen. Jedoch zeigt der Vergleich der verschiedenen Phasen, die die Problemlösung durchlaufen hat, daß die neueren Denkmalschutzgesetze der Länder dieses Ermessen allenfalls partiell ausschöpfen. Demgegenüber ist wiederum auf Paul Mikat zu verweisen, der hervorgehoben hat, daß das „verfassungsrechtlich zwingend ,Gebotene4" keineswegs schon zugleich das „Angemessene" sein muß 57 . Der Blickverengung, die sich ergibt, wenn beide Kategorien gleichgesetzt werden, kann nicht zuletzt eine Betrachtung der historischen Entwicklung und ihrer Ergebnisse entgegenwirken. Doch folgen daraus nicht allein Erwartungen gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber den Kirchen, die die gewachsenen Spielräume, wo sie staatlich respektiert werden, auch nutzen müssen 58 . 52 Auch unter Gleichheitsaspekten hält dagegen Eberl (Fn. 18), S. 456, die rheinland-pfälzische Regelung für bedenklich. 53 Zu diesem Gesichtspunkt Maurer (Fn. 3), S. 92. 54 Vgl. zur Problematik eines Vergleichs Ulrich Scheuner, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche 1, Münster 1969, S. 68ff.; ders., Wandlungen im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, hrsg. von Joseph Listi, Berlin 1973, S. 237, 257; ein Beispiel genereller Gleichsetzung bietet Dörge (Fn. 41), S. 101. ss Vgl. Albrecht (Fn. 4), S. 216 f. 56 Eingehend hierzu Heckel (Fn. 4), S. 210ff. m.w.N. 57 Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen (Fn. 1), S. 305. 58 Vgl. die kritische Bemerkung dazu, daß die Kirchen von der im Baden-Württembergischen Modell gebotenen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht haben, bei Maurer (Fn. 3), S. 92; zur Grundsatzfrage auch Hollerbach (Fn. 12), S. 919.
Die Proteste Chigis und der päpstliche Protest gegen den Westfälischen Frieden (1648/50) Vier Kapitel über das Breve „Zelo domus Dei" Von Konrad Repgen I. Für das Breve Zelo domus Dei läßt sich schlecht ein einzelnes Datum angeben. Das ist geschichtlich begründet; denn das Breve hängt mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zusammen, und mit diesem steht es ähnlich. Die Unterzeichnung der Friedensverträge am 24. Oktober 1648 bewirkte zwar, daß die Kampfhandlungen eingestellt wurden. Aber die weitere Ausführung der Vereinbarungen zog sich hin. Es ging dabei um Restitution in rund 140 kleinen und großen Einzelfällen, und es ging besonders um die Abdankung der Truppen und deren Abzug aus fast 200 Standorten in fremden Territorien. Das ließ sich keineswegs unmittelbar nach der am 18. Februar 1649 mit Verzögerung von zwei Monaten erfolgten Ratifizierung der Friedensverträge verwirklichen. So kam es zum Nürnberger Exekutionstag. Erst dessen Vereinbarungen - vom 26. Juni 1650 mit Schweden und vom 2. Juli 1650 mit Frankreich - haben den Krieg „politisch" beendet1. Mit Rücksicht auf diese Umstände ist der rechtliche Einspruch des Papstes gegen das Reichsreligionsrecht von 1648 und gegen einige andere, ohne päpstliche Zustimmung erfolgte Regelungen des Friedens erst im August / September 1650 veröffentlicht worden. Es ist das berühmte Breve Zelo domus Dei 2. 1 Darüber demnächst meine Schülerin Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649 - 1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland. Münster: Aschendorff [ca. 1989]. Text des Friedens-Executions-Haupt-Rezesses (mit Schweden): Johann Gottfried von Meiern, Acta pacis executionis publica. II. Leipzig / Göttingen 1737, S. 356 - 370; Kaiserliches Patent dazu, 27. Juni 1650, „ i n welchem alle Attentata, Disputationes, Protestationes, Contradictiones und Predigten wider den Frieden-Schluß und desselben Execution verboten werden": ebd., S. 436 f.; „Executions-Recess mit der Crone Franckreich errichtet": ebd., S. 415 - 417. 2 Ein kritischer Druck fehlt: vgl. Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste. XIV / 1. Freiburg / Br. 1929, S. 99 Anm. 7. Am schnellsten zu finden in: Bullarium diplomatum et privilegiorum sanctorum Romanorum pontificum Taurinensis editio. XV. Turin 1868, S. 603 - 608 (mit Datum 20. [!] November 1648). Ich zitiere nach dem am 20. August 1650 an Chigi übersandten Druckexemplar der Druckerei der Apostolischen Kammer (Chig. lat. A I I 45 fol. 127). Das Brevensekretariat hat die Urkunde, lei-
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Diese D e k l a r a t i o n zu erlassen ist A n f a n g M ä r z 1649 i n R o m entschieden worden. Sie sollte zunächst sogar i n feierlicherer F o r m , als B u l l e , u n d n i c h t n u r als Breve, erfolgen 3 . M i t der P u b l i k a t i o n der U r k u n d e h a t m a n bis z u m Abschluß der N ü r n b e r g e r Verträge über die Friedensexekution gewartet. Sie ist a m 20. A u g u s t 1650 den N u n t i e n zur w e i t e r e n B e k a n n t m a c h u n g i m j e w e i l i g e n N u n t i a t u r b e z i r k übersandt worden, u n d z w a r als gedruckter T e x t 4 . Dieser w a r v o n den Typographia
Reuerendae
Camerae
Apostolicae
hergestellt w o r d e n u n d t r u g den D r u c k v e r m e r k „ M . D C . L . " . D i e N u n t i e n haben v o n dem römischen D r u c k n a c h Bedarf, w i e ü b l i c h , a m t l i c h e N a c h drucke veranstaltet, der Wiener N u n t i u s a m 7. September 1650 d u r c h den H o f b u c h d r u c k e r Cosmerovius 5 . der ohne Vorakten, in Secr. Brevium 1120 fol. 9/13 registriert. Das Rubrum (fol. 13) lautet dort: „Declaratio nullitatis articulorum nuperae pacis Germaniae religioni catholicae, Sedi Apostolicae, ecclesiis et aliis locis piis quibuscumque necnon personis et iuribus ecclesiasticis quomodolibet praeiudicialium cum eorum annullatione, quatenus opus sit, cum clausulis et derogationibus amplissimis". Der Dorsal vermerk (fol. 13'): „Declaratio circa nuperam pacem Germaniae". 3 Vgl. unten, Anhang 2. 4 Panziroli an die Nuntien, lettera circolare, Rom 1650 V I I I 20. Text (nach dem Chigi zugegangenen Exemplar) in Gisbert Brom, Archivalië in Italia. III. Rome. Overige bibliotheken en archieven. 's-Gravenhage 1914 (= RGP, k.s. 14), S. 462 f. Die Eingangsbestätigung des Wiener Nuntius vom 10. September, lettera, in NGerm. 148 fol. 318/318'; Chigis Eingangsbestätigung, vom gleichen Tage, lettera, in NPaci 26 fol. 182. Daß die Publikation auch in Rom erfolgt ist, ergibt sich aus Ugolino (Agent Chigis) an Chigi, lettera, Rom 1650 IX 30, eighd. (Chig. lat. A I I I 61 fol. 506): „N.S. ha publicato l'annessa protesta contro la pace di Germania, et in comprobatione della sua protesta, siché si è stata trasmetta da palazzo; ma lo mando ex abundante, acciò possa participarli ad altri". 5 Ein solches Exemplar, aber sicherlich ohne Meierns sinnstörende Druckfehler, war offenbar die Vorlage für Meiern (Fn. 1), S. 781 - 784. Das Kolophon bei ihm lautet: „Romae ex Typographia Reverendae Camerae Apostolicae MDCL. Et denuo Viennae Austriae ex Typis Matthaei Cosmerovii, in aula Coloniensi, de Mandato Illustrissimi et Reverendissimi Domini, D. Camilli Mettii Archi-Episcopi Capuae, Apud Sacram Caesaream Majestatem Nuncii Apostolici, die 7. Septembr. 1650". Nach Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. 2 Wiesbaden 1982 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen), S. 490, war Cosmerovius von 1640 - 1674 in Wien tätig, zunächst als Universitäts- und seit dem 27. November 1649 als Hofbuchdrucker. Er druckte aber auch vorher schon „Amtliches", z. B. 1648 eine (kaiserliche) Übersetzung der Westfälischen Friedensverträge ins Deutsche. Daß es sich um eine offizielle Ausgabe handelt (oder handeln sollte), ergibt sich aus dem Bildschmuck des Titelblattes: Reichsadler und Kaiserwappen, umgeben vom Goldenen Vließ. Vgl. die Exemplare in BSB München, Res. 4° Eur 404 (21 und 22). Frau Oschmann (Fn. 1) hat mir aus ihren Archivrecherchen berichtet, daß der Kaiser seinem Nürnberger Vertreter Krane am 2. November 1650 mitgeteilt habe, daß der Drucker für den [weiteren ?] Nachdruck „angesehen" worden sei; Krane habe am 10. November erwidert, in Nürnberg gehe das Gerücht, daß Cosmerovius 2000 Taler Strafe habe zahlen müssen; von einer Bestrafung des Cosmerovius hörte auch der braunschweigisch-wolfenbüttelische Vertreter in Nürnberg (1650 X I 23 / XII3). Ähnlich, ohne Quellenangabe, noch bei George Phillips, Kirchenrecht. III. Regensburg 1848 (Nachdruck: Graz 1957), S. 477 (Verbot des Nachdrucks, Gefängnis und schwere Geldstrafe). Pastor (Fn. 2) nur: „Kaiser Ferdinand III. untersagte dessen [des Breve] Verbreitung", mit irreführender Berufung auf Johann Gottfried von Meiern, Acta pacis Westphalicae publica. VI. Hannover 1736, S. 794 (richtig wäre: Meiern [Fn. 1],
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Die päpstliche Deklaration war, um einen engen Sachbezug zum Unterzeichnungstermin des Westfälischen Friedens herzustellen, auf den 26. November 1648 zurückdatiert worden. Diese Datierung ließ, zusammen mit dem gedruckten Publikationsjahr „1650" offen, ob die Publikation vor oder nach den Nürnberger Rezessen erfolgt sei. Daß dies rechtstechnisch nachteilig sein könne, bemerkte der ebenso kundige wie wachsame Kölner Nuntius Fabio Chigi, der als Mediator des Universalfriedens fünf Jahre in Münster gewirkt hatte und nunmehr in Aachen residierte. Offenbar seiner Anregung 6 folgend wurde daher Zelo domus Dei am 3. Januar 1651 in Rom erneut publiziert 7 . S. 780 f.); die grundlegende Abhandlung von Hans-Jürgen Becker, Protestatio. Protest. Funktion und Funktionswandel eines rechtlichen Instruments, in: ZHF 5 (1978), S. 385-412, spricht S. 406 Anm. 2 ohne Beleg von einem kaiserlichen Verbot des Breve Zelo domus Dei. Ob es ein derartiges spezielles Verbot gegeben hat, ist unsicher. Pastor (Fn. 2), S. 101 weist zutreffend darauf hin, daß nach der venetianischen Finalrelation der Kaiser das Breve non malvolentieri entgegengenommen habe. So auch Nuntius Melzi, Wien 1650 I X 10 (Fn. 4): „mi è parso bene i l presentarne per me stesso a dirittura una copia [del breve] a S. M.tà Ces.a, rappresentandoli con suavità, come ho fatto più volte, le giuste cagioni, che muovono S.S.tà a far simili dicharationi, et anco insinuandoli, con destrezza, i l benefitio che un'altro giorno essi, ο l i suoi successori si possono promettere da simili diligenze di S.B.ne. L'Imperatore capisce i l tutto, e lo riceve in buona parte, si scusa alquanto per la necessità, in che si è trovato, accenna che ha ricevuto poco assistenza dagli altri, e conclude, che dal canto suo egli è prontissimo a mantenere, e propugnare la religione cattolica, per quanto ci può. Ho giudicato meglio che S.M.ta havèsse da me, prima che da altri, la notitia di detto breve, che deve passare per le mani di molti". Melzi berichtet in den kommenden Wochen und Monaten weder dem Staatssekretariat (NGerm. 145 und 148) noch dem Nuntius Chigi (Chig. lat. A I I I 68) etwas von kaiserlichen Maßnahmen gegen den Drucker oder die Verbreitung des Breve; auch im Briefwechsel Chigis mit dem Staatssekretariat gibt es dafür kein Indiz. Melzi an Chigi, lettera, Wien 1650 I X 19, eighd. (Chig. lat. A I I I 68 fol. 388 / 389) hatte angekündigt: „Seguiterò a distribuirne le stampe per tutta questa nuntiatura". 6 Chigi an Panziroli, lettera, Aachen 1650 X 1 (NPaci 26 fol. 200 / 200') übersendet (zugleich in Beantwortung einer römischen Anfrage vom 10. September: vgl. Fn. 34) eine lateinische Übersetzung des Rezesses vom 26. Juni und eine italienische des kaiserlichen Patents vom 27. Juni (vgl. Fn. 1. Die übersandten Exemplare liegen NPaci 26 fol. 201 / 208 und 209 / 210) und meint dazu: „sopra essi cade solo i l far riflessione, se convenga con qualche decreto posteriore ad essi replicare i l breve sopradetto" [Zelo domus Dei] „ d i N.S., i l quale ha la data anteriore, a finché che rimanga posteriore, e renda invalide, e dannate le risolutioni di detto recesso, e editto, prese da S.M.tà Ces.a, e da quei prencipi cattolici particolarmente, che co' predetti atti" [Rezeß und Patent] „sono trascorsi ad annullare stipulatamente tutte le protestationi fatte contro i danni della religione cattolica" [Chigis Proteste 1648/49]. Das Staatssekretariat (Astalli an Chigi), lettera, Rom, 1650 X 22 (Chig. lat. A I I 45 fol. 174) bestätigte den Eingang der Texte und kündigte an: „intorno al motivo, che possa dar di nuove proteste, ο dichiarationi i l recesso ultimo, e solenne di Norimberga, e l'editto Imperiale, considerato che sia maturamente i l tenore dell'uno, e dell'altro, si prenderà la deliberatione che più si stimi opportuna, e parteciperà parimente a lei ciò, che convenga per la notitia". Eine Information Chigis ist nicht erfolgt. Er ist über eine Publikation vom 3. Januar 1651 (vgl. Fn. 7) nicht informiert worden. 7 Ein Exemplar des Neudrucks vom 3. Januar 1651 liegt mir nicht vor. Seine Existenz erschließe ich aus der Datierung im Nachdruck bei Hermann Conring, Animadversio in bullam Innocentii X papae (1657), erneut in ders., Opera omnia ed. Johann Wilhelm Göbel. II. Braunschweig 1730 (Nachdruck: Aalen 1970), S. 563 - 565, hier 4
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M i t einer zweiten, e i n d e u t i g n a c h Abschluß der N ü r n b e r g e r Rezesse erfolgten P u b l i k a t i o n sicherte der Papst sich „prozessual" das letzte W o r t . P o l i t i s c h bedeutete dies wenig, u m n i c h t zu sagen nichts, r e c h t l i c h aber viel, i n gewisser H i n s i c h t alles: denn die p ä p s t l i c h e n Proteste gegen den Westfälischen Frieden standen der F o r m w i e der Sache n a c h i n K o n k u r r e n z zu den b e k a n n t e n A n t i p r o t e s t k l a u s e l n der Friedensverträge, die a m 26. J u n i 1650 i n N ü r n b e r g w i e d e r h o l t w o r d e n w a r e n u n d an die das kaiserliche Patent v o m 27. J u n i erinnert h a t t e 8 . Wer b e i einer solchen S i t u a t i o n die eigene Rechtsposition als letzter m a r k i e r t e , brauchte den eventuellen E i n w a n d einer i r g e n d w i e z u v e r m u t e n d e n stillschweigenden Z u s t i m m u n g n i c h t zu befürchten. Das w a r i m A u g e n b l i c k n i c h t a k t u e l l , es mochte aber e i n m a l w i c h t i g w e r den, w e n n - b e i v i e l l e i c h t g r ü n d l i c h veränderter politischer Gesamtlage eine Reform der 1648 vereinbarten Religionsverfassung des Reiches, die b e k a n n t l i c h quer zu den theologischen G r u n d p o s i t i o n e n aller großen K o n fessionen stand u n d sich (wie der Religionsfriede v o n 1555) n u r als N o t r e c h t 9 S. 565. Der Abdruck bei Wilhelm Hyazinth Bougeant, Historie des dreyßigjährigen Krieges. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Eberhard Rambach. IV. Halle 1760, S. 585 - 590, behauptet, er sei nach einem Exemplar Romae impressum erfolgt, hat als Urkundendatierung den 26. November 1650 (!) und als Publikationstermin den 3. Januar 1651, weist jedoch auf andere, zirkulierende Exemplare mit dem Urkundendatum des 26. November 1648 hin. Bougeants Kombinationen über die Datierung und deren Gründe (ebd., S. 594 f.) sind rein spekulativ; seine lange Polemik gegen Zelo domus Dei ist für das Aufklärungsdenken interessant. Johann Adam von Ickstatt, De justa et efficaci summi pontificis protestatione contra pacem religiosam et Westphalicam, obligationem eiusdem intrinsecam et pactitiam inter compaciscentes haud infringente, in: ders., Opuscula Juridica Varii Argumenti. II. München, Ingolstadt 1769, Nr. 6 (= S. 320 - 369) hat im Abdruck des Breve (S. 362 - 368) die Datierung: „Romae ... die 16 [!] Novembris et solenniter ibidem publicatum 3. Januar i i 1651". 8 Vgl. Haupt-Rezeß (Fn. 1), S. 362, 363, 364. Zu Art. V § 1, X V I I § 3 IPO und § 113 IPM vgl. Fn. 15. 9 Darauf hat, überzeugend, vor allem Martin Heckel hingewiesen; vgl. zuletzt: Die Krise der Religions Verfassung des Reiches und die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Krieg und Politik 1618 - 1648. Europäische Probleme und Perspektiven. München 1988 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 8), S. 107 - 131, insbesondere These X X (S. 126 f.) sowie Diskussionsbericht (S. 321 f.: Heckel und Repgen). Daß die politisch-militärische „necessità" die argumentationsleitende Ausgangsposition der Hoftheologen in München und Wien sei, die seit 1646 die jeweiligen Osnabrücker Konzessionen gegenüber den protestantischen Religionsrechtsforderungen als moralisch zulässig erklärten, hat der Wiener Nuntius Melzi mehrfach deutlich betont. Vgl. etwa Melzi an Chigi, lettera, Wien 1647 X I I 4, eighd.: durch den Rücktritt Bayerns auf die kaiserliche Seite sei „cessata quella irreparabile necessità, che serviva per scudo a nostri theologi" (Chig. lat. A I I I 68 fol. 276); ders. an dens., lettera, Wien 1648 I 15, eighd., über ein Gespräch mit P. Quiroga OFMCap [Beichtvater der verstorbenen Kaiserin Maria Anna von Spanien] am 14. Januar: dieser sage „che non è impresa loro [teologi] i l decidere, se siamo i n caso di precisa necessità, se l'Imperatore può aiutarsi per altre strade, e se v i è speranza d'ottenere la pace a partiti avantaggiosi maggiormente per la religione cattolica; che ciò lasciano [i teologi] al Consiglio di Stato, e di Guerra, e che loro solo [è di] rispondere ex suppos t o " (Chig. lat. A I I I 68 fol. 284 / 284'). Ähnlich ders. an dens., lettera, Wien 1648 I I I 25, eighd.: „Quanto al spirituale è pur troppo vero che V.S.Ill.ma dice, et io pur troppo
Vier K a p i t e l über das Breve „Zelo domus D e i "
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legitimieren ließ, auf die Tagesordnung käme. Denn die Nullitäts-Erklärung Zelo domus Dei war nicht für unmittelbare Wirkung bestimmt, sondern für einen - möglicherweise oder wahrscheinlicherweise - irgendwo in der Zukunft zu vermutenden oder zu erwartenden Zeitpunkt. Daß die Realität der Religionsverfassung 1648 und 1650 nicht von den in sich - aber eben: nur in sich - schlüssigen Normen des katholischen Kirchenrechts bestimmt würde, an dem der Papst durch seinen Widerspruch, protestierend, festhalten zu wollen erklärte, das wußte jedermann, im Reich wie in Rom. „Vielleicht ist dieses Breve später einmal Ihnen oder ihren Nachfolgern nützlich", hatte der Wiener Nuntius Melzi dem Kaiser bei der Überreichung erklärt 1 0 ; und dieser hatte das keineswegs von sich gewiesen. Daß man vom Notrecht der Mitte des 17. Jahrhunderts nie mehr in den noch als „Normalrecht" betrachteten Zustand der mittelalterlichen Zuordnung von Kirche und Reich und Kirche und Staat zurückkehren werde, ahnte damals niemand. Daß die Aufklärung schon vor den Toren Europas stand, war den Zeitgenossen noch verborgen. II. Die Deklaration Zelo domus Dei folgt in ihrem Aufbau selbstverständlich den feststehenden Regeln des päpstlichen Urkundenwesens 11 . An ein relativ kurzes Protokoll schließt sich eine ausführliche Narratio an, die den Sachverhalt, den Gegenstand der Ungültigkeitserklärung, in der üblichen Sprachform eines Schachtelsatzes beschreibt. Er besagt: Die kaiserlichen Friedensverträge mit Schweden und Frankreich 12 enthalten eine Reihe von Artikeln mit sehr schweren Rechtsnachteilen (gravissima praeiudicia) für vierzehn namentlich aufgezählte kirchliche Rechtsbereiche resp. Rechtssubjekte 1 3 . In der zweiten, mit etenim angefügten Satzperiode, w i r d dies an zehn Punkten spezifiziert 14 . Der Punkt 8 lautet im vollen Text: Contra lo rimproverò a questi theologi moderni, ma essi si scusano al solito con l i presupposti, che l i sono fatti". Melzis eigene Meinung zu dieser Moraltheologie war skeptisch: „ I n somma è vero, che l i theologi de nostri tempi solvano ogni cosa, ma non sò poi, se salvino l'anima loro", beendete er diese Passage (Chig. lat. A I I I 68 fol. 294 / 294'). 10 Vgl. Fn. 5. 11 Vgl. Thomas Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit. Stuttgart 1986 (= Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen. 2). 12 Zelo domus Dei bezieht sich für das IPO, wie Chigi in seinem Protest vom 14. Oktober 1648 (dazu vgl. Fn. 19), auf den 6. August 1648, als der Friede durch Handschlag vereinbart worden war, während für das IPM das Unterzeichnungsdatum des 24. Oktober 1648 genannt wird. 13 Als Dativobjekt werden hintereinander aufgeführt: [1] „religio catholica", [2] „cultus divinus", [3] „Sedes Apostolica Romana", [4] „inferiores ecclesiae", [5] „ordo ecclesiasticus", [6] „iurisdictiones", [7] „authoritates", [8] „immunitates", [9] „exemtiones", [10] „privilegia", [11] „res", [12] „bona" und [13] „iura". 14 [1] „bona ecclesiastica ... haereticis ... addicuntur"; [2] „haereticis ... liberum haereseos exercitium permittitur et" [3] „locorum ... assignatio promittitur"; [4] „ipsique [haeretici] ad munia et officia aliasque dignitates et beneficia admittuntur" ; 40*
628 pacem
Konrad Repgen huiusmodi
vllumue
communia
vel specialia,
iuramenta
aut concordata
politica
allegari,
nulla
iura
audiri
canonica
decreta, religiosorum
cum Romanis pontificibus
siue ecclesiastica,
exceptiones
eius articulum
conciliorum decreta,
dispensationes,
vel admitti
vel
ciuilia,
ordinum
régulas,
vllaue alia statuta absolutiones
debere disponitur.
siue
aut
alias
Der kirchenrecht-
l i c h relevante I n h a l t der A n t i p r o t e s t k l a u s e l n des Westfälischen Friedens ist d a m i t k o r r e k t beschrieben 1 5 . D i e D i s p o s i t i o besteht aus d r e i langen Sätzen, deren erster sachlich z w e i Teile enthält. T e i l Z w e i l a u t e t i m K e r n : Decernimus tos articulos [3] inualida, viribusque
caeteraque
in dictis [instrumentis]
[4] iniqua,
[5] iniusta,
[6] damnata,
et declaramus
contenta
[1] nulla,
[7] reprobata,
et effectu vacua omnino fuisse, esse et perpetuo
praedic[2] irrita,
[8] inana,
[9]
fore. Aus diesen
n e u n Begriffen f ü r R e c h t s u n g ü l t i g k e i t w e r d e n drei Rechtsfolgen abgeleitet: [1] nemo ad illorum aliquod
ius acquisitum
[articulorum]
observantiam
fuisse nec esse minusve
atque [3] pro non extantibus
teneri acquiri
haberi debere (decernimus
neque [2] ex Ulis et competere
posse
et declaramus).
Teil
D r e i der D i s p o s i t i o n ergänzt die E r k l ä r u n g ü b e r R e c h t s u n g ü l t i g k e i t i n einer neuen Satzperiode d u r c h sieben verschiedene Begriffe: Et praefatos
[1] damnamus,
[2] reprobamus,
[3] irritamus,
articulos
[4] cassamus,
[5]
[5] „annatae ... et huiusmodi iura ac reservationes excluduntur"; [6] „confirmationes ... potestati seculari attribuuntur" ; [7] plures archiepiscopatus ... principibus haereticis ... sub dignitatis saecularis titulo conceduntur" ; [8] vgl. den Wortlaut im Text; [9] „numerus electorum ... sine nostro ... beneplacito augetur et disponitur"; [10] „alia multa ... praeiudicialia et damnosa decernuntur". Zu munium vgl. Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis. IV, Paris 1845, S. 580, mit einem Beleg für 1397: functio, munus, officium.. 15 Art. X V I I § 3 IPO lautet: „Contra hanc transactionem ullumve eius articulum aut clausulam nulla iura canonica vel civilia, communia vel specialia conciliorum decreta, privilegia, indulta, edicta, commissiones, inhibitiones, mandata, decreta, rescripta, litispendentiae, quocunque tempore latae sententiae, res iudicatae, capitulationes Caesareae et aliae, religiosorum ordinum regulae aut exemptiones, sive praeter i t i sive futuri temporis protestationes, contradictiones, appellationes, investiturae, transactiones, iuramenta, renunciationes, pacta seu dedititia seu alia, multo minus edictum anni millesimi sexcentesimi noni vel transactio Pragensis cum suis appendicibus aut concordata cum pontificibus aut interimistica anni millesimi quingentesimi quadragesimi octavi ullave alia statuta sive politica sive ecclesiastica, decreta, dispensationes, absolutiones vel ullae aliae quocunque nomine aut praetextu excogitari poterunt exceptiones unquam allegentur, audiantur aut admittantur, nec uspiam contra hanc transactionem in petitorio aut possessorio seu inhibitorio seu alii processus vel commissiones unquam decernantur" (Konrad Müller [Hrsg.], Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Bern 1949 [= Quellen zur Neueren Geschichte. 12 / 13], S. 75 f.). Dem entspricht § 113 IPM. Nur durch einen allgemeinen Hinweis (§47) ist in das IPM die Religionsverfassung des Art. V IPO übernommen, in dessen § 12 ebenfalls ein Antiprotest enthalten ist: „Transactio ... Passavii inita ..., p r o u t . . . Augustae Vindelicorum et post in ... imper i i comitiis universalibus confirmata fuit, ... rata habeatur sancteque et inviolabiter servetur. Quae vero ... in ea ... transactione ... statuta sunt, ea... observanda habebunt u r , . . . non attenta cuiusvis seu ecclesiastici seu politici intra vel extra imperium quocunque tempore interposita contradictione vel protestatione, quae omnes inanes et nihili vigore horum declarantur" (ebd., S. 25).
Vier K a p i t e l über das Breve „Zelo domus D e i "
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annullamus, [6] viribusque et effectu euacuamus et [7] contra ilia deque eorum nullitate coram Deo protestamur. Teil Vier schließlich zieht in einem erneut selbständig formulierten Satz das Fazit aus Zwei und Drei: Et quatenus opus sit , ilia [iura etc.] in integrum acpristinum statum [1] restituimus, [2] reponimus ac [3] plenarie reintegramus. Der Dispositio folgt ein ähnlich langer, umfangreicher Abschnitt mit den verschachtelten Sätzen der prozeßrechtlichen Formeln, die von den Juristen clausulae genannt wurden - in diesem Falle mehrere: eine clausula praeservativa, eine clausula sublata und eine derogatio contrariorum. Damit wurde die ständige künftige Geltungskraft von Zelo domus Dei angeordnet, und es wurden andere Zuständigkeiten sowie entgegenstehende frühere Bestimmungen aufgehoben. Zum Schluß war ein kurzes Mandat über die Möglichkeit und die Bedingungen beweiskräftiger Vervielfältigungen (transsumptorum fides) angehängt. Den Schluß bildet das Eschatokoll, in welchem die Formel sub annulo piscatoris den Charakter der Urkunde als Breve anzeigt. Da beide Abschnitte aus feststehenden Formularen übernommen sind, ist hier auf sie nicht weiter einzugehen. Hingegen ist auf den ersten Teil der Dispositio zurückzukommen. Weil in diesem Teil Eins nicht verfügt, sondern an eine frühere Erklärung erinnert wird, gehört er der Sache nach eigentlich nicht in den dispositiven Abschnitt, wohl aber sprachlich; denn er ist mit Teil Zwei zu einer einzigen Periode verbunden. Sie besteht aus einem Hauptsatz, der mit der Konjunktion attamen beginnt, und einem vorgeschobenen, durch die Konjunktion et quamvis eingeleiteten langen Nebensatz, dem Teil Eins. Hier bezieht die Urkunde sich darauf, daß der außerordentliche Nuntius für die Rheingegenden und Niederdeutschland, Fabio Chigi, Bischof von Nardo, bereits öffentlich im Namen des Papstes und des Hl. Stuhles bezeugt 16 habe (protestatus), daß Artikel, wie sie im narrativen Abschnitt beschrieben sind, [1] irriti , [2] nulli, [3] iniqui und [4] temere contracti seien und daß außerdem jede Übereinkunft (transactio) in kirchlichen Dingen ohne Ermächtigung (auctoritas) des Hl. Stuhles rechtens für nichtig anzusehen sei (protestatus ... iuris sit ... transactionem ... nullam nulliusque roboris et momenti exister e).
16 Auf den antiken Wortgebrauch, wonach protestavi ein stärkeres testari, ein feierlicheres Erklären bedeutet, hat eindringlich Becker (Fn. 5) hingewiesen. Er zeigt, daß der in der frühen Neuzeit, besonders im 17. Jahrhundert, zu beobachtende Wandel, indem protestali sich an contradicere annähert, die alte Bedeutung nicht ganz verdrängt hat. Es bleibt ein Element des Bezeugens in der protestatio (als Verneinung der Verbindlichkeit von Beschlüssen und Vereinbarungen) enthalten.
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Konrad Repgen
III. Zelo domus Dei ist ein normativer Text. Seine präzisen Formulierungen sind in jeder einzelnen Wendung und Wortwahl auf konkrete juristische Auslegungsmöglichkeiten bezogen. Zu einem vollen Verständnis dieser wichtigen Urkunde wäre es daher wünschenswert, zunächst die Bedeutung eines jeden der hier benutzten Rechtsbegriffe im einzelnen zu klären, um sodann die Bedeutung der päpstlichen Deklaration von 1650 im ganzen rechts- und politikgeschichtlich einordnen zu können. Daß diese juristische Seite des Problems von mir 1962/1965 bei der Untersuchung der ziemlich verwickelten weiteren Vorgeschichte von Zelo domus Dei (aus den Jahren 1521 bis 1644) weitgehend ausgespart worden war, ist verschiedentlich, und nicht zu Unrecht, bedauert worden 17 . Dieses Versäumnis kann natürlich hier nicht wettgemacht werden. An einem Einzelpunkt läßt sich aber zeigen, wie dabei vorzugehen wäre. Ich gehe dafür aus von der Bezugnahme des Breve auf die Nichtigkeitserklärungen Chigis beim Westfälischen Friedenskongreß. Betrachtet man die entsprechende, in ihrem wesentlichen Inhalt oben referierte Passage des Breve von 1650 über die Chigi-Proteste genauer, so fallen zunächst zwei Sachverhalte ins Auge. Das erste: Es w i r d von den Rechtsakten des Nuntius nur sehr unspezifiziert und allgemein gesprochen, indem man sagt, der Nuntius habe öffentlich (palam) protestiert, aber jeden genaueren Hinweis auf Ort, Zeit und Anlaß dieser Rechtsverwahrungen im unbestimmten läßt. Dahinter muß Absicht gestanden haben. Den römischen Autoren lagen, als Zelo domus Dei geschrieben wurde, die Notariatsinstrumente von mindestens drei, vermutlich fünf einschlägigen Chigi-Protesten vor: - vom 18. Mai 1648 gegen den münsterischen spanisch-niederländischen Frieden vom 30. Januar, der am 15. Mai beschworen worden war 1 8 ; (dieser Protest sollte streng geheim gehalten werden); - vom 14. Oktober 1648 gegen den kaiserlich-schwedischen Frieden von Osnabrück, der am 6. August 1648 durch Handschlag vereinbart worden war 1 9 ; 17 Vgl. Paul Mikat, Römische Kurie und Westfälischer Friede, in: ZRG, Kan. Abt. 85 (1968), S. 93 - 135, hier S. 96 Anm. 6; Ernst Pitz, in: Archivalische Zeitschrift 64 (1968), S. 210 - 213; Becker (Fn. 5), S. 404. 18 Ein gesiegeltes und unterzeichnetes Exemplar übersandte Chigi am 22. Mai 1648 dem Staatssekretariat; es liegt NPaci 24 fol. 297/297'. Druck (nach Chigis Privatregister-Kopie: Chig. lat. A112) in Brom (Fn. 4), S. 436 - 439. Zur Sache Jan J. Poelhekke, De vrede van Munster. 's-Gravenhage 1948, S. 508; Fritz Dickmann, Der Westfälische Friede. 5 Münster 1985, S. 457 f.; Helmut Lahrkamp, Die Friedensproteste des päpstlichen Nuntius Chigi, in: ders., Kleine Beiträge, in: ders. (Hrsg.), Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster. NF 5. Münster (1970), S. 281 - 287, hier S. 281 f. 19 Chigi hatte am 9. Oktober 1648 ein auf Veranlassung der Protestanten gedrucktes Exemplar des Vertrags vom 6. August dem Staatssekretariat übersandt, wie der
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- vom 26. Oktober 1648 gegen den kaiserlich-französischen und gegen den kaiserlich-schwedischen Frieden, die am 24. Oktober 1648 in Münster unterzeichnet worden waren 2 0 ; - vom 19. Februar 1649 gegen die Ratifikation der am 24. Oktober 1648 unterzeichneten Verträge vom 18. Februar 1649 in Münster im allgemeinen 2 1 ; - vom gleichen 19. Februar 1649 gegen die Ratifikation des kaiserlich-französischen Friedens wegen der konkordatsrechtlich problematischen Zessionsbestimmungen über das Elsaß und die lothringischen Bistümer Metz, Toul und Verdun 22 . Es wäre also eine erheblich präzisere Bezugnahme auf die Vorakte möglich gewesen. Sie zu vermeiden, war eine bewußte, eine politische, genauer gesagt: eine rechtspolitische Entscheidung, bei der man sich etwas gedacht haben dürfte. Zweitens fällt auf, daß Nuntius Chigi in Zelo domus Dei einen falschen, zumindest einen unvollständigen Titel trägt. Das Breve nennt ihn venerabilis frater Fabius , episcopus Neritonensis, noster et Sedis praefatae ad tractum Rheni et Inferioris Germaniae partes nuncius extraordinarius. In seiner Eigenschaft als Kölner Nuntius (ad tractum Rheni et Inferioris Germaniae partes) war Chigi aber nicht „außerordentlicher" Nuntius, sondern nuntius Ordinarius. Er wurde nuntius extraordinarius im Dezember 1643 durch die Vermerk im Privatregister (Chig. lat. A I 12 fol. 258) ausweist. Das übersandte Exemplar fehlt in NPaci 24, wo es eigentlich liegen müßte. Ein Exemplar des Notariatsinstruments übersandte Chigi am 16. Oktober 1648 dem Staatssekretariat. Es fehlt ebenfalls in NPaci 24, wo es eigentlich liegen müßte. Offenbar wurden beide Texte für die Kongregationsberatungen im Februar / März 1649 benutzt, die zu Zelo domus Dei hingeführt haben, und nicht mehr reponiert. Im Privatregister Chigis (Chig. lat. A I 12 fol. 292 / 295') ist der Text des Notariatsinstrumentes kopiert. Der neueste Druck (allein des Protestes, nicht des gesamten Instruments) bei Lahrkamp (Fn. 18), S. 283 f. 20 Ein Exemplar übersandte Chigi am 30. November 1648 dem Staatssekretariat. Es fehlt i n NPaci 24, wo es eigentlich liegen müßte. Offenbar wurde es ebenfalls für die Kongregationsberatungen im Februar / März 1649 benutzt, die zu Zelo domus Dei hingeführt haben, und nicht mehr reponiert. Das Privatregister Chigis (Chig. lat. A I 12) hat den Text fol. 303 / 309'. Der neueste Druck (allein des Protestes, nicht des gesamten Notariatsinstrumentes) bei Lahrkamp (Fn. 18), S. 284 ff.; Brom (Fn. 4), S. 448 f. hat den Protest-Text ebenfalls, aber mit einer falschen Signatur seiner Vorlage. 21 Ein gesiegeltes und unterzeichnetes Exemplar übersandte Chigi dem Staatssekretariat am 26. Februar 1649; es liegt NPaci 25 fol. 107 / 108'. Das Privatregister Chigis (Chig. lat. A I 13) hat den Text fol. 49 / 52'. Chigis Depesche vom 26. Februar war am 18. März in Rom. Die Kongregationsentscheidung zur Herausgabe der päpstlichen Deklaration Zelo domus Dei war Anfang März gefallen (vgl. unten, Anhang lb); wann der Text von Zelo domus Dei im Brevensekretariat konzipiert und geschrieben worden ist, ist unbekannt. 22 Ein gesiegeltes und unterzeichnetes Exemplar übersandte Chigi dem Staatssekretariat am 26. Februar 1649; es liegt NPaci 25 fol. 105 / 106. Das Privatregister Chigis (Chig. lat. A113) hat den Text fol. 52756. Über die Ankunft der Depesche vom 26. Februar und die römischen Kongregationsberatungen vgl. Fn. 21.
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K o n r a d Repgen
zusätzliche Abordnung an den Westfälischen Friedenskongreß 23 . Wie jeder Insider wußte, war die Position eines außerordentlichen Nuntius von der eines ordentlichen Nuntius unterschieden - kompetenzmäßig, protokollarisch, auch besoldungsmäßig 24 . Daß Chigi in Personalunion beide Ämter innehatte, war etwas Besonderes. In Urkunden firmierte er daher als S.mi D. N. et S. Sedis Apostolicae ad tractum Rheni aliasque Inferioris Germaniae partes, cum potestate legati de latere, Ordinarius necnon in conventu tractandae pacis universalis Monasterii Westphalorum extraordinarius nuntius Apostolicus et mediator 25. Ordentlicher Nuntius, außerordentlicher Nuntius und Vermittler - dies war ein gewiß komplizierter Titel. Aber das Hantieren mit umständlichen Formulierungen war den Konzipienten päpstlicher Urkunden nichts Fremdes; es gehörte zu ihrem täglichen Handwerk, war ihr ureigenes Metier, wie auch Zelo domus Dei - etwa mit seinem Hintereinander von insgesamt 19 verschiedenen Nichtigkeits-Begriffen - anschaulich demonstriert. Vereinfachung der Ausdrucksweise kann nicht der Grund für die eigenartige Titulatur Chigis gewesen sein. Er ist in anderer Richtung zu suchen: die merkwürdige Gestaltung der Amtsbezeichnung bewirkt, daß die Stichworte „Friedensvermittler" (mediator) und „Universalfrieden" (pax universalis) nicht auftauchen. Sie werden auch an keiner anderen Stelle unseres Breve erwähnt. Infolgedessen enthält Zelo domus Dei keinerlei Aussage über den päpstlichen Anteil am Zustandekommen des Universalfriedens-Kongresses und über die jahrelange päpstliche Vermittlung in diesen Verhandlungen. Bei den erwähnten Chigi-Protesten von 1648/49 war das ganz anders. Diese standen nicht nur politisch, sondern auch rechtlich in engstem Zusammenhang mit seiner vorhergehenden Tätigkeit als Friedensvermittler. Sie wendeten sich zwar gegen die religionspolitischen Konzessionen an die Protestanten, aber nicht, um diese zu verhindern. Dafür kamen sie auch viel zu spät; denn sie erfolgten erst am Ende des Kongresses. Auch für die öffentliche Vorbereitung dieser späteren Rechts vorbehalte, für seine Noten vom 25. November 26 und 24. Dezember 1647 26a , wählte Chigi einen Zeit23 Vgl. Konrad Repgen, Fabio Chigis Instruktion für den Westfälischen Friedenskongreß, in: RQS 48 (1953), S. 79 - 116, hier S. 85 - 89; Dickmann (Fn. 18), S. 456 f. 24 Vgl. Konrad Repgen, Die Finanzen des Nuntius Fabio Chigi, in: Erich Hassinger u. a. (Hrsg.), Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft. Festschrift Clemens Bauer. Berlin 1974, S. 229 - 280, hier S. 245 ff. 25 So der Titel in den Fn. 21 und 22 genannten Stücken. 26 Durch eine Reihe von irrtümlichen Zuordnungen bei Hans Fischer, Beiträge zur Kenntnis der Päpstlichen Politik während der Westphälischen Friedensverhandlungen (Juli 1647 bis Ende Januar 1648). Phil. Diss. Bern 1913, ist Chigis stufenweises Vorgehen im Winter 1647/48 nicht deutlich geworden, was sich in der ihm folgenden Literatur ausgewirkt hat. Der erste förmliche und schriftliche, aber nicht notariellurkundlich vollzogene Protest Chigis im Zusammenhang der westfälischen Friedensverhandlungen ist seine Note vom 4. November 1647 an Contarini, die das Konkordatsrechts der an Frankreich abzutretenden Gebiete betrifft. Kurz darauf hinge-
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punkt, als - kirchenrechtlich gesehen - ohnehin nicht mehr viel zu verlieren war, weil die wichtigsten Konzessionen der katholischen Prinzipalisten 26b längst zugesagt waren, auch wenn die Osnabrücker Verhandlungen in
wiesen ist schon in Konrad Repgen, Der päpstliche Protest gegen den Westfälischen Frieden und die Friedenspolitik Urbans VIII. (1956), Nachdruck in: ders., Von der Reformation bis zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte, hrsg. von Klaus Gotto / Hans Günter Hockerts. Paderborn u. a. 1988, S. 30 - 52, hier S. 31 Anm. 11. Ich werde darauf demnächst an anderer Stelle zurückkommen. Unabhängig davon sind die Noten vom November und Dezember 1647, in denen es um das Reichsreligionsrecht ging. Mit den Noten vom 25. November, die Dickmann (Fn. 18), S. 457 richtig als „warnende Schreiben" charakterisiert, wandte sich Chigi zum Teil an Adressaten eines fremden Nuntiaturbezirks: vgl. an Kaiser Ferdinand III, Trauttmansdorff und Kurfürst Maximilian von Bayern, Münster 1647 X I 2 5 (Privatregister-Kopie: Chig. lat. A I 11 fol. 408 / 408', 408' / 409, 409 / 410). Sie wurden daher über den zuständigen Nuntius geleitet, wobei Chigi die Funktion dieser Noten deutlich charakterisierte: „Io ho quà predicato" [gegen die kaiserlich und bayerisch beabsichtigten religionspolitischen Konzessionen in Osnabrück], „privatamente però, e senza impedire per altro le trattationi. Ma hora, havendo inteso ch'il sig. Volmar da una parte, e'I deputato Bavaro dall'altra per sedurre alcuni deputati Cattolici, si sono voluti valere del mio silentio per incolparne anco la S. Sede, come ho scritto ai plenipotentiarii Imperiali, e deputati de' Cattolici ad Osnabrug in contrario, così anco a S.A. in Monaco, et hora scrivo a S. M.tà Ces.a, et al sig. conte Trautmansdorff, inviando a V.S. Ill.ma le lettere a sigillo volante, e supplicandola a recapitarle, ο per la posta, ο altrui mano, ο accompagnate con sue, ο come altrimente parerà alla sua somma prudenza: perché sappiano tutti, ch'Eleazzaro non volse lassar credere ad altri di haver magnate le carni vietati, ch'in effetto non magnava" (Chigi an Melzi, Münster 1647 X I 29 [Chig. lat. A I 23 fol. 107 / 107': Privatregister-Kopie]). 26a Die zweite Note, vom 24. Dezember 1647, war an das Mainzer Direktorium gerichtet und für die Reichsakten bestimmt: „optamus praefatas nostras literas e protocollo frequenter ad eorum [deputatorum statuum] memoriam redigi insinuarique subinde eandem protestationem nos tram ab initio, in medio, ad finem quorumcumque actuum repetitam nos velie, nullo unquam tempore, occasione aut facto abrogandam: nempe ut ad Dei tribunal contra eius causae sive aggressores sive desertores regerenda vigens et constans perseveret" (Kopie, mit Chigi an Panziroli, Münster 1647 X I I 27, in NPaci 23 fol. 919 / 919'). Beigefügt war jetzt das im Mai 1646 übersandte, auf den 5. Oktober 1644 zurückdatierte Breve Apostolicum fastigium, das zur Entstehungsgeschichte des Protestplans Chigis gehört; dazu Konrad Repgen, Wartenberg, Chigi und Knöringen im Jahre 1645. Die Entstehung des Plans zum päpstlichen Protest gegen den Westfälischen Frieden als quellenkundliches und methodisches Problem, in: Rudolf Vierhaus / Manfred Botzenhart, Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965. Münster (1966), S. 213 - 268. Apostolicum fastigium ist zeitgenössisch und später oft gedruckt worden; vgl. etwa Meiern, Acta pacis Westphalicae publica. IV. Hannover 1735, S. 861 f.; Brom (Fn. 4), S. 388 f. Den Zweck der Note erklärte Chigi dem Wiener Nuntius am 27. Dezember so: „ A d Osnabrug danno canzone, e nondimeno i miseri cattolici sempre si rilassano più a costo della religione, e pure è pazzia offerire prezzo quando i l mercante non vuol vendere, e che ogni offerta tiene per obbligo in forma camere. Io sono stato a fare altre diligenze, e fino al protocollo Imperiale per convincer di falso un deputato, che voleva persuadere gli altri cattolici essere N.S. et io tacitamente assentienti a quei pregiuditii, per pervertire gli altri ad apostare" {Chig. lat. A I 23 fol. 110' / 111: PrivatregisterKopie). 26b Zu dieser Terminologie vgl. Fritz Wolff, Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Die Einfügung der konfessionellen Ständeverbindungen in die Reichs Verfassung. Münster 1966 (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte. 2), S. 51.
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diesem Punkte erst am 24. März 1648 definitiv abgeschlossen worden sind 27 . Nein, die Chigi-Proteste vom Oktober 1648 und Februar 1649 sollten urkundlich und für alle Zeiten rechtskräftig zunächst festhalten, daß der päpstliche Friedensvermittler nie für kirchenrechtlich unmögliche Positionen eingetreten sei und daß daher aus seiner Anwesenheit in Münster und seiner politischen Tätigkeit beim Kongreß keine auch nur stillschweigende Zustimmung zu solchen Positionen abgeleitet werden dürfe. Er habe sich im gesamten Verlauf der Verhandlungen, von Anfang bis Ende, stets gegen jederlei Präjudiz für Religion, Personen, Güter und Rechte der Kirche gewendet (cum adhibuerit, ut ... legati [Catholici] in pacts conditionibus ... nihil praeiudicii paterentur inferri sanctae religioni eiusque personis, bonis ac iuribus), wie es am 14. Oktober 1648 lautete 28 . Erst in diesem Zusammenhang kam er zu dem Schluß: nachdem nun verlautete, daß in Osnabrück Friedensbedingungen vereinbart worden seien, quae Dei honori atque ecclesiae, saluti animarum [et] Apostolicae Sedi grave damnum ac praeiudicium creent, tue er das, was er noch tun könne, nämlich: aperte et palam ... repugno, resisto et contradico atque ... protestor eos esse irritos, nullos, iniquos ac per non habentes potestatem temere contractos atque pro talibus ab omnibus habendos 29. Die gleichen Gedanken und Folgerungen, allerdings ausführlicher verklausuliert, enthält der Protest vom 26. Oktober, dessen genauere Interpretation aus Platzgründen hier ausgepart werden muß, und ähnlich verhält es sich auch mit dem ersten der beiden Proteste vom 19. Februar 30 . Chigis Proteste waren also - im Unterschied zu Zelo domus Dei - keine Sentenz, kein (aus Narratio und Dipositio bestehendes) Urteil über einige dem Sachverhalt „Westfälischer Frieden" zugrunde liegenden Tatbestände, keine declaratio über abstrakte Normen, sondern eine notarielle Erklärung über das Verhalten des Friedens Vermittlers, über seine Verhandlungsgrundsätze und Verhandlungsziele sowie über seine Verhandlungstechnik und über seine Distanzierung von einem Teil der Abmachungen. Deshalb dominiert in den Chigi-Protesten das Zeitgeschichtlich-Politische über das Juridische, während in der päpstlichen Deklaration von 1650 das Normative beschrieben und entschieden wird. Bei Chigi geht es um Praxis, die auf Prinzipiellem gründet, in Zelo domus Dei um dieses Prinzipielle selbst. Es handelt sich eben um unterschiedliche Textsorten, wie moderne Philologen sagen würden. Aber es handelte sich nicht nur um Unterschiede des literarischen Genus, sondern um einen Unterschied der durch diese Texte zu bewirkenden Sache. Dieser Unterschied muß den direkt Beteiligten bewußt gewe27
Meiern (Fn. 18), V, S. 562 - 578. » WieFn. 19. 29 Wie Fn. 19. 30 WieFn. 20 und 21. 2
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sen sein, was sich für Chigi nachweisen läßt. Dazu muß man jedoch eine kleine Geschichte erzählen, die aus zwei Teilen besteht und die Vorgeschichte sowie den Publikationstermin behandelt. Der Friedensvermittler Chigi, der die prinzipiell-theologische Seite ebenso beherrschte, wie er die praktisch-politischen Hintergründe der Protestproblematik sehr genau durchschaute, hat nämlich die römische Vorgeschichte des Breve Zelo domus Dei im Januar / Februar 1649 keineswegs als uneingeschränkte Bestätigung seiner bisherigen Politik interpretiert, und er hat den Publikationstermin im August / September 1650 für politisch verfehlt gehalten. IV. Die K r i t i k an dem Publikationstermin der päpstlichen Deklaration hat verständlicherweise - in seiner amtlichen Korrespondenz mit dem Staatssekretaritat die geringsten Spuren hinterlassen. Chigi wurde von dem Zirkularschreiben des 20. August 1650 31 überrascht - und danach war die Sache entschieden. Er selbst hatte, als das Breve von Rom aus verschickt wurde, in Aachen am selben 20. August eine andere Konzeption entwickelt: Er wollte der Nürnberger Kassation der bisherigen Proteste gegen den Westfälischen Frieden 32 mit einem eigenen neuen, dem vierten Protest begegnen, con formule di un buon notaro. So bat er um entsprechende Vollmacht und um eventuelle Übersendimg eines Textentwurfs. Als Publikationstermin käme ein späterer Zeitpunkt in Betracht, weil noch schwedische Truppen in fremden Territorien stünden und der Nuntius - irrig - der schwedischen Politik fortdauernde Kriegsabsichten in Deutschland unterstellte 33 . Diesem Vorschlag zu folgen sah das Staatssekretariat begreiflicherweise keine Notwendigkeit, stellte aber am 10. September dem Nuntius anheim, andere Vorschläge zu machen, falls ihm das zweckmäßig erscheine 34 . Dies hat Chigi am 1. Oktober mit der oben erwähnten Anregung einer erneuten römischen Publikation getan 35 . Erheblich deutlicher wurde er in dieser Sache gegenüber seinem römischen Freund Francesco Albizzi (1593 - 1684), der als Assessor des Hl. Offiz zu den einflußreichsten römischen Prälaten gehörte 36 . Ihm entwickelte er 31
Vgl. Fn. 4. Vgl. Fn. 8. 33 Chigi an Panziroli, lettera, Aachen 1650 V I I I 20 (NPaci 28 fol. 162 / 162'). 34 Panziroli an Chigi, lettera, Rom 1650 I X 10 (Brom [Fn. 4], S. 463). 3 5 Vgl. Fn. 6. 36 Vgl. Vlastimil Kybal / G. Incisa della Rocchetta, La nunziatura di Fabio Chigi (1640 - 1651). I / 1. Rom 1943 (= Miscellanea della R. Deputatazione Romana di storia patria), S. 16 f. Anm. 1 und Aimé Legrand / Lucien Ceyssens, La correspondance antijanséniste de Fabio Chigi, nonce à Cologne, plus tard pape Alexandre VII. Brüssel / Rom 1957 (= Bibliothèque de L'Institut Historique Belge de Rome. 8), S. 57 - 59. 32
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am 10. September, nach Eintreffen des Breve, präzis die politischen Gründe für seine Skepsis gegenüber den schwedischen wie den französischen Absichten 37 . Beide würden mit Truppen in Deutschland bleiben, könnten dadurch Druck auf die katholischen Reichsstände ausüben und diese zu einem erneuten Antiprotest bewegen. Große Sorge bereitete ihm die reichsrechtliche Anerkennung der Reformierten durch Art. V I I IPO, die vom Brevensekretär bei der Formulierung von Zelo domus Dei falsch beschrieben worden sei, indem er von „Augsburgischer Konfession" anstatt von „Kalvinisten" spreche 38 , so daß man ihm nun mangelhaftes Verständnis des Friedensvertrags vorwerfen könne, eine Panne, die sich keinesfalls wiederholen dürfe. Ähnlich kritisch hinsichtlich des Zeitpunktes war Chigi gegenüber dem Wiener Nuntius Camillo Melzi (1589 - 1659)39. „Ich hätte gewartet, bis die Schweden nach Hause zurückgekehrt sind, und gedacht, daß meine drei Proteste 40 ausreichten, zumal ich den vierten schon vorbereitete - aber Rom hat das Sagen", meinte er am 10. September 41 und kam am 15. Oktober noch einmal auf das gleiche Thema zurück 4 2 : „Ich hätte nicht nur vorgezogen, daß man die Publikation des Breve hinausgezögert hätte", schrieb Chigi, „sondern ich wollte selbst, nachdem der Friedensvertrag ausgeführt wäre, einen vierten Protest einlegen", den er hier als „letztes Kyrie" bezeichnet - eine von ihm gern gebrauchte Metapher, die sich auch in anderen Briefen findet 4 3 , jedoch: „,quae supra nobis nihil ad nos; nobis obsequii gloria relieta est'". Das Sich-Fügen und Gehorchen war für Chigi stets eine nicht nur dienstliche, sondern auch religiöse Selbstverständlichkeit. Dies hat er - bei aller internen K r i t i k am römischen Geschäftsgang und damit letztlich am Staatssekretär und am Papst selbst - auch im Februar / März 1649 unter-
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Zum folgenden vgl. unten, Anhang 2. Chigi meint die Stelle: „Haereticis Augustanae, vt vocant, confessionis liberum suae haereseos exercitium in plerisque locis permittitur" (vgl. Fn. 14 Punkt [2]). 39 Vgl. Kybal / Incisa (Fn. 36), S. 81 Anm. 1. 40 Chigi spricht - auch im übrigen Briefwechsel - stets von „drei" Protesten; er zählt den (geheim gehaltenen) Protest gegen den spanisch-niederländischen Frieden von 1648 (vgl. Fn. 18) nicht mit, ebenso nicht die Proteste von 1647 und 1649 gegen die Zessionsklauseln für das Elsaß und die lothringischen Stifte (vgl. Fn. 26 und 21). 41 Chigi an Melzi, Aachen, 1650 I X 10 (Chig. lat. A123 fol. 188 / 189: PrivatregisterKopie): „ . . . V.S.Ill.ma haverà veduto i l breve di N.S. contro l'infausta pace. Io haverei tardato, finché gli Svezzesi fossero tornati a casa, pensando che bastassero le tre mie proteste, e la quarta che stavo facendo; ma a Roma tocca i l comandare ...". Eine ähnliche Passage muß der (nicht erhaltene) Brief Chigis an Ugolino vom 10. September 1650 enthalten haben, wie sich aus Ugolino an Chigi, lettera, Rom 1650 X 1, eighd. (Chig. lat. A I I I 61 fol. 512 / 512') ergibt: „Deila protesta ella diceva ottimamente, che saria stata più opportuna la confermatione doppo i l totale passagio del Mare Baltico. Piaccia a Dio che tal preventione non riesca alcun'inconvenienza". 42 Chigi an Melzi, Aachen, 1650 X 15 (Chig. lat. A I 23 fol. 190' / 191': Privatregister-Kopie). 43 Für 1650 vgl. unten, Anhang 2. 38
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strichen, als die römische Entscheidimg fiel, den Chigi-Protesten eine päpstliche Deklaration folgen zu lassen. *
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Nach dem heutigen Stand der Forschung 44 - soweit man von einem solchen sprechen w i l l und nicht lieber „Kenntnis" oder „Wissensstand" sagt ist Zelo domus Dei als eine Bestätigung der Chigi-Proteste in eine Linie mit diesen zu rücken, sozusagen als eine logische, als die notwendige Konsequenz. Diese Interpretation steht bereits in dem Breve selbst 45 , und auch Zeitgenossen, die den Dingen relativ nahe standen, haben ähnlich gedacht 46 . Gegen diese Interpretation gibt es aber Bedenken: So unbezweifelbar die in der päpstlichen Deklaration formulierten Normen die gleichen Prinzipien waren, von denen Chigi sich leiten ließ und die für ihn unbedingte Geltung hatten, so wenig vermag eine solche, uneingeschränkte Identitäts- oder wenigstens Kontinuitätsthese alle Abschnitte der etwas verschlungenen römischen Vorgeschichte, die zur Entscheidung für Zelo domus Dei führte, zu erhellen. Die Aktenlage ist insofern schlecht, als über die interne Meinungs- und Willensbildung des Staatssekretariats unter Panziroli (1644 - 1651) für die Jahre nach 1646 kaum Zeugnisse vorhanden sind 4 7 . Die Umrisse lassen sich jedoch in unserem Falle rekonstruieren. Ausgehen müssen wir von der Laufzeit der Post. Sie benötigte bekanntlich für die Strecke Münster - Rom in aller Regel knapp drei Wochen 48 ; in sechs 44 Grundlegend ist die Darstellung bei Pastor (Fn. 2), S. 95 - 101. Seine Aussagen über Fakten sind übernommen bei Carl Conrad Eckhardt, The Papacy and World Affairs as reflected in the secularisation of politics. Chicago / 111. [1937], S. 140 - 158, der von anderen Werturteilen ausgeht; Georg Denzler, Die Propagandakongregation in Rom und die Kirche in Deutschland im ersten Jahrzehnt nach dem Westfälischen Frieden. Paderborn (1969),S. 165-172 (nicht in allem mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet; seine Polemik gegen mich [S. 166 Anm. 7] z. B. unberechtigt); Friedhelm Jürgensmeier, Johann Philipp von Schönborn (1605 - 1673) und die römische Kurie. Mainz 1977 (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte. 28),S. 130-134, dessen spekulative Verknüpfung der Entscheidung der Konsistorialkongregation über die Mainzer Konfirmationsgelder (am 22. März 1649) mit der Entscheidung der Staatskongregation über die Chigi-Proteste und die Anfertigung von Zelo domus Dei Ende Februar / Anfang März 1649 mich nicht überzeugt. 45 „Et quamvis ... Fabius ... in executionem mandatorum nostrorum fuerit palam ... protestatus ..., attamen qua efficacius ... consultum sit,... motu proprio ... decernimus ac declaramus". 46 So Ugolino am 3. September (vgl. Fn. 4), der aber am 1. Oktober Chigis Urteil vom 10. September übernimmt (vgl. Fn. 41), und Melzi am 19. September 1650 (vgl. Fn. 5): „Qui è arrivato i l breve di N.S., nel quale approva le proteste di V.S.Ill.ma, e tutte le nostre contradittioni contro questa pace". 47 Vgl. Ludwig Hammermayer, Grundlinien der Entwicklung des päpstlichen Staatssekretariates von Paul V. bis Innozenz X. (1605 bis 1655), in: RQS 55 (1960), S. 157 - 202, hier besonders S. 173, 179, 183. 48 Hammermayer (Fn. 47), S. 173 Anm. 44.
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Wochen konnte oder sollte man also Antwort haben. Chigis Protest vom 16. Oktober lag daher am 6. November in Rom vor 4 9 , sein Protest vom 26. Oktober am 19. November 50 . In der Eingangsbestätigung teilte daraufhin das Staatssekretariat am 7. November mit, der Papst billige Chigis Einspruch und Distanzierung (è piaciuto ... [la] contradittione, e [Ί] dissenso j51 und wiederholte chiffriert, es entspreche durchaus Chigis Amtsaufgaben (debito del suo ministero ), sich nunmehr der (weiteren) Vermittlung (zwischen Frankreich und dem Kaiser) zu enthalten und feierlich zu protestieren (far solenne protesta) 52. Nicht anders war die römische Reaktion am 21. November: Chigis Fernbleiben von den Unterzeichnungsfeierlichkeiten des 24. Oktober sei richtig gewesen (opportunamente) und die Wiederholung des Protestes entspreche Chigis schuldigem Eifer für die Sache Gottes - als ständiger Vorwurf gegen die Konzessionsbereitschaft der anderen und als authentische Kunde bitterer Klagen für die Nachwelt 53 . Die Chiffre vom gleichen Tag ist mit weniger rhetorischem Pathos abgefaßt, verwendet aber ebenfalls die Schlagworte diligenza und zelo und schließt: „Sie haben viel Lob verdient, und der Papst ist vollkommen mit Ihnen zufrieden" 54 . Die römische Post vom 7. November traf am 26. in Münster ein, die vom 21. November am 12. Dezember 55 . Inzwischen hatte Frankreich versucht, aus der päpstlichen Protest-Politik Kapital für die eigene Propaganda zu schlagen. Servien übersandte Chigi, mit dem er sonst mündlich verhandelte, am 6. Dezember ohne jede Vorankündigung eine förmliche Note (biglietto). Darin machte er - unter anderem - die Eingangsbestätigung des (ihm bereits am 9. November zugeleiteten Exemplars des) Protestes vom 26. Oktober von der Auskunft abhängig, ob der Nuntius in gleicher Weise auch gegen die religionspolitischen Konsequenzen des spanisch-niederländischen Januarfriedens Protest eingelegt, diesen auch Spanien notifiziert und wie dieses darauf reagiert habe. Im übrigen aber enthielt das offenbar auf Veröffentlichung hin konzipierte Stück eine groß angelegte Rechtfertigung der französischen Politik beim Westfälischen Frieden, gerade auch unter konfessionellem Aspekt, verbunden mit scharfen Angriffen auf die sträfliche Hintanstellung der Religionspolitik durch Spanien 56 . Lassen wir die interessante 49 Vgl. die Passage der begleitenden Chiffre vom 16. Oktober bei Pastor (Fn. 2), S. 99 Anm. 1. 50 Vgl. die Passage der begleitenden lettera vom 30. Oktober bei Pastor (Fn. 2), S. 96 Anm. 1. Das Eingangsdatum ergibt sich aus dem Dechiffrierungsdatum der Chiffre vom 30. Oktober (NPaci 22 fol. 295 / 295'). 51 Panziroli an Chigi, lettera , Rom 1648 X I 7 (Chig. lat. A I I 43 fol. 271). 52 Die entsprechende Passage bei Pastor (Fn. 2), S. 96 Anm. 2. 53 Panziroli an Chigi, lettera , Rom 1648 X I 21 (Text: Brom [Fn. 4], S. 449 f.). 54 Panziroli an Chigi, Rom 1648 X I 21 (Chig. lat. A I I 47 fol. 208': PrivatregisterKopie der Déchiffré). 55 Diarium Chigi 1639 - 1651 ed. Konrad Repgen. Münster (1984 = APW I I I C 1,1), S. 417 f.
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Frage, ob und in welchem Umfange die französische Diplomatie zu diesem Zeitpunkt von dem geheim gehaltenen Protest Chigis gegen den niederländisch-spanischen Frieden Kenntnis hatte, beiseite 56a . Chigi konnte das nicht wissen. Ob er nun davon ausging, die französische Seite sei informiert oder nicht: die vatikanische Politik war jetzt in eine schwierige Lage manövriert. Stritt sie die Existenz eines solchen Protestes ab, so wurde Chigis Vorgehen gegen die Oktoberverträge unglaubwürdig; bejahte sie die Existenz, so mußten für die Katholiken in den Niederlanden schlimme Folgen befürchtet werden - gerade deshalb wurde der Protest vom 18. Mai 1648 ja unter Verschluß gehalten. Dem Verhandlungsgeschick des Nuntius ist es am 7. Dezember in einem langen Vier-Augen-Gespräch zunächst gelungen, Frankreichs konkrete Fragestellung abzubiegen, die Note formell etwas zu entschärfen und eine Sprachregelung zu finden, welche den Vatikan der Notwendigkeit einer eindeutigen Stellungnahme enthob. Das Staatssekretariat begnügte sich auch bei Chigis Bericht über diesen Vorgang mit einer kurzen, im übrigen zustimmenden Eingangsbestätigung vom 2. Januar: „Der Papst billigt ihr Verhalten gegenüber dem französischen Diplomaten", und fügte den trivialen Satz hinzu: „Nicht jeder kann immer erhalten, was er möchte" 57 . Diese Depesche kam am 23. Januar in Münster an 5 8 . Bei Pastor ist zum Jahr 1649 - leider ohne genauere Datierung - aus einem handschriftlichen Diarium notiert, daß in Rom gegen Chigi der Vorwurf der Passivität erhoben worden sei. Er schreibt dazu: „Dieser Vorwurf war gänzlich unberechtigt" 59 . Dem ist als einer Feststellung über Tatsächliches kaum zu widersprechen. Aber auch ein sachlich unbegründeter Vorwurf kann politische Wirkung tun und der Reputation schaden, an der die Mitglieder der kleinen, überschaubaren Gruppe der vatikanischen Führungsschicht ein 56 Servien an Chigi, Münster o.D.u. Unterschrift [1648 X I I 6]: NPaci 24 fol. 748 / 750', Kopie, übersandt am 11. Dezember. Textauszug bei René Kerviler, Abel Servien, négociateur des traités de Westphalie. Le Mans 1877, S. 132 f. (nach Bibliothèque Nationale, fonds Dupuy 775). Dazu Chigi an Panziroli, foglio, Münster 1648 X I I 11 (NPaci 22 fol. 341 / 344) und ders. an dens., Münster 1648 X I I 1 1 dech. X I I 31 (ebd., fol. 330 / 332), auch zum folgenden. Der Vorwurf inakzeptabler Vernachlässigung der schuldigen Pflichten gegen Christenheit, Religion und Konfession durch Habsburg / Spanien ist alte französische Propagandatopik: vgl. Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 32), S. 59, 78 f. 56a Nach Penarandas Brief an den König vom 18. Mai 1648 war (außer ihm und Chigi) nur Brun informiert (Colección de Documentos Inéditos para la historia de Espana. 84. Madrid 1885, S. 226 f.); vgl. Eckhardt (Fn. 44), S. 110, mit Bezug auf Kerviler (Fn. 56). 57 Panziroli an Chigi, Rom 1649 I 2 (Chig. lat. A I I 47 fol. 210': Privatregister-Kopie der Déchiffré). 58 Diarium Chigi (Fn. 55), S. 423. 59 Pastor (Fn. 2), S. 96 Anm. 3.
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vitales Interesse haben mußten. Möglicherweise hat Chigi im Januar von solchen Gerüchten gehört. Das müßte seinen Zorn verstärkt haben, als Servien ihn am 1. Februar (zwei Tage zuvor war die römische Post vom 9. Januar eingetroffen) 60 sehr in die Enge trieb. Er habe seine Note vom 6. Dezember dem französischen Botschafter in Rom, marquis de FontenayMareuil, übermittelt. Dieser bedürfe der Argumente der Note zur Verteidigung der französischen Politik beim Westfälischen Frieden, und der Papst selbst habe angeblich eingeräumt, daß es einen Protest auch gegen den spanisch-niederländischen Frieden gebe, woraufhin der Botschafter sich bei vielen Kardinälen beschwert habe, daß Chigi das Faktum dieses Protestes dementiere 61 . Gegenüber Servien hat Chigi die Berechtigung seines Dementi lebhaft verteidigt und über den gesamten Vorgang, geschäftsmäßig referierend und sich jeder Bewertung enthaltend, am 5. Februar nach Rom berichtet, was dort am 26. Februar vorlag. Mit der gleichen Post aber schrieb er seinem Freunde Albizzi einen ausführlichen Brief und schüttete sein ganzes Herz dabei aus 62 ; denn er fühlte sich - nicht zu Unrecht - desavouiert. Da hatte er Woche um Woche, fünf Jahre hindurch, seine ausführlichen Berichte nach Rom geschickt, zuweilen bis zu 20 Seiten lang, hatte alle drohenden Gefahren schon im voraus genau aufgezeigt, Gegenmittel gefordert, erneut auf das Notwendige hingewiesen, alle Verhandlungsakten übersandt, seine Proteste formuliert, vollzogen und dem Staatssekretariat eingereicht - und von dort waren sie nicht einmal an die zuständige Behörde zur theologischen Begutachtung, an das Hl. Offiz, weitergeleitet worden. „Ich hätte mir Warnungen gewünscht, [römische] Entwürfe für meine Proteste (atti), spezielle Anweisungen, schließlich geht es hier um unser schwierigstes Traktandum ( negotio), um die Sache Gottes. Und was habe ich als Antwort bekommen? approbatione per le generali, con lodi di prevenire il tutto col mio avvedimento, e non altro". Man sieht: der Nuntius war grenzenlos enttäuscht 63 . Er fürchtete, daß man ihn im Stiche ließ, fühlte sich mit dem Rücken an die Wand gedrängt und kämpfte um seine Politik.
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Diarium Chigi (Fn. 55), S. 423 f. Chigi an Panziroli, Münster 1649 I I 5 dech. I I 26 (NPaci 27 fol. 28 / 30). 62 Chigi an Albizzi, Münster 1649 I I 4 (Chig. lat. A122 fol. 157 / 158: PrivatregisterKopie; die erste Hälfte dieses Briefes auch bei Brom [Fn. 4], S. 453). 63 Eine wesentliche Rolle spielten dafür auch die Schwierigkeiten und die mangelnde Unterstützung, die Chigis Helfer im Flugschriftenkampf gegen die religionspolitischen Konzessionen an die Protestanten, besonders der Jesuit Wangnereck, in Rom erfuhren. Darüber Ludwig Steinberger, Die Jesuiten und die Friedensfrage in der Zeit vom Prager Frieden bis zum Nürnberger Friedensexekutionshauptrezeß 1635 - 1650. Freiburg / Br. 1906 (= Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Gebiete der Geschichte. 5), dem leider die Chigiana verschlossen blieb; Moriz Ritter, Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede, in: HZ 101 (1908), S. 253 282; Dickmann (Fn. 18), S. 413 f. 61
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Eine Woche später sah es für ihn in Münster noch dramatischer aus. Dort hieß es nun, daß Fontenay bei den römischen Kardinälen Exemplare des Chigi-Protestes und noch mehr der Servien-Note ausgeteilt und damit den Eindruck verbreitet habe, daß der Protest vom 26. Oktober „eine große Unklugheit gewesen sei, während die Rechtfertigungsschrift Serviens so solide argumentiere, daß eine vom Papst für diese Sache eingesetzte Kongregation zu dem Beschluß gekommen sei, unter diesen Umständen sei es ratsam, auf eine Replik gegen Servien zu verzichten" 64 . Aus gänzlichem Mangel an einschlägigen Informationen konnte Chigi, der dies am 12. Februar berichtete, zur Glaubwürdigkeit dieser Meldung nicht Stellung nehmen. Er erinnnerte das Staatssekretariat aber an die wiederholten römischen Weisungen zum Protest und an die nachfolgende Billigung des Geschehenen, skizzierte zwei unterschiedliche Möglichkeiten, um dem Legitimationsdruck durch die französische Politik zu entgehen, und betonte vor allem die überaus nachteilige Wirkung, die von einer Veröffentlichung seines Mai-Protestes für den niederländischen Katholizismus zu erwarten sei. Wie der Papst entscheiden werde, war ihm offensichtlich unklar. Und wenn er sich am 19. Februar beim Bericht über sein „letzes Kyrie" 6 5 , über die inzwischen vollzogenen beiden Proteste gegen die Ratifikation 6 6 , auf ein comandamento des Papstes in der letzten vorliegenden Post (vom 23. Januar 67 ) berief, so wurde damit einer der üblichen Floskeln der Rhetorik der Posteingangs-Bestätigungen des Staatssekretariats ein Gewicht beigemessen, das ihnen nicht zukam 68 . Chigi suchte krampfhaft nach Legitimation. Die münsterische Post vom 5. Februar ist am 26. Februar in Rom angekommen und hat dort offenkundig die Dinge in Bewegung gebracht, woran vermutlich Albizzi wichtigen, wenn nicht sogar entscheidenden Anteil hatte. Er konnte in seiner Antwort an Chigi berichten, daß die Congregatane di Stato getagt und daß er, Albizzi, den Chigi-Agenten Ugolino über den Sitzungsverlauf informiert habe 69 . Dieser hat diese Informationen seinem wöchentlichen Bericht als Chiffre beigelegt, was nur selten vorkam, 64
Chigi an Panziroli, Münster 1649 I I 12 dech. I I I 4 (NPaci 27 fol. 43 / 44'). Chigi an Melzi, lettera, Münster 1649 I 8 und ders. an dens., I I 19 (Chig. lat. A I 23 fol. 142' / 143 und 145': Privatregister-Kopie). Daß der Protest sein ultimo chirie gewesen sei, erklärte Chigi noch im Oktober 1651 auf der Heimreise nach Rom dem Augsburger Stadtpfleger, der ihn aufsuchte: Chigi an Astalli, lettera, Augsburg 1651 X 25, eighd. (NPaci 29 fol. 218 / 218'). 66 Vgl. Fn. 21 und 22. 67 Diarium Chigi (Fn. 55), S. 425 spricht irrig von 25. Januar. 68 Panziroli an Chigi, lettera, Rom 1649 I 23 (Brom [Fn. 4], S. 452): „ . . . E benché riceva la S.tà S. maggior motivo di rammarico nell'udire, che solo habbia effetto ciò che resulta in pregiuditio della nostra santa fede, pur ritrae non poco sollievo dal vedere, che V.S. faccia sì opportunamente ed apertamente i l dissenso e la contradittione della santa fede con tutte quelle dimostrationi e proteste, che si richiedono". 69 Albizzi an Chigi, Rom 1649 I I 27, eighd. (Chig. lat. A I I I 55 fol 746 / 747). 65
41 Festschrift P. Mikat
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wenn es um ganz delikate Dinge ging. Die Entschlüsselung lautet 7 0 : „Prälat Albizzi hat mir gesagt, daß die Staatskongregation in Anwesenheit des Papstes lange über Ihren Protest diskutiert hat. Er wurde von [den Kardinälen] Capponi und Mattei als zu allgemein [secco ] angegriffen. Sie verwiesen als Musterbeispiel auf den Protest des burgundischen Reichskreises [gegen den Ausschluß vom Westfälischen Frieden] 71 , in dem die Rechtsnachteile, [gegen die der Protest sich wendet], ganz ausführlich in den Einzelheiten spezifiziert sind. Ihr Protest wurde aber hartnäckig verteidigt von [Staatssekretär Kardinal] Panziroli und von anderen. Der Papst jedoch scheint auf indirekte Weise [tacitamente] den Kardinal Capponi wie mit einer Peitsche getroffen zu haben, als er bemerkte, daß das gleiche, was seine Eminenz vortrage, ihm kurz zuvor der Botschafter von Frankreich erzählt habe". Mit dieser Notiz gelangen wir an den innersten Kreis der Willensbildung heran, die zur Deklaration Zelo domus Dei geführt hat. Sie bestätigt, daß es in Rom durchaus zweierlei Meinungen über Chigis Oktober-Proteste gab. Der Staatssekretär, also der „Apparat", stand hinter dem Nuntius, auch der Papst, zumindest im Innern. Ein anderer, Bernardino Spada (1594 - 1661)72, durch seine Kenntnisse, Lebenserfahrung und Urteilskraft eines der angesehensten Mitglieder der Staatskongregation 73 , hat dem späteren Chigi-Biographen Pallavicino (1607 - 1667)74 damals erzählt, er halte den Chigi-Protest für das Beste, was je in solchen Fällen formuliert worden sei 75 . Aber es gab auch andere Ansichten. Vor allem ist hier Gasparo Mattei (1587 1650)76 zu nennen, der 1640 bis 1643 Nuntius am Kaiserhof gewesen war und beim Regensburger Reichstag 1641 zum ersten Male seit Beginn der Reformation einen urkundlichen Protest von päpstlicher Seite gegen das Reichsreligionsrecht eingelegt hatte 77 . Chigi hat später, als er Papst war und seine Briefschaften ordnete, zu „Mattei" notieren lassen: „Ein Mensch mit mancherlei Fähigkeiten, aber hart und exzentrisch, ein Hypochonder" 78 eine distanzierende Charakteristik, die vielleicht auch mit Matteis Haltung in diesen Beratungen über die Chigi-Proteste zusammenhängt 79 . Sehr wahr70
Vgl. unten, Anhang la. Protest des Peter von Weyms, Münster 1648 X 14. Text: Ludwig Groß u. a. (Hrsg.), Urkunden und Aktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des Burgundischen Kreises. III. Wien 1944, S. 58 - 68. 72 Vgl. Kybal / Incisa (Fn. 36), S. 205 f. Anm. 1. 73 Urteil Pallavicinos; vgl. Fn. 75. 74 Vgl. Hubert Jedin, in LThK, 2 V I I I 1963, Sp. 6 f. 75 Sforza Pallavicino , Vita di Alessandro VII. Tomo I. Rom 1849, S. 209 (1. 2 c.3). 76 Vgl. Kybal / Incisa (Fn. 36), S. 80 f. Anm. 2. 77 Vgl. Konrad Repgen, Papst, Kaiser und Reich 1521 - 1644.1: Darstellung. Tübingen 1962 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. 24), S. 391 - 526; Mikat (Fn. 17), S. 122 - 135; Becker (Fn. 5), S. 405 f. 78 Vgl. Kybal / Incisa (Fn. 36), S. 80 Anm. 2. 79 Pallavicino (Fn. 75), S. 208, (1. 2 c.3) nennt Mattei als einzigen Opponenten der Staatskongregation. 71
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scheinlich ist es auf Mattei zurückzuführen, wenn später, in der päpstlichen Deklaration, auch die Errichtung der Achten Kur für den pfälzischen Kurfürsten als rechtswidrig erklärt wurde 80 ; denn er hatte 1642 bereits gegen die pfälzischen Ausgleichsversuche am Kaiserhof protestiert 81 . Daß dieser, doch wohl auch jetzt noch der habsburgischen Seite zuzuordnende Kadinal mit besonderer Aufmerksamkeit den burgundischen Protest studiert hatte, ist leicht begreiflich. Dieser war durch Chigi als Druck dem Staatssekretariat eingereicht worden und lag dort seit Weihnachten vor 8 2 . Mattei dürfte es auch gewesen sein, der durchgesetzt hat, daß Zelo domus Dei viel detaillierter die Rechtsnachteile beschrieb und erheblich kräftigere Ausdrücke wählte als Chigis Proteste, die viel „diplomatischer" formuliert waren, im Ausdruck mehr gemäßigt, nur das ausführend, was wirklich gesagt werden mußte, und kein Wort mehr 83 . Daß allein Luigi Capponi (1583 - 1659)84 in der Staatskongregation die französischen Positionen vertreten habe, ist unwahrscheinlich. Nähere Einzelheiten hat Ugolino zu diesem Punkt kaum erfahren; sonst hätte er sie gewiß zu Papier gebracht. Daß es aber die politischen Tagesmanöver Mazarins waren, die letzten Endes den Stein ins Rollen brachten, der die Staatskongregationsberatungen über die Chigi-Proteste auslöste, darf nun als gesicherte Erkennntis gelten. Insofern ist Zelo domus Dei nicht allein eine abstrakte, amtliche Entscheidung des Papstes über normative Regeln des staatlichen Lebens in Deutschland, sondern ein Dokument, daß man auch auf dem Hintergrund der Servien-Note vom 6. Dezember 1648 interpretieren muß. Es gilt dafür, was Hermann Weber in anderem Zusammenhang unlängst so formuliert hat: „Die prinzipiellen Unterschiede sind nicht durch Taktik bestimmt, sondern sie beruhen auf den Unterschieden zwischen tatsächlich bestehenden Konzeptionen" 85 . Da Albizzi seinem Freund Chigi nur über die Gruppierung und die Argumentation in der Staatskongregation Informationen zukommen ließ, nicht aber über einen Beschluß, ist anzunehmen, daß ein solcher im Februar noch 80 Vgl. Fn. 14 Punkt 8. Zur Kurfürstenfabel vgl. Winfried Becker, Der Kurfürstenrat. Grundzüge seiner Entwicklung in der Reichsverfassung und seine Stellung auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Münster 1973 (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte. 5), S. 33 - 38. 81 Text: Repgen (Fn. 77), 2: Analekten und Register. Tübingen 1965 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. 25), S. 280 f. 82 Die Übersendung (am 4. Dezember 1648) eines Druckexemplars ergibt sich aus einem Vermerk in der Privatregister-Kopie Chig. lat. A I 12 fol. 339. Das Exemplar fehlt in NPaci 24, wo es eigentlich liegen müßte. Offenbar wurde es ebenfalls für die Beratungen der Staatskongregation im Februar/März 1649 benötigt und danach nicht mehr reponiert (vgl. Fn. 19 und 20). 83 So Pallavicino (Fn. 75), S. 208 (1.2 c.3). 84 Vgl. Kybal / Incisa (Fn. 36), S. 255 Anm. 1. 85 Hermann Weber, Zur Legitimation der französischen Kriegserklärung von 1635, in: HJb 108 / I (1988), S. 90 - 113, hier S. 113.
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nicht erfolgt ist. Es paßt zu dieser Annahme gut, daß das Staatssekretariat den Nuntius in Münster am 27. Februar nur - und sehr knapp - über die Meinung des Papstes zur Servien-Note informiert hat: Diesen Text „hat man in Rom vor einiger Zeit in Vieler Hände gesehen, aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen: der Papst war mit allem, was Sie getan haben, zufrieden" 8 6 . Auf diese Nachricht, die - zusammen mit der römischen Post vom 6. März - am 24. März in Münster eintraf 87 , hatte Chigi seit Wochen gewartet - und es war positiv für ihn entschieden worden: er hatte mit seiner Kongreß- und Protestpolitik Rückendeckung vom Papst. Damit hätte es nun - eigentlich sein Bewenden haben können, zumal Servien am 20. März den Kongreß verlassen hatte 88 . Wenn man mit Chigi zufrieden war, warum bedurfte es dann noch des Beschlusses zur Herausgabe einer feierlichen Deklaration? Die Gründe, die dazu geführt haben, lassen sich - einstweilen jedenfalls nicht aktenkundig nachweisen. Das Faktum als solches aber steht fest; denn Staatssekretär Panziroli selbst hat den Nuntius über die Ergebnisse der Kongregationsberatungen am 6. März offiziell unterrichtet 89 . Der Beschluß lautete: „ I n der Staatskongregation sind in Gegenwart des Papstes Ihre dort eingelegten und wiederholten Proteste verlesen worden. Sie wurden von allen Kardinälen ebenso gelobt, wie sie bereits vorher vom Papst gebilligt worden waren. Es wurden auch die Note des Herrn Servien und die von Ihnen daran geknüpften Überlegungen 90 verlesen, die ebenfalls als angemessene und überzeugende Widerlegung seiner Behauptungen erscheinen. Sie brauchen daher nicht zu beachten, was - hier oder dort - verbreitet wird und nur auf Phantasien leidenschaftlicher Gemüter beruht". Ich vermute, daß dieser Teil wörtlich mit dem Protokoll der Staatskongregation übereinstimmt, das somit den Anfang der chiffrierten Weisung an Chigi bildet. Mehr als reinen Protokolltext bietet aber die folgende Passage des Schreibens. Dort heißt es: „Ihr Verhalten in dieser wie in allen anderen Angelegenheiten ist dem Papst sehr willkommen, wie Sie ja aus unseren Antworten auf ihre Berichte erkannt haben werden. Jedoch wurde in der Kongregationssitzung vom Papst mit der Zustimmung von neun Kardinälen entschieden, Ihre Proteste möglichst feierlich und rechtskräftig durch eine
86 Panziroli an Chigi, Rom 1649 I I 27 (Chig. lat. A I I 47 fol. 214: PrivatregisterKopie des Dechiffrats): „ I n quanto alla copia inviata dal sig. Servien a questo sig. ambasciatore di Francia si è veduto un pezzo fà per Roma in mano di molte persone: ma a V. S. non deve dar alcun fastidio, perché N.S. era stato sodisfatto di ogni sua attione". 87 Diarium Chigi (Fn. 55), S. 429. 88 Diarium Chigi (Fn. 55), S. 428. 89 Zum Folgenden vgl. unten, Anhang lb. 90 Gemeint ist die Chiffre vom 11. Dezember 1648 (vgl. Fn. 56).
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Apostolische Bulle zu bestätigen, was Sie aber bis zur Ausführung des Beschlusses für sich behalten sollen". Schließlich erging auch noch Instruktion über das Verhalten zum MaiProtest gegen den spanisch-niederländischen Frieden: „Was die Publikation des Protestes anläßlich des Friedens der Niederlande mit den Spaniern betrifft, so hat der Papst die von Ihnen angeführten Gründe pflichtgemäß erwogen und im Hinblick darauf dem Botschafter von Frankreich nur geantwortet, er glaube, daß Sie das getan hätten, was Sie für angemessen erachtet hätten zur Erfüllung Ihrer Amtspflicht und im Dienst der Verhinderung von Schaden der heiligen Religion. Das ist das gleiche, was Sie selbst Herrn Servien geantwortet haben". Chigi hat den Eingang dieser Weisung am 26. März geradezu mit Jubel begrüßt 91 . Zwei Jahre später, nachdem er Zelo domus Dei kannte, hat er distanzierter geurteilt 92 . Ich vermute, daß er die diplomatische Geschmeidigkeit seiner Texte für nützlicher hielt als das prinzipientreue Kirchenrechtssystem des Breve Zelo domus Dei, das der katholischen Kirche von ihren Feinden bis auf den heutigen Tag vorgehalten wird 9 3 .
Anhang 1
a Stefano Ugolino an Chigi Rom [1649 II 27] Chig. lat. A I I I 61 fol. 408 (Chiffre / Déchiffré), als Beilage zu ders. an dens., 1649 I I 27 (eigenhändig): ebenda fol. 407 / 407':
Möns. Albzizzi mi ha detto che in Congregatione di Stato avanti 34 a si discorre longamente della protesta fatta da V.S.Ill.ma; fu impugnata come secca da Capponi, et Mattei adducendo l'esempio di quelle di Borgogna che dicevano copiosissima con esservi stato narrati distintamente t u t t i l i pregiuditii. Ma però fu difesa acaninamente da Panzirolo, et altri. Anzi N.S. parve staffilarne tacitamente Capponi con dirli che poco avanti l'istesso che stava dicendo S. Em. gli ne haveva pur detto l'ambasciatore di Francia.
91 Chigi an Panziroli, Münster 1649 I I I 26 dech. IV 15 (NPaci 27 fol. 85 / 86 sowie 89 / 89'). 92 Vgl. Fn. 41 und vor allem unten, Anhang 2. 93 Vgl. Rudolf Augstein, Die Abtreibung, ein Stellvertreter-Krieg, in: Der Spiegel Nr. 51, 14. Dezember 1987, S. 30: „Die katholische Kirche [hat] vor konkreten Katastrophen stets die Augen verschlossen. Sogar den Frieden von 1648 nach dreißig Jahren Krieg hat sie verworfen".
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b Gian Giacomo Panziroli an Chigi Rom 1649 III 6 Chig. lat. A I I 47 fol. 214/215: Privatregister-Kopie des Dechiffrats. b
Nella Congregai ione di Stato tenutasi avanti N.S. furono lette le proteste fatte, e reiterate da V.S. costì, e commendate da t u t t i signori cardinali, come prima erano da N.S. state approvate 0 . Fu inoltre letto i l biglietto di monsieur Servien, e le considerationi da V.S. scritte sopra di esso che parvero parimente adeguate, e chiare le reprovationi delle di l u i asserzioni: onde non deve attendere ciò che ο di quà, ο di costà si sparga senza altro fondamento, che dell'inventioni di animi appassionati. L'operato da V.S. così in questo, come in ogni altro affare è stato da S.B.ne molto gradito, i l che haverà ella potuto vedere nelle risposte inviatele. Anzi d nella congregatione fu col parere di nove cardinali deliberato dalla S.tà S. di confermar con una bolla Apostolica in amplissima forma le proteste di V.S., questo però finché non si mandi ad effetto dovrà ella tenerlo in sée. Quanto al pubblicar la protesta fatta per la pace di Holanda con gli Spagnuoli, N.S. ha la dovuta consideratione a' motivi dedotti da V.S., et in riguardo di essi non rispose altro al sig. ambasciatore di Francia, se non di credere che V.S. havesse fatto ciò che havesse stimato convenirle per adempimento del suo debito, e per servitio, et indennità della santa religione, che è i l medesimo che ella stessa rispose al sig. Servien. Onde si è detto senza fondamento ciò che ella ha udito di vantaggio. [.·.] Anhang 2 Chigi an Francesco degli Albizzi Aachen 1650 IX 10 Chig. lat. A I 22 fol. 181' / 183: Privatregister-Kopie.
Si eseguisce la pace d'Imperio, ma sono tanti pregiuditii contro la religione Cattolica, contro la S. Sede, e contra tutto lo Stato Ecclesiastico, ne pure balena un campo di speranza per quella tra le due Corone, che poteva essere esente da queste, e simili macchie. Io però mi arrischiai ad accennare a Palazzo, che fin tanto che non vedessi licentiati gli eserciti, e ripassati i l Mare Baltico gli Svezzesi, non volevo tenere per eseguita affatto la pace di Germania, e massime su Ί fondamento che porgevano al mio sospetto i ministri di Francia, col non evacuare le quattro Città Silvestri, col non pagare i l denaro per Γ Alsatia a gli arciduchi d'Insprug, e col voler tener mano in Germania ad altri impegni finché guerregiava la Corona loro con quella di Spagna. A l che si aggiogneva, che havendo essa nelle tante sue confederationi con la Suezia replicato di doverle continovare per 10 anni doppo la pace, e
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di tener in piedi un esercito a mezzo, ma in Germania, et a spese della Germania per assicurar che la pace ponesse buone radici, sopra di ciò non si è veduto per anco aggiustamento alcuno. Ma dirà V.S.Ill.ma gli Svezzesi lassan le piazze, e sbandano i soldati. È vero, ma questo non toglie affatto i l mio sospetto: e poi essendosi veduto venire all'improviso i l generalissimo Palatino a questa esecutione contro i l parere di altri ministri di quella Corona, fa credere che la malattia della Regina, e l'interesse suo privato lo richiamino in Svezia; ove gli stati che l'anno passato prorogarono per 12 mesi fino a questo Agosto la coronatione della Regina, questo anno senza prorogarne altro termine mostrano poco inclinarvi, e di tendere non solamente a ridurre quella Corona a guisa del corno del doge di Venetia, come han quasi fatto gli stati di Danimarca, ma forsi anco ad una repubblica per via più breve con la sterilità, e con la mancanza di quella Regina. Sono 4 anni, che io ardivo palesare queste reflessioni, sull'avvicinamento che ne cominciò l'Inghilterra, nello scrivere a Palazzo, et in parlare degli stati delle Provincie Unite: e massime per veder crescere i l partito de' Calvinisti, la cui setta essendo cresciuta in Imperio si fattamente, che oltre gli Holandesi, i l marchese di Brandenburg, i conti Palatini del Reno, quei di Hanaw, quei di Nasau, ed i l lantgravio di Cassel si aiutano a tirare a se quanti possono de' loro vicini. Che faranno per l'avvenire, che apertamente sono admessi nell'istromento di pace ultimo, e non vi stanno più a loro risico, come prima, che per la pace del 1555 sola la setta de' Protestanti vi era tollerata? Nel leggere la bolla ultimamente pubblicata da N.S. contro quella pace, et in ratificatione delle mie proteste, mi è paruto che mons. Maraldi habbia forsi equivocato a dire che la confessione Augustana si era admessa etc., poiché doveva dire della Calvinistica contro la admissione della quale protestarono fino alcuni prencipi Luterani. L'accenno a V.S.Ill.ma se per caso così fosse, e paresse in simili altri occasioni di supplirlo, poiché altrimente queste Tedeschi diranno, che mons. predetto non habbia saputo, ο voluto intendere l'istromento della pace di Munster. f Io proposi anco 3 settimane fa di fare una quarta protesta contro la esecutione della pace, come havevo fatte le tre antecedenti contro la soscrittione di Osnabrug, contro l'altra di Munster, e contro la ratificatione de'prencipi stessi, e ne chiedevo la formula a Palazzo: bene è vero che volendola per uno ultimo chirie, volevo attendere che fossero gli Svezzesi usciti di Germania per liberarmi, che doppo essa non facessero renuntiare gli Stati Cattolici anco a questa, come ultimamente gli fecero renuntiare in Norimberga alle altre très. E piaccia a Dio, che hora alla pubblicatione di quella bolla di N.S. non passino a questo, o, se voglino guerra, non ci fondino un pretesto per tornare a dietro. Voglio sperare da Dio benedetto ogni buon successo, mentre che obbedisco al padrone con cieca obbedientia, ne mi offerisco al convito, nonché mi vi intruda, senza essere chiamato. Ho voluto nondimeno per ogni buon fine accennare ciò in confidenza a V.S.Ill.ma, alla quale per fine di questa fo humilissima riverenza.
Demokratie in der Kirche? Zum Problem des Ursprungs und der Begründung von kirchlicher Leitungsgewalt Von Walter Simonis Vor gut 25 Jahren stellte der verehrte Jubilar dem Verf. dieses Beitrages im juristischen Rigorosum die Frage, welches denn die eigentlichen Quellen des Kirchenrechtes seien. Wenn ich mich recht erinnere, war er mit der Antwort, die eigentliche Quelle sei die göttliche Offenbarung, damals zufrieden. - Zwar hat sich das wissenschaftliche Interesse des Verf. inzwischen ganz der Geschichte und Dogmatik der Theologie zugewandt. Doch die Frage nach den „Quellen" hat ja auch und gerade hier einen ganz entscheidenden Stellenwert. Und so erscheint es mir reizvoll, eben jene Frage von damals noch einmal aufzugreifen und erneut eine Antwort zu versuchen. 1 Die Forderimg nach Einführung demokratischer Strukturen in kirchliche Entscheidungsprozesse ist zur Zeit ebenso verbreitet, wie sie sich des Stirnrunzelns und des erhobenen Zeigefingers von Seiten der Repräsentanten der kirchlichen Hierarchie sicher sein kann. Zur Vermittlung der offenkundig konträren Standpunkte scheint allenfalls der pragmatische Weg des Kompromisses gangbar zu sein, bei dem beide „Parteien" ihr Gesicht wahren können - wenn auch bei beiden ein ungutes Gefühl bleibt. Daß es in der Geschichte stets Kompromisse geben wird und geben muß und diese, nicht die radikale Durchsetzung von Prinzipien, gleichsam den Motor ihres Weitergehens bilden, mag dabei tröstlich sein. Dennoch dürfte es angesichts der Grundsätzlichkeit, mit der in der hier anstehenden Frage die Positionen vertreten werden, sinnvoll sein, auch dem angeblich Grundsätzlichen nachzugehen. Es ist also nicht das Ziel dieses Beitrages, zu kon1 Die Frage und die Antwort sollen hier freilich noch etwas differenzierter gefaßt werden. Ich schärfe die Frage zu auf die nach dem Ursprung der Leitungsgewalt in der Kirche, wobei unter Leitungsgewalt das Recht und die Macht verstanden werden, Recht zu setzen und durchzusetzen. Und da Rechtsetzung und Durchführung stets in bestimmten Formen geschieht, enthält die Frage nach dem Ursprung der Leitungsgewalt in der Kirche auch die nach dem Ursprung der Verfassungsform der Kirche. Was die Antwort von damals betrifft, die eigentliche Quelle des Kirchenrechts sei die göttliche Offenbarung, so halte ich sie auch heute noch für prinzipiell richtig, wenn der Akzent auf dem „eigentlich" liegt. Doch bedarf sie der Präzisierung und Ergänzung. Das „eigentlich" provoziert geradezu die Frage nach dem „Uneigentlichen". Vornehmlich um dieses „Uneigentliche" soll es im folgenden gehen.
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kreten Problemen kirchlicher Praxis in der Verteilung von Leitungsgewalt Stellung zu nehmen oder gar Vorschläge zu unterbreiten. 2 Vielmehr geht es sozusagen um ein Warum-überhaupt? bzw. Warum-eigentlich-nicht? Das Gegenüber der konträren Positionen soll hinterfragt werden durch ein Bedenken des „Grund"-Problems, wie es überhaupt zu kirchlicher Leitungsgewalt und deshalb auch zur Diskussion darüber kommen kann, in welchen kirchenrechtlichen Verfassungsformen sie auszuüben sei. Es ist ja zu beachten: Beide Positionen sind solche, die sich innerhalb der Kirche bewegen; wäre dies nicht der Fall, so könnte nicht einmal der Weg des pragmatischen Kompromisses anvisiert werden. Eine gemeinsame Grundlage muß also vorliegen, auf die sich beide, freilich mit verschiedener Zielsetzung, berufen können. Diese genauer ins Auge zu fassen und die in ihr angelegten Möglichkeiten aufzudecken muß nicht heißen, nur Bekanntes und Selbstverständliches zu wiederholen. Gerade die scheinbaren Selbstverständlichkeiten „haben es eben in sich". Das eigentliche Problem, bei dem anzusetzen ist, scheint mir also das der Begründung von amtlicher und institutioneller Gewalt überhaupt zu sein. Wenn ich formuliere: „überhaupt", so soll damit durchaus schon angedeutet werden, daß w i r es hier mit einer Frage zu tun haben, die heute nicht nur im kirchlichen, sondern auch im politischen Leben von erheblicher Brisanz ist. Die Vermutung ist sogar naheliegend, daß die Forderung nach mehr Demokratie in der Kirche irgendwie eine Parallelerscheinung zu dem anderen Phänomen darstellt, daß bei nicht wenigen unserer Zeitgenossen solche Begriffe wie „Staatsgewalt" oder „Staatsautorität" nur noch Aversionen zu erregen vermögen. Auf jeden Fall scheint es mir angebracht zu sein, auch diesen Bereich ins Auge zu fassen. Ich werde daher so vorgehen: Zunächst nehme ich kurz Stellung zu den bekannten Argumenten der traditionellen Ekklesiologie, die kirchliche Leitungsgewalt bzw. die verfassungsmäßige Gestalt, in der sie auszuüben sei, gehe auf den Willen und Anordnungen Jesu zurück; schon deshalb widerspreche der Demokratiegedanke dem gottgewollten Wesen der Kirche. Der zweite Abschnitt wird den Grundgedanken der modernen Staatsphilosophie, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht, erläutern. Im dritten Abschnitt werde ich darlegen, inwiefern dieser Grundgedanke, mutatis mutandis, auch auf die Kirche, das Volk Gottes anzuwenden 2 Die Theologie unterscheidet gewöhnlich zwischen den drei Ämtern Jesu Christi und dementsprechend zwischen den drei Ämtern in der Kirche: dem Priesteramt, dem prophetischen oder Lehramt und dem Hirtenamt. Diese Unterscheidung sei hier vorausgesetzt, ohne daß damit einer absoluten Trennung das Wort geredet werden soll. Wie die drei Ämter näherhin zusammengehören und in praxi auch ineinanderwirken, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Thema dieses Beitrags ist nur das Problem jener Gewalt, die dem Leitungs- oder Hirtenamt zukommt. Eine solche Beschränkung ist durchaus möglich, denn ohne Frage gibt es zumindest auch Bereiche des kirchlichen Lebens, in denen es nur um Ausübung der Leitungsgewalt geht. Andererseits soll mit dieser Beschränkung des Themas nicht gesagt sein, daß die folgenden Überlegungen nicht auch weitere Probleme berührten, über die eigens nachzudenken wäre.
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ist; und wie alle kirchliche Autorität nur als aus dem Lebensprinzip des Gottesvolkes, nämlich dem Glauben, entspringend begriffen werden kann. 1. Zu den historischen Anfängen der Kirche Wir müssen heute davon ausgehen, daß in der Kirche zwar von Anfang an so etwas wie Leitungsgewalt ausgeübt wurde, daß aber eine historisch verifizierbare Begründung derselben durch eine der Kirche übergeordnete Instanz, näherhin durch den vorösterlichen Jesus von Nazareth nicht möglich ist. 3 Erst das Erschienensein des Auferweckten vor Simon-Petrus (Lk 3 Sämtliche die Kirche als Institution betreffenden Jesusworte der Evangelien unterhegen dem begründeten Verdacht, nachösterliche Bildungen der bereits bestehenden Gemeinde zu sein. Darüber ist sich die historisch-kritische Exegese heute weithin einig. Von einer historischen Kirchenstiftung oder von einschlägigen Anordnungen Jesu kann daher ernsthaft nicht die Rede sein. Zwar spricht die Theologie immer noch von einer „Stiftung" oder „Gründung" der Kirche durch Jesus, doch genaugenommen zieht sie sich damit den Vorwurf des Etikettenschwindels zu. Denn sie muß dann die Begriffe „Stiftung" oder „Gründung" entgegen ihrer gewöhnlichen Bedeutung in einem ganz weiten, „analogen" Sinn „interpretieren": „Gestiftet" ist die Kirche von Jesus, insofern sie dem Willen des vorösterlichen Jesus entspricht. Das mag, wenn man will, in einem ganz allgemeinen Sinn zwar hingehen. Doch was das im einzelnen bedeuten soll, was also konkret als in diesem Sinn von Jesus „gestiftet" zu gelten hat, darüber hat doch nicht Jesus selbst, sondern die nachösterliche Kirche befunden; und sie tut es bis heute. Wenn daran kein vernünftiger Zweifel möglich ist, dann ist aber auch die Kirche selbst für die „Konkretisierung" des Willens Jesu verantwortlich. Dieser Verantwortlichkeit und geschichtlichen Zuständigkeit sollte sie sich nicht entziehen. Sie kann sich ihr auch nicht dadurch entziehen, daß sie sich für ihr eigenes konkretes Tun statt auf Jesus auf den Auferstandenen, auf Jesus Christus oder auf den Heiligen Geist (oder sonstwie auf den Willen Gottes) beruft. Denn auch vom auferstandenen Jesus Christus gibt es keine kirchenstiftenden Worte, ebensowenig wie vom Heiligen Geist. Also kann auch eine solche Inanspruchnahme „höherer Instanzen" nur in allgemeiner Weise begründen, daß Kirche und damit Institution und Leitungsgewalt geschichtlich sinnvoll und notwendig sind, weil nämlich sonst Verkündigung und Glaube auf die Dauer nicht möglich sind. Aber diese allgemeine Begründung erledigt eben noch nicht die Frage nach dem Grund und der Legitimität des erst geschichtlich gewordenen je Besonderen und Konkreten. Mit ihr ist noch nicht entschieden, daß ζ. B. nur eine besondere Amtsform und somit keine andere im Sinne des Auferstandenen und insofern von ihm „gestiftet" sein und deshalb a priori nicht zur Disposition der Kirche stehen könne; weil sie eben, wie man sagt, „iuris divini" sei.
Vgl. dagegen K. Rahner, Über den Begriff des „Jus divinum" im katholischen Verständnis, in: Schriften zur Theologie, Bd. V, Einsiedeln 1962, S. 249 - 277. Gegen seine These von der Möglichkeit geschichtlicher und doch irreversibler Entwicklungen wäre zu sagen, daß Rahner so mit einer an sich bereits problematischen, allgemeinen Denkmöglichkeit die geschichtlichen Möglichkeiten und Fakten einfach präjudiziert: Eine faktische Entwicklung wird nachträglich als allein legitime behauptet, obwohl als konkreter Grund dieser Behauptung doch wieder nur bloße Fakten angeführt werden können; eine verdeckte petitio principii also. Vor allem aber: Wie steht es denn mit dem angeblichen Prinzip der Möglichkeit irreversibler Entwicklungen, das an der Geschichte selbst gewonnen sein soll? Mit ihm wird ausgeblendet, daß geschichtliche Entwicklungen auf menschlichen Freiheitsentscheidungen beruhen; es reduziert Geschichte auf das Modell biologisch-evolutiver Vorgänge, bei denen es ja eine gewisse Irreversibilität geben mag. Zum Wesen menschlicher Freiheitsentscheidungen gehört aber gerade, daß sie grundsätzlich reversibel sind und bleiben, daß sie durch „Umkehr" revidiert werden können - was ja nicht heißt, man könne sie und
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24,34; 1 Kor 15,5a) wurde zum Anlaß dafür, daß sich der sog. Zwölferkreis bildete und zusammen mit weiteren Anhängern Jesu nach Jerusalem zog.4 Dort erwartete man die baldige Rückkehr Jesu als Messias, der nun das endgültige Reich Gottes herbeiführen und das Zwölfstämmevolk Israel wiedererrichten würde, in dem dann die „Zwölf" die Repräsentanten und Herrscher der einzelnen Stämme sein würden. 5 Im Hinblick auf diese zukünftige Stellung im unmittelbar bevorstehenden „Gottesreich" kam den „Zwölfen" und insbesondere dem Simon, dem der Herr in Galiläa erschienen war 6 , ohne Frage schon jetzt so etwas wie eine selbstverständliche, „natürliche" Autorität zu. Zwar besagt die Formulierung „er ist ihm erschienen" an sich noch nichts hinsichtlich einer auszuübenden Leitungsgewalt in der Gemeinde. Aber der unmittelbar nachösterliche Kreis um die Zwölf betrachtete sich ja auch gar nicht als Gemeinde, die sich auf eine Fortdauer in der Geschichte einzustellen und sich, um in der Geschichte existent bleiben und wirken zu können, als Institution mit Ämtern und Funktionen hätte organisieren müssen; vielmehr wußte er sich als die Vorhut des kommenden Reiches Israel, welches der Auf erweckte jetzt wiederherstellen würde, als Kerntruppe des bevorstehenden, endgültigen Gottesreiches. 7 Dieses Selbstverständnis des unmittelbar nachösterlichen Kreises um die Zwölf konnte natürlich von Jakobus und den Ältesten, die in dem Augenblick in den Vordergrund traten und die Dinge in die Hand nahmen (indem sie aus dem Osterkreis eine wirkliche Gemeinde mit Institutionen, Ämtern ihre Folgen einfach ungeschehen machen und bei einem Nullpunkt wieder ganz von vorne anfangen. Und hat nicht gerade Rahner oft genug betont, daß die faktische Geschichte doch auch eine Geschichte des Vergessens, des Versagens und der vertanen Chancen ist? Gerade so gesehen kann sie auch zum Anlaß von „Umkehr" werden. Vgl. J. E. Lynch, Die Ausübung von Macht in der Kirche, in: Concilium 24 (1988), S. 178 - 185. 184: „Dementsprechend darf die Autorität in der Kirche ihre Verfügungen nicht dem Willen Gottes gleichsetzen, sonst verbaut sie sich die Möglichkeit zur Selbstkritik." 4 Zur näheren Begründung des hier nur thesenhaft Vorgetragenen verweise ich auf mein Buch „Jesus von Nazareth. Seine Botschaft vom Reich Gottes und der Glaube der Urgemeinde. Historisch-kritische Erhellung der Ursprünge des Christentums", Düsseldorf 1985, insbesondere auf die Kapitel 3 und 4 (S. 35 - 128), in denen die unmittelbar nachösterlichen Vorgänge und dann die Bildung der Jerusalemer Gemeinde unter Führung des Herrenbruders Jakobus rekonstruiert werden. In einigen Rezensionen sind die in diesem Buch vorgetragenen Thesen auf heftige K r i t i k gestoßen - was mich freilich nicht überraschen konnte. Überrascht war ich freilich darüber, wie wenig K r i t i k es für nötig hält, konkrete Gründe und Argumente zur Sache anzuführen; wie sie sich gar (so J. Blank, BZNF 30 [1986], S. 274 f.) eines „Stiles" bedient, dessen persönliche Polemik und schulmeisterliches Schimpfen allenfalls zu einem Pamphlet paßt, schwerlich jedoch den Ansprüchen genügt, die man an den Stil einer wissenschaftlichen Zeitschrift stellen darf. 5 Die einschlägigen Stellen, denen wir entnehmen müssen, daß dies die anfängliche Vorstellung des Zwölf er kreises in Jerusalem war, sind: Apg 1,6; L k 19,11; Mt 19,28/ L k 22, 28 - 30; Mk 10, 35 - 41 / Mt 20, 20 - 24. Im einzelnen s. dazu: Jesus von Nazareth (Fn. 4), S. 65 - 83. e Zu Mk 16,7; L k 22,31 f.; 24,34; 1 Kor 15,5a s. ebd., S. 41 - 55, 61 - 65. 7 Vgl. auch Bultmann, ThNT, 4. Aufl., Tübingen 1961, S. 40.62.
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und Aufgaben machten), als sich die Erwartung der bevorstehenden Wiederkunft des Herrn als ein Irrtum erwies, nicht übernommen werden. 8 Ihre Führungsstellung ist aber nicht auf eine Ernennung durch die Zwölf, somit durch eine Art Weitergabe von Vollmacht zurückzuführen. Dergleichen ist historisch-kritisch nicht nachweisbar, erscheint im Gegenteil aus bestimmten Gründen sehr unwahrscheinlich. Auch eine historisch stattgefundene Bevollmächtigung oder Sendung durch den Auferstandenen oder durch Gott zur Leitung der Gemeinde ist natürlich nicht nachweisbar. Zwar läßt sich aus 1 Kor 15,7 entnehmen, daß auch dem Jakobus und anderen sehr bald ein „Gesehenhaben des Herrn" zugesprochen wurde. Doch alle historische Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß das „Gesehenhaben des Herrn" (an sich eine „Zeugenformel") hier zu einer Legitimationsformel geworden ist, mit deren Hilfe die Position der führenden Männer der „zweiten Stunde" gesichert werden sollte: Sie wurden als den „Zwölfen" ebenbürtig anerkannt, ihre Stellung und ihr Handeln wurden so als ebenfalls „ i m Sinne" des auf erweckten Herrn ausgewiesen.9 War aber das „Gesehenhaben des Herrn" für Jakobus, der ohne Frage (mit den Ältesten) in Jerusalem Leitungsvollmacht ausübte, nur eine Legitimationsformel und läßt sich eine direkte Bevollmächtigung zur Leitung der von ihnen organisierten Gemeinde seitens des Auferweckten historisch weder nachweisen noch erschließen und sind schließlich Jakobus (und die Ältesten) auch nicht als selbsternannte Diktatoren aufgetreten (ein solcher Vorgang hätte zweifellos Protest ausgelöst und eine Spaltung bewirkt, obwohl es doch gerade darauf ankam, einem möglichen Auseinanderlaufen des Osterkreises angesichts des Nichteintreffens seiner ersten Erwartungen zuvorzukommen), so stellt sich jetzt die Frage: Woher stammt die Autorität, die Leitungsgewalt in der Jerusalemer Gemeinde, die ohne Zweifel als legitim angesehen wurde, ja, die, wie es die genannte Legitimationsformel zum Ausdruck brachte, als letztlich 10 im Willen Gottes, der Jesus auferweckt hatte, begründet galt? Diese Frage ist natürlich von grundsätzlicher Bedeutung: Zur Debatte stehen nicht nur das Begründetsein und die Legitimität der im Anfang durch Jakobus und die Ältesten ausgeübten Leitungsgewalt, sondern das Begründetsein und die Legitimität von Leitungsgewalt überhaupt in der Kirche. Zur Beantwortung dieser Frage werde ich aber, wie gesagt, nicht direkt bei dem in Frage stehenden Phänomen ansetzen, daß de facto in der Kirche 8 Zur Rolle des Jakobus und zum Zeitpunkt der Bildung eines Gemeindeleitungsinstitutes s. Jesus von Nazareth (Fn. 4), S. 93 - 105, 112 - 117 sowie S. 84 - 91 (zu Mk 14,25/Lk 22,16.18). 9 Im einzelnen s. ebd., S. 106 - 110. - Bekanntlich nennt noch Eusebius (KG II, 1,2) Jakobus den ersten Bischof der Gemeinde von Jerusalem. 10 Diese theologische Lefcztbegründung macht weder die Frage nach der geschichtlichen Begründetheit von Amtsgewalt überflüssig, noch ist mit ihr etwas Definitives über die konkrete rechtliche Gestalt ihrer Ausübung gesagt, sondern nur über den „Geist", die Gesinnung, in dem sie auszuüben ist.
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Leitungsgewalt ausgeübt wird, sondern trage zunächst eine Reflexion zu einem doch wohl analogen, in seinem Bereich ebenso grundlegenden Sachverhalt vor, nämlich zum Entstehen und Begründetsein von staatlicher Autorität und Leitungsgewalt. Das Phänomen der Existenz von Staatsgewalt ist ja ebenfalls Ergebnis einer Entwicklung, in der sich zwar einerseits allgemeingültige „Gesetzmäßigkeiten" menschlichen Existierens verwirklichen, die sich aber andererseits auch nur als geschichtlicher Prozeß vollziehen konnte, so daß auch ihr „Ergebnis" dem „Gesetz der Geschichte", nämlich des möglichen Wandels zumindest hinsichtlich der konkreten Formen ihrer Ausübung, verhaftet bleibt. Um nicht zu weit ausholen zu müssen, werde ich das anstehende Problem in einer modellhaften Skizze verdeutlichen, die von allen historischen Einzelheiten absieht, nur auf die Entstehung des Staates und staatlicher Leitungsgewalt als solcher abstellt und nach dem qualitativ Neuen fragt, das damit auf dem Plan ist. 2. Zum Wesen und Ursprung staatlicher Leitungsgewalt In einer noch nicht staatlich organisierten Gemeinschaft, einer Familie oder Sippe oder Jägergruppe oder einem Verband von Familien gibt es nur so etwas wie eine „natürliche Autorität": Die Klügsten, Fähigsten oder Älteren sind die „Führer"; und von ihrem Können und Wollen hängt das Wohlergehen der anderen ab. Umgekehrt haben sie (schon im eigenen Interesse) für die anderen zu sorgen. Autorität und Leitungsgewalt sind also in solchen Gesellschaftsformen ein unmittelbar personenbezogenes Phänomen. Der Staat ist aber keine „natürliche Person", sondern eine Institution. Er ist eine irgendwie künstliche, abstrakte Größe, die aus dem Ganzen von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt besteht. Zwar wird diese Staatsgewalt vermittels der einzelnen Organe und Institutionen des Staates tätig, aber sie ist doch mehr als diese jeweils konkreten Organe in ihrem Wirken. Die Frage ergibt sich somit: Wie kann es dazu kommen, daß in der verglichen mit natürlichen Personen irgendwie abstrakten Größe „Staat" dem einzelnen Staatsbürger eine überlegene Autorität gegenübersteht, die doch weder vom Himmel gefallen noch irgendwo aus dem Boden bloßer Natur gewachsen ist? a) Wenn auch die Autorität und Gewalt des Staates nicht die einer natürlichen Person sind, die ihr Wollen zur Geltung bringt, so haben w i r es doch auch hier zweifellos mit einem Wollen, mit Entscheidungen und dem Durchsetzen derselben zu tun. Dieses Wollen der Staatsgewalt kann dann aber als im Bereich der Geschichte entstandenes und wirksames nur begründet sein im Wollen der Menschen, die zusammen das Staatsvolk bilden. Die Menschen aber, die ein Staatsvolk bilden, haben an sich und zunächst nur ihren je eigenen, persönlichen Willen. Doch als Wille zum Staat gewinnt dieses
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zunächst je eigene, persönliche Wollen gleichsam eine neue Qualität. Dabei ist es keineswegs notwendig, daß dieses Wollen des Staates, das Bejahen des Staates, in jedem einzelnen Menschen reflex bewußt vollzogen würde! Auch in dem stillschweigenden Anerkennen oder bloßen Hinnehmen der vorgegebenen Tatsache, daß es den vielleicht nur von wenigen oder von den Vorfahren geschaffenen Staat gibt, ja, schon in der selbstverständlichen Inanspruchnahme der durch andere geschaffenen Einrichtungen und im Ausnutzen der damit gegebenen Möglichkeiten, liegt bereits ein zumindest stillschweigendes Bejahen des Staates. Hinsichtlich dieses Wollens, das die Staatsgewalt entstehen läßt bzw. anerkennt, können wir, auch wenn der Begriff in der französischen Revolution arg diskreditiert worden ist, J.J. Rousseau folgend, durchaus von einer „volontée générale" sprechen. Diese volontée générale ist aber nicht als eine irgendwie freischwebende Größe zu konzipieren, die der sog. „volontée de tous" gegenüberzustellen wäre. Vielmehr wurzelt die den Staat bejahende und seine Autorität begründende volontée générale durchaus in der volontée de tous. Mit Rousseau die volontée générale als ein positives, weil auf das Allgemeinwohl bedachtes Wollen zu bewerten, in der volontée de tous dagegen nur das egoistische Eigeninteresse zu sehen, mag als Unterscheidung hingehen, kann aber, wenn aus der Unterscheidung eine Trennung wird, nur fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Sieht man dagegen, daß die volontée générale, welche den Staat und seine Autorität Wirklichkeit werden und sein läßt, nur eine vom Ergebnis her besonders qualifizierte Weise der volontée de tous ist, so erhellt auch, daß die Qualität der Staatsgewalt, die als solche gewiß dem Wollen des einzelnen Bürgers überlegen ist, dennoch nicht von einer grundsätzlich anderen Art ist, als menschliches Wollen überhaupt sein kann. Fragt man nämlich, welches die radikalste (negative) Weise menschlicher Willensausübung, die intensivste Verwirklichung des eigenen Wollens und seiner Macht ist, dann kann die Antwort nur lauten: Die Tötung des anderen Menschen. In der Vernichtung des anderen erfährt der Mensch, über welche Möglichkeiten er verfügt, wie weit sein Wollen gehen kann. Auf eben diese „Spitze" des Wollens und Könnens, über die jeder einzelne an sich verfügt, verzichten aber diejenigen, die den Staat bilden, zugunsten der Staatsgewalt (natürlich nicht, damit nun der Staat, bzw. seine Organe willkürlich über Leben und Tod verfügen, sondern damit diese Verfügungsmöglichkeit dem Einzel- und Parteiinteresse entzogen und nur in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Interesse: Sicherung des Bestandes der ganzen Gesellschaft, ausgeübt werde). Die durch diesen Verzicht der einzelnen neu entstandene Staatsgewalt vermag somit in der äußersten Form ihrer Ausübung, nämlich des „ius gladii", grundsätzlich auch nicht mehr, als der einzelne selber vermöchte. Daß dem Staat als einer Realität, die vom Willen der Vielen oder Aller getragen wird, gewöhnlich andere Mittel zur Verfügung stehen als dem einzelnen, macht seine diesbezügliche Gewalt nicht zu einer schlechthin
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qualitativ Gewalt.
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anderen, irgendwie
„übernatürlichen",
„übermenschlichen"
b) Das bisher Dargelegte läßt sich kurz und prägnant in dem Grundsatz neuzeitlicher Staatsphilosophie ausdrücken, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht. Alle Staatsgewalt hat ihren konstitutiven Grund, ihr Prinzip, im Wollen seiner Bürger, eben des Volkes. Würde - so utopisch-irreal dieser Gedanke sein mag - das Volk keinen Staatswillen mehr haben (also sich nicht nur gegen eine bestimmte Staats- und Verfassungs/orm, sondern gegen den Staat schlechthin stellen), so wäre der Autorität des Staates ihr Grund und Boden entzogen, wäre Staatsgewalt nur noch als heteronome Fremdherrschaft durchsetzbar. Das Prinzip „alle Gewalt geht vom Volke aus" ist der Frage nach der konkreten Verfassungsform des Staates selbstverständlich vorgeordnet. Mag dieses Prinzip in einem demokratisch verfaßten Staat klarer zutagetreten als in jedem anderen, so läßt sich dennoch auch von einem z. B. monarchisch verfaßten Staatswesen sagen, daß grundsätzlich die Existenz auch eines solchen Staates vom Wollen des Volkes, das sich zumindest in einem stillschweigenden Hinnehmen „äußert", abhängt. Selbst die Abschaffung vieler Monarchien seit der französischen Revolution ist ja nicht als ein Abschaffen des Staates schlechthin anzusehen, sondern nur als ein Abschaffen einer Staatsform, in der der maßgebliche Teil des Volkes (wer immer dies gewesen sein mochte) nicht mehr die angemessene Verwirklichungsweise seines Willens zum Staat sah und daher eine andere Stäatsform durchsetzte. Andererseits besagt der Grundsatz „alle Gewalt geht vom Volke aus" nicht, Autorität und Gewalt des Staates seien nicht wirklich Autorität über dem einzelnen Staatsbürger. Prinzip und tragender Grund der Staatsgewalt ist ja nicht der einzelne als solcher, auch nicht die einzelne Interessengruppe als solche, sondern eben „das Volk" als ganzes, so unscharf dieser Begriff an sich sein mag! (Wie im konkreten Konfliktsfall zu ermitteln sei, welches denn der wahre Wille des Volkes sei und wer ihn wirklich zum Ausdruck bringe, ist selbstverständlich eine andere Frage.) Dem Volk als ganzem stehen deshalb der Staat und seine Autorität nicht so gegenüber, wie sie dem einzelnen oder der Gruppe innerhalb dieses Volkes durchaus gegenüberstehen. (Der Gedanke an eine dem Volk als ganzem übergeordnete Staatsgewalt ist eine ebenso unsinnige Idee wie das wörtlich verstandene und so historisch vielleicht sogar mißverstandene „l'état c'est moi" Ludwigs XIV.). Der in seinem historischen Kontext freilich schon im Sinne einer demokratisch organisierten Staatsverfassung formulierte Grundsatz der neuzeitlichen Staatsphilosophie erweist sich somit bei näherem Durchdenken als die Formulierung eines transzendentalen Sachverhaltes, der noch grundlegender ist als die konkreten, geschichtlichen Ausgestaltungen, die ihm jeweils widerfahren. Sowenig freilich aus ihm eine bestimmte Staats- und
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Verfassungsform als allein ihm entsprechende abgeleitet werden kann, sowenig ist es möglich, mit ihm eine apriorische Unveränderlichkeit geschichtlich gewordener Staats- und Verfassungsformen zu beweisen. Im Gegenteil: Ändert sich das Prinzip aller Staatsgewalt, nämlich der Wille des Volkes, der ja selbst ein in der Geschichte stehendes Prinzip ist, so wird sich auch die konkrete Form ändern, vermittels derer Staatsgewalt sich darstellt und wirksam ist. c) Die bisherigen Überlegungen zur Entstehung und Begründung von staatlicher Leitungsgewalt, welche einerseits wirkliche Autorität gegenüber dem Einzelnen beinhaltet, andererseits doch eine dem Staatswesen selbst immanente, nämlich im Wollen seiner Staatsbürger gründende und insofern auch „abgeleitete" Gewalt ist, werden noch einsichtiger, wenn bedacht wird, wie näherhin das „Ziel" der Gesellschaft, um dessentwillen ihre Mitglieder den Staat bilden, aussieht: Es geht den Staatsbürgern ja um Sicherheit ihrer Existenz, um Frieden und Gerechtigkeit. Der Staat und seine Gewalt werden nicht um ihrer selbst willen, also im eigentlichen Sinne des Wortes „absolut" gewollt, sondern um des Lebens der Gesellschaft willen. Das formale Ursprungsprinzip der Staatsautorität ist somit nicht ein beliebiges Wollen, letztlich ist es der Lebenswille seiner Bürger, der sich in der Bildung des Staates geschichtlich konkretisiert und mit ihm das Mittel schafft, um sich selbst durchzusetzen. Ziel und Mittel, dauerhafte Sicherung des Lebens der Gesellschaft und staatliche Autorität, sind somit nicht nur äußerlich miteinander verbundene, sondern (zwar unterscheidbare, aber doch:) im Ursprung wesenhaft untrennbare Größen. d) Dieses „Modell" zur Begründung wirklicher Autorität des Staates, die dennoch ihm selbst immanent ist und ihm nicht erst aus einer heteronomen Instanz zukommt, läßt sich nun auch auf die „societas" Kirche anwenden. 11 Die Berechtigung hierzu erhellt daraus, daß, erstens, auch die Kirche als eine institutionell organisierte Gesellschaft in der Geschichte existiert 12 ; daß, 11 Dies um so mehr, als so auch die geschichtlichen Fakten von Neueinsätzen, Entwicklungen und Veränderungen kirchlicher Verfassungsgegebenheiten zwangloser verständlich werden, als es bei Inanspruchnahme des traditionellen hierarchologischen Modells möglich ist, nach dem die Leitungsgewalt der Kirche ebenso wie die verfassungsmäßigen Formen, in denen sie auszuüben sei, ihr vorgeschrieben worden und daher a priori ihrer Disposition entzogen seien. Dieses Modell führte zudem, theologisch-dogmatisch gedacht, zu weiteren Konsequenzen; es verlangte nämlich, den Begriff der göttlichen Offenbarung so auszuweiten, daß die nachösterliche Kirchengeschichte selbst zur Offenbarung wird - was aber gerade hierarchologischer Ekklesiologie zutiefst widerspricht. 12 Zum guten Ton heutiger Ekklesiologie gehört es zwar, Begriffe wie Gesellschaft, Jurisdiktion, Gewalt, Recht und ähnliche möglichst zu vermeiden, zumindest nachdrücklich zu betonen, daß alle Gewalt in der Kirche „geistlicher" Art sei, zum Dienst am Volke Gottes und nicht zur Herrschaft über die Kirche gegeben sei. Überhaupt sei es ein MißVerständnis, hier in Kategorien weltlichen Rechtes zu denken; das Wesen der Kirche sei nicht als Gesellschaft, sondern nur als Gemeinschaft zu begreifen. Doch man muß auch nüchtern bleiben. Dergleichen Versicherungen schaffen nicht aus der
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zweitens, die konkreten Formen ihrer i n s t i t u t i o n e l l e n Verfaßtheit sich weder historisch n o c h theologisch auf A n o r d n u n g e n einer i h r
vorgeordneten
Instanz (sei es der vorösterliche Jesus, sei es der auferstandene
Herr)
z u r ü c k f ü h r e n lassen; daß es aber, drittens, sein Bewenden n i c h t dabei haben k a n n , dieses i h r i n s t i t u t i o n e l l e s Verfaßtsein als ein l e t z t l i c h „ i r r a t i o n a l e s " F a k t u m n u r „ g l ä u b i g " hinzunehmen. Gewiß h a t die Existenz v o n A m t u n d A u t o r i t ä t m i t dem G l a u b e n zu tun. A b e r w i e i m folgenden darzulegen sein w i r d , ist das V e r h ä l t n i s v o n a m t l i c h e r A u t o r i t ä t u n d Glaube n o c h n i c h t w i r k l i c h begriffen, w e n n es i n t r a d i t i o n e l l e r M a n i e r n u r
dahingehend
b e s t i m m t w i r d , daß der Glaubende die W i r k l i c h k e i t a m t l i c h e r A u t o r i t ä t eben als etwas i h m Vorgegebenes z u respektieren habe. D a m i t w i r d n u r erst gesagt, was (zumindest w e i t h i n ) der F a l l ist, n i c h t aber w i r d d a m i t auch schon das eigentliche W a r u m u n d W o z u begriffen. Geht m a n dieser Frage nach, so lassen s o w o h l die historischen Tatsachen als auch die systematische Reflexion, die auf das innere Wesen des c h r i s t l i c h e n Glaubens abstellt, erkennen, daß das V e r h ä l t n i s v o n Glaube u n d A u t o r i t ä t , v o n Gottesvolk u n d Leitungsgewalt, als ein u r s p r ü n g l i c h e r u n d dialektischer Begründungszusammenhang begriffen w e r d e n muß. Dieser ist eben n i c h t solcher A r t , daß es f o l g l i c h dem G l a u b e n n u r zukäme, der L e i t u n g s g e w a l t Gehorsam entgegenzubringen, w ä h r e n d es dem A m t aufgegeben sei, dem G l a u b e n z u dienen w o b e i beide als an sich i m G r u n d e eigenständige Größen zu denken wären,
Welt, daß die Kirche eben auch eine Gesellschaft ist. (N.b. Immer noch haftet mir Paul Mikats lakonisches Wort im Gedächtnis: „societas non formata non existit"). Das festzustellen heißt keineswegs, nach den verlassenen Fleischtöpfen der nachtridentinischen Ekklesiologie (Kirche als „societas perfecta") zu schielen, sondern verlangt nur, auch das Gesellschaftliche und Rechtliche der Kirche theologisch (dazu s. u. Fn. 17) gründlich zu durchdenken. Wenn dagegen sogleich auf das Wesen der Kirche als Gemeinschaft abgestellt wird, so kann sich auch der Verdacht nahelegen, es handle sich um eine theologisch-pastorale Kosmetik, ja, es solle mit schönen Worten einem genaueren Weiterdenken aus dem Wege gegangen werden, Rhetorik solle Theologie ersetzen. Nun mag Rhetorik an ihrer Stelle einen guten Sinn haben. Doch Probleme, die wirklich solche sind, vermag sie nicht aus der Welt zu schaffen, geschweige denn zu lösen. Die hier anstehende Frage ist nicht die nach einer nur geistlichen Dienstvollmacht, von der kein Mensch zu sagen weiß, was das nur, das geistlich und das Dienstam Charakter der Vollmacht als solcher ändern könne außer der Gesinnung, in der von dieser Vollmacht Gebrauch gemacht wird; sondern die nach dem geschichtlichen (s. o. Fn. 3) Woher eben dieser Vollmacht, der Jurisdiktionsgewalt, kraft derer Personen als Amtsinhaber in der Kirche befugt sind, Entscheidungen zu treffen und Anerkennung ihrer Entscheidungen zu verlangen. Auch die Forderung, in Sachen kirchlicher Leitungsautorität nicht in Kategorien des Rechtes zu denken, muß entschieden zurückgewiesen werden, mag sie sich noch so gut anhören. Sie verrät nicht nur mangelndes Verständnis für Sinn und Notwendigkeit des Rechtes in hochkulturellen sozialen Gebilden, zu denen auch die Kirche gehört, sondern auch eine Tendenz zur Rückkehr in „primitivere", ursprünglichere Organisationsformen menschlichen Daseins (wie etwa der Familie), in denen es nur so etwas wie eine „natürliche", selbstverständliche Autorität gibt, die daher auch keiner eigenen Rechtfertigung oder Begründung bedarf, die dort vielmehr „ i n der Natur der Sache selbst" liegt; die somit im Grunde auch nicht in Frage gestellt werden kann, geschweige denn, daß sie sich vor denen, die diese Autorität anzuerkennen haben, zu verantworten hätte.
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die genaugenommen nur äußerlich-funktional aufeinander hingeordnet sind. 13 Vielmehr zeigt sich, daß sehr wohl Amt und Institution zuallererst aus dem Glauben der Gemeinde als ganzer hervorgehen, daß in ihm ihre geschichtlichen Wurzeln liegen und ihre Autorität gründet, daß sie somit ohne diesen Wurzelgrund hinfällig werden müssen. 3. Der Glaube der Gemeinde als bleibender Ursprung von Leitungsgewalt in der Kirche Eine historische Gründung oder Stiftung der Kirche und bestimmter Ämter in ihr durch Jesus selbst ist, wie bereits gesagt (s. o. Fn. 3), nicht nachweisbar. Kirche als organisierte Gemeinde und damit als auch geschichtlich relevante Institution entstand erst (nach der ersten, unmittelbar nachösterlichen Zeit) aufgrund des Glaubens, daß Gott Jesus auferweckt hat und dies von heilsentscheidender Bedeutung ist, daß daran festgehalten und es weiterverkündet werden muß. Kirche ist somit ein Ergebnis des geschichtlichen Glaubenwollens. (Angesichts der ersten, unmittelbar nachösterlichen Erwartung eines bevorstehenden Wiederkommens des Auferweckten zur Errichtung eines messianischen Gottesreiches, die sich als verfehlt herausstellte, darf man sogar von einem „Dennoch-weiterglaubenWollen" sprechen.) Die Frage ist daher, wie eben dieses Glaubenwollen an den Gott, der Jesus auferweckt hat, als ein kirchenstiftendes Prinzip zu begreifen ist, auf welches somit auch die kirchliche Leitungsgewalt zurückgeht. a) Hierzu müssen wir zunächst auf die mehr formale Seite des Glaubens als eines Aktes oder einer Einstellung und Haltung des Glaubenden abstellen, ohne daß dabei die inhaltlich-zielhafte Bestimmung des Glaubens außer acht zu lassen wäre. 14 Zu letzterem gehört insbesondere, daß den Glauben13 Eine solche Konzeption bleibt letztlich der Sicht der nachtridentinisch-vorkonziliaren Ekklesiologie verhaftet, nach der die Kirche in eine Amtskirche einerseits und das Volk der Laien andererseits auseinanderfällt. Diese Sicht ist ja im Grunde nicht wesentlich, sondern nur „kosmetisch" geändert, wenn betont wird, die Aufgabe des Amtes sei selbstverständlich, dem Volk zu „dienen". Daß das Amt nicht um seiner selbst willen existiere, daß es nicht Herrschafts-, sondern Dienstamt ist, könnte auch ein Vertreter der alten Ekklesiologie mit gutem Gewissen sagen - und welcher Amtsinhaber hätte dem nicht immer schon gerne beigepflichtet! Doch damit ist noch lange nicht wirklich begriffen - und begreifen heißt: den Dingen auf den Grund gehen, ihre letztlich maßgebenden Prinzipien und Strukturen aufdecken und deren mögliche Konsequenzen bedenken - , was es bedeutet, daß das ekklesiologisch grundlegende Kapitel I I der Kirchenkonstitution Lumen Gentium zuerst über das gläubige Gottesvolk als ganzes handelt und erst in den dann folgenden Kapiteln I I I und IV über die Hierarchie und über die Laien „ i n der Kirche" gesprochen wird. 14 Ausführliche Darlegung zum Wesen des Glaubens s. Verf., Glauben und Wissen, MThZ 30 (1979), S. 1 - 10; ders., Der verständige Umgang mit der Welt. Differenz und Vermittlung von Theorie und Erfahrung in Erkenntnis und Wissenschaft, Amsterdam 1974.
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den von dem sich in Jesus Christus geoffenbart habenden Gott „Heil" und „Leben" verheißen sind. Schon von diesem „Glaubensgegenstand", von dieser „Glaubenswahrheit" her erhellt, daß Glauben im vollen Sinne nicht ein bloßes „Wissen-um" sein kann, sondern als eine existentielle, das ganze Sein des Menschen betreffende Einstellung zu verstehen ist, geht es doch letztlich um sein Leben, sein Heil. Glauben im vollen Sinne ist das Annehmen und Sichausrichten auf diese Verheißung hin. Im Glauben vollzieht sich also das Lebenwollen des Menschen auf eine neue Weise, insofern für den Glaubenden Gott selbst der letzte sinngebende Grund und das eigentliche Ziel seines Lebenwollens ist. Das Lebenwollen ist und bleibt aber, gerade als auf den Gott der geschichtlichen Selbstoffenbarung ausgerichtetes, ein Wollen in der Geschichte. 15 Somit liegt es auf der Hand, daß die Glaubenden um der Bewahrung und Sicherung und um der Weiterverkündigung ihres Glaubens willen Kirche bilden, ihren Glauben als Gemeinde leben. Damit richtet sich aber ihr Glaubenwollen nicht nur auf das „Letzte" und „Eigentliche" 1 6 , sondern es w i l l auch dieses Kirchensein mit dem, was eben zum Kirchesein in der Geschichte hinzugehört. Die Antwort auf die Frage: „Worin gründet, geschichtlich gesehen17, die Leitungsgewalt in der Kirche, derer es zum geschichtlichen Bestehen von Kirche zweifellos bedarf?", kann daher nur lauten: Sie gründet im Glaubenwollen der Gemeinde als ganzer, also aller Glaubenden, in ihrer „volontée générale". Ohne dieses Wollen aller wäre es damals nicht zur Bildung einer Gemeinde in Jerusalem gekommen, ohne den heutigen Glaubenswillen des Volkes Gottes gäbe es heute nicht Kirche. Dabei war das Tun derer, die damals die Initiative ergriffen, 15 Dazu s. Verf., Gottesliebe - Nächstenliebe. Überlegungen zum sogenannten Doppelgebot im Lichte des biblischen Schöpfungs- und Bundesglaubens, in: M. Knapp / Th. Franke / J. Schmid (Hrsg.), Creatio ex amore. Beiträge zu einer Theologie der Liebe (FS A. Ganoczy), Würzburg 1988, S. 60 - 83. 16 Nämlich Gott selbst als das „obiectum formale" des „actus fidei". 17 „geschichtlich gesehen", das bedeutet keineswegs „rein profanhistorisch gesehen"! Sehr wohl handelt es sich bei diesen Überlegungen um ein Stück theologischer Ekklesiologie. Es soll ja nicht im geringsten in Frage gestellt sein, daß das Glauben der gemeindebildenden Christen selbst wiederum Gabe und Wirkung des Gottesgeistes, des Pneumas ist. (s. dazu Verf., Gott in Welt. Umrisse christlicher Gotteslehre, St. Ottilien 1988, S. 26 - 31.359 f.) Aber dieses Glaubenswissen, daß Gott selbst der „eigentliche" Grund alles Kirchlichen ist, schließt nicht aus, sondern ein, daß das kirchliche Sein und Wollen der Glaubenden auch als menschlich-geschichtliche Wirklichkeit ganz ernst zu nehmen ist. Gottes Wirken ersetzt ja nicht, sondern ermöglicht und erwirkt gerade das menschliche Wollen und Tun. Und das bedeutet eben: Das theologische Denken, welches um die göttliche Dimension des Ekklesiologischen weiß, schließt das (somit nur scheinbar rein profanhistorische) geschichtliche Denken nicht aus, sondern ein. Ja, es bedarf dessen sogar, wenn anders Gottes Heilswille eben diesem geschichtlichen Kirchesein gilt. Ekklesiologie, die das Menschlich-Geschichtliche der Kirche in seiner Eigenart nicht realisiert oder es (mehr oder weniger bewußt und aus welchen Gründen auch immer) zu einer quantité négligeable macht, muß sich im Grunde den Vorwurf eines ekklesiologischen Doketismus gefallen lassen - welcher Vorwurf im übrigen sowohl gegenüber triumphalistisch-hierarchologischer Ekklesiologie als auch gegenüber ihrem spiritualisierenden Widerpart zu erheben wäre.
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n i c h t weniger ein K o n k r e t i s i e r e n ihres Glaubenwollens, als das bloße E i n verstandensein u n d Z u s t i m m e n derer, die dabei (wie auch heute) selbst n i c h t sonderlich i n den V o r d e r g r u n d traten. N u r w e i l alle B e t e i l i g t e n G l a u bende sein u n d es w e i t e r b l e i b e n w o l l t e n , k o n n t e es z u einer v o n i h n e n als l e g i t i m anerkannten A u t o r i t ä t i n der Gemeinde kommen. U m g e k e h r t : W e r da n i c h t m i t m a c h t e , der gehörte n i c h t z u dieser Gemeinde, aber es gab f ü r i h n auch keine k i r c h l i c h e A u t o r i t ä t über i h m . G r u n d u n d Basis k i r c h l i c h e r L e i t u n g s g e w a l t w a r also v o n A n f a n g an die sich als solche konstituierende, glaubende Gemeinde; u n d das ist w o h l auch heute n i c h t anders zu d e n k e n . 1 8 b) Das Entstehen v o n L e i t u n g s g e w a l t w a r also ein geschichtlicher V o r gang, der, e i n m a l i n G a n g gebracht, ein bleibendes dialektisches V e r h ä l t n i s i n der K i r c h e selbst k o n s t i t u i e r t e , d. h. e i n V e r h ä l t n i s gegenseitiger A b h ä n 18
Gegenüber diesen Überlegungen verschlägt nicht der Einwand, die Anwendung des „Demokratiemodells" auf die Kirche sei unstatthaft, weil damit letztlich an die Stelle der Offenbarung und des Glaubens an die Wahrheit Gottes das bloße menschliche Wollen und Meinen trete. Als Schreckgespenst wird nicht selten die Vorstellung beschworen, am Ende werde per Abstimmung darüber entschieden, was der Christ zu glauben habe. Auf diese Weise wird lediglich der Punkt, auf den es hier ankommt, überspielt, um so die entscheidende Frage gar nicht zu Wort kommen zu lassen. Die Wahrheit der Offenbarung steht als solche hier gar nicht zur Debatte; und die Vorstellung, am Ende werde durch Abstimmung darüber entschieden, ob Jesus Christus auferweckt worden sei oder nicht, ist ebenso unsinnig wie die Vorstellung, 51 oder auch 100 % der Bürger eines Staatsvolkes könnten darüber befinden, ob der Satz, die Erde bewegt sich um die Sonne, wahr sei oder nicht. Was zur Wahrheit des christlichen Glaubens gehört, mag im einzelnen vielleicht ein Problem oder gar strittig sein. Doch über die Wahrheit als solche können weder das Volk Gottes als ganzes, noch eine Mehr- oder Minderheit, noch eine Institution verfügen. Ganz Analoges gilt aber auch vom demokratisch verfaßten Staat, sofern wir hierzu als selbstverständlich voraussetzen dürfen, daß der neuzeitlich-moderne Demokratiegedanke selbst nochmals die Gültigkeit der sog. Menschenrechte voraussetzt und eben diesen zur geschichtlichen Durchsetzung und Sicherung verhelfen will. Die „Wahrheit" dieser Menschenrechte steht im demokratisch verfaßten Staat grundsätzlich ebensowenig zur Disposition wie die „Wahrheit" der Offenbarung in der Kirche - was leider die Möglichkeit nicht ausschließt, daß hier wie dort auch gegen dieses jeweils Vorgegebene bzw. die mit ihm aufgegebenen Verpflichtungen verstoßen werden kann. Formell zur Entscheidung steht aber die Frage, in welcher Weise und durch wen jeweils die zur Wahrung und Durchsetzung dieser Grundrechte und Grundpflichten notwendige Leitungsgewalt im Staat ausgeübt werden soll. Und hier stehen durchaus verschiedene Möglichkeiten zur Wahl. Der oft zu lesende Einwand, kirchliche Amtsinhaber seien nun einmal nicht mit demokratisch gewählten Abgeordneten zu vergleichen, ist nun wirklich nicht sonderlich stichhaltig, verrät im übrigen ein unzureichendes Verständnis von parlamentarischer Demokratie. Zutreffen könnte er nämlich nur, wenn der Abgeordnete lediglich der Interessenvertreter einer bestimmten Gruppe oder seines Wahlkreises oder seiner Partei wäre. Das ist er aber gerade nicht! Der einzelne Abgeordnete erhält ja seine „Leitungsgewalt", die er in seiner Mitwirkung an der Gesetzgebung ausübt, nicht von seinem Wahlkreis bzw. von denjenigen, die ihm ihre Stimme gegeben haben; sondern „Leitungsgewalt" erhält nur das ganze Parlament als solches vom Volk als ganzerai Daher ist auch der einzelne Parlamentarier zunächst einmal diesem Ganzen verpflichtet und kann konsequenterweise auch nicht von einer einzelnen Interessengruppe abgewählt werden. (Man repliziere nicht, das sei bloße Theorie, die Praxis sehe doch sehr viel anders aus! Denn dieses Argument, wenn es nun eins sein sollte, ließe sich wohl auch der Kirche vorhalten. Wie stünde sie da, gäbe es nicht die sinnvolle Unterscheidung von „Theorie" und Praxis?)
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gigkeit, insofern die glaubende Gemeinde Leitungsgewalt und Autorität sowohl begründet als auch braucht, um als Gemeinde existent bleiben zu können. 19 Zur geschichtlichen Realität gehört nun freilich auch, daß das Amt, in dem sich die Leitungsgewalt konkretisiert, im Laufe der Zeit ein gewisses Übergewicht gewinnt. 20 Das Amt soll ja den Bestand des Ganzen sichern, kann daher nicht von Tag zu Tag in Frage gestellt werden. Menschlich-allzumenschlich ist es daher aber auch, daß die jeweiligen Inhaber der Leitungsgewalt ihre Autorität, die ihnen aufgrund des Glaubenwollens der ganzen Kirche zukommt, dadurch zu sichern und zu verstärken suchen, daß sie selbst die Eigenart des Institutionellen nun so darstellen, daß als Grund nicht mehr auch das Glaubenwollen aller, sondern nur noch eine eigene, davon unabhängige Instanz behauptet wird. Ansätze zu einer solchen Praxis zeigten sich ja bereits in der Urkirche im Gebrauch der Formel „der Herr ist ihnen erschienen" im Hinblick auf Jakobus und die anderen (= alle) „Apostel". Eine solche Praxis vermag sich um so eher durchzusetzen, je älter das bestehende Ganze ist und je mehr die wirklichen geschichtlichen Anfänge sich im Dunkel der Vergangenheit verlieren; weiter: Je größer das Gewicht des immer schon so Gewesenen und sich als erfolgreich erwiesen Habenden gegenüber der jeweiligen Gegenwart erscheint. Doch auch ein solcher Wille zur Verabsolutierung von Leitungsgewalt und Autorität durch Zurückführung auf eine dem Ganzen der glaubenden Kirche gegenüber vor-gegebene, in gewissem Sinne „heteronome" Instanz ist selbst wieder nur ein allzu bekanntes, geschichtlich-menschliches Phänomen. Er läßt sich nur solange durchsetzen, als die jeweilige Gegenwart „mitmacht". Ändert sich, wie im politischen Bereich die „volontée générale", so im kirchlichen der Glaube, der „sensus fidelium" in seiner konkreten Gestalt, indem er neue Wege und Mittel ersinnt, um den alten Glauben in der neuen Geschichte durchhalten zu können, so entlarvt dies die „heteronomistische" Begründung (sofern diese dazu dienen soll, nicht nur die allgemeine Notwendigkeit von Leitungsgewalt überhaupt, sondern auch die konkrete, geschichtliche Verfassungsform derselben als unabänderlich zu legi-
19 Vgl. K. Gabriel, Machtausübung in der heutigen Kirche im Spiegel sozialwissenschaftlicher Machttheorien: Max Weber, Michel Foucauld und Hannah Arendt, in: Concilium 24 (1988), S. 190 - 195.193 f.: „So besitzen die Bischöfe als formelle Träger der Machtposition in den Bistümern Macht nur so weit, als sie Zustimmung im Kirchenvolk finden. Hinter der Notwendigkeit der Unterstützung durch das Kirchenvolk tritt selbst die Frage nach der speziellen Ausprägung der Machtstruktur zurück. So bedarf ein monarchisch strukturiertes Bischofsamt nicht weniger, sondern eher mehr Unterstützung durch das Kirchenvolk als ein demokratisches, um faktisch Macht ausüben zu können." - Nur nebenbei sei hier auf den ganz analog gelagerten Problemkreis „Rezeption von lehramtlichen Aussagen" und auf das dialektische Verhältnis von Unfehlbarkeit der glaubenden Kirche als ganzer und Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes hingewiesen. 20 Diese Entwicklung läßt sich bekanntlich schon in der Geschichte des ersten Jahrhunderts der Kirche beobachten.
Demokratie i n der Kirche?
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timieren) alsbald als bloßen, ohnmächtigen Schein. Auch dafür gibt es genügend historische Beispiele sowohl aus dem Bereich der politischen als auch aus dem Bereich der kirchlichen Geschichte. Man denke an die Königsideologien der frühen Großreiche, an die französische Revolution, an den Primatsanspruch der Päpste gegenüber den Ostkirchen, der immer nur auf dem Papier behauptet werden konnte, nie ein „fundamentum in re", nämlich im Glaubenwollen der ostkirchlichen Christen selbst hatte. Dergleichen Entlarvung mag peinlich sein; bedenklicher noch ist es, wenn auch die Erben derer, die vorher so hoch reizten, indem sie ihre Autorität mit einer übergeschichtlichen Fundierung glaubten absichern zu können, immer noch meinen, diese Begründung aufrechterhalten zu müssen, weil nur so wirkliche Autorität in der Kirche garantiert werden könne. c) Mit der hier vorgelegten theologisch-geschichtlichen Begründung von Autorität und Leitungsgewalt in der Kirche ist natürlich kein Kriterium gewonnen, anhand dessen nun geurteilt werden könnte, in welcher konkreten Rechtsform kirchliche Autorität auszuüben sei. Das gilt sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht: Weder läßt sich eine bestimmte Verfassungsform als allein dem Grundprinzip, daß auch in der Kirche alle geschichtliche Leitungsgewalt vom ganzen glaubenden Volk Gottes ausgeht (und so als im Glaubenwollen der Kirche begründete auch geistliche Gewalt genannt werden kann), konform deduzieren noch läßt sich mit Hilfe dieses Prinzips beweisen, irgendeine Verfassungsform müsse dem Wesen der K i r che grundsätzlich widersprechen. Im Gegenteil stellt sich die Einsicht in dieses Prinzip lediglich als eine ideologiekritische, nämlich sowohl gegen positive als auch gegen negative Verabsolutierungsversuche gerichtete Einsicht dar. Ineins damit verweist sie aber - und dies ist dann doch eine „positive" Konsequenz - um so nachdrücklicher darauf, daß auch in Fragen kirchlichen Verfassungsrechtes und seiner Anwendung das Moment der Freiheit, welches bekanntlich von der theologischen Reflexion gerade heute als so wesentlich zum Glaubensvollzug gehörig herausgestellt wird, von entscheidender Bedeutung ist: Freiheit aber nicht nur als eine „Zielgröße", als endgültige Befreiung in einer jenseitigen Vollendung der Herrschaft Gottes, sondern Freiheit auch als die Weise, in der das Gottesvolk schon im Heute seiner Geschichte den Glauben zu leben und zu verantworten hat. Freilich, als geschichtliche Aufgabe bedeuten Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Glaubens für ihr konkretes, sozial und letztlich auch politisch relevantes Wie nun nicht einfach Willkür, Beliebigkeit und Ungebundenheit. Wäre dies mit Freiheit des Glaubens gemeint, so ließe sich leicht prognostizieren, daß solches Glauben wohl bald aus dem Feld der Geschichte verschwinden würde. Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Glaubens implizieren vielmehr die Verpflichtung zu fragen und zu bedenken, welche Formen praktischen kirchlichen Lebens dem Glaubenwollen
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heute und damit auch weiterhin am besten zu entsprechen und zu dienen vermögen. Darüber zu urteilen ist nicht nur Sache des Glaubenwollens als solchen, seiner Entschlossenheit und Begeisterung, sondern auch der Klugheit, der Erfahrung und der Einsicht in das praktisch Mögliche. Nicht alles, was grundsätzlich denkbar ist und an sich legitim wäre, ist schon deshalb im jeweiligen geschichtlichen Heute das Bestmögliche. 21
21 Nach Abschluß dieses Aufsatzes finde ich ähnliche Überlegungen in dem schönen Beitrag von A. Müller, Ekklesiologische Erwägungen zum Thema ,Gehorsam', in: J. Pfammatter / E. Christen (Hrsg.), Theologe und Hierarch (Theologische Berichte Bd. 17), Einsiedeln 1988, S. 111 - 144; bes. S. 125f., 128 - 131, 133.
Die kirchlichen Privatschulen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Normen über das Schulwesen* Von Christian Starck I. Staatliche Schulhoheit und freiheitlicher Staat Wie in den meisten westeuropäischen Staaten wird auch in der Bundesrepublik das Schulwesen als Sache des Staates angesehen1. Art. 7 Abs. 1 GG legt fest, daß das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Der Begriff der staatlichen Schulaufsicht, der schon in Art. 144 Weimarer Reichsverfassung vorkommt, verleiht dem Staat ein Bestimmungsrecht gesetzgeberischer, aufsichtlicher (kontrollierender) und verwaltender (ausführender) Art, das hier abgekürzt als staatliche Schulhoheit bezeichnet wird. Diese verfassungsrechtlich verankerte staatliche Schulhoheit in der Bundesrepublik ist das Ergebnis der historischen Entwicklung der letzten 200 Jahre 2 . Dabei wirkten verschiedene Ursachen zusammen. Nach dem wohlfahrtsstaatlichen Denken des aufgeklärten Absolutismus ist der Staat um des Wohlergehens seiner Bürger willen und zur eigenen Stärkung zum Schulehalten verpflichtet. Die der preußischen Staats- und Bildungsreform zu Anfang des 19. Jahrhunderts zugrundeliegende Vorstellung, daß der Staat die Nation repräsentiere, die eigentlich für die Erziehung verantwortlich sei, wirkte ebenso auf die Verstaatlichung der Schule, weil der Staat als Repräsentant der Nation angesehen wurde. Schließlich bemächtigte sich der Staat der Schulen über die Einverleibung der Kirchen, die die wesentlichen Erziehungsträger waren. Während der Staat später die Kirchen aus seiner Herrschaft entließ, behielt er die Schulhoheit bei. Die staatliche Schulhoheit ist heute eine solche des freiheitlichen Staates. Freiheitlicher Staat steht für die im Grundgesetz normierten Aufbauprinzi* Vortrag, gehalten auf dem 2. Deutsch-Spanischen Symposion zum Verhältnis von Staat und Kirche in Madrid im Jahre 1987. Eine spanische Ubersetzung „Las escuelas privadas de la Iglesia en el marco de las normas constitucionales sobre ensenanza" ist veröffentlicht in Estudios Eclesiasticos 62, 1987, S. 467 - 481 sowie in: C. Corral / J. Listi (ed.), Constitucion y Acuerdos Iglesia-Estado, Madrid 1988, S. 213 - 227. 1 Willi Geiger, Kirchen und staatliches Schulsystem, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1975, S. 483, 490. 2 Dazu mit Nachweisen Christian Starck, Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, in: Essener Gespräche 9, 1975, S. 9ff.
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pien und Ziele des Staates. Danach ist Schule Sache des Staates, soweit nicht verfassungsrechtliche Garantien die Kompetenzen des Staates beschränken. Solche Garantien sind das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2 GG), die Privatschulfreiheit (Art. 7 Abs. 4 und Abs. 5 GG), die Garantie des konfessionellen Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 3 GG) und die Grundrechte der Schüler. Bei der Regelung der inneren Schulangelegenheiten - Schulorganisation, Lehrplan, Unterricht, Schulbesuch, Disziplin, Lehrerbildung und Lehrerauswahl - muß der Staat außer den genannten Garantien die landesverfassungsrechtlich festgelegten Erziehungs- und Bildungsziele berücksichtigen. Der bunte Strauß von Erziehungszielen 3 läßt sich deutlich in drei Grundziele gruppieren: Der junge Mensch soll zu sich selber finden; er soll anderen gegenüber duldsam sein; er soll lernen, soziale und politische Verantwortung zu übernehmen 4 . Die staatlichen Kompetenzen auf dem Gebiete des Schulwesens üben die Länder aus, da das Grundgesetz dem Bund entsprechende Kompetenzen vorenthält 5 . Schulföderalismus ist ein Markenzeichen der Bundesrepublik. Wir haben es mit elffach verschiedenem Landesschulrecht, auch im Hinblick auf die noch näher zu behandelnden Privatschulen, zu tun, das jedoch durch die hier zu erörternden bundesverfassungsrechtlichen Prinzipien überwölbt und bestimmt wird. Unitarisierend wirkt die Zusammenarbeit der Länder in der Kultusministerkonferenz und die verfassungsrechtliche Kompetenz zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Bildungsplanung (Art. 91b GG). Überdies gibt es unter dem Gesichtspunkt der Freizügigkeit der Eltern mit schulpflichtigen Kindern einen starken Drang zur Vereinheitlichung des Schulwesens. Die staatlichen Kompetenzen auf dem Gebiete des Schulwesens sind auf den Landesgesetzgeber, die Landesverwaltung und die Lehrer verteilt. Wurde früher die Schule von der Exekutive regiert, hat sich seit den 70er Jahren - als Nebenprodukt vielfältiger, äußerst streitiger Reformen - mehr und mehr das Bewußtsein durchgesetzt, daß die grundlegenden Regelungen des Schulwesens dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten sind 6 . Die Angelegenheiten der Schule sollten aus den von Soziologen und Pädagogen unterwanderten Amtsstuben der Kultusministerien heraus in das öffentlich tagende Parlament getragen werden und damit der kontroversen Diskussion zwischen Regierung und Opposition ausgesetzt sein 7 . 3 Vgl. die Zusammenstellung bei Starck (Fn. 2), S. 22; grundlegend Hans-Ulrich Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979, passim; vgl. ferner Peter Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 46ff. 4 Auffällige Parallele in Art. 27 Nr. 2 spanische Verfassung. 5 BVerfGE 27, 195, 200. 6 Zum Problem ausführlich Rupert Scholz / Hans Bismark, Schulrecht zwischen Parlament und Verwaltung, in: Schule im Rechtsstaat, Bd. II, hrsg. v. Deutschen Juristentag, 1980, S. 73 ff.
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Im Schulverhältnis zeigt sich, wie Leistungs- und Organisationsrecht den Kern der Persönlichkeit des Menschen betreffen kann; der Unterrichtsstoff, die Art seiner Vermittlung, Lehrerbildung und Schulorganisation üben prägende Kraft auf die Persönlichkeit der Kinder aus. Die vom Staat erbrachte und organisierte Leistung der schulischen Erziehung bedarf daher in ihren Grundlinien einer gesetzlichen Vorausbestimmung 8 . Grundlinien sind die zumeist freilich schon verfassungsrechtlich normierten Erziehungsziele, Vorschriften zu den die Persönlichkeit des Schülers und das Elternrecht stark berührenden Materien der Sexualkunde 9 , der Ethik und der sonstigen Lebenskunde, die Schulorganisation, soweit sie die Bildungsgänge 10 , die Schulformen und eine eventuelle Auflösung der Klassenverbände 11 betrifft, ferner die Schulversuche 12 , sowie das Prüfungs- und Versetzungswesen 13. Diese hier geschilderte Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts muß stets berücksichtigen, daß Erziehung nicht im einzelnen allgemein vorausbestimmt werden kann. Dieses Programmierungsdefizit auf dem Felde der Erziehung ist aber nicht nur Faktum, sondern zugleich Konsequenz aus dem grundrechtlichen Anspruch auf individuelle pädagogisch vertretbare Behandlung der Schüler 14 . - Den Lehrern ist nach deutschem Schulrecht die sog. pädagogische Freiheit nicht um ihrer selbst willen, sondern um der ihnen anvertrauten Jugend willen gegeben15. Der Lehrer soll im Rahmen der stofflichen Vorgaben des Lehrplans seine inneren persönlichen und seelischen Kräfte freisetzen können, um den Unterricht optimal zu gestalten. Die pädagogische Freiheit ist kein Grundrecht, weil anderenfalls die staatliche Schulhoheit aus den Angeln gehoben würde. Eine grundrechtliche Position der Lehrer als Amtsträger würde den Schutz der ihnen unterworfenen Schüler und ihrer Eltern unerträglich vermindern.
7 Über den Zusammenhang von Gesetzgebungsverfahren, Gesetzesinhalt und Vorbehalt des Gesetzes vgl. Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 157 - 175. 8 Thomas Oppermann, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen?, Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages Bd. I, 1976, S. 44ff.; Christian Starck, Staatliche Schulhoheit, pädagogische Freiheit und Elternrecht, in: Die öffentliche Verwaltung 32, 1979, 269, 270ff.; Gunter Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, in: Neue Juristische Wochenschrift 32, 1977, 1313ff.; Hans-Uwe Erichsen, Schule und Parlamentsvorbehalt, in: Festschrift für die Juristische Gesellschaft in Berlin, 1984, S. 113 ff. 9 BVerfGE 47, 46, 83; dazu Oppermann, in: Juristenzeitung 1978, 289ff. 10 BVerfGE 34, 165, 193. 11 BVerfGE 45, 400, 418. ι 2 OVG Hamburg, in: Deutsches Verwaltungsblatt 95, 1980, 486, 487. 13 BVerwGE 56, 155 ff. 14 Starck (Fn. 8), S. 271. 15 Starck (Fn. 8), S. 272 ff. mit weiteren Nachweisen.
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II. Das Elternrecht in der Schule Bei der Skizzierung der Zuständigkeiten und Grenzen des Staates für die Gestaltung der Schule ist bereits das Elternrecht als Grenze erwähnt worden. Daß das Elternrecht die staatlichen Kompetenzen im Schulwesen beschränkt, bedeutet einen Wandel verglichen mit der Rechtslage zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung. Im Gegensatz zu dem früheren Grundsatz „Elternrecht zu Hause, Staatsrecht in der Schule" 1 6 hat das Bundesverfassungsgericht im Anschluß insbesondere an Hans Peters 17 entschieden 18 : „Der staatliche Erziehungsauftrag in der Schule, von dem Art. 7 Abs. 1 GG ausgeht, ist in seinem Bereich dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet. Diese gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule, welche die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes zum Ziele hat, läßt sich nicht in einzelne Kompetenzen zerlegen. Sie ist in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen". Mit dieser Aussage geht das Bundesverfassungsgericht von der früheren sektoralen Aufteilung der staatlichen und elterlichen Aufgaben ab, die auch noch von einigen Bildungsrechtlern zur besseren Durchsetzung staatlicher Reformvorhaben vertreten worden ist. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts bringt nur eine prinzipielle Zuordnung von Elternrecht und staatlicher Zuständigkeit. Die Gesetzgebung hat zu entscheiden, wie das Elternrecht und die staatliche Zuständigkeit zum Ausgleich zu bringen sind 19 . Das geschieht durch ein ganzes Bündel von Regelungen. Aus den Entscheidungen über die Schule und über die Erziehung werden diejenigen Gegenstände herausgetrennt, die der Individualentscheidung der Eltern belassen bleiben können. Der staatlichen Kompetenz - eventuell nach vorheriger Beratung durch Elterngremien - unterliegen diejenigen Entscheidungen, die die gemeinsame Erziehung der Kinder in der Schule betreffen. Der individuelle Elternwille darf also nur zurückgedrängt werden, soweit die gemeinsame Erziehung der Kinder in der Schule ausschließt, daß das individuelle Kindeswohl und der individuelle Elternwille alleinige Maßstäbe sind. Das Elternrecht verlangt schließlich, daß der Staat ein so hinreichend differenziertes Schulsystem anbietet, daß die Eltern der Begabung ihrer Kinder entsprechend einen geeigneten Schultyp wählen können. Gesamtschulen erfüllen diese Voraussetzung nur, 16 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Art. 120, Nr. 2, 4. 17 Hans Peters, Elternrecht, Erziehung, Bildung und Schule, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte Bd. IV, 1, 1960, S. 369ff. 18 BVerfGE 34, 165, 183. 19 Vgl. dazu insbesondere Starck (Fn. 8), S. 274f.; Ursula Fehnemann, Die Bedeutung des grundgesetzlichen Elternrechts für die elterliche Mitwirkung in der Schule, in: Archiv des öffentlichen Rechts 105, 1980, 529ff.; Fritz Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, 1981, S. 96 ff. mit weiteren Nachweisen.
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wenn sie innerlich hinreichend differenzierte Angebote machen und differenzierte Schullaufbahnentscheidungen ermöglichen 20 . Eine Ganztagsschule als obligatorisch für alle Schüler bewirkt, daß den Eltern, die von ihrem Erziehungsrecht intensiven Gebrauch machen wollen, zu wenig Zeit für die Erziehung ihrer Kinder bleibt 2 1 . Da eine Ganztagsschule für die gemeinsame Erziehung der Kinder nicht notwendig ist, darf sie nicht zur Pflicht gemacht werden. Das Grundgesetz gewährleistet neben dem allgemeinen Elternrecht den Erziehungsberechtigten ein besonderes Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu entscheiden (Art. 7 Abs. 2 GG) 22 , der in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach ist und der in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgesellschaften erteilt wird (Art. 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG) 23 . Hinter diesem verfassungsrechtlich gewährten Recht steht die kirchenrechtliche Pflicht der Eltern, ihre Kinder in ihrem Glauben zu erziehen 24 . Selbstverständlich wacht der Staat nicht über die Einhaltung dieser kirchenrechtlichen Pflicht. Das religiöse Elternrecht in der Schule wird ungeachtet des Bestehens einer kirchenrechtlichen Verpflichtung gewährleistet; vielmehr soll dieses Bestimmungsrecht über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht jeden Gewissenszwang der Eltern, woher er auch kommt, vermeiden. Die bisherigen Ausführungen zum Elternrecht in der Schule haben gezeigt, daß das Bestimmungsrecht des Staates auf die Schule ziemlich weit geht. Insbesondere haben die einzelnen Eltern ebensowenig wie Elternkollektive unmittelbar aus Art. 6 Abs. 2 GG herleitbare Ansprüche auf eine bestimmte Schulorganisation, Stoffvermittlung oder auf bestimmte Erziehungsmethoden. Das Bild des Elternrechts ist damit aber noch unvollständig gezeichnet. Eine erhebliche Verstärkung erfährt das Elternrecht durch die verfassungsrechtliche Garantie der Privatschulfreiheit und zwar in doppelter Weise. Existieren Privatschulen, so haben die Eltern eine Wahlmöglichkeit, ob sie ihre Kinder auf eine öffentliche Schule oder auf eine Privatschule schicken. Durch diese Elternentscheidung kann zugleich Unzufriedenheit mit den staatlichen Schulen zum Ausdruck gebracht werden.
20 Fritz Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Probleme der Kooperativen Schule Rechtsgutachten (Schriftenreihe des Realschullehrerverbandes NW Nr. 12), 1977, S. 47 ff. 21 Fritz Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, in: Die Öffentliche Verwaltung 30, 1977, 805, 809. 22 Vgl. entsprechend Art. 27 Nr. 3 span. Verfassung. 23 Christoph Link, Religionsunterricht, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1975, S. 503 ff. 24 Für Katholiken vgl. can. 793ff., bes. can. 798 Codex Iuris Canonici von 1983.
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III. Die Privatschulfreiheit Im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern (etwa Frankreich) gibt es in der Bundesrepublik relativ wenige Privatschulen. Heute werden nicht mehr als 5% der Schüler allgemeinbildender Schulen in Privatschulen unterrichtet. Früher spielten die katholischen Privatschulen für die höhere Bildung, insbesondere der Mädchen, eine große Rolle; im Rheinland besuchten in den Dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts 50% der Schülerinnen höherer Schulen die Ordensschulen der Ursulinen und der Armen Schulschwestern. Privatschulen wurden früher in Deutschland besonders von national-liberaler und protestantischer Seite her mit Argusaugen betrachtet, weil ihnen etwas Dissidentisches und Antinationales unterlegt wurde. So schimpfte Rudolf von Gneist 1892 gegen Winkelschulen, dissidentische Sonderschulen, Sonderschulen polnischer, dänischer und anderer deutschfeindlicher Richtung sowie höhere und niedere Klosterschulen 25 . Herbert Krüger beklagte noch 1966, daß man sich in Deutschland weder 1918 nach der Revolution noch 1945 nach dem Kriege entschlossen habe, die staatsbürgerliche Allgemeinheit durch einen wirkungsvollen Einsatz der Staatsschulen zu stärken 26 . Das Grundgesetz garantiert in Art. 7 Abs. 4 die Privatschulfreiheit im umfassenden Sinne 27 . Wir beschäftigen uns hier nur mit den sog. Ersatzschulen, die an Stelle weiterbildender Schulen besucht werden. Für private Volksschulen gilt Besonderes (Art. 7 Abs. 5 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat sich 1969 in einer wichtigen Entscheidung 28 mit der Garantie der Privatschulfreiheit befaßt. Es sieht in dieser Gewährleistung „die Absage an ein staatliches Schulmonopol" und „eine Wertentscheidung, die eine Benachteiligung gleichwertiger Ersatzschulen gegenüber den entsprechenden staatlichen Schulen allein wegen ihrer andersartigen Erziehungsform und -inhalte verbietet. Dieses Offensein des Staates für die Vielfalt der Formen und Inhalte, in denen Schule sich darstellen kann, entspricht den Wertvorstellungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die sich zur Würde des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt". Diese Aussage des Bundesverfassungsgerichts stellt die Privatschule ins Spannungsfeld des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) und der staatlichen Schulhoheit (Art. 7 Abs. 1 GG). Falls Privatschulen 25 Rudolf v. Gneist, Die staatsrechtlichen Fragen des Preußischen Volksschulgesetzes, 1892, S. 100. 26 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 229. 27 Art. 7 Abs. 4 GG wirkt gegenüber den Ländern als unmittelbar verpflichtendes Recht, darüber hinaus wird die Privatschulfreiheit in folgenden Landesverfassungen z.T. schwächer garantiert: Baden-Württemberg Art. 14 Abs. 2, Bayern Art. 134, Bremen Art. 29, Hessen Art. 61, Nordrhein-Westfalen Art. 8 Abs. 4, Rheinland-Pfalz Art. 30, Saarland Art. 28. 28 BVerfGE 27, 195, 201; vgl. neuestens BVerfGE 75, 40, 61 ff.
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existieren, gewinnen die Eltern Freiheit bei der Schulwahl, wenn ihnen Organisation, Lehrinhalte und Normenvermittlung der öffentlichen Schulen nicht passen oder ihnen zumindest die für ihr Kind gewählte Privatschule mehr zusagt. Für den Staat sind die Privatschulen Barometer, an denen die für die Schulpolitik Verantwortlichen die Annahme ihrer Politik durch die Eltern messen können 29 . Die Garantie der Privatschulfreiheit verbietet nicht jeglichen Einfluß des Staates. Privatschulen bedürfen als Ersatzschulen staatlicher Genehmigung, unterstehen der Landesgesetzgebung (Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG) und der Staatsaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG). Auf die Genehmigung besteht nach Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG ein Rechtsanspruch 30 , „wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert w i r d " 3 1 . „Den Landesgesetzen unterworfen", heißt Bindung der Privatschulen an die allgemeine - nicht schulbezogene Rechtsordnung und Bindung an die Landesgesetze, die die Verfassungsartikel über die Privatschulfreiheit ausführen. Schulaufsicht darf nur als Rechtsaufsicht ausgeübt werden 32 . Freilich ist nicht zu verkennen, daß die Aufsicht darüber, ob die Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG eingehalten werden, d.h., ob die Gestaltung der Ersatzschule als „gleichwertig" anzusehen ist 3 3 , nahe an die Fachaufsicht heranrückt. Denn der Leistungsstandard der staatlichen Schulen w i r d durch verwaltungsinterne Richtlinien mitgeprägt. Nie darf jedoch die Aufsicht die Gleichartigkeit des Unterrichts mit den staatlichen Schulen durchsetzen. Für den Unterschied zwischen gleichwertigem und gleichartigem Unterricht, der für die Privatschulgarantie lebenswichtig ist, muß der Sinn der Schulaufsichtsbeamten geschärft werden 34 . Es kommt jedoch zunächst einmal auf die Träger der Privatschulen an, sich den Angleichungstendenzen zu widersetzen und aus einem eigenen Erziehungskonzept heraus einen gleichwertigen Unterricht anzubieten. Wenn die Eltern von der Möglichkeit sollen Gebrauch machen können, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken, und wenn das Konkurrenz29
Zum Problem näher Starck (Fn. 2), S. 32 ff. Ulfried Hemmrich, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 1985, Art. 7 Rdnr. 37 f. 31 Insoweit enthält Art. 27 Nr. 6 span. Verfassung geringere Voraussetzungen zur Realisierung des Anspruchs, Privatschulen zu gründen. 32 So z.B. § 143 Abs. 1 Niedersächsisches Schulgesetz i.d. Fassung vom 6.11.1980 (Nds. GVB1. S. 425). 33 Ebd., § 124 Abs. 2. 34 So Christoph Link, in: Juristenzeitung 26, 1971, 551; Horst Säcker, Zum Anspruch der Privatschulen auf staatliche Anerkennung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 86, 1971, 537 ff. 30
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system funktionieren soll, so muß es Träger geben, die bereit sind, Privatschulen zu errichten und zu betreiben. Hier sind die Kirchen aufgerufen, die auf lange Erfahrungen als Schulträger zurückblicken können. Die Kirchen haben anderen Privatschulträgern gegenüber den Vorteil, auf ein realisierbares und schon erprobtes Erziehungskonzept zurückgreifen zu können, das die abendländische Kulturentwicklung über Jahrhunderte geprägt hat und noch heute Ausdruck findet etwa in den landesverfassungsrechtlich normierten Erziehungszielen. Die Schulkonzeption der katholischen Kirche 3 5 ergibt sich aus der Erklärung über die christliche Erziehung des Vaticanums I I 3 6 . Danach ist Schule nicht wertneutral, nicht bloße Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, nicht gerichtet auf eine bloße Einsetzbarkeit der Jugendlichen in technokratischen Systemen und nicht bloß gerichtet auf die Möglichkeit, später ein gutes Einkommen in der Erwerbsgesellschaft zu erlangen. Vielmehr wird die Schule als Stätte der Erziehung gesehen, die den jungen Menschen den Sinn für Werte erschließt, ein gerechtes Urteilsvermögen eröffnet und Freiheit in Verantwortung weckt 3 7 . Die Konzilserklärung äußert sich positiv zu den Privatschulen in kirchlicher Trägerschaft unter den Gesichtspunkten der Wahlmöglichkeit der Eltern und der prägenden Kraft des katholischen Bekenntnisses 38 . Richtig wird freilich auch gesehen, daß die Erziehung in den katholischen Privatschulen nur gelingen kann, wenn es Lehrer gibt, die fachliche und didaktische Fähigkeiten besitzen und darüber hinaus bereit sind, durch Vorbild Zeugnis von Christus abzulegen 39 . Die Privatschulgarantie des Grundgesetzes ermöglicht den konfessionellen Charakter von Privatschulen in kirchlicher Trägerschaft 40 . Das ergibt sich im Hinblick auf den Religionsunterricht als Erst-recht-Argument schon aus Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG. Aber auch über den Religionsunterricht hinaus darf die Konfession Grundlage für die Erziehung, Wissensvermittlung und Stoffauswahl sein, soweit nur die Gleichwertigkeit des Unterrichts gewahrt ist. Dies ergibt sich aus Art. 7 Abs. 4 GG, folgt aber auch aus den durch Art. 140 GG rezipierten staatskirchenrechtlichen Normen der Weimarer Reichsverfassung (WRV). Da die Kirchen den Betrieb von konfessionellen 35 Zur Schulkonzeption der evangelischen Kirche vgl. Axel v. Campenhausen, Erziehungsauftrag und staatliche Schulträgerschaft, 1967, S. 129ff. 36 Gravissimum educationis v. 28.10.1965, Acta Apostolicae Sedis 58, 1966, S. 728 ff., zitiert nach Rahner I Vor grimmler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium, 2. Aufl. 1965; dazu Theodor Maunz, Kirchen als Schulträger, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1975, S. 548ff. 37 Gravissimum educationis, Nr. 5. 3 ® Ebd., Nr. 8. 39 Ebd., Nr. 8. 40 Die Kirchen werden bezeichnet als verantwortliche Träger der Erziehung in ihrem Bereich (Art. 12 Abs. 2 baden-württembergische Verfassung), als Bildungsträger (Art. 133 Abs. 1 Satz 3 bayerische Verfassung, Art. 28 Satz 3 rheinland-pfälzische Verfassung, Art. 26 Abs. 3 saarländische Verfassung).
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Schulen in eigener Trägerschaft herkömmlicherweise als ihre Angelegenheit betrachten 41 , werden die kirchlichen Privatschulen auch von Art. 137 Abs. 3 WRV erfaßt und unterliegen der Garantie der kirchlichen Selbstverwaltung „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes". Der konfessionelle Charakter von Privatschulen, der nach Art. 7 Abs. 4 GG nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung ist, ist im Hinblick auf die Garantie des Art. 137 Abs. 3 WRV wesentlich. Die für alle geltenden Gesetze sind nicht beliebige allgemeine Gesetze, sondern nur solche Gesetze, die die besondere Eigenständigkeit der Kirchen und ihrer Einrichtungen gegenüber dem Staat anerkennen 42 . Das in den Schulgesetzen aufgestellte Gebot der Gleichwertigkeit des Unterrichts 43 ist ein für alle Privatschulen geltendes religionsneutrales Gesetz, an das sich die Kirchen als Schulträger halten müssen. Denn im Rahmen dieses Gebotes ist ein konfessionell geprägter Schulunterricht möglich. Der konfessionelle Charakter der Schule wird weiter dadurch gesichert, daß die Kirchen die Lehrer frei auswählen 4 4 und die Konfessionstreue durch Kündigungsrecht vertraglich absichern. Entsprechendes gilt für Schüler. IV. Staatliche Subvention der privaten Ersatzschulen Wenden wir uns jetzt dem nervus rerum , d.h. der Frage zu, ob es einen verfassungsrechtlichen Anspruch gegen den Staat auf Privatschulfinanzierung gibt. In der Literatur sind verschiedene Ansätze verfolgt worden, solch einen Subventionsanspruch zu begründen 45 , wobei mit dem Sozialstaatsprinzip, dem Gleichheitssatz und dem Grundrecht des Art. 7 Abs. 4 GG argumentiert wird, dessen wirtschaftliche Voraussetzungen gesichert werden müßten. Die Argumentation mit dem Gleichheitssatz hat die Schwäche, daß dieser selbst nicht sagt, was gleich behandelt werden muß, daß man sich vielmehr in der Verfassung nach Differenzierungsgeboten oder -verboten umsehen muß, um das Gleichheitsurteil fällen zu können 46 . Dabei stößt man auf Art. 7 GG. Das Sozialstaatsprinzip als Argumentationsgrundlage hat den Nachteil, daß dieses für sich genommen nicht zur Begründung von Ansprüchen taugt. Auch eine Kombination des Sozialstaatsprinzips mit dem Gleichheitssatz führt nicht zu dem gewünschten Anspruch 47 , weil das 41 BVerfGE 53, 366, 392f., betr. karitatives Wirken, stellt im Hinblick auf die katholische und die evangelische Kirche auf deren Selbstverständnis ab. 42 BVerfGE 42, 312, 332ff.; 53, 366, 404. 43 Z.B. § 124 Abs. 2 Niedersächsisches Schulgesetz (Fn. 32). 44 So ausdrücklich Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV; vgl. dazu Friedrich Müller, Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1982, S. 64f. 45 Darüber unterrichtet Christoph Link, Privatschulfinanzierung und Verfassung, in: Juristenzeitung 1973, Iff. 46 v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., Bd. I, 1985, Art. 3 Rdnr. 12 - 17.
43 Festschrift P. Mikat
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Sozialstaatsprinzip als Programmsatz nur eine Differenzierungserlaubnis für den Gesetzgeber enthält, nicht aber zwingend bestimmt, auf welche Weise sozialer Ausgleich vom Gesetzgeber zu betreiben ist 4 8 . Wenn insoweit etwas aus der Verfassung entnommen werden kann, w i r d man wiederum auf Art. 7 GG verwiesen. Die Schwäche der Argumentation mit dem Gleichheitssatz und mit dem Sozialstaatsprinzip hat die entschiedenen Gegner eines unmittelbar aus der Verfassung hergeleiteten Subventionsanspruchs der Privatschulträger in ihrer Position gestärkt. Verweisen uns die bisherigen Überlegungen zu einem Subventionsanspruch auf Art. 7 GG, so ist damit die Frage aufgeworfen, ob die Garantie der Privatschulfreiheit zugleich die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Betriebs oder gar der Gründung von Privatschulen garantiert. Diese Frage nach der Sicherung der Grundrechtsvoraussetzungen ist in den 70er Jahren als ein allgemeines Thema der Gründrechtslehre erörtert worden 49 . Da es im Grundgesetz keine sozialen Grundrechte gibt, ist versucht worden, im Wege der Grundrechtsinterpretation den klassischen Grundrechten Leistungsrechte zu entnehmen. Zur Begründung wurde vorgebracht, daß der Staat aus Gründen der Gleichheit soziale Grundrechtsdefizite abbauen müsse. Die Diskussion um diese Rechte ist inzwischen zur Ruhe gekommen und hat das Ergebnis erbracht, daß Leistungsrechte nicht unmittelbar aus den klassischen Grundrechten hergeleitet werden können. Dafür sind vor allem drei Gründe angeführt worden 50 . Erstens würden solche Ansprüche eine unkalkulierbare Belastung des staatlichen Haushalts bedeuten, über die durch Grundrechtsauslegung entschieden würde, ohne daß das für die Grundrechtsauslegung zuständige Verfassungsgericht für den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben im jährlichen Staatshaushalt (Art. 110 Abs. 1 GG oder die entsprechende Vorschrift der Landesverfassung) verantwortlich ist. Zweitens ist auf die prinzipielle Unbestimmtheit solcher Leistungsrechte hingewiesen worden, die vom Verfassungsgericht präzisiert werden müßten; bei der Vielzahl solcher unbestimmter Freiheitsvoraussetzungen stände die Grundrechtsdogmatik vor unlösbaren Schwierigkeiten. Drittens bauen die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes in bewußter Abkehr von der Tradition der Programmsätze auf der in Art. 1 Abs. 3 GG normierten unmittelbaren Bindung der Grundrechte auf; deshalb dürfen Grundrechte immer nur so interpretiert werden, daß ihnen im organisatorischen und funktionellen Rahmen des Grundgesetzes Bindungswirkung zukommen kann. 47
Anderer Ansicht insoweit Link (Fn. 45), S. 6f. v. Mangoldt / Klein / Starck (Fn. 46), Art. 3 Rdnr. 23. 49 Siehe vor allem Wolf g ang Martens / Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 30, 1972, S. 7ff., 43 ff. 50 υ. Mangoldt / Klein / Starck (Fn. 46), Art. 1 Rdnr. 115 - 118. 48
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Dieser zuletzt genannte Gesichtspunkt läßt es in genau begrenzten Fällen zu, aus Grundrechten Leistungsrechte herzuleiten 51 . Soweit das Anspruchsobjekt eines Leistungsanspruchs gegen den Staat hinreichend bestimmbar ist und soweit die finanzrechtliche Sicherstellung der erforderlichen Mittel ohne Eingriff in die Haushaltsverantwortung des Gesetzgebers möglich ist, käme ein solcher Anspruch nicht in Konflikt mit der Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 GG. Weitere Voraussetzung für einen aus einer Grundrechtsgarantie hergeleiteten Leistungsanspruch ist ferner, daß sich starke Gründe für solch einen Anspruch aus der Verfassimg ergeben. Solche Gründe gibt es für den Anspruch auf Subventionierung der Privatschulen, die als Ersatzschulen für staatliche Schulen fungieren. Einige Landesverfassungen schreiben ausdrücklich vor, daß Privatschulen Anspruch auf Ausgleich finanzieller Belastungen 52 , Anspruch auf (öffentliche) Zuschüsse53, Anspruch auf angemessene öffentliche Finanzhilfe 54 oder Anspruch auf Ersatz des notwendigen Aufwandes haben 55 . Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, daß private Ersatzschulen einen Anspruch auf staatliche Subventionen haben 56 . Die Besonderheit des Leistungsanspruchs von Privatschulträgern gegen den Staat liegt darin, daß eine private Tätigkeit finanziert wird, die in freiheitsfördernder Konkurrenz mit der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben (Art. 7 Abs. 1 GG) stattfindet 57 . „Teilhabe am Schulwesen" 58 macht den Leistungsanspruch meßbar. Die Subventionen, auf die Träger von privaten Ersatzschulen Anspruch haben, umfassen die Finanzmittel, um die der Staat durch die Ersatzschulen von seiner Bildungsaufgabe entlastet wird 5 9 . Die Pro-Kopf-Aufwendungen für die Schüler der verschiedenen Altersstufen lassen sich statistisch ermitteln. Deshalb wirft ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Privatschulsubventionierung keine prinzipiellen Haushalts- und Finanzprobleme auf. Daß der Staat die Schüler mit geringerem Finanzaufwand unterrichten könnte, etwa weil noch einzelne „Plätze" in Klassen staatlicher Schulen frei sind, kann nicht als Argument gegen die Herleitung eines Finanzierungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 4 GG verwendet werden, denn es geht hier in erster Linie nicht um die tat51 Vgl. dazu und zum folgenden Christian Starck, Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zu Grundrechtsverwirklichungen?, in: ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz Bd. II, 1976, S. 480, 516ff., 520ff. mit weiteren Nachweisen. 52 Art. 14 Abs. 2 baden-württembergische Verfassung. 53 Art. 8 Abs. 4 Satz 3 nordrhein-westfälische Verfassung; Art. 28 Abs. 3 saarländische Verfassung. 54 Art. 30 Abs. 3 rheinland-pfälzische Verfassung. 55 Art. 28 Abs. 4 saarländische Verfassung. 56 BVerwGE 23, 347, 349f.; 27, 360, 362f. 57 So jetzt deutlich BVerfGE 75, 40, 66. 58 BVerfGE 27, 195, 206. 59 So BVerwGE 23, 347, 350; ebenso Friedrich Müller (Fn. 44), S. 403ff.; insoweit zurückhaltend BVerfGE 75, 40, 66.
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sächliche Ersparnis, sondern um die Meßbarkeit des unmittelbar aus Art. 7 Abs. 4 GG hergeleiteten Subventionsanspruchs. Aber damit allein ist noch nicht begründet, daß unmittelbar aus Art. 7 Abs. 4 GG ein Subventionsanspruch fließt. Weiter ist folgendes zu berücksichtigen. Art. 7 Abs. 4 GG enthält Voraussetzungen für die Genehmigung von Ersatzschulen, die finanzwirksam sind. Die geforderte Gleichwertigkeit des Unterrichts und der heutige tatsächliche Standard der öffentlichen Schulen, der in einem sozialstaatlich perfekten Ausbau zu sehen ist, der von den Privatschulen nicht wesentlich unterschritten werden darf, erfordern eine Kompensation 60 , damit die Privatschulfreiheit nicht zu einem leeren Recht wird, das nicht mehr ausgeübt werden kann. Ferner verbietet Art. 7 Abs. 4 GG eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern. Der private Ersatzschulträger darf sich also nicht auf Kinder zahlungskräftiger Eltern, die hohes Schulgeld zahlen können, beschränken. Deshalb muß der Staat auch um dieses von der Verfassung gesetzten Zieles willen konsequenterweise verfassungsrechtlich zu Subventionen verpflichtet sein. Im Rahmen des Art. 7 Abs. 4 GG spielt nun auch die Gleichheitsgarantie des Art. 3 Abs. 1 GG eine Rolle. Wenn der Staat und die Gemeinden heute die öffentlichen Schulen, einschließlich der weiterbildenden Schulen, kostenfrei zur Verfügung stellen, liegt darin eine gewollte Begünstigung derjenigen Bürger, die Kinder haben. Man muß das kostenlose Schulangebot auch im Zusammenhang mit der hohen Steuerlast sehen, denen die Bürger, auch wenn sie für Kinder zu sorgen haben, unterworfen sind. So ist es ein Gebot der austeilenden Gerechtigkeit, die durch den Gleichheitssatz eine verfassungsrechtlich relevante Größe ist, daß der Staat die Bürger, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken, durch Zuschüsse an die Privatschulen von besonderen Aufwendungen entlastet. Daß die Zuschüsse nicht an die Eltern, sondern unmittelbar an die Privatschulen gezahlt werden, ist ein Gebot der Zweckmäßigkeit. Damit schafft sich der Staat ein Kontrollinstrument, mit dem er wirksam überwachen kann, daß die Genehmigungsvoraussetzungen auch bei der Tätigkeit der Privatschulen eingehalten werden. An dieser Stelle ist jedoch daran zu erinnern, daß die Subventionen an die (kirchlichen) Privatschulen nicht mit Bedingungen über die Unterrichtsgestaltung verknüpft werden dürfen, die über das hinausgehen, was sich aus Art. 7 Abs. 4 GG und bezüglich der Kirchen aus Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV ergibt. Hier steckt ein neuralgischer Punkt der Garantie der Privatschulfreiheit, dem stete Aufmerksamkeit zugewandt werden muß. Insbesondere ist darauf zu achten, 60
So schon Hans Heckel, Deutsches Privatschulrecht, 1955, S. 257; vgl. ferner Michael Kloepfer / Klaus Meßerschmidt, Privatschulfreiheit und Subventionsabbau, in: Deutsches Verwaltungsblatt 98, 1983, 193, 198; F. Müller (Fn. 44), S. 472; BVerwGE 27, 360, 362f.; BVerfGE 75, 40, 64f.
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daß nicht die Gleichartigkeit des Unterrichts zur Bedingung für die Subvention gemacht wird. Denn der Staat hat kein Mandat, über seine grundrechtlich begründete Subventionspflicht die Substanz der Privatschulfreiheit einzuschränken. Die Privatschulfinanzierung ist damit dem Grunde nach als ein unmittelbar aus dem Grundgesetz folgender Anspruch begründet. Was die Höhe des Anspruchs anbelangt, folgt aus der Verfassung nur dies: Wenn der Subventionsanspruch dem Grunde nach mit der Gleichstellung der Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, im Verhältnis zu den anderen Eltern begründet worden ist, so richtet sich die Höhe des Subventionsanspruchs nach dem Pro-Kopf-Aufwand des Staates in den staatlichen Schulen 61 . Der staatliche und gemeindliche, also insgesamt der Aufwand der öffentlichen Hand für die staatlichen Schulen setzt sich zusammen aus den Investitionen, den Personal- und den Sachkosten 62 . Weder in der Rechtsprechung 63 noch im juristischen Schrifttum w i r d die Meinung vertreten, daß Investitionskosten von Privatschulträgern vom Staat übernommen werden müßten. Die notwendigen Investitionen (Gebäude, Möbel und Lehrmittel) werden geradezu als Probe auf die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Trägers der zu gründenden Privatschule angesehen. Wer eine Privatschule errichten will, muß über den notwendigen Fundus verfügen. Dagegen gehören die Miet- und Pachtzinsen bzw. die Abschreibungen auf die Investitionen zu dem prinzipiell ersetzbaren Aufwand, der sich nach den entsprechenden Ausgaben für die staatlichen Schulen richtet. Der unmittelbar aus der Verfassung herleitbare Subventionsanspruch besteht also der Höhe nach in einem Betrag gemessen nach der Zahl der Schüler, den der Staat im Durchschnitt an Personal- und Sachkosten (einschl. Miete bzw. Abschreibungen) für den Betrieb der staatlichen Schulen aufbringt. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, diesen Betrag zu bemessen.
61 So die Gesetzgebungspraxis, vgl. z.B. §§ 130 Abs. 1 Satz 4, 137 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nieders. Schulgesetz (Fn. 32). 62 Dazu F. Müller (Fn. 44), S. 469 ff. 63 Urteil des Nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs v. 3.1.1983, Deutsches Verwaltungsblatt 98, 1983, 223 ff. verknüpft den verfassungsrechtlichen Subventionsanspruch mit der Genehmigung der Ersatzschule, der die Errichtung vorausgegangen sein muß. Das Urteil geht von einem Gesetzesvorbehalt für die Bemessung der Höhe der Subventionen aus.
Scheidungspflicht und Neuheiratsverbot in der alten Kirche Kanon 11 (10) des Konzils von Arles 314 im Kontext gesehen Von Hans-Wolfgang Strätz Unter den vielfältigen Interessengebieten Paul Mikats nimmt das Eherecht und insbesondere seine Geschichte einen bevorzugten Platz ein. An dieses Forschungsfeld hat er auch seine Schüler bewußt herangeführt und somit diesen Beitrag zu einer bis heute besonders umstrittenen Frage der kanonischen Eherechtsgeschichte angeregt. Der Jubilar hat sich selbst explizit dazu geäußert; 1 daher wird ihm, wie ich zuversichtlich hoffe, dieser Beitrag zu seinem Geburtstage willkommen sein, auch wenn er im Ergebnis von seiner Beurteilung des c. 11 (10)2 abweicht. Der hier der Diskussion unterbreitete Vorschlag schwebt mir schon seit fast zwei Jahrzehnten vor; das Risiko, daß ein anderer diesem m. E. naheliegenden Ansatz früher publizieren könnte, hat sich erfreulicherweise nicht verwirklicht. Es mag überraschend klingen, aber der vor 1665 Jahren ergangene Beschluß von Arles interessiert nicht nur die Kirchenrechts- und die Dogmenhistoriker, sondern zog 1971 gar den Blick „der Welt", genauer gesagt von „Le Monde" auf sich. 3 Die Zeitung präsentierte ihn als wichtiges Argument in der Diskussion eines der brennendsten pastoralen Probleme der römisch-katholischen Kirche, nämlich dem, wie sie mit ihren nach Ehescheidung nur staatlich-rechtlich neuverheirateten Gläubigen umgehen soll. Bekanntlich sieht sie sich als einzige der christlichen Großkirchen bislang nicht in der Lage, diesen Kirchengliedern kanonisch wirklich entgegenzukommen: sie bleiben - im engsten Wortsinn, wenn auch nicht im kanonischen Vollsinn - „exkommuniziert", nämlich vom Empfang der Hl. Kom1
Paul Mikat, Zu den Voraussetzungen der Begegnung von fränkischer und kirchlicher Eheauffassung in Gallien, in: Diaconia et lus, Festgabe für Heinrich Flatten zum 65. Geburtstag, hrsg. von Heribert Heinemann / Horst Herrmann / Paul Mikat, Paderborn 1973, S. 1 - 26, hier S. 19 f. 2 Die unterschiedliche Zählung 10 oder 11 rührt daher, daß ein Teil der Überlieferung cc. 7 und 8 unter einer Nummer zusammenfaßt; vgl. Edition (Fn. 16), Apparat zu c. 8. 3 Henri Crouzel, Le canon 10 (ou 11) du concile d'Arles de 314 sur le divorce, in: Bulletin de littérature ecclésiastique 72 (1971), S. 128-131; Hubert Mordek, Ehescheidung und Wiederheirat in der Frühkirche, in: Revue de droit canonique 28 (1978), S. 218 - 222, hier S. 219; ders., Kirchenrecht und Reform im Frankenreich, Berlin 1975, S. 136, Anm. 178.
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munion ausgeschlossen. Erwartungen, daß sich daran etwas ändern werde, wurden während und nach dem II. Vatikanischen Konzil wach, erwiesen sich aber bis zur Stunde als Tagträume. 4 Der Versuch der Gemeinsamen Synode der deutschen Diözesen von 1975, die amtliche Haltung und die parakanonische Praxis wieder zu harmonisieren, schlug fehl; zwar legte die Deutsche Bischofskonferenz „dem Vernehmen nach ein Votum" dem Vicarius Christi vor; „eine Antwort steht noch aus", konstatierte Franz Böckle noch 19825 - bis heute ist über eine Änderung dieser Sachlage nichts offiziell verlautet. Auch außerhalb unserer Grenzen wurde dieses Problem leidenschaftlich diskutiert, Echos waren vor allem aus den USA und aus Frankreich zu hören. In diesen Diskussionen kommt historischen Argumenten besonderes Gewicht zu - mit Recht. Läßt sich nämlich erweisen, daß „die Kirche" sich früher anders verhalten hat, insbesondere die Neuheirat nach Scheidung zu Lebzeiten des anderen Partners geduldet oder unter Umständen gar gestattet hat, dann läßt sich eine andere als die heutige Haltung nicht mehr als traditionswidrig und dogmatisch unvertretbar α limine verdammen, sondern bedarf anderer Rechtfertigungsgründe. Nun ist zwar bekannt, daß in Spätantike und Frühmittelalter auch in westlichen Kirchen 6 die Neuheirat nach Scheidung nicht nur diskutiert, sondern auch praktiziert wurde; das ergeben - um nur diese Beispiele zu nennen - für das 3. und 5. Jahrhundert die dagegen ankämpfenden Stellungnahmen Tertullians und Augustins und für das 4. Jahrhundert der die Neuheirat nach Scheidung ausdrücklich erlaubende Ambrosiaster. 7 Die entscheidende Klippe der Argumentation konnte jedoch bisher nicht überwunden werden, der schlüssige Nachweis nämlich, daß auch die Kirche von Rom eine Neuheirat nach Scheidung erlaubt oder wenigstens ausdrücklich toleriert habe; erst wenn dies unzweifelhaft feststände, sähe man dort vielleicht einen Anlaß zur ernsthaften Überprüfung der heutigen Situation. Als die Schwachstelle der römischen Haltung gilt in dieser „heißen Kontroverse" bis in unsere Zeit hinein der „Spruch der Väter von Arles" 8 in c. 11 vom Jahre 314. 4 Vgl. den Hinweis in LThK Bd. 14 (Das Zweite Vatik. Konzil III), S. 424; Olivier Rousseau, Scheidung und Wiederheirat im Osten und im Westen, in: Concilium 1967, S. 322 - 334, hier S. 322. 5 Franz Böckle, Einleitung: Ehe und Familie, in: Gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung, Offizielle Gesamtausgabe, Bd. 1, 5. Aufl., Freiburg 1982, S. 422. 6 Zur Stellung der Ostkirchen vgl. Pierre Adnès, Le mariage, 2. Aufl., Tournai 1963, S. 60; Rousseau (Fn. 4). 7 Augustins Schrift De coniugiis adulterinis ist durch eine Anfrage eines Presbyters oder Bischofs Pollentius über diesen Punkt veranlaßt; vgl. Mikat (Fn. 1), S. 20, Anm. 64. - Zu den Stellungnahmen der Kirchenväter vgl. Adnès (Fn. 6), S. 59 - 66 (mit weiterer Literatur). Vgl. auch Biondo Biondi, I l diritto romano cristiano, Bd. 3, Milano 1954, S. 164 - 167; Crouzel, TRE (Fn. 15), S. 329.
Scheidungspflicht u n d Neuheiratsverbot i n der alten Kirche
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Der vorliegende Beitrag - das sei ausdrücklich festgehalten - versteht sich nicht als eine Stellungnahme in dieser aktuellen Auseinandersetzung. Zwar ergibt sich beim erneuten Hinsehen, daß c. 11 eher zu den Fundamenten als zu den Schwachstellen der römischen Tradition zu zählen ist. Aber daraus abzulesen, damit werde die beklagenswerte Nicht-Lösung der heutigen Konfliktlage gerechtfertigt, wäre absurd; schon die Entscheidungsvoraussetzungen im Jahre 314 und im Jahre 1989 lassen sich nicht vergleichen. Ebensowenig geht es hier - das sei angefügt - um eine Stellungnahme zu der dogmatischen Grundfrage nach der Tragweite der berühmten Klausel excepta fornicationis causa in Mt 5,32 und 19,9.9 Nur sei das wieder einmal in Erinnerung gerufen, daß noch Augustinus denen, die nach berechtigter Scheidung erneut heirateten, einen Entschuldigungsgrund angesichts der Dunkelheit in ipsis divinis sententiis zugestand. 10 In diesem Beitrag geht es ausschließlich darum, diese eine Quelle von 314 in ihrem sprachlichen, juristischen und politischen Kontext anders als bisher zu beleuchten und einen Vorschlag zu unterbreiten, c. 11 möglichst widerspruchsfrei zu verstehen.
I. Kanon 11 im Streit der Meinungen Seit im vorigen Jahrhundert begonnen wurde, sich auch intensiv mit der Geschichte des kanonischen Eherechts zu befassen, fand c. 11 von Arles stets besonderes Interesse. Die Stellungnahmen sind zahlreich, allerdings bisweilen deutlich schon vom grundsätzlichen Standpunkt des Autors zur dogmatischen Grundfrage bestimmt. Eine einheitliche Meinung darüber, was er eigentlich sage, hat sich noch nicht eingestellt. Einige Autoren verstehen den Kanon so, daß er Neuheiraten Geschiedener ausdrücklich nicht verbiete, sondern nur davon abrate. Ein Teil dieser Autoren w i l l dann aus dem Umstand, daß die Konzilsbeschlüsse dem römischen Papst Silvester offiziell mitgeteilt wurden und dieser keine Gegenmaßnahmen ergriff, folgern, auch die römische Kirche habe die „großzügige" Haltung, die sie in c. 11 ausgedrückt finden, gebilligt. Hier stellt sich dann auch die Frage, ob ein derartiges argumentum e silentio in diesem Fall überhaupt zulässig ist. Darüber wird jedoch wenig diskutiert, weil der andere Teil der Autoren c. 11 so versteht, daß er sehr wohl und ausdrücklich Neuheiraten Geschiedener verbiete und nicht eine grundsätzlich laxe Haltung in diesem Punkte bezeuge; immer wieder wird dafür die Klausel prohibentur nubere in Anspruch genommen.
8 Mordek, Ehescheidung (Fn. 3), S. 222; andererseits bezeichnet Mordek im gleichen Satz c. 11 als „klare Aussage" - warum dann „heiße Kontroverse"? 9 Diese Klausel fehlt bekanntlich bei Mk 10, 11, 12, L k 16, 18 und 1 Kor 7, 10, 11. 10 Augustinus, De fide et operibus 35, PL 40, 221.
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Auf den hier ins Blickfeld gerückten Ansatzpunkt geht jedoch keine mir bekannte Äußerung ein; daher wird es genügen, eine frühe und eine zeitgenössische Wertung kurz zu zitieren. 11 Carl Josef v. Hefele urteilte in seiner großen Conciliengeschichte 1855 über Kanon 11 (10): ... ebenso steht can. X... in Verwandtschaft mit dem neunten Canon von Elvira ...In beiden Fällen wollen die beiden Concilien, abweichend von dem damals geltenden bürgerlichen Recht, auch dem unschuldigen Theile keine Wiederverheirathung gestatten; aber es tritt dabei der merkwürdige Unterschied ein, daß der Frau die Wiederverheirathung bei Strafe beständiger Excommunikation geradezu verboten (can. 9 von Elvira), dem Manne aber, falls er noch jung ist, nur dringend gerathen wird ..., nicht wieder zu heirathen. Daß jedoch auch in diesem Fall die Ehe nicht erlaubt sei, liegt in dem Ausdruck et prohibentur nubere, und unsere Synode will nicht erlauben, was sonst verboten ist, sondern will nur in solchem Falle von Anwendung der Kirchenstrafen absehen.12* 13 In den letzten Jahren war es vor allem Henri Crouzel, der sich - im Ergebnis völlig zu Recht - mehrmals, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Pierre Nautin gegen die Vereinnahmimg des Arelater Kanons zugunsten einer laxeren Haltung gewandt hat. 1 4 Seine, soweit ich feststellen kann, jüngste Äußerung von 1982 deutet die meines Erachtens für die richtige Interpretation des c. 11 wesentlichen Gesichtspunkte an, zieht aber die naheliegenden Schlüsse nicht. 1 5
11 Umfangreiche Literaturnachweise u. a. bei Mordek, Ehescheidung (Fn. 3), S. 219, Anm. 4, Adnès (Fn. 6), S. 64, Anm. 2 a.E. 12 Carl Joseph Hefele, Conziliengeschichte, 1. Bd., 2. verb. Aufl., Freiburg 1873, S. 210 f.; die Stelle ist unverändert aus der 1. Aufl. 1855 übernommen. 13 Bemerkenswert auch die eindeutige Rubrik zu c. 11 (10) in Ivos Dekret (um 1093 - 1095) cap. 258, PL 161, 641 C: Ut quantumvis adolescentes viventibus uxoribus suis, alias non ducant. 14 Henri Crouzel, Séparation ou remariage selon les pères anciens, in: Gregorianum 47 (1966), S. 472 - 494; ders., Les pères de l'église ont-ils permis le remariage après séparation?, in: Bulletin de littérature ecclésiastique 68 (1969), S. 3 - 43; ders., L'Église primitive face au divorce, du premier au cinquième siècle (Theologie historique 13), Paris 1971, insbes. S. 121 - 123; ders. (Fn. 3); ders., Le texte patristique de Matthieu V.32 et XIX.9, in: New Testament Studies 19 (1972/73), S. 98 - 119; ders. (mit Elie Griffes) , A propos du Concile d'Arles: Faut-il mettre non avant prohibentur nubere dans le canon 11 (ou 10) du concile d'Arles de 314 sur le remariage après divorce?, in: Bulletin de littérature ecclésiastique 75 (1974), S. 25 - 40 [gegen: Pierre Nautin, Le canon dur concile d'Arles de 314 sur le remariage après divorce, in: Recherches de science religeuse 61 (1973), S. 353 - 362]; ders., Divorce et remariage dans l'Église primitive. Quelques réflexions de méthologie historique, in: Nouvelle Revue Théologique 98 (1976), S. 891 - 917 [gegen P. Nautin, Divorce et remariage dans la tradition de l'Église latine, in: Recherches de sciences religeuse 62 (1974), S. 7 - 54]. 15 Henri Crouzel, Abschnitt V. „Alte Kirche" des Art. „Ehe / Eherecht / Ehescheidung", in: TRE Bd. 9, Berlin 1982, S. 325 - 330 (mit weiterer Literatur), hier S. 328 f.
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II. Der Sinnzusammenhang von Kanon 11 1. Der Wortlaut von Kanon 11
Ausgangspunkt der Interpretation des Kanons ist die heute allgemein als korrekt akzeptierte Edition von Charles Munier 1963 16 , die praktisch mit den älteren Druckausgaben übereinstimmt. 17 Das auffallende Druckbild und die hier eingefügten Ziffern sollen die Verständigung mit dem Leser erleichtern. De his [1 ] qui coniuges suas in adulterio depraehendunt, [2] et idem sunt adulescentes fideles [3 Jet prohibentur nubere, placuit, [4] ut, quantum possit, consilium eis detur [5] ne alias uxores, [6]viventibus etiam uxoribus suis licet adulteris, accipiant.
Unter den Handschriften Muniers weist lediglich eine aus dem 8. Jahrhundert eine wesentlich abweichende Fassung auf; 1 8 sie läßt den Passus ab fideles einschließlich ut aus und macht so aus c. 11 unzweideutig einen bloßen Ratschlag an junge Geschiedene, bei Lebzeiten ihrer ehebrecherischen Frau auf eine weitere Heirat zu verzichten. Sofern es sich nicht nur um ein Schreiberversehen handelt, ist diese Fassung wohl eher ein Zeichen der Tendenz ihrer Zeit, die Neuheirat zu erleichtern, als ein radikaler Versuch, ein erkanntes Verständnisproblem einfach herauszuschneiden. Hingegen dürfte ein Schreiber der systematischen Sammlung Herovelliana zwischen dem Verbot [3] und dem bloßen Ratschlag [4] einen so offensichtlichen Widerspruch empfunden haben, daß er ihn schnell durch Einfügen von non in [3] auflösen zu dürfen meinte, so daß nun non prohibentur nubere zu lesen war. 1 9 Ihm und auch dem Jesuiten Denis Petau, der diese Emendation obiter in seiner Epiphanius-Ausgabe von 1622 vorschlug, 20 kann man die Konjektur angesichts der von ihnen nicht sicher überschauba16 Concilia Galliae a. 314 - a. 506, hrsg. von Charles Munier, Turnholti 1963 (CChr ser. lat. 98), S. 3 - 25, hier S. 11. 17 Alias uxores fehlt dort, alias dafür vor accipiant eingefügt, vgl. Apparat zu c. 11. 18 Die Hs L (Cod. pal. lat. 574), stammt aus dem 8. Jht.; c. 11 findet sich dort im Text der dem 6. Jht. zugeschriebenen Rechtssammlung, vgl. Edition (Fn. 16), S. ix f. 19 Mordek, Ehescheidung (Fn. 3), S. 221 f.; ein späterer Kopist tilgte non wieder. 20 Dionysius Petavius (Petau), Sancti Patris Nostri Epiphanii ... opera ..., Paris 1622, PG 41, 1024 D: Porro inter veterum testimonia, quibus post legitimum illud divortium permissa innocentibus conjugibus matrimonia videntur, referri potest Arelatense primum concilium can. 10; qui hic obiter emandandus est. [folgt Zitat c. 11 in der Fassung Mansi II, S. 471] Ubi negationem deesse legendumque et non prohibentur nubere contextus ipse orationis iudicat. Nam si prohibentur nubere, non consilium ad illos coercendos sed praecepti necessitas adhibenda fuerat.
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ren Überlieferung noch nachsehen. Die Wiederaufnahme dieses Versuchs in den letzten Jahren hingegen ist eine wissenschaftlich unvertretbare Verfälschung zwecks Argumentation im aktuellen Konflikt. Zu Recht haben Henri Crouzel und Hubert Mordek dieses Verfahren gebrandmarkt. 21 Grundlage der Interpretation bleibt also die oben mitgeteilte Fassung. 2. Erster Übersetzungsschritt
Man wird nicht fehlgehen, als communis opinio der Interpreten festzuhalten, c. 11 lasse eine eindeutige Stellungnahme vermissen. Wenn ich recht sehe, gibt es aber bei den übrigen 21 echten Kanones des Arelatense derartige Verständnisprobleme nicht. Demnach wären also die Redaktoren der Canones ad Silvestrum gerade in diesem einen Punkte unfähig gewesen, den Beschluß einer ansehnlichen Bischofsversammlung in einem amtlichen Schreiben an den römischen Bischof in verständliche Worte zu kleiden und diesen Mangel hätten weder die versammelten Konzilsväter, noch die übrigen Teilnehmer bemerkt. Immerhin waren sie von der Wichtigkeit ihrer Beschlüsse so überzeugt, daß sie ihr Schreiben mit dem Satz einleiteten: Quid decreuerimus communi Consilio caritati tuae significauimus, ut et episcopi sciant quid in futurum obseruare debeant. Schon diese äußeren Gegebenheiten lassen Vorsicht angeraten sein, bevor man den in Arles versammelten Bischöfen, Klerikern und kaiserlichen Amtsträgern unterstellt, Widersprüchliches und damit Unsinniges beschlossen zu haben. Dazu mahnt auch der Blick auf die Textüberlieferung, die wie gezeigt - erst sehr spät und nur vereinzelt in c. 11 einen korrekturbedürftigen Widerspruch zu erkennen glaubte. Legt man also die Hypothese zugrunde, daß alle 22 Kanones von 314 den Zeitgenossen verständlich waren, und fragt, woher unsere Verständnisprobleme gerade mit c. 11 rühren mögen, dann fallen bei näherem Ansehen der modernen Interpretationen zwei miteinander verflochtene Merkwürdigkeiten auf: weder wird die besondere Textgattung der Quelle ernsthaft thematisiert, noch eine elementare Übersetzungsregel ausdrücklich bedacht. a) c. 11 als Rechtssatz Die Canones ad Silvestrum wollen als förmliche Rechtssätze verstanden werden. Das ergibt zum einen der oben zitierte Einleitungssatz, der sie als Dekrete kennzeichnet, die dem heiligsten Herrn, dem Bruder Silvester förmlich mit21
Crouzel, L'église (Fn. 14), S. 8 Anm.; Mordek, Ehescheidung (Fn. 3), S. 219.
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geteilt werden, damit die bzw. alle Bischöfe wissen, was sie künftig beachten müssen. 22 Zum anderen springt bei der Lektüre der 22 Kanones ins Auge, daß sie sämtlich gemäß dem aus der kaiserlichen Gesetzgebung23 und der Beschlußpraxis des römischen Senats bekannten Aufbauschema stilisiert sind: Wichtigstes Element ist das Wort placuit, das den eigentlichen Beschluß einleitet; es kommt in 18 Kanones ausdrücklich vor, ist in 3 stillschweigend zu ergänzen (cc. 1,2,18) und in c. 8, einer Verweisnorm, entbehrlich. Der Satzteil vor placuit, stets mit der Präposition de eingeleitet, nennt den Beschlußgegenstand. Wären die Kanones von Arles moderne Rechtstexte, lieferten sie geradezu Musterbeispiele der sauberen Teilung eines Normtextes in Tatbestands· und Rechtsfolgenseite. Diesem Schema folgen sämtliche 22 Kanones, einschließlich c. 11. Auch für ihn gilt daher: was vor placuit steht, ist der Tatbestand der Norm, alles danach gibt die beschlossene Rechtsfolge wieder. Somit erweist sich auch Klausel [3] als Merkmal des vorgefundenen, regelungsbedürftigen Sachverhalts, ist also nicht Teil der von den Bischöfen beschlossenen Rechtsfolge. Die Parallelisierung von [2] und [3] durch et - et unterstreicht das zusätzlich. Die Bischöfe beschließen also eine Regelung für einen Sachverhalt, der durch drei Tatbestandselemente umschrieben ist: [1] Betroffene sind Männer, deren Ehefrauen Ehebruch begangen haben, [2] und zwar sind es noch junge Gläubige, und [3] für sie gilt - ganz unabhängig von dem, was die Bischöfe beschließen werden - auf jeden Fall prohibentur nubere. Liegt so ein Fall vor, dann soll dem betroffenen Mann, so der Beschluß der Synode, ernstlich und eindringlich der kirchenamtliche Ratschlag 24 erteilt werden, sich keine andere Ehefrau zu nehmen zu Lebzeiten der ersten, und dies, obwohl diese Ehebrecherin ist. Man w i r d daher kaum fehlgehen, wenn man die Situation, in die hinein c. 11 gesprochen ist, aufgrund seines Wortlauts so umreißt: nach Ehebruch der Frau ist die Neuheirat jedenfalls für junge Männer keine Ausnahmeerscheinung und zudem rechtlich und tatsächlich - jedenfalls im außerkirchlichen Bereich - gebilligt. Dagegen machen die Bischöfe ernsthaft Front. So lesend wird man c. 11 schwerlich als Konzession an eine laxere Wiederverheiratungspraxis werten wollen. Das Gegenteil trifft eher zu: die versammelte Kirchenautorität verlangt vielmehr von allen Bischöfen, von Amts wegen zur Durchsetzung der strengen Auffassung beizutragen. Das Konzil 22 In der Epistula ad Silvestrum bezeichnen die versammelten Bischöfe ihre Entscheidungen als indicia ; vgl. unten Fn. 87. 23 Vgl. ζ. B. Cod. Just. 3, 1, 8, ebenfalls von 314 (!): Impp. Constantinus et Licinius AA. ad Dionysium. Placuit in omnibus rebus praecipuam esse iustitiae aequitatisque quam stricti iuris rationem. 24 Zu consilium in diesem Kontext vgl. im Text bei Fn. 87.
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fordert ja unmißverständlich den Verzicht auf Neuheirat auch bei Ehebruch der Frau und erteilt damit der auf Mt 5,32; 9,19 gestützten Meinung, für diesen Fall sei eine Ausnahme vom Neuheiratsverbot anzunehmen, eine klare Absage. b) Die Tatbestandsseite der Norm Der durch die drei Tatbestandselemente gekennzeichnete Lebenssachverhalt ist nun näher zu bestimmen; dabei kommt die angedeutete Nichtberücksichtigung einer elementaren Übersetzungsregel ins Spiel. Bei den Tatbestandselementen [1] und [2] gibt es kaum Verständnisprobleme. Unschwer ergibt der Text, daß es sich um einen offenbaren Ehebruch der Frau handeln muß. Daß das Problem besonders jugendliche Männer angeht, sagt die Bestimmung ausdrücklich, nennt aber anscheinend keinen Grund dafür. Bei Durchsicht der deutschen und französischen Übersetzungen und Umschreibungen des Tatbestandselements [3] fällt nun auf, daß die Autoren nubere durchweg in derselben Bedeutung wie uxorem accipere, das auf der Rechtsfolgenseite von c. 11 steht, verstehen und mit „heiraten" wiedergeben. 25 Das irritiert, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen wird die Übersetzungsregel - jedenfalls haben mein Vater und meine anderen Lateinlehrer sie mir eingeprägt - mißachtet, unterschiedliche Ausdrücke möglichst unterschiedlich zu verdeutschen. Sie ist bei juristischen Texten besonders wichtig; denn hier ist stets - und erst recht, wenn sie so augenscheinlich fachkundig redigiert sind, wie die 22 Kanones von Arles - zu vermuten, daß der Gesetzgeber mit unterschiedlichen Worten auch unterschiedliche Bedeutungen zum Ausdruck bringen will. Zum anderen hat sich bislang noch niemand, soweit ich sehe, daran gestoßen, daß in c. 11 nicht nur zu uxorem ducere Männer als Subjekt aufscheinen, sondern auch zu nubere. Schon der Anfänger im Lateinunterricht lernt aber, daß die Römer nubere in der Regel von der Frau sagen. Ob beide Ausdrücke, nubere und uxorem accipere, gleichwohl in c. 11 bedeutungsmäßig wirklich austauschbar sind, wie es die bisherigen Interpretationen fraglos unterstellen, ist sprachlich daher zweifelhaft und mindestens diskussionsbedürftig. 3. Zwischenergebnis
C. 11 regelt also den Sachverhalt: Junge christliche Ehemänner, deren Frauen offenbaren Ehebruch getrieben haben, unterliegen einem Verbot 25 Mordek, Ehescheidung (Fn. 3), S. 219.
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nubere und - das ist gewissermaßen ein ungeschriebenes, weil nach dem Gesamtzusammenhang selbstverständliches Tatbestandsmerkmal - denken natürlich daran, eine andere Frau heimzuführen; diesem Vorhaben steht auch kein wirksames Hindernis oder Verbot im Wege. In solchen Fällen halten die Väter in Arles folgende Regelung für geboten: es ist kirchlicherseits autoritativ darauf zu dringen, daß diese Jungmänner gleichwohl solange von einer zweiten Ehe Abstand nehmen, wie die von ihnen geschiedenen Ehebrecherinnen noch leben. III. Prohiberi nubere Aus der Unterscheidung von Tatbestands- und Rechtsfolgenseite des c. 11 folgt, daß die Verbotsklausel [3] nicht - wie es die bisherigen Deutungen tun - auf die beabsichtigte neue Ehe des Mannes abzielt, sondern das Verhältnis zur ersten Ehefrau betrifft; auch die Gleichordnung von adules cent es fideles und prohibentur nubere zeigt wohl an, daß zwischen diesen Merkmalen ein naher, „natürlicher" Zusammenhang besteht. Folgt man dem hier vorgeschlagenen Ansatz, dann entschärft sich auch der eigentliche Diskussionspunkt in c. 11, der erklärungsbedürftige Widerspruch zwischen striktem Verbot (prohiberi) und bloßem Ratschlag (consilium); denn beides bezieht sich auf unterschiedliche Verhältnisse. Anerkennt man die überlieferte Fassung des c. 11 als korrekte Wiedergabe des Beschlusses von 314 und akzeptiert, daß den Zeitgenossen und Adressaten c. 11 einschließlich seiner Sachverhaltsumschreibung klar verständlich war, dann wird man dem Vorschlag kaum widersprechen, Klausel [3] so zu verstehen: et prohibentur nubere [scilicet adulterae]. Diese stillschweigende Ergänzimg führt jedenfalls zu einem sinnvolleren Ergebnis als der Versuch, nubere auf der Tatbestandsseite gegen uxorem ducere auszutauschen, wie es die korrekte Rückübersetzung der heutigen Interpretationen verlangen würde. Zu fragen ist also, ob beide Ausdrücke nicht doch Verschiedenes aussagen können. An der Bedeutung von uxorem accipere, geläufiger wohl uxorem ducere , „eine Ehefrau nehmen, heimführen", also „heiraten" im üblichen deutschen Wortsinn von „eine Ehe eingehen, beginnen" läßt sich kaum zweifeln. In Betracht zu ziehen sind vielmehr weitere Bedeutungen von nubere, und zwar vornehmlich dann, wenn es vom Manne ausgesagt wird. Nach Textund Sachzusammenhang dürfte die Erwägung wohl nicht als allzuweit hergeholt und abseitig beurteilt werden, nubere meine an dieser Stelle nicht „eine Ehe eingehen", sondern bedeute eher „der ehelichen Werke pflegen" wie man sich ehedem auszudrücken pflegte. Diese Erwägung sinnt den Vätern von Arles auch wohl kaum Unziemliches an, da sie zum größeren Teil
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nicht zeitlebens Zölibatäre waren und ihnen daher erlaubterweise das Angedeutete nicht fremd war. Ob hier in der Tat der Schlüssel zum Verständnis von c. 11 liegt, soll in zwei Schritten untersucht werden: zum einen, ob nubere in der angedeuteten Bedeutung belegt ist; zum anderen, ob im Jahre 314 ein Verbot, mit der ehebrecherischen Ehefrau weiterhin zusammenzubleiben, bestand. 1. Bedeutung von nubere
Dem Bemühen aufzuklären, ob nubere den postulierten Sinn haben kann und ob er auch in kirchlicher Verwendung denkbar ist, stehen einige Schwierigkeiten im Weg. Die großen Lexika liefern zwar einige Hinweise, aber jedem in seinem Textzusammenhang nachzugehen, war mir nicht möglich. Das wichtigste Auskunftswerk hat zudem seinen Schatz an nubere noch nicht publiziert. 2 6 Vorläufig ergibt sich in etwa das folgende Bild: Es gibt eine unklassische, volkstümliche Verwendung von nubere beim Manne, die gleichbedeutend ist mit uxorem ducere , also „heiraten, eine Ehe eingehen, sie beginnen" meint; diese Verwendung ist besonders bei christlichen Schriftstellern belegt - anscheinend dort auch beeinflußt von der Wortwahl der Vetus Latina, der altlateinischen Bibelübersetzung. 27 Wird jedoch in literarischen und in juristischen Texten nubere vom Manne gesagt, ist damit zu rechnen, daß diese Wortwahl einen offenkundigen oder indirekten Hinweis auf die copula carnalis bezweckt. Beide Verwendungsbereiche lassen sich aber nicht scharf gegeneinander abgrenzen. Für die hier interessierende Zeit und den vorliegenden Text kommen daher beide Bedeutungen in Betracht, insbesondere weil nubere sich hier auf den Mann bezieht. Wird nubere von der Frau gesagt, ist zunächst die geläufige, klassische Bedeutung in Betracht zu ziehen. Da mit dem Wort aber auch die andere Bedeutung verknüpft ist, kann diese auch gemeint sein, wenn von einer Frau die Hede ist. Die unklassische Verwendung von nubere vom Manne und die Verwendung in der zweiten Bedeutung beim Mann und bei der Frau zeigen folgende Beispiele.
26 Jedoch wiesen Ursula Keudel und Hans Wieland vom Thesaurus Linguae Latinae mich liebenswürdigerweise auf die in der folgenden Fn. genannten Arbeiten und einige weitere Fundstellen hin; dafür sei ihnen auch an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. 27 Näheres siehe bei Gustav Koffmane, Geschichte des Kirchenlateins, Entstehung und Entwicklung des Kirchenlateins bis auf Augustinus-Hieronymus, Bd. 11.2 (alles), 1879/81 (ND 1966), S. 118; Hermann Rönsch, Itala und Vulgata. Das Sprachidiom der urchristlichen Itala und der katholischen Vulgata unter Berücksichtigung der römischen Volkssprache, 2. ber. u. verm. Aufl. 1874 (ND 1965), S. 374; ders., Collectanea philologa, Bonn 1891, S. 266 - 270: Nonius Marcellus und die Itala; J. Wackernagel, Conubium, in: Festschrift für Paul Kretschmer, 1926, S. 297.
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a) Nubere in Literatur und Recht In der Bedeutung von uxorem ducere , also bezogen auf den Mann, ist nubere, wenn auch zunächst vereinzelt, seit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert belegt. Der Grammatiker Nonius Marcellus (4. Jht.) bezeichnet diese Verwendung als eine Spracheigentümlichkeit der „Itali" und hält sie, wie sein Beispiel - eine Stelle beim Possenschreiber Pomponius (um 100 v. Chr.) - für einen Archaismus. 28 Auch Hieronymus merkt diese Sprachbesonderheit ausdrücklich an und stellt eine Verbindimg zum griechischen Sprachgebrauch her. 29 Bei Martial spielt die Vorstellung des Unterlegenseins gegenüber einer (vermögenden) Frau deutlich eine Rolle. 30 Catulls Satz nulli se dicit mulier mea nubere malle quam mihi versteht Rene Pichon vom amore non coniugali: 31 Plautus verwendet das unverfängliche nubere unmißverständlich von der Frau. 32 Von ihm überliefert Festus auch den Ausdruck verba nupta, die ein unverheiratetes Mädchen nicht zu kennen habe. 33 Festus selbst (ausgehendes 2. Jht.) gebraucht nubere ebenfalls eindeutig. 34 Ob nubere sich in dieser Bedeutung im Corpus iuris civilis ebenfalls mehrfach findet, kann ich derzeit nicht ohne Aufwand feststellen. 35 In der Aussage non potest videri nupta, quae virum pati non potest 36 klingt die zweite Bedeutung aber jedenfalls an. Eine eindeutige Verwendung mit dieser Bedeutung weisen aber bereits die älteren Wörterbücher im Theodosianischen und im Justinianischen Codex nach, in einem Kaisergesetz von 342 37 28 Sed meus {rater maior, postquam vidit me vi deiectum domo, nupsit posterius dotatae, vetulae, varicosae, vafrae; vgl. Rönsch, Collectanea (Fn. 27), S. 267; Wackernagel (Fn. 27), S. 297. 29 Näheres unten im Text bei Fn. 53. 30 Uxori nubere nolo meae; vgl. Karl Emst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 8. Aufl. verb. u. verm. v. Heinrich Georges, 11. Aufl., Hannover 1962, a.v. „von dem der Frau untertänigen Manne, ,ich w i l l nicht die Frau meiner Frau sein'". 31 René Pichon, Index verborum amatoriorum, Paris 1902 (ND 1966), S. 216 f. 32 Haec cottidie viro nubit, nupsitque hodie, nubet mox noctu; Georges (Fn. 30) „scherzh. v. einer Buhldirne". Aegidius Forcellini, Totius latinitatis lexicon, Bd. 4, Prati 1868, bemerkt zur Stelle: Ioculariter apud Plautum est concumbere. 33 Nupta verba dicebantur ab antiquis, quae virginem dicere non licebat, ut Plautus in Dy scolo: „ Virgo sum; nondum didici nupta verba dicere vgl. Wallace M. Lindsay, Sexti Pompei Festi de verborum significatione quae supersunt cum Pauli epitome, Leipzig 1913, S. 174. 34 Pelices nunc quidem appellantur alienis succumbentes non solum feminae, sed etiam mares. Antiqui proprie eam pelicem nominabant, quae uxorem habenti nubebat; Wallace (Fn. 33), S. 248. 35 Das Vocabularium Iurisprudentiae Romanae, Bd. IV, hrsg. von Marianne Meinhard, Berlin 1985, weist die Fundstellen von nubere ohne Kontext nach. Im Cod. Theod. ist nubere - mit Ausnahme der in Fn. 37 genannten Stelle - stets von der Frau in der üblichen Bedeutung gesagt; vgl. die wenigen Fundstellen bei Otto Gradenwitz, Wörterliste des Heidelberger Index zum Theodosianus, 2. Aufl., 1970 (ND 1977). 36 Dig. 36, 2, 2, 30.
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- also zeitlich nahe zu c. 11. Dort ist nubere von einem Mann, der „sich schänden läßt", also „ i n schlechtester Bedeutung" gebraucht; 38 dem französischen Codex-Übersetzer Pascal-Alexandre Tissot verweigerte, wie er mitteilt, 1810 an diesem Punkt gar die Feder den Dienst, so daß er eine Übersetzung der ein „unsägliches Verbrechen" betreffenden Stelle nicht liefern konnte. 39 Diese Bedeutungsvariante von nubere war den Juristen der Neuzeit auch wohlbekannt; denn die Stelle wurde nach Jacobus Gothofredus ihrer rethorischen Schönheit wegen gerühmt, im Unterricht freilich gewöhnlich übergangen. 40 Man darf also annehmen, daß auch in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts die zweite Bedeutung von nubere allgemein präsent war. Daß die kaiserliche Kanzlei das Wort 342 in einem amtlichen Text benutzte, um ein verabscheutes Verhalten zu kennzeichnen, mag zudem ein Indiz dafür sein, daß nubere als ein „anständiger" Ausdruck, ein Euphemismus für die Bezeichnung des Gemeinten galt. Vom weltlichen Sprachgebrauch her steht also die Möglichkeit offen, das Wort auch in c. 11, wo es auf Männer bezogen ist, in der zweiten Bedeutung zu verstehen. b) Nubere in kirchlichen Texten Eine über die genannten Hinweise hinausgehende Untersuchung zur Verwendung von nubere bei kirchlichen Schriftstellern scheint nicht vorzuliegen und kann aus naheliegenden Gründen hier nicht gebracht werden. 41 Es fehlt vielfach an Wortindizes, 42 vor allem ermangelt es noch der Ausgabe der zur Zeit des Konzils von Arles verwendeten lateinischen Bibel. Immerhin kann die spätere lateinische Fassung, die Vulgata vom Ausgang des 4. Jahrhunderts, jetzt leichter konsultiert werden. Die Konkordanz von Bonifatius Fischer weist 23 Fundstellen für nubere (nuptus) in den kanoni37
Cod. Theod. 9, 7, 3 (= Cod. Just. 9, 9, 30). So die Übersetzung bei Carl Eduard Otto / Bruno Schülling / Carl Friedrich Ferd. Sintenis, Das Corpus Juris Civilis in's Deutsche übersetzt, Bd. 6, Leipzig 1832 (ND 1985), S. 332; Hermann G. Heumann / Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9. Aufl. 1907 (ND 1971), S. 375 a.v. „von Mannspersonen gesagt: wie ein Frauenzimmer sich einem Manne preisgeben (C. 9,9.30)". 39 Pascal-Alexandre Tissot, Les douze livres du code de l'empereur Justinien, t.IV e (= Corps de droit civil Romain en latin et en français, t. 11), Metz 1810 (ND 1979), S. 39. 40 Jacobus Gothefredus, Codex Theodosianus cum perpetuis commentariis, ed. nova, t. III., Lipsia 1738 (ND 1975), S. 64 - 66. 41 Die Literatur weist vor allem bei Tertullian mehrfach den Gebrauch von nubere für den Mann nach, z. B. in adv. Hermog. 1: Praeterea [Hermogenes] pingit illicite, nubit assidue. Dazu bemerkt Forcellini (Fn. 32) Hoc est, favet polygamiae. 42 Vgl. aber Albert Blaise, Dictionaire latin-francais des auteurs chrétiens, 2. Aufl., Turnhout 1967, a.v. 38
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sehen Schriften nach. 43 Die 6 alttestamentarischen Belege verwenden nubere nur von der Frau. 4 4 Von den 17 Belegen im Neuen Testament beziehen sich 7, darunter eine Stelle in den Evangelien, auf die Frau 4 5 und 1 auf den Mann (Mt 19,10). Von den übrigen 9 Stellen, die Männer und Frauen meinen können, finden sich 5 in den Evangelien - davon 4 im gleichen Zusammenhang, der Frage nach der Fortsetzung der Leviratsehe im Himmel, 46 und 1 zur Kennzeichnung der ohne Gedanken an das Endgericht dahinlebenden Menschheit (Mt 24,38) - und 4 in den Paulus-Briefen 47 . Unter den Evangelienstellen ist Mk 10,12 si uxor dimiserit virum suum et alii nupserit moechatur sprachlich und bedeutungsmäßig unauffällig. Nach Albert Sleumer 48 belegen Mt 22,30 und L k 20,34, daß nubere auch in Bezug auf den Mann „sich vermählen, heiraten" bedeutet; beides sind Stellen zum Stichwort Leviratsehe. Diese eingeschränkte Bedeutung, die auch die heutigen Übersetzungen wiedergeben, 49 ist aber - betrachtet man den Sinnzusammenhang der Perikope - keineswegs zweifelsfrei, bei Mt und Mk vielmehr deutlich verkürzend. Nach den Synoptikern fragen die Sadduzäer, die die Auferstehung leugnen, Christus, wessen uxor denn im Falle der Auferstehung eine in Leviratsehe nacheinander mit sieben Brüdern verheiratete Frau sein werde. Die Frage beginnt nach Mt 22, 25 - 28 so: erant autem apud nos Septem fratres et primus uxore dueta defunetus est et non Habens semen reliquit uxorem suam fratri suo und endet in resurrectione ergo cuius erit de Septem uxor. Mk 12,20 - 23 und L k 20,28-33 sprechen statt von uxorem ducere von uxorem accipere (also ebenso wie c. 11 von Arles); nubere taucht in der Fragestellung nicht auf. In den Antworten heißt es bei Mt 22,30: in resurrectione enim neque nubent neque nubentur sed erunt sicut angeli Dei in coelo; bei M k 12, 25: 43 Bonifatius Fischer, Novae concordantiae bibliorum sacrorum iuxta vulgatam versionem critice editam, Bd. 3, Stuttgart 1977, Sp. 3383; er nennt noch 2 weitere Fundstellen aus dem apokryphen 4. Buch Esdra (um 100 n. Chr.). Benutzte Ausgabe: Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, 2 Bde., hrsg. von Robert Weber, 2. verb. Aufl., Stuttgart 1975. 44 Lv 21,2; 22,12; Nm 36,6, 11; Dt 25,5; Rt 1,13. « Mk 10,12; 1 Kor 7, 28, 34, 36, 39; 1 Tim 5, 11 und 14. 46 Mt 22, 30; Mk 12,25; L k 20, 34 und 35. 47 1 Tim 4,3; 1 Kor 7,8,9 (zweimal). 48 Kirchenlateinisches Wörterbuch, Limburg 1926, S. 554. 49 Die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift: die Bibel, hrsg. i. Auftr. d. Bischöfe Deutschlands, 2. Aufl. d. Endfassung, Stuttgart 1982, schreibt an den hier genannten Stellen „heiraten", ebenso die Deutsche Ausgabe der Jerusalemer Bibel, hrsg. v. Diego Arenhovel / Alfons Deissler / Anton Vögtle, Freiburg 1968, ausgenommen zu Mt 24,38: „freien und ließen sich freien". Diese Worte verwendet durchweg Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Witteanberg 1545, hrsg. v. Heinz Volz u. a., Darmstadt 1972; „verheiraten" steht 1 Kor 7, 38, 39, „ehelich werden" Mt 19, 10 und 1 Tim 4, 3.
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cum enim a mortuis resurrexerint neque nubent neque nubentur sed sunt sicut angeli in caelis; bei L k 20, 34 f.: filii saeculi huius nubunt et traduntur ad nuptias Uli autem ... neque nubunt neque ducunt uxores. Schon die Frage, wessen uxor die Siebenmalvermählte dann sein werde, läßt ersehen, daß die Fragesteller dabei nicht an eine neue Eheschließung im Himmel dachten, sondern die Auferstehungsvorstellung durch das hämische Unterstellen eines „lustigen Ehelebens" im Himmel diskreditieren wollten. Dies sah auch Hieronymus so, der von der turpitudo fabulae spricht und bemerkt, diese fingierte Geschichte solle nur dazu dienen, denen, welche an die Auferstehung der Toten glauben, Irrsinn zu unterstellen. 50 Gerade das aber weist der Herr zurück, wie der Hinweis auf die Engel im Himmel unterstreicht. Neque nubent, neque nubentur schließt also diese Vorstellung mit ein, ja entlarvt das, was hinter der Frage eigentlich steckt. In der Antwort bei L k - deren abweichende Fassung im zweiten Teil nicht von der griechischen Vorlage induziert zu sein scheint - erscheint diese Bedeutungsvariante von nubere (das beide Male aktiv 5 1 gebraucht ist) wohl sogar noch verstärkt, weil tradere ad nuptias bzw. uxores ducere dagegengesetzt sind. Diese Bedeutungsvariante wird man auch bei Mt 19,10 feststellen dürfen. Mit ihrer Bemerkung, si ita est causa homini cum uxore non expedit nubere, reagieren die Jünger auf das die mosaische Scheidungsfreiheit abschaffende Herrenwort: Dico autem vobis quia quicumque dimiserit uxorem suam nisi ob fornicationem et aliam duxerit moechatur et qui dimissam duxerit moechatur. Auch hier fällt wieder der Begriffswechsel zwischen nubere und uxorem ducere auf. Er erklärt sich wohl daraus, daß das Scheidungsverbot in Mt 19,5,6 mit dem doppelten Hinweis auf die una caro und das adherer e uxori begründet ist. Die Auffassung, daß die Verwendung von nubere an diesen Stellen, wo nur bzw. auch der Mann gemeint ist, bewußt eine andere Bedeutung anklingen lassen soll als nur „eine Ehe eingehen", stützt sich auch auf die Redaktion dieser Verse durch Hieronymus (um 347 - 420). Er begann 383 auf päpstliches Geheiß mit der Neubearbeitung der lateinischen Evangelien; dabei verbesserte er Übersetzungsfehler, schonte das sprachliche Kleid seiner Vorlage aber weitgehend. Ob und gegebenenfalls in welchem Maße er auch die übrigen Schriften des Neuen Testaments überarbeitete, ist offen. Das Alte Testament revidierte er in vermutlich zwei Anläufen, größtenteils übersetzte er es aber neu aus dem Hebräischen bzw. Aramäischen. 52 50 Qui resurrectionem corporum non credebant et animam putabant interire cum corporibus, recte istiusmodi fingunt fabulam quae deliramenti arguat eos qui resurrectionem adserant mortuorum. Potest autem fieri ut uere in gente eorum aliquando hoc accident. So Hieronymus, Commentariorum in Matheum libri IV, hrsg. von D. Hurst / M. Adriaen (CChr ser. lat. 77), Turnholti 1969, S. 205, zu Mt, 22, 25; zu Mt 22, 28: Turpitudinem fabulae opponunt ut resurrectionis denegent ueritatem. 51 Und daher auf den Mann bezogen ist, so dazu Hieronymus im Text bei Fn. 53.
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Des „unkorrekten" Gebrauchs von nubere in der ihm vorliegenden lateinischen Bibel war sich Hieronymus bewußt. Im Mt-Kommentar von 398 bemerkt er: Latina consuetudo graeco idiomati non respondit. Nubere enim proprie dicuntur mulieres et uiri uxores ducere. Sed nos simpliciter dictum intellegamus quod nubere de viris et nubi de uxoribus scriptum sit. 53 Zur Stelle selbst führt er sodann aber aus: Sic in resurrectione non nubent neque nubentur, resurgent ergo corpora quae possunt nubere et nubi. Nemo quippe dicit de lapide et arbore et his rebus quae non habent membra genitalia , quod non nubant neque nubantur, sed de his qui cum possint nubere tamen alia ratione non nubunt. Quod autem infertur: Sed sunt sicut angeli Dei in caelo, spiritalis repromittitur conversatio. Die Aussage bedarf keines weiteren Kommentars zur Bedeutung von nubere. Hieronymus beließ es nicht bei der Feststellung, nubere werde in der Schrift nicht proprie gebraucht, sondern bemühte sich - wenn auch nicht mit letzter Konsequenz - um korrekte Verwendung. Damit dürfte zusammenhängen, daß nubere - wie gezeigt - in der Vulgata des Alten Testaments stets korrekt verwendet ist. Dementsprechend verbesserte er aber auch durchweg den Evangelientext. 54 So sagt er erst in der Vulgata Mk 6,17 von Herodes, quia duxerat eam [sc. Herodiam], die Vetus Latina hatte quia nupsisset eam. Ebenso setzt er in L k 16,18 Omnis qui dimittit uxorem suam et ducit alteram anstatt et nubit aliam der Vorlage. Desgleichen verbessert er in der Frage Mt 22,25 primus nubens in primus uxor e ducta und betont damit den Bedeutungsunterschied zu nubere in der Antwort. Auch in den - von Hieronymus kaum oder gar nicht überarbeiteten - Paulus-Briefen ist keineswegs ausgemacht, daß die Übersetzung von nubere durch „heiraten" die gemeinte Bedeutimg voll trifft. In 1 Kor 7,8 und 9 5 5 rät der Apostel allen noch ledigen und wieder unverheirateten Gläubigen: dico autem non nuptis et viduis bonum est Ulis si sie maneant sicut et ego quod si non se continent nubant, melius est enim nubere quam uri. Mindestens der letzte Satz deutet - um es vorsichtig auszudrücken - doch wohl über die Eheschließung hinaus. Ahnliches gilt für nubat in 1 Kor 7,36; denn non peccat bezieht sich wohl kaum auf eine eigentlich verbotene Hochzeitsfeier. In 1 Tim 4,3 ist von Irrlehrern die Rede, die ein Doppelverbot verkünden: prohibentium nubere (7)56 und in einem Atemzug damit abstinere a eibis quos Deus creavit ad pereipiendum cum gratiarum actione fidelibus; man wird wohl annehmen dürfen, daß das erste Verbot nicht etwas so Unalltägliches, 52 K. Th. Schäfer, Art. „Bibelübersetzungen, Lateinische", in: L T h K B d . 2, 2. Aufl., Freiburg 1958, Sp. 382. 53 Vgl. schon oben bei Fn. 29. 54 Nachweise der Vetus Latina Fassung hier nach Rönsch und Koffmane (Fn. 27). 55 3 Belege für nubere. 56 Das ist der Ausdruck, den auch c. 11 gebraucht.
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wie es eine Hochzeit nun einmal ist, und die Beschränkung der täglichen Nahrungsaufnahme auf eine Stufe stellen will. Entsprechendes gilt für die Schilderung der Verhaltensweise der Leute zur Zeit des Patriarchen Noah bei Mt 24, 38 comedentes et bibentes nubentes et nuptum tradentes, das Hieronymus stehenließ. Daß nubere auch in den kirchlichen Texten jener Zeit etwas anderes als bloß das Eingehen einer Ehe bedeuten kann, bedarf wohl keiner weiteren Nachweise. Ergänzt sei, daß nubere auch im Mittelalter in der zweiten Bedeutung bekannt war und verwendet wurde. Paulus Diaconus nahm die beiden Stellen aus Festus in seine Epitome auf. 57 Bei Benedictus Levita heißt es Si vir et mulier conjunxerint se in matrimonium, et postea dixerit mulier de viro non posse ilium nubere cum ea. 58 Diese Stelle oder ihre Vorlage ging in Gratians Dekret zwar verändert - de viro , quod non possit coire cum illa - über, wird aber dort eingeleitet: Quod autem interrogasti me de his, qui matrimonio iuncti sunt et nubere non possunt. 59 - Vielleicht hat deswegen Ivo c. 11 problemlos rezipiert 60 und auch kein anderer mittelalterlicher Kanonist, soviel ich sehe, dagegen polemisiert. Soviel ist also sicher: nubere kann wie im weltlichen, so auch im kirchlichen Sprachgebrauch eine über das, was mit „eine Ehe abschließen" gesagt ist, hinausgehende Bedeutung haben, insbesondere dann, wenn es vom Mann gesagt wird. Ob diese Bedeutungsvariante im Einzelfall in Betracht kommt, erschließt sich aus dem Kontext. 2. Existenz eines Verbotes Nubendi
Für c. 11 ergibt die Textauslegung die Vermutung, daß nubere in der auf dieser, auf die copula hinweisenden Bedeutung zu verstehen ist. Gab es tatsächlich ein Verbot, mit der manifesten Ehebrecherin weiterhin eheliche Gemeinschaft zu haben? a) Nach weltlichem Recht Ausgangspunkt ist die Bestimmung der lex Julia de adulteriis coercendis vom Jahre 18 v. Chr. Sie bedrohte mit Strafe wegen Kuppelei nicht nur den 57 Vgl. Wallace (Fn. 33), S. ... 58 Capitularium collectio lib. 2, c. 55, hrsg. von F. H. Knust, MGH L L 2,2, hrsg. von Georg H. Pertz, Hannover 1887 (ND 1965), S. 76; nachgewiesen schon bei Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, 1883/87 (ND 1954), a.v., und bei Jan F. Niermeyer, Mediae latinitatis lexicon minus, Leiden 1976, a.v. 59 C. 27 q. 2 c. 29. - Die von den MGH für 1987 angekündigte Wortkonkordanz zum Decretum Gratiani von Timothy Reuter soll Ende 1989 vorliegen. 60 Siehe bei Fn. 13.
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Ehemann, der Nutzen aus dem Ehebruch seiner Frau zog, sondern auch eum, qui in adulterio deprehensam retinuerit; 61 das wird so begründet: debuit enim uxori quoque irasci , quae matrimonium eius violavit .62 Die Trennung mußte binnen drei Tagen erfolgen. 63 Das war zur Zeit Ulpians (gestorben etwa 223), also ein Jahrhundert vor dem Konzil von Arles, noch geltendes Recht; das zeigt der von ihm berichtete Fall des Claudius Gorgus. 64 Die in adulterio deprehensa galt zudem wie eine wegen Ehebruchs tatsächlich öffentlich Verurteilte. 65 Der Ehemann, der sich gleichwohl nicht von ihr trennte, verfiel - wie im Jahre 257 festgehalten wird - der Strafe der lex Julia. 66 Ein Dritter konnte sie allenfalls als concubina , nicht aber als uxor haben. 67 Im Laufe des 3. und zu Anfang des 4. Jahrhunderts gab es anscheinend eine Tendenz, in Bezug auf Ehebruch strengere Maßstäbe anzuwenden. 68 Die Bestrafung des Ehebruchs wurde verschärft; während sie nach klassischem Recht die deportatio nach sich zog, kann für die Wende zum 4. Jahrhundert davon ausgegangen werden, daß Ehebruch mit einer Kapitalstrafe und zwar der Todesstrafe bedroht war. Jean Gaudemet weist in seiner sorgfältigen Analyse der widersprüchlichen Quellen darauf hin, daß es ein Gesetz Konstantins ist, das Ehebruch neben Mord als todeswürdiges Verbrechen nennt. 69 Dieses Gesetz war aber gerade neun Monate vor dem Konzil von Arles, am 3. November 313, publiziert worden. 70 Auch die Rechtspflicht des Mannes, die Ehebrecherin zu verstoßen und bestrafen zu lassen, 61 Dig. 48, 5, 2, 2. Zu Ehescheidung und Kuppeleivorwurf vgl. Edoardo Volterra , Intorno a D. 48, 5, 44 (43), in: Studi in onore di Biondo Biondi, Milano 1965, 2. Bd., S. 123 - 140; G. Delling, Art. „Ehebruch, V. Römisch", in: RAC Bd. 4 (1959), Sp. 672 675. 62 Dig. 48, 5, 30 pr. - Nach Dig. 48, 5, 12, 13 handelte richtig, wer eine des Ehebruchs erst Beschuldigte zwar geheiratet hatte, sie aber nach ihrer Verurteilung unverzüglich verstieß, cum per legem Iuliam huiusmodi uxorem retinere prohibearis. 63 Fulbert Cayre, Le divorce au IVe siècle dans la loi civile et les canons de saint Basile, in: Echos d'Orient 19 (1920), S. 295 - 321, hier S. 298. 64 Nach Dig. 48, 5, 2, 6 bestrafte ihn Kaiser Septimius Severus als Kuppler, dum detectus est, uxorem in adulterio deprehensam retinuisse. es Dig. 23, 2, 43, 12. 66 Cod. Just. 9, 9, 17 Is committit in poenam, quam lex certo capite denuntiat, qui vel publice adulterio damnatam habet vel adulteram sciens, ut ignorationem simulare non possit, retinet uxorem. 67 Dig. 25, 7, 1, 2 Qui autem damnatam adulterii in concubinatu habuit, non puto lege Iulia de adulteriis teneri, quamvis, si uxorem eam duxisset, teneretur. 68 Vgl. Severus Alexander im Jahre 224, Cod. Just. 9, 9, 9 Castitati temporum meorum convenit lege Iulia de pudicitia damnatam in poenis legitimis perseverare, qui autem adulterii damnatam, si quocumque modo poenam capitalem evaserit, sciens duxit uxorem vel reduxit, eadem lege ex causa lenocinli punietur. 69 Jean Gaudemet, Le droit romain dans la littérature chrétienne occidentale du I I I e au V e siècle (IRMAE I, 3, b), Mediolani 1978, S. 49 - 51. 70 Cod. Theod. 9, 40, 1 (= Cod. Just. 9, 47, 16). Gaudemet (Fn. 69) entscheidet sich wegen der in der Edition des Cod. Theod. diskutierten Datierung 314 oder 313 ausdrücklich für die letztgenannte Lesart.
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bestand unvermindert fort, ja Konstantin selbst schärfte sie in einer Konstitution von 326 nochmals ein; 7 1 noch Augustinus setzt sich heftig damit auseinander. 72 Nach der Rechtslage des Jahres 314 machte sich also der Ehemann, der seine ehebrecherische Frau nicht verstieß, strafbar. Daß unter solchen Umständen auch die Fortsetzung der Lebensgemeinschaft praktisch ausgeschlossen war, darf man annehmen, 73 auch wenn es an einem so ausdrücklichen weltlichen Verbot, wie c. 11 es wiedergibt, anscheinend fehlt. b) Nach kirchlicher
Anschauung
Sehr deutlich spricht sich darüber jedoch die kirchliche Lehre jener Zeit aus. Die Zeugnisse für ein Scheidungsgebot bei Ehebruch der Frau sind zahlreich. Henri Crouzel faßt sie so zusammen: „Die Mehrheit der Kirchenväter seit Hermas faßt die in Mt 19,9 zugelassene Trennung wegen Ehebruchs als zwingende Vorschrift auf. Unter den Bibeltexten, die zur Begründung angeführt werden, ist der wichtigste 1 Kor 6,16: ,wer an der Hure hanget, ist ein Leib mit ihr'. Wenn der unschuldige Gatte im Wissen des Ehebruchs gleichwohl die eheliche Gemeinschaft fortsetzt, macht er sich an dem Vergehen mitschuldig und verletzt die Heiligkeit der Ehe, mit der ein ménage à trois nicht zu vereinbaren ist." 7 4 Zeitnahe Belege für die äußerst strenge Haltung der Kirche zu dieser Frage bieten z. B. die cc. 65, 70 des Konzils von Elvira (vor 311). 75 Danach droht dem Mann, dessen Frau mit seinem Wissen Unzucht treibt, Exkommunikation auf Lebenszeit; nur falls er sie entläßt, kann er - nach 10 Jahren - wieder zur communio zugelassen werden, si earn cum sciret adulteram aliquo tempore in domo sua retinuit. Denn nur der sofortige Verweis der Ehebrecherin aus dem Haus entspricht den Forderungen der bona conversatio eines Christen, wie die Konzilsväter ausdrücklich hervorheben. Ein Kleriker, der weiß, daß seine Frau Unzucht treibt, aber non earn statim projecerit, kann daher nicht mit einer S traf Verkürzung wie ein Laie rechnen; denn er erweist sich in den Augen der Konzilsväter von Elvira als Beispiel schändlicher Verbrechen: ne ab his qui exemplum bonae conversationis esse debent, 71
Cod. Just. 9, 9, 29. Vgl. auch Crouzel, L'église (Fn. 14), S. 38 f. 73 Den nach Dig. 25,7,1,2 (Fn. 67) theoretisch nicht ausgeschlossenen Fall, daß der Ehemann selbst und nicht nur ein Dritter die Ehebrecherin wieder als concubina zu sich nahm, dürfte praktisch keine Bedeutung gehabt haben. 74 Crouzel, TRE (Fn. 15), S. 328; vgl. ders., L'église (Fn. 14), S. 47 - 51; Adnès (Fn. 6), S. 64 Anm. 2. - Anton Ott, Die Auslegung der neu testamentlichen Texte über die Ehescheidung (Neutestamentliche Abh. 3, 1 - 3 ) , Münster 1911; Delling (Fn. 61), Sp. 675 - 677; ders., Art „Ehescheidung", in: RAC (Fn. 61), Sp. 713 - 717. 75 Zur Datierung vgl. Othmar Heggelbacher, Geschichte des frühchristlichen Kirchenrechts bis zum Konzil von Nizäa, Freiburg / Schweiz 1974, S. 112 f. 72
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ab eis videantur scelerum magisteria procedere .76 Entsprechend entscheidet c. 8 der zwischen 314 und 325 anzusetzenden Synode von Neokaisareia in Kappadokien. 77 Für die Zeit nach Arles sei nochmals Hieronymus bemüht. In seinem noch im Decretum Gratiani nachzulesenden78 - Kommentar zu Mt 19,9 schreibt er, die Frau habe durch ihren Ehebruch die una caro zerteilt und sich von ihrem Manne getrennt; sie dürfe nicht behalten werden, damit nicht auch der Mann unter den Fluch des Schriftworts „Wer die Ehebrecherin behält, ist töricht und frevelhaft" 79 falle. 80 Er kommt zum Ergebnis, ubicumque est igitur fornicatio et fornicationis suspicio (!) libere uxor dimittitur. Das gleichwohl geltende Verbot einer neuen Ehe ist nach diesem Kirchenvater nur eine Schutzmaßnahme gegen hinterlistige Beschuldigung einer Unschuldigen. Wenn sich jemand nämlich, meint er, nicht der Begierde, sondern des erlittenen Unrechts wegen scheide, warum solle der als gebranntes Kind sich nochmals derselben Gefahr aussetzen. Von einem die recht- und pflichtgemäße Scheidung überdauernden Ehebande findet sich hier keine Spur. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß in Mt 1,19 Joseph, der seine dem Anschein nach treubrecherische Verlobte dimittere voluti, mit dem Prädikat vir iustus ausgezeichnet ist. Während man heute geneigt ist, den Grund für diese Hervorhebung in seinem Vorsatz zu sehen, die Entlassung heimlich vorzunehmen, sah sich Hieronymus an dieser Stelle vor die Frage gestellt: Quomodo Ioseph cum crimen celet uxoris, iustus scribitur? 81 3. Zwischenergebnis
Die Väter des Konzils von Arles sahen sich mit folgender Situation konfrontiert: Junge christliche Männer, die ihre Ehefrauen in flagranti ertappten, verhielten sich - und zwar sowohl nach geltendem weltlichen Recht, als auch gemäß unbezweifelter kirchlicher Auffassung - nur dann recht, wenn sie die eheliche Gemeinschaft mit diesen Frauen abbrachen und die Ehe auf76
Hier nach Hefele (Fn. 12), S. 185, 187. Hefele-Leclerq, Histoire des concils, Bd. 1, Paris 1897, S. 298 - 334. 78 C. 32, qu. 1, c. 2. 79 Prov 18, 22 Qui autem tenet adulteram stultus est et impius. Dieser Satz ist Sondergut von Septuaginta und Vulgata (so der Hinweis der Einheitsübersetzung). 80 Auch Jer 3,1 wird (z. B. von Basilius in seinem kanonischen Schreiben) als biblische Begründung der Scheidungspflicht genannt: Vulgo dicitur: Si dimiserit vir uxorem suam, et recedens ab eo, duxerit virum alterum, numquid revertetur ad eam ultra, numquid non polluta et contaminata erit mulier illa? 81 Hieronymus (Fn. 50), S. 11; die Antwort ist wenig überzeugend: Sed hoc testimonium Mariae est quod Joseph, sciens illius castitatem et admirans quod euenerat, celat silentio cuius mysterium nesciebat. 77
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lösten. Ihnen lag aber weder von Natur aus, noch nach dem Beispiel ihrer Umwelt nahe, deswegen fortan zölibatär zu leben; sie waren vielmehr einem erheblichen rechtlichen und sozialen Druck ausgesetzt, eine neue Verbindung einzugehen. Das aber stand mit dem Verständnis der Konzilsväter vom neutestamentlichen Heiratsverbot für Geschiedene zu Lebzeiten des Gatten in krassem Gegensatz. Daher sahen sie sich und alle ihre Mitbischöfe verpflichtet, mittels eines consilium auf die Betroffenen einzuwirken, eine Neuheirat zu unterlassen. IV. Zur Bewertung des c. 11 vom Jahre 314 Vielmals macht die Literatur darauf aufmerksam, daß der Beschluß von 314 wesentlich von der Linie abweicht, die etwa einige Jahre früher das Konzil in Elvira eingeschlagen hatte. Dort wurde die Verletzung des Neuheiratsverbots mit Exkommunikation bestraft - allerdings nur, wenn Christinnen dagegen verstießen. Hat man in Arles der Sache nach eine weichere Linie verfolgt und gar deswegen auf diese Drohung verzichtet, weil es um Christen ging? 82 Sicher, ein Beschluß wie in Elvira hätte der neueren Eherechtsgeschichte ein Problem erspart - aber auch den Synodalen von Arles? Ein Blick auf die politische Lage im Sommer 314, als die auf den 1. August einberufene Synode tagte, läßt daran zweifeln. Die Situation der Kirche war noch nicht gesichert. Die staatliche Anerkennung war gerade im Vorjahr erst beschlossen worden. Daß die damit angebrochene Friedenszeit für die Kirche auf lange Zeit andauern werde, konnten die Zeitgenossen wohl nur hoffen, aber noch nicht absehen. Sogar das erste Toleranzedikt des Galerius vom 30. April 311 war gerade erst drei Jahre alt. Konstantin, einer der Nachfolger, erwies sich seit knapp zwei Jahren - seit dem Sieg an der Milvischen Brücke Ende Oktober 312 - zwar zunehmend als Freund der Kirche. Das im Februar 313 beschlossene und erst am 13. Juni 313 verkündete religionspolitische Programm, das als „Mailänder Toleranzedikt" bekannt ist, war aber nicht sein Werk allein; 8 3 er war noch längst nicht Alleinherrscher, sondern teilte sich die Macht mit Licinius. Zwischen beiden Kaisern wuchsen aber die Spannungen, sie kamen noch im Konzilsjahr selbst zum Ausbruch. Wenn auch die Entscheidungsschlacht noch ein Jahrzehnt auf sich warten ließ, so entpuppte sich Licinius schon bald als keineswegs engagierter Christenfreund, ab 320 ließ er harte Verfolgungen durchführen. Es wäre weltfremd anzunehmen, die zum Konzil einberufenen Geistlichen hätten diese prekäre Situation nicht vor Augen gehabt. In Arles waren die Kirchenmänner zu einem von Konstantin, dem Freund der Kirche, einberufenen Konzil versammelt; ihre Anreise hatte der staat82 83
Dies deutet auch Hefele schon an, vgl. Text bei Fn. 12. Gaudemet (Fn. 69), S. 61 f.
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liehe Reisedienst erleichtert. Mit der Entscheidung gegen die Donatisten, deren Fall die vom Kaiser gestellte primäre Aufgabe des Konzils gewesen war, hatte das Konzil zugleich einen möglichen grundsätzlichen Konfliktpunkt zwischen Kirche und Kaiser bereinigt; denn die Donatisten zeigten sich eher antikaiserlich eingestellt, von ihrem Anführer wird der Satz überliefert: Quid est imperatori cum ecclesia ?84 Nun aber ein durch effektive Kirchenstrafen nach dem Beispiel von Elvira abgesichertes Neuheirats-Verbot trotz - kirchlich und staatlich - gerechtfertigter Scheidung zu verkünden, hätte bedeutet, einen anderen schwerwiegenden Konflikt vom Zaune zu brechen. Ein solches Verbot hätte die Betroffenen zur Mißachtung geltenden Rechts verpflichtet. Die Augusteischen Ehegesetze hatten bekanntlich nicht nur das Scheidungsgebot bei Ehebruch der Frau angeordnet, sondern die Römer auch mit Heiratspflichten belastet. Die in c. 11 angesprochenen jungen Christen mußten demzufolge spätestens binnen 24 Monaten eine neue Ehe eingehen. Diese Heiratspflicht stand 314 noch in Kraft; denn Konstantin schaffte sie erst sechs Jahre später mit einer Konstitution ad populum vom 1. April 320 ab. 85 Schließlich war auch innerkirchlich die Frage, ob trotz des Vorbehalts bei Matthäus ein unbedingtes und absolutes Heiratsverbot anzuerkennen sei, noch nicht sicher und umfassend abgeklärt. 86 Das Problem hatte zudem weder auf der offiziellen Traktandenliste gestanden, noch bildete es das Schwerpunktthema unter den von den Teilnehmern ad hoc zur kollegialen Beratung gestellten Problemen. 87 Wird man angesichts dieser Lage den Konzilsvätern gerecht, wenn man von ihnen als einzig sinnvolle Alternative zum - angeblichen - Prinzipienbruch Maßnahmen wie die in Elvira beschlossenen erwartet? Der Verweis auf Elvira überzeugt auch nicht richtig. Die harten Strafen, die dieses in der Zeit der Illegalität der Kirche tagende Provinzialkonzil im fernen Spanien androhte, sollten auch den Durchhaltewillen der Christen in der Verfolgungssituation stärken. In Arles tagte aber die erste, sogar vom Kaiser einberufene Synode des Westens; sie mußte schon die neue Situation, in der viele und noch kaum gläubige Menschen zur Kirche drängten, mitbedenken. Angesichts dieser Umstände haben die Synodalen von Arles in der Frage von Scheidung und Neuheiratsverbot ein optimales Ergebnis erzielt. Sie 84
S. Optati Milevitani libri, 3, 3, CSEL 26 (1893), S. 73. es Cod. Theod. 8, 16, 1 (= Cod. Just. 8, 57, 1). 86 Vgl. oben bei Fn. 7. 87 In ihrer Epistula ad Siluestrum [Ed. (Fn. 16), S. 4 f.] schreiben die Bischöfe über das Zustandekommen ihrer, nicht den Fall des Donatus betreffenden Beschlüsse: Non tarnen haec sola nobis uisa sunt tractanda, frater carissime , ad quaefueramus inuitati, sed et consulendum dum nobismetipsis consuluimus; et quam diuersae sunt prouinciae ex quibus aduenimus, ita et uaria contingunt quae nos cens emus obseruare debere. Placuit ergo ...,ut et de his quae singulos quosque mouebant iudicia proferremus ...
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gaben nichts von den von ihnen für richtig erkannten Prinzipien auf, sondern verpflichteten - es sei wiederholt - sich und alle Mitbischöfe auf die strenge Linie: die vom Ehebruch der Frau Betroffenen blieben einerseits zur Scheidung verpflichtet und mußten andererseits mit der Forderung, auf die Zweitehe zu Lebzeiten der Ehebrecherin zu verzichten, in Form eines dringenden (quantum possit) amtlichen (Adressaten der Canones ad Silvestrum und mithin des c. 11 sind die Bischöfe) Vorhalts (consilium) konfrontiert werden. Consilium in diesem Zusammenhang nur als unverbindlichen Ratschlag zu verstehen, 88 geht wohl an der Rechtswirklichkeit vorbei. Erwägt man die Rechtsbedeutung von consilium bei den Römern und zieht in die Bewertung auch die Autorität ein, die dieses consilium erteilen soll - der Bischof, also der Vorsteher der örtlichen Kirche - , wird man consilium in diesem Zusammenhang doch einen höheren Verbindlichkeitsgrad zumessen müssen, als sich gewöhnlich mit dem Begriff „Ratschlag" verbindet; es geht um eine von der höchsten kirchlichen Autorität am Ort vorgelegte Verhaltensmaxime, die in den Wind zu schlagen, faktisch wohl nicht ganz problemlos war. Mit c. 11 prä judiziert e das Konzil von Arles auch keiner weiteren Entwicklung; sollte es sich später als geboten erweisen, den kirchlichen Prinzipien mit stärkeren Mitteln Nachdruck zu verleihen, stand dem der Beschluß von 314 nicht im Wege. Der mit c. 11 zudem stillschweigend, aber unüberhörbar vorgetragene kirchenamtliche Protest gegen den staatlichen Heiratszwang brachte - wie gezeigt - binnen weniger Jahre den erwünschten Erfolg. Mit dem Wegfall der Heiratspflicht war das rechtliche Haupthindernis beseitigt, das dem kirchlichen Neuheiratsverbot entgegengestanden hatte. Knapp drei Jahrzehnte nach Arles fiel dann auch die in kirchlichen Augen ärgerliche altrömische Scheidungsfreiheit - nicht ganz, aber doch grundsätzlich: 331 war Konstantin so von der Richtigkeit einer grundsätzlichen Beschneidung überzeugt, daß er ein entsprechendes Gesetz erließ. 89 Auch von daher betrachtet, erweist sich die Entscheidung von 314 als angemessen. Sie gab mit c. 11 nicht nur den für richtig erachteten Grundsatz nicht auf und nahm ihm auch nichts von seiner Verbindlichkeit, sondern schrieb ihn ausdrücklich fest und förderte so seine endgültige Durchsetzung in der kirchlichen und d. h. zunehmend eben auch in der gesellschaftlichen Praxis.
88 Zuletzt Crouzel, TRE (Fn, 15), S. 329; vgl. auch Biondi (Fn. 7), S. 167: Das Konzil von Arles beschränkt sich darauf, einfach den Rat zu geben, keine neue Ehe einzugehen; ebenso schon Petau (Fn. 20). Vgl. auch René Le Picard, La signification du verbe „prohiberi" dans le canon X du premier concile d'Arles, in: Recherches de science religeuse 22 (1932), S. 469 - 477. 89 Cod. Theod. 3, 16, 1; dieses Gesetz wurde unter Julian Apostata als „christliches Gesetz" ausdrücklich aufgehoben, später aber wieder in Kraft gesetzt.
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Paul Mikat faßt in dem eingangs zitierten Beitrag seine Sicht des c. 11 in dem Satz zusammen: „Das Prinzip der Unauflöslichkeit trat hinter der Notwendigkeit pastoraler Klugheit zurück." Mein Vorschlag ist, die Entscheidung von Arles so zu werten: Das Prinzip der Unauflöslichkeit wurde mit pastoraler Klugheit gefördert.
I V . Staat und Verwaltung
Abschied der Demokratie vom Demos Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung Von Josef Isensee I. Demokratische Tradition: Anknüpfung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit 1. Sinn des Junktims
Zur Tradition der modernen Demokratie gehört das Prinzip, daß die Wahl des Parlaments den Staatsangehörigen zukommt, daß Ausländer ausgeschlossen sind. Das Prinzip stand bis in die jüngste Zeit unangefochten in Geltung. Das Selbstverständliche brauchte sich nicht zu rechtfertigen. Es löste nicht Reflexionen aus. Der favor traditionis sprach dafür. Der Grund liegt offen zutage. Demokratie bedeutet staatliche Herrschaft durch das Volk. Daher kann die Volksvertretung ihr Mandat nur von den Mitgliedern des Volkes herleiten, das sie vertritt. Anders gewendet: Demokratie ist Selbstbestimmung des staatlich geeinten Volkes. Diese geht hervor aus der Mitbestimmung derer, die zum Volke gehören. Ein Wahlrecht für Ausländer wäre demokratiewidrige Fremdbestimmung. Was Demokratie ist, hängt davon ab, wer der Demos ist. Die Forderung nach politischer Selbstbestimmung gewinnt Sinn und Form nur über das Subjekt, dessen Selbst den Bestimmungsgrund der politischen Einheit bilden soll. Somit erweist sich der Volksbegriff als das Fundament des demokratischen Prinzips. Im Sprachgebrauch kann das Wort „Volk" zahlreiche, heterogene und widersprüchliche Bedeutungen annehmen1, wie auch das Wort „Demokratie" 2 . Doch der semantische Proteus muß eindeutige, feste 1 Übersichten über verschiedene Volksbegriffe: Hans Liermann, Das Deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart, 1927, S. 9ff.; Hermann Heller, Staatslehre, Leiden x1934, S. 148ff.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2 1966, S. 200; Manfred Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, 1976, S. 43ff., 134ff.; Rolf Gr awert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, S. 663ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 3ff.; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, l0 1988, S. 69ff. 2 Material: Erich Küchenhoff, Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Klarheit in der Staatsformenlehre, Bd. 1/2, 1967, S. 591 ff.
45 Festschrift P. Mikat
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Josef Isensee
Gestalt beziehen u n d behalten, sobald er sich e i n m a l i n einen Rechtsbegriff v e r w a n d e l t u n d i n eine N o r m eingeht. Das g i l t auch f ü r die A u f n a h m e i n das Verfassungsgesetz. Rechtsbegriffe, die Bausteine n o r m a t i v e r O r d n u n g sein sollen, k ö n n e n n i c h t b e l i e b i g m u t i e r e n u n d changieren. Sie s i n d i m K o n t e x t der N o r m festgelegt auf identische Bedeutung 3 . Das V o l k , auf dem die D e m o k r a t i e als Staats- u n d Regierungsform 4 aufbaut, w i r d gefaßt durch das Staatsangehörigkeitsrecht. V o l k i n diesem rechtl i c h e n S i n n ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen 5 . Vice versa bedeutet Staatsangehörigkeit i n i h r e m demokratischen A s p e k t M i t g l i e d s c h a f t
im
Staatsvolk. 2. Die Institution Staatsangehörigkeit als rechtliche Voraussetzung der Demokratie a)
Verrechtlichung
Das Staatsangehörigkeitsrecht v e r m i t t e l t zwischen d e m V o l k i n seiner realen Erscheinung als soziale G r u p p e u n d der D e m o k r a t i e als Verfassungsp r i n z i p 6 . Es g i b t dem personalen Staatselement die rechtliche S t r u k t u r , auf der die demokratische Staatsform aufbauen kann. Es leistet j u r i s t i s c h h a n d habbare Z u o r d n i m g u n d Begrenzung. D i e M i t g l i e d s c h a f t i m Staatsverband w i r d r e c h t l i c h definiert u n d der Staat als rechtlicher Verband, als K ö r p e r schaft, k o n s t i t u i e r t . A u f die m i t g l i e d s c h a f t l i c h e Organisation des Staates als Körperschaft ist die D e m o k r a t i e angewiesen. D e r Staat als A n s t a l t bietet i h r keine Basis.
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Dazu Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, insbes. S. 54 ff. Zur Demokratie als Staats- und Regierungsform: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 887 (893 ff.). Zur verfassungsrechtlichen Spezifikation des demokratischen Prinzips: Josef Isensee, Demokratie - verfassungsrechtlich gezähmte Utopie, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie (= Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, Heft 2), 1985, S. 43ff. 5 Exemplarisch zur Weimarer Reichs Verfassung: Rudolf Laun, Volk und Nation; Selbstbestimmung; nationale Minderheiten, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd., 1930, S. 244; Carl Sartorius, Die Aktivbürgerschaft und ihre politischen Rechte, ebd., S. 281; Werner Hoche, Das Deutsche Reich, in: Graf Hue de Grais / Hans Peters (Hrsg.). Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preußen und dem Deutschen Reiche, 51930, S. 11(18). Exemplarisch zum Grundgesetz: Roman Herzog, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Komm. z. GG, 1988, Art. 20, II, Rn. 11 Fn. 1; Stern (Fn. 1), S. 10; Theodor Maunz I Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 27 1988, S. 21; Grawert (Fn. 1), S. 668. 6 Der Typus der Staatsangehörigkeit, von dem die vorliegende Betrachtung ausgeht, ist der, wie er sich als (späte) Folge des modernen Staates seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa herausgebildet und seither weltweit durchgesetzt hat. Diesem Typus entspricht das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. Die deutschlandrechtlichen Spezifika werden hier vernachlässigt. Zu den Grundstrukturen: Alexander N. Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 21962, S. 101 ff.; Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, S. 213ff. (Lit.). 4
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Die rechtliche Verfaßtheit des Demos ist die Voraussetzung dafür, daß Demokratie rechtliche Gestalt erhalten und geregeltes Verfahren der politischen Willensbildung mit gesicherter Teilhabe aller Bürger entwickeln kann, daß sie sich nicht zu pseudoreligiöser Schwarmgeisterei verflüchtigt und nicht absinkt zur Selbstermächtigungsideologie von Machtgruppen, die sich als das „Volk" oder seine Repräsentanten ausgeben. Die rechtliche Verfaßtheit des Volkes liegt im Staatsangehörigkeitsrecht. Es bildet den Anknüpfungstatbestand für demokratische Verfahrensordnungen und Mitwirkungsrechte 7 . Doch seine demokratische Bedeutung erschöpft sich nicht in der Bereitstellung rechtstechnischer Anknüpfungsmöglichkeiten. Es schafft auch rechtsethische Voraussetzungen. b) Formale Egalität und rechtliche Homogenität Die Staatsangehörigkeit begründet einen Status formaler Gleichheit. Sie abstrahiert von allen individuellen und kollektiven Besonderheiten. Für sie zählen nicht Alter oder Geschlecht, nicht Religion oder Rasse, nicht soziale Position oder parteipolitische Präferenz. Wie verschieden die Menschen nach Physis und Mentalität, nach Tugend und Glück, nach Bildung und Besitz auch sind: als Inhaber einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit sind sie einander von Rechts wegen gleich. Die individuellen und gesellschaftlichen Unterschiede werden damit nicht aufgehoben. Sie bleiben nur sub specie der Staatsangehörigkeit außer Betracht. Die Alternative zur rechtlich schematisierten Status-Gleichheit der Staatsbürger ist die rechtlich schematisierte Status-Ungleichheit der Ausländer. Alle sonstigen Unterschiede individueller oder sozialer Art sind irrelevant. Doch die Staatsangehörigkeit hat ihrerseits nur begrenzte Relevanz. Die Mitgliedschaft im Staatsverband deckt nur einen (wenn auch einen wesentlichen) Ausschnitt des menschlichen Seins. Sie bildet eine „soziale Rolle" 8 , mit der viele andere soziale Rollen im familiären, beruflichen, gesellschaftlichen Leben vereinbar sind. Der Mensch geht nicht auf im Staatsbürger. Der Staat - jedenfalls der Verfassungsstaat - kann und w i l l nicht das Ganze des Humanum erfassen. Das Ideal der societas perfecta et completa hat er abgelegt, um nur noch sektoraler Staat zu sein9. Mit der Reduktion der staatlichen Einheit w i r d die Staats7 Im Bereich der innerstaatlichen Rechtsordnung stellt sich nach Wilhelm Wengler die Staatsangehörigkeit meist als „Bereitschaftsstatus" dar, der als solcher noch nicht konkrete Rechte und Pflichten zwischen Bürger und Staat beinhaltet, aber die Grundlage ihrer Verknüpfung bildet (Betrachtungen zum Begriff der Staatsangehörigkeit, in: FS für Walter Schätzel, 1960, S. 545 [546, 554]). 8 Zur Theorie der sozialen Rolle: Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 21989, S. 52ff., 105ff., 145ff. 9 Paul Mikat zur Staatsidee der societas perfecta et completa: Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: ders., Religionsgeschichtliche Schriften, 1. Halbbd., 1974, S. 29 (64); ders., Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, ebd., S. 217 (222ff.); ders.,
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angehörigkeit relativiert, sowohl in ihrer positiven Funktion, rechtliche Gemeinsamkeit zwischen den Bürgern herzustellen, wie in ihrer negativen Funktion, den Unterschied zum Fremden zu markieren. Der Ausländer kann Nachbar und Vorgesetzter, Mitarbeiter, Glaubensbruder, Ehegatte sein, alles, nur eines nicht: Mitbürger 1 0 . Zur politischen Einheit des Staates gehört allein der Staatsangehörige. Diese Einheit aber ist der Ort der Demokratie als Staats- und Regierungsform. Der staatliche Verband, dessen Mitglieder alle den gleichen Status der Staatsangehörigkeit haben, ist seiner rechtlichen Struktur nach homogen. Diese Homogenität ermöglicht, daß die Einheit der Vielen repräsentiert werden kann. Die Egalität der Mitglieder bildet die Voraussetzung dafür, daß allen die gleiche Teilhabe an der Willensbildung des staatlichen Verbandes zukommt, daß ihre Stimmen gleich gewichtet, daß sie gewogen und gezählt werden können, daß das demokratische Mehrheitsprinzip gelten kann. - Die Einheit und die Homogenität, die das Staatsangehörigkeitsrecht stiften kann, sind nur formal-rechtlicher Art. Das Recht ist kein selbstgenügsames System, das aus eigener Kraft zu existieren vermag. Die Staatsangehörigkeit muß an Vorgaben realer Homogenität und politischen Einheitswillens anknüpfen, die das Recht als solches nicht schaffen und nicht herbeizwingen, wenn auch, freilich in engen Grenzen, bewahren und fördern kann. c) Rechtliche und nationale Einheit des Volkes Die rechtliche Einheit des Volkes ist auf Dauer nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine reale Grundlage stützen kann: auf ein Mindestmaß effektiver Homogenität als Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wie sie Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur und Interessen hervorbringen können, und auf den Willen aller Bürger zu gemeinsamer staatlicher Existenz, auf wirksame, glückende Integration 11 .
Das Verhältnis von Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche, ebd., S. 331 (348ff.); ders., Zur theologischen Ortsbestimmung des Kirchenrechts, ebd., 2. Halbbd., 1974, S. 705 (710, 713); ders., Kirche und demokratischer Staat, in: ders., Geschichte - Recht - Religion - Politik, 2. Bd., 1984, S. 711 (726ff.). Zum sektoralen Staat vgl. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 591 (615ff.); ders., Staat, VI. Der Verfassungsstaat und die nichtstaatlichen Potenzen, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 7 1989. 10 Die gut gemeinte neudeutsche Sprachfigur des „ausländischen Mitbürgers" ist eine contradictio in adiecto, wenn man „Bürger" im Rechtssinn versteht. Freilich ist das Wort „Bürger" sinnvariabel. Mit der Abkehr von der rechtlichen Bedeutung hin zum Undefinierten „Jedermann" verliert aber das Wort „Mitbürger" die affirmative Kraft. Der humanen Absicht gemäß wäre das Wort „Mitmensch". Vorschlag einer neuen Sprachregelung, nunmehr auch den Begriff des Ausländers zu verpönen und ihm eine diskriminierende Bedeutung anzuheften: Helmut Rittstieg, Juniorwahlrecht für Inländer fremder Staatsangehörigkeit, in: NJW 1989, S. 1018.
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Die Summe der Staatsangehörigen ergibt noch keine Nation. Der rechtliche Staatsverband muß nicht auf nationaler Einheit gründen 12 . Auch die Demokratie setzt sie nicht notwendig voraus. Gleichwohl bildet sie ihre optimale Voraussetzung. Eine Nation besteht ihrer Idee und ihrem Selbstbewußtsein nach vor Staat und Verfassung 13 . Sie begreift sich als politische Einheit und strebt danach, diese in staatlicher Form zu organisieren. Sie schafft sich den Staat nach ihrem Bilde, legitimiert ihn, soweit er diesem entspricht, oder sie stellt ihn in Frage. Während die Staatsphilosophie nur den Staat als Abstraktion zu entwerfen und zu rechtfertigen vermag, entwirft und rechtfertigt sie ihn in seiner konkreten, wirklichen Gestalt als Organisation einer bestimmten Menschengruppe auf einem bestimmten Territorium 1 4 . Die Nation verdankt sich nicht der Staatsverfassung, sie gibt dem Staat die Verfassung. Sie erzeugt über seine Institutionen und Verfahren ihr Recht. Ein Staat, zumal ein demokratisch verfaßter, der nicht auf einem vorgefundenen Fundament nationaler Einheit gründen kann, muß sich um seiner Selbsterhaltung willen darum bemühen, daß die Staatsangehörigen zur Annahme der bestehenden staatlichen Gemeinschaft und damit zur Annahme ihrer selbst finden, daß die Rechtseinheit durch Willenseinheit unterfangen wird. Erhebliche Inkongruenz zwischen Staatsverband und Nation führt zu Spannung und Instabilität. d) Unentrinnbarkeit
als Gewähr demokratischer
Verantwortung
Die Staatsangehörigkeit bildet ein grundsätzlich unauflösliches personenrechtliches Band zwischen Bürger und Staat. Zumeist w i r d es schicksalhaft begründet durch Geburt. In der Regel hat der einzelne nicht die Möglichkeit, es von sich aus zu kappen oder auszuwechseln; nur in Ausnahmefällen ergibt sich ein Anspruch auf Einbürgerung. Das personenrechtliche Band reißt nicht ab, wenn der Staatsbürger im Ausland lebt; auch außerhalb paßrechtlicher Abhängigkeit und konsularischen Schutzes wirkt es fort. Grundsätzlich unentrinnbar bleibt er seinem Heimatstaat auf Lebenszeit verbunden. Dieser kann ihm die Freiheit zur Ausreise und zur Auswanderung gewährleisten, nicht aber das Recht, in einem anderen Land Aufnahme zu finden. 11 Dazu Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 21968, S. 119 (127ff., 136ff.). 12 Zutreffend Birkenheier (Fn. 1), S. 59 f. Dazu vgl. auch Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, in: DÖV 1988, S. 437 (440f., 442f.). 13 Zu Idee und Begriff der Nation: Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (4908), in: ders., Werke, 1969, S. 9ff.; Walter Bußmann, Kämpfe um den National- und Verfassungsstaat in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 5, 1981, S. 28ff. (Lit.); ders., Nation, in: Staatslexikon (Fn. 9), Bd. 3, 71987, Sp. 1265ff. (Lit.); Laun (Fn. 5), S. 245f.; Grawert (Fn. 1), S. 666ff.; Ernst Rudolf Huber, Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965. 14 Dazu Isensee, Staat, IV. Rechtfertigung des Staates (Fn. 9).
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Das Bild des Staatsvolkes, das dem Staatsangehörigkeitsrecht zugrunde liegt, ist die politische Schicksalsgemeinschaft, in welche die einzelnen Bürger eingebunden sind. Sie haben füreinander und für die Gesamtheit einzustehen, sie haben Aufwand und Effekt, Erfolg und Scheitern, Glück und Verhängnis miteinander zu tragen. Die Solidarhaftung bezieht sich nicht allein auf das gegenwärtige, lebende Volk. Sie verknüpft dieses mit den vergangenen und den künftigen Generationen. Sie bedeutet Herkunft und Zukunft. Das lebende Volk ist Erbe überkommenen Reichtums wie überkommener Schuld. Es ist aber auch Treuhänder seiner Nachkommen, verpflichtet zur Zukunftsverantwortung. Damit ist die Rechtfertigung gegeben, das Wahlrecht den Staatsangehörigen vorzubehalten. Sie sind unentrinnbar in das Schicksal des Heimatstaates verstrickt 15 . Sie müssen die Folgen ihrer Entscheidungen aushalten, die gewollten wie die ungewollten. Daraus ergibt sich indirekter Druck auf die Aktivbürger, sich in ihrem politischen Einfluß, vor allem in ihrem Wahlverhalten, am Gemeinwohl auszurichten. Der demokratischen Teilhabe an der politischen Entscheidung korrespondiert die Teilhabe an den politischen Risiken 16 . So liegt in der grundsätzlich dauerhaften und grundsätzlich ausschließlichen 17 personalen Zugehörigkeit zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft eine Gewähr für demokratisches Bürgerethos. Das Ethos der Folgenverantwortung drängt sich dem auf, der weiß, daß er sich den Folgen seiner Entscheidung nicht entziehen kann. Das aber gilt nicht für die Ausländer, die sich im Staatsgebiet, wie lange auch immer, aufhalten. Sie können jederzeit in ihr Heimatland zurückkehren. Dieses hält ihnen die Türe offen. Es ist dazu völkerrechtlich verpflichtet 1 8 . Hier bewährt sich das personenrechtliche Band der Staatsangehörigkeit gegenüber dem Heimatstaat, indes eine entsprechende personenrechtliche Beziehung zum Aufenthaltsstaat nicht besteht; zu diesem besteht nur eine durch Gebietskontakt hergestellte, aufenthaltsrechtliche Beziehung 19 , 15
Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49 (91 ff.). Im wesentlichen gleich: Böckenförde (Fn. 4), S. 903, 905. 16 Die Konsequenzen für den föderalen Finanzausgleich, die demokratische Haftung der Länder für gute und schlechte Finanzpolitik, werden von Paul Kirchhof angewendet auf das Finanzgebaren der Länder als Verfassungsschranke des möglichen Finanzausgleichs (Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich als Ergänzung fehlender und als Garant vorhandener Finanzautonomie, 1982, S. 13 f.). 17 Das Völkerrecht wie das Staatsrecht suchen grundsätzlich die Mehrfach-Staatsangehörigkeit zu vermeiden, und zwar aus gewichtigen Gründen. Vgl. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 21975, S. 379ff.; Alfred Verdross / Bruno Simma t Universelles Völkerrecht, 31984, S. 791 f.; Ignaz Seidl-Hohenveidern, Völkerrecht, 1987, S. 272f.; exemplarisch BVerwG v. 27.9.1988, in: NJW 1989, S.1438ff. (Vermeidung von Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung Asylberechtigter). 18 Berber (Fn. 17), S. 387; Verdross / Simma (Fn. 17), S. 827; Kay Hailbronner, Freizügigkeit, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. VI, 1989, S. 137 (145).
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die, jedenfalls von Seiten des Ausländers, beliebig beendet werden kann. Der Aufenthaltsstaat darf ihm die Ausreise nicht verwehren 20 . Der Ausländer ist daher nicht rechtlich in die staatliche Schicksalsgemeinschaft einbezogen, auch wenn er seinen effektiven Interessen- und Lebensschwerpunkt im Inland hat, wenn er in die einheimische Gesellschaft integriert und seinem Heimatland faktisch entfremdet ist. Doch die rechtliche Rückkehrmöglichkeit steht ihm statusrechtlich zu. Er muß nicht das Schicksal des Volkes von Staats wegen teilen, wenn es ihm aus privaten oder politischen Gründen nicht genehm ist. Trotz aller faktischen Bindungen und Abhängigkeiten „bleibt er, politisch gesehen, doch ,Gast'" 21 . Sein Status ergibt nicht die ethische Legitimation des demokratischen Wahlrechts. Zur Klarstellung: Die Unterscheidung bezieht sich auf den rechtlichen Status, auf normative Idealtypen. Diesen entsprechen bestimmte Normalitätserwartungen in der Wirklichkeit. Sie können nicht durch (unvermeidliche) Grenzfälle ad absurdum geführt werden, etwa Gegenüberstellung des gesellschaftlich voll integrierten Ausländers mit dem Staatsangehörigen, der, lange im Ausland lebend, seinem Heimatland faktisch entfremdet ist. 3. Der demokratische Impuls zur Ausbildung der Staatsangehörigkeit
Die geschichtlichen Anfänge der Staatsangehörigkeit 22 und die der modernen Demokratie liegen in derselben Epoche, im späten 18. Jahrhundert. Das ist kein Zufall. Die Demokratisierung der Staatsgewalt erwies sich als ein kräftiger Anstoß zur Ausbildung des Staatsangehörigkeitsrechts 23 . Freilich war es nicht die einzige Ursache. Die Entstehung der Staatsangehörigkeit läßt sich nicht monokausal erklären 24 . Nachdem der moderne Staat 19 Zum aufenthaltsrechtlichen Status des Ausländers: BVerfGE 76, 1 (46, 50ff., 78ff.); Isensee (Fn. 15), S. 61ff.; Seidl-Hohenveldern (Fn. 17), S. 332ff.; Hailbronner (Fn. 18), S. 143ff., 165f. 20 Die Ausreisefreiheit des Ausländers ist völkerrechtlich anerkannt - vgl. DieterDirk Hartmann, Ausreisefreiheit, in: JöR N.F. 17 (1968), S. 437 (463); Berber (Fn. 17), S. 410f.; Verdross / Simma (Fn. 17), S. 803; Hailbronner (Fn. 18), S. 183. Die Ausreisefreiheit des Fremden wird durch Art. 25 GG verfassungsrechtlich und über § 19 AuslG einfachgesetzlich geschützt. 21 Zitat: Böckenförde (Fn. 4), S. 905. 22 Grundlegend dazu die Monographie Grawerts (Fn. 6). 23 Dazu Helmut Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, in: DÖV 1983, S.lff. 24 Ein wichtiger Impuls für die deutschen Territorialstaaten war zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Interesse, ihre eigenen „Untertanen" oder Einwohner gegen fremde Staatsangehörige abzugrenzen, um sich der unerwünschten Einwanderung mittelloser Personen aus fremden Territorien, welche die Armenfürsorge überlastete, durch Abschiebung zu erwehren. Unter den rechtlichen Bedingungen der neuen Freizügigkeit und Gewerbefreiheit und unter den sozialen des Bevölkerungsdrucks und der Massenarmut hatten Bevölkerungswanderungen auch zwischen den deutschen Staaten eingesetzt. Die Staaten verständigten sich über die personale Reichweite des sozialen Schutzes. Dazu Grawert (Fn. 6), S. 63f., 133 ff. (Nachw.).
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die vielfältigen, konkreten Verbandsbeziehungen des alten Ständewesens abgelöst und in eine einzige, die staatliche Herrschaftsbeziehung eingebracht hatte, war die Zeit reif für die Staatsangehörigkeit, die als umfassende und ausschließliche, abstrakte und formale Beziehung der Struktur des modernen Staates korrespondiert. Die absolute Monarchie hatte sich, jedenfalls zeitweilig, darauf konzentrieren können, die Gebietshoheit im territorium clausum durchzusetzen und zu festigen. Als die Souveränität aber von der Krone auf das Volk überging, wurde es unvermeidlich, daß der nunmehrige Herrschaftsverband sich seiner Identität vergewisserte und seinen personalen Umfang auch mit den Mitteln des Rechts umschrieb. Der historische Einwand liegt nahe, daß die politische Aufklärung, die den Verfassungsstaat hervorgebracht hat, in ihrem weltbürgerlichen Individualismus kaum Bedeutung gerade für die staatlich und national begrenzende Institution der Staatsangehörigkeit hätte gewinnen können. Doch hier muß unterschieden werden. Der kosmopolitisch getönte Individualismus ist der geschichtliche Boden der Menschenrechte, der rechtsstaatlichen Staatsbegrenzung, aber auch der demokratischen Staatsteilhabe. Er vermag die grundrechtliche Selbstbestimmung des Individuums zu begründen, doch nicht die demokratische Selbstbestimmung des Staatsvolkes; das Volk schiebt sich gleichsam als Größe eigenen Rechts zwischen das konkrete Individuum und das menschheitliche Universum. Doch die moderne Demokratie verdankt ihre Geburt nicht allein der weltbürgerlichen Bewegung des 18. Jahrhunderts, sondern auch und zuvörderst der nationalstaatlichen, die seit der französischen Revolution Epoche machte 25 . Die prototypischen Verfassungen Amerikas und Frankreichs, mit denen die Demokratie in die Geschichte trat, wiesen sich nicht aus als Werk einer abstrakten Weltgesellschaft, sondern als Werk eines bestimmten, einzelnen Volkes und seiner Vertreter: „The representatives of the good people of Virginia" 2 6 , „We the People of the United States" 27 , „Les représentants du peuple français" 28 . Die französische Demokratie, die das kontinentaleuropäische Leitbild werden sollte, erwuchs aus der Idee der französischen Nation. Es war die Nation, in der nach der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die Quelle der Souveränität liegen sollte 29 . Obwohl die Revolution, gerade in ihren Anfängen, von menschheitlichem Sendungsbewußtsein erfüllt war, waren die Franzosen die Träger des politischen Willens. Die universale Menschheit war Ziel der Befreiungsbewegung, nicht deren Ursprung 30 . 25 Die klassische Darstellung der Spannung zwischen der kosmopolitischen und der nationalstaatlichen Bewegung: Meinecke (Fn. 13). 26 Virginia B i l l of Rights v. 12. Juni 1776, Präambel. 27 Constitution of the United States v. 17. September 1787, Präambel. 28 Déclaration des droits de l'homme et du citoyen ν. 26. August 1789, Präambel. 2 9 Art. 2 S . l .
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Die Nichtfranzosen, die in Frankreich lebten, sollten an den neu entdeckten Freiheits- und Gleichheitsrechten des Menschen teilhaben, doch nicht an den politischen Rechten. Sieyès erkannte die Ausländer zwar als „passive Bürger" an, die Anspruch auf Schutz ihrer Person, ihres Eigentums, ihrer Freiheit usw. besaßen, nicht aber als „aktive Bürger", die politische Rechte haben. Er unterschied die natürlichen und gesellschaftlichen Rechte, zu deren Wahrung und Entwicklung die Gesellschaft gegründet worden sei, und die politischen Rechte, durch die sich die Gesellschaft bilde. Ausländer durften keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen. „Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber allein diejenigen, die zur öffentlichen Gewalt etwas beitragen, sind gleichsam die eigentlichen Aktionäre des großen gesellschaftlichen Unternehmens. Sie allein sind die wahren Aktivbürger, die wahren Glieder der Gesellschaftsverbindung" 31 . Die Verfassung von 1791 regelte eingehend den Status der Bürger (état des citoyens) und bestimmte, wer citoyen français sei, sowie die Gründe des Erwerbs und des Verlusts des Bürgerrechts 32 . Diese Verfassungsartikel wurden piaziert zwischen denen über die Einheit, Unteilbarkeit und räumliche Gliederung des Staates einerseits und denen über die Souveränität der Nation andererseits. Begründet wurde diese Regelung damit, daß es erforderlich sei, zu bestimmen, wer Franzose sei, wie man Franzose werde oder aufhöre, es zu sein, weil der citoyen actif, der das aktive und das passive Wahlrecht sowie die Fähigkeit zur Übernahme öffentlicher Ämter besitze, notwendig ein citoyen français sein oder werden müsse 33 . Kant nahm die französischen Ideen auf. Er identifizierte den Staatsbürger mit dem wahlberechtigten Aktivbürger. Als Staatsbürger galten ihm „die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder" eines Staates. „Nur die Fähigkeit zur Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus" 3 4 . Kant erkannte wie Sieyès nicht alle „Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen", als „aktive" Staatsbürger an; er Schloß alle aus, die in ihrer gesellschaftlichen Stellung vom Willen anderer abhängig waren 35 . Diejenigen, 30
Dazu mit Nachw. Grawert (Fn. 6), S. 156ff. Insoweit stellte Sieyès die Ausländer, die Frauen („zumindest im jetzigen Stadium"), die Kinder sowie diejenigen, die nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen, gleich: Emmanuel Joseph Sieyès, Préliminaire de la constitution (1789), (dt.) Einleitung zur Verfassung, in: ders., Politische Schriften 1788 - 1790, 1975, S. 239 (251). 32 Titre I I Art. 2 ff. - Dazu Grawert (Fn. 6), S. 156ff. 33 Dazu Marguerite Vanel, Histoire de la nationalité française, Paris 1945, S. 98ff., 102f.; Makarov (Fn. 6), S. 104 Fn. 176. 34 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: ders., Werke (WeischedelAusgabe), Bd. IV, 21966, S. 303 (432). - Kants zurückhaltender Entwurf des Fremdenrechts auch in der erhofften Weltrepublik: Zum Ewigen Frieden (1795), in: ders., Werke, 2. Aufl. 1964, Bd. VI, S. 191 (213ff.). 35 Kant, Die Metaphysik der Sitten (Fn. 34), S. 433. Und er fährt fort: „Der Geselle bei einem Kaufmann, oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht); der Unmündige (naturaliter vel civiliter); alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfü31
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welche die staatsbürgerliche Qualifikation zur Selbständigkeit nicht erfüllten und daher nicht fähig waren, an der Gesetzgebung mitzuwirken, waren „gleichwohl, als Glieder des gemeinen Wesens, der Befolgung dieser Gesetze unterworfen, und dadurch des Schutzes nach denselben teilhaftig; nur nicht als Bürger, sondern als Schutzgenossen" 36. Die staatsethische Kompensation der Unterwerfung unter die Gesetze war der Schutz der Gesetze. Die Konnexität von Schutz und Gehorsam, ältestes Gut der europäischen Staatsethik, war Grundlage auch des kantianischen Gesetzesstaates. Aktivbürger konnte seither nur sein, wer überhaupt zum Volke gehörte. Sie bildeten als Staatsbürger im engeren Sinn den inneren Kreis der Staatsbürger im weiteren Sinn, als die zur politischen Repräsentation des Ganzen berufene Schicht. „Aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen erhebt sich die höhere Stufe der Statsbürger im eigentlichen Sinne. Die Statsbürger als solche haben Teil an den politischen Rechten, und insbesondere in der Repräsentatiwerfassung an dem Stimmrechte für die Wahlen der Volksvertreter. Das Statsbürgerrecht in diesem Sinne setzt die Volksgenossenschaft als Grundbedingung voraus, verbindet aber mit derselben überdem die politische Vollberechtigung im State, und in ihm vorzüglich erhält die politische Beziehung der Individuen zum State ihren vollen Ausdruck" (Bluntschli) 37 . 4. Scheinbare und wirkliche Ausnahmen vom Staatsangehörigkeits-Junktim
Kants Position darf für die Frühzeit des Verfassungsstaats als exemplarisch gelten. Die demokratische Grundregel, daß wahlberechtigt nur sein konnte, wer zum Volke gehörte, ließ sich nicht dahin umkehren, daß auch alle Mitglieder des Volkes das Wahlrecht besaßen. Die Aktivbürgerrechte waren zunächst nur auf eine Gruppe, und zwar eine minoritäre und elitäre Gruppe der Bürger begrenzt, die als Repräsentanten der Nation galten, hervorgehoben durch Eigenschaften wie Bildung, Besitz, Steuerleistung, soziale Reputation, berufliche Selbständigkeit, durch Lebensalter, durch (männliches) Geschlecht. Diese Selektionsmerkmale verloren im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre legitimierende Kraft. Die demokratische Idee wirkte auf Ausweitung des Kreises der Aktivbürger und auf ihre Egalisierung. Die Nationalgung anderer (außer der des Staats), genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz." 36 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: ders., Werke (Fn. 34), Bd. VI, S. 125 (150). Die Konnexität von Rechtsschutz und Rechtsgehorsam kommt in Verfassungen des 19. Jahrhunderts deutlich zum Ausdruck, etwa in § 24 der Verfassung Sachsens: „Der Aufenthalt innerhalb der Grenzen des Staats verpflichtet zur Beobachtung der Gesetze und begründet dagegen den gesetzlichen Schutz." 37 Johann Caspar Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 51875, S. 246.
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Versammlung in der Paulskirche beschloß das „allgemeine" Wahlrecht, freilich (im zeitlichen Kontext noch selbstverständlich) reduziert auf die männlichen Bürger 38 . Auch wenn die Verfassung von 1849 mitsamt des begleitenden Wahlgesetzes politisch scheiterte, war der wirksame Durchbruch gelungen. Das allgemeine Wahlrecht fand Aufnahme in die Reichsverfassung von 1871 39 . Die Weimarer Reichsverfassung erkannte das Wahlrecht auch den Frauen zu 4 0 . Damit war der Grundsatz der allgemeinen Wahl rechtlich erfüllt, den der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich als das Gebot deutete, daß das Wahlrecht nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden dürfe, die nicht jeder Deutsche im wahlberechtigten Alter erfüllen könne 41 . Das allgemeine Wahlrecht ist von jeher allein das Wahlrecht aller Deutschen. Der rechtspraktische Sinn dieses Wahlrechtsprinzips liegt auch unter der Geltung des Grundgesetzes in dem Verbot, Staatsbürger unberechtigt von der Wahl auszuschließen, etwa bestimmten Gruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen die Teilnahme an der Wahl zu verwehren 42 . Die Ausweitung der Aktivbürgerschaft in der Verfassungsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war kein progressus in infinitum. Die wahlrechtliche Allgemeinheit greift nicht ins Menschheitlich-Universale. Ihr Ort und ihre Grenze ist der Staat. Die Allgemeinheit deckt sich mit dem Staatsvolk. Dieses war auch der Horizont des geschichtlichen Kampfes um die Gleichheit des Wahlrechts, die Maxime, die nicht den Kreis der Wahlberechtigten betrifft, sondern das Stimmgewicht; Absage an das MehrklassenWahlrecht, wie es in Preußen und Sachsen galt 4 3 . So war die geschichtliche Expansion des Wahlrechts prinzipiell nur ein Internum des Staates und seines Staatsvolkes. Vereinzelte Ausnahmen erga38 Dazu Bluntschli (Fn. 37), S. 246ff.; Rudolf Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts (1911), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 21968, S. 19ff.; Georg Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht (ed. Georg Jellinek), 1901, S. 412 ff. Dazu Birkenheier (Fn. 1), S. 17 ff. (Lit.). - Zum Wahlrecht der Paulskirche und seiner subkutanen Fortwirkung: Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 63, 416ff. 3 9 Art. 20 Abs. 1RV 1871. 40 Art. 22S.1 WRV1919. 41 RStGH v. 17.12.1927, in: Hans-Heinrich Lammers / Walter Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Artikel 13 Absatz 2 der Reichsverfassung, Band I, 1929, S. 329 (338). 42 Zur Zulässigkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes verbleibenden Beschränkungen (Altersgrenze, Seßhaftigkeit im Wahlgebiet, Entmündigung, richterlicher Entzug): BVerfGE 28, 220 (225); 36,139 (141 ff.); 58, 202 (205ff.). Vgl. auch Ingo von Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 21983, Art. 38 Rn. 6 ff. Kritisch zu den verbleibenden Schranken und ihrer Rechtfertigung durch das Bundesverfassungsgericht: Hans Meyer, Wahlgrundsätze und Wahlverfahren, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. II, 1987, S. 269 (270ff.). 43 Nachweise zum Pluralwahlrecht: Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 71918, S. 348 Anm. a.
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ben sich aus atypischen Übergangssituationen, etwa Sezession, Dismembration, Fusion von Staaten 44 . Die Ausnahmen bestätigen die Regel der Staatsangehörigkeits-Akzessorietät des Wahlrechts. Die Geschichte kennt eine wirkliche, revolutionäre Ausnahme, welche die Regel der demokratischen Tradition sprengt: die Sowjetunion unter Lenin. Die sowjetische Verfassung von 1918 bot das aktive wie das passive Wahlrecht allen Werktätigen, auch den ausländischen, soweit sie auf sowjetischem Territorium lebten. Dagegen wurde das Recht den eigenen Staatsbürgern entzogen, soweit sie zur Bourgeoisie gehörten 45 . Politische Einheit sollte nunmehr nicht auf den Staatsverband gegründet werden, sondern auf das internationale Proletariat. Lenin richtete sich nicht an kosmopolitischen Idealen aus, sondern an der Freund-Feind-Konstellation des Klassenkampfes. Darin lag mehr als der Bruch mit einem Grundsatz des Wahlrechts. Hier wurde der schlechthinnige Gegenentwurf zum westlichen Verfassungsstaat geschaffen. Die praktische Bedeutung der Wahlrechts-Umschichtung war allerdings so gering wie die des gewählten Parlaments im real existierenden Sozialismus. Die (Stalin-)Verfassung von 1936 ließ das Experiment fallen und kehrte zum Staatsangehörigkeitsprinzip zurück. 5. Die aktuelle Herausforderung
Die demokratische Tradition wird heute unter Berufung auf das demokratische Prinzip gleichsam von innen heraus in Frage gestellt. Seit 1970 formieren sich in westeuropäischen Staaten politische Bewegungen zur Einführung des Wahlrechts für Ausländer, die sich eine bestimmte Zeit legal im Inland aufhalten. Anstöße dazu gehen aus von der gewandelten Bevölkerungsstruktur: dem großen Anteil der Ausländer, der vielfach langen Dauer des Aufenthalts und der intensiven Einbindung in das wirtschaftliche wie soziale Leben, ohne daß die Neigung besteht, die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates gegen Preisgabe der bisherigen anzunehmen. Ursachen dieser Entwicklung sind: Öffnimg der Staaten, internationale Freizügigkeit, wirtschaftliche Verflechtung, kultureller Austausch, weltweite Unterschiede des Lebensstandards, des Entwicklungsniveaus, der politischen Freiheitsgewähr. Die politischen Forderungen zielen vordringlich auf das kommunale Wahl recht, haben hier auch erste politische Durchsetzungserfolge erreicht 46 . In 44
Übersicht über Ausnahmefälle: Birkenheier (Fn. 1), S. 7Iff. (Nachw.). Art. 10, 20, 64c, 65 der sowjetischen Verfassung vom 10. Juli 1918. Dazu: Maklerow / Timaschew / Alexejew / Sadawsky (Hrsg.), Das Recht Sowjetrußlands, 1925, S. 39f.; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 4928, S. 233f.; Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 18. 46 Erste Erfolge des kommunalen Ausländerwahlrechts: Vorschlag der EG-Kommission für eine Richtlinie des Rates über das Wahlrecht der Staatsangehörigen der 45
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letzter Konsequenz geht es um das Wahlrecht auf allen Ebenen der Staatlichkeit, die vollständige Gleichstellung des ausländischen Gebietszugehörigen mit dem Staatsangehörigen. Wenn momentan das Band von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht nur in einem Rand- und Teilbereich des Staates zerschnitten wird, geht es um das Ganze: ob die demokratische Tradition sich unter den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen heute noch legitimieren und behaupten kann. Das gilt auch für die, scheinbar marginalen, Gesetzesregelungen, die im Jahre 1989 zwei deutsche Bundesländer getroffen haben. Schleswig-Holstein führt das Wahlrecht zu den Gemeinde- und Kreisvertretungen ein für Angehörige sechs ausgewählter Staaten, die sich mindestens fünf Jahre legal im Bundesgebiet aufhalten 47 , Hamburg das Wahlrecht zu den Bezirksversammlungen (Bürgerbeteiligung an dekonzentrierter stadtstaatlicher Verwaltung) für alle Ausländer nach legalem Inlandsaufenthalt von acht Jahren 48 . In der Bundesrepublik Deutschland ist die Bewegung für das Ausländerwahlrecht leidenschaftlich und grundsätzlich. Die Abkehr von einer demokratischen Tradition erscheint weithin nicht als allzu belangvoll, weil die Demokratie in Deutschland nicht lange, nicht kontinuierlich, nicht gefestigt besteht, weil ihre Traditionsgrundlagen, das Staats- und Geschichtsbewußtsein, gebrochen sind. Was an hergebrachten Selbstverständlichkeiten die deutsche Katastrophe von 1945 überdauert hatte, wurde hernach in der deutschen Kulturrevolution von 1968 zertrümmert. Damit sind auch Interpretationsvoraussetzungen, die das bundesrepublikanische Verfassungsverständnis der zwei ersten Jahrzehnte bestimmt hatten, fragwürdig geworden. Die Möglichkeit tut sich auf, dem Verfassungsgesetz neue Interpretationsfolien zu unterlegen und die Substanz der Verfassung neu zu bestimmen. Das VerfassungsVerständnis w i r d notwendig herausgefordert durch die Einführimg des Ausländerwahlrechts. Ungeachtet der politischen TriebMitgliedstaaten bei den Kommunalwahlen im Aufenthaltsstaat vom 24.6.1988 (Kom [88] 371 endg., ABl C 246/3 vom 20. 9.1988, auch abgedruckt in: NVwZ 1989, S. 341 343). Dazu Siegfried Magiera, Kommunalwahlrecht i n den EG-Mitgliedstaaten, in: EA 1988, S. 475 ff. - Ein Kommunalwahlrecht für Ausländer kennen in Europa - freilich in unterschiedlicher Ausgestaltung, mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Auswirkungen - die Niederlande, Schweden, Dänemark, Norwegen, die Schweiz (Kantone Neuenburg und Jura), Irland, Spanien, Finnland, Großbritannien und Portugal. Dazu Hans Rau, in: Bericht des Rechtsausschusses, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg Drs. 13/3115 vom 12.1.1989, Anlage 2, S. 20f., sowie Anlage 7, S. 57 m. Nachw. 47 Begünstigt werden die Angehörigen der Staaten Dänemark, Irland, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz. Selektionskriterium ist, daß in diesen (EG- und EFTA-)Staaten, sei es auch nur begrenzt, ein kommunales Ausländerwahlrecht besteht: Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes v. 21. Februar 1989 (GVOB1. für Schleswig-Holstein Nr. 3, S. 12). 48 Gesetz zur Einführung des Wahlrechts für Ausländer zu den Bezirksversammlungen vom 20. Februar 1989 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt T e i l l , Nr. 7, S. 29).
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kräfte, die sich hier regen, bildet das Vorhaben auch und notwendig ein verfassungsrechtliches Problem. Es geht darum, ob und wieweit das Grundgesetz die demokratische Tradition festschreibt, ob es das Ausländerwahlrecht verbietet, zuläßt oder gar fordert. II. Das Volk als Legitimations- und Kreationssubjekt der grundgesetzlichen Demokratie 1. Volk als verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff
Die Frage nach der Vereinbarkeit des Ausländerwahlrechts mit dem Grundgesetz führt auf das Gebot des „allgemeinen" Wahlrechts, das die personale Reichweite des Wahlrechts vorgibt 4 9 . Die Allgemeinheit der Wahlberechtigten ist identisch mit dem Volk, das die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Im Repräsentativsystem des Grundgesetzes äußert das Volk seinen Willen vornehmlich in Wahlen; in ihnen betätigt es seine Legitimations- und Kreationskompetenz. Diese Kompetenzen kann der Volkssouverän, von dem „alle" Staatsgewalt ausgeht, mit keinem Nebensouverän teilen 50 . Die personale Zusammensetzung des Volkes als Wahlkörperschaft wird zur Identitätsfrage der grundgesetzlichen Demokratie 51 . Die Frage, ob (gebietsansässige) Ausländer (mit-)wählen können, hängt davon ab, ob der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 GG für sie Raum hat oder nicht. Ein Wahlrecht wäre zulässig, wenn die ausländischen Bewohner des Bundesgebietes von Anfang an zum „Volke" im Verfassungssinne gehörten oder wenn dieser Begriff offen wäre und disponibel für die Zuweisung neuer Wählergruppen. Damit erweist sich der Volksbegriff als verfassungsrechtlicher Schlüssel zur juristischen Problemlösung. 2. Hergebrachte Selbstverständlichkeit als Regelungsvoraussetzung
Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Definition des Volksbegriffs, der Art. 20 Abs. 2 zugrunde liegt. Die politische Entscheidung, die diese Verfassungsnorm verkörpert, ist die Aufrichtung der Demokratie in parlamentarischer, gewaltenteiliger Form. Der Demos als deren Trägerverband war kein politisches Entscheidungs- und daher kein verfassungsgesetzgeberisches Regelungsthema. In den Bonner Verfassungsberatungen wurde 49
Vgl. BVerfGE 58, 202 (205ff.). Weit. Nachw. Fn. 42. Exklusivität der Volkssouveränität: Böckenförde (Fn. 4), S. 890f. und 893 f. Ähnlich, „die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Volkes" als demokratische Legitimationsquelle hervorhebend, Grawert (Fn. 1), S. 673. 51 Dazu grundlegend Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 775 (798 - 800). 50
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das demokratische Prinzip, das in dem künftigen Art. 20 Abs. 2 GG konkretisiert werden sollte, seinen möglichen Alternativen gegenübergestellt (etwa theokratischen, monarchischen, aristokratischen Prinzipien 52 , der „Volksdemokratie" der Sowjetischen Besatzungszone53). Doch es wäre voreilig, daraus zu folgern, daß die Verfassung den Volksbegriff offen halten wollte, offen für beliebige Füllungen durch spätere Gesetze54. Der Grund für die Zurückhaltung des Verfassunggebers lag darin, daß er nicht eigens zu regeln brauchte, wer das Volk als Subjekt der Demokratie ist. Die Demokratie mußte er schaffen, den Demos dagegen nicht. Er ging von ihm aus und baute auf ihm. In den Verfassungsmaterialien findet sich allerdings ein Hinweis auf das fraglos vorgegebene Staatselement, ein Hinweis, der gerade in seiner Beiläufigkeit aufschlußreich ist: wenn Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, ohne auf Widerspruch zu stoßen, erläuterte, wer denn nach der demokratischen Grundnorm des künftigen Art. 20 Abs. 2 GG „die letzte irdische Quelle der Gewalt im Staate" sei: „das konkrete lebende Volk, die Summe der jeweils lebenden einzelnen Deutschen" 55 . Diese Auffassung spiegelt sich in der Präambel des Grundgesetzes. Das „Deutsche Volk" erscheint als das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, also als Schöpfer, nicht als Geschöpf der Verfassung des künftigen (Teil-)Staates. „Seine nationale und staatliche Einheit" wird als Aufgabe erkannt, doch nicht als Aufgabe, die Einheit zu stiften, sondern sie zu „wahren" und schließlich zu „vollenden". Die nationale und staatliche Einheit liegt nach dem Selbstverständnis des Verfassunggebers dem Grundgesetz voraus; er knüpft an sie an. Die verfassungsrechtliche Aussage des Grundgesetzes scheitert nicht daran, daß ihr die geschichtlich-politische Realität des Jahres 1949 nicht zur Gänze entsprach 56 . Denn Sinn der Präambel ist nicht, geschichtliche Gegebenheiten zu schildern, sondern normative Legitimationsgründe der Verfassung aufzuweisen und ihren normativen Horizont verbindlich abzustecken 57 . 52
Nachw. in: Klaus-Berto von Doemming / Rudolf Werner Füßlein / Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR N.F. 1 (1951), S. 198f.; vgl. auch Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, ^θδβ, Art. 20 Anm. 3 (S. 136). 53 Nachw.: von Doemming / Füßlein / Matz (Fn. 52), S. 195. - Zu Regelungsperspektive und -intention des Verfassunggebers, insbes. zum Regelungsziel der „klassischen Demokratie" (Carlo Schmid): Friedrich Karl Fromme, Der Demokratiebegriff des Grundgesetzgebers, in: DÖV 1970, S. 518ff. (Lit.); Birkenheier (Fn. 1), S. 44 - 46. 54 Daß der Begriff des Volkes und der Wählerschaft dem Gesetzgeber disponibel („relativ offen") sei, ist die kurzschlüssige Argumentation Hans Meyers (Stellungnahme für den Rechtsausschuß der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Drucksache 13/3115, Anlage 9, S. 65f., 67f.); vgl. auch dens. (Fn. 42), S. 272 274. 55 Quelle: JöR N.F. 1 (1951), S. 199. 56 So aber Meyer: „handfeste Unwahrheit" (Stellungnahme, Fn. 54), S. 67. 57 Zum normativen Sinn der Präambel: Isensee, Staat und Verfassung (Fn. 9), S. 593 ff.
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Der Verfassunggeber ging also selbstverständlich vom deutschen Volk als dem Ursprungssubjekt der Demokratie aus. Er wahrte damit die demokratische Tradition deutscher und überhaupt westlicher Verfassungsstaatlichkeit. Er hatte nichts zu entscheiden, nur anzuknüpfen, wo keine reale oder denkbare Alternative bestand. Praktischer Entscheidungsbedarf ergab sich für Probleme wie die, daß die deutsche Staatsangehörigkeit gegen staatliche Übergriffe geschützt werde (Art. 16 Abs. 1 GG), wie der Status der Deutschen angesichts der Teilung Deutschlands und der Zuwanderung vertriebener Deutscher praktikabel bestimmt werde (Art. 116 GG) und wie die Identität des künftigen Teilstaats sich zu Gesamtdeutschland verhalte (Präambel, Art. 23 u. 146 GG). Unter den Verfassungsnormen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: solche, die unmittelbar Entscheidungen enthalten, und solche, die an Voraussetzungen anknüpfen. Die Normen über das deutsche Volk gehören zur zweiten Gruppe. Die Anknüpfungen sind grundsätzlich unvermeidlich, weil die Verfassung kein voraussetzungsloser Neuanfang, sondern immer nur Stufe der politischen Entwicklung eines staatlich organisierten Volkes ist. Die Verfassung ist auch kein geschlossenes, dichtes Regelungssystem, wie es exemplarisch das Bürgerliche Gesetzbuch darstellt. Sie ist überhaupt keine echte Kodifikation, sondern planmäßig unvollständige Rahmenordnung des staatlichen Lebens 58 . Der Verfassunggeber schreibt kein Lehrbuch des Staatsrechts und der Staatslehre, sondern er schafft ein Regelungswerk, das praktisch bedeutsame, politisch erstrebte oder gefährdete, für das politische Selbstbewußtsein wichtige Ordnungselemente festschreibt. Die ausgewählten Ordnungselemente des Verfassungsgesetzes können nur verstanden werden aus der geschichtlichen Situation und der politischen Intention des Verfassunggebers, der die Auswahl traf, und den Voraussetzungen, von denen er als selbstverständlich ausging 59 . So ist denn das Verfassungsgesetz keine autarke Norm, die aus sich selbst heraus verstanden werden kann. Die Verfassungsinterpretation bedarf des Rekurses auf das „vorverfassungsmäßige Gesamtbild" 60 . Daraus folgt nicht, daß jede historische Voraussetzung des Verfassungsgesetzes ohne weiteres am Rang der Verfassung teilhätte. Wohl aber sind jene Voraussetzungen mitgewährleistet, ohne die die Institutionen der Verfassung sinn- und funktionslos würden oder ihre Identität verlören. Vollends determinieren die Voraussetzungen den Inhalt verfassungsrechtlicher Begriffe und Regelungen. So ist denn der Volksbegriff der Verfassung durch das real vorgegebene deutsche Volk inhaltlich bestimmt und normativ verfestigt. 58 Die gängige These, das Verfassungsgesetz sei Kodifikation, bedarf mehr als eines granum salis. 59 Näher Isensee, Staat und Verfassung (Fn. 9), S. 599ff. 60 BVerfGE 2, 380 (403) in Anlehnung an Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2 1948, S. 138 („vorrechtliches Gesamtbild").
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3. Ablösung des verfassungsrechtlichen Volksbegriffs vom deutschen Volke
Wer dem Wahlrecht für Ausländer den verfassungsrechtlichen Weg bahnen will, muß zu Anfang den Volksbegriff vom deutschen Volk ablösen. Das versuchen die juristischen Promotoren der Wahlrechtsausweitung, indem sie den Text des Grundgesetzes gegenüber seinem historisch-teleologischen Kontext isolieren und darauf abstellen, daß die demokratische Grundnorm des Art. 20 Abs. 2 GG nicht vom deutschen Volke spricht, sondern allgemein vom „Volke" 6 1 . Als formallogische Stütze dient der Umkehrschluß, daß das Grundgesetz, wenn es das deutsche Volk meine, auch ausdrücklich vom „deutschen Volk" rede, nämlich in der Präambel sowie der Schlußbestimmung des Art. 146 GG. In dieser Verbalinterpretation wechselt das „Volk" seine Identität. Am Anfang der Geltung des Grundgesetzes, im Stadium der Verfassunggebung, war es das „deutsche" (Teil-)Volk, dem der pouvoir constituant zukam (Thema der Präambel). Am Ende, wenn das Grundgesetz seine Geltung verlieren wird, soll es wiederum das „deutsche" (nunmehr staatlich geeinte) Volk sein, das die Voraussetzung dafür w i r d schaffen müssen, die freie Annahme einer gesamtdeutschen Verfassung (Thema des Art. 146 GG). In der Zwischenzeit aber, solange das Grundgesetz gilt, mit seiner demokratischen Grundnorm in Art. 20 Abs. 2, soll das „Volk" seinen deutschen Charakter ablegen und überhaupt ohne personenrechtliches, mitgliedschaftliches Band auskommen, selbst wenn es den „Deutschen Bundestag" wählt (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). „Volk" soll nunmehr kein rechtlicher Verband mehr sein, sondern offene, fluktuierende Gesellschaft: Gesamtheit derer, die im räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes verweilen, gleich, ob Deutsche oder Ausländer. „Volk" als Träger der grundgesetzlich verfaßten Demokratie wäre die staatsangehörigkeitsindifferente Wohnbevölkerung 62 . Art. 20 Abs. 2 GG enthüllt sich in der neuen Lesart: „Alle Staatsgewalt geht von der Wohnbevölkerung aus." Dennoch nimmt das Grundgesetz dieses und kein anderes Volk in Pflicht für das Staatsziel der deutschen Wiedervereinigung 63 . Die Konsequenz der „wörtlichen" Verfassungsexegese ist 61 „Volk" i.S. des Art. 20 Abs. 2 GG nicht „deutsches" Volk: Meyer (Fn. 42), S. 272ff.; Manfred Zuleeg, Zur Verfassungsmäßigkeit der Einführung des Kommunalwahlrechts in Nordrhein-Westfalen, in: KritV 1987, S. 322. 62 Volk i.S. des Art. 20 Abs. 2 GG als Wohnbevölkerung: Zuleeg (Fn. 61), S. 324; Helmut Rittstieg, Kommunales Wahlrecht für Ausländer, in: KritV 1987, S. 315 (319); Brun-Otto Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, in: JZ 1989, S. 257 (258ff.). 63 BVerfGE 36, 1 (17ff., 25f.); 77, 137 (149ff., 161ff.); Georg Ress, Grundlagen und Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 449 (498ff.); Rudolf Dolzer, Die rechtliche Ordnung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zur Deutschen Demokratischen Republik, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 547 (550ff.).
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staatsrechtliche Komödie: Das Grundgesetz müßte dem multinationalen Volk ansinnen, die verlorene nationale Einheit der Deutschen wieder herzustellen. Auch die Ausländer unter den Repräsentanten und den Repräsentierten wären verpflichtet, das Verfassungsziel anzusteuern, bei dessen Erreichung ihre Zugehörigkeit zum Volke verloren ginge. Sie wären von Verfassungs wegen gehalten, auf ihre eigene Ausbürgerung hinzuarbeiten. Das Verfassungsgesetz läßt sich nicht verstehen jenseits von Ort und Zeit seiner Entstehung, abgetrennt von den Menschen, die es sich und ihren Nachkommen gegeben haben, von dem wirklichen Staat, in dem es gilt. Es bildet nicht die Verfassung für ein beliebiges Segment einer planetarischen Gesellschaft, sondern die rechtliche Grundordnung für ein bestimmtes, individuelles Volk in der Mitte Europas. Es braucht den „deutschen" Charakter des Volkes, dem es demokratische Selbstbestimmung, und der Staatsorganisation, der es demokratische Führung und Legitimation gewährleisten will, nicht auszuweisen und festzuschreiben - für wen sollte es sonst gelten? So ist die Verwendung des Wortes „deutsch" in den Bestimmungen, in denen es um Demokratie und politische Einheit geht, nur deklaratorisch zu verstehen; stilistischer Rückgriff auf das Selbstverständliche, zuweilen, zumal in der Präambel, nicht ohne Emphase, doch durchwegs ohne rechtskonstitutive Bedeutung. Wenn nach Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG „jeder Deutsche" zum Bundespräsidenten wählbar ist, indes das Grundgesetz für den Bundeskanzler und auch andere Führungsämter die Deutschen-Eigenschaft nicht expressis verbis einfordert, ist deshalb nicht der Schluß zulässig, daß diese Ämter Ausländern offenstünden 64 . Das Grundgesetz macht auch im Text sichtbar, daß die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in der Staatsangehörigkeit wurzeln. Die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten kommen „jedem Deutschen" zu, kraft gemeinsamen Indigenats (Art. 33 Abs. 1). Das Widerstandsrecht, durch Verfassungsrevision 1969 als Abs. 4 der Staatsstrukturnorm des Art. 20 GG angefügt, wird „allen Deutschen" zuerkannt. Selbst in der anarchischen Ausnahmelage des Widerstandsfalles sind es die Deutschen, die zum Schutz ihres Verfassungsstaates berufen sind. Das demokratische Notrecht kommt denselben Personen zu, die auch die demokratischen Normalrechte haben 65 . So bedeutet denn auch der, im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung sparsamere, Gebrauch des Adjektivs „deutsch" keine inhaltliche Abkehr von Weimar. Nach der Reichsverfassung von 1919 bestand der Reichstag aus den Abgeordneten des „deutschen Volkes" (Art. 20). Darüber hinaus aber 64 Abwegig Werner Thieme, Die Rechtsstellung des Ausländers nach dem Bonner Grundgesetz, Diss. Göttingen 1951, S. 88. Dazu mit weit. Nachw. Isensee (Fn. 15), S. 95 Anm. 116. 65 Zu den Trägern des Widerstandsrechts: Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 44ff. Siehe auch Bleckmann (Fn. 12), S. 438f.
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war das allgemeine Wahlrecht zu den Volksvertretungen in den Ländern ausdrücklich den „reichsdeutschen" Männern und Frauen vorbehalten (Art. 17 Abs. 1 S. 2) - hier sanktionierte die Verfassung das gemeinsame Indigenat, ein föderales Thema. Föderale Schwierigkeiten hatten dazu geführt, daß nach der endgültigen Fassung des Art. 1 Abs. 2 der Ursprung der Staatsgewalt unspezifiziert im „Volke" liegen solle, nicht aber, wie es Hugo Preuß in seinem Verfassungsentwurf vorgeschlagen hatte, „beim Deutschen Volke". Die von Preuß vorgeschlagene Formulierung hätte als Argument gegen die Eigenstaatlichkeit der Länder wirken können 66 . Die Weimarer Demokratie bezog sich ebenso selbstverständlich auf das deutsche Volk wie die Bonner Demokratie. Anders als in den demokratisch-staatsorganisatorischen Verfassungsnormen kann das Wort „deutsch" in den Grundrechten rechtsbedeutsam werden, so in der Unterscheidung der Freiheitsrechte, die den Deutschen, und denen, die jedermann zustehen. Das Grundgesetz spricht deutlich von den „Bewohnern des Bundesgebietes", dort wo es allein auf die Gebietszugehörigkeit, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit, abstellt und die Rechtswirkungen der allgemeinen Regeln des Völkerrechts normiert, zu denen vor allem die Vorschriften des internationalen Fremdenrechts gehören. 4. Ablösung des Wahlrechts von der Staatsangehörigkeit
Die Wahlgesetze des Bundes und der Länder kennen eine Gruppe von Wahlberechtigten, welche die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen. Es handelt sich um die „Statusdeutschen" nach Art. 116 Abs. 1 2. Alt. GG, um deutsche Volkszugehörige und deren Ehegatten wie Abkömmlinge. Die geltenden Wahlgesetze knüpfen das Wahlrecht nicht an die Staatsangehörigkeit als solche, sondern an die Eigenschaft als Deutsche im Sinne des Art. 116 GG 6 7 . Das Grundgesetz deckt die Regelung ab 6 8 . Daraus wird die Folgerung gezogen, dem Grundgesetz sei das Junktim von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht überhaupt fremd; was für deutschstämmige Inhaber fremder Staatsangehörigkeit gelte, müsse für jedwede Ausländer gelten 69 . Die Analogie trägt nicht. Die Statusdeutschen sind von 66 Dazu mit Nachw. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 1933, S. 38f. (zu Art. 1 Abs. 2 WRV). - Eine staatsangehörigkeitsrechtliche Komplikation kam zur Zeit der Weimarer Verfassung hinzu: Nach dem geltenden RuStAG bezog sich die Staatsangehörigkeit auf die Länder; diese vermittelte die Reichszugehörigkeit. 67 Exemplarisch: §§ 12 Abs. 1,15 Abs. 1 Nr. 1 Bundeswahlgesetz, §§ 1 Nr. 1,4 Abs. 1 Landeswahlgesetz NRW, §§7,12 Abs. 1 Kommunalwahlgesetz NRW. 68 Vgl. Grawert (Fn. 1), S. 677; Wolfgang Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 31986, Einführung unter 2.4 (S. 34), § 1 Rn. 28 (S. 103) und § 12 Rn. 4, 5ff. (S. 174, 176f.). 69 So Meyer (Fn. 42), S. 272f.; Rittstieg (Fn. 62), S. 317f.; Manfred Zuleeg, Juristische Streitpunkte zum Kommunalwahlrecht für Ausländer, in: ZAR 1988, S. 13 (14f.). 14
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Verfassungs wegen Deutsche und nicht Ausländer 70 . Sie werden auch völkerrechtlich den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt 71 . Zwar fehlt die formalisierte rechtliche Bindung an das deutsche Volk, aber es besteht eine effektive personale Bindung, die durch objektive Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur begründet und durch das subjektive Bekenntnis zum deutschen Volkstum bestätigt wird 7 2 . Sie gehören dem deutschen Volk als vor-rechtlicher, ethnisch-kultureller Einheit an, auf der das deutsche Volk als rechtlich verfaßter Staatsangehörigenverband gründet, ohne sie jedoch zur Gänze abzudecken. Eben diese personale Bindung ist bei den Ausländern (im Sinne des § 1 Abs. 2 AuslG) nicht gegeben. Ihre statusrechtliche Beziehung zu Deutschland gründet auf Gebietskontakt, nicht auf Zuwendung oder Zugehörigkeit zum deutschen Volk. Die grundrechtliche Gleichstellung des Volkszugehörigen mit dem Staatsangehörigen ist eine situations- und personenspezifische Sondervorschrift, geboren aus der deutschen Katastrophe, dazu bestimmt, den wegen ihres Deutschtums Verfolgten, den Flüchtlingen und Vertriebenen im deutschen Teilstaat ein Refugium offenzuhalten. Der Status der deutschen Volkszugehörigen lehnt sich an den der Staatsangehörigen an. Die Ausnahme bestätigt die Regel und bricht sie nicht. Die Ausnahme kann nicht dazu dienen, die Regel schlechthin in Frage zu stellen und eine konträre Regel zu inaugurieren: die Einebnung des Unterschiedes von Staatsangehörigen und Ausländern überhaupt, die Gleichstellung im Wahlrecht. Die Legaldefinition des Art. 116 Abs. 1 GG w i l l „vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung" gelten. Allein damit hat der Gesetzgeber nicht die Möglichkeit gewonnen, den Begriff nach politischer Opportunität zu dehnen oder zu engen, staatsangehörigkeitsakzessorische Rechte Ausländern zu verleihen und die Institution der deutschen Staatsangehörigkeit auszuhöhlen 73 . Der Gesetzesvorbehalt gründet in der institutionellen Garantie der deutschen Staatsangehörigkeit 74 . Diese determiniert und begrenzt seine Ausübung. Der Gesetzgeber hat die dem verfassungsrechtlichen Status gemäßen Regelungen bereitzustellen und zeitgemäß zu erneuern. Entscheidungsspielraum besteht vor allem in den Randbereichen. Regelungspro70 Dem entspricht die Legaldefinition des § 1 Abs. 2 AuslG: „Ausländer ist jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist." 71 Vgl. Alexander N. Makarov / Hans von Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, 31985, GG Art. 116 Rn. 11, 161ff.; Grawert (Fn. 1), S. 676, 677. 72 So die Legaldefinition in § 6 Bundesvertriebenengesetz, die als die adäquate gesetzgeberische Bestimmung des Art. 116 Abs. 1 GG gilt. Vgl. BVerfGE 17, 224 (227 ff.). 73 So aber in ihren praktischen Konsequenzen die Meinung Meyers (Fn. 42), S. 272; ders., Stellungnahme (Fn. 54), S. 65f. Vgl. auch Zuleeg (Fn. 61), S. 326; Rittstieg (Fn. 62), S. 317 f.; Bryde (Fn. 62), S. 259. 74 Dazu unten I I I 1.
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bleme gab es von Anfang an für die Statusdeutschen, bei denen das Verfassungsgesetz nicht an Normen, sondern nur an (nicht leicht faßbare) Realien anknüpfte. Der Gesetzgeber hielt sich im verfassungsvorgegebenen Spielraum, wenn er zunächst das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zwar den deutschen Volkszugehörigen, nicht aber deren Ehegatten und Abkömmlingen zuerkannte 75 . Er würde ihn auch nicht überschreiten, wenn er das Wahlrecht (um der Rechtsklarheit willen) überhaupt nur den Staatsangehörigen vorbehielte und den Statusdeutschen zumutete, ihre verfassungsrechtliche Option auf die Staatsangehörigkeit wahrzunehmen, die ihnen ipso iure das Wahlrecht vermittelte. - Doch dem Gesetzgeber steht nicht Disposition zu über die Kernsubstanz der institutionell garantierten Staatsangehörigkeit. Im folgenden kann von der Statusgleichheit aller Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ausgegangen werden. Es braucht nur noch von deutschen Staatsangehörigen die Rede zu sein. 5. „Volk" als Wählerschaft nach Maßgabe des einfachen Gesetzes
Als weitere Grundlage für den Gesetzgeber, nach politischem Ermessen das Ausländerwahlrecht einzuführen, wird der Ausgestaltungsvorbehalt des Art. 38 Abs. 3 GG genannt, nach dem ein Bundesgesetz das Nähere über das Bundestags-Wahlrecht bestimmt 76 . Der Zugang zu dieser gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit w i r d aufgesprengt durch definitorische Umdeutungen und teleologische Umbesetzungen. Das „Volk" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG, Legitimations- und Kreationssubjekt demokratischer Staatlichkeit, wird von vornherein reduziert auf die Aktivbürgerschaft, diese bestimmt als die Wählerschaft, die ihrerseits identisch ist mit der Gesamtheit jener Personen, denen der Gesetzgeber das Wahlrecht zuteilt. Am Anfang der Demokratie steht also in dieser Deutung nicht mehr der Demos, sondern das Wahlrecht. Der Volksbegriff bildet nicht mehr die Grundlage des Wahlrechts. Vielmehr hängt es vom Wahlrecht ab, wer zum Volke gehört 77 . Damit verliert der Volksbegriff jedweden verfassungsrechtlichen Selbstand. Er wird zur semantischen Hülse. „Volk" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG bildet die dynamische Verweisung auf die Wahlgesetze in ihrem wechselnden Inhalt. Desgleichen zeigt sich das Wahlrechtsprinzip der „ A l l gemeinheit" nicht als verfassungsrechtliche Markierung der Wählerschaft, sondern nur noch als „Vehikel verfassungspolitischer Argumentation" 7 8 . 75 Meyer folgert aus dem Regelungsspielraum des Gesetzgebers in Grenzfragen des Art. 116 Abs. 1 die Nichtexistenz einer verfassungsrechtlichen Grenze seiner Regelungsfreiheit ([Fn. 42], S. 272; ders., Stellungnahme [Fn. 54], S. 65f.). 76 So Meyer (Fn. 42), S. 273 f. 77 So Meyer (Fn. 42), S. 273f.; ders., Stellungnahme (Fn. 54), S. 65, 66 (S. 67 aber ein vager, juristisch implausibler Vorbehalt, Volk sei „kein beliebiger Begriff"). 78 Meyer (Fn. 42), S. 273.
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Das hergebrachte D e m o k r a t i e - u n d Verfassungsverständnis w i r d hier p l a n mäßig auf den K o p f gestellt. Schon die Prämisse ist falsch. Selbst w e n n m i t „ V o l k " i m Sinne der demokratischen G r u n d n o r m n u r die A k t i v b ü r g e r s c h a f t als Wählerschaft gemeint w ä r e 7 9 , so ginge diese doch aus dem V e r b a n d der Staatsangehörigen hervor u n d bliebe i n diesem v e r w u r z e l t . D i e Wählerschaft ist n i c h t autarke, über den Staatselementen schwebende Größe. - Das V o l k als L e g i t i m a t i o n s g r u n d der D e m o k r a t i e u n d als repräsentierte geistige E i n h e i t läßt sich n i c h t a p r i o r i auf den K r e i s der A k t i v b ü r g e r verkürzen. A m A n f a n g der D e m o k r a t i e steht der Demos als solidarische Ganzheit u n d E i n h e i t der Staatsangehörigen. Dieser K r e i s verengt sich auf die r e c h t l i c h organisierten u n d h a n d lungsfähigen Bürger, w e n n L e g i t i m a t i o n d u r c h A k t i o n v e r m i t t e l t w e r d e n soll: i n der W a h l 8 0 . So herrscht denn auch i n der W a h l n i c h t demokratische I d e n t i t ä t . D i e Wählerschaft t r ä g t (auch w e n n sie u n t e r den heutigen B e d i n gungen den Großteil des Volkes ausmacht) schon repräsentative Z ü g e 8 1 . Sie ist erste Stufe i m A u f b a u demokratischer Repräsentation 8 2 . 79 So etwa von Mangoldt (Fn. 52), Art. 20 Anm. 3 (S. 136). Meyer mißversteht diese Position, wenn er sich auf sie beruft (Stellungnahme [Fn. 54], S. 65), und unterlegt ihr falschen Sinn. 80 Ganz überwiegend wird der Volksbegriff im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als die Summe der deutschen Staatsangehörigen interpretiert: Kurt Georg Wernicke, in: BK, Art. 20 Erl. I I 2 c (S. 5); Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein, Grundgesetz, Bd. I, 21957, Art. 20 Anm. V 4c (S. 595); Birkenheier (Fn. 1), S. 23 und passim (Nachw.); Karl A. Lamers, Repräsentation und Integration der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Wahlrechts, 1977, S. 33, 37f.; Herzog (Fn. 5), Art. 20, II, Rn. 10 Fn. 1; Dietmar Breer, Die Mitwirkung von Ausländern an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch Gewährung des Wahlrechts, insbesondere des Kommunalwahlrechts, 1982, S. 63ff., 75; Böckenförde (Fn. 4), S. 903f.; Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. II, 1987, S. 3 (25); Hans-Jürgen Papier, Verfassungsfragen des kommunalen Ausländerwahlrechts, in: KritV 1987, S. 309; Alexander Schink, Kommunalwahlrecht für Ausländer?, in: DVB1. 1988, S. 417 (420 - 423) (Nachw.). Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird dagegen als Teilmenge der Summe aller Staatsangehörigen, nämlich als die Gesamtheit der (Staatsangehörigen) Aktivbürger verstanden: Wernicke, in: BK, Art. 20 Erl. I I 2b (S. 5); von Mangoldt / Klein, oben, Art. 20 Anm. V 4d (S. 595f.) und 5a (S. 597); Birkenheier, oben, S. 22 (Nachw.); Lamers, oben, S. 33; Herzog, oben; Breer, oben, S. 63; Friedrich E. Schnapp, in: Ingo von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 31985, Art. 20 Rn. 31; Schink, oben, S. 420 f. Auch das Bundesverfassungsgericht anerkennt das unauflösliche Band von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, indem es, ohne zu unterscheiden, einmal von der „Gesamtheit der Bürger als Staatsvolk" (BVerfGE 77, 1 [40]), das andere Mal von der „Gesamtheit der jeweils wahlberechtigten Bürger" (ebd., S. 41) spricht. - Zum Wahlrecht als staatsbürgerlichem Recht: BVerfGE 6, 84 (91); 8, 51 (68f.); 14, 121 (132); 20, 56 (98f., 113); 51, 222 (234). 81 Unter den Bedingungen der deutschen Teilung kommen nur die Deutschen der Bundesrepublik in Betracht. Das (Teil-)Volk als Inhaber der verfassunggebenden Gewalt hat, ausweislich der Präambel, in treuhänderischer Repräsentation auch „für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war". 82 Dazu Schmitt (Fn. 45), S. 206ff., 239, 251 f. - Zutreffend zu Art. 20 Abs. 2 GG: Wernicke (Fn. 80), Art. 20 Erl. I I 2 b (S. 5).
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Ein anderer Begründungsversuch des Ausländerwahlrechts stellt das Wahlrecht den Freiheitsgrundrechten gleich, die das Grundgesetz nur den Deutschen vorbehält (Art. 8, 9 Abs. 1, 11 und 12 Abs. 1 GG) 83 . Diese bilden nur einen grundrechtlichen Mindeststandard. Es liegt im Ermessen des Gesetzgebers, sie, vorbehaltlos oder eingeschränkt, auch den Ausländern zuzuweisen 84 . In der Tat entspricht ihr gesetzlicher Freiheitsstandard heute weithin dem grundrechtlichen Freiheitsstandard der Deutschen. Doch was für die Deutschenrechte im status negativus (wie im status positivus) gilt, läßt sich nicht auf den status activus übertragen. Die klassischen Grundrechte gelten in der bilateralen Beziehung des Individuums zum Staat. Ausweitung von Freiheit bedeutet Rücknahme der Staatsgewalt. Doch eine Ausweitung des Wahlrechts wirkt multilateral: sie führt zu einer Rechtseinbuße der genuin wahlberechtigten Deutschen. Das darf nicht bloß quantitativ verstanden werden, als quantitative Abwertung des Stimmgewichts der Deutschen (entsprechend der Quantität der zusätzlichen, ausländischen Wählergruppe) 85 . Entscheidend ist die qualitative Veränderung des Wahlkörpers. Das Wahlrecht für Ausländer bricht die politische Einheit des Volkes auf, hindert es, seine demokratische Identität in der Wahl zu finden, verwehrt den Deutschen die demokratische Selbstfindung und Selbstbestimmung 86 . Die Ausweitung des Wahlrechts über das Staatsvolk hinaus bringt, verfassungsrechtlich gesehen, nicht „mehr Demokratie", sondern deren Verkürzung. Demokratie entwickelt sich legitim nur innerhalb des Demos, aus dem und für den sie besteht. 83 Analogie von den Status-negativus-Grundrechten zum Wahlrecht: Zuleeg (Fn. 69), S. 17; ähnlich Rittstieg (Fn. 62), S. 316. 84 Zur Stellung der Ausländer im Vorbehaltsbereich der Deutschen-Grundrechte: Isensee (Fn. 15), S. 76ff. 85 Cum grano salis mag die demokratische HerrschaftsVerteilung als „Null-Summen-Spiel" bezeichnet werden, „ i n dem neue Rechte für eine Gruppe notwendig Verluste für die bisherigen Rechtsinhaber bewirken" (so der polemisch gemeinte Einwand Brun-Otto Brydes, Schriftliche Stellungnahme, in: Bericht des Rechtsausschusses, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg Drs. 13/3115 vom 12.1.1989, Anlage 8, S. 59, 61). - Hans Kelsen ([Fn. 45], S. 69ff.) hat die Struktur eines solchen „Null-Summen-Spiels" im analogen Verhältnis des Staates zur Selbstverwaltung klassisch freigelegt: „Der Wille des Ganzen ... droht durch den Willen des Teils ... paralysiert zu werden. Sogar in seiner Denaturierung als Selbstbestimmung durch Majoritätsbeschluß bewahrt der Freiheitsgedanke noch etwas von seiner ursprünglich anarchischen, das soziale Ganze in seine individuellen Atome auflösenden Tendenz." (S. 72) Die Konsequenz: „Dem Willen der Glieder kann nur auf Kosten des Ganzen Spielraum gewährt werden." (S. 74) Vgl. auch Hans Peters, Zentralisation und Dezentralisation, 1928, S. 28f. 86 Zum Zusammenhang des Wahlrechts mit der politischen Einheit: Böckenförde (Fn. 4), S. 903 ff. - Zum Konflikt des Ausländerwahlrechts mit dem Selbstbestimmungsrechts des Volkes nach Völkerrecht und Verfassungsrecht: Hans A. Stöcker, Nationales Selbstbestimmungsrecht und Ausländerwahlrecht, in: Der Staat 28 (1989), S. 7Iff.
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Die Bindung des Wahlrechts an den Status des Deutschen ist keine nachträgliche gesetzliche Einschränkung eines zunächst unbegrenzt entworfenen „allgemeinen" Wahlrechts. Vielmehr ist sie seine Begründung: Die Allgemeinheit ist das Staatsvolk. Die Rechtsfigur der Grundrechtsschranke paßt nicht, ebenso wenig wie die des Mindeststandards. 6. Das Volk als Summe der Betroffenen
a) Vom Staatsvolk zur Wohnbevölkerung Die Legitimationsliteratur des Ausländerwahlrechts findet ihr primum principium in der Betroffenheit. Das „Volk" wird umdefiniert vom Verband der Staatsangehörigen zur Summe der Betroffenen 87 . „Betroffenheit" meint die Unterworfenheit unter die (bundesdeutsche) Staatsgewalt. Der „Betroffene" ist ihrem Zugriff auf seine Interessen ausgesetzt. Der „Betroffene" ist Ersatz für das alte Wort „Untertan", das heute verpönt ist 8 8 . Was nunmehr als „Volk" figuriert, umfaßt die Menschen, die zur inländischen Gesellschaft gehören. „Gesellschaft", im Sinne der deutschen Staatstheorie als das Gegenüber des Staates 89 , entspricht in ihrem personalen Umfang der Reichweite der Staatsgewalt. Sie umfaßt alle Rechtsunterworfenen, gleich, ob Deutsche oder Ausländer. Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft wird konstituiert durch den status passivus, der im sozialen Rechtsstaat den status negativus der Freiheitsrechte und positivus der Gewähr sozialer Sicherheit nach sich zieht, nicht jedoch den status activus des Wahlrechts. Die Gesellschaft bietet dem Wahlrecht schon deshalb keine Grundlage, weil sie, juristisch gesehen, nur der Inbegriff paralleler Herrschaftsbeziehungen ist, die als solche keine Solidargemeinschaft begründen. Die Gesellschaft bildet im Unterschied zum Volk im Rechtssinne keinen genossenschaftlichen Verband. Die Gesellschaft als solche schafft keine Entscheidungs- und Handlungseinheit. Diese ergibt sich erst im Verbund mit der Staatsgewalt, aus dem das Gemeinwesen, der „Staat" im weiten, umfassenden Sinne hervorgeht. Die Gesellschaft ist denn auch kein Rechtssub87 Exponiert: Zuleeg (Fn. 61), S. 322f. und öfter; ders. (Fn. 69), S.15ff.; vgl. auch Bryde (Fn. 62), S. 257f.; Joachim Henkel, Politische Integration und Repräsentation ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZfP 5 (1974), S. 91 (101). 88 Der Fremde galt im modernen Staat seit dem 17. Jahrhundert als subditus temporarius, mit dem Übergang zum Rechtsstaat aber auch als civis temporarius. Vgl. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 21905, S. 116. 89 Dazu Paul Mikat, Zur begrifflichen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und ihrem heutigen ordnungspolitischen Stellenwert (1977), in: ders., Geschichte Recht - Religion - Politik, 1. Bd., 1984, S. 345ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 1187 ff.
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jekt; sie ist überhaupt nur staatstheoretische, nicht staatsrechtliche Kategorie 9 0 . Unter den Bedingungen grundrechtlicher Freiheit ist die Gesellschaft der Ort realisierter Freiheit und damit tatsächlicher Ungleichheit. Grundrechtliche Freiheit ist nicht abstimmbar, legitime Ungleichheit keine Basis für das Mehrheitsprinzip. Gesellschaft und Staat sind inkongruent und inkompatibel 91 . So ist denn die Gesellschaft geradezu die auf individueller Selbstbestimmung gegründete pluralistisch-inhomogene Gegenwelt zum Staatsvolk als dem mitgliedschaftlich verfaßten, rechtlich egalitären und homogenen Verband der Staatsbürger. Im übrigen ist auch der personelle Umfang der Gesellschaft größer als der des Staatsvolkes. Er umfaßt alle Grundrechtsträger, mithin auch und wesentlich die grundrechtsfähigen Verbände, die ihrer Natur nach nicht Mitglieder des Staatsvolkes sein können. Aufs Ganze gesehen entspricht das neuartige Betroffenen-Volk denn auch weniger der staatstheoretischen Kategorie der Gesellschaft als der melderechtlichen der Wohnbevölkerung. In der Sprache des Grundgesetzes handelt es sich um die „Bewohner des Bundesgebietes", von denen - jenseits demokratisch-wahlrechtlicher Relevanz - in Art. 25 S. 2 GG die Rede ist. Aber die Wohnbevölkerung deckt den Kreis der Betroffenen nicht vollständig ab, weil die Staatsgewalt in ihren Auswirkungen nicht an der Staatsgrenze halt machen muß, sie auch im Ausland belegene Interessen berühren, Deutsche wie Ausländer auch außerhalb des deutschen Territoriums in ihren Rechten verletzen und in ihren Erwartungen enttäuschen kann 9 2 . b) Betroffenendemokratie Der Legitimationsgedanke für das Ausländerwahlrecht geht dahin, daß, wer von der Ausübung der Staatsgewalt betroffen sei, auch über sie mitbestimmen können müsse 93 . Die Begründung ist unschlüssig, und zwar in staatsrechtlicher wie staatsethischer Hinsicht. Betroffenheit ist keine Kategorie der Demokratie, sondern eine solche des Rechtsstaats. Wer verpflichtet ist, staatliche Normen zu befolgen, nimmt teil an ihrem Schutz, nicht an ihrer Hervorbringung. Der Eingriff in Grundrechte oder in sonstige Rechte löst Gewährleistungen des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts aus, insbesondere den Rechtsschutz. Rechtsein90 Zutreffend Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Bd., 21888, S. 98 Anm. 1. 91 Dazu Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie, in: Der Staat 20 (1981), S. 161 (164ff.); ders., Staat und Verfassung (Fn. 9), S. 651ff., 655f. 92 Zu grenzüberschreitenden Wirkungen der Grundrechte und zu ihrer räumlichpersonalen Reichweite: Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96 ff. 93 Nachw. s. Fn. 87.
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griffe können Anhörungsrecht und Klagebefugnis indizieren (vgl. § 28 Abs. 1 VwVfG, §42 Abs. 2 VwGO). Rechtsstaatliche Gewährleistungen dieser Art kommen denn auch den Ausländern zu, und zwar stets, wenn sie der deutschen Gebietshoheit unterliegen, unter besonderen Voraussetzungen sogar ohne Gebietskontakt. Sie sind darum von Anfang an mehr als bloße Untertanen, wie es juristische Propagatoren des Ausländerwahlrechts in grober Verzeichnung der Rechtslage darstellen 94 . Vielmehr sind sie, verfassungsstaatlicher Struktur gemäß, „Glieder des gemeinen Wesens,... nur nicht als Bürger, sondern als Schutzgenossen" 95. Mit zunehmender Eingliederung weitet, verdichtet und festigt sich ihr inländischer Rechtsstatus. Er nähert sich dem der Deutschen an, auch im Vorbehaltsbereich der Deutschen-Grundrechte 96 . Doch damit wächst den Ausländern nicht auch das Wahlrecht zu. Der Weg zur politischen Mitbestimmung führt allein über die Einbürgerung, mit der der Status als Ausländer endet. Die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Einbürgerung verstärken sich mit der Integration in die inländische Gesellschaft. Doch darum wird dieser Akt selbst nicht entbehrlich. Er setzt sowohl die Entscheidung des Ausländers als auch die des Aufnahmestaates voraus. Aus gutem Grund, denn für beide Seiten liegt darin die Definition ihrer politischen Identität. c) „No taxation without representation " In der rechtspolitischen Diskussion tritt das Argument auf, das demokratische Prinzip fordere, daß die Ausländer, die der Bundesrepublik Steuern zahlten, auch an ihren Wahlen mitwirken müßten. Dabei wird ein Topos aus der Frühgeschichte der Demokratie bemüht, der Satz, auf den sich die amerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert bei ihrer Unabhängigkeitserklärimg gegenüber dem englischen Mutterland beriefen: „No taxation without representation " 9 7 . Die amerikanische Maxime des 18. Jahrhunderts, die auch in der Entwicklung des englischen Wahlrechts während des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte, stellte auf den Besitz als Legitimationsgrund des Wahlrechts ab. Das besitzende Bürgertum berief sich darauf, daß, wer Steuern zahle, sie auch bewilligen und ihre Verwendung kontrollieren müsse - einerseits mit der Bedeutung, daß, wer im Parlament nicht vertreten sei, auch keine Steuern zahlen müsse, andererseits mit dem Sinn, daß nur derjenige, der Steuern zahle, auch im Parlament vertreten sein könne. Die Maxime ist also die 94 So etwa Zuleeg (Fn. 61), S. 325f.; ders., Menschen zweiter Klasse, in: DÖV 1973, S. 361 ff.; ders., Grundrechte für Ausländer, in: DVB1. 1974, S. 341 ff. 95 Kant (Fn. 36), S. 150. 96 Dazu Isensee (Fn. 15), S. 71ff., 76ff., 81 ff. 97 Z.B. bei Bryde (Fn. 62), S. 258.
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Parole des Besitzbürgertums und der Legitimationstitel des Zensuswahlrechts 98 . Die Maxime widerspricht der demokratischen Egalität, wie sie dem Grundgesetz zugrunde liegt. Diese knüpft nicht an den Besitz, sondern allein an die Mitgliedschaft im Staatsverband an. Das anachronistische Argument des Besitzbürgertums ist inkompatibel dem sozialstaatlichen Argument, das die Ausländer als typische Unterschichtgruppe betrachtet und sie als solche politisch aufwerten w i l l 9 9 . Das „No-taxation"-Argument wird auch nicht ernst gemeint, weil der Aufenthalt, nicht aber die Steuerzahlung Grundlage des Wahlrechts sein soll. Im übrigen ist auch nicht empirisch aufzuschlüsseln, wie viele der Ausländer, denen das Wahlrecht zugewendet werden soll, überhaupt (direkte) Steuern zahlen und wie viele - dem Argument kraß zuwider - per saldo Transferbegünstigte sind, also nicht auf der Geber-, sondern auf der Nehmerseite des Sozial- und Steuerstaates stehen. Das „No-taxation"-Argument entspricht auch nicht den Gegebenheiten des internationalen Steuerrechts. Die Besteuerung nach dem Territorialitätsprinzip, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der Beteiligten, ist nach Staats- und Völkerrecht legitim. Subjekte der deutschen Einkommensteuer sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 1 Abs. 1 S. 1 EStG), und zwar, von den Ausnahmetatbeständen des § 1 Abs. 2 und 3 EStG abgesehen, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit. Soweit Kollisionsprobleme auftreten, die Gegenstand von Doppelbesteuerungsabkommen sind, wird der Ausländer durch seinen Heimatstaat repräsentiert. Das Ausländerwahlrecht aber schüfe Repräsentation auf beiden Seiten des Vertrages. Gerade in steuerlicher Hinsicht kann das Ausländerwahlrecht zu einer Diskriminierung der Deutschen werden, soweit das Steuerrecht eigens an den Status des Deutschen als steuerbegründendes Merkmal bei Auslandsbeziehungen anknüpft, wie es im geltenden Außensteuerrecht der Fall ist 1 0 0 . 98 Dazu Wilhelm Hasbach, Die moderne Demokratie, 21921, S. 37ff.; Schmitt (Fn. 45), S. 311 f. 99 Das Sozialstaatsargument wird von Zuleeg bemüht, mißverstanden und überzogen: Grundrechte (Fn. 94), S. 347f.; ders. (Fn. 61), S. 325f. 100 v g l § 2 Abs. 1 Außensteuergesetz - für den Wohnsitzwechsel in niedrigbesteuerte Gebiete. - Eine steuerrechtliche Besserstellung von deutschen Staatsangehörigen (mit Auslandskontakt) gegenüber sonstigen Gebietsansässigen ist insofern zulässig, als ein Doppelbesteuerungsabkommen ausschließlich die Staatsangehörigen der beiden vertragschließenden Staaten unter seinen Schutz stellen kann, wenngleich eine solche Beschränkung des geschützten Personenkreises heute nicht mehr üblich ist. Beispiel für ein DBA, das ausschließlich die Staatsangehörigen der beiden vertragschließenden Staaten begünstigt: Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und Italien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Regelung anderer Fragen auf dem Gebiete der direkten Steuern vom 31. Oktober 1925, RGBl. I I 1925, S. 1146. Dazu: BFHE 103, 557 (562f.); FG Köln, in: EFG 1987, Nr. 240, S. 230f.
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Derartige tatbestandliche Anknüpfungen sind dem Steuergesetzgeber nicht durch Verfassungs- und Völkerrecht verwehrt. d) Mangelnde Legitimationskraft der Betroffenheit und der bloßen Gebietszugehörigkeit Betroffenheit ist keine angemessene ratio für das Wahlrecht. „Betroffen" ist jemand in bestimmten Belangen. Soweit es sich um rechtlich geschützte Belange handelt, aktualisieren sich für den „Betroffenen" verfahrensrechtliche Garantien und materielle Schutzrechte. Das Wahlrecht aber folgt nicht aus solch partieller Betroffenheit, sondern aus der Mitgliedschaft im staatlichen Verband, der die politische Einheit bildet. Der Legitimationsidee nach geht es in der Wahl darum, die demokratische Repräsentation der (staatlichen oder der kommunalen) Allgemeinheit herzustellen, also die Kompetenz- und Verfahrensgrundlage zur Bestimmung des Gemeinwohls. So richtet sich das „allgemeine" Wahlrecht aus am demokratischen Leitbild des Bürgers als integralem Glied des Gemeinwesens, des „citoyen", nicht dem liberal-grundrechtlichen Leitbild des Bürgers als „bourgeois", Träger eigener, privater, besonderer Interessen, die vor dem Zugriff des Staates rechtlich gesichert sind. Die Verleihung des Wahlrechts ist daher kein zulässiges Mittel, um den Gruppen- und Sonderinteressen der Ausländer mehr politische Wirksamkeit zu verschaffen 101 . Auch dem deutschen Staatsund Kommunalbürger kommt das Wahlrecht nicht zu, damit er seine partikularen Interessen möglichst effektiv zur Geltung bringe, sondern deshalb, weil er grundsätzlich unausweichlich und auf Lebenszeit dem Gemeinwesen verhaftet ist. Dieser Unterschied w i r d in dem Maße deutlicher spürbar, in dem die internationale Freizügigkeit und die zwischenstaatliche Verflechtung zunehmen und die Handlungen eines Staates direkt oder indirekt über den Kreis der eigenen Bürger und sogar über das eigene Territorium hinaus Wirkungen zeitigen. Die stetige personenrechtliche Beziehimg der Staatsangehörigkeit wird um so wichtiger, je mehr sich die örtliche Bindung abschwächt und die Mobilität über Staatsgrenzen hinweg zunimmt. Die Gebietszugehörigkeit allein schafft keine konsistente Basis für das Wahlrecht. Denn dieses bedarf der Fundierung in einer personenrechtlichen Beziehung auf Dauer, wenn der Freiheit der Wahl die Gewähr der Solidarhaftung für die Konsequenzen der Wahl und der statusrechtliche Impuls zur verantwortlichen Ausübung des Wahlrechts korrespondieren soll 1 0 2 . - Diese These steht nicht im Widerspruch zu dem Umstand, daß auch das Wahlrecht der Deutschen in Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden grundsätzlich an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland von bestimmter Min101 102
Zutreffend Quaritsch (Fn. 23), S. 12. Siehe oben I 2 d.
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destdauer geknüpft ist. Denn bei Deutschen dient die Gebietsansässigkeit der Begrenzung des Wahlrechts, bei Ausländern dagegen der Begründung. Die Notwendigkeit der Anknüpfung an Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt ist bei Deutschen unvermeidlich, weil die Bundesrepublik keine eigene Bundesangehörigkeit besitzt und auch die Zugehörigkeit zu Ländern und Kommunen nicht rechtlich formalisiert ist, sie vielmehr stets nur eine regionale Teilmenge des deutschen Volkes bildet. Dieses aber ist im staatlichen Bereich als Verantwortungs- und Schicksalsgemeinschaft organisiert, die alle staatlichen und kommunalen Gliedkörperschaften einschließt. Die gesamtstaatliche Solidarhaftung der verschiedenen föderalen und dezentralen Teilverbände bewährt sich nicht zuletzt im vertikalen und horizontalen Finanzausgleich 103 . Der Deutsche, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und Gemeinde wie Bundesland wechselt, scheidet damit nicht aus dem gesamtstaatlichen Solidarverband aus. Der Ausländer dagegen bleibt seinerseits seinem Heimatstaat personenrechtlich verbunden und diesem nach Maßgabe seines Rechts zur Loyalität verpflichtet. Mit der Zuweisung des Wahlrechts im Aufenthaltsstaat ist der rechtliche wie der politische Loyalitätskonflikt programmiert. Solange er dem auswärtigen Staat als Staatsbürger angehört, ist dieser für ihn das politische Zentrum, der Verband, innerhalb dessen er politische Mitwirkungsrechte besitzt oder demokratisch legitim anstreben kann. Die Gleichstellung der Ausländer mit den Staatsangehörigen vermag nicht politische Gleichheit herzustellen, weil der gebietszugehörige Ausländer zwei Staaten von Staats- und Völkerrechts wegen zugeordnet ist, dem Aufenthaltsstaat, dessen Gebietshoheit, und dem Heimatstaat, dessen Personalhoheit er unterliegt. Nur letzterem aber ist er personenrechtlich auf Dauer verbunden. Die Zuweisung des Wahlrechts an Ausländer schüfe zwei Klassen von Wählern: die deutschen, die den Folgen ihrer demokratischen Entscheidung unentrinnbar ausgesetzt blieben, und die ausländischen, die sich ihnen durch Rückkehr in den Heimatstaat entziehen könnten 1 0 4 . e) Verfügbarkeit der demokratischen Wählerbasis für die gewählte Mehrheit Während die Staatsangehörigkeit eindeutige und praktikable Anknüpfungstatbestände für das Wahlrecht bereitstellt, enthält die „Betroffenheit" keine klaren Vorgaben. Sie fordert vielmehr die Entscheidung des Gesetzgebers, welcher Faktor und welche Intensität der „Betroffenheit" relevant sein sollen. Er muß unvermeidlich grob typisieren: nach Aufenthalt, Verweildauer, nach Aufenthalts- oder auch Arbeitserlaubnis, nach Nationalität 103 104
Dazu BVerfGE 72, 330 (386f.). Näher Isensee (Fn. 15), S. 55ff., 93.
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o.ä. 1 0 5 . Wie immer er entscheidet, er entscheidet willkürlich und stiftet Ungleichheit zwischen den bevorteilten und den ausgeschlossenen Gruppen der Ausländer, zwischen jenen und den Deutschen 106 . Die Entscheidungsmacht, die dem Gesetzgeber hier zufällt, unterscheidet sich radikal von jener, die er schon immer ausgeübt hat, um Randunschärfen der Staatsangehörigkeit und des Wahlrechts zu regeln und zu klären. Bisher war ihm der Regelungshorizont der Allgemeinheit vorgegeben, nunmehr kann er ihn aus eigener Macht verschieben und darüber bestimmen, wer zur Allgemeinheit gehört. Der Gesetzgeber disponiert über das Wahlvolk, also über die Basis der Demokratie. Der „Gesetzgeber" aber ist die zeitweilige parlamentarische Mehrheitskonstellation. Die für die Gegenwart Gewählten definieren die künftigen Wähler. Kurz: Die Gewählten wählen sich ihre Wähler. Es liegt auf der Hand, daß die jeweiligen Mehrheitsbesitzer ihre parteipolitischen Machterhaltungsinteressen bei der Umdefinition des Wahlvolkes zur Geltung bringen können. Für sie fällt ab eine weitere „überlegale Prämie auf den legalen Machtbesitz" 1 0 7 . - Diese wird ergänzt durch die Befugnisse, die der jeweiligen Exekutivspitze aufgrund des Ausländerrechts zukommen, über Aufenthalt und Wohnsitznahme der Ausländer zu disponieren, die ja von Verfassungs wegen nicht von vornherein die grundrechtliche Freiheit der Einreise und die Freizügigkeit besitzen. Die Regierungen können ihre wahltaktischen Überlegungen in die Ermessensentscheidungen einfließen lassen, um sich eine vorteilhafte Bevölkerungs- und damit Wählerstruktur zu verschaffen. - Hinzu kommt, daß der Gesetzgeber im Negativbereich der Deutschen-Grundrechte die politische Betätigung von Ausländern in organisierter und kollektiver Form grundsätzlich beschränken darf 1 0 8 . Die Vorschrift des § 6 AuslG verbietet Ausländern bestimmte politische Betätigungen (Abs. 3) und ermächtigt die Exekutive dazu, bestimmte politische Betätigungen einzuschränken oder zu untersagen (Abs. 2). Damit hat es die Exekutive in der Hand, mißliebige Organisations- und Betätigungsformen der Ausländer bei der Vorbereitung von Wahlen zu unterdrücken und in bestimmte, den jeweiligen Mehrheitsbesitzern genehme Richtungen zu steuern. los Angehörige sechs ausgewählter Staaten sollen in den Genuß des Kommunalwahlrechts Schleswig-Holsteins kommen (Fn. 47). 106 Die relativ größte Konsequenz weist der Gesetzentwurf der Fraktion Die Grünen zur Änderung des Bundes Wahlgesetzes vom 3. 5.1989 auf: alle „Ausländer und Ausländerinnen", die sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig, sei es auch nur aufgrund Duldung, im Bundesgebiet aufhalten, sollen das aktive und das passive Wahlrecht erhalten (BT-Drucksache 11/4462). 107 Allgemein: Carl Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 263 (283 ff.). 108 Vgl. § 6 AuslG i.V.m. Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 21 GG. Dazu Kay Hailbronner, Ausländerrecht, 21989, Rn. 257 - 285.
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Eine zusätzliche Mutation des Wahlvolkes setzte ein, wenn das Wahlrecht auch den Asylbewerbern zuerkannt würde 1 0 9 . Sie erhalten kraft ihres Antrags nach §§ 19 ff. Asyl Vf G ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet. Sie könnten also von sich aus die Voraussetzungen für das deutsche Wahlrecht schaffen. Hier böte sich auch für ausländische Mächte („Verfolgerstaaten") ein Hebel, um auf die innere Willensbildung Deutschlands einzuwirken. Das rechtspolitische Schlüsselwort „Betroffenheit" ist schon sprachlich aufschlußreich. Es stellt ab auf das Individuum als Objekt staatlichen Handelns. Wenn aber seine Passivrolle das Wahlrecht begründet, so hängt es von der Staatsgewalt als dem aktiv handelnden Teil ab, wer das Wahlrecht erhält. Die Betroffenen sind Produkte der Staatsgewalt; sie können nicht ihr Ursprung sein. Der Ursprung muß der Wirkung verfassungslogisch vorausliegen. Das aber ist nur dann gegeben, wenn das Staatsvolk, wie es demokratischer Tradition entspricht, prinzipiell Vorgegebenheit für Verfassung und Gesetz ist, nicht aber deren Resultat. III. Staatsangehörigkeit und menschenrechtlicher Universalismus 1. Entwertung der deutschen Staatsangehörigkeit
Mit der Ablösung des Wahlrechts von der Staatsangehörigkeit verliert diese ihre demokratische Besonderheit und ihren demokratischen Sinn. Wenn es nicht notwendig ist, Staatsbürger zu sein, um Stimmbürger zu werden, wird die Institution der Staatsangehörigkeit für die Deutschen abgewertet, desgleichen aber auch für die Ausländer, denen ein wesentlicher Anreiz für die Einbürgerung genommen wird. Zugleich verliert die Staatsangehörigkeit ihre Funktion, die nationale Einheit und die deutsche Identität zu gewährleisten: für die demokratische Selbstbestimmung des deutschen Volkes im Innern wie nach außen, in der Gegenwart wie im Blick auf die verfassungsrechtlich offen zu haltende und anzustrebende Zukunft einer Überwindung der deutschen Teilung. Damit gerät die Einführung des Ausländerwahlrechts in Konflikt mit der institutionellen Garantie der (gesamt-)deutschen Staatsangehörigkeit 110 . Wie jede institutionelle Garantie steht sie unter Gesetzes vorbehält. Doch der Gesetzgeber hat Struktur- und Sinnidentität, Wesenskern der Institution zu wahren. Er kann sie nicht nach Belieben umgestalten, etwa vom ius 109
So der Gesetzentwurf der Grünen (Fn. 106). Die deutsche Staatsangehörigkeit als institutionelle Garantie: Theodor Maunz, in: Maunz / Dürig, (Fn. 5), Art. 16 (Erstbearb. 1968) Rn. 1; Otto Kimminich, in: BK, Art. 16 (Drittbearb. 1984) Rn. 33; Stern (Fn. 1), I I I / l , 1988, S. 814. Vgl. auch BVerfGE 36, 1 (29ff.); 77, 137 (148ff.). 110
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sanguinis zum ius soli übergehen 111 und den historisch obsoleten Staatsangehörigkeits-Erwerbsgrund der Ersitzung reaktivieren 112 . Die deutsche Staatsangehörigkeit ist personenrechtliche Klammer der - nicht mehr staatlich organisierten - nationalen Einheit geblieben. Eben deshalb kann das Staatsangehörigkeitsrecht nur in einer Weise fortentwickelt werden, die nicht dazu führt, daß die deutsche Spaltung vertieft wird. Wenn die Bundesrepublik Einbürgerungsakte der Deutschen Demokratischen Republik am ordre public hergebrachten deutschen Staatsangehörigkeitsrechts mißt 1 1 3 , so muß sie sich ihrerseits an diesen Maßstäben messen lassen. Aber selbst wenn der bundesdeutsche Gesetzgeber über die Staatsangehörigkeit als Voraussetzung des Wahlrechts disponieren könnte, gewänne er damit nicht die Freiheit, die Folge von der Voraussetzung abzulösen und das Wahlrecht an Nichtdeutsche zu verteilen. Das ist Gebot der Systemkonsequenz, das aus der Verfassungsgarantie der Staatsangehörigkeit folgt. Der Gesetzgeber findet für einen derartigen Eingriff in das Sinngefüge der Staatsangehörigkeit auch nicht die Rechtfertigung darin, daß es gelte, die Ausländer in die deutsche Gesellschaft zu „integrieren" und die Bereitschaft zur Einbürgerung zu wecken. Eben diese Bereitschaft dürfte eher geschwächt werden, weil es der Einbürgerung nicht mehr bedarf, um wählen zu können; insoweit wäre die Maßnahme zweckuntauglich. Im übrigen kann sich das politische Ziel der Integration nur innerhalb der verfassungsrechtlichen Normen, nicht gegen sie, verwirklichen 1 1 4 . Auch die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes gibt keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Einführung des Ausländerwahlrechts 115 . Sie markiert ein Ziel, nicht aber den Ursprung der Staatsgewalt. Sie zielt auf soziale Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft, setzt also die Gesellschaft als solche voraus und berührt die politische Einheit des Volkes überhaupt nicht. Die Zusammensetzung des Staatsvolkes ist kein sozialstaatliches Thema. 2. Menschenrechtliche Deduktion
In den Forderungen nach dem Ausländerwahlrecht schwingen menschenrechtliche Ideen mit. Der Ausländer sei Mensch und als solcher der Staatsgewalt unterworfen. Um seiner Menschenwürde willen müsse ihm auch politische Selbstbestimmung gegeben werden 116 . 111 So aber die MeinungBrydes (Fn. 62), S. 259. Ebenso Gesetzentwurf der Grünen (Fn. 106). 112 Dazu Quaritsch (Fn. 23), S. 7; vgl. auch Grawert (Fn. 6), S. 138, 186. 113 Dazu BVerfGE 77, 137 (149, 152 f.). 114 Verfehlt Zuleeg (Fn. 61), S. 324 ff. 115 So die Meinung Zuleegs (Fn. 99).
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Die Würde des Menschen ist in der Ordnung des Grundgesetzes Fundament der gesamten verfassungsstaatlichen Ordnung, auch der Demokratie 1 1 7 . Doch deshalb kann nicht unvermittelt aus der Menschenwürde das Wahlrecht deduziert werden. Die Menschenwürde ist letztes Sinnprinzip aller konkreteren Verfassungsnormen im differenzierten Verfassungsgefüge; aber sie macht diese nicht entbehrlich. Der rechtliche Garantiegehalt der Menschenwürde w i r d mediatisiert durch die Institutionen der Verfassung und begrenzt durch die Reichweite deutscher Staatlichkeit 1 1 8 . Wenn das „Deutsche Volk" sich im Grundgesetz zu den Menschenrechten „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" bekennt (Art. 1 Abs. 2 GG), so bekundet es damit seinen Willen zur moralischen Selbstbehauptung dadurch, daß es sich in den Dienst der Menschenrechte stellt. Es gibt seine Identität als Deutsches Volk nicht preis. Das universalistische Bekenntnis zu den Menschenrechten hat die rechtspraktische Konsequenz der Geltung der Menschenrechte für alle Ausländer, die der deutschen Staatsgewalt unterliegen. Jedoch folgt daraus etwa nicht die menschenrechtliche Offerte, daß die Menschen aus aller Welt ihre Menschenrechte auf dem Boden der Bundesrepublik realisieren dürften und daß der Unterschied zwischen Staatsangehörigen und Ausländern aufgehoben sei, eine Unterscheidung, die das Grundgesetz sich ausdrücklich zu eigen macht und die es durch Anknüpfung an die Vorgaben des Völkerrechts vertieft 1 1 9 . Auch die Letztbegründung des demokratischen Prinzips in der Menschenwürde kann nicht die staatliche Bedingtheit der Verfassung und ihrer Gewährleistungen aufheben. Sie darf sich nicht über die realen Gegebenheiten der deutschen Staatlichkeit und der weltweiten Staatenordnung hinwegsetzen, in die sich der deutsche Verfassungsstaat, „völkerrechtsfreundlich", wie er von Verfassungs wegen sein muß, einfügt. Deutsche Verfassungsexegese kann nicht ein menschenrechtliches Universum fingieren, wo ein Staaten-Pluriversum besteht 120 .
116 In diesem Sinne etwa Zuleeg (Fn. 61), S. 322f.; Bryde (Fn. 62), S. 258. - I m Wege eines sinnentstellenden Zitats beruft sich Zuleeg ([Fn. 61], S. 323f.; wiederholt in: ders. [Fn. 69], S. 15 Anm. 37) zu Unrecht auf das Bundesverfassungsgericht, wenn er ihm die Auffassung unterstellt, daß Demokratie, ohne Bezug zum Staatsvolk, auf individualistischer Selbstbestimmung beruhe. Kritik: Josef Isensee, Kommunalwahlrecht für Ausländer aus der Sicht der Landesverfassung Nordrhein-Westfalens und der Bundesverfassung, in: KritV 1987, S. 300 (305). 117 Vgl. Günter Dürig, in: Maunz / Dürig (Fn. 5), Art. 1 Abs. I Rn. 4,14 ff. Neuerlich Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 1), Bd. I, 1987, S. 815 (845ff.). 118 Zur internationalen Reichweite der Grundrechte: Heintzen (Fn. 92), S. 96ff. (Nachw.). 119 Dazu Karl Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32 (1974), S. 7 ( l l f f . ) ; Isensee (Fn. 15), S. 55ff.
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Vorgabe auch für eine menschenrechtliche Deutung des Wahlrechts bleibt der Status der zwiefachen Zuordnung des Ausländers. In seinen politischen Mitbestimmungsrechten ist er auf seinen Heimatstaat verwiesen. Wollte er die Erfüllung im Aufenthaltsstaat suchen, so scheiterte er an dem - ebenfalls menschenrechtlich begründeten - Wahlrecht der Bürger des Staatsvolkes, in dem er, politisch gesehen, als Gast lebt 1 2 1 . Denn die demokratische Selbstbestimmung eines Volkes, Ausdruck der nationalen Identität des Menschen, ist selbst mittelbar menschenrechtlich fundiert, eine Emanation der Menschenwürde, die dem Menschen zusteht, wie sie sich in ihrer individuellen wie kollektiven Vielgestalt in der Geschichte entfaltet. Die Menschenwürde bezieht sich nicht auf ein abstraktes Universum, oder - Eichendorffs Wort - nicht auf „den färb- und geruchlosen, zur Menschheitssaat umgepflügten Boden". Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, dem die Bundesrepublik beigetreten ist, hebt denn auch an: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmimg. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." Alle Menschen haben daher das Recht, in ihrem Volk, aber eben in ihrem, an der Selbstbestimmung durch Wahl zu partizipieren 122 . 3. Europäischer Aspekt
Die Spannung zwischen menschenrechtlichem Universalismus und Nationalstaat schwächt sich ab in dem Maße, in dem die europäischen Staaten sich zusammenschließen. Ungeachtet politischer Bestrebungen, in Europa ein Ausländerwahlrecht, vorerst allerdings nur auf kommunaler Ebene, einzuführen, bilden die Europäischen Gemeinschaften in ihrem derzeitigen Stand noch keine politische Einheit. Sie gewährleisten Rechte der europäischen Marktbürger, nicht jedoch der europäischen Staatsbürger. Es besteht kein gemeinsames Indigenat 1 2 3 . Wenn aber die weitere Integration der Europäischen Gemeinschaften sich zum Europäischen Bundesstaat verdichten sollte, würde noch kein menschenrechtliches Universum erstehen, sondern eine neue, politische Einheit, wiederum mit eigener Staatsangehörigkeit. Auch die politische Identität der Mitgliedstaaten könnte in der Föderation überdauern, als „Europa der Vaterländer". Vision ist nicht die Selbstauf 120 Zutreffend Böckenförde (Fn. 4), S. 904. - Zu den Vorgegebenheiten heutiger Staatenwelt: Theodor Schieder, Zum Problem des Staatenpluralismus in der modernen Welt, 1969. * 2 1 Vgl. Böckenförde (Fn. 4), S. 905. 122 Dazu Stöcker (Fn. 86), S. 73 ff. 123 Dazu: Eberhard Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. HOff.; Grawert (Fn. 1), S. 689; Böckenförde (Fn. 4), S. 905; Bleckmann (Fn. 12), S. 443f.; vgl. auch Birkenheier (Fn. 1), S. 93 - 96, bes. 95 f.
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lösung der alten europäischen Staaten, sondern ihre Selbsterweiterung zu einem neuen Bundesstaat Europa. IV. Verfassung ohne Staat? Im Ergebnis zeigt sich, daß die Einführung des Ausländerwahlrechts mit der Demokratiekonzeption des Grundgesetzes unvereinbar ist. Das gilt nicht nur für das Wahlrecht auf der Ebene des Bundes, sondern auch auf der Ebene der Länder, Kreise und Gemeinden. Das Grundgesetz stellt in Art. 28 Abs. 1 S. 2 ausdrücklich klar, daß es dasselbe Volk ist, das sich in den föderalen und dezentralen Gliederungen als politische Einheit entfaltet. Demokratisch gesehen, sind die Gliederungen regionale Teileinheiten des Gesamtverbandes der Staatsbürger, nicht aber Transiträume, Bahnhofshallen der national wie international Freizügigen. Eine Umdeutung des verfassungsrechtlichen Volksbegriffs vom Staatsvolk zur Wohnbevölkerung führte zu einer substantiellen Änderung der grundgesetzlichen Demokratie. Wenn das Volk als Legitimations- und Kreationssubjekt ein anderes ist, ergibt sich auch eine andere Demokratie, damit eine andere Verfassung: im Widerspruch zu den formellen und materiellen Garantien ihrer Identität, die, in normativer Rigidität, keiner unbegrenzten Auslegung zugänglich und deren Kernsubstanz sogar der legalen Verfassungsänderung entzogen ist 1 2 4 . Die Instrumentalisierung des grundgesetzlichen Volksbegriffs für ausländer· und wahlpolitische Zwecke gewinnt ihre Prima-facie-Plausibilität daraus, daß sich das konkrete Verständnis der Verfassung weithin von ihren staatlichen Bedingtheiten und Voraussetzungen gelöst hat, die historisch desavouiert, moralisch prekär und politisch beengend scheinen. Die Verfassung muß nun gleichsam den Staat ersetzen. Aus der Verfassimg soll mittels Auslegung ein neues Volk deduziert werden, das, genuin demokratisch, multinational und multikulturell wiedergeboren, erlöst wird von deutscher Erbsünde. Die Verfassung w i r d in jenem Reiche der Luft aufgehängt, in dem schon Schiller, Jean Paul und Heine die politische Ortsbestimmung der Deutschen sahen 125 . Doch die Verfassung ist kein Luftgebilde, in dem die Deutschen auf der Flucht vor sich selbst ihre Heimstatt finden könnten. Soweit sie überhaupt Heimstatt bieten kann, findet sie sich in den realen Bedingtheiten und Vor124 Dazu Kirchhof (Fn. 51), S. 807 m. Fn. 100, speziell zur Unzulässigkeit des Ausländerwahlrechts . 125 Sarkastisch Michael Freund: „Man meint mitunter, dieses Volk wäre schon reiner Geist und schon gestorben ... Die deutsche Nation hat sich mit dem Grundgesetz verpuppt" (Demokratie - Wagnis des Vertrauens, in: Adolf Arndt / ders., Notstandsgesetz - aber wie?, 1962, S. 69, 73 f.).
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aussetzungen deutscher Staatlichkeit. An diesen kann eine wirklichkeitsgerechte Verfassungsexegese nicht vorübergehen. Dieser ist Verfassung, nicht ein Konfektionsanzug, der sich beliebig wenden und wechseln läßt, sondern integraler Teil des Staatskörpers. Auch für ihr Verfassungsverständnis, das den inneren und äußeren Herausforderungen der Gegenwart gerecht werden soll, müssen die Deutschen als Nation eine moralische Vorleistung erbringen, die Romano Guardini für die Menschen als Individuen eingefordert hat: die Annahme ihrer selbst.
Parlamentarisierung der Stadträte und Stadtregierung? Rückbesinnung auf die kommunalverfassungsgemäße Rollenverteilung Von Franz-Ludwig Knemeyer 1. „Stadtparlament" und „Stadtregierung" Sprachgebrauch und Erscheinungsformen a) „Stadtparlament" Alle bundesdeutschen Kommunalordnungen behandeln die Vertretungsorgane - Gemeinde- und Stadträte, Stadtverordnetenversammlungen etc. heute wie zur Zeit der Begründung der modernen kommunalen Selbstverwaltung als Verwaltungsorgane. 1 Verfassungsrechtliche Wandlungen, namentlich nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, scheinen sie ebenso wenig zur Kenntnis genommen zu haben wie wachsende Verflechtungen zwischen den staatlichen Gewalten und den beiden Hauptorganen kommunaler Selbstverwaltung: Rat und Verwaltung - bürgerschaftliche Vertretung und Administration. Vollends unberücksichtigt erscheint die zunehmende „Parlamentarisierung" der „Volksvertretungen vor Ort", die sich gerade in politischen Reden, aber auch von der örtlichen Presse gern zu „Stadt-" oder „Gemeinde-Parlamenten" aufwerten lassen.2 Zu erklären ist dieses Streben keineswegs allein aus einem falschen Verständnis des kommunalen Ehrenamts und einer Art „Minderwertigkeitsgefühl" gegenüber den „großen Brüdern" Landtag und Bundestag.3 Das heutige Kommunalverfassungsrecht weist eine Reihe struktureller Parallelen zum Parlamentsrecht auf. Dies gilt besonders für Wahlen, Zusammensetzung der Räte und Handlungsformen. So ist auch das allgemeine Erscheinungsbild der „parlamentarischen" Abläufe in den „örtlichen Volksvertretungen" dem der 1
Vgl. nur § 27 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 NWGO bzw. Art. 29, 1. HS BayGO. Vgl. z.B. Meinhard Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, Baden-Baden 1979, S. 27ff.; Eckart Klein, Zur Gleichgestimmtheit zwischen Gemeindevertretung und kommunalen Wahlbeamten, DÖV 1980, S. 853ff., 855; Gabriele Wurzel, Gemeinderat als Parlament?, Würzburg 1975 (= Schriften zur öffentlichen Verwaltung, Bd. 11), passim; dies., Usurpation parlamentarischer Kompetenzen durch Stadt- und Gemeinderäte, BayVBl. 1986, S. 417 ff. 3 Angedeutet wird dies etwa bei Gerd Schmidt-Eichstaedt, Die Machtverteilung zwischen der Gemeindevertretung und dem Hauptverwaltungsbeamten im Vergleich der deutschen Kommunalverfassungssysteme, AfK 1/85, 20ff., 31. 2
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Landtage und des Bundestags ähnlich. 4 Es kommt hinzu, daß die Inhalte kommunaler Arbeit immer häufiger auf die „große Politik" Bezug nehmen oder sogar ausgedehnt werden; namentlich größere Stadträte gerieren sich wie Parlamente und versuchen, nicht nur gemeindliche Angelegenheiten zu regeln, sondern allgemeinpolitische Themen zu behandeln; erinnert sei nur an die in vielen Stadträten geführte Diskussion über die Erklärung des Gemeindegebiets zur atomwaffenfreien Zone.5 Nicht selten berichtet die örtliche Presse auch von „politischen Debatten", bestimmt durch Grundsatzreden und Widerreden der „Fraktionsführer" etc. Dabei sind die eigentlichen Entscheidungen bereits in Fraktionssitzungen oder zumindest in den Ausschußsitzungen gefallen. Im Rat werden dann oft nur noch sogenannte Fensterreden gehalten. Presse und Öffentlichkeitsinteresse der Parteien verstärken das Bild vom „Stadt-Parlament": die Presse, weil sie glaubt, schwarzweißmalen zu müssen, die Parteien und die einzelnen Räte, weil sie glauben, sich mittels parlamentarischer Formen und Sprache besser profilieren zu können. So erscheint die Frage nicht unberechtigt, ob denn die kommunalen Vertretungsorgane heute wirklich noch ein Aliud gegenüber den Parlamenten darstellen oder ob die rechtliche Einstufung als „bloße" Verwaltungsorgane nurmehr der Tradition des 19. Jahrhunderts mit einem anfangs deutlichen antiparlamentarischen Aspekt entspricht. 6 Muß nicht vielleicht heute, nach dem - wie Frey und Naßmacher 7 meinen - „die klassische Gewaltenteilungsdoktrin in ihrer Bedeutung (aufhebenden) Sieg der parlamentarischen Demokratie" und mit dem „Wandel vom klassischen zum postklassischen Parlamentarismus" 8 die Einheit von Rat und Verwaltung als zwei Teile der Exekutive gelöst werden? Muß vielleicht mit Frey und Naßmacher gefragt werden, „ob nicht an die Stelle der grundsätzlichen Einheit von Rat und Verwaltung die Trennung von regierenden Mehrheitsfraktionen und Verwaltung auf der einen Seite und der kontrollierenden Opposition auf der anderen Seite getreten ist?" 9 Eine erste, vorläufige Antwort auf diese Fragen sei vor dem Eintritt in die grundsätzlichen Erörterungen schon gegeben, indem das Wissenschaftsver4
Siehe im einzelnen vorerst Schröder, Grundlagen (Fn. 2), passim, S. 416 f. Vgl. z.B. Jochen Hofmann, Die verfassungs- und kommunalrechtliche Zulässigkeit von Gemeinderatsbeschlüssen zu verteidigungspolitischen Fragen, DVB1. 1984, S. 116 ff. ; ders., Anmerkung zum Urteil des VG Würzburg vom 19.6.1985 (W 2 Κ 84 A.0321), BayVBl. 1986, S. 51 ff., in: BayVBl. 1986, S. 53ff.; Wurzel (Fn. 2), BayVBl. 1986, S. 417ff. 6 Dazu Schmidt-Eichstaedt, Machtverteilung (Fn. 3), S. 30. 7 Rainer Frey / Karl-Heinz Naßmacher, Parlamentarisierung der Kommunalpolitik, AfK 11/75, S. 195ff, 197. 8 Frey / Naßmacher, Parlamentarisierung (Fn. 7), S. 197 m.N. 9 Frey / Naßmacher, Parlamentarisierung (Fn. 7), S. 197; vgl. auch Rainer Frey, Kommunale Demokratie und Ratsfraktion, Die Demokratische Gemeinde 1975, S. 357ff., 358. 5
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ständnis der beiden zitierten Autoren durch ein eigenes Zitat gekennzeichnet wird. In der Zusammenfassung ihrer Untersuchung „Parlamentarisierung der Kommunalpolitik" zeichnen Frey und Naßmacher die von ihnen besonders empfundene Crux: „Der Hinweis der deutschen Staatsrechtslehre, die kommunalen Vertretungskörperschaften seien Verwaltungsorgane, hat bisher die Anwendung politikwissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf Arbeitsweise und Aufgabenstellung der kommunalen Vertretungskörperschaften verhindert." 1 0 Unberücksichtigt bleibt bei dieser Feststellung, daß die deutsche Staatsrechtslehre auf der Basis des deutschen Verfassungs- und Kommunalrechts zu argumentieren und politische Fragestellungen von dieser Ausgangsposition, nicht aber losgelöst davon, zu behandeln hat. 1 1 Kommunalpolitisches Wunschdenken - vielleicht auch Aufwertungsstreben - , rechtspolitische Machbarkeit - Verwaltungseffizienz, Verstärkung des demokratisch-parlamentarischen Moments - sowie kommunal- und staatsverfassungsrechtliche Zulässigkeit sind auseinanderzuhalten, wenn die Frage nach einer Parlamentarisierung zu beantworten ist. 1 2 b) „Stadtregierung" Korrelierend zum „Stadtparlament" taucht in letzter Zeit der nicht minder schillernde Begriff der „Stadtregierung" mit Stadtministern immer häufiger auf. Mit sich verstärkender Politisierung der Räte erschallt namentlich in großen Städten der Ruf nach der Stadtregierung, „bei der sich das kollegiale, verwaltungsleitende Organ nur noch aus Vertretern der Ratsmehrheit zusammensetzt, der die Minderheit als reinrassige Opposition gegenübersteht." 13 Auch Grauhan konstatiert, daß zwar häufig, insbesondere vom Oberbürgermeister selbst, die Meinung vertreten werde, daß es eine „Opposition" in der Gemeinde schlichtweg nicht gebe, dennoch Begriffe wie „Regierung" und „Opposition" im Sprachgebrauch der Frak10
Frey / Naßmacher, Parlamentarisierung (Fn. 7), S. 210. Vgl. nur Rolf Stober, Kommunale Ämterverfassung und Staatsverfassung am Beispiel der Abwahl kommunaler Wahlbeamter, Tübingen 1982 (= Recht und Staat 508), bes. S. 32 ff. 12 Zur Unzulässigkeit des Austausches verfassungsrechtlicher durch verfassungspolitische Argumente auch Partsch, Verfassungsprinzipien und Verwaltungsinstitutionen, 1958, in Auseinandersetzung mit BVerfGE 7, 155, 167f.; beachte daneben Stober, Kommunale Ämterverfassung (Fn. 11), S. 33 m.w.N. 13 Hermann Schönfelder, Rat und Verwaltung im kommunalen Spannungsfeld, Köln u.a. 1979 (= Schriften zur öffentlichen Verwaltung, Bd. 18), S. 140 m. Hinw. auf Theo Trachternach, Parteien in der kommunalen Selbstverwaltung, 2. Aufl., Würzburg 1976 (= Schriften zur öffentlichen Verwaltung, Bd. 8), der vom „Modell der Kabinettsregierung" spricht, S. 214, und Michael Borchmann / Emil Vesper, Reformprobleme im Kommunalverfassungsrecht, Stuttgart u.a. 1977 (= Schriften des Deutschen Instituts für Urbanistik, Bd. 58), S. 51/52. 11
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tionsvertreter und der Lokalpresse immer wieder vorkämen. Freilich handele es sich dabei „zunächst gewiß um ein façon de parier". 1 4 Daß die Idee des Kommunalregierungssystems nicht neu ist, belegt Borchmann15 mit Hinweis darauf, daß entsprechende Erwägungen bereits im „kommunalpolitisch bewegten Berlin der 20er Jahre" angestellt worden sind. Eine Wiederbelebung der Debatte über die Zweckmäßigkeit von Stadtregierungen sei - auf breiter Ebene - allerdings erst seit Beginn der 70er Jahre zu registrieren. Politischer Initiator entsprechender Reformforderungen seien die Jungsozialisten gewesen, die 1971 auf ihrer Mannheimer kommunalpolitischen Bundeskonferenz gefordert hätten, alle Wahlbeamten dürften nur für eine „Legislaturperiode" wählbar und müßten jederzeit abwählbar sein. Kommunale Politik sei eben auch Politik. Darum müsse die politische Mehrheit auch in kommunalen Vertretungskörperschaften wie im Parlament die Kompetenz zur Bildung einer örtlichen Regierung ihres Vertrauens besitzen. Kennzeichnend für das Modell der Stadtregierung ist die Konstruktion, daß sich Stadtrat und Stadtverwaltung wie Parlament und Regierung gegenüberstehen, und daß alle Verwaltungsstellen der jeweiligen Mehrheitsfraktion bzw. der „Mehrheitskoalition" überlassen werden. 16 Verwaltungsleitung und Vorsitz in der Vertretungskörperschaft seien voneinander zu trennen. Eine kollegiale Verwaltungsspitze, bestehend aus einem „Stadtministerpräsidenten" als „Mini-Kanzler" und den „Stadtministern", sei zu bilden, die Mitglieder der Stadtregierung müßten vom Rat für die Dauer seiner Wahlzeit gewählt und vorzeitige Abberufung ermöglicht werden. 17 2. Der kommunalverfassungsrechtliche Befund a) Der Stadtrat als bürgerschaftliche und Verwaltungsorgan
Vertretung
Unbeschadet tatsächlicher Erscheinungsformen und Handlungsweisen sehen alle bundesdeutschen Kommunalordnungen in Konkretisierung der verfassungsgeformten Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 GG die bürgerschaftlichen Vertretungen als Verwaltungsorgan. Sie betten sie ein in das Dreiteilungsschema der Gewalten, das trotz mannigfaltiger Verschränkung 14
Rolf-Richard Grauhan, Politische Verwaltung, Freiburg 1970, S. 261. Michael Borchmann, Kommunale Selbstverwaltung und parlamentarische Organisation, DÖV 1980, S. 862ff, 863. 16 Vgl. Paul Wengert, Das Recht der berufsmäßigen Gemeinderatsmitglieder in Bayern, Würzburg 1982, S. 204f. 17 Vgl. hierzu Michael Borchmann, Die Reform der Kommunalverfassung, Frankfurt a.M. - Hoechst, 1975, S. 316, sowie Borchmann / Vesper, Reformprobleme (Fn. 13), S. 76. 15
Parlamentarisierung der Stadträte u n d Stadtregierung?
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zwischen den Teilen immer noch für den grundgesetzgeprägten Staat gilt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). 18 Demokratiebestimmt und insoweit deutlich abweichend vom Normaltypus kommunaler Verwaltungsorgane werden die Stadträte allerdings wie die Abgeordneten in Bundestag und Landtag als gewählte Volksvertretungen für ihren räumlichen Wirkungsbereich behandelt (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG). 19 Auf kommunaler Ebene verkörpert der Stadtrat in gleicher Weise das System repräsentativer Demokratie, wie dies Landtag und Bundestag auf Landes- und Bundesebene tun. Zudem ist das einzelne Mitglied des Stadtrats gleichermaßen Träger eines freien Mandats wie sein „Kollege" in den Parlamenten. So bestimmt § 30 Abs. 1 NWGO beispielsweise: „Die Ratsmitglieder sind verpflichtet, in ihrer Tätigkeit ausschließlich nach dem Gesetz und ihrer freien, nur durch Rücksicht auf das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung zu handeln; sie sind an Aufträge nicht gebunden." Bis auf die Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern enthalten alle bundesdeutschen Gemeindeordnungen korrespondierende Normen. Ungeschrieben gilt nach ganz h. M. der Grundsatz des freien Mandats auch für die bayerischen Kommunalvertreter. 20 Als Repräsentativorgan nach den durch das Grundgesetz bestimmten Rechtsgrundsätzen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim gewählt 21 , betreibt der Stadtrat „politische Willensbildung". Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 23.10.1952 22 noch ausgesprochen, daß „auf der Ebene der Gebietskörperschaften nicht eigentlich politische Entscheidungen fallen" und „die politische Willensbildung des Volkes im eigentlichen Sinne" sich nur im Bundestag und in den Landtagen vollzöge 23 , die Charakterisierung von Ratsentscheidungen als unpolitischen Sachentscheidungen ist freilich seit langem überholt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon im 18 Zu kommunaler Selbstverwaltung und Gewaltenteilung siehe Klaus Heuvels, Diäten für Ratsmitglieder?, Köln u.a. 1986 (= Schriften zur öffentlichen Verwaltung, Bd. 25), S. 133 ff. 19 Zum Leitbild des Volksvertreters auf kommunaler Ebene siehe Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 9ff. 20 Vgl. nur BayVerfGH, BayVBl. 1984, S. 621 ff., m. Anm. von Jochen Hofmann, BayVBl. 1984, S. 747ff., sowie Gabriele Wurzel, Usurpation parlamentarischer Kompetenzen durch Stadt- und Gemeinderäte, BayVBl. 1986, S. 417ff., 417 m.w.N. Gerade die Aufnahme des „freien Mandats" in die Kommunalordnungen deuten z.B. Jochen Abr. Frowein, Das freie Mandat der Gemeindevertreter, DÖV 1976, S. 44ff., 45, und Frey, Kommunale Demokratie (Fn. 9), S. 361, als Angleichung des Status eines Gemeinderatsmitglieds an den eines Parlamentsabgeordneten. 21 Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Begriff des „demokratischen Rechtsstaats" in Satz 1 konkretisierend wiederholt; vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Januar 1987, Art. 28, Rdnr. 27; Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG w i r d nur noch in Schleswig-Holstein relevant, vgl. § 73 SchlHGO. 22 BVerfGE 2, Iff., Verbot der Sozialistischen Reichspartei. 23 BVerfGE 2, Iff., 76; abgelehnt von von Münch, in: Ingo von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., München 1983, Art. 21 GG, Rdnr. 10, und Roters, in: von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 28 GG, Rdnr. 25; Maunz: in: Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 21 GG, Rdnr. 20 m. Anm. 1., bezweifelt die Richtigkeit des Arguments des BVerfG zumindest für Großstädte.
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Jahre 1957 seine Ansicht modifiziert: „Zugleich wächst in der Verfassungswirklichkeit der kommunalen Körperschaften Bedeutung und Einfluß der politischen Parteien, und die Arbeit in den Gemeindeparlamenten (sie!) wird - obwohl dort nicht große Politik getrieben, sondern im wesentlichen verwaltet w i r d - im allgemeinen Bewußtsein als echte politische Tätigkeit gewertet (vgl. BVerfGE 6, 367, 373). " 2 4 Beratung und Beschlußfassung zur Erfüllung kommunaler Aufgaben verlaufen in den Räten ähnlich wie in den Parlamenten. Initiative, Planung, Gestaltung, Schwerpunktsetzung, Prioritätenbildung erfolgen nach politischen Gesichtspunkten. 25 Freilich darf man politisch nicht mit parteipolitisch verwechseln, selbst wenn § 1 Abs. 2 PartG i.V.m. Art. 21 Abs. 3 GG die Teilnahme der Parteien an der politischen Willensbildung (auch) auf kommunaler Ebene ausdrücklich ausspricht. 26 So dominieren auch die politischen Parteien in den Räten namentlich der größeren und Großstädte. Sie spielen in politischer Hinsicht den entscheidenden Part in der kommunalen Selbstverwaltung. 27 Ein „Alleinvertretungsrecht" besitzen sie allerdings nicht. Auf kommunaler Ebene konkurrieren mit ihnen zulässigerweise freie Wählervereinigungen - sogenannte Rathaus-Parteien. 28 Ihre Bedeutung ist aber vornehmlich auf kleinere Gemeinden beschränkt. 29 Neben diesen Parallelen zeigt ein Blick in die Kommunalordnungen jedoch, daß die Bestimmungen über Status und Rechtsstellungen des Rates wie der einzelnen Mitglieder sich wesentlich von entsprechenden Normen im Parlamentsrecht unterscheiden. So unterliegt der Rat z.B. der Überwa24 BVerfGE 7, 155ff., 167; „Zur Möglichkeit einer politischen Willensbildung auf gemeindlicher Ebene" siehe bes. Schröder, Grundlagen (Fn. 2), S. 348ff.; beachtenswert auch der Beschl. d. BVerfG v. 23.2.1972, BVerfGE 32, 346ff, zum Bayerischen Gemeindeabgabengesetz, in dem der 2. Senat kühn formuliert: „Auch wenn es sich bei dem Gemeinderat nicht um ein echtes Parlament handelt (vgl. BayVerfGH n.F. 5, 66, 76), ist er doch als demokratisch gewähltes Beschlußorgan insoweit (Erlaß von Satzungen, der Verfasser) dem Bereich der Legislative zuzuordnen." 25 Zum „politischen Charakter von Kommunalpolitik" auch Hans-Georg Wehling, Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1986 (= Beiträge zur Zeitgeschichte, Bd. 17), S. 9f. 26 Näher dazu Franz-Ludwig Knemeyer, Parteien im kommunalen Raum, Städteund Gemeindebund 1985, S. 291 ff.; ders., Bürgermeister und Gemeinderat - Position, Aufgaben und Selbstverständnis, in: Franz-Ludwig Knemeyer (Hrsg.), Bayerische Gemeinden - Bayerischer Gemeindetag, Festschrift „75 Jahre Bayerischer Gemeindetag", München 1987, S. 239ff, 250ff. 27 So Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 168. 28 Vgl. grundlegend BVerfGE 11, 266ff., 273ff. 29 Dazu Hans-Gerhard Stockinger, Die kommunale Wählervereinigungen in Bayern, Würzburg 1975; Thomas Möller, Die kommunalen Wählergemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München 1985; Knemeyer, Bürgermeister und Gemeinderat (Fn. 26), S. 254ff. - Mit dem Thema „Parteien i n der kommunalen Selbstverwaltung" befaßt sich Trachternach, Parteien (Fn. 13); zum Problemfeld „Parteien und Wahlen i n der Kommunalpolitik" beachte auch den Beitrag von Armin Klein, Strukturen politischer Willensbildung in der Gemeinde, Parteien und Wahlen in der Kommunalpolitik, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Kommunalpolitik im Wandel der Gesellschaft, Königstein/Ts. 1979, S. 94ff.
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chung durch staatliche Aufsichtsbehörden 30 , ein Selbstauflösungsrecht fehlt ihm. 3 1 Auch genießen einzelne Ratsmitglieder nicht die den Parlamentariern zukommenden Immunitätsrechte 32 , und schließlich ist die Pflichtenseite der Mitglieder kommunaler Vertretungskörperschaften beamtenrechtsähnlich ausgestaltet. 33 Ferner kommt hinzu, daß die Funktion des Rates unter dem Aspekt der Stellung der Gemeinden im Staat sich wesentlich unterscheidet von den Funktionen eines Parlaments. Der Rat als Hauptorgan einer Kommune hat zwar die Aufgabe der Rechtsetzung, nicht aber der Legislative. 34 Kommunale Rechtsetzungsautonomie besteht nur im Wirkungsbereich der zweiten Gewalt; der Rat ist demokratisch legitimiertes kollegiales (Selbst-) Verwaltungsorgan. 3 5 Unter dem Gesichtspunkt der Übertragbarkeit von Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu den Abgeordnetendiäten auf die Kommunalverfassungen hat Heuvels im einzelnen die parlamentskonvergenten Strukturelemente der Kommunalvertretung einerseits und die parlamentsdivergierenden Elemente andererseits herausgestellt. Zu Recht weist er darauf hin, daß Parallelen zwischen Parlament und Kommunalvertretung insbesondere hinsichtlich ihrer Konstituierung und inneren Organisation bestehen. Der gemeinsame Charakter als Volksvertretung mit repräsentativen Funktionen (Forum politischer Willensbildung, des Widerstreits und Ausgleichs politischer Interessen) wird im einzelnen unterstrichen dadurch, daß die gesetzliche und geschäftsordnungsmäßige Ausgestaltung der inneren Organisation und der Arbeitsabläufe der Gemeindevertretung parlamentarischen Regelungen nachempfunden ist. 3 6 Dementsprechend werden bei Lücken und 30 Vgl. nur Art. 108ff. BayGO oder §§ 106ff. NWGO; zum Aufsichtsrecht vgl. auch Franz-Ludwig Knemeyer, Die Staatsaufsicht über die Gemeinden und Kreise, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, Grundlagen, 2. Aufl., Berlin u.a. 1981, S. 265ff. 31 Zwar besteht ein solches auch nicht für den Bundestag, wohl aber beispielsweise für den nordrhein-westfälischen Landtag, Art. 35 Abs. 1 Satz 1 NWLV, und den Landtag des Freistaats Bayern, Art. 18 Abs. 1 BV. Andererseits kann ein Gemeinderat - freilich unter strengen Voraussetzungen - im Wege der Kommunalaufsicht aufgelöst werden, vgl. Art. 114 Abs. 3 BayGO oder § 111 NWGO. 32 Art. 46 I I GG; Art. 48 NWLV; Art. 28 BV; zur Indemnität vgl. z.B. Art. 51 I I BayGO (Art. 46 I GG; Art. 47 NWLV; Art. 27 BV). 33 Siehe dazu Wurzel, Usurpation (Fn. 20), S. 418, und auch Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 171: Den „parlamentsrechtlichen Strukturelementen in der Rechtsstellung des Gemeindevertreters stehen auf der anderen Seite solche gegenüber, die ihrer rechtlichen Natur nach dem Amtsrecht angehören oder an es angelehnt sind"; genannt wird die weitest verbreitete Pflicht des Ratsmitglieds, die Mandatsübernahme durch den Eid bzw. Verpflichtungserklärung zu bekräftigen, die Treuepflicht, das Mitwirkungs- und das Vertretungsverbot sowie die Verschwiegenheitspflicht. 34 Insoweit ist der oben (Fn. 24) zitierten Äußerung der BVerfG über die Zuordnung zur Legislative größte Vorsicht entgegenzubringen. 35 So auch Wurzel, Gemeinderat als Parlament (Fn. 2), S. 29ff.; dies., Usurpation (Fn. 20), S. 419f. 36 Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 167, m. Verweis auf Arnold Röttgen, Wesen und Reform der Gemeinden und Gemeindeverbände, in: Hans Peters (Hrsg.), Handbuch
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Auslegungsfragen nicht selten entsprechende Normen des Parlamentsrechts herangezogen. Zutreffend stellt Schröder fest: „Ist eine Lückenfüllung mit Hilfe des Sachgebiets gleichen Rechts und mit Hilfe allgemeiner Rechtsgrundsätze nicht möglich, kann der Rückgriff auf das Parlamentsrecht erwogen werden, wenn die Lücke dadurch systemgerecht geschlossen wird."37 Dem „ersten Gesicht" des Stadtrats, das ihn als Parlament erscheinen läßt, stellt Heuvels ein „zweites Gesicht" zur Seite - vornehmlich geprägt dadurch, daß dieser „als gemeindliches Organ funktioneller Bestandteil der kommunalen Selbstverwaltung ist und damit innerhalb des auf die Staatsgewalt als ganze bezogenen Gewaltenteilungsschema zur vollziehenden Gewalt zu rechnen ist." 3 8 Aus dem rechtlichen Befund entwickelt Heuvels folgende zusammenfassende Definition: „Die Gemeindevertretung ist das parlamentsähnlich konstituierte und organisierte gemeindliche Repräsentativorgan und in dieser Verfaßtheit oberstes gemeindliches (Selbst-)Verwaltungsorgan, das als solches sowohl politische als auch administrative Funktionen wahrnimmt und damit das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht realisiert." 39 Anzumerken gilt es freilich zu dieser Definition - und insoweit ist sie zu berichtigen - , daß hier nicht „sowohl politische als auch administrative Funktionen" wahrgenommen werden. Es handelt sich vielmehr um administrative Funktionen, die gegebenenfalls mit politischen Mitteln erfüllt werden. Festzuhalten ist, daß der Stadtrat trotz parlamentarisch-demokratischer Elemente auch weiterhin Verwaltungsorgan ist, der Wandel zum demokratischen Rechtsstaat hat auf die Einbettung der Kommunen in den zweiten Sektor des Gewaltenteilungssystems keine Auswirkungen gehabt. Für das einzelne Mitglied eines kommunalen Vertretungsorgans ergibt der rechtliche Befund, daß dieses „einen sich nach parlamentsrechtlichen Grundsätzen konstituierenden und strukturierenden repräsentativen Status eines gemeindlichen Volksvertreters innehat und in dieser Verfaßtheit Funktionsträger der gemeindlichen (Selbst-)Verwaltung ist, der als solcher sowohl politische als auch administrative Funktionen wahrnimmt und damit das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht realisiert." 4 0 Bezüglich der politischen als auch administrativen Funktionen ist die hier gegebene Definition ebenso zu korrigieren wie bereits vorne geschehen. der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 1. Aufl., Berlin u.a. 1956, S. 185ff., 199. 37 Schröder, Grundlagen (Fn. 2), S. 530; zahlreiche Beispiele aus der Rspr. der Verwaltungsgerichte nennt Schröder, Grundlagen (Fn. 2), auf S. 33 f. 38 Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 169; vgl. statt vieler Edzard Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, Stuttgart u.a. 1982, Rdnr. 71. 39 Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 170. 40 Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 173.
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b) Stadtverwaltung, Gemeindevorstand/Magistrat, Stadtregierung Anders als bei der Feststellung der kommunalverfassungsrechtlichen Position kommunaler Vertretungskörperschaften kann bei der Überprüfung der mit bürokratischen Mitteln handelnden Verwaltungsorgane - Stadtverwaltung, Gemeindevorstand - nur ein nach Kommunalordnungen differenziertes Bild gezeichnet werden. Vor dem Hintergrund der allgemein als Charakteristika einer Stadtregierung genannten Komponenten seien die einzelnen Kommunalordnungen überprüft um festzustellen, inwieweit sie Element einer „Stadtregierung" enthalten. Dabei werden folgende von Borchmann und Vesper für die „Stadtregierung" genannten Kriterien zugrunde gelegt: Trennung der Verwaltungsleitung vom Vorsitz in der Vertretungskörperschaft; Errichtung einer kollegialen Verwaltungsspitze, bestehend aus (Ober-)Bürgermeister und Stadträten bzw. Beigeordneten (als Kollegialregierung); Mehrheitswahl der haupt- und ehrenamtlichen Mitglieder der Kommunalregierung durch die Vertretungskörperschaft für die Dauer der Wahlperiode des Rates; Möglichkeit vorzeitiger Abwahl der Wahlbeamten durch die Vertretungskörperschaft mit absoluter Stimmenmehrheit. 41 Nach der „süddeutschen Rat s Verfassung" oder - die besonders starke Stellung des Bürgermeisters kennzeichnend - „süddeutschen Bürgermeisterverfassung" 42 in Baden-Württemberg und Bayern werden die drei Funktionen Ratsvorsitz, Verwaltungsleitung und Vertretung der Gemeinde nach außen in der Person des Bürgermeisters konzentriert, zudem wird der Bürgermeister unmittelbar von den Gemeindebürgern gewählt; eine vorzeitige Abwahl ist ausgeschlossen. Auch die Beigeordneten bzw. die „berufsmäßigen Gemeinderatsmitglieder" können nicht vorzeitig abgewählt werden. 43 Keines der von Borchmann und Vesper angeführten Charakteristika einer Stadtregierung ist hier erfüllt. Nach der hessischen Magistratsverfassung bildet der neben dem Gemeinderat bestehende Gemeindevorstand (Magistrat) „eine Art Gemeinderegierung mit dem Hauptverwaltungsbeamten an der Spitze." 44 Diesem (Ober-) Bürgermeister zur Seite stehen haupt- und ehrenamtliche Beigeordnete (Stadträte). Während die Wahlzeit der hauptamtlichen Wahlbeamten sechs 41
Borchmann / Vesper, Reformprobleme (Fn. 13), S. 76; vgl. auch Borchmann, Reform (Fn. 17), S. 316. 42 Siehe dazu Knemeyer; Bayerisches Komunalrecht, 6. Aufl., Stuttgart u.a. 1988, Rdnr. 230 f. 43 Die „berufsmäßigen Gemeinderatsmitglieder" werden in der Alltagssprache meist „Referenten", „ironisch zuweilen auch ,Stadtminsiter' genannt", Massoni Samper, Bayerische Kommunalgesetze, München, Stand: August 1987, Art. 40 Bay GO, Rdnr. 1. Außerdem kann gem. Art. 35 Abs. 1 Satz 2 Bay GO der Gemeinderat „berufsmäßige weitere Bürgermeister" wählen. 44 Wehling, Kommunalpolitik (Fn. 25), S. 111.
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Jahre beträgt, ist die der ehrenamtlichen der Wahlperiode des Gemeinderats angeglichen. Mitgliedschaft in Rat und Gemeindevorstand sind inkompatibel. Hauptamtliche Mitglieder des Gemeindesvorstands können vom Rat mit 2 /3-Mehrheit abgewählt werden. In Gemeinden mit mehr als 50 000 Einwohnern können darüber hinaus hauptamtliche Bürgermeister und hauptamtliche Beigeordnete inerhalb von sechs Monaten nach Beginn der Wahlzeit der Gemeindevertretung mit absoluter Ratsmehrheit vorzeitig abberufen werden. Hierdurch ist, wie Wehling zu Recht herausstellt, der „Schritt zum parlamentarischen System getan". 45 Nach der Bürgermeisterverfassung in Rheinland-Pfalz vereinigt der Bürgermeister die drei Funktionen Rats Vorsitz, Leitung der Verwaltung und Vertretung der Gemeinde nach außen in einer Person. Während der ehrenamtliche Bürgermeister für die Dauer der Wahlperiode vom Rat gewählt wird, wird der hauptamtliche Bürgermeister vom Rat auf zehn Jahre gewählt. Abwahl ist in jedem Fall mit 2/3-Mehrheit möglich. Bei der Verwaltungsleitung w i r d der Bürgermeister von Beigeordneten unterstützt, die wie dieser gewählt werden und vorzeitig abwählbar sind. Seit 1973 gibt es in Mittelstädten mit mehr als zwei hauptamtlichen Beigeordneten mit der Einführung des Stadtvorstandes eine wesentliche Annäherung an die hessische Magistratsverfassimg. Wie bei dieser zeigt sich hier eine Reihe von Elementen der „Stadtregierung". 46 Auch im Saarland gilt die Bürgermeisterverfassung. Der Bürgermeister steht dem Gemeinderat vor, besitzt aber kein Stimmrecht. Nach der norddeutschen Ratsverfassung in Niedersachsen w i r d der Vorsitzende aus der Mitte des Rates gewählt. Neben ihm steht als Hauptverwaltungsbeamter der Gemeindedirektor, den der Rat auf sechs oder zwölf Jahre wählt. Er vertritt die Gemeinde nach außen und kann vom Rat mit 3/4-Mehrheit vorzeitig abberufen werden. Weitere hauptamtliche Wahlbeamte (Gemeinderäte, Stadträte) sind nicht vorzeitig abwählbar. Als niedersächsische Besonderheit der norddeutschen Ratsverfassung besteht neben dem Rat als eigenständiges Gemeindeorgan der Verwaltungsausschuß. Nach der norddeutschen Ratsverfassung in Nordrhein-Westfalen wird der Ratsvorsitzende aus der Mitte des Rates gewählt. Er kann nur mit einer Mehrheit von 2Δ der gesetzlichen Zahl der Ratsmitglieder abberufen werden. Hauptverwaltungsbeamter ist der vom Rat für die Dauer von acht Jahren gewählte Gemeindedirektor (bei Ehrenamtlichkeit entspricht die Amtszeit 45
Wehling, Kommunalpolitik (Fn. 25), S. 71. Hingewiesen sei nur darauf, daß der Bürgermeister in der „Bürgermeisterverfassung" eine weit schwächere Position als der Bürgermeister in der süddeutschen Ratsbzw. Bürgermeisterverfassung besitzt, in der der Rat, wenn auch verfassungsrechtlich kommunales Hauptorgan, so politisch doch schwächer ist. Siehe dazu Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht (Fn. 42), Rdnr. 230 bis 235. 46
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der Wahlperiode des Rates). Verglichen mit anderen Bundesländern, ist seine Position eher schwach, bestimmt noch durch das jederzeitige Rückholrecht durch den Rat. Gemeindedirektor und Beigeordnete können mit 2 /3-Mehrheit des Rates vorzeitig abberufen werden. Die derzeitig besonders intensiv geführte Diskussion um eine Reform des Kommunalverfassungsrechts in Nordrhein-Westfalen wird zeigen, inwieweit man einer kommunalverfassungsgemäßen Rollenverteilung entsprechen wird oder Tendenzen zur Parlamentarisierung und Stadtregierung nachgibt. 47 Das Kommunalverfassungsrecht Schleswig-Holsteins ist mit vier möglichen Systemen durch eine besondere Zersplitterung gekennzeichnet. 48 Die unechte Magistratsverfassung gilt für Städte, die unechte Bürgermeisterverfassung für die von einem hauptamtlichen Bürgermeister verwalteten Gemeinden, die echte Bürgermeisterverfassung für Gemeinden mit ehrenamtlichen Bürgermeistern und schließlich existiert eine Gemeindeversammlungsverfassung für Gemeinden bis zu 70 Einwohnern. 49 Insgesamt muß festgestellt werden, daß namentlich die Elemente der Abwahl die Positionen der Räte gestärkt haben. Dies geschah sicherlich nach dem Vorbild parlamentarischer Regierungs- und Ministerverantwortlichkeit und stellt damit einen Schritt in Richtung zu einer Annäherung an das parlamentarische System und das System der „Stadtregierung" dar. Hingewiesen sei allerdings darauf, daß man vielfach mit diesen „Reformen" nicht glücklich ist. Ihre Fortexistenz auf Dauer scheint noch keineswegs gesichert zu sein.
47 Die Veröffentlichungen hierzu sind kaum noch überschaubar. Exemplarisch genannt seien der Beitrag von Udo Steiner, „Besser verfaßte Gemeinden durch Änderung des Gemeindeverfassungsrechts in Nordrhein-Westfalen. Überlegungen zu einer geplanten Reform", Der Städtetag 1975, 600ff., sowie die Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge - u. a. von Herbert Schnoor und Gerhard Banner - in den Heften 8/9 und 11 des Jahres 1987 der Zeitschrift „Städte- und Gemeinderat", hrsg. vom Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebund; siehe dazu auch meine Zusammenstellung und Wertung in: Der Gemeinderat 1988, Heft 11, S. 14 f , sowie Peter Michael Mombaur (Hrsg.), Neue KommunalVerfassung für Nordrhein-Westfalen, Beiträge und Analysen aus der Praxis, Köln 1988 (= Nordrhein-Westfälischer Städte- und Gemeindebund, Abhandlungen zur Kommunalpolitik, Bd. 13). 48 Vgl. Borchmann / Vesper, Reformprobleme (Fn. 13), S. 39. 49 Vgl. Heinz Dreibus, Die Bürgermeisterverfassung in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Schleswig-Holstein, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, Kommunalverfassung, 2. Aufl., Berlin u.a. 1982, S. 241 ff.
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3. Rückbesinnung auf die kommunalverfassungsgemäße Rollenverteilung zwischen den Hauptorganen a) Der Rat als unmittelbar legitimiertes
(Selbst-)Verwaltungsorgan
Dem Wandel vom kollegialen Fachverwaltungsorgan zum demokratischlegitimierten kollegialen Repräsentativorgan zur Wahrnehmung der politischen Komponente kommunaler Administration entspricht das skizzierte, partiell parlamentarische Erscheinungsbild der Räte. Ob darüber hinausgehend eine Parlamentarisierung angebracht ist, kann nicht nur kommunalverfassungspolitisch entschieden werden. Betrachtet man die einzelnen Argumente, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß die von Heuvels gegebene (gering korrigierte) Definition 5 0 , die auf die Doppelgesichtigkeit abstellt, dem rechtlichen Befund ebenso wie den tatsächlichen Bedürfnissen entspricht. Aus der konstatierten zunehmenden Politisierung ist keineswegs auf die Notwendigkeit der Umformung des kollegialen Verwaltungsorgans zu einem Parlament zu schließen; auch die Tatsache, daß die Willensbildung maßgeblich von den politischen Parteien getragen wird, fordert keine Parlamentarisierung. 51 Namentlich Wallerath zeigt dies in seiner Untersuchung über „Strukturprobleme kommunaler Selbstverwaltung - Rat und Verwaltung im gemeindlichen Willensbildungsprozeß" 52 im einzelnen auf. Auch die Aufgabenverteilung - grundsätzliche Willensbildung hier, verwaltungsmäßige Vorbereitung und Vollzug dort - fordern keine Parlamentarisierung. Zudem ist es keine Frage der Machtverteilung, ob dem unmittelbar von der Bürgerschaft gewählten kollegialen Vertretungsorgan Parlamentsstatus zukommt oder „nur" ein maßgeblicher Teil von Verwaltungsaufgaben. Schließlich stellt es keine Frage der Wertigkeit dar, ob ein Stadtrat Parlamentsstatus oder Verwaltungsorganstatus besitzt. Die (vermutete) politische Aufwertung durch Parlamentarisierung ist allenfalls begründet in einer vom „Aufwertungsgesichtspunkt" gekennzeichneten Angleichung an die Parlamente sowie in der Schwarzweißzeichnung der Medien mit ihrer suggerierten Höherbewertung der großen Politik und der Abwertung der 50
Vgl. oben S. 748. Schmidt-Eichstaedt, Machtverteilung (Fn. 3), S. 30, stellt die Frage, ob es „nicht ehrlicher wäre", jedenfalls für die Großstädte, „ein echtes parlamentarisches System einzuführen", und gelangt zu dem - nicht klar vollziehbaren - Ergebnis, es gebe keinen Grund, den kommunalen Vertretungskörperschaften die Anerkennung als vollwertige Parlamente zu versagen (S. 31m. Belegen pro u. contra). Dies ist um so unverständlicher, als er das dem parlamentarischen System korrespondierende System einer Stadtregierung ablehnt (a.a.O.); dazu auch Knemeyer, Bürgermeister und Gemeinderat (Fn. 26), S. 239ff. 52 Maximilian Wallerath, Strukturprobleme kommunaler Selbstverwaltung, DÖV 1986, S. 533ff. 51
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„Sandkastenspiele" - das weite politische Parkett einerseits und die Schule der Demokratie andererseits, in der man sich nur auf die große Politik vorbereiten könne. Letztlich ist es die Doppelgesichtigkeit des Stadtrats, die eine Parlamentarisierung sogar verbietet. Gerade diese „ Janusköpfigkeit" macht den Rat zu einem eigenen Typus und begründet seine eigen-artige, vom Parlament abgehobene Stellung. Zudem ist es gar nicht möglich, die eine Komponente der Verwaltung sauber von der anderen zu trennen. Eine „Zerlegung des Aktionsfeldes des Gemeindevertreters in einen politisch-parlamentsrechtlichen und einen administrativ-amtsrechtlichen Bereich" verbietet sich, da beide Elemente sich wechselseitig durchdringen und einander relativieren und modifizieren. 53 Schließlich ist eine Parlamentarisierung nicht unter dem Gesichtspunkt einer funktionsadäquaten „Machtverteilung auf kommunaler Ebene" zu begründen. Wie das Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG auf den staatlichen Bereich beschränkt ist 5 4 , ergibt sich im kommunalen Bereich durch die Aufgabenteilung zwischen politischer und administrativer Ebene auch unter dem Aspekt funktionsgerechter Verteilung von Gemeindegewalt ein System von checks and balances mit genügender Möglichkeit, die Entfaltung von Hoheitsmacht gegen Mißbrauch zu sichern und gleichzeitig eine effektive Aufgabenerledigung zu gewährleisten. „Tatsächlich hat das Gemeindeverfassungsrecht den Mechanismus, jeweils unterschiedliche Aufgabenfelder zusammenzufassen und verschiedenen Organen mit einer entsprechend angepaßten, funktionsgerechten Organstruktur im Sinne einer Herrschaftsordnung ,des Maßes' zuzuordnen, in eigenständiger Weise aufgegriffen und differenzierte Formen machtbeschränkender Aufgabenverteilung entwickelt, die auf die besonderen Gesetzlichkeiten kommunaler Selbstverwaltung abgestellt sind. Ihr wesentliches Merkmal ist der Rückgriff auf das ehrenamtliche, politische Element einerseits und das hauptamtliche administrative Element andererseits." 55 Mehr als die zunächst äußerlich erscheinende Frage nach einer Parlamentarisierung 53 Heuvels, Diäten (Fn. 18), S. 172 f., unter Bezugnahme auf Schröder, Grundlagen (Fn. 2), S. 413. 54 H. M. - Die Niedersächsische Sachverständigenkommission zur Fortentwicklung des KommunalVerfassungsrechts formuliert in ihrem vom Nds. Minister des Innern 1978 herausgegebenen Bericht kurz und prägnant (S. 107): „ I n der Gemeinde und im Kreis gibt es keine Gewaltenteilung zwischen Vertretung und Verwaltung im staatsrechtlichen Sinne. Alle Organe gehören zur Verwaltung im Sinne des Gewaltenteilungsschemas." Vgl. im übrigen Wallerath, Strukturprobleme (Fn. 52), S. 533 f. m.w.N. und 538. 55 Wallerath, Strukturprobleme (Fn. 52), S. 538f. m.N. Wallerath nimmt dann im einzelnen zutreffend zur Gewichtigkeit der verschiedenen Ebenen und der gegenseitigen Ausbalancierung der Macht Stellung. Auf seine Antworten zur Vorstellung von der „Überlegenheit" des administrativen gegenüber dem politischen Subsystem und Formen „bürokratischer Sabotage", S. 540, braucht hier nur hingewiesen zu werden.
48 Festschrift P. Mikat
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erfordert die Frage des funktionsgerechten Rollenverhaltens eine Lösung. 56 Es gilt, zurückzufinden zur richtigen Aufgabenverteilung; der Rat hat sich auf Grundsätzliches zu beschränken; Routineangelegenheiten sowie die geschäftsmäßige Abwicklung der Verwaltung muß die kommunale „Bürokratie" eigenverantwortlich, ohne Beteiligung der Vertretungskörperschaft wahrnehmen. Daran ändert auch nichts der Kontrollauftrag des Rates über seine Verwaltung. Diese Kontrolle ist - richtig verstanden - nicht Detailkontrolle, sondern allgemeine Richtungs- und Evidenzprüfung. 57 Den Parlamentsbegriff sollte man dementsprechend dem Bereich der dreiteilungsbestimmten Staatsgewalt vorbehalten; die kommunale Ämterverfassung, die allein der zweiten Gewalt zugehört, ist verfassungsbestimmt nicht parlamentarisch. b) Die Rolle der kommunalen
„Bürokratie"
Wie der rechtliche Befund gezeigt hat, sind die Flächenstaaten in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zu einer Stadt- bzw. Kommunal„Regierung" unterschiedlich weit gegangen. Am stärksten ausgeprägt ist dieses System in Hessen, wo die Leitung der Verwaltung und der Vorsitz im Rat unvereinbar sind, die Verwaltungsspitze aus einem Kollegium besteht, das vom Rat gewählt w i r d und vorzeitig abgewählt werden kann. Ähnlich verhält es sich in den schleswig-holsteinischen Städten (ca. 10% der Gemeinden), wobei dort allerdings keine derart strenge Inkompatibilität zwischen Rats- und Magistratszugehörigkeit besteht wie in Hessen. Auch ist die in Hessen gegebene Möglichkeit, in Gemeinden mit mehr als 50 000 Einwohnern die hauptamtlichen Magistratsmitglieder binnen sechs Monaten nach Beginn der Wahlperiode des Rats abzuberufen, bislang einmalig. Am weitesten entfernt von einer Stadtregierung ist man (zumindest de jure) in Baden-Württemberg und Bayern. Anläßlich der Referentenwahlen in München im Frühjahr 1988 betitelten zwar manche Zeitungen entsprechende Berichte mit Überschriften wie: „Erstmals grüner Stadtminister", doch in ihnen kommt nicht die Rechtslage, sondern - abgesehen von einer gewissen „Ironie" 5 8 - wohl eher das journalistische Streben nach einer plakativen, griffigen, verständlichen Umschreibung einer komplizierten Materie zum Ausdruck.
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Dazu näher Wallerath, Strukturprobleme (Fn. 52), S. 544f.; siehe auch Knemeyer, Der Gemeinderat 1988, Heft 11, S. 14f. 57 Zur Kontrollfunktion des Gemeinderats vgl. auch Knemeyer, Bürgermeister und Gemeinderat (Fn. 26), S. 249. 58 Vgl. Masson / Samper, Bayerische Kommunalgesetze (Fn. 43), Art. 40 BayGO, Rdnr. 1.
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Zwischen den Extremen Hessen einerseits und Baden-Württemberg und Bayern andererseits liegen die Verfassungen der übrigen Flächenstaaten. Wie bereits vorne angesprochen 59, wird in dem dem Jubilar am nächsten stehenden Land eine Reform des kommunalen Verfassungssystems nach mehrfachen vergeblichen Diskussionen nunmehr recht intensiv erörtert. So hat dann letztlich auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor entsprechende Anstöße aufgenommen. Er forderte auf der 7. Ordentlichen Landesdelegiertenkonferenz der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik Nordrhein-Westfalen in Krefeld am 26.9.1987, über Defizite in der Kommunalverfassung nachzudenken. In seinem mit „überraschender Vorstoß" überschriebenen Bericht referiert Burghof: „Die Kommunalpolitik, konstatierte der Landesminister, drohe zu degenerieren, und er fragte, ob die Grundbedingungen für die Kommunalpolitik überhaupt noch stimmten. Die Sicherung des komunalen Freiraums, so Schnoor, sei eine Sicherung der Demokratie in unserer Gesellschaft und er befürchte, daß die Kommunalpolitik für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben nicht hinreichend gerüstet sei. Nach 40 Jahren GO in NRW müsse man Bilanz ziehen. Im Klartext: Schnoor w i l l der in der GO festgeschriebenen Zweigleisigkeit - hier der OB als Repräsentant des Rates, dort der Oberstadtdirektor als Chef der Verwaltung - an den Kragen." 6 0 Die Weichen für eine Reform der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung sind jedoch noch nicht gestellt. Ein Abschied von der dualen Spitze und ein Ja zur monokratischen würde auch eine Absage an eine Stadtregierung bedeuten. Vollends klar käme dies zum Ausdruck durch eine Entscheidung zugunsten der Urwahl des (Ober-)Bürgermeisters, die ebenfalls erörtert wird. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Stadtregierungssystems wird insbesondere im Hinblick auf Art. 33 und 28 GG bezweifelt. Selbst wenn man sie bejahen sollte, hieße dies noch lange nicht, daß die Realisierung auch erstrebens- und wünschenswert wäre. Zu Recht weist Borchmann61 auf eine Reihe von Nachteilen hin. Eine auf vier oder fünf Jahre verkürzte Amtszeit der kommunalen Spitze berge ein Risiko für die Qualität der Verwaltung. Die kommunalen Wahlämter würden unattraktiv. Zudem würde in Kommunen mit relativ ausgeglichener Wählerstruktur die Anwendung des Kommunalregierungssystems bei wechselnden Mehrheiten recht häufig eine Auswechselung des hauptamtlichen Wahlbeamtengremiums 59
Siehe vorne S. 10, 11. Ansgar Burghof, Überraschender Vorstoß des Innenministers, Die Demokratische Gemeinde 10/1987, S. 42; dazu insges. auch Knemeyer, Der Gemeinderat 1988, Heft 11, S. 14f. 61 Borchmann, Kommunale Selbstverwaltung und parlamentarische Organisation (Fn. 15), S. 867. 60
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bewirken; „Kontinuitätslücken" könnten entstehen, die „durch die Angleichung von Wahl- und Amtszeiten bewirkte ,Anpassung an die eingetretene Politisierung 4 (würde) keine statische Erscheinung sein, sondern dynamische Folgen haben"; durch die Institutionalisierung solcher „Politisierung" über eine Kommunalregierung würden bereits bestehende Klüfte zwischen den politischen Gruppierungen noch ausgeweitet; „Konsequenz wird eine weitere Zurückdrängung der fachlichen Qualität in der kommunalen Verwaltungsspitze sein. " Im Jahre 1975 hat Steiner am Ende seiner Erörterungen zur „besser verfaßten Gemeinde" 62 bemerkt: „Die vorausgegangene Bewertung kommunalverfassungsrechtlicher Modelle soll nicht vergessen machen, daß in der kommunalen Verfassungsfrage ein begrenzter Relativismus angebracht ist. Denn die Erfahrung hat gezeigt, daß die Gemeinden mit allen gegenwärtig praktizierten Spielarten des Kommunalverfassungsrechts leben können. " Diese Feststellung gilt in ihrer Grundaussage auch heute, selbst wenn Vorteile und Nachteile des einen wie anderen Systems heute vielleicht deutlicher angesprochen werden. Als besondere Vorteile der „süddeutschen Rats- oder Bürgermeisterverfassung" wird vor allem die Urwahl des Bürgermeisters mehr und mehr in den Vordergrund gestellt, weil sie eine zu starke Politisierung der kommunalen Verwaltung verhindert, Parteien und Wählervereinigungen zwingt, bei der Präsentation des Kandidaten seine Wählbarkeit zu kalkulieren, und überzogene parteiinterne Interessen zurücktreten müssen. Sie verlangt Kompromißbereitschaft der politischen Gruppen, sichert den Gewählten ein hohes Maß an Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber „seiner" Partei bzw. Wählergruppe. Schließlich aktiviert und integriert diese Verfassung die Bürger. - Die Urwahl des Bürgermeisters verlangt aber auch eine starke Rechtsstellung des Gewählten. Wäre er nur Vorsitzender der kommunalen Vertretungskörperschaft und kommunales Repräsentativorgan, so würde dies den Aufwand um die Direktwahl nicht lohnen. Als Vorsitzender im Rat und Leiter der Gemeindeverwaltung kommt dem Bürgermeister dagegen eine wichtige Scharnierfunktion zu. Für den Bürger erscheint - wenn nicht allein, so doch primär der Bürgermeister verantwortlich. 63 Schuld- und Verantwortungszuweisungen zwischen Ratsvorsitzenden und Verwaltungschef kennt der Bürger nicht. Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Argument führt schließlich Wehling an: „Die Machtfülle und der damit verbundene weite Gestaltungsspielraum des Bürgermeisters . . . machen das Amt attraktiv für starke Persönlichkeiten, die einfallsreich, unkonventionell, unabhängig im 62
Steiner, Besser verfaßte Gemeinden (Fn. 47), S. 604. Zu Position, Funktionen und Selbstverständnis des bayerischen Bürgermeisters vgl. Knemeyer, Bürgermeister und Gemeinderat (Fn. 26), S. 259ff. 63
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Denken und durchsetzungsfähig sind." 6 4 Dagegen sind die Bedenken von Klüber 65, Einfluß und Machtbereich des Bürgermeisters gingen „bis an die äußerste Grenze dessen, was in einer Demokratie einem einzelnen noch eingeräumt werden kann", wohl überzogen. Zwar hat der Bürgermeister mit „seiner" Verwaltung eine Dominanz über den Rat, eine „Entmachtung der Räte" kann aber nicht registriert werden. Das System Gemeinderat - Verwaltung ist gut austariert; beide Organe sind zudem in einem immer engmaschiger werdenden Netz von Rechtssätzen gefangen. Wehling betont dementsprechend auch zu Recht, daß die Gemeinderäte, bedingt durch die besonders gearteten KommunalVerfassungsstrukturen in Baden-Württemberg und Bayern, trotz oder sogar wegen der „starken" Bürgermeister auch am ehesten ihr überkommenes Profil haben wahren können. Der Bürgermeister kann gerade wegen seiner umfassenden Kompetenzen dem Gemeinderat viel Kleinarbeit abnehmen, damit dieser sich auf die eigentlichen grundsätzlichen Entscheidungen konzentrieren und damit erst die demokratische Mitwirkung im Rat wieder attraktiv machen kann. 6 6 Nicht Angleichung an Parlament und Regierung, sondern selbstverwaltungsentsprechende Ausgestaltung und Wahrnehmung der Aufgaben in der je eigenen Rolle von Rat, Bürgermeister und kommunaler „Bürokratie" sind rechtlich und politisch geboten. c) Ein Grundmodell zur Reform der inneren Kommunalverfassung Ein diese Voraussetzungen beachtendes „Grundmodell zur Reform der inneren Kommunalverfassung" hat der Sachverständigenrat zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung bei der Konrad-AdenauerStiftung unter dem Titel „Politik und kommunale Selbstverwaltung" im Jahre 1984 veröffentlicht. Dieses Grundmodell basiert auf den folgenden Empfehlungen, die nur zu unterstreichen sind, weil sie die Position der Kommunen im Staat richtig bestimmen, die maßgeblichen Voraussetzungen für eine positionsentsprechende Rollenverteilung innerhalb des Bereichs Verwaltung kennzeichnen und damit die Basis für eine Parlamentarisierung der Stadträte und die Bildung einer Stadtregierung entziehen. Der Sachverständigenrat fordert zur Sicherung der inneren Verfassung und Führungsorganisation der Kommunen ein Bündel sorgsam aufeinander abgestimmter Maßnahmen: 64 Hans-Georg Wehling, Die süddeutsche Ratsverfassung in Baden-Württemberg und Bayern, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, Kommunalverfassung, 2. Aufl., Berlin u.a. 1982, S. 230ff, 240. 65 Hans Klüber, Das Gemeinderecht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Berlin u.a. 1972, S. 156. 66 Vgl. Knemeyer, Bürgermeister und Gemeinderat (Fn. 26), S. 245, sowie allgemein Hans-Georg Wehling, Der Bürgermeister und „sein" Rat, Politische Studien, Nr. 273, Januar/Februar 1984.
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, - Das Prinzip der Ehrenamtlichkeit muß gestärkt werden. Erforderlich ist eine zeitliche Entlastung der Räte durch Aufgabenentlastung und verbesserte Zuarbeit durch die örtlichen Parteien. - Die Fähigkeit der Räte zur politischen Entscheidung ist durch eine intensivere Ratsbeteiligung an der Entscheidungsvorbereitung zu stärken. Dazu muß die Arbeit der Ratsausschüsse gestrafft und eine neue Form der Kooperation zwischen Rat und Verwaltung entwickelt werden. - Rat und Verwaltung sind in der Weise miteinander zu verknüpfen, daß die Funktionen des Ratsvorsitzenden und des Leiters der Verwaltung in einer Hand vereint sind. - Die Arbeitsteilung zwischen Ratsfraktion und örtlicher Partei muß verbessert werden. Die Partei muß die Funktion eines Zuarbeiters für die Fraktion übernehmen. Bei der Auswahl der Ratskandidaten sollten die Parteien Außenaktivitäten der Bewerber stärker berücksichtigen. - Die Räte müssen stärker als bisher die Funktion der politischen Steuerung wahrnehmen können. Dazu ist ihre Entlastung von Detail- und Routineentscheidungen notwendig. - Entsprechend sind dem Bürgermeister als Ratsvorsitzendem und Leiter der Gemeindeverwaltung ausreichende eigene Zuständigkeiten zu gewährleisten. - Anstelle eines Magistrats wird einem Beigeordnetensystem der Vorzug gegeben. - An die Qualifikationen der Beigeordneten sind höchste Anforderungen zu stellen. - Der Bürgermeister kann sowohl unmittelbar von den Bürgern als auch mittelbar durch den Rat gewählt werden." 67
67 Sachverständigenrat zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung beim Institut für Kommunalwissenschaften der Konrad-Adenauer-Stiftung, Politik und kommunale Selbstverwaltung, Grundmodell zur Reform der inneren Kommunalverfassung, Köln u.a. 1984 (= Veröffentlichungen der Konrad-Adenauer-Stiftung, Institut für Kommunalwissenschaften), S. 33, auszugsweise auch veröff. in: Städteund Gemeinderat 8/9-1987, Dokumentation, hier S. VII).
Das Staatslexikon und der Staat Ein geschichtlicher Rückblick Von Hermann Krings I. Am 26. September 1976, im zehnten Jahr seiner Präsidentschaft, gab Paul Mikat den Beschluß des Vorstandes der Görres-Gesellschaft bekannt, eine Neuauflage des Staatslexikons in Angriff zu nehmen. Dieses geschah bei der Generalversammlung der Gesellschaft in Koblenz anläßlich ihres hundertjährigen Bestehens. Neunundneunzig Jahre nach dem Entschluß der damals noch jungen Gesellschaft (gegründet 1876), ein Staatslexikon zu begründen, begannen die Vorarbeiten zu dessen siebter Auflage. Daß es zu diesem Beginn gekommen ist, ist in hohem Maß dem Präsidenten zu verdanken. Er hatte die Initiative ergriffen und der kontroversen Diskussion über seinen Vorschlag länger als ein Jahr Zeit gelassen. Nachdem der Vorstand der Görres-Gesellschaft am 10. Mai 1975 die Frage einer neuen Auflage des Staatslexikons erörtert hatte, beauftragte er ein Gremium von zwölf Personen, die Vorberatungen aufzunehmen. Unter der Leitung des Präsidenten ist das Gremium in der Zeit vom Juli 1975 bis zum März 1976 viermal zu Beratungen zusammengetreten. Die erste Sitzung fand am 17./18. Juli 1975 in Freiburg statt. Die Beratungen wurden durch ein Referat von Clemens Bauer, der den Vorsitz im Redaktionskomitee der Gesellschaft für die sechste Auflage geführt hatte, eröffnet. Aus der Sicht der sechsten Auflage untersuchte er kritisch die Frage einer Neuauflage mit dem Ergebnis, der damalige Zeitpunkt sei für eine Neuauflage verfrüht. Die Meinungen im Gremium erwiesen sich als unterschiedlich. Die einander entgegenstehenden Argumente für oder wider eine Neuauflage lassen sich in äußerster Verkürzung folgendermaßen skizzieren: Die sechste Auflage wie auch die vorhergehenden Auflagen basierten auf einer gewissen Einheitlichkeit der Doktrin, für welche die Stichworte „Naturrechtslehre" und „Katholische Soziallehre" repräsentativ waren. Diese Einheitlichkeit könne für eine siebte Auflage nicht mehr vorausgesetzt werden. 1 1 Dieses Bedenken scheint nicht zufällig und nicht zeitbedingt zu sein. Während der Vorarbeiten zur ersten Auflage des Staatslexikons referiert Julius Bachem vor der Section für Rechts- und Socialwissenschaft am 28. August 1878 über den Stand der
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I m B e f u n d s t i m m e n alle D i s k u t a n t e n überein, n i c h t aber i n der Bewertung. D i e einen u r t e i l t e n , b e i der z u e r w a r t e n d e n U n e i n h e i t l i c h k e i t der S t a n d p u n k t e u n d L e h r m e i n u n g e n w ä r e ein Staatslexikon, so w i e es der GörresGesellschaft entspräche u n d v o n i h r v e r a n t w o r t e t w e r d e n könne, z u r Z e i t n i c h t möglich. Dieses Bedenken w u r z e l t e e i n m a l i n dem hohen A n s p r u c h , u n t e r den sich die Görres-Gesellschaft v o n A n f a n g b e i der Herausgabe des Staatslexikons
gestellt hatte. Dieser A n s p r u c h betraf n i c h t n u r das wissen-
schaftliche N i v e a u der Beiträge, sondern auch die „ W a h r u n g des k a t h o l i schen S t a n d p u n k t e s " . 2 Andererseits w i r k t e n die E r f a h r u n g e n nach, welche die R e d a k t i o n bei der E r a r b e i t u n g der d r e i Ergänzungsbände der sechsten Auflage wenige Jahre zuvor gemacht hatte; i n einigen F ä l l e n h a t t e es n i c h t n u r an der E i n h e i t l i c h k e i t i m G r u n d s ä t z l i c h e n gefehlt, sondern auch „ e i n seitige S i c h t e n " m u ß t e n i n K a u f genommen werden. 3 W e r diese E r f a h r u n g e n als einen T r e n d verstand, mußte das V o r h a b e n einer siebten Auflage f ü r p r o blematisch, w e n n n i c h t f ü r u n d u r c h f ü h r b a r halten. U n t e r W ü r d i g u n g dieser ernsten Bedenken k a m e n andere Teilnehmer der Beratungen zu einer anderen Bewertung. A u c h dann, w e n n eine gemeinsame D o k t r i n n i c h t m e h r zugrunde gelegt u n d ein katholischer S t a n d p u n k t f ü r zahlreiche Problemlagen i n den Bereichen Recht, W i r t s c h a f t , Gesellschaft n i c h t ohne weiteres ausgemacht w e r d e n könne, sei eine Neuauflage des Staatslexikons
n o t w e n d i g u n d möglich. E i n e Analyse der i n den letzten
Vorarbeiten. Dabei macht er „eine Bemerkung allgemeinerer Art", daß es nämlich „an ermunternder Zustimmung, aber auch an besorgten Abmahnungen nicht gefehlt" habe. Unter den geäußerten Bedenken findet sich auch das folgende: „ . . . bezüglich der wichtigsten prinzipiellen Fragen (sei) eine volle Klärung noch nicht erreicht, so daß die nöthige Einheitlichkeit schwer zu erreichen sein werde" (Jahresbericht der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland für das Jahr 1878, Köln 1879, S. 18). Damals, 1878, hieß es „noch nicht"; 1975 hieß es „nicht mehr". 2 So schon in dem Programm von Alfons Beilesheim für die erste Auflage (vgl. Jahresbericht 1878, S. 20) und dann im Vorbericht zur ersten Auflage (Band I, Freiburg i.B. 1889), dessen Zielsetzung auch für die folgende Auflage Geltung behielt. Im Vorwort zur sechsten Auflage (Band I, Freiburg i.B. 1957) artikuliert Hans Peters, der damalige Präsident, den gleichen Anspruch, wenn auch in einer weniger konfessionell-katholischen Form. „Das entscheidende Kennzeichen und Unterschiedsmerkmal des Staatslexikons gegenüber anderen ähnlichen Werken" bestehe darin, daß „es die Maßstäbe deutlich machte, die sich aus der Verbundenheit mit der großen christlichen Überlieferung und Zielsetzung des Abendlandes ergeben". Im Vorwort zur 7. Auflage (Band I, 1985) heißt es: „Den Zielsetzungen der Gesellschaft entsprechend lassen sich die Herausgeber von den Ideen der Wahrheit und des Rechts leiten und wissen sich der christlichen Offenbarung und der Lehre der Kirche verpflichtet." 3 Paul Mikat, der damalige Präsident, schreibt im Vorwort zum ersten Ergänzungsband (= Bd. 9 der 6. Aufl., Freiburg i.B. 1969), „daß sich Herausgeber und Redaktionskomitee mit den Ergänzungsbänden des Staatslexikons nicht in der gleichen Weise identifizieren können, wie es beim Grundwerk noch weithin der Fall war. Manche hier veröffentlichen Beiträge werden bewußt zur Diskussion gestellt und unterliegen in noch viel ausgeprägterem Maße als in der Stammauflage der persönlichen Verantwortung der Verfasser als Ausdruck ihrer eigenen Meinung und Haltung. Herausgeber und Redaktionskomitee haben darum bewußt die damit zum Teil verbundenen einseitigen Schichten in Kauf genommen."
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zwanzig Jahren veränderten Problemlagen aus christlicher Sicht und eine durch sie orientierte Argumentation, nicht zuletzt auch die Einbeziehung der jüngeren kirchlichen Verlautbarungen in die Diskussion seien geboten. Zudem gebe es eine große Anzahl neuer, ethisch relevanter Problemfelder, die zur Zeit der Abfassung der sechsten Auflage noch nicht zur Debatte gestanden hätten. Gerade die beginnende ethische Diskussion müsse aufgegriffen werden. Die zum Teil stürmischen Entwicklungen im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und in den Wissenschaften, der Ausbau des Sozialstaates, die internationalen Verflechtungen und Konflikte zwischen Nord und Süd, West und Ost, aber auch die Energiefrage, Umweltproblematik, die Entwicklungspolitik, die Medienpolitik, medizinische Grenzfragen und andere neue Problemfelder sollten zentrale Themen der siebten Auflage des Staatslexikons werden. Die neue Auflage würde in weiten Teilen von einer neuen Generation von Autoren geschrieben werden, welche die Aufgaben dieses Staatslexikons zu begreifen, durchaus imstande seien und in den einschlägigen Disziplinen auch in hinreichender Zahl zur Verfügung ständen. Im Protokoll der vierten (und letzten) Sitzung des vorbereitenden Gremiums am 30.4./1.5.1976 heißt es: „Der Präsident faßte sodann noch einmal die Diskussion der beiden Tage in ihren wesentlichen Ergebnissen zusammen. Der von ihm gestellte Antrag: ,Das Gremium für die Vorbereitung einer Neuauflage des Staatslexikons empfiehlt dem Vorstand der GörresGesellschaft, an dem Beschluß, eine Neuauflage des Staatslexikons in Angriff zu nehmen, festzuhalten und die weiteren Schritte zur Verwirklichung des Planes in Angriff zu nehmen4, wurde von der Kommission angenommen." Dieser Beschluß wurde vom Vorstand der Gesellschaft am 2.7.76 bestätigt. Der Präsident hatte inzwischen schon die Initiative zu einem Verlagsvertrag mit dem Verlag Herder sowie zur Lösung der Frage der Finanzierung ergriffen. Eine kleine Arbeitsgruppe wurde mit der Erstellung einer Gesamtkonzeption für die Neuauflage beauftragt. Sie legte das Ergebnis ihrer Arbeiten unter dem Titel „Grundorientierung für die siebte Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft" am 15. August 1977 dem Präsidenten vor. II. In der ersten Auflage des Staatslexikons informiert ein über zwanzig Spalten langer Artikel Staatslexikon (A. Bruder) über nahezu alle einschlägigen Nachschlagewerke in den europäischen Ländern, die in einem weiten Sinn zur Gattung der Staatslexika gezählt werden konnten. Staatslexikon war nicht der Name für eine Erfindung, sondern für die literarische Form, in der die junge Görres-Gesellschaft in die seit dem Revolutions jähr 1848 heftig entbrannten Auseinandersetzungen über Staat und Gesellschaft eingrei-
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fen wollte - Auseinandersetzungen, deren politische Bedeutung unübersehbar war. Konservative und altliberale Bestimmungen des Staatsverständnisses und der Staatsaufgaben, die zunehmende Bedeutung der sozialistischen Staatstheorie, aber auch die raschen Fortschritte der Industrialisierung und der kapitalistischen Wirtschaftsform intensivierten die öffentliche Diskussion. In ihr traten an die Stelle der alten theologischen und naturrechtlichen Begründungen des Staates liberalistische und hegelianische Theorien. Die Frage nach einer sittlichen Begründung oder auch nur nach einer Begrenzung der Staatsomnipotenz wurde vielfach abgewiesen oder entfiel schlechthin. Mit diesem staatsphilosophischen Vakuum und mit den Einseitigkeiten der Staatstheorien wie der praktischen Politik wollte es das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft in den siebziger und achtziger Jahren aufnehmen. Als die „Section für Rechts- und Social-Wissenschaft" am 29. August 1877 zum erstenmal einen Antrag des Verwaltungs-Ausschusses der Gesellschaft (Vorsitz v. Hertling) auf Herausgabe eines Staatslexikons 4 beriet, sprach Julius Bachem, Rechtsanwalt in Köln, über Notwendigkeit und Bedeutung eines solchen Unternehmens. Die Notwendigkeit sah er vor allem dadurch gegeben, daß die Öffentlichkeit in Fragen des Staatsrechts und des Staatskirchenrechts derzeit „auf Erzeugnisse der liberalen Schule angewiesen" sei. Mit diesen Erzeugnissen meinte Bachem vor allem „das Staats-Lexicon oder die Enzyclopädie der Staatswissenschaften von Rotteck und Welcker und das Deutsche Staatswörterbuch von Bluntschli und Brater" 5 . Das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft sollte deren staatstheoretischen wie praktisch-politischen Positionen entgegentreten. Die Bedeutung des Staatslexikons verstand Bachem unmittelbar als politische Bedeutung des geplanten Unternehmens im aktuellen kirchenpolitischen Konflikt (Kulturkampf) 6 ; denn so wie an die jeweilig herrschenden politischen Systeme der Staatsbegriff sich anlehne, so an den Staatsbegriff „die jeweilig maßgebende politische Strömung" (ebd., S. 23). Der liberalen Staatstheorie, einmal in ihrer liberalistischen Spielart, die der Freiheit des Individuums den höchsten Rang einräume und kantianisch4 „Die Görres-Gesellschaft wolle die Herausgabe eines den katholischen Principien entsprechenden Staatslexicons beschließen, mit der Ausführung den VerwaltungsAusschuß unter Mitwirkung des Vorstandes der Section für Rechts- und Socialwissenschaft beauftragen und die zum Beginne des Unternehmens nötigen Mittel bewilligen." (Jahresbericht für 1877, Köln 1878, S. 21). 5 Ebd., S. 22. 6 „Welche Bedeutung den von der öffentlichen Meinung adoptirten staatsrechtlichen Begriffen überhaupt innewohnt, lehrt die Zeitgeschichte in gemeinverständlicher Weise. Man kann unbedenklich behaupten, daß der gegenwärtige kirchen-politische Conflict in Deutschland in allen seinen entscheidenden Momenten im Grunde um eine staatsrechtliche Frage sich dreht: die Frage von dem richtigen Staatsbegriffe und demgemäß von dem Inhalte bzw. der Begrenzung der Staats-Souverainität." (Ebd., S. 22.)
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fichteanischer Observanz sei, wie auch in ihrer staatsabsoluten Spielart hegelianischer Observanz, die den Staat als Selbstzweck verstehe und es als die höchste Pflicht des Menschen betrachte, Staatsbürger zu sein, wird die Staatstheorie des Staatslexikons widersprechen, „weil die kraft göttlichen Rechts beanspruchte Selbständigkeit der Kirche der ,vollen Souveränität' des modernen Staats Schranken zieht" (ebd., S. 24). Die Kirchenfeindlichkeit dieses modernen Staates ist nicht zufällig, sondern durchaus der Theorie entsprechend. Der Staat als zentrale Thematik des Staatslexikons ist in der Zeit des Kulturkampfes gewiß staatstheoretisch, aber eben nicht weniger politisch bestimmt. Zum Programm gehört „die geistige Propaganda des von der Görres-Gesellschaft in Angriff zu nehmenden Staats-Lexicons" (ebd., S. 24), und die einschlägigen Artikel werden auf Polemik nicht verzichten. Doch auch beim Abklingen der kirchenpolitischen Konflikte bleibt der Staat das zentrale Thema, sowohl in staatstheoretischer wie in politischer Hinsicht. Georg v. Hertling betont dies erneut in einer Programmschrift, die er im Anschluß an das von Alfons Bellesheim 1877 vorgetragene Programm (Jahresbericht für 1878, Köln 1879 S. 19 - 21), im Jahre 1880 für die erste Auflage des Staatslexikons vorlegt. 7 Es muß jedoch daraufhingewiesen werden, daß neben der zentralen Staatsthematik die „soziale Bewegung" als eine weitere Herausforderung für das neue Staatslexikon der Görres-Gesellschaft begriffen worden ist. Julius Bachem weist schon 1877 darauf hin. 8 Durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen (Industrialisierung; Arbeiterfrage) durch die politische Präsenz der Sozialdemokratie seit Lasalle, nicht zuletzt durch die Initiative und Mitwirkungsmöglichkeiten der „Centrums-Fraction" bei der beginnenden Sozialgesetzgebung haben die „soziale Frage" und die Aufgaben der staatlichen Sozialpolitik vorrangige Bedeutung gewonnen. Die Durchführung der vornehmlich von G. v. Hertling, J. Bachem und A. Bellesheim formulierten Programmatik ist offensichtlich auf nicht uner7
Dort heißt es: „ I n der Tat wird . . . nur der Staat. . . Mittelpunkt und Ausgangspunkt der Betrachtung darbieten können. Nicht freilich darum, weil in Wahrheit dem Staat eine . .. überragende Bedeutung zukäme. Und auch nicht bloß darum, weil formell in solcher Weise am ehesten eine einheitliche Behandlung des mannigfach auseinanderliegenden Stoffes sich ermöglicht. Irrige Doctrinen über das Wesen des Staates haben nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den Einrichtungen des öffentlichen Lebens zu den verderblichsten Consequenzen g e f ü h r t . . . Wenn also das erwähnte Programm dem Staats-Lexicon der Görres-Gesellschaft »vorwiegend einen corrigierenden und rectificierenden Character' zuweist, so ergibt sich die Richtigstellung des Staatsbegriffs nach all den Beziehungen als erstes und wichtigstes." Das 24 Druckseiten umfassende „systematische Programm" ist bisher nicht auffindbar. Der Einleitungsteil ist im Jahresbericht für 1880, Köln 1881, S. 31 ff. abgedruckt. 8 „Die zwischen Staat und Kirche obschwebenden Verwickelungen, sowie die tiefgehende sociale Bewegung haben dem Studium der Staatswissenschaften einen kräftigen Anstoß gegeben" (Jahresbericht für 1877, S. 25).
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hebliche Schwierigkeiten gestoßen.9 Das ist weniger an den zum Teil hochinteressanten Beiträgen der ersten Auflage (z.B. Culturkampf und Maigesetze von Karl Bachem oder Parteien, Politische I von Julius Bachem oder Socialpolitik von Pfarrer Brüll und vielen anderen) zu erkennen als an der kritischen Haltung, welche die Initiatoren und Herausgeber selber ihrem Werk gegenüber eingenommen und sie zu rasch folgenden Neuauflagen veranlaßt hat. 1 0 Sie machen ihre Bemühungen um Veränderungen auch deutlich 1 1 , und die tatsächlich durchgeführten Veränderungen betreffen zentrale Themen. Eine entscheidende Schwierigkeit bestand in den ersten dreißig Jahren offensichtlich darin, daß die Rechts- und Sozialwissenschaften an den deutschen Hochschulen fast ausschließlich von liberalen Wissenschaftlern vertreten wurden, unter denen sich nur wenige Katholiken befanden. Weithin mußten Theologen, zahlreich aus dem Jesuitenorden, und Praktiker, die ebenso neue wie schwierige Aufgabe übernehmen.
III. Der Artikel Staat der ersten Auflage, geschrieben von Viktor Cathrein, erschienen 1897 (ca. 30 Sp.), handelt vornehmlich von den theologischen und philosophischen Grundlagen des Staates. Der Schwerpunkt liegt „ i n einer Präsentation der katholischen Staats- und Gesellschaftslehre auf der Grundlage des erneuerten scholastischen Naturrechts". 12 Der Staat beruht nicht auf Vertrag; K r i t i k und Polemik richten sich gegen den „oberflächlichen Rousseau" (Sp. 221) und seine Folgen in der Staatstheorie. Der Staat ist, wie die Familie, eine „natürliche Gesellschaft". Er hat seinen Ursprung im Familienverband und ist nicht Sache von Individuen. Der Staat ist von Gott gewollt und in der Natur des Menschen begründet; sein Zweck ist nicht nur Rechtsschutz und Privatwohl, sondern die „öffentliche Wohlfahrt". Cathrein schreibt auch die Artikel Staatsgewalt und Volkssouveränität. Der These von der Volkssouveränität stehe entgegen, daß allein Gott der Ursprung der Staatsgewalt ist. Im Artikel Parlamentarismus (A. Stöckl) ist 9 Die zum Teil ungewöhnliche Säumigkeit der Autoren lasse sich hier beiseite. Vgl. Hermann Cardauns, Das Staatslexikon, in: Festschrift der Görres-Gesellschaft 1901, S. 60 f. 10 Zwischen Erscheinen des letzten Bandes der ersten Auflage und des ersten Bandes der zweiten Auflage liegen vier Jahre; ebenso vier Jahre zwischen zweiter und dritter/vierter Auflage. 11 Vgl. das Vorwort zur zweiten Auflage (Band I, 1901), das Vorwort zur dritten Auflage (Band I, 1908) sowie H. Sacher, Die Lexika, in: Der Katholizismus in Deutschland und der Verlag Herder, Freiburg i.B. 1951, S. 262. 12 Clemens Bauer, Das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. Spiegel der Entwicklung des deutschen Katholizismus, in: Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a.M. 1964, S. 54 - 92; hier S. 61f. (Vgl. C. Bauer, Das Staatslexikon. Zur Vollendung der 6. Auflage, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1963, Köln 1964, S. 24 - 38.)
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wiederholt von dem „atheistischen Prinzip der Volkssouveränität" die Rede. Cathrein kritisiert aber auch die Abstraktheit des Begriffs „Gleichheit"; immer habe es Rechtsungleichheiten gegeben, und „die allgemeine Rechtsgleichheit ist nur eine willkürliche Erfindung". Daß alle Menschen „die gleiche moralische und politische Freiheit haben sollen, ist eine ganz grundlose Behauptung" (Sp. 1045). Aus der Zurückführung der Staatsgewalt auf die Volkssouveränität könne einerseits eine Schrankenlosigkeit der öffentlichen Gewalt folgen; sie könne aber auch den Verzicht auf Staatsgewalt und „Revolution in Permanenz" bedeuten. Diese auf einer scheinbar sicheren Doktrin basierende Polemik entsprach wohl einem Teil des konservativen Katholizismus, sie war aber theoretisch unzureichend. Insbesondere vernachlässigte Cathrein den Unterschied zwischen dem Prinzip und seinen Vermittlungen durch politische Institutionen (Designation, Delegation, Repräsentation) wie auch die historische Dimension. Überdies sind die zitierten Thesen zur Freiheit inkompatibel mit dem zuvor in Band I I desselben Werkes erschienenen Artikel Freiheit von G. v. Hertling. Die Behauptung, die These von der Volkssouveränität habe notwendig atheistischen Charakter, wird in der nächsten Auflage nicht wiederholt. Daß schon zwei Jahre nach dem Erscheinen des letzten Bandes der ersten Auflage eine zweite Auflage sich als wünschenswert erwies, hatte offensichtlich mehrere Gründe. Zwischen Planung und Abschluß der ersten Auflage waren zwei Jahrzehnte verstrichen, in denen sowohl in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wie auch im deutschen Katholizismus entscheidende Veränderungen vor sich gegangen waren. Der Herausgeber der zweiten Auflage, Julius Bachem, spricht im Vorwort (Band I, 1901) von der ersten Auflage als einem „durch zeitgeschichtliche Entwicklung teilweise überholten Werk". Er w i l l „auf die Abstellung von Mängeln Bedacht nehmen, welche der ersten Auflage - einem ersten Versuch auf einem im Zusammenhang noch nicht bearbeiteten schwierigen Gebiete - anhaften". Jedoch: „Die programmatische Grundlage des Staatslexikons bleibt unverändert." (Ebd.) Dieses letztere gilt übrigens auch für die dritte/vierte Auflage. Doch Bachem findet auch in der von ihm geleiteten zweiten Auflage noch eine Differenz zwischen Programm und Ausführung vor, die zu beseitigen sei. 13 Für die zweite Auflage (1901 - 1904, fünf Bände) ist zunächst eine Merkwürdigkeit festzustellen. Der Artikel Volkssouveränität, dem die erste Auflage ein starkes, politisch-weltanschauliches Gewicht und einen Umfang von fünf Spalten zugemessen hatte, wird zu einem kurzen Artikel von einer Spalte. Dieser ist jedoch nicht neu abgefaßt, sondern ein Torso des Textes 13
Vgl. Vorwort zur dritten/vierten Auflage (Band I, 1908).
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von Cathreins Artikel in der ersten Auflage. Der rechtskundige Magistralrat Menzinger (München) hat den alten Text radikal zusammengestrichen. Sollte damit die Problematik erledigt sein? Keineswegs; am Ende w i r d auf Staatsgewalt V verwiesen. Die Artikel Staat und Staatsgewalt aber werden für die zweite Auflage neu geschrieben, und zwar von G. v. Hertling, 14 Offensichtlich hatte v. Hertling - inzwischen langjähriger Abgeordneter im Deutschen Reichstag (1909 wird er Vorsitzender der Zentrumsfraktion) und nach wie vor Präsident der Gesellschaft - die Behandlung der heiklen Problematik an sich gezogen. v. Hertling hebt zunächst die generelle Gleichsetzung von Volkssouveränität und Atheismus auf. 15 Auch die vom Volk an den Herrschaftsträger übertragene Staatsgewalt habe ihren Ursprung in Gott und sei durch sittliche Gebote gebunden, v. Hertling verweist auf mittelalterliche Lehren von der Volkssouveränität, in denen Traditionen des römischen Rechts in nach seiner Meinung historisch ungerechtfertigter Weise aufgegriffen worden seien. Auch wenn theologisch-philosophisch kein Einspruch zu erheben sei, 16 sei „die Lehre auch in dieser Gestalt irrig" und nicht widerspruchsfrei, da niemals „das ganze Volk" handeln könne, der Mehrheitsentscheid problematisch sei, vor allem aber die Staatsgewalt „naturgemäß mit dem Staat" erwächst und nicht vom Volk dem Staat „übertragen" werden könne. Im übrigen akzentuiert v. Hertling die praktisch-politischen Vorzüge der Monarchie und die Nachteile der Republik, wiewohl auch diese mit der christlich verstandenen Naturrechtslehre vereinbar sei. 17 So bleibt die Grundposition des Staatslexikons in den ersten Auflagen, wenn auch modifiziert, gewahrt. 14 Nicht wenige Artikel sind unverändert oder lediglich aktualisiert in die zweite Auflage übernommen worden, so z.B. die Beiträge, die G. v. Hertling schon für die erste Auflage geschrieben hatte: Demokratie, Gleichheit, Politik, Republik, aber auch Aristoteles, Augustinus u.a., desgleichen der umfassende Artikel Kulturkampf und Maigesetze (Karl Bachem), Parteien, Politische I und II (Julius Bachem) oder Parlamentarismus (A. Stöckl). 15 Ebenso war - wie Bauer (Fn. 12), S. 69 hervorhebt - in der zweiten Auflage i n dem von Philipp Huppert (Redakteur bei der Kölnischen Volkszeitung) überarbeiteten Artikel Liberalismus (A. Stöckl) „die fatale Angleichung von Liberalismus und Atheismus getilgt". Der vorschnell erhobene Atheismusvorwurf hatte sich als nur bedingt zutreffend erwiesen. Überdies hatte er der Sachargumentation vorzeitig das Wort abgeschnitten. Diese wird nun in der zweiten Auflage unpolemisch, aber dezidiert aufgenommen. 16 Die bedenklichen und wenig differenzierenden Ausführungen zur Frage der Rechtsgleichheit im Artikel Volkssouveränität der ersten Auflage begegnet v. Hertling nicht an dieser Stelle, sondern in dem ausführlichen Artikel Gleichheit, in dem er die theologischen, philosophischen und rechtlichen Begriffe der Gleichheit aller Menschen ebenso deutlich abgrenzt wie er die naturalen und geschichtlichen Ungleichheiten berücksichtigt. 17 Vgl. seinen - von der ersten bis zur dritten/vierten Auflage identischen - Artikel Monarchie. „Es ist die gleiche naturrechtliche Grundlage, aus welcher die Gewalt des einen (sc. Monarch) wie der anderen (sc. Republik) herstammt." (3./4. Aufl., Band III, Sp. 1199).
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Zu der Neufassung der Artikel Staat und Staatsgewalt ist es offensichtlich nicht deswegen gekommen, weil v. Hertling die philosophischen und staatstheoretischen Grundlagen, die Cathrein vertreten hatte, in Frage gestellt hätte, wenngleich er die K r i t i k der Vertragstheorie differenzierter durchführt und den naturrechtlichen Ursprung des Staates und der Staatsgewalt von dem geschichtlichen Entstehen von Staaten und Herrschaften deutlich unterscheidet. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß v. Hertling das Thema Staat nicht mehr allein theoretisch-weltanschaulich, sondern auch politisch und historisch erörtert. 18 Die politisch argumentierende K r i t i k gilt vor allem der widersprüchlichen Paarung eines extremen Wirtschaftsliberalismus mit dem Anspruch auf Staatsomnipotenz für alle anderen Gebiete einschließlich der Religion. Die illiberale Kirchenpolitik vor allem in Preußen hatte das Verhältnis des Staates zur Kirche in den Vordergrund gerückt, v. Hertling kritisiert aber auch das falsche Verständnis der Sozialpolitik, die weithin um der Staatsraison willen betrieben werde, nicht aber, wie er forderte, aufgrund einer rechtlich begründeten Verpflichtung des Staates, zur Lösung der sozialen Fragen beizutragen. v. Hertlings Artikel Staat und Staatsgewalt wie auch zahlreiche andere Artikel zum Thema Staat und Politik (vgl. Fn. 14) sind nicht nur kenntnisreiche und klar argumentierende staatsphilosophische Beiträge, sondern auch entschiedene Plädoyers für eine Politik der Mitte. Der Text wurde in der zweiten und dritten/vierten Auflage gelegentlich aktualisiert, meist aber unverändert übernommen. Die ersten vier Auflagen des Staatslexikons, die in den fünfundzwanzig Jahren zwischen 1887 und 1912 erschienen, standen kontinuierlich unter der maßgeblichen Leitung von Georg v. Hertling und Julius Bachem. Das Programm der ersten Stunde wird nach und nach kräftiger zur Geltung gebracht. Die „Richtigstellung des Staatsbegriffs" bleibt der Fokus, doch nicht punktuell, sondern mit weiter Ausstrahlung vor allem in die Bereiche Wirtschaft und Soziales. I n den ersten Auflagen werden im politischen Bereich Positionen vertreten, die zum Teil kühn anmuten, auf alle Fälle zukunftsweisend sind wie z.B. die Anerkennung des Prinzips der Religionsfreiheit ohne Wenn und Aber. Schon in der ersten Auflage tritt das Staatslexikon für die politischen Parteien (J. Bachem) sowie für Arbeiterorganisationen und berufständische Verbände ein. Der Artikel Gewerkverein (W. Kämpfe, 22 Spalten) informiert ausführlich über die in Europa und Nordamerika entstandenen Organisationen. Die erste Auflage enthält auch 18 So vor allem im Abschnitt IV, der von den Aufgaben und Funktionen des Staates handelt, und im Abschnitt V, der die Abgrenzung staatlichen Handelns gegenüber gesellschaftlichen Aktivitäten (Arbeitgeber/Arbeiter, Schulen, Universitäten, Mittelstand etc.) vornimmt. Abschnitt V I beginnt: „Von den politischen Erörterungen kehren w i r . . . zu einer Frage der allgemeinen Staatslehre zurück." Dieser Abschnitt handelt vom Verhältnis von Staat und Gemeinden.
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einen Artikel Recht auf Arbeit (G. Antoni , Oberbürgermeister in Fulda, 3,5 Spalten); dieser Artikel wird in der zweiten Auflage ausgebaut (9 Spalten), da die Arbeitsvermittlung (nicht aber eine Arbeitslosenversicherung) für erforderlich gehalten wird. In der dritten/vierten Auflage ist der Artikel wieder reduziert (5 Spalten), da das Recht auf Arbeit als „sozialistische Forderung" abzuweisen sei; es sei unbegründet und undurchführbar, wenngleich ein „persönliches und natürliches Recht", arbeiten zu können, bestehe und die Arbeitsermöglichung zu den Staatszwecken gehöre. IV.
Ein Werk, das die politischen Ereignisse und Umbrüche vom BismarckReich über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur bis hin zur Bundesrepublik Deutschland analysierend, kommentierend und orientierend begleitet und mitgestalten will, das zugleich die Veränderungen des Katholizismus in Deutschland dokumentiert, aber auch kritisch weitertreibt, das nicht zuletzt die tiefgreifenden Entwicklungen der einschlägigen Wissenschaften, vor allem der Rechts-, Staats- und Sozialwissenschaften aufgreift und zu ihnen beiträgt, ein solches Werk kann nicht in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts „gleich" sein. Die Analyse der Prozesse in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft und Kultur hat erklärlicherweise zu völlig veränderten Ergebnissen geführt. Aber auch die Bewertungen dieser Prozesse haben in der katholischen Staats- und Soziallehre erstaunliche Wandlungen erfahren. Feststehend erscheinende Lehrmeinungen sind revidiert worden; die Doktrin selber hat einen geschichtlichen Wandel vollzogen. Auch die Idee eines „katholischen Standpunktes" hat Veränderungen erfahren, sei es, daß er für bestimmte Sachbereiche sich nicht (oder „noch nicht" oder „nicht mehr") als eindeutig feststellbar erwies (Autonomie der Sachbereiche), sei es, daß er sich im Zug der politisch-gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere durch die Demokratisierung der öffentichen Institutionen, notwendigerweise verlagerte. Gleich geblieben aber ist das grundsätzliche Engagement für den Staat, für soziale Gerechtigkeit und für die Weltkirche. Die „Richtigstellung des Staatsbegriffs" ist dem Staatslexikon nach wie vor aufgegeben. Es ist natürlich etwas anderes, ob diese „Richtigstellung" gegen die bestehende Staatsgewalt (wie in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts) und gegen die Vorherrschaft irriger Staatslehren erfolgen muß, oder ob sie der Verteidigung und Befestigung des bestehenden Staats dient. Es ist auch etwas anderes, ob die großen Fragen der sozialen Gerechtigkeit vornehmlich Probleme der eigenen Gesellschaft (wie im 19. Jahrhundert u.a. die Arbeiterfrage) oder Probleme der Weltbe-
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völkerung und der außereuropäischen Staaten betreffen, die ihren Bevölkerungen keine menschenwürdige Existenz bieten oder bieten können. Schließlich hat das Zurgeltungbringen des kirchlichen Lebens und der christlichen Lehre eine andere Bedeutung, wenn eine erbitterte Kontroverse zwischen Staat und Kirche, Gesellschaft und Kirche, nicht zuletzt zwischen den christlichen Konfessionen ausgetragen wird oder wenn diese Kontroversen weitgehend als überwunden gelten können und die Kirche frei wirken kann, soweit ihre Kräfte und ihre Glaubwürdigkeit reichen. Als Exempel für die ungleiche Ausgangslage und für den entsprechenden Wandel des Staatslexikons soll ein Vergleich der Artikel Staat, Staatsgewalt und Volkssouveränität in den beiden weiteren Auflagen dienen. 19 Mit der fünften Auflage, erschienen 1926 - 1932, befinden sich die GörresGesellschaft und der Herausgeber, Hermann Sacher, in einer gegenüber der ersten bis vierten Auflage völlig veränderten Lage. Vormals hatte das Staatslexikon den Staat und die monarchische Staatsform nachdrücklich bejahen können; seine Auseinandersetzung galt irrigen Staatstheorien, einer kirchenfeindlichen, speziell katholizismusfeindlichen Politik sowie der radikal-liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jetzt verhält es sich im gewissen Sinne umgekehrt. Die Monarchie besteht nicht mehr; der Staat ist eine Republik, diese nimmt die nachdrücklich als irrig abgewiesene sog. Volkssouveränität in Anspruch und gibt sich die (vormals ebenfalls negativ beurteilte) Staatsform der parlamentarischen Demokratie. Man hat ziemlich genau den Staat, den man nicht gewollt hatte. Überdies ist dieser Staat Resultat einer Revolution, die sozialistischem Impetus entsprungen war. Die Sozialdemokratie stellt die stärkste Fraktion im Parlament und ein Sozialdemokrat wird der erste Präsident der neuen Republik. Das Staatslexikon befand sich in einem ebenso ernsten wie schwierigen Dilemma. Der deutsche Katholizismus konnte aufgrund seiner gesellschaftlichen und politischen Entwicklung sowie aufgrund der politischen Rolle des Zentrums im neuen Staat nicht wieder zurück ins Ghetto. Er durfte aber auch nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten. Das Staatslexikon konnte und durfte nicht den Staat ablehnen, weil er nicht mehr eine Monarchie, sondern eine demokratische Republik war; denn bei allen Einwänden gegen Republik und Demokratie hatte das Staatslexikon in den ersten vier Auflagen die These vertreten, daß eine bestimmte Staatsform aus theologischen Sätzen oder aus Glaubenswahrheiten nicht ableitbar sei und daß die Repu19 Clemens Bauer hat in seiner kurzen Geschichte des Staatslexikons „Das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft" - vgl. Fn. 12 oben - eine vorzügliche Charakterisierung des von der ersten Auflage bis zur sechsten Auflage sich vollziehenden Veränderungsprozesses gegeben. Ich folge hier seiner Methode, ihn an Beispielen zu verdeutlichen. Die von ihm gewählten instruktiven Beispiele, insbesondere Liberalismus und Kapital, Kapitalismus sowie einige Stichworte aus dem Bereich der Volkswirtschaftslehre und der Soziallehre werden hier nicht wieder aufgegriffen. Für sie sei auf C. Bauer verwiesen.
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blik die demokratische Staatsform aufgrund naturrechtlicher Argumente nicht zurückgewiesen werden könnten. Es mußte aufgrund einer Analyse der geschichtlichen Wende und der konkreten Zeitereignisse eine neue Argumentation aufbauen und zum Teil auch die Doktrin modifizieren. Schließlich galt es - analog zu der Herausforderung am Anfang durch die liberalistischen Staats- und Wirtschaftstheorien - nun der Herausforderung durch die politisch dominierend gewordenen sozialistischen Staats- und Wirtschaftslehren zu begegnen.20 Der Staat bleibt also auch in der fünften Auflage zentrales Thema des Staatslexikons, aber in einer zweifachen Hinsicht auf ganz andere Weise als bisher. War bisher die bestehende monarchische Staatsform als gut begründet erschienen, so ist nunmehr der bestehende Staat als demokratische Republik und damit auch „die politische Wendung des Katholizismus zum Staat von Weimar" (C. Bauer [Fn. 12], S. 83) allererst zu begründen. Diese Wendung vollzieht der katholische Volksteil nur zögernd und mit Vorbehalten; denn er denkt weithin konservativ, versteht den Staat von Weimar als Folge des verlorenen Krieges, des Versailler Vertrags und einer abgelehnten Revolution. Zum anderen gilt es - entsprechend der konkreten politischen Verantwortung, welche die Zentrumspartei in den Parlamenten und nun auch in den Regierungen übernommen hatte - , für die mannigfachen politischen Felder (Außen- wie Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Kulturpolitik) Informationen, Analysen und programmatische, zumindest orientierende Vorstellungen anzubieten. 21 Der veränderten Lage und der neuen Herausforderung entspricht die fünfte Auflage durchgängig. Der Artikel Staat (Joseph Godehard Ebers, Bd. IV, 30 Spalten) stellt eine knapp gefaßte, systematische Staatslehre vor. Er ist nicht nur frei von Polemik, sondern läßt auch keinen direkten politischen „Gegner" erkennen; andere, auch widersprechende Theorien werden referierend skizziert. Die „politischen Erörterungen", die bei v. Hertling bedeutend gewesen waren, fehlen hier. Nachdem die „Aufgaben der Staatslehre" kurz umrissen sind, gibt es drei Hauptabschnitte. Der erste Abschnitt, „Begriffe und Elemente des Staates" (als Verbandseinheit, Zweckeinheit, zeitliche Einheit und Herrschaftseinheit), endet mit einer allgemeinen Definition des Staates. Der zweite Abschnitt, „Wesen und Ursprung des Staates" referiert zunächst die wichtigsten Theorien, um dann einen Abriß der für die katholische Staatslehre damals charakteristischen „organischen" Staatsauffassung zu geben. Sie tritt den mechanistischen und rechtspositivistischen Staatsauffassungen als ein konstruktives Konzept entge20 „Die Auseinandersetzung mit der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsauffassung soll einer der markanten, dem neuen Werk eigentümlichen Züge sein." (H. Sacher, Das neue Staatslexikon. Ein Programm. In: Görres-Gesellschaft, 2. Vereinsschrift, Köln 1922, S. 3 - 64; hier S. 11.) 21 Die Zahl der Stichwörter steigt von bisher 600 auf 2500.
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gen. Ebers betont jedoch den „tiefgreifenden Unterschied" zwischen einem sozialen Organismus, dessen Glieder freie Personen sind, und dem biologischen Organismus, um jeden (durch vielfachen Gebrauch von „natürlich" in der Naturrechtslehre vermutbaren) Naturalismus abzuwehren. Der dritte Abschnitt, „Zweck und Aufgaben des Staates" handelt vom Gemeinwohl, von der Rechtsordnung, vom Schutz nach außen, von der Sicherheit und Ordnung im Inneren und von Wohlfahrt und Kultur. Der Artikel endet mit einer allgemeinen Definition des Staatszwecks. Eine politische Aktualisierung der Staatslehre erfolgt im Artikel Staatsgewalt (ebenfalls von J. G. Ebers, Bd. IV, 13 Spalten). Er beginnt mit der bekannten K r i t i k des Begriffs Volkssouveränität und der These vom Volk als „Ursprung" der Staatsgewalt; denn diese komme dem Staat natürlicherweise zu. Doch - und nun beginnt bei Ebers die Hinführung zur bestehenden Staatsform - das Volk ist „der naturrechtliche Träger der Staatsgewalt"; jedoch nur der „ursprüngliche Träger", d.h. es bestimmt lediglich die Staatsform und die Träger der Staatsgewalt. Eine Revolution sei nicht aufgrund der „normativen Kraft des Faktischen" (Jellinek) legitimierbar, wohl aber dadurch, daß die neue Staatsgewalt dem Gemeinwohl als Staatszweck dient und das Volk sie anerkennt. Ebers wendet diese gegenüber früher modifizierte Theorie nun unmittelbar auf „die deutschen Verhältnisse" an. Zunächst interpretiert er den Artikel I der Weimarer Reichsverfassung („Die Staatsgewalt geht vom Volke aus") dahin, daß er an dieser Stelle eine rein staatsrechtliche, nicht staatsphilosophische Bedeutung habe. (Sp. 1886). Nach dem Ende der Monarchie habe das Volk zur Abwehr der drohenden Räterepublik die Staatsorgane bestellen müssen. Die Quelle der neugeschaffenen Rechtsordnung sei nicht die Revolution, „sondern die vom Schöpfer in die menschliche Natur hineingelegte Norm, daß das natürliche Urrecht des Volkes auf seine nationale Existenz, auf Ordnung und Sicherheit, Verwirklichung des Gemeinwohles heiliger ist als das geschichtlich gewordene Recht einer einzelnen Person und Familie und erst recht höher steht als eine selbst durch Jahrhunderte geheiligte Staatsform" (Sp. 1888). Und nun fällt auch das Wort „Souveränität"; denn das deutsche Volk habe „durch die Wahlen zur Nationalversammlung von seiner ihm durch den Sturz der Fürsten anheim gefallenen Souveränität zum erstenmal Gebrauch" gemacht „und sich in der Nationalversammlung das legitime Organ zur Beschlußfassung einer neuen Verfassung" (ebd.) geschaffen. Eine ähnliche Struktur weist der Artikel Republik (Konrad Beyerle; Ernst Schäfer) auf. Dort erfährt zunächst die Monarchie eine bessere Bewertung als die Republik. Dann stellt Beyerle fest, daß seit Leo XIII. „die gegnerische Einstellung kirchlicher Kreise gegen jede Art Republik" im Schwinden sei. Unter kirchenpolitischen Gesichtspunkten jedoch wird dem neuen Staat ein Vorzug gegenüber dem alten eingeräumt. 22 49 :
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Der Theoriebogen, der die Anerkennung der bestehenden Staatsform erlaubt, wird von Karl Petraschek in dem Artikel Volkssouveränität vorsichtiger gespannt. Am Anfang steht eine begrifflich klare, ganz unpolemische Beschreibung. Volkssouveränität besagt, „daß der Wille des Volkes die Quelle der Staatsgewalt ist und jederzeit bleibt" (Bd. V, Sp. 982). Wie aber kann das Volk als Ganzes Handeln? Die Frage lenkt auf die „natürlichen Schranken" der Volkssouveränität. Ein ausführlicher geschichtlicher Überblick vom Mittelalter bis zu Rousseau bringt alle kritischen Gesichtspunkte zur Sprache, insbesondere gegenüber dem verschärften Souveränitätsbegriff von Hobbes, der von Rousseau radikalisiert worden sei. Die für das Staatslexikon entscheidende Frage, welche Bedeutung der Begriff der Volkssouveränität innerhalb der klassischen Naturrechtslehre habe, behandelt Petraschek im letzten Abschnitt. Er knüpft dabei an die Kontroverse zwischen S. X. Kiefl (Designationstheorie) und P. Tischleder (Delegationstheorie) an. Petraschek kommt zu dem Ergebnis, daß „an sich keiner Staatsform vor einer anderen der sittliche Vorzug gebühre", daß darum der nicht selten behauptete „grundsätzliche Vorrang der Demokratie" nicht zu begründen sei, wenngleich „sich für ein bestimmtes Volk oder in einer bestimmten geschichtlichen Lage die demokratische Staatsform als die relativ beste darbiete und bewähre" (Sp. 994). Die vorsichtige Argumentation vermeidet die Ablehnung und erlaubt die Akzeptanz des Staates von Weimar; aber auch nicht mehr; staatstragend erscheint sie nicht. Der Staat ist von „anderen" gemacht und hat eine andere Staatsform, als die katholische Staatslehre sie bisher vorgestellt hatte. Doch es ist sittliche Verpflichtung, ihn anzuerkennen, und die politische Verantwortung gebietet die Mitarbeit. Dementsprechend enthält der Artikel Demokratie (August Pieper) eine behutsame, aber doch nachdrückliche Hinführung zu den neuen „Staatsbürgerpflichten". Der Staat „ist letztlich uns insgesamt anvertraut". Die ethischen Voraussetzungen für das Gelingen der demokratischen Staatsform werden in den Vordergrund gestellt. In der sechsten Auflage (1957 - 1963) ist der Artikel Staat im ganzen enzyklopädisch konzipiert und von den für die früheren Auflagen kritischen Problemen kaum tangiert. Die demokratische Republik ist nach der Staatskatastrophe durch die nationalsozialistische Diktatur und die Auflösung des Staates im Jahre 1945 zurückgewonnen und wird nicht in Frage gestellt. Die Monarchie ist vergessen. Im systematischen Teil des Artikels Staat 22 „Es ist unbestreitbare Tatsache, daß in Deutschland der Umsturz von 1918 der vollen Geltung des gläubig-christlichen Volksteils im Volksganzen eine viel freiere Auswirkung eröffnet hat, als die Fesseln der Staatsbevormundung und vielfachen Kirchengegnerschaft im alten Staat zuließen. Die Wucht der Zahl im demokratischrepublikanischen Staat erwies sich so auch als Quelle der Kraft und des Aufstiegs für das kirchlich-religiöse Leben." (Bd. IV, Sp. 905.)
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konzipiert Hans Peters den Staat als die auf naturrechtlicher Grundlage beruhende „societas perfecta"; dieser Teil enthält auch eine eingehende Theorienkritik. Im Unterschied zu den bisherigen Auflagen hat der Artikel Staat nunmehr mehrere Autoren, und zwar von recht unterschiedlichen wissenschaftlichen und politischen Profilen. Helmut Ridder trägt unter dem Titel „Phänomenologie des modernen Staates" eine eigenwillige Analyse und K r i t i k des modernen Staates vor, in der sich Zeitkritik und Kulturkritik mit politischer und staatstheoretischer K r i t i k mischen. Wichtig wird nun auch ein neuer übernationaler Aspekt des Staates (Staat und Staatengemeinschaft). August Frhr. von der Heydte konzipiert das neue Verhältnis von Nationalstaat und internationaler Ordnung; Rudolph L. Bindschelder informiert über die bestehenden Staatenverbindungen. Der Artikel Republik (Paul Gandamet) wiederholt als historische Bemerkung, daß die Kirche „seit Leo XIII. den systematischen Kampf gegen die republikanische Staatsform eingestellt" habe und eine versöhnliche Haltung zeige. Das ist - für das Ende der fünfziger Jahre - nicht eben viel gesagt. Der Artikel Volkssouveränität (A. Frhr. von der Heydte) läßt nicht mehr ahnen, welche Schwierigkeiten die vorhergehenden Auflagen mit diesem Begriff gehabt hatten. Grundsätzlich sei die Volkssouveränität eine für die christliche Staatslehre jederzeit annehmbare Grundlage des Staates. - Jederzeit? Das trifft zum mindesten historisch nicht zu; denn vor fünfzig Jahren wurden sie im Staatslexikon als irrige Lehre, vor siebzig Jahren als atheistisch verurteilt. Der Begriff Demokratie wird von Hans Peters in einem umfassenden Artikel behandelt. Auch Peters betont die ethischen Grundlagen, ohne die eine Demokratie nicht dem Gemeinwohl dienen kann; eigenartigerweise werden diese mit Hilfe der „Moralischen Aufrüstung" (moral rearmament) von Frank Buchmann dargestellt. Im Abschnitt „Christliche Bewertung" verweist Peters auf Leo XIII. und eine Radiobotschaft Pius XI. (1944), in der es heißt, daß „bei Wahrung der katholischen I^ehre über Ursprung und Handhabung der öffentlichen Gewalt es nicht verboten ist, Regierungen von gemäßigter demokratischer Form zu begünstigen". Diese Formulierung läßt eine überaus zurückhaltende Einstellung der Amtskirche gegenüber der Demokratie erkennen; die Negation eines Verbotes sub conditione w i r d als geeigneter Ausdruck gewählt. In solcher Formulierung klingen die Vorbehalte und Schwierigkeiten der vergangenen Jahrzehnte nach. Doch im Artikel erscheinen sie nur als Zitat; er selber enthält sie nicht mehr.
V. Auch wenn man eine geschichtliche Entwicklung der Doktrin konzediert, so sind doch die skizzierten Wandlungen erstaunlich. Sie würden sich auch
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auf anderen Gebieten aufweisen lassen (Volkswirtschaftslehre, katholische Soziallehre, im ganzen die Naturrechtslehre). Die Doktrin kann der Herausforderung durch die geschichtliche Situation nicht entgehen. Dadurch, daß sie als Lehre die Fragen der Zeit aufgreift und auf sie antwortet, wandelt sie sich. Doch eben dieser geschichtlich bedingte und notwendige Wandel bedarf der Grund-Sätze als Basis des Wandlungsprozesses; anderenfalls bricht die Lehre zusammen und geht unter. Die Grund-Sätze aufzugeben hieße, eine ganze Kultur aufzugeben - hier die in Europa entstandene Kultur des Staates. Die Grund-Sätze, die das Staatslexikon von der ersten bis zur derzeit erscheinenden siebten Auflage zugrunde gelegt hat und zugrunde legt, betreffen den Menschen als sittliche, freie Person mit sozialer und politischer Verantwortung sowie die Lehren und Institutionen der christlichen Religion. Schon die Analyse der geschichtlichen Situation, die hochkomplexe politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Sachverhalte klären muß, wird sich an den Grund-Sätzen orientieren. Diese Orientierung beeinträchtigt nicht die Geltung der Regeln wissenschaftlicher Methodik. Ein methodischer Purismus würde allerdings unbewußt Leitvorstellungen folgen, über die er sich jedoch nicht Rechenschaft ablegt. Die Orientierung an Grund-Sätzen läßt sich mit der Orientierung durch einen Kompaß vergleichen, den der Reisende in unwegsamen Gelände benutzt. Durch die Angaben auf dem Kompaß - die vier Himmelsrichtungen und die Magnetnadel - weiß der Reisende, wo Norden, Süden, Westen und Osten ist; und dieses zuverlässig zu wissen, ist schon viel, im Ernstfall lebensrettend. Wenn der Reisende weiß, daß sein Ziel - sagen wir - im Osten liegt, so kann er auf alle Fälle die Richtung einhalten. Und weiß er nicht, wo sein Ziel liegt, so wird der Kompaß ihn zunächst davor bewahren, daß er im Kreis herumläuft. Er wird eine bestimmte Richtung wählen, und zwar die, wo er das nächste mögliche Ziel oder eine bessere Orientierung vermutet. Der Weg, den er nun nimmt, ist nicht auf dem Kompaß ablesbar, er wird also nicht durch Hinschauen auf den Kompaß erkennbar. Der Reisende muß vielmehr das Gelände in den Blick nehmen. Wenn er, durch den Kompaß orientiert, nach Osten geht, wird der Weg nicht schnurgerade in der durch die Nadel angezeigten Richtung verlaufen; dazu ist das Gelände zu wüst und zu zerklüftet. Er w i r d einen gangbaren Weg suchen müssen; aber für alle Windungen und Umwege, und führten diese zeitweise auch in die entgegengesetzte Richtung, bleibt die Orientierung nach Osten gültig und rettend. Das heißt ohne Bild gesprochen: Aus christlichen Grund-Sätzen läßt sich keine Staatsform und kein politisches Programm ableiten. Aber sie orientieren die Bestimmung der Ziele wie auch die Suche nach gangbaren Wegen für eine immer neu zu leistende Ordnung der menschlichen Sozietät.
Die clausula rebus sie stantibus im Verwaltungsrecht Von Klaus Stern Paul Mikat, dem verehrten Jubilar, hochgeschätzten Kollegen und Konfrater in der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften einen Festschriftenbeitrag zuzueignen, fällt dem Öffentlich-Rechtler, der sich nicht gerade vertieft dem Staatskirchenrecht gewidmet hat, nicht leicht, wenn er die Aufmerksamkeit des großen Rechtshistorikers und Privatrechtlers auf sich lenken möchte. Der Verfasser hat sich daher in ein Grenzgebiet gewagt, wohl wissend, daß hier noch vieles in der Entwicklung ist, gerade weil es sich um ein Institut des älteren Rechts handelt, das aber in der Gegenwart noch immer unentbehrlich ist. Zugleich soll am Beispiel der clausula rebus sie stantibus im Verwaltungsrecht gezeigt werden, daß das öffentliche Recht, wenn es in die Schule seiner älteren Schwesterdisziplin geht, von ihr manches lernen kann. I. 1. Bereits im älteren gemeinen Recht war anerkannt, daß jedem Vertrag auch ohne besondere Abrede eine sog. clausula rebus sie stantibus immanent ist, wonach kein Vertragspartner an einem einmal geschlossenen Vertrag festgehalten werden dürfe, wenn dessen „Endzweck" 1 wegen Änderung der maßgeblichen Verhältnisse nicht mehr eintreten könne. 2 Dieser Grundsatz fand dann seine gesetzliche Ausgestaltung in den Kodifikationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 3 Jedoch trat schon bald danach, wohl als Folge einer zu extensiven Anwendung und der daraus folgenden Gefahren für die Rechtssicherheit, ein zunehmender Bedeutungsverlust ein. 4 Das Bürgerliche 1
So die in § 378,1, 5 preuß. Allgemeines Landrecht verwandte Definition. Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Staudinger / Weber, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. II, Teil l b , 11. Aufl. 1961, § 242 Rdnrn. E 6ff.; Κ Larenz, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, 3. Aufl. 1963, S. 12ff.; Soergel / Teichmann, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 2/1, 11. Aufl. 1986, § 242 Rdnrn. 203ff.; H. Wieling, Jura 1985, S. 505ff.; H. Köhler, JA 1979, S. 498ff.; J. Braun, JuS 1979, S. 692ff.; G. Kegel, Gutachten zum 40. DJT, 1953, Bd. I S. 153ff. Besonders zum öffentlichen Recht vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 742. 3 Etwa im Codex Maximilianeus Bavàricus civilis von 1756 (Teil IV Kap. 15 § 12 Ziff. 3) oder im preuß. ALR von 1794 (§ 378,1, 5) und im österreichischen ABGB von 1811 (§ 936). 4 Vgl. Braun (Fn. 2), S. 693; W. Fiedler, VerwArch. Bd. 67 (1976), S. 125 (131 f.); siehe auch RGZ 50, 255 (257f.). 2
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Gesetzbuch hat diese Regel dementsprechend nicht mehr als allgemeinen Rechtsgrundsatz übernommen, sondern nur noch in Einzelbestimmungen berücksichtigt, etwa in §§ 321, 519, 528, 530, 610 BGB. Erst P. Oertmann gelang nach dem Ersten Weltkrieg eine Wiederbelebung, freilich in veränderter Form. Er knüpfte nicht mehr an die objektiven Vertragsgrundlagen an, sondern an die (nicht Vertragsinhalt gewordenen) subjektiven Vorstellungen, die für den Willensentschluß einer Partei bestimmend waren, und nannte dies die „Lehre von der Geschäftsgrundlage". „Geschäftsgrundlage ist die beim Geschäftsschluß zutage tretende und vom etwaigen Gegner in ihrer Bedeutsamkeit erkannte und nicht beanstandete Vorstellung eines Beteiligten oder die gemeinsame Vorstellung von mehreren Beteiligten vom Sein oder vom Eintritt gewisser Umstände, auf deren Grundlage der Geschäftswille sich aufbaut". 5 Das Reichsgericht, das seiner Judikatur zur „wirtschaftlichen Unmöglichkeit" vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit den kriegsbedingten wirtschaftlichen Erschütterungen zunächst unterschiedliche Rechtskonstruktionen zugrunde gelegt hatte, betonte in seinem Urteil vom 21.9.1920,6 daß seine Rechtsprechung im Grunde nur ein Anwendungsfall der clausula-Lehre ist. In der grundlegenden Entscheidung vom 3.2.1922 7 wandte sich das Reichsgericht jedoch von der sog. objektiven Theorie ab und legte die von Oertmann geprägte subjektive Theorie von der Geschäftsgrundlage für die Berücksichtigung veränderter Umstände zugrunde. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde später vom Bundesgerichtshof übernommen und trotz aller K r i t i k seitens der Lehre 8 bis heute beibehalten. 9 Die Grundsätze über Fehlen und Wegfall der Geschäftsgrundlage sind im Gegensatz zu denen der clausula rebus sie stantibus trotz manchen Streits in Einzelfragen ein in ständiger Rechtsprechung anerkanntes Rechtsinstitut. Danach kann eine Berufung auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage dann in Betracht kommen, „wenn dies zur Vermeidung untragbarer, mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin nicht vereinbarer und damit der betroffenen Vertragspartei nicht zumutbarer Folgen unabweislich erscheint". 10 5
P. Oertmann, Die Geschäftsgrundlage, 1921, S. 37. RGZ 100, 129 (130f.). 7 RGZ 103, 328 (332f.). 8 Nachw. bei Ρalandt / Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 47. Aufl. 1988, § 242 Anm. 6a; Braun (Fn. 2), S. 695. 9 BGHZ 25, 390 (392); 40, 334 (335ff.); 47, 376 (380f.); 58, 355 (361f.); 62, 20 (24); 77, 194 (196); 89, 226 (231); BGH, NJW 1976, S. 565 (566); 1979, S. 1818 (1819); 1984, S. 1746f.; 1985, S. 2693 (2694). Teilweise spricht der BGH hier von einer „Äquivalenzstörung", die zur „Anpassung" der Geschäftsgrundlage führe: BGHZ 91, 32 (36); BGH, NJW 1986, S. 1333 (1334). 10 BGH, NJW 1984, S. 1746 (1747). 6
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2. Dagegen konnte in der Lehre bis heute keine Einigkeit darüber erzielt werden, aufgrund welcher Rechtsgrundlage es Vertragsparteien gestattet ist, sich von einem rechtsgültigen Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen zu lösen. Zwar wurde die subjektive Theorie Oertmanns überwiegend abgelehnt; 11 einer überzeugende Alternative wurde jedoch nicht angeboten. Den Versuchen, die Lehre von der clausula rebus sie stantibus wieder aufleben zu lassen,12 blieb Anerkennung ebenso versagt wie dem Versuch von K. Larenz, subjektive von objektiven Geschäftsgrundlagen zu trennen; 13 denn er gelangte bezüglich der Rechtsfolgen „ i m Wege einer korrigierenden Vertragsauslegung 4" im wesentlichen zu den gleichen Ergebnissen einer Vertragsanpassung wie die Rechtsprechung. Teilweise wird das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sogar gänzlich abgelehnt, etwa mit der Begründung, es läge in Wahrheit ein Anwendungsfall der ergänzenden Vertragsauslegung vor, 1 4 oder beschränkt auf Tatbestände der „Änderung der Sozialexistenz". 15 Als gesichert kann für den Meinungsstand in der Lehre daher nur gelten, daß sich im privatrechtlichen Vertragsrecht ein Rechtsgedanke herausgebildet hat, der gestattet, bei einschneidenden Veränderungen der Umstände, die zum Vertragsschluß geführt haben, von dem das Schuldrecht beherrschenden Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda" abzuweichen. 3. Ohne auf diese Divergenzen zwischen Lehre und Rechtsprechung im einzelnen einzugehen, soll der Auffassung der Rechtsprechung folgend dem Grundsatz der clausula rebus sie stantibus Aufmerksamkeit geschenkt und seine Bedeutung für das Verwaltungsrecht untersucht werden. Dabei wird es nicht ausbleiben können, dieses Rechtsinstitut vom Wegfall der Geschäftsgrundlage abzugrenzen. Beide sind die zentralen Instrumente, in bestehende Schuldverhältnisse modifizierend eingreifen zu können. Dies ist für privat-
11 Vgl. Esser / Schmidt, Schuldrecht, Bd. I, Allgem. Teil, 6. Aufl. 1984, S. 332ff.; F. Wieacker, in: Festschrift für Wilburg, 1965, S. 229 (236ff.); W. Fikentscher, Die Geschäftsgrundlage als Frage des Vertragsrisikos, 1971, S. 5ff.; Palandt / Heinrichs (Fn. 8), § 242 Anm. 6 a. 12 So besonders L. Stahl, Die sogenannte clausula rebus sie stantibus im BGB, 1909; E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus, 1911; P. Krückmann, AcP 116 (1918), S. 157ff. 13 Larenz (Fn. 2), S. 17 ff. 14 Vgl. H. Brox, Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung, 1960, S. 181 ff.; ders., JZ 1966, S. 761 (767); D. Medicus, in: Festschrift für Flume, 1978, S. 629ff.; Ν. Horn, NJW 1985, S. 1118 (1125) räumt einer Vertragsauslegung Vorrang vor der Anwendung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ein; vgl. auch F. Nicklisch, BB 1980, S. 949ff., der aus beiden Rechtsgrundsätzen ein einheitliches Rechtsinstitut zur Lückenausfüllung bei Verträgen schaffen will. Das Rechtsinstitut gänzlich ablehnend E. Wolf, A l l gemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Aufl. 1976, S. 378ff. 15 So W. Flume, in: Festschrift Deutscher Juristentag, Bd. I, 1960, S. 135 (207ff.); ders., Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 3. Aufl. 1979, S. 494 (501, 518ff.) in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen „kleiner" und „großer" Geschäftsgrundlage von Kegel (Fn. 2).
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rechtliche Schuldverhältnisse häufiger praktiziert als für öffentlich-rechtliche und darum für letztere stärker erörterungsbedürftig. II. 1. Der Grundsatz der clausula rebus sie stantibus bzw. des Wegfalls der Geschäftsgrundlage wird heute allgemein als Ausfluß von Treu und Glauben verstanden und als in § 242 BGB verankert betrachtet. 16 Folgt man Hans J. Wolff, so ist Treu und Glauben als allgemeiner, unmittelbar aus dem Gerechtigkeitsprinzip folgender Rechtsgrundsatz zu qualifizieren. 17 Solche allgemeinen Rechtsgrundsätze sind „oberste, ranghöchste Rechtsquellen, mit denen auch die anderen Rechtsquellen sich nicht in Widerspruch setzen dürfen, ohne ihren Rechtscharakter in Frage zu stellen". 18 Treu und Glauben gelten heute unumstritten in allen Rechtsbereichen, nicht mehr bloß im Privatrecht. 19 Dieses Prinzip findet nach allgemeiner Meinung auch im öffentlichen Recht Anwendung. 20 2. Gilt der Grundsatz von Treu und Glauben im privaten wie im öffentlichen Recht, so gilt auch - so ließe sich prima vista folgern - der Grundsatz der clausula rebus sie stantibus bzw. die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage im öffentlichen Recht. Freilich erscheint diese Überlegung auf den zweiten Blick nicht ganz so zweifelsfrei; denn zum einen ist das öffentliche Recht infolge seiner Verbindung mit Hoheitsbefugnissen und dem öffentlichen Interesse anders strukturiert als das Privatrecht. Zum zweiten spricht gegen eine vorbehaltlose Übernahme der privatrechtlichen Konstruktion in das öffentliche Recht der Umstand, daß diese wegen der Differenzen zwischen Lehre und Rechtsprechung nicht deutlich konturiert ist, so 16
Umfangreiche Nachw. bei Staudinger / Weber, (Fn. 2), Rdnrn. E 2 ff. sowie für die Zeit seit 1961 Staudinger / Schmidt, 12. Aufl. 1983, § 242 Rdnrn. 835 ff. 17 Hans J. Wolff , in: Gedächtnisschrift für Jellinek, 1955, S. 33 (40); Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, § 25 I a 1; vgl. auch A. Schule, VerwArch. 38 (1933), S. 399 (405), nach dem der „Redlichkeitssatz einen notwendig immanenten Bestandteil jedweden Rechts bilde(t)". is Wolff (Fn. 17), S. 37. 19 Besonders Schule (Fn. 17), S. 404ff, hebt hervor, daß die „allgemeinen Rechtsgedanken" im öffentlichen Recht nicht kraft Ableitung aus dem privaten Recht, sondern als eigenständige Rechtsprinzipien neben diesem gelten. 20 Aus dem nahezu unübersehbar gewordenen Schrifttum vgl. nur die Nachw. bei Staudinger / Weber (Fn. 2), Rdnrn. A 60ff.; Mayer / Kopp, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1985, § 30 V; Schule (Fn. 17); W. Knieper, Treu und Glauben im Verwaltungsrecht, Diss. Heidelberg 1933; F. Gowa, Die Rechtsnorm von Treu und Glauben im Verwaltungsrecht, Diss. Hamburg 1933; F. Gygi, Verwaltungsrecht und Privatrecht, 1956, S. 42; E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973, S. 169ff.; Wolff / Bachof (Fn. 17), § 411 c 2; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 1988, § 3 Rdnrn. 28ff.; M. Wallerath, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1985, § 6 V 4; F. Ossenbühl, DÖV 1972, S. 25ff. Aus der Rechtsprechung zuletzt etwa BVerwGE 44, 333 (336); 70, 41 (52ff.); BVerwG, DVB1. 1987, S. 94f.; OVG Münster, Städtetag 1987, S. 747.
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daß unklar bleibt, in welcher Ausgestaltung der Gedanke, einen Vertrag wegen veränderter Umstände modifizieren zu können, im öffentlichen Recht Eingang findet. Außerdem erscheint eine schlichte Übertragung der privatrechtlichen Grundsätze auf das öffentliche Recht auch problematisch, weil eine solche Rechtsanalogie eine Rechtslücke voraussetzen würde. Eine Lücke bestünde aber dann nicht, wenn im öffentlichen Recht ähnliche Rechtsgrundsätze wie im Privatrecht aufzudecken wären. a) Die Entwicklung der Lehre von der clausula rebus sie stantibus im gemeinen Recht fand zu einem Zeitpunkt statt, als öffentliches und privates Recht noch nicht voneinander geschieden wurden. 2 1 Zwar war die Trennung beider Rechtsgebiete bereits aus dem römischen Recht bekannt. 22 Eine konkrete Folgerung aus dieser Erkenntnis scheiterte jedoch daran, daß das öffentliche Recht nicht gleichermaßen gesetzlich ausgestaltet war und viele Hoheitsbefugnisse auf Rechtstiteln und Privilegien beruhten, die nach allgemeiner Meinung dem Privatrecht zuzurechnen waren. 23 Dies änderte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als eine Verrechtlichung vor allem der Verwaltung einsetzte, die nach napoleonischem Vorbild durch die Bildung fachlich gegliederter Ministerien mit monokratisch organisiertem Unterbau geformt wurde. 24 Diese Entwicklung war „nicht aus einer gewaltigen Krise von Staat und Gesellschaft .. . hervorgegangen, sondern aus einem langsamen Umbildungsprozesse in den einzelnen Territorien". 2 5 Vor allem nach dem Wiener Kongreß wurden die Forderungen nach Rechtsverfassungen, die den Staat normativ durchdringen, immer stärker. Der „Policey"-Staat wurde in den Sog des Verfassungsstaates einbezogen, die Verwaltung von dem selbstherrlichen Willen des Herrschers abgekoppelt und rechtsstaatlichen und demokratischen Ideen unterstellt. 26 b) Die neuen Verfassungen bewirkten einschneidende organisatorische Reformen auch der Verwaltung: 27 Ständische Verwaltungsgliederung und 21 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1924, S. 18; E. Kaufmann, Art. Verwaltung, Verwaltungsrecht, in: Fleischmann (Hrsg.), Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1914, S. 688 (701); N. Achterberg, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 1986, § 2 Rdnr. 52; Κ Stern, JZ 1962, S. 265f.; Wolff-Bachof (Fn. 17), § 7 I d; § 8 I I I a. 22 Näher K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 11. 23 Achterberg (Fn. 21); Mayer / Kopp (Fn. 20), § 1 I V 2; Forsthoff (Fn. 20), S. 19f. 24 Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 41 I I 3 b; Wolff-Bachof (Fn. 17), § 8 I I 1; F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, S. 37; Mayer (Fn. 21), S. 18; Kaufmann (Fn. 21), bes. S. 694; Forsthoff (Fn. 20), S. 30; Maurer (Fn. 20), § 2 Rdnrn. 8f. 2 5 Fleiner (Fn. 24), S. 28. 26 Κ Stern, Staatsrecht Bd. I, § 3 I l e ; Bd. II, § 41 I I 3a; zur Verfassungsentwicklung ausführlich G. Anschütz, Art. Deutsches Staatsrecht, in: v. Holtzendorff / Kohler (Hrsg.), Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, Bd. 4, 7. Aufl. 1914, S. 39ff. 27 Vgl. dazu G.-Chr. v. Unruh, in: Morsey (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, 1977, S. 23 ff.
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Provinzialsystem wurden durch das Ministerialsystem ersetzt. Die Bindung der Verwaltungstätigkeit an verfassungsstaatliche Prinzipien führte schließlich zur Ausbildung eines eigenständigen Verwaltungsrechts. 28 Die Rechtswissenschaft begann, die für die Verwaltung ausgebildeten Rechtssätze Edikte, Patente, Kabinettsordres - zu beherrschen und zu gliedern, zunächst nach der sog. staatswissenschaftlichen Methode, die an die Scheidung nach Verwaltungszweigen anknüpfte. 29 Den entscheidenden Fortschritt brachte dann die besonders von Otto Mayer auch auf das öffentliche Recht angewendete sog. „juristische Methode", 30 die von einem rechtsvergleichenden Ansatz aus durch Interpretation des positiven Verwaltungsrechts die für alle verwaltungsrechtliche Tätigkeit gültigen Rechtsinstitute und Rechtsgrundsätze zu abstrahieren suchte, um sie systematisch miteinander zu verknüpfen und damit die gesamte Verwaltungstätigkeit juristisch zu erfassen. 31 Nicht minder bedeutsam wurde die 1863 geschaffene Verwaltungsgerichtsbarkeit. 32 c) Das so entstandene Verwaltungsrecht wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als eigenständiges, neben dem Zivilrecht stehendes Recht begriffen, als „eigentliches Recht der Verwaltung", 3 3 wenngleich es manche Anlehnung im Privatrecht suchte und fand. So überraschte es nicht, daß die bislang allgemein geltende clausula rebus sie stantibus sehr bald ohne weitere Begründung auch als Rechtsgrundsatz des verselbständigten öffentlichen Rechts verstanden 34 und Gerichtsentscheidungen zugrunde gelegt wurde. 35 Jedoch hat die clausula-Lehre in jener Zeit im öffentlichen Recht nie in dem Maße im Blickpunkt der Diskussion gestanden wie im Privat28 Vgl. Mayer (Fn. 21), S. 55; Fleiner (Fn. 24), S. 37ff.; Kaufmann (Fn. 21), S. 691. Den Beginn machte Robert von Mohl mit seiner 1829/31 erschienenen Schrift „Staatsrecht des Königreichs Württemberg", in dem er aus dem Rechtsstaatsgrundsatz heraus ein „Verwaltungsrecht" entwickelt, das jedoch noch weitgehend als Verwaltungslehre zu verstehen ist (K Stern, JZ 1962, S. 265, Fn. 5). 29 Vgl. etwa G. Meyer, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 2 Bde. 1883/86, der an Lorenz von Stein anknüpft. 30 Als erster verwendete diese Methode F. F. Mayer, Grundsätze des Verwaltungsrechts, 1862. 31 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bde., 1. Aufl. 1895/96; vgl. dazu besonders W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 104ff.; ferner Κ Stern, JZ 1962, S. 265 (266); Fleiner (Fn. 24), S. 43f.; Achterberg (Fn. 21), § 2 Rdnr. 67. 32 Dazu bes. R. v. Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bd. II, 1860, S. 296f.; ders., Der Rechtsstaat, 1872, S. 167ff.; vgl. dazu Achterberg (Fn. 21), § 2 Rdnr. 59. 33 Mayer (Fn. 21), S. 55,115. 34 So etwa M. Fleischmann, Gruch. Beiträge Bd. 61 (1917), S. 689 (738ff.); W. Apelt, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, 1920, S. 222; vgl. auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 742, Fn. 1; ablehnend E. Josef, Preuß. VerwBl. Bd. 45 (1924), S. 436f. 35 So für das Staatsvertragsrecht etwa Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, RGZ 112, Anh. S. 21 ff.; Lammers-Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, Bd. I, S. 198 (202).
Die clausula rebus sie stantibus i m Verwaltungsrecht recht. Ursache dafür w a r , daß m a n als mögliche damals n u r Staatsvertragsrecht
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Anwendungsbereiche
i m Bundesstaat36 u n d
Völkervertragsrecht
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kannte. d) Das verwaltungsrechtliche
Vertragsrecht
19. Jahrhunderts d u r c h die A r b e i t e n v o n Otto W. Apelt
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w u r d e erst z u Ende des Mayer
38
u n d später d u r c h
erarbeitet u n d schließlich i n den 50er Jahren i n seinem heutigen
U m f a n g als g r u n d s ä t z l i c h zulässige F o r m des Handelns der V e r w a l t u n g neben dem Recht des Verwaltungsaktes durchgesetzt. 4 0 I m Jahre 1925 w a n d t e das K a m m e r g e r i c h t die clausula rebus sie stantibus erstmals auf einen V e r w a l t u n g s v e r t r a g a n . 4 1 W e i t e r w i r k e n d w u r d e indes erst die E n t scheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts v o m 13.6.1929, 4 2 i n der sich das Gericht eingehend m i t den Voraussetzungen der clausula rebus sie stantibus befaßte u n d feststellte, b e i i h r e r A n w e n d u n g sei eine eingehende W ü r d i g u n g der beiderseitigen u r s p r ü n g l i c h e n Vertragsinteressen, des o b j e k t i v e n Vertragsinhalts
sowie des Vertragszwecks
Rechtssystem u n d Wirtschaftsleben v o r z u n e h m e n . 4 3 schnell grundlegende Bedeutung z u e r k a n n t ;
44
für
das gesamte
Dem Urteil
wurde
n o c h heute w i r d es z i t i e r t . 4 5
36 Zu den bereits in Fn. 35 genannten Entscheidungen seien aus neuerer Zeit erwähnt BVerfGE 34, 216 (229ff.); 38, 231 (239); 42, 345 (358f.). 37 Ο. v. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, 1928, S. 530, 537. Zu den Beispielen, etwa dem Vorgehen Rußlands im Pontusfall 1870 oder Österreich-Ungarns 1908 bei der Annexion von Bosnien und der Herzegowina, vgl. E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus, 1911, S. 12ff.; W. Schaumann, Art. clausula rebus sie stantibus, in: Strupp-Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1960, Sp. 289; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, §§ 828ff.; P. Berger, Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. IV, 1952, S. 27ff. K -Η. Böckstiegel, JuS 1973, S. 759 (762) weist auf die Aufnahme des clausula-Prinzips in Art. 62 Wiener Konferenz von 1969 hin; dieses Prinzip wird im Völkerrecht überwiegend als Ausfluß des Selbsterhaltungsrechtes eines jeden Staates verstanden: so ausführlich Kaufmann, a.a.O., S. 192ff. 38 O. Mayer, Zur Lehre vom öffentlich-rechtlichen Vertrag, AöR Bd. 3 (1888), S. 3 ff. 39 W. Apelt, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, 1920. 40 Vgl. M. Imboden, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, 1958; J. Salzwedel, Die Grenzen der Zulässigkeit des öffentlich-rechtlichen Vertrages, 1958; Κ Stern, VerwArch Bd. 49 (1958), S. 106ff.; W. Apelt, AöR Bd. 84 (1959), S. 249ff.; E. Stein, AöR Bd. 86 (1961), S. 320ff.; M. Bullinger, Vertrag und Verwaltungsakt, 1962; W. Bosse, Der subordinationsrechtliche Verwaltungsvertrag als Handlungsform öffentlicher Verwaltung, 1974. 4 1 JW 1925, S. 2258 Nr. 8. 42 Bd. 84, S. 301 ff. Vgl. im übrigen die bei Apelt (Fn. 39), S. 219 Anm. 1 angeführten Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus den Jahren 1880 und 1881, nach denen öffentlich-rechtliche Verträge ihre rechtsverbindliche Kraft wegen des „Vorranges des öffentlichen Interesses" verlieren, „insofern als die Voraussetzungen des Verkehrs und der wirtschaftlichen Lage, unter denen diese Vereinbarungen getroffen worden sind, im Laufe der Zeit eine wesentliche Veränderung erfahren haben". 43 Vgl. die Ausführungen bei D. Tober, Die „clausula rebus sie stantibus" bei verwaltungsrechtlichen Verträgen, Diss. München 1970, S. 36f. 44 H. Bergmann, Die Auswertung von Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches im Rechtsbereich der Verwaltung, Diss. Leipzig 1946, S. 112; Gowa (Fn. 22), S. 57;
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Seit den 20er Jahren jedenfalls gilt der Grundsatz der clausula rebus sie stantibus unangefochten im öffentlichen Recht. 46 In den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes und der Länder hat er nunmehr in § 60 Abs. 1 S. 1 seinen Niederschlag gefunden: „Haben die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluß des Vertrages so wesentlich geändert, daß einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist, so kann diese Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse verlangen oder, sofern eine Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, den Vertrag kündigen." 3. Aus der soeben skizzierten Entwicklung der clausula rebus sie stantibus im Verwaltungsrecht lassen sich mehrere Schlußfolgerungen ziehen: a) Zum einen bedingte die Trennung von öffentlichem und privatem Recht Anfang des 19. Jahrhunderts, daß die clausula im öffentlichen Recht nicht an dem Bedeutungsverlust der privatrechtlichen clausula teilnahm, sondern weiterhin angewendet wurde. 47 Wenn demgegenüber W. Fiedler behauptet, E. Kaufmann hätte „die allgemeine Wiederentdeckung der clausula zu Beginn dieses Jahrhunderts bewirkt", 4 8 übersieht er, daß die clausula rebus sie stantibus im Völkerrecht und im sonstigen öffentlichen Recht nie auf Ablehnung gestoßen und ihre mangelnde Anwendimg im Verwaltungsrecht lediglich auf das Fehlen des Verwaltungsveriragsrechts zurückzuführen war. b) Zum anderen ist festzustellen, daß die clausula in ihrer ursprünglichen Form, in der sie im gemeinen Recht als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt war, Eingang in das öffentliche Recht gefunden hat, also ohne die von P. Oertmann erst 1921 entwickelte Lehre von der Geschäftsgrundlage. Auch waren die beiden grundlegenden Schriften, die sich mit der Anwendung der clausula rebus sie stantibus im öffentlichen (Vertrags-)Recht beschäftigten, nämlich E. Kaufmanns 1911 erschienene Monographie „Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus" sowie W. Apelts Abhandlung E. Auffenberg, Die clausula rebus sie stantibus im Verwaltungsrecht, Diss. Göttingen 1936, S. 37. 45 Fiedler (Fn. 4), S. 131; Tober (Fn. 43), S. 36f.; L.Simons, Leistungsstörungen verwaltungsrechtlicher Schuldverhältnisse, 1967, S. 178; sowie BVerwGE 25, 299 (303). 46 Vgl. Imboden (Fn. 40), S. 103, 107f.; Erichsen, in: Erichsen / Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1988, § 27 IV; Maurer (Fn. 20), § 14 Rdnr. 53; Mayer / Kopp (Fn. 20), § 23 II; Wolff / Bachof (Fn. 17), § 44 I l l d ; Forsthoff (Fn. 20), S. 283; Chr.-F. Menger, VerwArch Bd. 52 (1961), S. 196 (210); L. Eckert, DVB1. 1962, S. 11 (16f.); Fiedler (Fn. 4), S. 125ff.; Bosse (Fn. 40), S. 85f.; Simons (Fn. 45), S. 178ff.; Tober (Fn. 43); S. Littbarski, Der Wegfall der Geschäftsgrundlage im öffentlichen Recht, 1962; N. Bisek, Der öffentlich-rechtliche Vertrag, 1970, S. 149ff. 47 So auch Auffenberg (Fn. 44), S. 7. « VerwArch Bd. 67 (1976), S. 125 (129).
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„Der verwaltungsrechtliche Vertrag" von 1920, zu einer Zeit verfaßt worden, da die clausula noch in ihrer alten, an objektiven Kriterien ausgerichteten Form existierte; sie konnte daher nur in dieser Ausprägung auf das öffentliche Recht übertragen werden. Davon scheint auch das Preußische Oberverwaltungsgericht ausgegangen zu sein, als es in seiner bereits erwähnten Entscheidung auf den „objektiven Vertragsinhalt", nicht auf die Geschäftsgrundlage abstellte. c) Zum dritten zeigt die Entwicklungsgeschichte der öffentlich-rechtlichen clausula-Lehre, daß die uneingeschränkte Heranziehung von Treu und Glauben als Rechtsgrundlage nicht unproblematisch ist. Zu der Zeit, da die clausula-Lehre ihr öffentlich-rechtliches Eigenleben begann, galt der in § 242 BGB verankerte Rechtssatz noch nicht. Nicht von der Hand zu weisen dürfte daher die These sein: Jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches habe die clausula als allgemeiner, aus dem gemeinen Recht tradierter Rechtsgrundsatz gegolten. Als Folge einer etwa seit 1930 einsetzenden und schnell anerkannten Entwicklung des Grundsatzes von Treu und Glauben als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes mit Wirkung auch im öffentlichen Recht beeinflußte dieses Rechtsprinzip auch die clausula rebus sie stantibus, da beide wesensverwandte Gedanken enthalten, weil sie in einem Konflikt zu befriedigenden und gerechten Ergebnissen zu führen vermögen. 49 4. Diese Entwicklung führte schließlich dazu, daß zur Modifizierung unzumutbar gewordener Vertragsbestimmungen auch im öffentlichen Recht nicht mehr nur auf die clausula zurückgegriffen wurde, sondern ebenfalls die in § 242 BGB verankerte Lehre P. Oertmanns von der Geschäftsgrundlage herangezogen wurde. Beide Rechtsinstitute verschmolzen mit der Zeit miteinander dergestalt, daß man die Begriffe nebeneinander verwendete, teilweise gar miteinander kombinierte. 50 So hat beispielsweise das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die clausula rebus sie stantibus auch auf öffentlich-rechtliche Verträge anzuwenden . . . Hierbei wird an die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs angeknüpft. Diese spricht vom Wegfall der Geschäftsgrundlage, wenn grundlegende Umstände sich wesentlich ändern, die zwar nicht Vertragsinhalt (als Rechtsgrund, causa oder als Bedingung) geworden, andererseits auch nicht bloßer Beweggrund geblieben, sondern von beiden Vertragsparteien zur Grundlage des Geschäfts gemacht worden sind." 5 1 49 Zur Parallelität beider Rechtsinstitute Schule (Fn. 17), S. 427; Auffenberg (Fn. 44), S. 46. 50 Etwa Imboden (Fn. 40), S. 103: Die clausula „ist darauf zu beziehen, daß sich für die Parteien eine - an ihren subjektiven (!) Beweggründen gemessen - abweichende Lage ergeben hat". Ferner BVerwGE 17, 339 (341); 25, 299 (302f.); OVG Münster, DVB1. 1975, S. 46 (47); BayVGH, BayVBl. 1982, S. 177 (180).
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Auch bei der gesetzlichen Fixierung der clausula in § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG herrscht Uneinigkeit darüber, ob es sich um einen Fall der (objektiven) clausula 52 oder des (subjektiven) Wegfalls der Geschäftsgrundlage 53 handele. 54 a) Regelmäßig werden daher auf öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehungen sowohl die (objektive) clausula rebus sie stantibus als auch der (subjektive) Wegfall der Geschäftsgrundlage nebeneinander angewendet, ohne daß beide Rechtsinstitute abgegrenzt werden. 55 Diese undifferenzierte Anwendung ist jedoch nicht zu billigen; denn zwischen beiden Instituten bestehen nicht nur Unterschiede hinsichtlich der objektiven und subjektiven Komponenten, sondern auch noch andere Verschiedenheiten. Die clausula rebus sie stantibus ist ein jedem Vertrag innewohnender Bestandteil, während die Geschäftsgrundlage kein Vertragsinhalt ist, also gerade nicht Eingang in den Vertrag gefunden hat, vielmehr von den Vertragsparteien als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Außerdem erfaßt die clausula rebus sie stantibus nur eine nach Vertragsschluß eingetretene, also nachträgliche Veränderung der Umstände, die Geschäftsgrundlage hingegen bezieht auch vor Abschluß des Vertrages liegende Umstände mit ein. 56 b) Mit Recht haben diese Unterschiede das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 30.1.1973 veranlaßt, diese Differenzierung aufzugreifen und eine genauere Bestimmung beider Rechtsinstitute - jedenfalls für das öffentliche Recht - zu geben. 57 Danach liegt ein Wegfall der Geschäftsgrundlage vor, wenn „die Vertragsparteien übereinstimmend zur Grundlage ihrer Abrede das Fortbestehen eines bestimmten Tatbestandes gemacht haben und davon ausgegangen sind, die gemeinsam ins Auge gefaßte künftige Änderung dieses Tatbestandes als Grund für die Beendigung der Vereinbarung anzusehen." 58 si BVerwGE 25, 299 (3021). 52 So H. J. Bonk, in: Stelkens / Bonk / Leonhardt (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, § 60 Rdnr. 4; Fiedler (Fn. 4), S. 128f. (noch zu § 56 EVwVfG 1973). 53 So Mayer / Kopp (Fn. 20), § 23 II; Ule / Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Aufl. 1986, § 71 III, die von einer subjektiv-objektiven Theorie ausgehen; ähnlich K-D. Kawalla, Der subordinationsrechtliche Verwaltungsvertrag und seine Abwicklung, 1984, S. 122f. Vgl. auch Littbarski (Fn. 46), S. l l f . , der den Wegfall der Geschäftsgrundlage als das Institut von weitreichenderer Bedeutung ansieht, in dem die clausula mitenthalten sei. 54 Beides vermengend F. Kopp, § 60 Rdnr. 2, sowie H. J. Knack, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensrecht, § 60 Rdnr. 1, 3, der von clausula spricht, aber Wegfall der Geschäftsgrundlage meint; Maurer (Fn. 20), § 14 Rdnr. 53. ss K -Η. Böckstiegel, JuS 1973, S. 759 (761); L.Eckert, DVB1. 1962, S. 11 (16); G. Beinhardt, VerwArch. Bd. 53 (1964), S. 210 (259); Simons (Fn. 45), S. 185; sowie Tober (Fn. 43), S. 59f, die aus der Verpflichtung der Verwaltung, stets die öffentlichen Interessen zu beachten, folgern, es könne nur die objektive Theorie zur Anwendung kommen, weil Parteiinteressen insoweit unbeachtlich seien. 56 J. Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit als allgemeine Grenze öffentlich-rechtlicher Pflichten des Bürgers, 1973, S. 17. s? BVerfGE 34, 216 (229ff.).
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Die clausula rebus sie stantibus erfaßt demgegenüber nach Meinung des Gerichts Sachverhalte, in denen auch bei „vertraglich unbeschränkt und vorbehaltlos gegebenen Garantien . . . sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag . . . für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist". 5 9 c) Die so umschriebene clausula rebus sie stantibus spielt nach Ansicht des Gerichts „teils positiviert, teils innerhalb von geschriebenen Generalklauseln, teils als ungeschriebener Rechtssatz" in praktisch allen Rechtsgebieten eine Rolle. 60 In den weiteren Ausführungen begrenzt das Bundesverfassungsgericht seine Untersuchungen freilich auf das Verfassungsrecht und stellt ohne weitere Begründung fest: „Die clausula rebus sie stantibus ist ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts". 61 Als Rechtsgrundlage zieht es den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens heran. Diese Deduktion für staatsvertragliche Beziehungen mag auf den ersten Blick verblüffen, war doch bislang immer davon ausgegangen worden, daß die clausula rebus sie stantibus im Grundsatz von Treu und Glauben wurzelt. Wenn man freilich das Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens näher analysiert, so stellt sich heraus, daß es auch nichts anderes als ein Verbot der rechtsmißbräuchlichen Ausübung von Rechten darstellt, also selbst eine Ausprägimg von Treu und Glauben ist, 6 2 nur mit dem spezifischen Bezug zum Verfassungsrecht. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet also die unter Berufung auf Hans J. Wolff vertretene These, Treu und Glauben sei ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, seine Bestätigung. 5. Aus der grundsätzlichen Anerkennung der clausula rebus sie stantibus auch auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts läßt sich zunächst ableiten, daß dieses Rechtsinstitut wie im Privatrecht in denjenigen Bereichen, in denen der Abschluß von Verträgen zulässig ist, herangezogen werden kann, also im Recht der öffentlich-rechtlichen (Verwaltungs-)Verträge. 63 Dies hat jüngst auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bestätigt. 64 § 60 Abs. 1 S. 1 58
Ebd., S. 230. Ebd., S. 230, 232. 60 Ebd., S. 230. Auf das Außerkrafttreten von Rechtssätzen wegen „völliger Veränderung der Verhältnisse" weisen hin außer Auffenberg (Fn. 44), S. 13, besonders BVerwGE 28, 179 (182) und 38, 76 (81) - zur Frage von Kirchenbaulasten. 61 Ebd., S. 231. 62 Vgl. K. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 19 I I I 4 d; R. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Art. 20 Rdnr. 63 zu IV, der ausdrücklich auf § 242 BGB hinweist; Schule (Fn. 17), S. 399 (422), unter Bezug auf P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl. 1911, S. 123. 63 Vgl. die Nachw. in Fn. 46. 64 BayVBl. 1988, S. 721, obgleich in diesem Urteil die früher in Rechtsprechung und Lehre entwickelten, auf § 242 BGB zurückgehenden Grundsätze über die Änderung und den Wegfall der Geschäftsgrundlage angewendet werden. 59
50 Festschrift P. Mikat
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VwVf G hat diese Entwicklung positivrechtlich verfestigt. Offen ist indessen, ob dieser Grundsatz über das Vertragsrecht hinaus Anwendung findet. So ist etwa zu überlegen, ob das clausula-Prinzip auch auf die zwischen Staat und Bürger bestehenden vertragsähnlichen Beziehungen, die gemeinhin mit dem Begriff „verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse" 65 bezeichnet werden, erstreckt werden muß. a) Die Entwicklung des modernen Staates zum Sozialstaat ließ Leistungsbeziehungen zwischen Staat und Bürger entstehen, die sich nicht mehr an den herkömmlichen Kriterien einseitigen staatlichen Handelns orientierten, sondern die Verwaltung auch auf die Schuldnerseite einer Leistungsbeziehung rückten. Verwaltungsrechtliche Gläubiger-SchuldnerBeziehungen, bei denen die Interessen der Beteiligten an Durchführung und Abwicklung des Rechtsverhältnisses den Interessenlagen der Parteien eines privatrechtlichen Schuldverhältnisses durchaus vergleichbar waren, avancierten zum Instrumentarium des leistungsstaatlichen Verwaltungsrechts. Die Ähnlichkeit beider Rechtsbeziehungen führte sehr bald dazu, mangels einschlägiger öffentlich-rechtlicher Rechtssätze einzelne Privatrechtsinstitute auf das öffentliche Recht zu übertragen, etwa die Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677ff. BGB oder die ungerechtfertigte Bereicherimg nach §§ 812 ff. BGB, und als Folge dieser Entwicklung ein „Verwaltungsschuldrecht u als eigenständiges Institut des Verwaltungsrechts anzuerkennen. 66 Eine erste gesetzgeberische Festschreibung versuchten die Art. 108 ff. des Entwurfs einer Verwaltungsrechtsordnung für Württemberg von 1931. Man wollte auf diese Weise erreichen, privatrechtliche Rechtsgedanken auch als allgemeine Rechtsgrundsätze für öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse heranziehen zu können, insonderheit die Rechtsgrundsätze des Rechts der Leistungsstörungen. b) Innerhalb des so geschaffenen Verwaltungsschuldrechts bestehen verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse. Sie entstehen auf Grund öffentlichrechtlicher Rechtsnormen durch Gesetz, Verwaltungsakt, Vertrag oder sozialen Kontakt 6 7 und bedeuten eine öffentlich-rechtliche Sonderverbindung, kraft deren eine Vermögenswerte Leistung gefordert oder geschuldet 65 Vgl. Wolff / Bachof (Fn. 17), § 44; Simons (Fn. 45), S. 15; W. Löwer, NVwZ 1986, S. 793ff.; H. Bauer, DVB1. 1986, S. 208 (216f.). 66 Vgl. etwa Erichsen (Fn. 46), § 30; Maurer (Fn. 20), § 28 Rdnrn. 2f.; Eyermann / Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl. 1988, § 40 Rdnr. 6; F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1983, S. 221 ff.; B. Bender, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1981, Rdnr. 804ff.; Simons (Fn. 45), passim; G. Schwär, Leistungsstörungen bei der Erfüllung öffentlich-rechtlicher Leistungspflichten, Diss. Köln 1968, bes. S. 2Iff.; H. P. Papier, Die Forderungsverletzung im öffentlichen Recht, 1970; W. Löwer, NVwZ 1986, S. 793ff.; H. Hill, NJW 1986, S. 2602ff.; H. Bauer, DVB1. 1986, S. 208ff.; D. Ehlers, DVB1. 1986, S. 912ff.; F. Schnapp, DÖV 1986, S. 811ff.; Th. Fleiner-Gerster / Th. Öhlinger / P. Krause, W D S t R L Heft 45 (1987), S. 152 ff. e? Hill (Fn. 66), S. 2608 mit weit. Nachw. in Anm. I l l ; Wolff / Bachof (Fn. 17), § 44 H C 3.
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wird. 6 8 Allerdings dürfen Rechtsbeziehungen nicht schon dann als verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse qualifiziert werden, wenn sie sich lediglich in der Erfüllung der durch Gesetz oder Verwaltungsakt einseitig auferlegten Pflichten erschöpfen, da ansonsten das Institut ungebührlich ausgedehnt und seiner spezifischen Eigenart einer über die allgemeinen öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen hinausgehenden Verbindung zwischen Verwaltung und Privatrechtssubjekt beraubt würde. 6 9 Es muß sich vielmehr um eine Sonderverbindung handeln, in der eine „gesteigerte Berücksichtigung der Interessen der jeweils Beteiligten" 7 0 auf beiden Seiten nach Art von besonderen Treue- und Rücksichtspflichten eine Rolle spielt. c) Neben den bislang anerkannten einseitig und zweiseitig verpflichtenden verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnissen hat sich in neuerer Zeit die Figur des sog. mehrseitigen (polygonalen) Rechtsverhältnisses herauskristallisiert. 7 1 Darunter versteht man Beziehungen zwischen mehreren Rechtssubjekten und der Verwaltung, die dabei regelmäßig teils Gläubiger, teils Schuldner ist. 7 2 Polygonale Rechtsverhältnisse sind durch gegenläufige Individualrechtspositionen dergestalt gekennzeichnet, daß die Anerkennung der Rechte des einen auf Kosten der Rechte des anderen geht. Hier ist es notwendig, von Anfang an einen angemessenen Ausgleich zwischen diesen Positionen zu finden und „Wertungswidersprüche" mit den Mitteln des Schuldrechts abzugleichen. 73 d) Die Einbeziehung derartiger verwaltungsrechtlicher Schuldverhältnisse in den Geltungsbereich der clausula rebus sie stantibus wird vom Grundsatz von Treu und Glauben gedeckt; denn wenn dieses Prinzip als all68
Wolff /Bachof (Fn. 17), §44 I; D.Ehlers, DVB1. 1986, S. 912 (913f.); Simons (Fn. 45), S. 59; L. Eckert, DVB1. 1962, S. 11; J. Hüttenbrink, DVB1. 1981, S. 989 (990); zu den Schwierigkeiten einer einheitlichen Begriffsbildung Ossenbühl (Fn. 66), S. 230f. 69 Zu Recht warnt E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, S. 26 Anm. 40 davor, durch ausufernde Anwendung des Verwaltungsschuldrechts „die Systematik des Verwaltungsrechts ganz auf diese Rechtsfigur aufbauen zu wollen". 70 So die Formulierung von Simons (Fn. 45), S. 49; ferner Bender (Fn. 66), Rdnr. 810; Ossenbühl (Fn. 66), S. 231; B. Janson, DÖV 1979, S. 696 (697); Hill (Fn. 66), S. 2607; Eckert (Fn. 68), S. 11; P. Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 251; vgl. auch G. Dahm, Deutsches Recht, 1951, S. 539: „eine organische Leistung und Gegenleistung umspannende Lebenseinheit". Seit BGHZ 21, 214 (218) ständige Rspr. mit der Formulierung, es müsse ein „besonders enges Verhältnis des einzelnen zum Staat oder zur Verwaltung begründet" sein; zuletzt etwa BGHZ 54, 299 (303); 59, 303 (305); 61, 7 (11); 63, 167 (172); BGH, NJW 1977, S. 197 (198); auch Bad.-Württ. VGH, VB1BW 1982, S. 369. 71 Vgl. Schnapp (Fn. 66), S. 817; Hill (Fn. 66), S. 2606; Bauer (Fn. 66), S. 218; Schmidt-Aßmann (Fn. 69), S. 23, 26ff.: „dreipolig oder mehrpolig"; ähnlich W. Martens, DÖV 1982, S. 89 (96): „bipolar oder trigonal"; Ehlers (Fn. 66), S. 915: „bilateral". 72 Vgl. Schnapp (Fn. 66); Ehlers (Fn. 66). 73 Ehlers (Fn. 66), S. 916; Bauer (Fn. 66); auch R. Scholz, VVDStRL Heft 34 (1976), S. 145 (157); Schmidt-Aßmann (Fn. 69), S. 23; Hill (Fn. 66), S. 2609. 50'
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gemeiner Rechtsgrundsatz eine Konkretisierung des Gerechtigkeitsprinzips darstellt, kann seine Geltung nicht von der zufällig gewählten Rechtsform der in Frage stehenden Verbindung abhängen, sondern muß deren materiellen Gehalt berücksichtigen. Gehen die Leistimgsbeziehungen zwischen den Beteiligten über den allgemeinen, einseitig verpflichtenden Gesetzesvollzug hinaus und begründen wechselseitige Gläubiger- und Schuldnerpositionen sowie zusätzliche Treue- und Loyalitätspflichten, so erfordert eine solche Sonderverbindung die Anwendung der clausula rebus sie stantibus auch im Rahmen dieses Schuldverhältnisses. Würde man das Institut wie im Privatrecht nur auf Verträge und nicht auch auf verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse anwenden, so läge darin ein Bruch mit der gesamten Konstruktion und Entwicklung des Verwaltungsschuldrechts. Über diese allgemeinen Überlegungen zur Heranziehung von Treu und Glauben in verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnissen hinaus, hat gerade der Grundsatz der Änderung der Sach- und Rechtslage im öffentlichen Recht einen verstärkten gesetzlichen Niederschlag gefunden. Die Regelung in § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG wurde bereits erwähnt. Nach Satz 2 dieser Bestimmung können Behörden Verträge schon kündigen, „um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen." Ähnliche Gründe gelten für den Widerruf eines Verwaltungsaktes nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwVfG oder für den Anspruch auf Erlaß eines sog. Zweitbescheids beim Wieder auf greif en des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. 7 4 Aus diesen Regelungen wird gelegentlich sogar ein „allgemeines Prinzip des gesamten Verwaltungsrechts" erschlossen, 75 wonach die clausula rebus sie stantibus schlechthin im Verwaltungsrecht anwendbar ist. Dies mag offen bleiben. Sicher ist jedenfalls, daß um der Wahrung öffentlicher Interessen willen 7 6 eine Verwaltungsbehörde sich unter erleichterten Bedingungen aus Bindungen, seien sie vertraglicher, vertragsähnlicher oder vergleichbarer Art lösen kann. 7 7
74 K. Stern, Verwaltungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, 6. Aufl. 1987, S. 79ff. 75 So Simons (Fn. 45), S. 184. 76 Forsthoff (Fn. 20), S 283; Chr.-F. Menger, VerwArch. Bd. 52 (1961), S. 196 (219); G. Beinhardt, VerwArch. Bd. 55 (1964), S. 210 (258f.); Eckert (Fn. 68), S. 16; Imboden (Fn. 40), S. 107f.; H.-J. Wipfelder, BayVBl. 1976, S. 423ff.; abl. Fiedler (Fn. 4), S. 146f. Aus der Rspr. etwa BVerwGE 25, 299 (303); OVG Münster, DVB1. 1975, S. 46 (47). 77 H.J. Bonk, in: Stelkens / Bonk / Leonhardt (Fn. 52), §60 Rdnr. 16; Menger (Fn. 76); M. Bullinger, DÖV 1977, S. 812 (817); Wipfelder (Fn. 76), S. 426. Aus der Rspr. BVerwGE 25, 299 (303); OVG Münster, OVGE 26, 131 (137); OVG Münster, DVB1. 1975, S. 46 (47).
Die clausula rebus sie stantibus i m Verwaltungsrecht
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III. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß im öffentlichen Recht nicht nur im Rahmen von Verträgen, sondern auch in verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnissen veränderten Umständen rechtliche Konsequenzen zugemessen werden können. Anders als im bürgerlichen Recht ist im öffentlichen Recht das objektiv ausgeformte Prinzip der clausula rebus sie stantibus erhalten geblieben. Im Laufe der Zeit verband es sich mit dem Prinzip des Wegfalls der Geschäftsgrundlage dergestalt, daß objektive und subjektive Kriterien Bedeutung zu erlangen vermögen. Die umfassende Geltung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben im öffentlichen Recht hat sowohl die clausula rebus sie stantibus als auch den Wegfall der Geschäftsgrundlage in sich aufgenommen.
V . Z i v i l r e c h t - Internationales Privatrecht
Toterklärung - Todeszeitfeststellung Irrige Totmeldung Ehe-, kindschafts- und erbrechtliche Überlegungen zu drei ähnlichen Tatbeständen Von Friedrich Wilhelm Bosch I. Einleitung1 1. Kurz nach Inkrafttreten des BGB veröffentlichte Heinrich Dernburg in der Festschrift für den XXVI. Deutschen Juristentag (1902) eine Abhandlung mit der Überschrift „Wiederverheiratung im Falle der Todeserklärung eines Gatten" und bemerkte dazu einleitend: „Ich wählte eine Frage, welche eine große praktische Bedeutung nicht in Anspruch nimmt, die aber ein hohes ethisches Interesse hat, auch eines weiteren Hintergrundes nicht entbehrt." Nach der grundlegenden Änderung des Eherechts - darunter auch der einschlägigen §§ 1348 - 1352 BGB - durch das Ehegesetz vom 6.7.1938 begann Hans Tig g es seine Darlegungen zur Neuregelung 2 mit den Worten: „Die Wiederverheiratung eines Ehegatten nach einer Todeserklärung des anderen Ehegatten und deren Folgen enthalten eines der am wenigsten beachteten, aber eigenartigsten Probleme des Eherechts." 3 Und nach der Neufassung des Ehegesetzes durch den Alliierten Kontrollrat anno 1946 konstatierte Erich Volkmar 4 - einer der Mitverfasser des EheG v. 1938 - : 1 Bewußt wird aus sprachlichen Gründen hier i.d.R. von „ Toierklärung" einer bestimmten Person gesprochen - nicht von „Todeserklärung" - , also davon, daß eine Person als tot erklärt worden ist. Beides ist sprachlich wohl nicht ganz korrekt; denn die fragliche Person erklärt selbst bekanntlich gar nichts (was die genetivische Ausdrucksweise - „Toterklärung des X " - andeuten könnte). Der Einfachheit halber wird die Ehe des später verschollenen mit dem zurückgebliebenen Partner als „Erstehe" bezeichnet, die vom Zurückgebliebenen mit einem anderen Partner eingegangene Ehe dagegen als „Zweitehe". (Natürlich können im Einzelfall andere eheliche Verbindungen vorausgegangen sein; dies ändert jedoch an der Problematik nichts.) Wertvolle Informationen zum ausländischen Recht gaben folgende Kollegen: A w . Prof. Bettoni (Rom), Prof. Beys (Athen), Dr. Peter Dopffel (Hamburg), Prof. Habscheid (Zürich), Prof. Luijten (Nijmegen), Prof. Skqpski (Krakau) und Prof. Weyers (Frankfurt/M.). 2 ZAkDR 1939, S. 272. 3 Tigges - ein Studiengenosse des Verfassers - entwickelte bereits damals eine Fülle kritischer Einzelfragen. 4 SüddJurZ 1949, S. 322 f.
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„Die Fälle, in denen für tot erklärte Gatten oft Jahre nach der Todeserklärung heimkehren und die Frau inzwischen wiederverheiratet vorfinden, bilden eine Massenerscheinung, aus der sich die verwickeltsten Rechtsfragen ergeben." Volkmar meinte am Ende seiner Darlegungen, obwohl die diesbezügliche Regelung des Jahres 1938 (§§ 43 - 45 EheG 1938) im Jahre 1946 unverändert (§§ 38 - 40 EheG 1946) übernommen worden war: „Schon die hier erörterten Fälle zeigen im übrigen, wie wünschenswert es wäre, daß der ganze Fragenkomplex einmal einheitlich im Wege der Gesetzgebung klar geregelt würde." 5 2. Derzeit findet man in der Literatur 6 begreiflicherweise recht häufig die Feststellung, das Thema der objektiv unrichtigen Toterklärung sei fast unbedeutend geworden, was für die gegenwärtige Situation in der Bundesrepublik Deutschland nicht geleugnet werden soll. Gleichwohl mag die Problematik aus Anlaß des Festtages von Paul Mikat, der sich wie kaum ein anderer immer wieder mit Fragen des Eheschließungsrechts und dessen geschichtlicher Entwicklung befaßt hat 7 , hier eine gewisse grundsätzliche Behandlung erfahren. Der Jubilar wird dem Verfasser sicher zustimmen, wenn dieser meint: Ein Grundsatzthema muß auch dann erörtert werden, wenn es im Augenblick für die uns nächststehende (zivile) Rechtsordnung nicht sonderlich bedeutsam ist. Die Aktualität könnte sich, auch wenn wir es ganz und gar nicht wünschen, künftig durchaus wieder ergeben: Die (in bezug auf praktische Häufigkeit) gegensätzliche Kennzeichnung des Themas durch die vorgenannten drei Autoren ist insoweit symptomatisch. Erdbeben, Luftverkehrsunfälle und andere Katastrophen im In- oder Ausland mit danach einsetzender Ungewißheit des Fortlebens lassen sich auch für deutsche 5 Eine bemerkenswerte Einsicht dessen, der einige Jahre vorher genau die kritisierte Regelung mitverfaßt und kommentiert hatte (vgl. „Großdeutsches Eherecht", Kommentar von E. Volkmar u.a., 1939). Ferner s. Volkmar, SüddJurZ 1950, 271 ff. Zum EheG 1938 vgl. die Kommentare von Massfeiler (1938), v. Scanzoni (3. Aufl. 1943) und Volkmar; zum EheG 1946: RGRK / Wüstenberg (10./11. Aufl. 1962); v. Godin (2. Aufl. 1950); Hoffmann / Stephan / Johannsen / Appell (2. Aufl. 1968); Soergel / Heintzmann (12. Aufl. 1987); MünchKomm / Müller-Gindullis (2. Aufl. 1989); Palandt / Diederichsen (48. Aufl. 1989); Johannsen / Henrich, Eherecht - Scheidung, Trennung, Folgen (Komm., 1. Aufl. 1987, insbes. S. 980ff.); Massfeiler / Boehmer / Coester, Das gesamte Familienrecht (Komm.), sowie die Familienrechts-Lehrbücher von Beitzke (25. Aufl. 1988), Gernhuber (3. Aufl. 1980), Dolle (Bd. I, 1964, S. 352ff. §§ 29, 30), D. Schwab (4. Aufl. 1986), Th. Ramm (Familienrecht, Bd. I: Recht der Ehe, 1984). Grundsätzlich bedeutsam nach wie vor: Martin Wolff, Lehrbuch des BürgR - Familienrecht - , 7. Bearb. 1931, § 30; P. H. Neuhaus, Ehe und Kindschaft in rechtsvergleichender Sicht, 1979, § 14 I - S. 134ff. 6 Vgl. z.B. Johannsen in: Johannsen / Henrich (Fn. 5), S. 980, Rz. 1 zu §§ 38, 39 EheG; Ramm (Fn. 5), §58 II; Massfeller u.a. (Fn. 5), Rz. 1 zu §38 EheG; auch Palandt / Heinrichs, BGB-Komm., Anhang - VerschG, Rz. 3 der Einf. 7 Vgl. etliche in Band 2 der „Religionsrechtlichen Schriften" (1974) erneut abgedruckten Arbeiten; ferner neues tens: Die Polygamiefrage in der frühen Neuzeit (Rhein.-Westf. Akademie der Wissenschaften, 1987/88).
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Staatsbürger nicht ausschließen, von niemals aufgeklärten Entführungstatbeständen, großen Flüchtlingsbewegungen oder einem möglichen Atomunfall ganz zu schweigen. Ferner handelt es sich gewiß um einen Fragenkomplex, der, wie für uns, auch für andere Rechtsordnungen - also global - bedeutsam ist und eine gesetzliche Ordnung, ebenso oder anders als bei uns, auch anderweit erfahren hat oder erfahren sollte und der wohl um so schwieriger zu bewältigen ist, je weniger andernorts das System der Beurkundung der Personenstandsfälle - insbesondere das Benachrichtigungswesen - zuverlässig gehandhabt wird 8 . 3. Einleitend erscheint schließlich erwähnenswert, daß unser Thema, soweit es das Eherecht betrifft, - wie u. a. Martin Wolff und Ludwig Kaas im Jahre 1919 berichtet haben 9 - immer wieder zu literarisch-dichterischer Gestaltung angeregt hat. Wolff und andere nennen primär Alfred Tennysons Vers-Epos „Enoch Arden" (1864 erschienen) 10 , Wolff weiter so bedeutende Namen wie Maupassant, Körner, Shaw und Tolstoi. Es wäre gewiß reizvoll, später einmal auch über diese Bearbeitungen des Themas zu berichten 11 . Vor einigen Jahren erhielt übrigens der Verfasser dieses Beitrags die Anfrage eines Romanschriftstellers bezüglich der Rechtslage und antwortete natürlich prompt, schon damit Irrtümer möglichst vermieden würden. 4. Nicht einmal Volljuristen - sit venia verbo - sind immer in den einschlägigen Rechtsfragen zuverlässig orientiert. So behauptete anno 1948 ein Hamburger Notar in einem Rundfunkvortrag, durch die Todeserklärung werde die Ehe des Betroffenen aufgelöst, und ließ sich durch gründliche Darstellung der Rechtslage nicht belehren. Das OLG Oldenburg - FamRZ 1958, S. 321 f. - äußerte dieselbe Rechtsauffassung, ohne daraus allerdings besondere Konsequenzen zu ziehen 12 . Ferner ergibt ein Urteil des OLG Düsseldorf - FamRZ 1965, S. 612 - , daß ein Rechtsanwalt für seinen Mandanten, einen nach Toterklärung seiner ersten Ehefrau wiederverheirateten Ehemann, bei Wiederauftauchen der toterklärten Frau gegen diese Ehescheidungsklage angestrengt hatte, nicht wissend, daß die Erstehe längst aufgelöst war 13. 8 Man vergleiche etwa § 40 des deutschen PStG und die §§ 31, 33 ff. der AusfVO z. PStG. Die entsprechenden Personenstandsgesetze anderer Länder sind dem Verfasser leider nicht geläufig. Für angemessene Lösung auch seltener Fälle ebenfalls G. Beitzke, in: FamRZ 1981, S.1122. 9 M. Wolff, in: Festgabe der Bonner Jur. Fakultät für Karl Bergbohm zum 70. Geburtstag (Bonn 1919), S. 116ff.; L. Kaas, Kriegsverschollenheit und Wiederverheiratung nach staatlichem und kirchlichem Recht (Paderborn 1919). 10 Das Hauptproblem wird daher gelegentlich als „Enoch-Arden-Thema" bezeichnet. Das Werk von Tennyson wurde von F. W. Weber ins Deutsche übersetzt. 11 Penelope, die Gemahlin des Odysseus, darf in diesem Zusammenhang - entgegen einer Göttinger jur. Dissertation von Emil Israel (Die Wiederverheiratung im Falle der Todeserklärung nach bürgerlichem Recht, 1933, S. 7 Anm. 1) - nicht genannt werden; denn sie blieb trotz der „Freier" dem Odysseus treu (23. Gesang von Homers Odyssee). 12 Das Urteil ist im übrigen durchaus beachtlich.
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Die Kenntnisse in bezug auf Grundsatzfragen des Familienrechts sind nicht allzu sehr verbreitet 14 . 5. Im übrigen ist das Thema der irrigen Toterklärung - im In- und Ausland - keineswegs nur für das Eheschließungsrecht erheblich. Frankreich und Italien z.B. scheinen (oder schienen bis vor kurzem) erheblich mehr Wert auf die Regelung der erbrechtlichen Fragen zu legen 15 . In der deutschen Literatur ist dagegen, wenn von den Themen des Eheschließungsrechts berichtet wird, kaum einmal ein Hinweis auf die erbrechtliche Situation zu finden 1 5 3 . Man vergesse ferner nicht, daran zu denken, daß für den Abwesenden längst bevor an Toterklärung gedacht werden kann - oft ein Abwesenheitspfleger bestellt werden muß (§ 1911 BGB), also jemand, der in Vermögensangelegenheiten als gesetzlicher Vertreter des Abwesenden, nach dem (wirklichen) Tode des letzteren als Vertreter der Erben zu handeln berufen ist. In den erwähnten beiden romanischen Rechtsordnungen wird der Zusammenhang zwischen „absence" oder „assenza" und den rechtlichen Folgen eines vermuteten oder wirklich eingetretenen Todes der vermißten Person sehr viel deutlicher 16 . II. Vorläufige Verdeutlichung der Probleme des Eheschließungsrechts 1. Wie den meisten (so hoffen wir) geläufig, ist der Grundtatbestand in bezug auf die - auch hier im Vordergrund stehenden - eheschließungsrechtlichen Fragen folgender: Ein verheirateter Mitbürger wird vermißt, juristisch ausgedrückt: gerät nach längerer Zeit i.S. des § 1 des VerschG von 1939/1951 in Verschollenheit. Nach Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Fristen ( § § 3 - 7 VerschG, 13 In 2. Instanz ging der Kläger zu einer Klage auf Feststellung des Nicht-mehrBestehens der Erstehe über. Dieser Antrag war begründet, da die beklagte ersteheliche Frau die Ansicht äußerte, die Erstehe bestehe fort, weil die zweite Ehefrau des Klägers inzwischen verstorben war. 14 Dies beruht auch auf den insoweit verfehlten Regelungen über Ausbildung und Prüfung der Juristen. 15 Dazu vgl. unten Abschn. V 4 und V 8, auch nachstehende Fn. 16. 15a Ausnahme: die unten Fn. 22 erwähnten Arbeiten von Erich Schubart; ferner P. R. Nitzsche, Zum Totenrecht, in: AcP 145 (1939), S. Iff.; auch Rudolf Schmidt, Die Verschollenheit nach geltendem und künftigem Recht (1938) - eine anregende Abhandlung mit etlichen rechtsvergleichenden Hinweisen und beachtlichen Erwägungen de lege ferenda - . 16 Frankreich: Art. 112 - 132 des Code civil i.d.F. von 1977 (mit den Begriffen „présomption d'absence" und „déclaration d'absence"; letztere kommt nur teilweise unserer „Todeserklärung" gleich und hat keineswegs die gleichen Wirkungen). Italien: Art. 48ff. des Codice civile (mit den Begriffen „assenza" - Abwesenheit und „dichiarazione di morte presunta" - wörtlich übersetzt: Erklärung des vermuteten Todes).
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Art. 2 §§1, 2 VerschÄndG) wird er im Aufgebotsverfahren (§§2, 13ff. VerschG) für tot erklärt und ein (wahrscheinlicher) Todeszeitpunkt festgestellt (§§ 23, 9 II, I I I VerschG). Hierdurch wird bei Rechtskraft des Beschlusses die Vermutung - und nur die Vermutung (§9 1 VerschG) - begründet, der Toterklärte sei in dem im Beschluß festgestellten Zeitpunkt (§ 9 II, I I I VerschG) gestorben. Dies bedeutet u. a. auch, daß nunmehr vermutet wird, die Ehe des Verschollenen sei zu diesem Datum durch den Tod aufgelöst worden, sowie logischerweise ferner, bis zu diesem Zeitpunkt habe die Ehe fortbestanden 16a . Ergibt sich nichts weiteres, so bleibt es bei dieser Vermutung, konkret auch dahin, daß der Ehegatte des Verschollenen als verwitwet anzusehen ist und daher eine andere Ehe eingehen kann (wobei das Ehehindernis der lOmonatigen Wartezeit - § 8 EheG 1946 - wohl kaum je Probleme bieten dürfte, da die „Wartefristen" des Verschollenheitsrechts ohnehin schon relativ lang sind und als Todeszeitpunkt nach § 9 II, I I I VerschG oder nach Art. 2 § 2 I I I VerschÄndG meist ein weit zurückliegendes Datum festgestellt wird). Falls sich später herausstellen sollte, daß der Verschollene zu einem anderen Zeitpunkt - vor dem der Wiederverheiratung des Partners - gestorben ist, ist entgegen der Todeserklärung bewiesen, daß die Ehe (Erstehe) durch den wirklichen Tod beendet wurde. Die „kritische Situation" ist (in bezug auf das Eherecht) allein die, daß der Toterklärte nicht nur die Toterklärung, sondern auch die Wiederverheiratung seines Ehepartners überlebt hat und nun eines Tages „wieder dasteht" oder sich wenigstens meldet. Auf diesen Fall - und nur auf diesen - bezogen sich vom 1.1.1900 bis 31.7.1938 die Normen in §§ 1348 - 1352 BGB, vom 1.8.1938 bis 28.2.1946 die unterschiedlichen §§ 43 - 45 EheG 1938; und ab 1.3.1946 traten insoweit die - nur in der Paragraphenzählung abweichenden, also mit der Regelung von 1938 inhaltlich voll übereinstimmenden §§ 38 - 40 EheG 1946 in Kraft 1 7 . Die eherechtlichen Hauptprobleme waren früher (zumindest seit 1900) und sind nach geltendem Recht weiter: die i. d. R. wirksame Eingehung einer i6a z u r Todesvermutung des § 9 I VerschG und zur daraus hergeleiteten „unselbständigen Lebens Vermutung" s. Helmut Strebel, Die Verschollenheit als Rechtsproblem (1954), S. 95; ebd. auch zur sog. selbständigen Lebensvermutung des § 10 VerschG, die nur gilt, „solange ein Verschollener nicht für tot erklärt ist". 17 Die Änderung der Paragraphenzählung im Kontrollrats-EheG 1946 war völlig abwegig. In Österreich hat man diese „Neuordnung" nicht mitgemacht, so daß dort nach wie vor die §§ 43, 44 EheG 1938 - als Teile des sog. österreichischen EheG - gelten. Dazu s. F. Schwind, Komm. z. österr. Eherecht, 2. Aufl. 1980, und dens. in der 3. Aufl. des „Systems des österr. allg. Privatrechts" von A. Ehrenzweig, neubearb. von F. Schwind (1984), S. 33ff., 38f. § 40 EheG 1946 wurde 1957/58 durch andere Regelungen ersetzt (s. dazu unten vor Fn. 32).
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Zweitehe durch den Partner und die gleichzeitig bewirkte Auflösung der Erstehe, ferner - nach Entdeckung des Irrtums - die Möglichkeit der späteren Auflösung der Zweitehe auf Verlangen eines oder mehrerer Beteiligter und die etwaige Wiederherstellung der Erstehe 18 . Die anstehenden Fragen sind in Vergangenheit und Gegenwart im einzelnen begreiflicherweise sehr verschieden beantwortet worden, was in Abschnitt IV. näher dargestellt werden w i r d 1 9 , für das Ausland in Abschnitt V. Dieser Tatbestand des Überlebens des Toterklärten ist es auch, der - wie noch darzulegen sein wird - in anderen Rechtsbezirken und insbesondere erbrechtlich ebenfalls eine Rolle spielt 20 . Insoweit ist es unerheblich, ob der „Heimkehrer" verheiratet war oder ist. 2. Dem Fall des irrigerweise Toterklärten wird seit 1951 gleich behandelt der ähnliche Fall, daß der (wirkliche) Tod einer Person (anders als bei Toterklärung eines Verschollenen) als „nicht zweifelhaft" angesehen (§ 1 I I VerschG), der Zeitpunkt des Todes jedoch erst in einem Gerichtsverfahren festgestellt wurde (§ 44 I, I I VerschG) und dann gleichwohl „der Tote" später sich als noch lebend präsentiert. Ein solches Verfahren der Todeszeztfeststellung kann nach § 39 S. 2 VerschG vom Ehegatten des „Verschwundenen" sogar dann beantragt werden, wenn nach den Umständen kein Anlaß besteht, am Tod des Partners zu zweifeln, und der Tod schon im Sterbebuch des Standesamts eingetragen ist. Eine derartige Todeszeitfeststellung kann natürlich ebenfalls zutreffend oder irrig sein: irrig nur hinsichtlich des Todeszeitpunktes (was z.B. erbrechtlich bedeutsam sein könnte) 21 , irrig aber auch total, nämlich dann, wenn die fragliche Person eines Tages wieder „da ist". Art. 3 § 1 des VerschÄndG v. 1951 ordnet an, daß die Bestimmungen über die Wiederverheiratung im Falle der (irrigen) Toterklärung „entsprechend 18 Nota bene: Wenn der Ehepartner des Toterklärten sich vor der Rückkehr des letzteren erst neu verlobt hat und der Toterklärte vor der neuen Eheschließung wieder erscheint, wird i. allg. die Zweitehe nicht eingegangen werden und daher die Erstehe bestehen bleiben (natürlich mit der Möglichkeit, daß sie evtl. geschieden wird). 19 Siehe vor allem die ausführliche Darstellung bei Dölle (Fn. 5) - § 29 I 1, 2, S. 353 - 356 - sowie in den Kommentaren von RGRK / Wüstenberg, Hoffmann / Stephan (Fn. 5). Schon hier sei kurz vermerkt: Im deutschen Recht herrscht seit 1900 Übereinstimmung dahin, daß nach Toterklärung eine Zweitehe i. d. R. gültig eingegangen werden kann und damit die Erstehe aufgelöst wird; hinsichtlich der Auflösbarkeit der Zweitehe im Falle der Rückkehr des Toterklärten und der Wiederherstellung der Erstehe differieren die Lösungen des BGB und die des EheG erheblich: Früher war eine Anfechtbarkeit (mit Rückwirkung) vorgesehen, seit 1938 nur eine Aufhebbarkeit (mit Wirkung ex nunc); außerdem konnte früher jeder der Gatten der Neuehe anfechten, jetzt nur noch der wiederverheiratete Ehegatte - der „frühere Ehegatte" des Toterklärten - . Dazu s. im einzelnen unten Abschn. IV und VI. 20 s. unten Abschn. I I I 3. 21 Vgl. § 1923 I BGB.
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gelten", falls der zurückgebliebene Ehegatte, nachdem der Zeitpunkt des Todes seines Gatten gerichtlich festgestellt worden ist, eine neue Ehe eingeht und nachträglich sich ergibt, daß der Alt-Ehepartner noch lebt. Die §§ 38 - 39 EheG 1946 gelten in solchen Fällen also entsprechend. Hinsichtlich des Erbrechts ist die entsprechende Behandlung dieser Sachverhalte in den noch näher zu beleuchtenden §§ 2031, 2370 BGB vorgesehen. 3. Eine dritte Gruppe von Fällen wird in unserem Zusammenhang ebenfalls sehr häufig genannt: Gemeint sind jene Sachverhalte, wo in bezug auf einen Abwesenden - um diesen ganz neutralen Ausdruck zu benutzen - weder eine Toterklärung noch eine Todeszeitfeststellung erfolgt ist, vielmehr auf Grund zuverlässig erscheinender Nachrichten - etwa eines Truppenteils oder einer Behörde eines Tages „einwandfrei feststand", der Abwesende sei zu einem bestimmten Zeitpunkt verstorben, und dies dann auch im Sterbebuch des Standesamts eingetragen worden war (Fälle der sog. Totmeldung). Gleichwohl war - wie wir vielfach erlebt haben - der Tod überhaupt nicht eingetreten; „der Abwesende" war eines Tages wieder anwesend. Wie geläufig, beweist die Eintragung im Sterbebuch nach § 60 I S. 1 PStG den Tod, und nur der Nachweis der Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsache ist zulässig (§ 60 I I PStG). Auf die Richtigkeit der Registereintragung darf mangels besserer Kenntnis natürlich ohne weiteres vertraut werden, so daß bei solcher Fallgestaltung der zurückgebliebene Ehegatte „als verwitwet feststeht" und daher ohne Schwierigkeit eine neue Ehe eingehen kann, in vielen Fällen der Vergangenheit auch ohne Bedenken neu geheiratet hat. Die umstrittene Frage geht nun dahin, ob diese Sachverhalte ebenfalls analog den §§ 38, 39 EheG 1946 zu beurteilen sind oder ob hier eine Zweiteheschließung wegen (gutgläubig herbeigeführter) Bigamie nichtig ist. Mit Vehemenz sind vor allem nach dem Ende des II. Weltkrieges beide Standpunkte mit guten Gründen immer wieder vertreten worden 22 , wobei der Verfasser mehr dazu neigte, auch insoweit eine Analogie anzunehmen 23 . Es scheint sich aber mittlerweile die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß gerade auch in solcher Situation dem zurückgebliebenen Gatten vor der neuen Heirat geraten werden müsse, auf der Basis des schon genannten § 39 S. 2 VerschG ein Todeszeitfeststellungsverfahren durchzuführen und sich damit, sobald der erwirkte Gerichtsbeschluß rechtskräftig geworden ist, 22 Dazu s. etwa: E. Schubart, in: JR 1948, S. 296ff., und in „Die Ehe vermeintlich Toter", 1948; Dölle (Fn. 5), S. 355 Anm. 7, 356; Gernhuber (Fn. 5), § 15; Ramm (Fn. 5), § 58 III; Schwab (Fn. 5), Rz. 69; RGRK / Wüstenberg (Fn. 5), 10./11. Aufl., Anm. 34/35 zu § 38 EheG; Hoffmann / Stephan (Fn. 5), Rz. 35 - 37 zu § 38 EheG; Arnold, DRiZ 1952, 96f.; 1953, 5f.; Massfeller / Böhmer / Coester (Fn. 5), Rz. 4 zu § 38 EheG. 23 Vgl. etwa Bosch, in: FamRZ 1961, S. 378; Massfeller / Boehmer / Coester (Fn. 5), Rz. 4 zu § 38 EheG. Anders: BGH in LM, Nr. 1 zu § 38 EheG.
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n a c h - dem vorstehend e r w ä h n t e n - A r t . 3 § 1 V e r s c h Ä n d G gegen die Gefahr bigamischer Zweiteheschließung abzusichern 2 4 . Offenbar w a r
dies
auch die M e i n u n g der Legislative, als i m Jahre 1951 die Fragen i n Bundestag u n d Bundesrat erörtert w u r d e n . Im Vorgriff auf spätere Erörterungen sei hier vorläufig angedeutet: Erbrechtlich ist der Fall, daß der Tod einer bestimmten Person „ohne Todeserklärung oder Feststellung der Todeszeit mit Unrecht angenommen worden ist", hinsichtlich der Herausgabe der Pseudo-,,Erbschaftsgegenstände" gemäß § 2031 I I BGB dem der Toterklärung gleich zu behandeln; ebenso nach § 2370 I I S. 2 BGB, soweit es sich um den Anspruch auf Herausgabe des Erbscheins an das Nachlaßgericht und um den Anspruch auf Auskunfterteilung handelt (dagegen nicht nach § 2370 I BGB, wo der Erwerb von Gegenständen durch einen Gutgläubigen von Seiten eines „PseudoErben" u.ä. geregelt ist, nachdem Toterklärung oder Todeszeitfeststellung erfolgt war). Eine völlig parallele Regelung in bezug auf die „bloße Totmeldung" ist danach auch erbrechtlich nicht geschehen. H i n s i c h t l i c h des Eherechts sollte man, z u m a l das E r b r e c h t h i e r n a c h ebenfalls differenziert u n d die bloße T o t m e l d u n g wenigstens teilweise anders als die beiden anderen Fälle behandelt, de lege l a t a besonders v o r s i c h t i g sein u n d den i m v o r l e t z t e n Absatz geschilderten Weg extremer Sorgfalt gehen. 4. Bevor i m folgenden die eheschließungsrechtliche P r o b l e m a t i k der i r r i gen T o t e r k l ä r u n g näher erörtert w e r d e n soll, sei hier zuvor über einen p r a k tischen F a l l berichtet, den der Verfasser A n f a n g 1950 einer großen Tageszeitung entnahm25: Eine in K. (Niederrhein) lebende Flüchtlingsfrau hatte betreffend ihren vermißten Ehemann von zwei seiner Kriegskameraden Nachrichten erhalten, die ihr seinen Tod wahrscheinlich machten. Sie erwirkte daher nach dem VerschG v. 1939 die amtsgerichtliche Toterklärung ihres Mannes, zumal auch der „Suchdienst" zunächst keine Aufklärung brachte. Danach ging sie mit einem anderen Manne eine neue (zivile) Ehe ein. Einige Zeit später konnte der „Suchdienst" ermitteln, daß der vermißte erste Ehemann der Frau ebenfalls noch lebte, und zwar in derselben Stadt K., ohne bisher von dem Verbleib seiner Frau irgend etwas gewußt zu haben. Er war sogar schon in dem Zeitpunkt in K. ansässig gewesen, als seine „Toterklärung" erfolgte. Die Zeitung Schloß ihren Bericht: „Die Frau steht jetzt vor der schwierigen Aufgabe, den durch die Umstände besonders tragischen Konflikt ihrer beiden Ehen zu lösen. Es ist noch nicht bekannt, mit welchem der beiden Männer sie für ihr künftiges Leben zusammen sein will." D e r F a l l ist überaus interessant, w e i l er beweist, daß ein solches Gerichtsverfahren u n d sein Ergebnis oft n i c h t e i n m a l den a m selben O r t w o h n h a f t e n nächsten Angehörigen der Verfahrensbeteiligten b e k a n n t werden, n i c h t einm a l dem d o r t lebenden Verschollenen selbst, der f ü r t o t e r k l ä r t w e r d e n soll 24 Siehe etwa Hoffmann / Stephan (Fn. 5), Rz. 37 zu §38; RGRK / Wüstenberg (Fn. 5), Anm. 34 zu § 38. 25 „Kölner Stadtanzeiger" v. 27.1.1950 - S. 4 - . Über etliche weitere Fälle aus der Zeit des I. Weltkriegs berichtete Kaas [Fn. 9].
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oder worden ist und ausdrücklich aufgefordert wird, „sich zu melden" (§ 19 I I lit.b VerschG), und dies, obwohl das Aufgebot sowie der Toterklärungsbeschluß auch öffentlich bekanntgemacht werden (§§ 20, 24 VerschG, Art. 2 § 5 VerschÄndG). Die Anheftung an die Gerichtstafel (§ 20 I I S. 2 VerschG) und - bei Vermißten des II. Weltkrieges - die Publikation in der „Verschollenheitsliste" (Art. 2 § 5 VerschÄndG) sind offenbar durchaus ungeeignet, die Hauptperson des Verfahrens, falls sie noch leben sollte, zu erreichen. Die häufig anzutreffende Argumentation, der Toterklärungsbeschluß sei als „Staatsakt" immerhin recht bedeutsam, bedeutsamer als eine bloße Totmeldung und die sich lediglich anschließende Eintragung im Sterbebuch des Standesamts, beide Fälle könnten deshalb i. S. der §§ 38, 39 EheG 1946 nicht gleichbehandelt werden, verliert hiernach an Überzeugungskraft (ohne daß der Verfasser die oben - Abschn. II. 3. - dargelegte Problematik de lege lata erneut aufgreifen möchte). Die Absicht, über den vorstehend geschilderten Fall eine Abhandlung zu fertigen, wurde bisher nicht realisiert. Das Thema irriger Toterklärung hat den Verfasser jedoch immer wieder in Einzelheiten, insbesondere im Rahmen von Entscheidungsanmerkungen, beschäftigt 26 . In jüngster Zeit sind dazu auch Vorschläge de lege ferenda entwickelt worden, die anschließend vorläufiger kritischer Beurteilung zugeführt wurden 27 .
Im Falle irriger Todeszeitfeststellung und Wieder auf tauchens des „Totgesagten" würde die Rechtslage die gleiche sein wie bei Toterklärung. Wäre dagegen der vermißte Mann sogleich als tot angesehen und im Sterbebuch als tot registriert worden, so würde die zweite Ehe - mangels besonderer Maßnahmen gemäß § 39 S. 2 VerschG - nach h. M. schlicht als bigamisch zu qualifizieren sein. 5. Der Fragenkomplex wird erst dann genügend deutlich werden, wenn im folgenden einerseits die historische Entwicklung der Gesetzgebung dargestellt, anderseits auch eine rechtsvergleichende Umschau, bezogen auf einige uns nahestehende Rechtsordnungen, vorgenommen wird. Hierbei wird eine große Vielfalt denkbarer Lösungen uns entgegentreten und hoffentlich der Hochmut mancher deutscher Gegenwart s juris ten zerstört werden, allein unser Jahrhundert oder gar unsere Jahre besäßen den Schlüssel zu den „sachlich richtigen Lösungen". Die Frage der „Sachrichtigkeit" dieser oder jener Normierung wird am Ende des Beitrags gestellt, kann aber möglicherweise überhaupt nicht für alle überzeugend definitiv beantwortet werden. Zuvor aber noch zu einigen anderen Themen.
26 Siehe FamRZ 1954, S. 240; 1958, S. 323; 1961, S. 378; 1962, S. 378; 1965, S. 147; 1965, S. 612; 1966, S. 69; 1967, S. 570; 1972, S. 261. 27 FamRZ 1980, S. 852; 1982, S. 877.
51 Festschrift P. Mikat
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III. Fragen außerhalb des Eheschließungsrechts (Kindschaftsrecht - Ehegüterrecht - Erbrecht) In kurzen Zügen sei nunmehr deutlich gemacht, daß die - objektiv unrichtige Toterklärung (oder Todeszeitfeststellung) im deutschen Zivilrecht (und auch anderweit) nicht nur bezüglich der Ehe der Beteiligten eine bedeutsame Rolle spielt, obwohl manchmal offenbar angenommen wird, es existiere nur das Eherechtsthema. Hinsichtlich des Erbrechts hat sich vorstehend in Umrissen bereits gezeigt, daß es auch dort gewichtige Probleme gibt. 1. Das Eltern-Kind-Verhältnis a) Die Frage der „elterlichen Gewalt" betr. Kinder aus der Erstehe (mit dem Verschollenen) war in den §§ 1679 1,1684 Ziff. 1 BGB a.F. dahin geordnet, daß der Vater diese Rechts- und Pflichtenposition durch die Toterklärung verlor und die Mutter sie erwarb, und zwar in dem festgestellten Zeitpunkt des vermuteten Todes. Die etwaige Wiedererlangung durch den dennoch überlebenden Vater war in § 1679 I I BGB a.F. geregelt dahin, daß er gegenüber dem Vormundschaftsgericht seinen hierauf gerichteten Willen - mit Sofortwirkung - erklären konnte 28 .
Ein Kind, das die Ehefrau des Vermißten und Toterklärten später als 302 Tage nach dem vermuteten Zeitpunkt seines Todes geboren hatte, war - und ist auch heute noch - nichtehelich, falls die Mutter bei der Entbindung noch nicht wiederverheiratet ist. Heiratet sie daran anschließend einen Mann, der die Vaterschaft anerkennt, so wird das Kind damit als „ K i n d der Zweitehe" legitimiert 2 9 . Ist die Frau schon bei der Kindesgeburt erneut verheiratet, so ist das Kind von Anfang an als von ihrem neuen Ehemann gezeugt anzusehen (§§ 1591, 1593, 1600 BGB) - Ehelichkeitsanfechtung vorbehalten - . Etwaige Kinder aus der Zweitehe waren - auch nach Anfechtung dieser Ehe (mit Rückwirkung) - i.d.R. weiterhin als ehelich anzusehen (§ 1699 BGB a.F.) 30 . Nach Auflösung der Zweitehe bestimmte sich das Eltern-KindVerhältnis insoweit i. d. R. nach den Vorschriften betr. Kinder aus „beiderseits schuldig" geschiedenen Ehen (§§ 1700, 1635 I S. 1 HS. 2 BGB a.F.). b) § 45 des EheG 1938 und - gleichlautend - § 40 des EheG 1946 befaßten sich nur mit den Kindern aus der nach Toterklärung durch Wiederverheiratung aufgelösten Erstehe und ordneten an, daß insoweit die Vorschriften über Kinder aus - ohne Schuldausspruch - geschiedenen Ehen anzuwenden 28
Die Texte finden sich in der 9. Aufl. des Komm. v. Staudinger (1926). Vgl. die Entscheidung RGZ 60, 196ff. vom 2.3.1905; ferner H. F. Gaul, in: Soergel, 12. Aufl., Rz. 5 zu § 1591 BGB; G. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, Rz. 9 zu § 1591 BGB; Schultze-v. Lasaulx, in: Soergel, Bd. 1, 11. Aufl., Rz. 4 zu § 9 VerschG. 30 Siehe die Göttinger Dissertationen von Wilhelm Sievers, Wiederverheiratung bei Todeserklärung (1929), und Emil Israel (Fn. 11); ferner Wolff (Fn. 5), § 88. 29
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seien 31 . Nach Beseitigung der Rückwirkung im Falle der Auflösung der Zweitehe (mittels „Anfechtungsurteils") und Ersetzung dieser Lösung durch ein nunmehr ergehendes sog. Aufhebungsurteil - mit Wirkung nur ex nunc et in futurum - verstand sich von selbst, daß Kinder aus der Zweitehe wie Kinder aus einer durch Scheidung aufgelösten Ehe zu behandeln seien (§ 44 I I S. 2 i. Vbdg. m. § 42 EheG 1938; § 39 I I S. 2 i. Vbdg. m. § 37 I EheG 1946). c) Nach Art. 8 I I Nr. 1 des GleichberG v. 1957 trat § 40 EheG 1946 am 1.7.1958 außer Wirksamkeit und wurde - ebenso wie die §§ 1679,1684 BGB a.F. - durch die neugefaßten, an den Grundsatz der beiderseitigen elterlichen Gewalt angepaßten §§ 1677, 1681 I I BGB ersetzt. Dort ist - auch nach der sprachlichen Anpassung durch das Sorgerechtsgesetz von 1979 32 - ebenfalls nur noch (wie bereits im EheG) von der elterlichen Sorge betr. Kinder aus der Erstehe nach Todeserklärung oder Todeszeitfeststellung bezüglich eines Elternteils die Rede (Verlust der elterlichen Sorge wie früher im Zeitpunkt des gemäß Gerichtsbeschluß vermuteten Todes; Wiedererlangung durch Erklärung des Überlebenden gegenüber dem Vormundschaftsgericht). Dagegen bedurfte es hinsichtlich etwaiger Kinder aus der Zweitehe - wie bereits gemäß dem EheG - keiner besonderen Vorschriften mehr, da die Aufhebung einer solchen Ehe (nach wie vor) keine Rückwirkung entfaltet und sich die Aufhebungsfolgen daher weiter nach Ehescheidungsrecht bestimmen (§ 39 I I S. 2 i. Vbdg. m. § 37 I EheG 1946)33. Auch hier entsteht also nunmehr die Frage, ob nicht den Gatten der aufgehobenen Zweitehe gemäß der Entscheidung des BVerfG zu § 1671 BGB 3 4 öfter (?) die gemeinschaftliche elterliche Sorge belassen werden sollte. d) Die kindschaftsrechtlichen Fragen sind die gleichen, wenn es sich nicht um eine irrige Toterklärung, sondern um eine (später beseitigte) irrige Todeszeitfeststellung handelt. e) Dagegen liegen auch die kindschaftsrechtlichen Probleme nach der herrschenden Meinung anders, wenn angesichts irriger Meldungen der Vermißte als tot angenommen und registriert wurde, ohne daß vorsorglich doch noch eine Todeszeitfeststellung gemäß § 39 S. 2 VerschG durchgeführt worden war. Die Eingehung der Zweitehe bedeutet nach h. M., wie oben geschildert, in solchen Fällen, daß eine wegen Bigamie nichtige Ehe vorliegt und 31 Zum EheG v. 1938 und v. 1946 vgl. die oben Fn. 5 genannten Kommentare und die älteren Lehrbücher. 32 „Elterliche Gewalt" wurde durch „elterliche Sorge" ersetzt. 33 Es gilt also auch hier die Regelung des § 1671 BGB. 34 BVerfG v. 5.11.1982, in: FamRZ 1982, S. 1179ff. = BVerfGE 61, 358ff. Vgl. ferner H. Luthin, Gemeinsames Sorgerecht nach der Scheidung (1987), und dazu die Besprechung von Fthenakis, in: FamRZ 1988, S. 578ff.
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diese - ggf. auch auf A n t r a g der Staatsanwaltschaft - f ü r n i c h t i g e r k l ä r t w e r d e n muß. D i e Folge ist ferner, daß die Erstehe niemals aufgelöst w o r d e n ist u n d daher K i n d e r , die aus der z w e i t e n V e r b i n d u n g hervorgegangen sind, eigentlich als n i c h t e h e l i c h angesehen w e r d e n müßten. Dies w i r d allerdings d u r c h § 1591 I S. 1 HS. 2 B G B n . F . v e r h i n d e r t : A u c h K i n d e r aus n i c h t i g e n Ehen sind ehelich. - D a m i t s i n d w i r allerdings n o c h n i c h t a m Ende der Erwägungen: D a die Erstehe niemals aufgelöst w o r d e n ist, ist ein K i n d , das aus der z w e i t e n V e r b i n d u n g der E h e f r a u stammt, auch e i n „eheliches K i n d " des ersten Mannes (§§ 1591,1593 B G B ) ; es genießt also den V o r z u g „ d o p p e l ter E h e l i c h k e i t . " Oder soll auch hier § 1600 B G B d a h i n angewendet w e r d e n müssen, daß das K i n d (zunächst) n u r „als eheliches K i n d des z w e i t e n M a n nes g i l t " ? 3 5 f) Neueste Entwicklungen haben sich insoweit (wenn man einmal von den Problemen der „künstlichen Befruchtung" absieht) nicht ergeben. 35a 2. Fragen des
Ehegüterrechts
a) Im Recht des BGB i. d. F. von 1896 / 1900 war insoweit die wohl wichtigste Norm die des § 1420, wonach der gesetzliche Güterstand der Verwaltung und Nutznießung endigte, wenn der Ehemann für tot erklärt wurde, und zwar mit dem Zeitpunkt, der als Todesdatum des Mannes galt. War der Toterklärte nicht verstorben, so lebte das Ehepaar gemäß § 1426 a.F. - seit dem genannten Zeitpunkt - in Gütertrennung. Der Mann konnte allerdings nach § 1425 I S. 2 BGB a.F. „auf Wiederherstellung seiner Rechte" am eingebrachten Gut der Frau klagen (eine uns heute kaum noch begreifliche Regelung) 36 . b) D e r seit 1.7.1958 geltende gesetzliche G ü t e r s t a n d der meinschaft
Zugewinnge-
endet m i t der T o t e r k l ä r u n g eines G a t t e n n i c h t , w o h l aber, falls
der T o t e r k l ä r t e n o c h leben sollte, m i t der E i n g e h u n g einer neuen Ehe des anderen Ehepartners u n d der d a d u r c h b e w i r k t e n A u f l ö s u n g der Erstehe 3 7 .
35
muß.
Der Verf. muß einräumen: eine Frage, über die noch näher nachgedacht werden
35a Auch das Urteil des BVerfG v. 31. 1. 1989 (FamRZ 1989, 255ff.) ändert insoweit mindestens unmittelbar nichts. Zu diesem Urteil voll überzeugend (auch soweit kritisch) D. Giesen, JZ 1989, 364ff. Jetzt: BVerfGE 79, 256ff. 36 Auch insoweit vgl. Staudinger (Fn. 28), Anm. 1, 2 zu § 1420, Anm. zu § 1426. Zur früheren Errungenschaftsgemeinschaft vgl. die entsprechende Regelung in den alten §§ 1544, 1545, 1547 I S. 2 BGB a.F. Statt der Klage des Mannes auf Wiederherstellung der ehemännlichen Verwaltung und Nutznießung gemäß § 1425 I S. 2 BGB a.F. konnte einvernehmlich durch Ehevertrag der frühere Güterstand wiederhergestellt werden; s. Staudinger (Fn. 28), Anm. 7 zu § 1425. 37 Vgl. Hermann Lange, in: Soergel, 12. Aufl., Rz. 13 zu § 1363, Rz. 3 u. 5 zu § 1372 BGB; Staudinger / Coing / Habermann, BGB, Bd. I, 12. Aufl., Rz. 30 u. 40 zu § 9 VerschG; Staudinger / Thiele, 12. Aufl., Rz. 8 zu § 1372 BGB; Bergerfurth, Das Eherecht, 8. Aufl. 1987, Rz. 228, 230; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, Bd. 2, Rz. 1 zu § 1372 BGB. Neuestens: D. Schwab, in: Handbuch des Scheidungsrechts, 2. Aufl. 1989, V I I Rz. 90.
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Außerdem aber wird natürlich - gemäß der Vermutung des § 9 I VerschG immer (widerleglich) vermutet, daß die Zugewinngemeinschaft bereits mit Wirksamwerden der Toterklärung beendet worden sei und dadurch die Wirkungen des § 1371 BGB - neben den erbrechtlichen Konsequenzen - sich eingestellt hätten 38 . Kommt dann der Toterklärte zurück, so ist die Vermutung widerlegt und je nachdem die noch bestehende Ehe mit dem bisher Verschollenen weiter bei Bestand - auch güterrechtlich 39 - oder aber - falls der Partner neu verheiratet ist - der Zugewinnausgleich durchzuführen, wobei für die Berechnung des Endvermögens i.S. des § 1376 BGB der Vermögensstand im Moment der Wiederverheiratung zugrunde zu legen ist 4 0 . Schon hier erweist sich, daß weit über die eheschließungsrechtliche Problematik hinaus das Thema der irrigen Toterklärung große juristische Bedeutung hat: Gerade deshalb, weil die Zugewinngemeinschaft durch eine Toterklärung, die sich später als irrig erweist, nicht aufgelöst wird, ergeben sich u. U. wesentliche güterrechtliche Konsequenzen - vermehrt um solche erbrechtlicher Art, wovon noch zu handeln sein w i r d 4 1 - . c) Auch bezüglich des Güterstandes der Gütergemeinschaft vermissen wir eine besondere Norm, die vorsähe, daß dieser Güterstand mit Toterklärung eines Gatten aufhöre 42 oder - wie im Todesfall (bei entsprechender Vereinbarung) - sich i.S. des § 1483 BGB mit den gemeinschaftlichen Abkömmlingen fortsetze. Es ist auch in dieser Beziehung wiederum von § 91 VerschG auszugehen: Mit Wirksamwerden der Toterklärung wird vermutet, daß die Gütergemeinschaft aufgehoben sei oder - bei Vorhandensein gemeinschaftlicher Abkömmlinge und entsprechender Vereinbarung in einem Ehevertrag - gemäß § 1483 BGB fortgesetzt werde. Kehrt der Totgesagte später zurück, so ist die Vermutung widerlegt: Die Gütergemeinschaft der Ehegatten hat in Wirklichkeit weiterbestanden, falls der andere Partner keine neue Ehe geschlossen hat. Hat er aber inzwischen neu geheiratet, so ist mit dem Datum der Heirat die frühere Gütergemeinschaft aufgehoben und auch bei Vorhandensein von Abkömmlingen nicht gemäß § 1483 BGB fortgesetzt worden, letzteres deshalb nicht, weil § 1493 BGB die Fortsetzung der Gütergemeinschaft nach Wiederverheiratung des „überlebenden Ehegatten" ablehnt 43 . 38
Staudinger / Thiele (Fn. 37) u. Baumgärtel (Fn. 37). Alle rechtlich erheblichen Geschehnisse sind also u.U. neu zu prüfen und zu beurteilen. 40 So ausdrücklich Hoffmann / Stephan (Fn. 5), Rz. 27 zu § 38 EheG; ferner D. Heckelmann, in: FamRZ 1968, S. 61 (IV). ^ 41 s. unten Abschn. I I I 3. 42 Siehe Staudinger / Coing / Habermann (Fn. 37). 43 § 1507 BGB muß natürlich ggf. beachtet werden; s. dazu H. F. Gaul, in: Soergel, 12. Aufl., zu § 1507. 39
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d) Unter den Bestimmungen betr. die fortgesetzte Gütergemeinschaft interessiert noch § 1494 I, I I BGB: er ordnet an, diese Gemeinschaft ende nicht nur mit dem Tode des überlebenden Gatten, sondern auch mit dessen Toterklärung oder der Todeszeitfeststellung. Bei Rückkehr des „Scheintoten" werden, sobald der frühere Beschluß aufgehoben ist, nach wohl h.M. „dessen Wirkungen rückwirkend beseitigt; die Rechtslage ist alsdann so zu beurteilen, als wenn die fortgesetzte Gütergemeinschaft ununterbrochen fortbestanden hätte" 4 4 . e) In allen vorerwähnten güterrechtlichen Zusammenhängen ist eine bloß unrichtige Totmeldung und entsprechend falsche Sterbebucheintragung nach der h.M. nicht mit den gleichen Wirkungen ausgestattet 45 . 3. Fragen des Erbrechts Die Wirkungen einer irrigen Toterklärung oder Todeszeitfeststellung im Bereich des Erbrechts wurden teilweise schon angedeutet 46 . Dazu noch einiges Ergänzende, vor allem aber vorneweg die elementare Feststellung: Nur der wirkliche Tod läßt erben. Bei vermeintlichem Tod muß es deshalb zu erheblichen rechtlichen Schwierigkeiten kommen. a) Wenn nun § 2031 BGB - übrigens im Anschluß an das Preußische Allgemeine Landrecht v. 1794 (II 18 §§ 842, 847ff.) - den „Erbschaftsherausgabeanspruch" des überlebenden Toterklärten gegen den oder die Besitzer der „Pseudo-Erbschaft" regelt, so ist schon dies auf den ersten Blick in mancherlei Hinsicht sehr bedeutsam: Da der oder die Besitzer in aller Regel gutgläubig gewesen sein dürften, besteht zu ihren Lasten 47 nur eine beschränkte Herausgabepflicht hinsichtlich der Früchte und sonstigen Nutzungen (vor allem wichtig im Hinblick auf die Gebrauchsvorteile): §§ 2020, 2021, 2023 BGB, außerdem zu ihren Gunsten grundsätzlich ein Anspruch auf Ersatz aller Verwendungen: § 2022 BGB 4 8 . Auf Ersitzung 49 können sich 44 So wörtlich Gaul (Fn. 43), m.w.N.; s. auch Dölle (Fn. 5), Bd. I, S. 1006. Beachtliche Gegengründe bei Gernhuber (Fn. 5), §39 V 1; Staudinger / Thiele / Thiele, Rz. 8 zu § 1494; Baumgärtel (Fn. 37), zu § 1494. « Gaul (Fn. 43), Rz. 8 zu § 1494 BGB. 46 s. oben hinter Fn. 24. Im übrigen vgl. zum folgenden die Lehrbücher u. Kommentare zum Erbrecht (Lehrbücher: Kipp / Coing , 13. Bearb. 1978; W. Schlüter, 12. Aufl. 1986; H. Brox, 11. Aufl. 1988; H. Lange / K. Kuchinke, 3. Aufl. 1989; Otte, 1. Aufl. 1974; D. Leipold, 7. Aufl. 1988; M. Harder, 2. Aufl. 1983; U. v. Lübtow, 2 Bände, 1971 - Kommentare: RGRK, Soergel, Palandt, Staudinger, MünchKomm, Planck, Erman, Jauernig / Stürner). Die Kommentare vergleiche man vor allem zu den §§ 2031 und 2370 BGB. Zu §§ 2018ff. s. auch Olzen, JuS 1989, 374ff. 47 Ähnlich wie gemäß § 988 BGB. Dazu s. Brox (Fn. 46), Rz. 554, 555; Schlüter (Fn. 46), S. 2471, 254. 48 Anders die §§ 994ff. BGB. Zum Erbrecht s. Brox (Fn. 46), Rz. 559; Schlüter (Fn. 46), § 34 12b - S. 244; Lange / Kuchinke (Fn. 46), § 42 IV 5 und 8 - S. 830, 8321, § 42 V - S. 833.
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die Besitzer gegenüber dem „Heimkehrer" im allgemeinen dagegen nicht berufen: § 2026 BGB. Auskunftpflichten (§§ 2027, 2028 BGB) sind fast selbstverständlich. So sehr dies alles zunächst durchaus einleuchtet: Man stelle sich die Situation einmal deutlich vor: Wenn der Ehepartner des Heimkehrers noch nicht wiederverheiratet ist und die „Alt-Ehe" fortgesetzt wird, gibt es wohl i.d.R. nur geringe Probleme. Falls indessen der frühere Partner des Heimkehrers eine neue Ehe geschlossen hat, sehen sich die Gatten der Erstehe beide in einer äußerst schwierigen Lage: Wird die Zweitehe nicht aufgehoben, sondern fortgeführt, ist der Wiederverheiratete, der sich als Erbe - i.d.R. zu mindestens l h - betrachtet, der in Wirklichkeit aber nichts geerbt hat, verpflichtet, auf Verlangen des bisher Toterklärten diesem alles vermeintlich Ererbte (einschl. der Surrogate) 50 herauszugeben 51, wobei die angedeuteten Probleme der Nutzungen und Verwendungen nur Nebenaspekte darstellen und die Auskunfterteilungspflicht betr. die „Führung erbschaftlicher Geschäfte" gemäß § 2028 I, I I BGB sehr belastend sein kann, zumal auch noch eine eidesstattliche Versicherung des Pflichtigen vorgesehen ist Wird sich der Wiederverheiratete unter dem Eindruck all dieser auf ihn zukommenden Pflichten nicht oft zur Aufhebung der Zweitehe und zu einer Erklärung, er sei zur Wiederherstellung der Erstehe bereit, veranlaßt sehen? Und w i r d nicht mancher Heimkehrer der wiederverehelichten Partnerin offen oder versteckt - damit drohen, sie werde bei Fortbestand der Zweitehe einer „wirtschaftlichen Katastrophe" entgegengehen? Zusammengefaßt: Der Gesetzgeber gestattet zwar die neue Eheschließung des zurückgebliebenen Ehepartners nach Toterklärung des vermißten anderen Partners, bewahrt ersteren aber nicht vor schlimmen Entwicklungen für den Fall, daß der „Alt-Partner" eines Tages wieder da ist. Und wird der Heimkehrer zufrieden sein, wenn er erfährt, daß seine Ehe aufgelöst ist, ihm aber im Prinzip alle vermögensrechtlichen Positionen erhalten geblieben sind? Die oben erwähnten ehegüterrechtlichen Probleme kommen noch hinzu: Es mag in einem Falle einen Zugewinnausgleichsanspruch für den Zurückgekehrten, im anderen Falle für den wiederverheirateten Alt-Ehepartner geben 52 . Ferner entstehen i.d.R. Probleme des Versorgungsausgleichs, der Hausratverteilung nach der HausrVO usw. 5 2 a . 49
Siehe die §§ 937 ff. BGB. so Siehe § 2019 BGB. 5i Dazu s. speziell Schlüter (Fn. 46), § 34 I 2b - S. 244f. Ferner Lange / Kuchinke (Fn. 46), § 12 I I - S. 202 Anm. 49 - : „Der (zurückgekehrte) Verschollene kann gegen seinen (wiederverheirateten) früheren Ehegatten, der ihn beerbt zu haben glaubt, nach § 2031 vorgehen."; ders., ebd. § 42 V - S. 833 - .
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b) Bemerkenswert ist zu § 2031 BGB insbesondere, daß hinsichtlich der Rechte und Pflichten analog den §§ 2018ff. BGB der irrigerweise Totgeglaubte (als „tot Gemeldete", als „tot Registrierte") dem Toterklärten gleichgestellt w i r d (§ 2031 II) 5 3 . Die Herausgabepflichten und alles andere mögen hier oft genauso belastend erscheinen. Immerhin: die Ehe mit dem Rückkehrer besteht nach h. M. fort, und güterrechtlich ist kein Zugewinnausgleich fällig. c) Von § 2370 I BGB war ebenfalls oben schon die Rede. Dort wird die irrige Toterklärung oder Todeszeitfeststellung, auch ohne daß ein Erbschein vorliegt, zugunsten der redlichen Teilnehmer am Rechtsverkehr mit „Erbscheins Wirkung" ausgestattet; m.a.W.: Es wird derjenige geschützt, der nicht weiß, daß der Toterklärte in Wirklichkeit noch lebt, und der daher mit demjenigen kontrahiert, den er „auf Grund der Toterklärung oder der Feststellung der Todeszeit" gemäß Gesetz oder Testament oder Erb vertrag als den Erben ansieht (ansehen muß). Es kommen insbesondere einerseits Erwerbsgeschäfte mit dem „Scheinerben" i.S. des § 2366 BGB oder anderseits Leistungen an diesen i.S. des § 2367 BGB in Betracht 54 . d) Wer dagegen nur darauf vertraut hat, daß eine Sterbebucheintragung richtig ist, w i r d nach h.M. nicht entsprechend § 2370 I BGB geschützt, falls der „Scheintote" sich später wieder meldet. Anderes gilt in solchem Falle wohl nur dann, wenn ein Erbschein - z.B. auch für den Ehepartner - erteilt worden war 5 5 . e) Darum ist § 2370 I I BGB bemüht, in allen drei hier erörterten Parallelfällen - die dennoch nicht sämtlich parallel geregelt sind - einen etwa vorhandenen falschen Erbschein möglichst bald wieder an das Nachlaßgericht zurückgelangen zu lassen 56 . f) Ob dann, wenn ein Gutglaubensschutz weder nach § 2370 BGB noch nach den Erbscheinsbestimmungen der §§ 2366f. BGB in Frage kommt, die allgemeinen Regelungen - §§ 932, 892 BGB - zu helfen vermögen, sei hier nur als Merkposten notiert 5 7 .
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s. oben bei Fn. 40. Vgl. Massfeiler / Böhmer / Coester (Fn. 5), Rz. 13,15 zu § 38 EheG; MünchKomm (Fn. 5), Rz. 10 zu § 38 EheG. 53 Auch dazu s. Schlüter (Fn. 51). 54 „Scheinerbe" ist hier nicht eine nach Eintritt des Erbfalls irrigerweise als Erbe angesehene Person, sondern jemand, der ohne eigentlichen Erbfall als „Erbe" angesehen werden mußte. 55 Siehe Brox (Fn. 46), Rz. 600; ferner MünchKomm / Promberger, zu § 2370. 56 Damit der Erbschein kraftlos werde: s. MünchKomm / Promberger, Rz. 7 zu § 2370, Rz. 6 zu § 2362. 57 Bezüglich des § 932 BGB ist wesentlich die Frage, ob die Sache dem wirklichen Eigentümer abhanden gekommen ist (§ 935 BGB). 52a
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4. Spezielle Regelungen im Sozialrecht Nach § 52 des Bundesversorgungsgesetzes (BGBl. 1982 I 46) waren und sind bei Verschollenheit schon vor der Todeserklärung Versorgungsleistungen zu gewähren an Personen, denen als Hinterbliebenen (z.B. als der Ehefrau) eines Kriegsopfers „Versorgung zustehen würde", aber nur dann, „wenn das Ableben des Verschollenen mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist". Diese Norm hat nach dem II. Weltkrieg lange Zeit hindurch eine große Rolle gespielt, auch in vielen Fällen, in denen solche Verschollene später wiederauftauchten und dann auf Ersatz der erbrachten Leistungen in Anspruch genommen werden konnten (s. etwa BVerfGE 18, 429 = FamRZ 1965, 308; BGH, FamRZ 1966, 191). Ähnliche Regelungen kennen § 1271 RVO, § 48 AVG und § 29 BeamtVG. Die zitierten Regelungen verdeutlichen, daß gewisse bedeutsame Rechtsfolgen bereits eintreten können, auch ohne daß eine Toterklärung erfolgt ist. Der „Rentenbedarf" ist eben oft besonders dringend.
IV. Die historische Entwicklung des Eheschließungsrechts betr. die Wiederverheiratung des vermeintlich verwitweten Ehepartners Wir kehren nun zu den in Abschn. I und I I vorläufig behandelten Themen des Eheschließungsrechts zurück. In Abschn. I I I war von anderen Familienund Erbrechtsfragen, die vor allem im Zusammenhang mit der Wiederverheiratung des Partners des Toterklärten bedeutsam werden können, die Rede. Nichts dagegen ist so bedeutsam wie die nun erneut anstehende Problematik 5 8 . 1. Ausgangspunkt aller Darstellungen über die Entwicklung der Eherechtsgesetzgebung betr. den Fall der Toterklärung und speziell den der irrigen Toterklärung eines Ehegatten muß das kirchlich-kanonische Recht sein, da dieses bereits vor der Fixierung eines neuzeitlichen staatlichen Eherechts existierte und zunächst - soweit der Verfasser orientiert ist - auch von der Lehre der Reformatoren übernommen wurde 5 9 . Fast überall, wo 58 Dazu vgl. insbes. Mot. IV 640ff.; Protokolle der Kommission für die zweite Lesung . . . (1897) (Prot.) IV 452ff. 59 Siehe E. Friedberg, Lehrbuch des kath. u. ev. Kirchenrechts, 6. Aufl. 1909, S. 436ff. (keine Eheauflösung durch Verschollenheit „nach älterer evangelischer Auffassung"); auch Motive IV 641 („Standpunkt des gemeinen protestantischen Eherechts"); Alfred Dziekan, Eheauflösung und Wiederverheiratung im Falle der Todeserklärung (Breslau 1905); Sievers (Fn. 30), S. 5; Erik Wolf, Ordnung der Kirche (1960), § 44 V I I 1 - S. 311 („Historisch sind die kanonischen Eherechtsgrundsätze vom 11. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch weltlich überall bindend gewesen; die reforma-
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unser Thema gründlicher erörtert wird, erfolgt denn auch zunächst ein Hinweis auf den kirchenrechtlichen Grundsatz der Unauflöslichkeit der gültig geschlossenen und vollzogenen Ehe zweier getaufter Christen, genauer gesagt: auf die Möglichkeit der Auflösung solcher Ehen nur durch den wirklichen Tod (wenigstens) eines Gatten 60 . Mit anderen Worten: Durch eine irrige Toterklärung des einen Partners, verbunden mit neuer Eheschließung des Zurückgebliebenen, tritt nach katholischem Kirchenrecht und trat nach älterem evangelischen Kirchenrecht eine Beendigung der Ehe mit dem Verschollenen nicht ein. Die katholische Kirche kennt zwar seit langem ebenfalls eine Toterklärung in einem formellen Verfahren 61 , jetzt in einem solchen des Diözesanbischofs gemäß can. 1707 CIC/1983 62 . Dadurch wird, wie im staatlichen Recht, die Vermutung des Todes und damit die Vermutung der Lösung des anderen Gatten vom Eheband begründet. Die Erklärung der „mors praesumpta coniugis" setzt aber nicht nur lange währende Abwesenheit des Gatten („coniugis absentia diuturna") voraus, sondern ferner die „moralische Gewißheit", daß der Gatte tot ist („si Episcopus .. . moralem certitudinem de coniugis obitu obtinuerit"). Falls solche declaratio de morte praesumpta sich später dennoch als irrig erweist, also der Toterklärte (noch) lebt, ist eine etwa eingegangene Zweitehe als bigamisch anzusehen und deshalb nach can. 1085 CIC/1983 ungültig. 2. In bezug auf das römische Zivilrecht Käser 63 zitiert:
seien einige Sätze von Max
„TodesVermutungen und Todeserklärungen sind der Antike unbekannt. Erst die Glossatoren stellten bei Verschollenheit eine (widerlegbare) Vermutung auf, daß der Verschollene 100 Jahre gelebt habe. Später wird diese Vermutung (im Anschluß an den 90. Psalm, genauer: 89 [90], 10) auf 70 Jahre herabgesetzt." 64 torische Theologie hat sie zwar ,entsakramentalisiert', aber an der Einehe und am Grundsatz der Unlösbarkeit einer christlichen Ehe festgehalten."). Zur Entwicklung des staatlichen und des kirchlichen Rechts vgl. insbes. auch Kaas (Fn. 9), S. 7ff., 39ff.; Freisen, Geschichte des kanon. Eherechts, 2. Aufl. 1893 (S. 367 zu Gratian); J. Schienz, in: ArchKathKirchR 98 (1918), S. 52ff., S. 60 Fn. 7, 215ff., 381 ff., 549ff.; F. Schwind, JB1. 1946, S. 287ff. 60 Vgl. neuestens F. W. Bosch, Staatliches und kirchliches Eherecht (1988), S. 9, 57 ff. 61 Siehe Eichmann / Mörsdorf, Kirchenrecht, 10. Aufl., Bd. II, S. 183, unter Hinweis auf die Instructio der SCOff. (Glaubenskongregation) v. 13.5.1968; H. Hanstein, Kanon. Eherecht, 6. Aufl. (1958), § 23 I I 2b. 62 H Zapp, Kanon. Eherecht, 6. Aufl. (1983), § 10 I I 3 - S. 86f.; H. Flatten, in: J. Listi / H. Müller / H. Schmitz, Handbuch des kathol. Kirchenrechts (1983), § 107 V I I I - S. 999. 63 Römisches Privatrecht (Kurzlehrbuch), 11. Aufl. 1979, § 13 I I 2 - S. 65; auch § 58 V I I l a ; Käser, Das röm. Privatrecht (Handbuch), 2. Aufl. 1971, § 64 I I 2, § 77 II: unter Hinweis auf Papinianus in: Digesten 48, 5, 12, 12.
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Lange Abwesenheit, insbesondere infolge von Kriegsgefangenschaft, löste die Ehe automatisch auf.
Das spätere gemeine Recht gestattete zwar die neue Eheschließung nach gerichtlicher Toterklärung des ersten Gatten. Bei Wiederauftauchen des Verschollenen wurde die Zweitehe aber dennoch im gemeinen Recht ebenfalls wohl überwiegend als bigamisch angesehen65. 3. Die erste große Wandlung setzte - soweit dem Verfasser erkennbar mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 ein 6 6 : Im II. Teil 1. Titel 7. Abschn. heißt es in § 666: „Dem andern Ehegatten [des „durch Urtel und Recht für todt erklärten" Ehegatten] stehet es alsdann frey, sich wieder zu verheirathen; und diese Ehe besteht, wenn auch der Verschollne wieder zurück kehrt". § 667 fügt der Deutlichkeit halber hinzu: „Wenn aber die anderweitige Verheirathung nicht geschehen ist, so wird bei erfolgender Rückkehr des Verschollenen die vorige Ehe als fortdauernd angesehen." Bezüglich einer Auflösung der Zweitehe aus Anlaß der Rückkehr des Verschollenen bemerkt das ALR (bewußt) nichts, regelt aber im unmittelbaren Anschluß an die zitierten Normen ausführlich und, wie bekannt, relativ großzügig-liberal die Möglichkeiten der Ehescheidung: So konnte z.B. die neue Ehe nach Rückkehr des ersten Ehepartners ggf. wegen „unüberwindlicher Abneigung" (§§ 716ff.) oder wegen „Ehebruchs" (§§ 669ff.) geschieden und danach die Alt-Ehe wieder neu geschlossen werden. Am Rande sei hier zusätzlich vermerkt, daß das ALR - im II. Teil 1. Titel 7. Abschn., § 665, also noch vor den Bestimmungen über die etwaige Wiederverheiratung - erklärt, bei Toterklärung eines Ehegatten „finde die Erbfolge in sein Vermögen eben so statt, als wenn er am Tage des publicirten Urtels wirklich gestorben wäre". Sehr viel später - II. Teil 18. Titel 8. Abschn. - wird „von Aufhebung der Vormundschaften" gehandelt und dort als Aufhebungsgrund in den §§ 823ff. auch die „Todeserklärung der Abwesenden" genannt 67 . Sehr deutlich dazu etwa § 834: „Nach erfolgter Todeserklärung hört die Vormundschaft auf; und das Vermögen fällt demjenigen zu, welchem es nach der gesetzlichen Erbfolge gebührt." Anschlie64 Hierzu ausführlicher: Kaas (Fn. 9), S. 7ff., 39ff.; Ernst Levy, in: Gedächtnisschrift f. E. Seckel (1927), S. 145ff.; vgl. ferner Enneccerus / Nipperdey, Bürgerliches Recht - Allgemeiner Teil, 15. Aufl. 1959, § 86 I - S. 489ff., m. w.N.; Strebel (Fn. 16a); Hans Lorenz, im Rechtsvergl. Handwörterbuch, Bd. VI, S. 58Iff. Zum Mittelalter: H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 529 f. 65 M. Wolff, Familienrecht, 7. Aufl. 1931, § 30 bei Fn. 4: „ . . . gemeines deutsches Recht geworden"; Enneccerus / Nipperdey (Fn. 64), § 87 I I I 1 - S. 510; Sievers (Fn. 30), S. 6; Friedberg (Fn. 59), S. 436ff. 66 Vgl. zum Preußischen ALR die Ausgabe von Hans Hattenhauer (1970). Dazu ferner Kaas (Fn. 9), S. 16 - 18. 67 Dazu vgl. auch § 1884 I I und § 1921 I I I des geltenden BGB.
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Bend wird dann ferner vom „Vorrang des Testaments- oder Vertragserben" gesprochen, schließlich ausgiebig davon, daß „sich der Abwesende nach der Todeserklärung meldet" und dann „sein Vermögen, so weit dasselbe oder dessen Werth noch vorhanden sind, zurückfordern kann" (§ 847). Von Herausgabe der Nutzungen, vom Problem der „Verbesserung" des Vermögens durch den „Besitzer", von dessen „Verfügungen" zugunsten eines redlichen Erwerbers u.a.m. ist, ähnlich wie im geltenden Recht des BGB 6 8 , auch damals schon die Rede gewesen. Als gerecht empfand man es also offenbar bereits vor 200 Jahren, daß bei Rückkehr des Toterklärten ihm sein Vermögen zu restituieren, dagegen der Ehepartner, wenn neu verehelicht, verlorengegangen sei. Bei sehr langer Abwesenheit des Verschollenen (mindestens 30 Jahre nach der Toterklärung) war ihm auch das Vermögen nicht mehr zurückzuerstatten, sondern höchstens ein „nothdürf tiger Unterhalt" zu gewähren (§ 852), „so weit das Vermögen dazu hinreicht". Interessant ist in jedem Falle, daß Toterklärung, Eherechts-, Vormundschafts- und Erbrechtsfragen vom ALR in deutlicherem Zusammenhang gesehen worden sind, als es heute wohl überwiegend der Fall sein dürfte. 4. Die evangelische Kirche hat, wie berichtet wird, im Grunde aber näher überprüft werden müßte, etwa 1800, als das Preußische ALR in Kraft getreten war, (mindestens vorläufig und partiell) ihren Standpunkt dahin gewandelt, „die Rückkehr des für tot Erklärten sei auf die Gültigkeit der neuen Ehe ohne Einfluß" 6 9 . Dies dürfte einmal damit zusammenhängen, daß die evangelische Kirche nicht starr am Unauflöslichkeitsgrundsatz festhielt, sondern für gewisse Tatbestände die Scheidung des Ehebandes mindestens tolerierte 70 , weiter damit, daß in jenen älteren Zeiten ganz überwiegend angenommen wurde, den Verschollenen und anschließend Toterklärten treffe zu allermeist ein Verschulden an der Entwicklung (auch) seiner Ehe, so daß oft eine „bösliche Verlassimg" i.S. des ALR bejaht werden müsse 71 . 5. Unter den Landesrechten des 19. Jahrhunderts seien hier diejenigen von Oldenburg (VO v. 16.2.1844), von Hannover (Ges. v. 23.5.1848) und von Sachsen (Ges. v. 2.1.1863) erwähnt: a) Die Oldenburgische VO 72 regelte u. a. die Bestellung eines Curators für das Vermögen eines Abwesenden, die Zulässigkeit einer Toterklärung nach 68
Dazu s. oben Abschn. I I I 3. Siehe Sievers (Fn. 30), S. 5; Friedberg (Fn. 59), S. 530ff. ™ Dazu s. etwa Wolff (Fn. 65), § 33 III. Zur Entwicklung des evangel. Ehescheidungsrechts vgl. H. G. Hesse, Evangel. Ehescheidungsrecht in Deutschland (Bonn 1960); zur gegenwärtigen Lage ferner Roelof Kaptein, Ehescheidung und Wiederverheiratung (Göttingen 1963). 71 Zwar nicht immer als „bösliches Verlassen" nachweisbar, aber doch ein faktisch ganz ähnlicher Tatbestand (Entfernung und Unterlassen aller Nachrichten, obwohl dies in der Regel möglich sein würde); s. etwa Mot. IV 642; Denkschrift z. Entwurf (1896), S. 264. 69
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i. allg. lOjähriger Verschollenheit sowie die Gestattung der Wiederverheiratung des „hinterbliebenen Ehegatten" (§ 18 der VO) durch ein „Decret des Ehegerichts", endlich auch den Tatbestand der Rückkehr des Verschollenen: sowohl für den Fall, daß der andere Ehegatte keine zweite Ehe eingegangen war - dann Fortbestand der Erstehe - , wie auch für die Situation einer mittlerweile begründeten Zweitehe. Hierzu sei der Text des § 18 der VO wörtlich zitiert 7 3 : „Von dem nach § 16 angenommenen Todestage an wird der hinterbliebene Ehegatte, wenn dieser nicht schon früher ein die Auflösung der Ehe aussprechendes Erkenntniß ausgewirkt hatte, als verwitwet betrachtet, und ihm kann durch ein Decret des Ehegerichts die Wiederverheirathung gestattet werden. Kehrt der Verschollene nachmals zurück, so bleibt für die evangelischen Landesunterthanen die zweite Ehe dennoch bestehen, vorbehältlich jedoch Unserer in einzelnen Fällen auf etwaiges Ansuchen sämmtlicher Beteiligten und auf den Bericht der Justizcanzlei zu erlassenden anderweiten Landesherrlichen Verfügung; wogegen in Ansehung der katholischen Landesunterthanen die Gültigkeit der verstatteten zweiten Ehe von der Entscheidung des katholischen Ehegerichts abhängt. Ist keine zweite Ehe geschlossen, so besteht im Fall der Rückkehr die erste Ehe, und ein etwa eingegangenes Verlöbniß wird aufgelöset, unbeschadet der bis zur Rückkehr eingetretenen rechtlichen Folgen des Wittwenstandes. Jedoch ist dem Zurückgekehrten unbenommen, aus besonderen, vor oder nach der Todeserklärung eingetretenen rechtlichen Gründen, namentlich aber auch wegen etwa nach der Todeserklärung begangener Unzucht die Auflösung der Ehe respektive die Trennimg von Tisch und Bette, nachzusuchen." b) Das Hannoversche Gesetz von 1848 lautete in § 16 wie folgt 7 4 : „Dem Ehegatten der rechtskräftig für todt erklärten Verschollenen ist die sofortige Wiederverheirathung gestattet. Die neue Ehe bestehet, wenn auch der Verschollene nachmals zurückkehren sollte; war aber bei Schließung derselben beiden Theilen das Fortleben jenes bekannt, so ist die neue Ehe nichtig und es wird sodann, gleichwie in dem Falle, wenn eine Wiederverheirathung bei der Rückkehr des Verschollenen noch nicht erfolgt ist, die Ehe mit demselben als fortdauernd betrachtet. Bei katholischen Ehegatten 72
Siehe Gesetzsammlung für das Herzogtum Oldenburg, 10. Bd. (1845), S. 237ff. Ebd., S. 247 f. 74 Siehe „Sammlung der gültigen Gesetze des particularen Civilrechts in der Provinz Hannover aus der Zeit vom 1.1.1818 bis 1.1.1882", hrsg. von Victor Stegemann, Celle 1882; hier: Gesetz über die Todeserklärung verschollener Personen vom 23.5.1848 - § 16 auf S. 7 8 - . 73
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werden die Wirkungen rechte beurtheilt."
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der neu eingegangenen Ehe nach canonischem Ehe-
c) Im ehemaligen Königreich Sachsen ging die Regelung in den §§ 1708 1710 des BGB v. 18 6 3 7 5 dahin: (1) Der zurückgebliebene Gatte konnte nach rechtskräftiger Toterklärung des Ehepartners verlangen, „daß die Ehe . . . für beendigt erklärt werde, wenn er zuvor eidlich bekräftigt, daß er nicht wisse, daß der abwesende Ehegatte noch am Leben sei". (2) Bei Rückkehr des Verschollenen wurde seine Ehe dennoch „als fortdauernd betrachtet", falls keine „anderweite Ehe" geschlossen war. (3) Hatte jedoch der Zurückgebliebene eine „anderweite Ehe geschlossen", so konnte er - der Zurückgebliebene - innerhalb von sechs Monaten die Scheidung der Zweitehe verlangen 76 . 6. Diese und andere Regelungen - u.a. auch die des alu 11 Art. 139 des Code civil (im Bereich des sog. Rheinischen Rechts) - fanden die Väter des BGB vor 7 7 . Schon im „Redaktor-Entwurf" von Gottlieb Planck 78 und in den Motiven zum I. Entwurf wurden sehr deutlich die „Bedürfnisse des Lebens", dem Gatten eines toterklärten Verschollenen die Eingehung einer „gültigen neuen Ehe" zu ermöglichen, betont, selbst auf die Gefahr hin, daß sich die Toterklärung in einigen Fällen später als irrig herausstellen sollte 79 . Im I. Entwurf zum BGB wurde ein Recht des Zurückgebliebenen, nach Rückkehr des Verschollenen die neue Ehe durch Erwirkung eines Anfechtungs- oder Scheidungsurteils zu beenden, ausdrücklich abgelehnt 80 . Generell wurde das Hauptgewicht nunmehr darauf gelegt, die neue Ehe aufrechtzuerhalten. Hiernach erscheint es konsequent, wenn die vorstehend zitierte „Katholikenklausel" der oldenburgischen und hannoverschen Regelungen vehement abgelehnt wurde 8 1 .
75 Quelle: Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen . .., hrsg. v. Eduard Siebenhaar, 5. Aufl. 1883. 76 Bemerkenswert, daß es sich um Ehescheidung, nicht um rückwirkende Auflösung (Anfechtung) der Ζ weit ehe handelte. 77 Nach Code civil Art. 139 a.F. nur Anfechtung der neuen Ehe durch den zurückgekehrten Verschollenen (s. unten Abschn. V 4). Zum folgenden vgl. allgemein Mot. IV 18ff., 640ff.; Prot. IV 452ff., V I 295f. 78 Entwurf eines Familienrechts für das Deutsche Reich, Vorlage des Redaktors Gottlieb Planck, Berlin 1880, Bd. IV 1, S. 285 (neu herausgegeben von W. Schubert, 1983 - dort auf S. 188ff. des II. Bandes die Begründung, die überaus lesenswert ist). 79 Mot. IV 641. 80 Mot. IV 644. 81 Mot. IV 645 („Vom Standpunkte einer staatlichen Ehegesetzgebung aus kann indessen der Verschiedenheit des Glaubensbekenntnisses ein derartiger Einfluß nicht beigelegt werden.")
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Gemäß einem Beschluß der II. Kommission wurde für das BGB v. 1896 schließlich aber dennoch vorgesehen, jedem gutgläubigen Partner der Neuehe angesichts der Rückkehr des Alt-Ehepartners ein - binnen sechs Monaten auszuübendes - (Einzel-)Anfechtungsrecht zu gewähren, mit der Maßgabe, daß infolge der Rückwirkung des rechtskräftigen Anfechtungsurteils die Neuehe „als von Anfang an nichtig anzusehen" (§ 1343 I BGB a.F.) und damit die Erstehe nie aufgelöst worden war 8 2 . Dies geschah, wie die Materialien - insbesondere die „Protokolle" - deutlich belegen, nicht zuletzt im Hinblick auf anderenfalls sich ergebende Konflikte mit der Auffassung der katholischen und der protestantischen Kirche 8 3 . Während G. Planck noch gemeint hatte, die neue Ehe müsse unanfechtbar gültig bleiben, heißt es im Bericht über die Beratungen der II. Kommission 84 , die zunächst in Aussicht genommene Unauflöslichkeit der neuen Ehe „stehe namentlich auch mit dem katholischen und protestantischen Kirchenrecht in Widerspruch"; angesichts „schwerer sittlicher Konflikte", die sich bei Rückkehr des früheren Gatten möglicherweise für die Partner der Zweitehe ergäben, „könne man nicht umhin, diesen Bedenken [der Kirchen] Rechnung zu tragen". Dagegen wurde ein Auflösungsrecht des irrigerweise Toterklärten in bezug auf die Neuehe seines früheren Gatten - anders, als es etwa im rheinisch-französischen Recht gewesen war (Art. 139 Code civil a.F.) - nicht vorgesehen. Daß die „automatische" Wiederherstellung einer aufgelösten Ehe für den - dabei nicht mitwirkenden - „Rückkehrer" manchmal auch durchaus unerwünscht sein konnte, ist klar, vor allem, wenn nicht sein früherer Gatte, sondern (allein) dessen neuer Partner die Anfechtungsklage angestrengt hatte. Man könnte dazu vielleicht sogar sagen: Die „Frau eines anderen" wurde dem Heimkehrer wieder „zugewiesen", u.U. auch gegen den Willen der Frau. Vielleicht war der Erstehepartner vorher nicht einmal nach seiner Haltung befragt worden 85 . Die „wiederhergestellte" Altehe unterlag allerdings den allgemeinen (damals noch beschränkten) Scheidungsmöglichkeiten. Billigenswert war es m.E. dennoch ganz besonders, daß auch dem gutgläubigen neuen Partner (Zweitehepartner) ein eigenständiges Lösungsrecht eingeräumt war: Gerade dieser war u.U. in seinem Gewissen sehr 82
Prot. IV 452 ff.; Staudinger (Fn. 28), Anm. 1 und 3 zu § 1350 BGB. Ein bemerkenswerter Tatbestand am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu auch Kaas (Fn. 9), S. 18, 33. 84 Prot. IV 454. 85 Gegen die rückwirkende „Wiederherstellung" der Altehe äußerte sich u. a. vehement H. Demburg (s. oben Abschn. 11), insbes. S. 21 ff. und pointiert S. 24. Gegen Dernburgs Deutung der gesetzlichen Regelung: Wolff (Fn. 9), S. 118 ff. 83
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belastet dadurch, „die Frau eines anderen" geheiratet zu haben und mit dieser noch verbunden zu sein. Immerhin ist die Wiederherstellung der Altehe ohne Mitwirkung des bisher Verschollenen ebenfalls bedenklich. Die kaum zu lösenden Schwierigkeiten werden gerade an dieser Stelle deutlich. Dem Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts muß indessen attestiert werden, daß er sich lange um eine möglichst akzeptable Lösung bemüht hat. Ein am Schluß der Beratungen gestellter Antrag des Abgeordneten Gröber (Zentrum), die gesamten einschlägigen Normen zu streichen 853 , wurde übrigens abgelehnt. 7. Dem Gesetzgeber des Jahres 1938 gefiel die Regelung von 1896 in etlichen Beziehungen offenbar nicht. Damals wurde, wie wir aus der „Amtlichen Begründung" zum EheG 1938 entnehmen können, großer Wert darauf gelegt, sich von „kirchlichen Vorstellungen" zu emanzipieren 86 . Und das Gewissen des einzelnen wurde, wie bekannt, kaum geschätzt. Zwar wurden die Möglichkeit zur Eingehung einer Zweitehe nach Toterklärung des Partners der früheren Ehe und die Auflösung der Alt-Verbindung durch eine neue Heirat des zurückgebliebenen Partners in § 43 EheG 1938 beibehalten - natürlich nur für den Fall, daß der Partner der ersten Ehe in Wirklichkeit noch lebte - . Das Recht, die Zweitehe durch ein Gerichtsverfahren wieder zu beseitigen, wurde aber auf den neuverehelichten Partner beschränkt, und zwar jetzt durch Gewährung eines binnen eines Jahres auszuübenden Aufhebimgsklagrechts - mit Wirkung lediglich ex nunc et in futurum - 8 7 . Weder der Zurückgekehrte noch der neue Ehepartner konnten insoweit etwas unternehmen. Begründet wurde vor allem die Beseitigung des Lösungsrechts des neuen Gatten nicht: Was bedeutet einem omnipotenten Staatswesen schon das Gewissen eines einzelnen? Mag er doch ggf. die Scheidung seiner Ehe begehren, evtl. auch nach § 37 EheG 1938 wegen Eigenschaftsirrtums 8 8 oder nach § 38 EheG 1938 wegen „arglistiger Täuschung" die Aufhebung verlangen 89 . 85a Vgl. H. H. Jakobs / W. Schubert, Die Beratung des BGB . . ., Familienrecht I 1987-S. 289. 86 Deutsche Justiz (DJ) 1938, S. 1102ff.: gegen „starre dogmatische Bindungen"; immer wieder für „völkische Belange" (S. 1103, 1105, 1106, 1107), gegen „konfessionelle Betrachtung, jenseitige Vorstellungen und religiöse Bindungen" (S. 1107) in bezug auf die Ehe. 87 Zur Frist s. § 19 der 1. DVO z. EheG v. 1938 = § 18 der AusfVO z. EheG (BritZone) v. 1948. Zur Wirkung der Aufhebung: § 42 EheG 1938 (= § 37 EheG 1946). Gegen eine Auflösung der Zweitehe generell: Nitzsche (Fn. 15a), S. 22. 88 Dies war stets sehr umstritten (Irrtum über den Status des Nicht-mehr-Verheiratetseins? Vgl. etwa - dies bejahend - RGRK / Wüstenberg , 10./11. Aufl., Anm. 18 zu § 39 EheG; v. Godin (Fn. 5), Anm. 2 zu § 39 EheG). Andere meinten, § 44 EheG 1938 = § 39 EheG 1946 stelle in bezug auf die Auflösung der Zweitehe eine lex specialis dar.
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Angesichts einer solchen Entwicklung - Nichtrückwirkung der „Aufhebung", wenn sie erfolgreich geltend gemacht wird - ist der „Wiederverheiratete" am Ende - ohne „Scheidung" - von der ersten und der zweiten Ehe freigestellt, mit der ihm schon im EheG 1938 (§ 44 II) gemachten Auflage, wenn überhaupt, dann (grundsätzlich) nur den Alt-Partner wieder ehelichen zu dürfen. Die hieraus sich ergebenden zahlreichen Einzelfragen haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten oft beschäftigt 90 . Um nur einige Punkte anzudeuten: Wie dann, wenn der „Heimkehrer" eine neue Eheschließung mit seinem Altpartner ablehnt oder wenn er bereits einen anderen Partner geheiratet hat, was ihm ja nach Auflösung der Erstehe freistand? Muß dann der durch Eheaufhebungsurteil ehelos gewordene Partner ehelos bleiben? Welche Wirkungen hätte im übrigen die Nichtbeachtung des „Ehegebots" und relativen Eheverbots des § 44 I I EheG durch den Standesbeamten?91 Man kann sich kaum vorstellen, daß ein sorgsam überlegender parlamentarischer Gesetzgeber bei Verabschiedung neuer Normen eine ähnlich unentwirrbare Lage geschaffen hätte. 8. Obwohl hiernach die Regelung des EheG v. 1938 höchst kritikbedürftig war, wurde sie im EheG v. 1946 - §§ 38, 39 - uneingeschränkt beibehalten; ein Zeichen dafür, wie wenig sorgfältig die Revision des Eherechts durch den Alliierten Kontrollrat damals vorgenommen wurde. Es sollte ja auch keine echte Revision, sondern nur eine Entnazifizierung stattfinden. Dieselben Bedenken, die in unserem Zusammenhang gegen das EheG 1938 vorgetragen werden mußten, bestehen deshalb gegen die Regelung von 1946 fort. 9. Hier eingeschoben sei der Hinweis darauf, daß im Bereich der heutigen DDR schon durch die VO über Eheschließung und Eheauflösung v. 24.11.1955 (GBl. I 849) die Gesetzeslage ganz wesentlich geändert worden ist. Einmal bestimmte der damalige § 4 der VO, schon mit Rechtskraft der Todeserklärung werde die Ehe des Toterklärten aufgelöst, auch dann, wenn letzterer im Zeitpunkt der Toterklärung noch gelebt habe. Zum anderen behandelte § 5 der VO den Fall, daß der Zurückgebliebene erneut geheiratet hat und der Toterklärte danach „wieder da ist". In dieser Situation können 89 Arglistige Täuschung natürlich nur dann, wenn der Partner der Alt-Ehe bei Wiederverheiratung wußte, daß der Toterklärte noch lebte. (Den §§ 37, 38 EheG 1938 entsprechen die §§ 32, 33 EheG 1946.) 90 Vgl. etwa Tigges (Fn. 2 - 3); Dölle (Fn. 5), § 30 II; RGRK / Wüstenberg (Fn. 5), Anm. 20ff. zu § 39 EheG; BayObLG, in: FamRZ 1961, S. 378, m. Anm. v. Bosch; Johannsen (Fn. 5), Rz. 7, 8 zu § 39 EheG; Soergel / Heintzmann (Fn. 5), Rz. 4 zu § 39; Ramm, in: JZ 1963, S. 50; G. Boehmer, NJW 1959, S. 2188, 2189 Fn. 7. 91 Bei Eheschließung entgegen dieser Norm würde ganz sicher keine Ehenichtigkeit die Folge sein, da die Nichtigkeitsgründe im Gesetz (§16 EheG 1946) abschließend genannt sind.
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„beide Ehegatten der früheren Ehe [binnen eines Jahres] gemeinsam auf Scheidung der neuen Ehe klagen", und: „ M i t dem Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils entsteht die frühere Ehe erneut." Diese Regelung hat das Familiengesetzbuch [FGB] der DDR v. 20.12.1965 - § § 3 7 , 3 8 - i n allen wesentlichen Punkten beibehalten 92 . Einzelscheidungsanträge sind natürlich ebenfalls möglich, aber dann ohne die erwähnte Wirkung auf die Erst-Ehe. 10. Es ist verständlich, daß die 1968 beim Bundes Justizministerium gebildete Eherechtskommission sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt hat, ob die einschlägige Regelung des Ehegesetzes v. 1938/1946 beizubehalten oder abzuändern sei. In ihrer III. Denkschrift v. 19 7 2 9 3 befaßte sie sich mit Themen des Eheschließungsrechts und hierbei u. a. mit der Wiederverheiratung im Falle der Toterklärung eines Ehegatten. Die Kommission lehnte es ab, dem Gesetzgeber zu empfehlen, bereits mit Rechtskraft der Toterklärung die Eheauflösung eintreten zu lassen (insoweit also abweichend vom FGB der DDR). Die alte Ehe solle aber - so wurde weiter vorgeschlagen - wie nach § 38 des EheG 1946 - auch künftig mit Eingehung einer neuen Ehe durch den Zurückgebliebenen und dessen neuen Partner (bei Gutgläubigkeit auch nur eines Gatten) aufgelöst werden. In der Frage, wie bei Wiedererscheinen des Totgeglaubten die neue Ehe beendet und die frühere Ehe wiederhergestellt werden könne, Schloß sich die Eherechtskommission (mit einer Mehrheit von 10:3 Stimmen) der Lösung des § 38 des FGB der DDR an: Beide Partner der früheren Ehe sollten gemeinsam die Scheidung der zweiten Ehe begehren können, „mit der Folge, daß mit der Rechtskraft des Scheidungsurteils die erste Ehe wieder wirksam wird". Ausdrücklich wurde es abgelehnt, auch dem Partner nur der zweiten Ehe eine erleichterte Möglichkeit zur Lösung der Zweitehe zu geben, ebenso auch negiert ein besonderes individuelles Lösungsrecht für den Partner beider Ehen: Jedem Beteiligten der Zweitehe stehe ggf. - und dies nur unter den allgemeinen Voraussetzungen - ein Scheidungsrecht zu; dies sei genügend 94 . 11. Es ist begreiflich, daß hiernach - etwa 1980/81 - sich auch das Bundesjustizministerium ebenfalls daran machte, Vorschläge zur Beseitigung der Ruine des KR-EheG v. 1946 zu erarbeiten und in einem - zunächst geheimgehaltenen, dann aber gleichwohl zur öffentlichen Diskussion gelangten - Referenten-Entwurf eines „Zweiten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts" (2. EheRG) Vorschläge zur Wiedereinfügung auch 92
Vgl. den Kommentar „Das Familienrecht der DDR" (zum FGB . . .), hrsg. vom Ministerium der Justiz, 3. Aufl. 1969/70 (Staatsverlag der DDR, Berlin). 93 Eherechtskommission, Vorschläge . . . zur Reform des formellen und materiellen Eheschließungsrechts . . . (Verlag Gieseking, Bielefeld, 1972), S. 84 - 87. 94 Zu den Vorschlägen der Eherechtskommission vgl. ferner meine vorläufige Äußerung in FamRZ 1980, S. 852 (gg).
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das Eheschließungsrechts in das IV. Buch des BGB unterbreitete 95 . Die Problematik „Toterklärung und Wiederverheiratung" wird dabei relativ breit erörtert 96 . Beibehalten werden soll nach diesem Entwurf die bloße Vermutungswirkung der Toterklärung speziell auch hinsichtlich der Ehe des Toterklärten: Käme also der Verschollene noch vor einer neuen Heirat seines Ehepartners zurück (vielleicht weil letzterer sich bislang nur zu einer „eheähnlichen Gemeinschaft" entschließen konnte), so würde die Alt-Ehe (wie es auch geltendem Recht entspricht) weiter bestehen. Die entscheidende Veränderung, die der Entwurf anregte, ist indessen die, daß im Falle der Wiederverheiratung des zurückgebliebenen Partners die neue Ehe bei Rückkehr des Toterklärten als nichtige Doppelehe angesehen werden soll: Die frühere Ehe, so wird vorgeschlagen, soll bei Weiterleben des Toterklärten durch die neue Heirat des Partners (entgegen der Regelung im BGB a. F. und im Ehegesetz) nicht mehr aufgelöst werden, sondern bei Bestand bleiben, so daß - wie bei Bösgläubigkeit der neuen Partner (worauf der Entwurf sich beruft) - auch bei deren Gutgläubigkeit die Zweitehe nur mit dem Verdikt der „Nichtigkeit" zustande kommen kann 9 7 . § 1317 I HS. 2 BGB i.d.F. des Entw. bestätigt dies ausdrücklich mit den Worten: „. . . dies [Eine Ehe kann für nichtig erklärt werden] gilt auch, wenn ein Ehegatte, nachdem der andere Ehegatte für tot erklärt worden ist, eine neue Ehe eingeht und der für tot erklärte Ehegatte überlebt". Die Befugnis zur Stellung des Antrags auf Nichtigerklärung soll nach § 1323 des Entw. jeder Ehegatte der nichtigen Ehe, „auch der Ehegatte der früheren Ehe" und die höhere Verwaltungsbehörde haben. Danach würde es also vier - statt bisher nur einen 98 - Antragsberechtigten geben, um die Neuehe juristisch wieder zu beseitigen (wobei hier eingefügt werden muß, daß - ebenso wie die Eherechtskommission - der Entwurf des Bundesjustizministeriums die Eheaufhebung als besonderes Rechtsinstitut abschaffen und die anstehenden Fälle „ i n die Nichtigkeitsfälle einbeziehen" möchte). Auch der zurückgekehrte Verschollene gewänne hiernach ein selbständiges Antragsrecht auf Nichtigerklärung der Neuehe. Die Entwurfsverfasser erläutern ferner 99 , die Nichtigerklärung komme in Betracht, wenn zwischen den Partnern der Erstehe „noch eine enge innere Beziehung bestehe"; nach solcher Nichtigerklärung (mit Scheidungswir95
Dem Verfasser liegt der Entwurf gemäß „Stand v. 29.1.1982" vor. S. 19 und S. 36 der Begründung des Entwurfs. 97 S. 20 der Begründung des Entwurfs. - Vgl. ferner meine Erwägungen zum „Vorrang der Alt-Ehe" in FamRZ 1961, S. 378 (II. und III.), die ich nicht mehr als richtig ansehen kann. 98 Bisher ist bekanntlich nur der wiederverheiratete Partner des Toterklärten berechtigt, die Aufhebung der Zweitehe zu begehren. 99 S. 21 f. der Begründung. 96
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kung! ) 1 0 0 könne ohne weiteres „die Lebensgemeinschaft der früheren Ehe im vollen Umfang wieder aufgenommen werden" und ein Eheverbot wie im derzeitigen § 39 I I S. 1 EheG 1946 werde gegenstandslos. Wenn dagegen eine faktische Wiederherstellung der Erstehe nicht mehr zu erwarten sei, möge diese „frühere Ehe" durch Scheidungsurteil beseitigt und damit die Vollgültigkeit der Zweitehe herbeigeführt werden. Offenbar stellt man sich vor, daß ein Nichtigkeitsantrag in solcher Situation zunächst gar nicht gestellt werden wird oder, wenn doch, die Entscheidung darüber vorläufig auszusetzen sein würde 1 0 1 . Es handelt sich zweifellos um interessante Vorschläge dieses Referentenentwurfs zwecks „Entwirrung einer Konfliktssituation" 1 0 2 . Das mindestens sehr Überraschende liegt darin, daß nunmehr - 100 Jahre nach den gründlichen Beratungen zum BGB - auch die gutgläubig eingegangene Zweitehe als „bigamisch" angesehen werden soll, also eine Auflösung der Erstehe bei Weiterleben des Toterklärten durch eine zweite Heirat seines Partners mit einem „Dritten" nicht mehr stattfinden würde. De facto folgt der Entwurf insoweit den Vorstellungen des kanonischen Rechts, was von etlichen sicher als Vorzug angesehen, von anderen aber gewiß - auch im Hinblick auf die Darlegungen von Gottlieb Planck bei Vorbereitung des BGB 1 0 3 - kritisch beleuchtet werden dürfte. 12. Eine endgültige eigene Stellungnahme möchte der Verfasser an dieser Stelle noch nicht fixieren. Der Bericht über die Gesetzgebung des 18., 19. und 20. Jahrhunderts und die neuesten Vorschläge de lege ferenda zeigt in jedem Falle, welche Fülle von Möglichkeiten existiert, die anstehenden Fragen rechtlich zu ordnen. Zunächst soll nunmehr noch ein - auf einige Länder begrenzter - rechtsvergleichender Umblick versucht werden. V. Rechtsvergleichung 1. Österreich: Über ältere Entwicklungsstufen berichteten Armin u. Adolf Ehrenzweig 104 sowie Hans Frei 105, wobei die starken Einflüsse des katholischen Kirchenrechts deutlich werden.
100 vgl. § 1329 BGB i.d.F. des Entwurfs und dazu S. 48ff. der Begründung. 101 Zu den Vorschlägen des RefEntw. s. bereits meine Darlegungen in FamRZ 1982, S. 877. Besonders aufregend ist übrigens, daß die Nichtigerklärung nur binnen eines Jahres soll beantragt werden können (§ 1326). Und wenn diese Frist versäumt ist? 102 So schon FamRZ 1982, S. 877 (d). 103 Zum Redaktor-Entwurf von Planck s. bereits oben bei Fn. 78. 104 „System des österreichischen allgemeinen Privatrechts", 2. Aufl. 1937, II. Bd., 2. Hälfte: Familien- und Erbrecht, S. 29f. und 113f.
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Heute gelten in Österreich - in Nachwirkung der Epoche von 1938 bis 1945 - die allgemeinen Vorschriften der § § 1 - 1 1 des deutschen Verschollenheitsgesetzes von 1939 als § § 1 - 1 1 des „Todeserklärungsgesetzes 1950" fort, insbesondere auch die §§ 1, 2, 9 und 10 1 0 6 . Desgl. sind die §§43 und 44 EheG i.d.F. von 1938 (gleichlautend mit den §§ 38, 39 KR-EheG 1946) weiter in Kraft 1 0 7 . An die Stelle der Todeszeitfeststellung des deutschen VerschG ist in Österreich das „Erkenntnis über den Beweis des Todes" getreten (§21 österr. TodErklG). Obwohl insoweit besondere eherechtliche Vorschriften fehlen, werden auch in derartigem Falle (bei irriger Feststellung) die Normen über Wiederverheiratung nach irriger Toterklärung entsprechend angewendet 108 . Dagegen wird bei Vorliegen nur einer falschen Sterbeurkunde betr. einen Ehepartner die Wiederverheiratung des anderen Gatten (wie nach h.M. in Deutschland) als bigamisch-nichtig angesehen109. Die österreichische Literatur und Rechtsprechung kann - wie in anderen Zusammenhängen - in bezug auf das Eherecht durchaus auch in der deutschen Judikatur nutzbringend verwertet werden 110 . F. Schwind 111 äußert etwa beachtliche K r i t i k daran, daß der toterklärte Ehegatte „keinerlei rechtliche Möglichkeit hat, gestaltend auf die zweite Ehe seines ehemaligen Partners einzuwirken", und möchte dem „zweiten Partner", den das Gesetz ebenfalls nicht erwähnt, - wie etliche deutsche Autoren - wenigstens ein Aufhebungsrecht wegen Irrtums zuerkennen 112 . 2. Schweiz: Über die frühere Entwicklung berichtet die schon genannte Schrift von Hans Frei 113. Gemäß Art. 35ff. des ZGB v. 1907 - in Kraft seit 1912 - ist bei „höchster Wahrscheinlichkeit" des Todes eines Abwesenden dessen richterliche Verschollenerklärung möglich - mit der Folge (Art. 38 ZGB), daß „die aus 105 Hans Frei, Verschollenheit als Eheauflösungsgrund nach kanonischem und schweizerischem Recht (Diss. Bern, 1951, S. 82ff.), auch als Bd. 286 der „Abhandlungen zum Schweiz. Recht", N.F., erschienen. 106 Siehe Koziol / Welser, Grundriß des Bürgerl. Rechts, Bd. I, 5. Aufl., 1979, S. 42 ff. «7 Vgl. Ehrenzweig / Schwind (Fn. 104), 3. Aufl. 1984, § 4 V I I B, § 7 II, III; Schwind, Komm. z. österr. Eherecht, 2. Aufl. 1980, zu §§ 43, 44 EheG (a.F.); F. Gschnitzer / Ch. Faistenberger, Österr. Familienrecht, 2. Aufl. 1979, S. 33ff.; Koziol / Welser (Fn. 106), Bd. II, S. 165f. 108 So der ÖsterrOGH, in: JB1. 1949, S. 455; auch Schwind, Komm. (Fn. 107), Anm. 1.3 zu §43 EheG. 109 Siehe Schwind, Komm. (Fn. 107), Anm. 1.4 zu § 43 EheG. 110 Insbes. der Komm. v. Schwind (Fn. 107), etwa zu § 44 I I EheG 1938 (= 39 I I EheG 1946). 111 Anm. 4 und 4.1 zu § 44 EheG. 112 s. oben Fn. 88. 113 s. obenFn. 105.
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seinem Tode abgeleiteten Rechte geltend gemacht werden können, wie wenn der Tod bewiesen wäre". Dies hat nicht ohne weiteres eherechtliche, wohl aber erbrechtliche Konsequenzen, wie die Art. 546 ff. ZGB deutlich machen. Die zur Erbfolge Berufenen haben „vor der Auslieferung der Erbschaft für die Rückgabe des Vermögens an besser Berechtigte oder an den Verschollenen selbst Sicherheit zu leisten". Denn der zurückgekehrte Verschollene hat nach Art. 547 ZGB - wie nach § 2031 BGB - einen Herausgabeanspruch „gegen die Eingewiesenen nach den Besitzesregeln". Eine derartige Sicherheit ist, wie Art. 546 I I bemerkt, allerdings „ i n keinem Falle länger zu leisten als bis zu dem Tage, an dem der Verschollene hundert Jahre alt wäre" - eine interessante Reminiszenz an uralte Rechtsvorstellungen. Was speziell die Wiederheirat des „anderen Ehegatten" des Verschollenen anbetrifft, meint Art. 102 ZGB, es genüge insoweit nicht allein die „Verschollenerklärung", obwohl dabei natürlich - wie bei der deutschen Todeserklärung - bestimmte Fristen einzuhalten sind 1 1 4 . Art. 102 verlangt vielmehr zusätzlich, daß „die frühere Ehe gerichtlich aufgelöst worden ist", und zwar in einem scheidungsähnlichen Verfahren. Solche Eheauflösung kann „zugleich mit der Verschollenerklärung oder in besonderem Verfahren" vom anderen Ehegatten begehrt werden 115 . Der Antragsteller kann sich aber auch auf die Verschollenerklärung beschränken. Hiernach ist gemäß schweizerischem Recht für den Eintritt der erbrechtlichen Konsequenzen ausreichend, daß der Abwesende „für verschollen erklärt" wird. Die Eheauflösung aber setzt (falls der Verschollene noch lebt! ) einen weiteren richterlichen Akt voraus - mit der sich daran knüpfenden Möglichkeit, nunmehr auch eine neue Ehe begründen zu können. Dies hat - wie z.B. Frei 116 hervorhebt - die merkwürdige Folge, daß (bei Weiterleben des Verschollenen) „der eine Teil den anderen [schon] zu einer Zeit beerbt, wo er mit ihm noch in einer rechtsgültigen Ehe lebt". Die Auflösung der Erstehe gemäß Art. 102 ZGB ist übrigens eine endgültige: Kehrt der Verschollene zurück und ist sein Gatte noch nicht wiederverehelicht, so kann - muß aber nicht - die frühere Ehe erneut formell geschlossen werden. Ist dagegen bei Rückkehr des alten Partners der Zurückgebliebene durch eine neue Ehe gebunden, wird diese Ehe juristisch nicht irgendwie tangiert, also weder einer Anfechtung noch einer Aufhebung noch ohne weiteres einer Scheidung ausgesetzt 117 . 114
Vgl. Art. 35 - 38 ZGB. Art. 102 I I ZGB. - Wer ist zu verklagen? Zum Gerichtsstand vgl. Art. 114 ZGB, zum Problem ferner: J. M. Grossen, in: SchweizPrivR, hrsg. v. M. Gutzwiller u. a. (1967), 2. Bd.: Einl. und PersonenR, S. 305ff., 308f.; Hegnauer, Grundriß des Eherechts, 2. Aufl. 1987, § 6 II; E. Götz, in: Berner Kommentar, FamR, 3. Aufl. 1964, Rz. 2, 4, 8 zu Art. 102 ZGB; Max Guldener, Grundzüge der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz (1954), S. 15, meint, es komme nur ein Verfahren der freiw. Gerichtsbarkeit (kein kontradiktorisches Verfahren) in Frage. 116 Frei (Fn. 105), S. 100; ebenso: Grossen (Fn. 115), S. 308f. 115
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Es ist ungewiß, ob die Schweiz, die andere Teile des Familienrechts in den letzten Jahren grundlegend neugestaltet hat, demnächst auch die vorstehend geschilderte Regelung reformieren will. 3. Liechtenstein: Gemäß Art. 54 - 57 des Personen- und Gesellschaftsrechts v. 20.1.1926 ist - ebenso wie im schweizerischen Recht und mit gleichen z.B. erbrechtlichen Wirkungen - die richterliche „Verschollenerklärung" möglich. Desgl. setzt eine neue Eheschließung des Ehegatten des Verschollenen - wie in der Schweiz - zusätzlich eine gerichtliche Auflösimg der Alt-Ehe voraus (jetzt nach Art. 14 I I des liechtensteinischen EheG v. 13.12.1973) 118 . 4. Frankreich: a) Über die frühere - bis 1977 geltende - Regelung der Art. 112ff. des Code civil v. 1804 berichtete M. Ferid in der 1971 erschienenen 1. Aufl. des „Französischen Zivilrechts" 1 1 9 . Offensichtlich wurden, mindestens früher, in Frankreich die Vermögens- und vor allem die erbrechtlichen Wirkungen einer Abwesenheit (= „absence") für bedeutsamer als die eherechtlichen erachtet, was schon bei einem Vergleich des Umfangs der Normenkomplexe sich ergibt: Etwa 20 Artikel waren dem Vermögensbereich gewidmet, im Grunde nur eine Norm dem Eherecht 120 . Es begann damals und beginnt auch heute noch - in Art. 112 mit der Notwendigkeit, für einen Abwesenden einen Vermögensverwalter einzusetzen - w i r würden ihn „Abwesenheitspfleger" nennen - . Und die Überschrift hierzu lautete schon im alten Text „De la présomption d'absence" (Vermutete Abwesenheit). Einige Jahre nach der Feststellung der „absence" konnte - und kann - hieraus eine gerichtliche „déclaration d'absence" („Verschollenerklärung") werden 121 . Falls diese zweite Entwicklungsstufe erreicht ist, konnte - so sagte das frühere Gesetz - seitens der mutmaßlichen Erben und des Ehegatten „die einstweilige Einweisung gegen Sicherheitsleistung in das Vermögen des Abwesenden" verlangt werden, begreiflicherweise gegen Gestellung einer Kaution 1 2 2 . Nach Ablauf von weiteren 30 Jahren erfolgte dann früher auf Antrag die endgültige Vermögenseinweisung und die Aufhebung der Sicherheitsleistung, dies beides übrigens auch, sobald seit der Geburt des 117 Frei (Fn. 105), S. 99 - 101. 118 Vgl. hierzu auch den Abschnitt „Liechtenstein" (letzte Lieferung von 1986) in Bergmann / Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht. us Abschn. 1 D 20ff. - S. 203ff. Vgl. zum früheren Recht auch die Lehrbücher zum Code civil von Mazeaud und Marty / Raynaud. 120 Zum Vermögensrecht: Art. 120 - 138 und 140, zum Eherecht: Art. 139 a.F. 121 Art. 115, 119 a.F.: in der Regel nach Ablauf von 4 + 1 = 5 Jahren. Gemäß der Neufassung durch Gesetz v. 1977 beträgt die Wartefrist zwischen der Feststellung der „présomption d'absence" und der richterlichen „déclaration d'absence" jetzt 10 Jahre: Art. 122 n.F. (ohne vorangegangene „présomption d'absence" 20 Jahre). 122 Art. 120ff. a.F.
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Abwesenden 100 Jahre verstrichen waren 1 2 3 . Kehrte der Verschollene zurück, so war ihm sein Vermögen zurückzugewähren 124 . b) Die eherechtliche Regelung beschränkte sich dagegen auf einen einzigen Artikel (Art. 139 Cc a.F.): Nur der (zurückgekehrte) Abwesende war danach befugt, falls sein Ehepartner eine neue Ehe eingegangen war, deren Nichtigkeit geltend zu machen. Wie Ferid 125 hierzu bemerkt, ist nach früherem Recht dem Ehepartner jedoch in aller Regel eine Wiederheirat gar nicht möglich gewesen, „solange er nicht den Tod des Verschollenen nachweisen kann"; und dies schied meist deshalb aus, weil dem französischen Recht damals weder eine Todes- noch eine Lebensvermutung in bezug auf den „normalen Abwesenden" bekannt war. Die Frage der „autorité parentale" wurde im alten Text ebenfalls gründlicher als das Eherechtsproblem behandelt 126 . c) Um exakt zu berichten, muß indessen noch erwähnt werden, daß es insbesondere gemäß einer Verordnung v. 23.8.1958 -für besondere Fälle der Gefahrverschollenheit auch eine echte Toterklärung gab und weiter gibt („déclaration du décès"): Art. 88ff. Cc. Diese gerichtliche Feststellung hat offenbar genau dieselbe Wirkung wie der feststehende Tod einer Person. Art. 92 behandelt (vorsichtshalber) auch den hier wohl höchst seltenen Fall der Wiederkehr, und zwar in bezug auf das Vermögen und speziell betr. das Ehevermögensrecht 127 . d) Mit einem Gesetz v. 28.12.1977 wurden gegenüber dem geschilderten weit mehr die Interessen des Abwesenden als die der übrigen Personen berücksichtigenden - Rechtszustand grundlegende Änderungen durchgeführt. Wesentlich erscheint in bezug auf die „déclaration d'absence" vor allem Art. 128 Cc n.F. Dort heißt es in Abs. I: „Die richterliche Verschollenerklärung entfaltet, sobald sie in die Register eingetragen ist, alle Wirkungen, die der festgestellte Tod haben würde" (also z.B. hinsichtlich der Erbfolge), und zwar nicht erst in zwei Stufen wie früher, sondern sofort. Die dritte Stufe (die der „endgültigen Einweisung") ist weggefallen. Art. 128 I I I Cc n.F. fügt hinzu: „Der Ehepartner des Abwesenden kann eine neue Ehe schließen", was im Familienrechtslehrbuch von Weill/ 123
Art. 129 a.F. Art. 127, 131, 132 a.F. 125 Vgl. bei Fn. 119, Abschn. 1 D 27 - S. 204. Hierzu nur kurz, aber deutlich: Marcus Lutter, Das Eheschließungsrecht in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland, 1963, S. 125. 126 Art. 141 - 143 Cc i.d.F. von 1942. Vgl. nunmehr Art. 373 Ziff. 1 und 373 - 1 Cc i.d.F. von 1970. 127 Von der Ehe selbst war in der früheren Fassung keine Rede: Wenn nach Art. 92 I I I a. F. bei Rückkehr des Abwesenden sogar der Güterstand wiederherzustellen war, war sicher auch der Weiterbestand der Ehe anzunehmen. Vgl. im übrigen Alex Weill / François Terré, Droit civil - Les personnes - La famille - Les incapacités, 4. Aufl. 1978, S. 16 - 18.
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Terré 128 als eine „innovation fondamentale" bezeichnet wird. Außerdem bemerkt der neue Art. 132: „Die Ehe des Abwesenden bleibt aufgelöst, auch wenn die Verschollenerklärung aufgehoben worden ist." Im Unterschied dazu bestimmt indessen Art. 130 n.F., der Wiederaufgetauchte habe Anspruch auf Rückerstattung seines Vermögens 129 . Neben dieser Neuordnung in bezug auf die Verschollenerklärung ist die vorstehend schon erwähnte echte Toterklärung der Art. 88ff. Cc n.F. bestehen geblieben, aber nur für Fälle, wo eine Person verschwunden ist „dans des circonstances de nature à mettre sa vie en danger, lorsque son corps n'a pu être retrouvé". Auch für diese Tatbestände hat die Novelle von 1977 die Folgen der Rückkehr des Toterklärten neu geregelt, und zwar eherechtlich dahin, daß eine neue Ehe des zurückgebliebenen Partners durch die Rückkehr juristisch nicht berührt wird. Der Vermögensherausgabeanspruch des Heimkehrers erscheint daneben fast selbstverständlich 130 . 5. Belgien: Dort ist nach wie vor, soweit feststellbar, im wesentlichen die alte Regelung des Code civil v. 1804 in Geltung, insbesondere diejenige betr. das Erbrecht und ferner bezüglich der Ehe jener schon mehrfach genannte Art. 139 Cc a.F., der bestimmt, daß nur der noch lebende „Abwesende" eine etwa neu eingegangene Ehe seines Ehepartners „attackieren" kann (wobei, wie schon hervorgehoben wurde, im allgemeinen eine derartige neue Heirat gar nicht möglich sein dürfte) 1 3 1 . 6. Luxemburg: Insoweit gilt das gleiche wie für Belgien. Beide zuletzt genannten Staaten haben also bisher die neuzeitliche Weiterentwicklung dahin, daß mit Wiederheirat die Altehe aufgelöst wird, nicht nachvollzogen 132 . 7. Niederlande: Dort war der französische Code civil v. 1804 bekanntlich ebenfalls von großem Einfluß auf das „Burgerlijk Wetboek" (BW) von 1838. Es wurden indessen später sehr viele Änderungen durchgeführt 133 . Das 1. Buch des BW ist 1969/70 insgesamt neu gefaßt und erneut publiziert worden. Heute gilt betr. unser Thema der 18. Titel mit der Überschrift 128 Weill /Terré (Fn. 127), Nachtrag (Addendum), S. 923 ff., 926. Dazu s. ferner Ferid, Das französ. Zivilrecht, Bd. 3, 2. Aufl. 1987, Abschn. 4 Β 40. 129 Weill / Terré (Fn. 127), S. 927. 130 Art. 92 I I n.F., der auf Art. 130, 132 n.F. verweist. Sondervorschriften betr. Kriegsverschollenheit u.ä.m. sollen hier bewußt außer Betracht bleiben. Ferid (Fn. 119) und Weill / Terré (Fn. 127) berichten darüber. Vgl. zu Frankreich außerdem: Ferid (Fn. 128), 4 Β 40 und 4 Β 290. 131 Dazu s. oben bei Fn. 125. 132 Zu Belgien u. Luxemburg vgl. die Texte in Bergmann / Ferid (Fn. 118). 133 v g l hierzu wiederum die übersetzten Texte in der Sammlung von Bergmann / Ferid (Fn. 118). Der niederländische Text von Buch I des Burgerlijk Wetboek liegt dem Verfasser ebenfalls vor (31. Druck - Verlag W. E. J. Tjeenk Willink, Zwolle 1982). Seit 1954 ist eine große Reform des BW im Gange.
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„Afwezigheid, vermissing en vaststelling van overlijden in bepaalde gevallen" (Abwesenheit, Verschollenheit und Todeserklärung in bestimmten Fällen), beginnend in Art. 409. Nach wenigen Normen über „Vermögensverwaltung bei Abwesenheit" 1 3 4 erörtert das Gesetz ab Art. 412 Rechtsfragen in bezug auf „Personen, deren Dasein ungewiß ist", und zwar gemäß der Tradition des Code civil zunächst solche des Vermögens- und Erbrechts. Art. 424 BW betont, anders als das neue französische Gesetz v. 1977 und im Anschluß an ältere Regelungen, etwa auch an Art. 102 des schweizZGB 135 , die Toterklärung eines Ehegatten sei nicht ausreichend, um eine neue Ehe einzugehen, hierzu bedürfe es außerdem noch einer landgerichtlichen Erlaubnis, über deren Erteilung das Gericht nach freiem Ermessen entscheiden soll (Art. 424 II). Derselbe Artikel betont dann - in Ausführung auch des Art. 149 lit. b BW, wo allgemein von der Beendigung der Ehe gesprochen w i r d - in Abs. IV: „Ist der hinterbliebene Ehegatte auf Grund der gerichtlichen Erlaubnis eine neue Ehe eingegangen, jedoch der Verschollene zu diesem Zeitpunkt noch am Leben, wird die Ehe mit dem Verschollenen durch die neue Eheschließung aufgelöst." Über die mögliche Auflösung der Zweitehe und die Wiederherstellung der Erstehe findet sich im Burgerlijk Wetboek nichts 1 3 6 . Dagegen ist in den Art. 42 6 ff. BW für den Fall, daß der Tod einer Person als sicher angesehen werden kann, die Leiche aber unauffindbar ist, ein Verfahren betr. Feststellung des Todes und der Todeszeit vorgesehen. 8. Italien: Der Codice civile von 1942 enthält - wie das französische Gesetz - ebenfalls eine größere Anzahl von Normen über die „Assenza" (Abwesenheit) 137 : Art. 48ff., 117 III, V Cc. In Art. 48 ist, wie in Art. 112 Code civil français, die Bestellung eines „curatore dello scomparso" (Abwesenheitspfleger) vorgesehen. Nach Ablauf von zwei Jahren kann gemäß Art. 49 die „dichiarazione di assenza" (Verschollenerklärung) begehrt werden, womit nach Art. 50 die Möglichkeit der vorläufigen Vermögenseinweisung für die präsumtiven Erben - gegen Kaution - verbunden ist. Es versteht 134
Die Verwandtschaft mit dem französischen Recht ist unverkennbar. Zum Schweiz. Recht s. oben bei Fn. 113 ff. Betr. Oldenburg s. oben bei Fn. 72. 136 Offensichtlich besteht insoweit nur die Möglichkeit der Scheidung der zweiten und danach der Wiederherstellung der ersten Ehe. - Dies ist absichtlich so gewollt: „Wiederherstellung" der ersten Ehe im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Nach Scheidung der 2. Ehe kann wiederum eine neue Ehe geschlossen werden, auch mit dem wiederaufgetauchten (verschollen gewesenen) Partner. Solche neue Ehe gilt dann ggf. wie jede andere Ehe „ex nunc", nicht ex tunc. (So eine freundliche Auskunft von Prof. Mr. E. A. A. Luijten, Nijmegen/Heerlen.) 137 Vgl. zum folgenden insbesondere: Alberto Trabucchi, Istituzioni di Diritto civile, 30. Aufl. 1989, Abschn. 34 - S. 69 - 71; Abschn. 115 - S. 278f; Abschn. 365 S. 829; Giorgio Gian / Alberto Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, 2. Aufl. 1984, zu Art. 48 ff. u. Art. 117; Pietro Rescigno, Manuale del Diritto privato italiano, 4. Aufl. 1980, Abschn. 30 - S. 120ff.: La scomparsa, l'assenza, la presunzione di morte; W. Grunsky, Italienisches Familienrecht, 2. Aufl. 1978, S. 10. 135
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sich, daß bei Rückkehr des Abwesenden (der nach wie vor Vermögens träger - „titolare" - geblieben ist) 1 3 8 die Provisorien beendet und die „zeitweiligen Besitzer" ( „ i possessori temporanei") zur „Restitution" verpflichtet sind. Tritt der letzterwähnte Fall zunächst nicht ein, so kann im allgemeinen nach Ablauf von insgesamt zehn Jahren, gerechnet von der letzten Nachricht an, die gerichtliche Erklärung des vermuteten Todes („la dichiarazione di morte presunta") beantragt werden (Art. 58) 139 . Bei Wirksamwerden einer derartigen Sentenz sind die „vorläufigen Besitzer" berechtigt, frei über das Vermögen des Abwesenden zu verfügen: Art. 63 (wobei das Gesetz es aber offenbar ganz bewußt vermeidet, schon von einem Übergang des Eigentums zu sprechen). Außerdem - so heißt es hiernach nur kurz in Art. 65 - kann nun der Ehegatte des Toterklärten eine neue Ehe schließen 140 . Wird gleichwohl das Weiterleben des Abwesenden bekannt, so ist die neue Ehe seines Partners „nullo" (Art. 68) 1 4 0 a , und es sind dem bisher Toterklärten seine Vermögenswerte - in dem Zustand, in dem sie sich jetzt befinden zurückzuerstatten (Art. 66). Während die Ehenichtigkeit wegen Bigamie im allgemeinen von etlichen Antragsberechtigten - u. a. von der Staatsanwaltschaft - geltend gemacht werden kann (Art. 117 I), gibt es nach Art. 117 I I I hinsichtlich der neuen Ehe des zurückgebliebenen Ehepartners keinerlei Befugnis zur Anfechtung, solange die Abwesenheit andauert 141 . Zusammengefaßt: Italien hält hiernach (bisher) daran fest, daß endgültige Wirkungen mit einer irrigen Toterklärung weder erb- noch eherechtlich verbunden sind. Pietro Rescigno 142 beklagt, daß die Normen über die Toterklärung und vor allem die Art. 65, 68 Cc aus Anlaß der Neuordnimg des italienischen Familienrechts, insbesondere des Eheauflösungsrechts, nicht „koordiniert", also nicht an die neue Rechtslage angepaßt worden seien. Dies soll wohl bedeuten, daß der genannte Autor es für richtig hielte, nach deutschem und jetzigem französischen Vorbild auch in Italien bei Eingehung einer neuen Ehe durch den Partner im Falle späterer Rückkehr des Toterklärten die frühere Ehe als endgültig aufgelöst zu bezeichnen. Damit aber würde der italienische Gesetzgeber sich eindeutig noch weiter von der Auffassung der Katholischen Kirche über die Unauflöslichkeit der gültig 138 Vgl. Trabucchi, Istituzioni (Fn. 137), S. 69, 71, 829. Einzelheiten und insbes. Sonderfälle der Verschollenheit müssen hier beiseite bleiben. 140 Das ist wohl so zu verstehen, daß er zwar erneut heiraten kann, aber auf das „Risiko" hin, der Alt-Ehegatte könne noch leben und eines Tages zurückkehren (vgl. Trabucchi, Istituzioni [Fn. 137], S. 71). 140a Beachte aber ferner Art. 68 II, 128 Cc bezüglich der „effetti civili del matrimonio" - p u t a t i v o ! - . 141 Dies erinnert deutlich an den früheren Art. 139 des französ. Cc. 142 Vgl. Fn. 137, S. 125. 139
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geschlossenen und vollzogenen christlichen Ehe distanzieren. Ohne es sicher zu wissen, ist der Verfasser überzeugt, daß dieses Problem auch anderweit in der politischen und juristischen Auseinandersetzung jenseits der Alpen schon des öfteren diskutiert worden ist. 9. Spanien: Angesichts der besonders umfassenden häufigen Veränderungen des spanischen Rechts in den letzten vier Jahrhunderten (seit König Philipp II.) 1 4 3 ist es unmöglich, hierzu gründlicher zu berichten. Nur ganz weniges kann angedeutet werden. Der Código civil von 1888 enthielt bereits umfangreiche Normen über die Abwesenheit („ausencia") einer Person (Art. 181-198). Der Einfluß des Code civil von 1804 ist auch hier unverkennbar. Die Stichworte lauten: Bestellung eines Abwesenheitspflegers, nach einiger Zeit formelle Feststellung der Abwesenheit („declaraciön de ausencia"), nach Ablauf von 30 Jahren seit dem Verschwinden richterliche Erklärung des vermuteten Todes („declaraciön de la presunciön de muerte del ausente") 144 . Es ging damals wohl sozusagen ausschließlich um vermögensrechtliche Regelungen. Mit Gesetz v. 1939 wurden diese Normen novelliert 1 4 5 , z.B. die Wartefrist bis zur Toterklärung (jetzt umbenannt in „declaraciön de fallecimiento") auf i. d.R. zehn Jahre reduziert (Art. 193 Cc). Mit deren Rechtskraft wird die Erbfolge 146 in das Vermögen des Abwesenden eröffnet (Art. 196) 1 4 6 a . Stellt sich später heraus, daß der Toterklärte noch lebt, erhält er sein Vermögen in dem Zustand, in dem es sich befindet, wieder (Art. 197). Bezüglich des Eherechts erklärte Art. 195 I I I Cc i.d.F. von 1939: „Die Todeserklärung als solche genügt nicht, damit der lebende Gatte eine weitere Ehe schließen kann", eine Norm, die in Spanien sicher auch auf den damaligen besonders starken Einfluß des kanonischen Rechts zurückzuführen i s t 1 4 6 b .
143 Siehe dazu u. a. H. L. Weyers, Die Eheschließung nach spanischem Recht (1960), S. 3 f., und die neue Schrift von Dirk hangner, Eheschließung und Ehescheidung nach spanischem Recht (Frankfurt/M., 1984). 144 Der alte Text des Código civil wurde natürlich herangezogen. 145 Vgl. dazu Bergmann / Ferid (Fn. 118), Lieferung v. 1975; auch den 1979 von der Bundesstelle für Außenhandelsinformation (Köln) herausgegebenen, von Witold Neuster übersetzten Text „Das spanische Zivilgesetzbuch". 146 Im span. Text heißt es: „. . . la sucesión en los bienes . . .". 146a Sowohl Art. 193 als auch Art. 196 enthalten wichtige Ausnahmen und Zusätze. 146b Zum maßgebenden Einfluß des kanon. Rechts auf das span. Gesetz v. 1939 vgl. etwa Albaladejo, Comentarios al Código civil y Compilaciones Forales IV (1978), S. 120f. Hiernach war für eine erneute Eheschließung des zurückgebliebenen Ehegatten in kirchlicher Form außer der staatlichen Todeserklärung die bischöfliche permissio transitus ad alias nuptias erforderlich. Wie der - im damaligen Spanien kaum vorkommende - Fall einer Zivilehe nach Todeserklärung zu behandeln sei, war unklar. (Dies und einige andere Darlegungen zum ausländischen Recht beruhen auf freundlichen Mitteilungen von Dr. Peter Dopffel, Hamburg.)
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Im Zuge der Familienrechtsreformen von 1981 wurde diese Bestimmung aufgehoben und durch Art. 85 Cc ersetzt, der nun als Eheauflösungsgrund neben dem Tod und der Ehescheidung auch die Todeserklärung betr. einen der Ehegatten aufführt (gleichgültig, in welcher Form die Ehe begründet worden ist) (im Auszug: „ E l matrimonio se disuelve . . . por . . . la declaración de fallecimiento de uno de los cónyuges") 147 . Danach endet für den Bereich der staatlichen Ordnung also auch die - mit Zivilrechtswirkung - in kirchlicher Form eingegangene Ehe 1 4 8 im Moment der Rechtskraft der Toterklärung eines Gatten. Ob eine neue Eheschließung in kirchlicher Form durchgeführt werden kann, richtet sich selbstverständlich danach, ob auch die Kirche nach can. 1707 CIC/1983 „die moralische Gewißheit gewonnen hat, daß der Gatte tot ist", und der Bischof eine Toterklärung ausspricht 149 . 10. Portugal: Dieses Land hat ebenfalls mehrfache ausführliche Veränderungen des Bürgerlichen Rechts, speziell des Eherechts, erlebt. Das Zivilgesetzbuch (ZGB) hat allerdings in bezug auf die Verschollenheit auch in seiner Neufassung v. 1976/77 offenbar im wesentlichen die früheren Regelungen beibehalten 150 . Die Termini lauten diesbezüglich in der deutschen Übersetzung 151 : „vorläufige Pflegschaft", „endgültige Pflegschaft", „Todesvermutung". Die gerichtlich angeordnete „endgültige Pflegschaft" entspricht wohl dem, was andere romanische Rechtsordnungen als „déclaration d'absence" bezeichnen. Der Sache nach geht es um nunmehr durchzuführende Vermögensmaßnahmen, vor allem solche erbrechtlicher Natur. Erst der dritte Schritt, der der gerichtlichen Todeserklärung (Art. 114 ff. Cc) - i. d. R. nach Verstreichen von zehn Jahren seit dem Tag der letzten Nachrichten - , „führt dieselben Wirkungen herbei wie der Tod" (Art. 115 Cc). Diese Norm vermerkt indessen zusätzlich, damit werde die Ehe des Toterklärten - falls sie noch besteht - nicht aufgelöst. Art. 116 ergänzt: „Der zivilrechtlich getraute Ehegatte des Verschollenen kann eine neue Ehe eingehen; kehrt der Verschollene zurück oder liegt Nachricht darüber vor, daß er im Zeitpunkt der neuen Eheschließung am Leben war, gilt die erste Ehe als mit dem Datum der Todeserklärung durch Scheidung aufgelöst." 147
Boletin Oficial del Estado v. 20.7.1981, S. 16457 ff. Vgl. Art. 49, 59ff. Cc i.d.F. von 1981. 149 Dazu s. oben Abschn. IV 1. - Wenn dann später gleichwohl das Fortleben des Toterklärten im Moment der neuen Eheschließung seines Partners sich ergibt, ist die neue Ehe nach Kirchenrecht in jedem Falle für nichtig zu erklären. Vgl. dazu auch Lacruz Berdejo / Sancho Rebullida, Derecho de Familia, 1982, S. 228. 150 Art. 89 ff. Cc. 151 Siehe Bergmann / Ferid / Hoerster (Fn. 118), Abschn. Portugal, S. 33ff. 148
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Die darauf folgenden Vorschriften befassen sich mit dem Vermögensherausgabeanspruch des Zurückgekehrten.
11. Griechenland: Art. 40 des Zivilgesetzbuchs (ZGB) v. 1940 152 umschreibt den Tatbestand der Verschollenheit äußerst behutsam: „Ist der Tod einer Person höchstwahrscheinlich, weil sie in Lebensgefahr geraten, verschwunden ist oder, ohne daß Nachrichten über sie eingegangen sind, seit langem abwesend ist, so erklärt sie das Gericht auf Antrag eines jeden, welcher aus ihrem Tod Rechte ableitet, für verschollen." Dieser Text ist beifallswert, weil er bestrebt ist, allzu eilige Verschollenheitserklärungen zu verhindern. Ist der fragliche Gerichtsentscheid rechtskräftig geworden, so können nach Art. 48 ZGB „alle aus dem Tode des Verschollenen abgeleiteten Rechte geltend gemacht werden, wie wenn der Tod bewiesen wäre." Die Erbbeteiligten müssen, ähnlich wie in anderen Rechtsordnungen, nach Art. 49 ZGB „Sicherheit für die eventuelle Rückgabe des Vermögens [u.a.] an den Verschollenen" leisten, und zwar zehn Jahre lang. Anschließend bestimmt Art. 50, bei Rückkehr des Verschollenen sei diesem „das Empfangene" nach den „Vorschriften über die Erbschaftsklage" herauszugeben. Auch Griechenland kennt hinsichtlich der Eherechtsprobleme - wie etliche andere vorgenannte Gesetze - eine Sonderregelung: Die Verschollenerklärung des einen Gatten bedeutet nach Art. 1440 ZGB i.d.F. v. 18.2.1983 (ebenso wie bereits nach Art. 1445 ZGB i.d.F. v. 1940), daß der Ehepartner die Scheidung verlangen kann 1 5 3 . Erst danach kann also der geschiedene Partner eine neue Ehe eingehen. 12. Polen: Das polnische ZGB v. 23.8.1964 sieht in den Art. 29ff. die Toterklärung eines Verschollenen i. d. R. nach Ablauf von zehn Jahren vor 1 5 4 . Anders als das FamGB der D D R 1 5 5 bestimmt Art. 55 des polnischen Familien· und Vormundschaftsgesetzbuchs v. 25.2.1964 156 , der Toterklärungsbeschluß betr. einen Ehegatten bedeute nur, daß eine Vermutung der Eheauflösung im angenommenen Todeszeitpunkt begründet werde; ferner: schließe nach erfolgter Toterklärung der andere Gatte eine neue Ehe, so könne diese letztere „nicht aus dem Grunde für nichtig erklärt werden, daß der für tot erklärte Ehegatte noch lebt oder sein Tod zu einem anderen Zeitpunkt eingetreten ist als dem im Todesfeststellungsbeschluß bezeichneten." 152
Siehe Bergmann / Ferid (Fn. 118), Abschn. Griechenland, S. 14 ff. Danach ist also erst nach Rechtskraft des Scheidungsurteils die Eingehung einer neuen Ehe möglich. (Gegen wen ist die Scheidungsklage zu richten? - Diese Frage wird in Griechenland lebhaft erörtert, wie Prof. Dr. K. Beys, Athen, dem Verfasser mittlerweile mitgeteilt hat.) Zur analogen schweizerischen Rechtslage s.o. in und bei Fn. 115. 154 Vgl. Bergmann / Ferid (Fn. 118), Abschn. Polen, S. 34. 155 s. oben, Abschn. IV 9. 156 Siehe Bergmann / Ferid (wie Fn. 154), S. 42. 153
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Also: Gültigkeit einer neuen Ehe - bei Gutgläubigkeit beider Partner - und Auflösung der Erst-Ehe. Im Falle einer Scheidung der neuen Ehe kein Wiederaufleben der Erst-Ehe; aber Möglichkeit neuer Eheschließung der beiden Alt-Partner. 13. Die Rechtslage in weiteren Staaten darzustellen, würde sehr reizvoll sein. Es mag hier - schon aus Raumgründen - unterbleiben. Auf die weit ausgreifende Berichterstattung von Jacqueline Pousson-Petit in ihrem Buch „Le démariage en droit comparé" (Brüssel 1981) sei ergänzend hingewiesen. 157
VI. Auswertung - Anregungen de lege ferenda Sehr viel Material wurde ausgebreitet: einmal, um dem Verfasser selbst und den Lesern einen besseren Überblick über das Problem und die zahlreichen Möglichkeiten einer Lösung zu verschaffen, zum anderen, um auch einer künftigen Gesetzgebung Richtpunkte zu geben. Die Aufarbeitung der historischen Entwicklung und insbesondere die Darstellung der ausländischen Rechte waren schwierig (und sind gewiß nicht mangelfrei gelungen). Endgültige Lösungsvorschläge können angesichts der Vielfalt der Einzelthemen derzeit noch nicht unterbreitet werden. Sicher ist aber, daß viele Lösungen des bisherigen deutschen Gesetzgebers (vor allem diejenigen seit 1938) starken Bedenken unterliegen - natürlich auch solche des Auslandes; aber darüber steht uns, obwohl wir starkes Interesse nehmen, eine Beurteilung nicht zu. Eine weitere Interpretation des derzeitigen deutschen (und österreichischen) Rechts mag hier unterbleiben; hierzu vergleiche man die Lehrbücher und Kommentare sowie die vielen oben genannten Einzelschriften, auch etliche sehr beachtliche Gerichtsentscheidungen 158 . Im folgenden soll nach einer besseren künftigen Lösung, die auch die Aspekte der christlichen K i r chen berücksichtigt - wie es bereits 1896 geschah 159 - , gesucht werden. Folgende Grund- und Teilfragen seien dazu abschließend vor allem benannt und hierzu jeweils ein vorläufiges kurzes Wort gewagt: 1. Die Ausgangsfrage ist die: Wann und unter welchen Umständen sollte eine Toterklärung erfolgen können? Die §§ 1 und 3 des VerschG v. 1939/1951 sind insoweit grundsätzlich billigenswert, vor allem auch die vorgesehene Wartezeit von im allgemeinen 157
Vgl. dort das Kapitel „L'absence et la disparition" (S. 247 - 256). s. oben Fn. 26, m. weit. Nachw. Insbes. etwa: OLG Oldenburg, in: FamRZ 1958, S. 321; BayObLG, in: FamRZ 1961, S. 376; LSozG NRW, in: FamRZ 1962, S. 376; VerwG Hannover, in: FamRZ 1965, S. 146; OLG Düsseldorf, in: FamRZ 1965, S. 612; BSozG, in: FamRZ 1967, S. 568; BVerwG, in: FamRZ 1972, S. 258; OLG Hamm, in: FamRZ 1982, S. 800. Zu BSozG auch Neumann-Duesberg, SGb. 1968, S. Iff., und JR 1968, S. 209ff. 159 Dazu s. oben bei Fn. 82. 158
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zehn Jahren seit dem Datum, an dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat 1 6 0 . Vielleicht ist die Ausdrucksweise des § 11 VerschG „ernstliche Zweifel an seinem Fortleben" etwas schwach und könnte durch eine deutlichere Regelung in Richtung auf „moralische Gewißheit des Todes" ersetzt werden 161 . Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die verfahrensrechtliche Regelung in § 12 FGG, wonach das Gericht auch im Verschollenheitsverfahren - wie es Habscheid 162 formuliert die „Amtspflicht zu den erforderlichen Ermittlungen" zu erfüllen hat, sich also nicht einfach mit Aufgebot und Ablauf der Wartezeit begnügen darf. Abschließend kann dieses Thema des Verschollenheitsrechts hier nicht erörtert werden. Es erscheint aber erwähnenswert, daß z.B. Martin Wolff 163 hinsichtlich der sehr verkürzten Fristen der Toterklärung bei Kriegsverschollenheit gemäß einer Verordnung v. 18.4.1916 und einer weiteren v. 9.8.1917 stärkste Bedenken geäußert hat. Über derart gewichtige Sachverhalte sollte von den Gerichten keinesfalls überstürzt entschieden werden 1 6 3 3 . Im folgenden möchte der Verfasser die Darstellung dadurch vereinfachen, daß er vom häufigeren Fall der Verschollenheit eines Ehemannes ausgeht, weiter also davon, daß der zurückgebliebene Ehegatte die Ehefrau ist und letztere sich eines Tages entschließt, nach Toterklärung des verschollenen Mannes einen anderen zu heiraten: Die Ehefrau soll mit F, der erste Ehemann mit Mi, der zweite Ehemann mit M 2 bezeichnet werden. Es versteht sich von selbst, daß bei Verschollenheit und Toterklärung der Ehefrau sämtliche Rechtsfragen mutatis mutandis genauso liegen.
2. Was die Wirkungen einer rechtskräftigen Toterklärung angeht, so erscheint es richtig, daß nach § 9 I VerschG nur eine Vermutung des Todes begründet wird und diese Vermutung sich auf alle Rechtsverhältnisse des Verschollenen bezieht 164 : auch auf seine Ehe, die Beendigung des Güterstandes, die Erbfolge, das Fälligwerden von sozial- und beamtenrechtlichen Hinterbliebenenbezügen, Versicherungssummen usw. Die Toterklärung als solche hat also insbesondere keine Eheauflösungswirkung - anders als nach den Regelungen der D D R 1 6 5 und des spanischen Gesetzes v. 1981 166 - . Es besteht kein Anlaß, insoweit unser Gesetz zu 160 Die Probleme der besonderen Gefahr- und speziell der Kriegsverschollenheit sollen hier bewußt nicht behandelt werden. 161 Das schweizerische und das griechische Recht - s. oben bei Fn. 113 und 152 sprechen von „höchster Wahrscheinlichkeit des Todes". Kaas (Fn. 9), S. 104, berichtet davon, gemäß kirchlichem Recht seien „summa probabilitas" und „certitudo moralis" gleichzusetzen. Den Begriff „certitudo moralis" finden wir nach wie vor in c. 1707 CIC/1983. 162 W. J. Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 7. Aufl. 1983, § 53 I 4 - S. 420. 163 s. obenFn. 9, S. 116ff., 120. i63a F ü r kürzere Fristen: R. Schmidt (Fn. 15a). 164 s. oben Abschn. I I 1 - aber auch die Sonderregelung gemäß Abschn. I I I 4. 165 s. oben Abschn. IV 9.
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ändern; im Gegenteil spricht alles dafür, den bisherigen Rechtszustand beizubehalten: F ist nicht deshalb Witwe oder „gewesene Ehefrau" des Mi, weil dieser für tot erklärt wurde, und sollte es auch nicht sein. Eine Lösung analog derjenigen der DDR würde bedeuten, daß bei Rückkehr von M i dieser und die nicht wiederverheiratete F die Ehe erneut eingehen könnten, aber keineswegs eingehen müßten. Die Stellungnahme der Eherechtskommission v. 19 7 2 1 6 7 verdient in diesem Punkte Zustimmung. 3. Angesichts des vermuteten Todes des toterklärten M i besteht für F derzeit die Möglichkeit der Wiederverheiratung, man könnte auch formulieren: ein Recht zur Begründung einer neuen Ehe, ohne daß weitere Voraussetzungen erst noch geschaffen werden müßten. Dieser Rechtszustand kann wohl ebenfalls aufrecht erhalten werden, obwohl es in der Vergangenheit offenbar manche zu schnell herbeigeführte Toterklärung (und Wiederverheiratung) gegeben hat und dies vielleicht seltener eintreten würde, wenn angesichts geplanter neuer Eheschließung der F sich erneut ein Gericht mit dem „Fall" zu befassen hätte. Solche nochmalige Befassung gab und gibt es in zwei Varianten: Die eine geht dahin, daß eine zusätzliche gerichtliche Erlaubnis zur Wiederverheiratung erwirkt werden muß - früher in Oldenburg 168 , jetzt in den Niederlanden 1 6 9 - . Die andere Regelung - früher in Sachsen 170 , jetzt in der Schweiz 171 , in Liechtenstein 172 und in Griechenland 173 - sieht vor, daß F auf der Basis der Toterklärung des M x zunächst noch die gerichtliche Eheauflösung (nach Scheidungsgrundsätzen) erwirken muß, ehe sie und M 2 heiraten können. Die letzterwähnte Regelung muß jedenfalls dann, wenn allein die Toterklärung als „Scheidungsgrund" genügen soll, als überflüssig-nutzlos bezeichnet werden, gerade auch dann, wenn gleichzeitig Toterklärung und Ehescheidung (wie in der Schweiz) beantragt werden können 1 7 4 . Dagegen könnte die niederländische Norm immerhin den Sinn haben, aus Anlaß der unmittelbar bevorstehenden neuen Eheschließung F - M 2 noch einmal gründlicher zu überprüfen, ob denn der Tod des M i wirklich hochwahrscheinlich ist 1 7 5 . Das frühere Sächsische BGB verlangte z.B. vor der 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175
s. oben bei Fn. 147. s. oben IV 10, III. Denkschrift, S. 85. s. oben bei Fn. 72 - 73. s. oben bei Fn. 135 - 136. s. oben bei Fn. 75. s. oben bei Fn. 114-115. s. oben bei Fn. 118. s. oben bei Fn. 153. s. Wolff (Fn. 9), S. 117. s. oben bei Fn. 135.
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gerichtlichen Eheauflösung (noch einmal?) die eidliche Bekräftigung der F dahin, daß sie nicht wisse, daß M i noch am Leben sei 176 . Wer auch heute noch an den Wert eidlicher Bekräftigungen glaubt, sollte zumindest erwägen, ob das sächsisch-niederländische Beispiel für die Zukunft nachahmenswert wäre. 4. Falls der Erstehepartner M i nach späterer Feststellung im Zeitpunkt der neuen Eheschließung F - M 2 wirklich schon verstorben war (wie es im Regelfalle sein dürfte), ist alles definitiv geklärt, und zwar entgegen der ursprünglichen Annahme nicht kraft des Toterklärungsbeschlusses und der Wiederverheiratung, sondern im Augenblick des wirklich eingetretenen Todes 177 . Dies ist wohl für alle Rechtsordnungen eine Selbstverständlichkeit, und insoweit bedarf es - ex post betrachtet - gar keiner Sondernorm über Toterklärung. 5. Falls M i trotz Toterklärung jedoch noch lebte, als F mit M 2 gutgläubig eine neue Ehe Schloß 178 , stellt sich die Frage, ob die derzeitige Regelung des deutschen (und österreichischen) Rechts sowie mancher anderer Rechtsordnungen sachrichtig ist, jene Regelung, wonach die Alt-Ehe mit Abschluß der Neu-Ehe automatisch aufgelöst ist 179. Hier beginnt die eigentliche Problematik. Der Standpunkt des kanonischen Rechts ist oben 1 8 0 deutlich genug dargestellt worden. Es entsteht jedoch die Frage, ob die deutsche bürgerliche Rechtsordnung so konsequent sein müßte oder auch nur sein darf, in derartigen Fällen einen Weiterbestand der Ehe F - M i bis zum wirklichen Tod des M i anzunehmen 181 . 6. Würde die Erstehe F - M i durch Wiederverheiratung nicht aufgelöst, so wäre die Ehe F - M 2 bigamisch und unterläge der Möglichkeit der Nichtigerklärung, wie es der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums 182 anno 1982 vorgesehen hat - allerdings mit dem Zusatz: wenn die Erst-Ehe F - M i nach dem Zerrüttungsprinzip geschieden werde, erwachse die ZweitEhe F - M 2 in volle Gültigkeit 1 8 3 . 176
s. oben bei Fn. 75. s. oben Abschn. I I 1. 178 Der Einfachheit halber sei hier vom Regelfall ausgegangen, daß beide - F und M 2 - nichts vom Weiterleben des M i wußten. 179 Dazu bereits zweifelnd Wolff (Fn. 9), S. 119f., falls die Verschollenheitsfrist zu kurz bemessen ist. 180 s. oben Abschn. IV 1. 181 In einem konfessionsneutralen Staatswesen darf nicht nur auf den Auffassungen einer Konfession aufgebaut werden, wenn Gesetze formuliert werden. 182 s. oben Abschn. IV 11 - auch Fn. 97. 183 Nach diesem Entwurf soll die Heilung der Zweitehe offenbar sogar mit Rückwirkung eintreten, so daß auch nach Scheidung der Erstehe eine Zeitlang zwei Ehen nebeneinander gültig bestanden hätten. Dazu kritisch: Bosch, in: FamRZ 1982, S. 874 bei Fn. 151, 151a. 177
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Die Erwägungen des Referentenentwurfs 184 dürften kaum überzeugend sein, wenn dort gesagt wird, die gutgläubig eingegangene Zweitehe müsse der beiderseits bösgläubig eingegangenen Zweitehe (die stets nichtig war! ) sinnvollerweise gleichbehandelt werden. Das Vertrauen auf die Richtigkeit der Toterklärung - vor allem, wenn dieser Staatsakt nach gründlicher Prüfung aller Umstände ergangen ist 1 8 5 - verdient Schutz. Schließlich muß auch bedacht werden, daß der Gesetzgeber von 1896 nach gründlicher Auseinandersetzung mit dem Standpunkt der beiden großen christlichen Kirchen die Regelung mehrerer deutscher Landesgesetze übernommen hat, bei Wiederheirat werde die Alt-Ehe aufgelöst, und dann allerdings (wie oben geschildert) hinzufügte, zugunsten einer rechtlichen Wiederherstellung der AltEhe könne die Neu-Ehe durch Anfechtung juristisch wieder beseitigt werden 1 8 6 . Der Kerngedanke des BGB von 1896 scheint für ein ziviles Eherecht durchaus beifallswert: zunächst Auflösung der Ehe F - Mi, später aber Möglichkeit der Beseitigung des Ehebandes F - M 2 und Wiederherstellung der Ehe F - M i auf Wunsch der Beteiligten der Erst-Ehe. Die ältere zivilrechtliche Regelung des französischen Gesetzbuchs von 1804 187 , auch des „rheinischen Rechts" sowie ebenfalls die des derzeitigen belgischen und luxemburgischen Code civil 1 8 8 , im Prinzip ferner die des italienischen Codice civile (Art. 68,117 I I I Cc) 1 8 9 dahingehend, die Zweitehe sei bei Weiterleben des Toterklärten nichtig, wenngleich diese Nichtigkeit nur vom wieder anwesenden „Totgesagten" geltend gemacht werden könne, ist gewiß logisch konsequenter; sie führt aber ebenfalls nicht dazu, daß die Zweitehe gar nicht eingegangen w i r d 1 9 0 , und sicher nicht dazu, daß der zurückgebliebene Gatte i.d.R. dem Abwesenden die eheliche Treue halten wird191. 7. Soll es hiernach auch im künftigen Recht so bleiben, daß die Ehe F - M x durch die neue Heirat F - M 2 aufgelöst wird, so stellt sich die Frage nach den Wirkungen der Eheauflösung F-Mi. Diese Frage ergibt sich allerdings wohl praktisch nur dann, wenn es im konkreten Falle dabei bleibt, daß die Ehe F - M 2 weitergeführt wird, der zurückgekehrte Partner also „ehelos gestellt" ist. Hierzu enthalten unsere bisherigen Normen überhaupt nichts; in Literatur und Rechtsprechung war man indessen schon seit langem bemüht, Ant-
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Begründung des RefE (s. o. Abschn. IV 11), S. 20/21. Siehe vorstehenden Abschn. V I 1. 186 s. oben Abschn. IV 6. (Dies war der m. E. billigenswerte Kompromiß von 1896! ). 187 s. oben Abschn. V 4 a. 188 s. oben bei Fn. 131-132. «9 s. obenFn. 140 - 142. 190 Obwohl es insoweit, wie oben bei Fn. 125 u. 140 geschildert, oft Schwierigkeiten geben dürfte! 191 Die Treue einer Penelope kann nicht in allen Fällen erwartet werden. 185
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Worten zu erarbeiten 192 . Hier sei dazu erneut festgestellt, daß zugunsten des „Ex-Ehepartners" - der ähnlich wie durch einen Scheidungsprozeß seine eherechtliche Position eingebüßt hat - Unterhaltsansprüche analog den §§ 1569ff. BGB 1 9 3 , ferner Zugewinn- und Versorgungsausgleich analog den §§ 1372ff. und §§ 1587ff. BGB in Betracht kommen können, wobei als das Ende der Ehe, des Güterstandes und der „Ehezeit" i.S. des § 1587 I I BGB jeweils der Zeitpunkt der Eheschließung F - M 2 anzusehen ist. Auch Hausratverteilung, Namensprobleme u.a.m. bestimmen sich gleich oder ähnlich, wie wenn die Erstehe geschieden worden wäre. Dies alles wäre m.E. gesetzlich ausdrücklich festzulegen 194 . Wenn der Referentenentwurf v. 1982 für derartige Fälle die Scheidung der Erstehe vorsieht - um dadurch die Zweitehe konvaleszieren zu lassen - , so bedeutet dies für die Wirkungen der aufgelösten Erstehe übrigens das gleiche. Nur ist die Vokabel „Scheidung" hier nicht passend 195 . 8. Falls man nach dem Voranstehenden davon ausgeht, daß - wie im bisherigen deutschen Recht (übereinstimmend mit vielen anderen Rechtsordnungen) 196 - die Heirat F - M 2 die Ehe F - M i aufgelöst hat, stoßen wir nunmehr auf die zweite Grundsatzfrage: Soll die zweite Ehe auflösbar und danach die Erstehe zivilrechtlich derhergestellt oder wiederherstellbar sein?
wie-
Da wir seit 1977 ein recht großzügiges Scheidungsrecht besitzen, ist es eine Selbstverständlichkeit - wie im übrigen die Eherechtskommission 197 und der Referentenentwurf 198 erwähnen - , daß die Ehe F - M 2 auf Grund eines Scheidungsbegehrens des einen oder beider Partner aufgelöst und anschließend die Ehe F - M i durch eine formelle Heirat ex nunc wiederhergestellt werden kann. Dies wäre dann die „dritte Ehe" für F - wohl keine sehr lebenswahre, den Fakten entsprechende Lösung (obwohl mehrere Auslandsrechte diese „Lösung" vorsehen). 192 Sehr zurückhaltend noch Dölle (Fn. 5), § 30 I 2 - S. 361. Für Unterhaltsansprüche z.B. Bosch, in: FamRZ 1954, S. 240; 1961, S. 378; 1965, S. 147; 1965, S. 612; 1966, S. 69; 1967, S. 570; 1972, S. 261; Arnold, in: FamRZ 1960, S. 222; Johannsen in: Johannsen / Henrich, Eherecht (Fn. 5), Rz. 3 zu §§ 38, 39 EheG; Palandt / Diederichsen, BGB, 48. Aufl. (1989), Anm. 5 zu § 38 EheG, m.w.N.; Neumann· Duesberg, SGb. 1968, S. Iff. und JR 1968, S. 209ff. 193 Dazu s. die Nachweise in Fn. 192: Meist wurde dort noch auf die Notwendigkeit analoger Anwendung des (früheren) § 61 I I EheG 1946 verwiesen. 194 Mindestens der Zugewinnausgleichsgedanke ist schon im geltenden Recht klar enthalten (Ende des Güterstandes = hier Auflösung der Erstehe durch Wiederverheiratung). Ebenso: D. Schwab (Fn. 37). 195 Der Zeitpunkt der Auflösung der Erstehe würde bei Ehescheidung außerdem ein anderer (späterer) sein. 196 Frankreich (s. oben bei Fn. 128), Niederlande (s. oben vor Fn. 136), Portugal (s. oben Abschn. V 10 am Ende: Art. 116 ZGB), Polen (s. oben bei Fn. 156). 97 1 s. oben Abschn. IV 10. - Denkschrift III, S. 85 f. 198 s. oben Abschn. IV 11 - Begründung S. 22.
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9. Entgegen dem, was den I. Entwurf eines BGB vor rund hundert Jahren bestimmte, ist es daher erforderlich zu überlegen, ob nicht für unseren Sonderfall es eine andere Form der „Restitution" geben sollte. Wie berichtet 199 , sah der endgültige Text des BGB v. 1896 für jeden Gatten der Zweitehe - also individuell für einerseits F, andererseits M 2 - ein Eheanfechtungs-Klagerecht vor, und zwar mit der Wirkung, daß bei erfolgreicher Klage auch nur eines Partners der Zweitehe die Erstehe F - M i automatisch wiederhergestellt w a r 2 0 0 ; der Mitwirkung des anderen Partners der Zweitehe bedurfte es nicht, ebenso nicht der Mitwirkung oder nur der Zustimmung des Μ χ . Diese Lösung hatte den Vorzug, jedem Partner der Zweitehe bei Wiedererscheinen von M i den Weg aus einem echten Gewissenskonflikt zu eröffnen. Auf der anderen Seite war die automatische Wiederherstellung der Ehe F - Mi, u.U. nur auf Verlangen von M 2 , keine immer billigenswerte Konfliktslösung 201 . 10. Die seit 1.8.1938 ganz andersartige Regelung des Ehegesetzes202 ist demgegenüber nach Meinung des Verfassers eine eindeutige (weitere) Verschlechterung des Rechtszustandes: Ein Aufhebungs-Klagerecht nur für „den Partner zwischen zwei Partnern" - also für F - verkennt einerseits die Belange des M 2 , der von sich aus nichts mehr unternehmen kann. Anderseits bedeutet „Aufhebung", daß am Ende des Aufhebungsprozesses beide Ehen beseitigt sind 2 0 3 und für F grundsätzlich nur die Möglichkeit der neuen Eheschließung mit M i gegeben i s t 2 0 4 - wenn dieser dazu willens und in der Lage i s t 2 0 5 - . Die vom BGB anno 1896 verabschiedete Lösung war, wie vorstehend (9.) ausgeführt, nicht ohne Bedenken. Die Regelung in § 44 des EheG 1938 und die wortgetreue Wiederholung in § 39 EheG 194 6 2 0 6 ist demgegenüber eine solche Verschlechterung der „Konfliktslösung", daß man sich in der Hauptsache nur darüber wundern muß, daß eine derartige Regelung jetzt bereits seit mehr als 50 Jahren in Geltung i s t 2 0 7 und offenbar (?) auch in Österreich insoweit keine Reform 199
s. oben Abschn. IV 6 bei Fn. 82 ff. Die Auffassung von H. Dernburg (s. oben Abschn. I 1), die Erstehe werde bei erfolgreicher Anfechtung der Zweitehe nicht wiederhergestellt, ist bereits von Wolff (Fn. 9), S. 118, als irrig abgelehnt worden. 201 Dazu s. oben bei Fn. 85. - Kritisch zur Altlösung des BGB: R. Schmidt (Fn. 15 a), S. 11 ff.,43 f. 202 s. oben Abschn. IV 7 und 8. 203 Dies ist einhellige Meinung und folgt aus der Nicht-Rückwirkung des Eheaufhebungsurteils gemäß den §§ 39 I, 37 I EheG 1946. 204 § 39 I I EheG 1946. Dazu s. ferner oben bei Fn. 90 - 91. 205 Beispiele: M i lehnt die Wiederverehelichung mit F schlicht ab oder er ist inzwischen anderweit verheiratet. 206 Die kleine Änderung zu § 39 I I S. 2 - 3 EheG durch das „1. EheRG" von 1976 ist in unserem Zusammenhang unbedeutend; sie hing mit der Beseitigung des „Verschuldensprinzips" im Ehescheidungsrecht zusammen. 200
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geplant ist. Die K r i t i k war und ist schon seit längerem stark 2 0 8 ; sie sollte endlich Erfolg haben. 11. Dem Verfasser erscheint folgende Neuregelung empfehlenswert: a) Jedem Partner der Zweitehe - also sowohl der F wie dem M 2 - muß ein individuelles, durch Klage geltend zu machendes Auflösungsrecht zukommen, insoweit also der Rechtszustand wie nach dem BGB v. 1896 wiederhergestellt werden (und dies schon wegen des Gewissens des einzelnen Beteiligten). Bei erfolgreicher Geltendmachung dieser Befugnis und Rechtskraft der richterlichen Entscheidung wäre die Ehe F - M 2 definitiv beseitigt - ob mit Rückwirkung oder nur ex nunc, wird noch erörtert werden - . Eine automatische „Wiederherstellung" der Ehe F - Μχ sollte damit nicht verbunden sein (dies entgegen dem Text des BGB); ohne Beteiligung auch des M i scheint die „Neuentstehung" der Erstehe kaum sachgerecht zu sein 209 . b) Daneben wäre - im Einklang mit § 38 des FamGB der DDR von 1965 210 und mit den Vorschlägen der Eherechtskommission 211 - ein gemeinsames Auflösungsrecht beider Partner der Erstehe, also des M i und der F, betr. die Zweitehe vorzusehen. Prozessual ausgedrückt: Diese Auflösungsbefugnis wäre in notwendiger Streitgenossenschaft durch Antragstellung beim Familiengericht geltend zu machen 212 . Mit der Rechtskraft des familiengerichtlichen Urteils - so wäre weiter zu bestimmen - würde die Erstehe der beiden erfolgreichen Kläger, also des M i und der F, wieder wirksam sein 213 . Ein neuer Gang zum Standesamt wäre nicht erforderlich: Die gemeinsame Antragstellung bei Gericht und die Aufrechterhaltung der Antragstellung bis zur Rechtskraft des Urteils würde deutlich genug den „Ehekonsens" darstellen 214 . 207 Der Entwurf v. 1982 (s. oben IV 11) mußte scheitern, da er nicht hinreichend überlegt war; s. die Kritiken von Bosch, in: FamRZ 1982, S. 866ff. (877), und Finger, in: JZ 1983, S. 125ff. 208 Sonstige Kritiker: Beitzke (Fn. 5), § 10 V; Ramm (Fn. 5), § 58 II, III; Johannsen in Johannsen / Henrich (Fn. 5), Rz. 11, 12 zu §§ 38, 39 EheG. 209 Siehe bereits oben bei Fn. 85 und 201. 210 s. oben Abschn. IV 9. 21 1 III. Denkschrift, S. 84 ff. 212 Zur notwendigen Streitgenossenschaft s. § 62 ZPO. Bezüglich späterer Klagerücknahme, insbesondere durch nur einen Kläger (§ 269 ZPO), stellen sich weitere Probleme; dazu bereits die Eherechtskommission (Denkschrift III, S. 86f.). 213 So bereits das FamGB der DDR und die Eherechtskommission. Zusätzliche Voraussetzung übrigens: M i dürfte noch nicht anderweit verheiratet sein. 214 Da im Prozeß betr. Ehesachen vor dem Familiengericht bekanntlich Anwaltszwang herrscht (§ 78 ZPO), entsteht allerdings die Merkwürdigkeit, daß im hier behandelten Zusammenhang der „Ehekonsens" durch Rechtsanwälte als Stellvertreter erklärt werden könnte - entgegen dem Vertretungsverbot des § 13 I EheG 1946 - . Es wäre aber sicher keine Schwierigkeit, in solchen Verfahren auch eine persönliche Erklärung von F und M i zusätzlich zu fordern.
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12. Ein Zusatzvorschlag geht dahin, die Auflösung sowohl im Falle I I a wie auch im Falle I I b nicht als Eheanfechtung, auch nicht als Eheaufhebung und erst recht nicht als Ehescheidung zu bezeichnen, sondern bezüglich dieser Fälle von „Eheauflösung wegen irriger Toterklärung" zu sprechen. Der Verfasser neigt dazu, in beiden Fällen nur eine Urteilswirkung ex nunc et in futurum, also keine Rückwirkung, als sachgerecht anzusehen 215 . 13. Die Wirkungen der aufgelösten Zweitehe müßten sich - wie jetzt analog dem Scheidungsrecht bestimmen. Damit wäre die Grundlage für eine angemessene Lösung von Namens- und Unterhaltsfragen, von Zugewinnund Versorgungsausgleich geschaffen. Einzelheiten lassen sich wahrscheinlich relativ leicht ausarbeiten. Der Verfasser möchte es vorziehen, diese Details einer etwaigen späteren Ergänzung der vorstehenden Abhandlung oder anderen Sachkundigen zu überlassen. Sicher ist, daß „Unredlichkeit" eines Zweitehe-Partners besondere Konsequenzen haben muß.
14. Was das Erbrecht anbetrifft, so ist die gegenwärtige, dem „Heimkehrer" i.d.R. sehr günstige Lösung, insbesondere die der §§ 2031, 2370 BGB 2 1 6 , zu seinen Gunsten keiner wesentlichen Veränderung bedürftig: Daß der Eigentümer grundsätzlich das, was ihm - mangels eines Rechtsnachfolgetatbestandes - noch gehört, zurückverlangen kann, scheint uns eine Selbstverständlichkeit zu sein und entspricht allen zitierten ausländischen Gesetzen. Wie oben entwickelt 2 1 7 , sind aber auch der oder die gutgläubigen „Pseudo-Erben" - und darunter oft der Ehegatte oder frühere Ehegatte des Zurückgekehrten - nicht völlig schutzlos gestellt: sie partizipieren de facto mindestens teilweise am Vermögen des irrigerweise Toterklärten. Wilfried Schlüter 218 konstatiert insoweit zutreffend: „Darin liegt ein weiterer, sehr bedeutender und praktisch häufiger Eingriff in das allgemeine Vermögensrecht." Angesichts der oben deutlich charakterisierten Situation unter den Beteiligten im Falle der Rückkehr des Toterklärten 2 1 9 meint der Verfasser den Gesetzgeber anregen zu sollen, die „pseudo-erbrechtliche" Position der gutgläubigen Besitzer des nur vermeintlich ererbten Vermögens vielleicht noch ein Stück weiter aufzubessern. Der Begriff „Erbfolge unter Lebenden" ist nicht ganz neu 2 2 0 ; er könnte hier zugunsten des gutgläubigen Besitzers eine 215 Es läßt sich kaum leugnen, daß im Sinne des Zivilrechts auch zwischen F und M 2 eine Ehe bestanden hat. 216 Dazu s. oben Abschn. I I I 3. 217 s. oben bei Fn. 47 - 48. 218 Vgl. Schlüter (Fn. 46), § 34 I 2 - S. 244 f. 219 s. oben Abschn. I I I 3 bei Fn. 50 - 51. 220 Der Begriff spielte eine Rolle im Erbhofrecht. Außerdem kennen w i r zugunsten des nichtehelichen Kindes seit 1969/70 den Anspruch auf „vorzeitigen Erbausgleich" gegen den noch lebenden Vater (§ 1934d BGB).
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Renaissance erleben, etwa dergestalt, daß der Besitzer und bisherige vermeintliche Erbe, wenn naher Angehöriger des Heimkehrers, eine Quote des herauszugebenden Vermögens - oder diesen oder jenen Gegenstand, falls dies billig erscheint - sollte behalten dürfen 2 2 0 3 . 15. Daß sämtliche vorstehenden Überlegungen auch für den analogen Fall der irrigen Todeszeitfeststellung und der „Rückkehr des angeblich Toten" gelten müssen, ist kaum besonderer Feststellung bedürftig. Die Frage, ob nicht der Fall der irrigen Totmeldung und Sterbebucheintragung ebenfalls generell analog zu behandeln wäre, sollte betr. das Eherecht erneut gründlich erwogen werden. Die oben - Abschnitt II. 3. - dargestellte herrschende Meinung zu diesem Tatbestand ist lebensfremd: Wer kommt schon - außerhalb des Kreises besonders sachkundiger Juristen - auf die Idee, in bezug auf einen beim Standesamt als (wirklich) verstorben registrierten nahen Angehörigen noch ein Todeszeitfeststellungsverfahren einzuleiten! VII. Schlußbemerkungen Die vorstehenden Darlegungen haben deutlich gemacht, daß es sich um eine überaus schwierige Materie handelt, um eines der „eigenartigsten Probleme des Eherechts" 221 . Obwohl das Thema im Augenblick keine größere praktische Bedeutung hat, bleibt es ein Fragenkreis mit grundsätzlicher Problematik, von „hohem ethischem Interesse" 222 : auch im Verhältnis des staatlichen zum kirchlichen Recht. Der Verfasser war bemüht, de lege ferenda Lösungen zu finden, die am ehesten sowohl den berechtigten Anliegen eines konfessionsneutralen Staates als auch den Auffassungen der christlichen Kirchen Rechnung tragen. Nicht Konfliktsregelungen, sondern, soweit möglich, Harmonisierung der beiden Ordnungen sollte Aufgabe und Ziel der Eherechtswissenschaft und der Eherechtsgesetzgebung sein 223 .
220a Besserstellung der „Pseudo-Erben" wurde auch von R. Schmidt (Fn. 15 a), S. 5, 43 vorgeschlagen. 221 Tigges (Fn. 2 - 3). 222 So Dernburg (oben Abschn. 11). 223 Vgl. meine Schrift zum „Staatlichen und kirchlichen Eherecht" (1988); ferner Walter Kasper, Zur Theologie der christlichen Ehe, 2. Aufl. 1981, z.B. S. 87 (für ein partnerschaftliches Verhältnis Staat - Kirche auch im Eherecht, gegen ein „indifferentes Nebeneinander" der beiden Ordnungsmächte; schon der Eheabschluß sei „mehrdimensional" und ein gestrecktes Ganzes in zwei Schritten).
„Schlüsselgewalt" und „Haustürgeschäft" Von Hans Brox Paul Mikat hat sich in der Vergangenheit mehrfach, zuletzt im Jahre 1981, eingehend mit den Problemen der Schlüsselgewalt beschäftigt 1 . Nicht berücksichtigen konnte er dabei die Frage, welche Bedeutung der Schlüsselgewalt bei Haustürgeschäften zukommt, da das Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften (im folgenden: Haustür WG) erst 1986 verkündet worden ist. I. Problematik 1. Ein einziger Sachverhalt kann sowohl den Tatbestand des § 1357 BGB (Schlüsselgewalt) als auch den des § 1 HaustürWG (Haustürgeschäft) erfüllen. a) Der Begriff „Schlüsselgewalt" beruht auf dem alten Brauch, der Frau mit der Eheschließung die Schlüssel des Hauses zu übergeben; damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß der Frau nunmehr die Führung des Hauses oblag 2 . Mit „Schlüsselgewalt" wurde die der Ehefrau durch § 1357 BGB a.F. eingeräumte Rechtsmacht bezeichnet, innerhalb des häuslichen Wirkungskreises liegende Geschäfte mit Wirkung für den Ehemann abzuschließen. Diese Regelung beruhte auf dem Leitbild der Hausfrauenehe; sie sollte der Ehefrau die Haushaltsführung in eigener Verantwortung ermöglichen 3 . Sie bewirkte darüber hinaus auch einen Schutz des Gläubigers; dieser erhielt für seine Forderung aus dem mit der Ehefrau im Rahmen der 1 Paul Mikat, Verfassungsrechtliche Aspekte der Neuordnung der „Schlüsselgewalt" in § 1357 BGB, in: Festschrift für Günther Beitzke zum 70. Geburtstag am 26.April 1979, Berlin-New York, 1979, S. 293ff.; ders., Zur Schlüsselgewalt i n der Rechtsprechung nach der Neuordnung durch das 1. EheRG, in: Festheft für Friedrich Wilhelm Bosch zum 70. Geburtstag, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (= FamRZ) 1981, S. 1128ff.; ders., Rechtsprobleme der Schlüsselgewalt, RheinischWestfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G 255, Opladen 1981. 2 Vgl. Hans-Jürgen Bartel, Beiderseitige Schlüsselgewalt, Diss. Tübingen 1978, S. 2 ff.; W. Brincker, Die Schlüselgewalt der Ehefrau nach dem Gleichberechtigungsgesetz, Diss. Köln 1962, S. 23ff.; Mikat, Rechtsprobleme (Fn. 1), S. l f . ; alle mit Nachweisen. 3 Vgl. Renate Käppier, Familiäre Bedarfsdeckung im Spannungsfeld von Schlüsselgewalt und Güterstand, Archiv für die civilistische Praxis (= AcP), Bd. 179 (1979), S. 245ff., 251; Mikat, Festschrift (Fn. 1), S. 297f.; Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch [= MünchKomm] ! Andreas Wacke, 1978, § 1357 Rdnr. 1.
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Schlüsselgewalt abgeschlossenen Rechtsgeschäft den Ehemann als Schuldner, der im Regelfall zahlungskräftiger als die (Haus-)Frau war. Die Neuregelung 4 des § 1357 BGB beruht nicht mehr auf dem Modell der Hausfrauenehe und stellt auch nicht auf die von den Ehegatten vereinbarte eheinterne Aufgabenverteilung ab. Die Bestimmung gibt vielmehr jedem Ehegatten das Recht, Geschäfte zur angemessenen Deckung des Lebensbedarfs der Familie mit Wirkung auch für den anderen Ehegatten zu besorgen; durch solche Geschäfte werden regelmäßig beide Ehegatten berechtigt und verpflichtet. Für diese jedem Ehegatten eingeräumte Rechtsmacht, auch seinen Ehepartner zu verpflichten, paßt die Bezeichnung „Schlüsselgewalt" nicht 5 , da der Bezug zur Haushaltsführung aufgegeben worden ist. Dennoch sollte diese eingebürgerte Kurzbezeichnung wegen der plastischen Ausdrucksweise zum Zwecke der besseren Verständigung beibehalten werden, zumal es an einem bezeichnungskräftigeren Wort fehlt 6 . Mit Rücksicht darauf, daß nunmehr nicht nur der Ehefrau, sondern auch dem Ehemann die genannte Befugnis zusteht, kann man auch von einer „verdoppelten Schlüsselgewalt" 7 sprechen. Diese Neuregelung des § 1357 BGB dient vornehmlich dem Gläubigerschutz 8 : Wer mit einem Ehegatten einen Vertrag schließt, der unter § 1357 BGB fällt, erhält auch den anderen Ehegatten als (Zweit-) Schuldner. b) Unter einem „Haustürgeschäft" ist ein Vertrag über eine entgeltliche Leistung zu verstehen, den der Kunde an seinem Arbeitsplatz oder im Bereich einer Privatwohnung, anläßlich einer Freizeitveranstaltung oder im Anschluß an ein überraschendes Ansprechen in einem Verkehrsmittel oder 4 Durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) vom 14. Juni 1976, BGBl. I S. 1421. 5 Vgl. Ulrich Büdenbender, Die Neuordnung der „Schlüsselgewalt" in § 1357 n.F. BGB, FamRZ 1976, S. 662, 663; Joachim Gemhuber, Neues Familienrecht, Tübingen 1977, S. 131; ders., Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl., München 1980, S. 196f.; Käppier (Fn. 3), S. 247f.; Gerhard Lühe, Die persönlichen Ehewirkungen und die Scheidungsgründe nach dem neuen Ehe- und Familienrecht, in: Festschrift für F. W. Bosch, Bielefeld 1976, S. 627, 635; ders., Grundsätzliche Veränderungen im Familienrecht durch das 1. EheRG, AcP 178 (1978), S. 1, 18; Wolfram Müller-Freienfels, Zur heutigen „Schlüsselgewalt", in: Festschrift für Heinrich Lehmann, Band I, BerlinTübingen-Frankfurt/M. 1956, S. 388, 399f.; Walter Rolland, Das neue Ehe- und Familienrecht, 1. EheRG, Kommentar zum 1. Eherechtsreformgesetz, 2. Aufl., NeuwiedDarmstadt 1982, § 1357 Rdnr. 4. 6 Friedrich Wilhelm Bosch, Rückblick und Ausblick oder: de legibus ad familiam pertinentibus - reformatis et reformandis?, FamRZ 1980, S. 739, 744, Anm. 83; Büdenbender (Fn. 6); Käppier (Fn. 3); Mikat, Rechtsprobleme (Fn. 1), S. 8f.; Andreas Wacke, Streitfragen um die neugeregelte „Schlüsselgewalt", NJW 1979, S. 2585. 7 So Heinz Holzhauer, Auslegungsprobleme des neuen Eherechts, JZ 1977, S. 729, 730. 8 Vgl. Bundestags-Drucksache (= BT-Drucks.) 7/650, S. 99; 7/4361, S. 26; Büdenbender (Fn. 5), S. 664; Gemhuber, Familienrecht (Fn. 5), S. 197; Käppier (Fn. 3), S. 247; MünchKomm / Wacke (Fn. 3), § 1357 Rdnr. 1; Palandt / Uwe Diederichsen, Bürgerliches Gesetzbuch, 47. Aufl., München 1988, § 1357 Anm. 1 d; Gerhard Struck, Gläubigerschutz und Familienschutz, AcP 187 (1987), S. 404, 410.
Schlüsselgewalt" u n d „Haustürgeschäft"
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im Bereich eines öffentlich zugänglichen Verkehrsweges abschließt (Einzelheiten: § 1 Abs. 1 HaustürWG). Liegt einer der im Gesetz genannten Tatbestände vor, kann der Kunde seine Willenserklärung binnen einer Woche schriftlich widerrufen; bei einem wirksamen Widerruf kommt kein Vertrag zustande. Der Kunde soll sich von einem Vertrag lösen können, zu dessen Abschluß er - etwa an der Haustür - überredet worden ist, ohne daß er die Erforderlichkeit der Anschaffung oder die finanziellen Folgen hinreichend bedacht hat. Die gesetzliche Regelung dient also dem Schutz des Verbrauchers vor den Gefahren des Direktvertriebs 9 . 2. Da § 1357 BGB den Gläubigerschutz und §§ Iff. HaustürWG den Verbraucherschutz bezwecken, fragt es sich, welcher Schutz vorgeht, wenn beide Tatbestände erfüllt sind. Kauft etwa ein Ehegatte (im folgenden: der handelnde Ehegatte; beispielsweise Frau F) ohne vorherige Bestellung an der Haustür von einem Vertreter einen Staubsauger zum Preise von 800,DM, sind die Voraussetzungen des § 1 HaustürWG gegeben; widerruft der handelnde Gatte trotz entsprechender schriftlicher Belehrung über sein Widerrufsrecht nicht form- und fristgemäß, ist der Vertrag wirksam. Da auch der Tatbestand des § 1357 BGB erfüllt ist, müßte damit auch der andere Ehegatte (im Beispiel der Mann M) aus dem Vertrag berechtigt und verpflichtet sein. Der andere Ehegatte (M) stünde nicht anders da, als er stehen würde, wenn der handelnde Ehepartner (F) im Rahmen der „Schlüsselgewalt" einen Vertrag geschlossen hätte, der nicht unter das HaustürWG zu subsumieren ist 1 0 . Der handelnde Ehegatte hätte dann auch kein Widerrufsrecht, so daß er an den Vertrag gebunden und damit auch der andere Ehegatte gem. § 1357 Abs. 1 BGB durch das Geschäft berechtigt und verpflichtet wäre. Fällt das abgeschlossene Geschäft sowohl unter §§ I f f . HaustürWG als auch unter § 1357 BGB, sind beide Eheleute Partei des Vertrages, sofern dieser nicht form- und fristgerecht widerrufen wird. Fraglich ist, ob außer dem handelnden auch dem anderen Ehegatten ein Widerrufsrecht zusteht. Zwar ist der andere Gatte (M) nicht der Kunde im Sinne des § 1 Abs. 1 HaustürWG, da er nicht zum Abschluß des Vertrages bestimmt worden ist; aber ihn treffen die Folgen des Vertragsschlusses genauso wie den handelnden Gatten (F). Deshalb ist die Ansicht vertretbar, daß auch der andere 9 Vgl. BT-Drucks. 10/2876, Iff.; Hans Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 12. Aufl., Köln-Berlin-Bonn-München 1988, Rdnr. 203ff.; ders., Besonderes Schulrecht, 14. Aufl., München 1988, Rdnr. 122 a ff.; Palandt / Hans Putzo, BGB, 47. Aufl., München 1988, HaustürWG, Einl. 2, § 1 Anm. 4 - 6 ; Soergel / Manfred Wolf, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. I, 12. Aufl., Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1988, HaustürWG, Einl. Rdnr. 2; § 1 Rdnr. Iff. 10 Z.B. weil die Vertragsverhandlungen zwar in der Privatwohnung, aber auf vorhergehende Bestellung des handelnden Gatten geführt worden sind oder weil bei Vertragsabschluß die Leistung sofort erbracht sowie bezahlt worden ist und das Entgelt 80,- D M nicht übersteigt (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 HaustürWG).
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Ehegatte widerrufsberechtigt ist; denn andernfalls würde der vom Gesetz bezweckte Verbraucherschutz nur unvollständig erreicht. Das wird besonders deutlich, wenn man mit der zu billigenden herrschenden Ansicht 1 1 davon ausgeht, daß ein minderjähriger Ehegatte sich nicht selbst wirksam verpflichten kann, wohl aber in (direkter oder analoger) Anwendung des § 165 BGB seinen (volljährigen) Ehegatten nach § 1357 BGB verpflichtet. Besonders dieser Gatte bedarf des Widerrufsrechts, zumal sein Ehepartner, der wegen seiner Minderjährigkeit aus dem abgeschlossenen Vertrag nicht verpflichtet ist, möglicherweise an der Ausübung eines Widerrufsrechts nicht interessiert ist. Wenn man von einem Widerrufsrecht des anderen Ehegatten ausgeht, tauchen weitere Probleme auf, die bereits in Schrifttum und Rechtsprechung zum Abzahlungsgeschäft behandelt worden sind 12 . So fragt es sich, ob dem anderen Ehepartner ein Widerrufsrecht nur in dem Rahmen zusteht, in dem der handelnde Ehegatte dieses Recht hat. Bejaht man diese Frage, dann kann der andere Ehegatte nicht mehr wirksam widerrufen, wenn etwa das Widerrufsrecht des handelnden Gatten durch Fristablauf erloschen ist. Die Widerrufsfrist beginnt dann auch für den anderen Gatten mit dem Zeitpunkt, in welchem die Vertragspartei (im Beispielsfall: der Verkäufer) dem handelnden Ehegatten eine schriftliche Belehrung über sein Widerrufsrecht (gem. § 2 Abs. 1 Haustür WG) ausgehändigt hat. Diese Auffassung ist wie folgt begründet worden 1 3 : Jeder Ehegatte kann im Rahmen des § 1357 BGB „die eheliche Gemeinschaft allein vertreten" 14 , also auch mit Wirkung für und gegen den anderen Ehegatten handeln. Er ist nicht nur befugt, das Haustürgeschäft abzuschließen; er kann auch mit Wirkung für beide Ehegatten das Belehrungsschreiben über das Widerrufsrecht entgegennehmen, so daß für beide Gatten eine einheitliche Widerrufsfrist in Lauf gesetzt wird. Jeder Ehegatte, also auch derjenige, der das Haustürgeschäft nicht getätigt hat, kann gem. § 1357 BGB die Widerrufserklärung abgeben, die für beide Ehegatten wirkt. Durch diese Lösung wird der andere Ehegatte nur wenig geschützt: Es kann sein, daß er vom Vertragsschluß nichts erfährt. Die 11 Vgl. etwa Büdenbender (Fn. 5), S. 669; Siegfried Elsing, Probleme bei Schlüsselgewaltgeschäften minderjähriger Ehegatten, insbesondere in der Zwangsvollstrekkung, JR 1978, S. 494, 495; Käppier (Fn. 3), S. 276; MünchKomm / Wacke (Fn. 3), § 1357 Rdnr. 13; Rolland (Fn. 5), § 1357 Rdnr. 8, 9; Wilfried Schlüter, BGB Familienrecht, 3. Aufl. 1986, § 10 I 3; Wilhelm Weimar, Das Vertretungsrecht beider Ehegatten, Monatsschrift für Deutsches Recht (= MDR) 1977, S. 464, 465. 12 Abgelehnt wird die Anwendbarkeit des § 1357 BGB auf Abzahlungsgeschäfte jedoch von: MünchKomm / Wacke (Fn. 3), Ergänzungsband, § 1357 Rdnr. 22; Gertrud Witte-Wegmann, Schlüsselgewalt bei Teilzahlungsgeschäften?, NJW 1979, S. 749, 750; Weimar (Fn. 11), S. 465. 13 So für das Widerrufsrecht beim Abzahlungsgeschäft: Lüke (Fn. 5), AcP 178 (1978), S. 21; Mikat, Festschrift (Fn. 1), S. 303; Andreas Wacke, Änderungen der allgemeinen Ehewirkungen durch das 1. EheRG, FamRZ 1977, S. 505, 524. 14 MünchKomm / Wacke (Fn. 3), § 1357 Rdnr. 23.
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Widerrufsbelehrung erfolgt nur gegenüber dem handelnden Ehegatten. Erst wenn der andere Ehegatte vom Vertragspartner auf Vertragserfüllung (z.B. Kaufpreiszahlung) in Anspruch genommen wird, erhält er Kenntnis von dem Vertrag, den er nicht mehr rückgängig machen kann, da sein Widerrufsrecht durch Fristablauf erloschen ist. Der andere Ehegatte ist dagegen besser geschützt, sofern ihm nicht nur ein eigenes Widerrufsrecht eingeräumt wird, sondern wenn darüber hinaus die Widerrufsfrist für ihn erst beginnt, sobald er selbst über das Widerrufsrecht ordnungsgemäß belehrt worden ist 1 5 . Erklärt der andere Ehegatte form- und fristgerecht den Widerruf, so fragt es sich, ob damit außer seiner eigenen Verpflichtung auch die seines Ehepartners, der das Geschäft abgeschlossen und seine Erklärung nicht widerrufen hat, entfällt. II. Verfassungsrechtliche Aspekte 1. Die geschilderte Kollision der Schutzzwecke von § 1357 BGB (Gläubigerschutz) und §§ I f f . HaustürWG (Verbraucherschutz) entsteht nicht, wenn die jetzige Regelung des § 1357 BGB verfassungswidrig ist. Während die früheren Fassungen des § 1357 BGB vornehmlich am Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (= GG) gemessen worden sind, weil in ihnen Mann und Frau nicht gleichbehandelt wurden, war es gerade ein Ziel des neuen § 1357 BGB, dem Grundsatz der Gleichberechtigung Rechnung zu tragen 16 . Durch die Neuregelung kann aber eine andere Ungleichbehandlung hervorgerufen worden sein: Schließt eine verheiratete Person im Rahmen der Schlüsselgewalt einen Vertrag mit einem Dritten, so erhält dieser regelmäßig auch den anderen Ehegatten als Vertragspartner. Der andere Ehegatte wird also neben dem handelnden Gatten Zweitschuldner des Dritten. Diese Gläubigerbegünstigung, die im sonstigen Recht keine Parallele hat und als unverhältnismäßig sowie als Übersicherung bezeichnet worden ist 1 7 , entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 1357 Abs. 1 BGB („werden beide Ehegatten berechtigt und verpflichtet"). In dem Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages18 15 So im Ergebnis für das Widerrufsrecht beim Abzahlungsgeschäft: F. W. Bosch, Die Neuordnung des Eherechts ab 1. Juli 1977, FamRZ 1977, S. 569, 574 Anm. 45; Amtsgericht Michelstadt, NJW 1985, S. 205; Amtsgericht Elmshorn, NJW-Rechtsprechungs-Report 1987, S. 457. Beide Entscheidungen betonen, daß ein Ehegatte bei einem Schlüsselgewaltgeschäft nicht mitverpflichtet wird, wenn er nicht ordnungsgemäß über die Widerrufsmöglichkeit belehrt worden ist. 16 Vgl. BT-Drucks. 7/650, S. 71, 75, 97ff. 17 Büdenbender (Fn. 5), S. 664; Gernhuber, Neues Familienrecht (Fn. 5), S. 133; ders., Lehrbuch (Fn. 5), S. 197; Käppier (Fn. 3), S. 256. is BT-Drucks. 7/4361, S. 26.
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wird ausgeführt, daß die Schlüsselgewalt u. a. auch den Zweck verfolge, den Vertragspartner eines Ehegatten zu schützen. Die geschilderte Begünstigung des Gläubigers führt auf der anderen Seite zu einer Schlechterstellung des Ehepartners eines im Rahmen der Schlüsselgewalt handelnden Ehegatten. Hier hat die verfassungsrechtliche Überprüfung der Neuregelung des § 1357 BGB anzusetzen. Diese Bestimmung ist am Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie an Art. 6 Abs. 1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, zu messen. Art. 3 Abs. 1 GG ist bei einer willkürlichen Ungleichbehandlung vergleichbarer Personengruppen verletzt; dabei kann das gesetzgeberische Ermessen zur Differenzierung durch Art. 6 Abs. 1 GG eingeschränkt sein, soweit Ehe und Familie betroffen sind. Schließt jemand ein Geschäft zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs ab (z.B. Frau F kauft einen Staubsauger), dann kommt es für die Frage, ob der Geschäftspartner außer der handelnden Person noch einen zweiten Schuldner erhält, darauf an, ob die handelnde Person in einer Ehe oder aber in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder mit anderen in einer Wohngemeinschaft lebt. Nur wenn sie mit dem Ehegatten zusammenlebt, hat ihr Geschäftspartner wegen § 1357 BGB zwei Schuldner, nicht jedoch in den anderen genannten Fällen. Bei der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG sind also als Vergleichspaare gegenüberzustellen: der Ehepartner der vertragsschließenden Person einerseits und der Partner, der mit der handelnden Person in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder einer Wohngemeinschaft zusammenlebt, andererseits. Die Vergleichspaare werden ungleich behandelt, da nur der Ehegatte aus dem abgeschlossenen Geschäft als (weiterer) Schuldner in Anspruch genommen werden kann. Für diese verschiedene Behandlung genügt nicht ein „sonstwie sachlich einleuchtender Grund". Vielmehr ist die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, wodurch die dem Gesetzgeber im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG zustehende Gestaltungsfreiheit beschränkt wird 1 9 . Aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich das Verbot für den Staat, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen 20 . Allerdings widerspricht es dem Gebot des Eheschutzes nicht schon dann, wenn der Staat bei einer gesetzlichen Regelung die Lebens- und Interessengemeinschaft der Ehegatten und die sich daraus ergebende wirtschaftliche Situation berücksichtigt 21 ; es braucht also nicht verfassungswidrig zu sein, wenn Eheleute gesetzlich schlechter gestellt werden als andere Personen. Nur bedarf es dafür einleuchtender Sachgründe, die erkennen lassen, daß eine für Ehegatten ungünstige Regelung ihren Grund in der durch die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft 19
BVerfGE 18, 257, 269 mit Nachweisen; vgl. auch BVerfGE 29, 71, 79. BVerfGE 6, 55, 76; 24, 104, 109. 2 1 Vgl. BVerfGE 24, 104, 109. 20
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gekennzeichneten besonderen Situation der Ehegatten hat 2 2 . Die Berücksichtigung dieser besonderen Lage muß gerade in dem konkreten Sachverhalt den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit entsprechen und darf nicht als Diskriminierung der Ehe erscheinen 23 . Selbst wenn man aber davon ausgehen mag, daß allein der durch § 1357 BGB bezweckte Gläubigerschutz ein Grund sei, der diese Vorschrift vor Art. 6 Abs. 1 GG bestehen läßt, so ist es nicht zu rechtfertigen, daß Eheleute schlechter behandelt werden als Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft; denn beide Gruppen unterscheiden sich allein durch die Eheschließung. Nur weil der Ehegatte der vertragsschließenden Person mit dieser verheiratet ist, trifft ihn im Gegensatz zu dem, der mit ihr wie in einer Ehe zusammenlebt, die für ihn ungünstige Regelung des § 1357 BGB 2 4 . Diese Schlechterstellung des (anderen) Ehegatten wird zwar dadurch abgemildert, daß dieser neben seinem handelnden Gatten aus dem Geschäft nicht nur verpflichtet, sondern auch berechtigt ist. Jedoch ist das für ihn ein „schlechter Trost", wenn er an der Leistung des Vertragspartners kein Interesse hat. Abgesehen davon sind nach herrschender Meinung 25 die Eheleute aus einem Geschäft im Rahmen der Schlüsselgewalt Gesamtgläubiger gem. § 428 BGB, so daß der Vertragspartner durch Leistung an den handelnden Ehegatten auch von seiner Verpflichtung gegenüber dem anderen Gatten frei wird. Die einzigartige Gläubigerbegünstigung durch § 1357 BGB kann auch nicht mit dem Hinweis auf die kraft Gesetzes bestehende Unterhaltspflicht gerechtfertigt werden, die nur zwischen Ehegatten und nicht zwischen den Partnern einer anderen Lebensgemeinschaft besteht. Allerdings ist es möglich, daß der andere Ehegatte mit der Erfüllung einer Verpflichtung aus einem im Rahmen der Schlüsselgewalt geschlossenen Vertrage seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem handelnden Ehegatten nachkommt. Die Begründung mit der Unterhaltspflicht paßt aber dann nicht, wenn dem handelnden Ehegatten kein Unterhaltsanspruch zusteht, sondern er etwa selbst unterhaltspflichtig ist. 22 Hans Brox, Zur Frage der Verfassungswidrigkeit der §§ 1362 BGB, 739 ZPO, in: Festheft für Friedrich Wilhelm Bosch zum 70. Geburtstag, FamRZ 1981, S. 1125, 1127. 23 BVerfGE 17, 210, 217; 24,104,109 (dazu: Hans Brox, FamRZ 1968, S. 406ff.); 28, 324, 347; 32, 260,268. 24 Vgl. Palandt / Diederichsen (Fn. 8); Gerhard Struck, § 1357 BGB (Schlüsselgewalt) verstößt gegen Art. 6 Grundgesetz, MDR 1975, S. 449ff.; ders., Gläubigerschutz und Familienschutz, AcP 187 (1987), S. 404ff., 410ff. 25 So z.B. Günther Beitzke, Familienrecht, 24. Aufl., München 1985, S. 80; Käppier (Fn. 3), S. 284f.; Andreas Wacke, Einzelprobleme der neugeregelten „Schlüsselgewalt", FamRZ 1980, S. 13,15; Gerhard Walter, Dingliche Schlüsselgewalt und Eigentumsvermutung, FamRZ 1981, S. 601, 604; anderer Ansicht vor allem: Herbert Roth, Die Mitberechtigung der Ehegatten in den Fällen des § 1357 BGB, FamRZ 1979, S. 361, 362 ff.
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Schließlich ist der Gläubigerschutz auch nicht deshalb hinzunehmen, weil der durch ihn benachteiligte andere Ehegatte es in der Hand hat, seine Haftung dadurch zu verhindern, daß er die Schlüsselgewalt seines Ehepartners ausschließt. Damit ein solcher Ausschluß gegenüber jedem Dritten wirkt, ist außer einer entsprechenden Willenserklärung des Ehegatten noch eine Eintragung des Ausschlusses im Güterrechtsregister erforderlich (§§ 1357 Abs. 2, 1412 BGB). Das aber ist dem Ehegatten nicht zuzumuten. Er muß damit rechnen, daß sein durch die Eintragung betroffener Ehepartner das Vormundschaftsgericht anruft, um die Ausschließung aufheben zu lassen, weil für sie kein ausreichender Grund bestehe (§ 1357 Abs. 2 S. 1 BGB). Außerdem kann sich der Ehepartner durch die Eintragung gekränkt fühlen; es besteht eine Gefahr der Zerrüttung und Scheidung der Ehe. Nach alledem bleibt es dabei, daß § 1357 BGB mit seiner Ungleichbehandlung von Ehepartnern und anderen Partnern wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG verfassungswidrig wäre, wenn der Gläubigerschutz der alleinige Grund für die neue Schlüsselgewaltregelung ist. Mit der Verfassung vereinbar wäre § 1357 BGB aber, sofern die Vorschrift auch (noch) einen Schutz der Ehegatten sowie der Ehe und Familie bewirkt. W i l l ein Ehegatte ein Geschäft abschließen, das der Deckung des Lebensbedarfs seiner Familie dient, läuft er bei eigener Insolvenz und ohne § 1357 BGB Gefahr, daß er keinen Vertragspartner findet und deshalb das Geschäft unterbleibt. § 1357 BGB verschafft einem etwa nicht erwerbstätigen Ehegatten die Möglichkeit, den anderen Ehegatten zu verpflichten und auf diese Weise dessen Bonität im Rechtsverkehr zu nutzen; damit wird der „Mangel" der wirtschaftlichen Unselbständigkeit des nicht verdienenden Ehegatten gemildert 26 . Insofern dient § 1357 BGB dem Schutz nicht nur des einzelnen Ehegatten, sondern auch der Ehe. Zwar ist zuzugeben, daß das geschilderte Ergebnis auch ohne § 1357 BGB dadurch erreicht werden kann, daß der andere Ehegatte seinen handelnden Ehepartner zum Abschluß derartiger Geschäfte bevollmächtigt und dieser dann im eigenen und im fremden Namen den Vertrag schließt. Eine (gesetzlich begründete) Schlüsselgewalt der Ehegatten ist aber vor allem in einer Ehekrise bedeutsam 27 , wenn ein Einverständnis der Ehegatten nicht zu erreichen ist und der eine Gatte dem anderen keine Vollmacht mehr erteilt oder eine früher gegebene Vollmacht widerruft. Kommt es dann auch noch zu einer Trennung der Ehegatten, ruht die Schlüsselgewalt (§ 1357 Abs. 3 BGB). Infolgedessen ist die Schlüsselgewalt nur in einem ganz engen Rahmen als Schutzinstitut für die Ehe und Familie bedeutsam. Wegen des (allerdings geringen) Schutzes von Ehegatten, Ehe und Familie durch § 1357 BGB ist die verschiedene Behandlung von Ehepartnern einerseits und Partnern in nichtehelichen Lebensgemein26 27
So mit Recht Rolland (Fn. 5), § 1357 Rdnr. 4. Vgl. Struck (Fn. 24), MDR 1975, S. 452.
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schaften andererseits trotz des ganz im Vordergrund des Gesetzeszweckes stehenden Gläubigerschutzes verfassungsrechtlich noch vertretbar. 2. Nach dem bisher Gesagten muß bei der Auslegung des § 1357 BGB der Gläubigerschutz als Gesetzeszweck aus verfassungsrechtlichen Gründen unberücksichtigt bleiben. Bei einer entsprechenden teleologischen Reduktion der Vorschrift ist also nur der verfassungsrechtlich zulässige Zweck des Schutzes von Ehegatten, Ehe und Familie auslegungsmäßig bedeutsam. Demnach ist in allen Fällen einer Kollision von § 1357 BGB mit den §§ I f f . HaustürWG den Regeln über das Haustürgeschäft, die den Verbraucherschutz bezwecken, der Vorrang zu geben. III. Folgen für die Anwendung des HaustürWG 1. Für die Anwendimg des HaustürWG auf ein im Rahmen der Schlüsselgewalt geschlossenes Geschäft ist aus dem Gesetzeswortlaut sowie aus der Entstehungsgeschichte 28 nichts zu entnehmen. Der Gesetzgeber hat die besondere Problematik nicht gesehen. Die gesetzliche Lücke ist unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks (Verbraucherschutz) unter Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen (der Eheleute und des Vertragspartners) zu schließen. a) Beide Ehegatten sind schutzwürdig, wenn der Vertrag durch einen von ihnen als Haustürgeschäft geschlossen wird, da der andere nach § 1357 BGB automatisch mitverpflichtet wird. Beide müssen daher auch das Recht haben, sich vom Vertrage zu lösen. Insoweit ist nach dem Gesetzeszweck jeder einzelne Ehegatte schutzwürdiger als der Vertragspartner, dessen Gläubigerinteresse nach dem Gesagten nicht zu berücksichtigen ist. b) Dieses Widerrufsrecht braucht nicht von den Ehegatten gemeinschaftlich ausgeübt zu werden. Denn sonst wäre ein Widerruf nur möglich, wenn beide Ehegatten sich darüber einig sind. Damit würde der Verbraucherschutz zugunsten des insoweit nicht schutzwürdigen Vertragspartners unzulässig eingeschränkt. c) Der Widerruf eines Ehegatten darf nicht die Wirkung haben, daß damit in jedem Fall auch das Geschäft des nicht widerrufenden Ehegatten mit dem Vertragspartner unwirksam wird. Dieses Ergebnis widerspräche regelmäßig sowohl dem Interesse des anderen Ehegatten als auch dem des Vertragspartners. (1) Die Wirkung des Widerrufs auch für den anderen Ehegatten käme einer Bevormundung des Ehepartners gleich und würde dem heutigen Bild 28 BT-Drucks. 10/2876. Siehe auch die Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20.12.1985, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 372/31.
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von der Ehe als „einer Partnerschaft gleichen Rechts und gleicher Pflichten mit besonderen Anforderungen auf gegenseitige Rücksichtnahme und Selbstdisziplin, auf Mitsprache und Mitentscheidung" 29 widersprechen. Zu einer solchen Bevormundung des Ehepartners würde es auch führen, wenn jedem Ehegatten eine ihm kraft Gesetzes eingeräumte Befugnis zustehen würde, beim Widerruf auch für seinen Ehepartner zu handeln. Dagegen ist eine Bevollmächtigung des einen Ehegatten durch den anderen, das Widerrufsrecht für ihn auszuüben, rechtlich möglich, da sie auf dem Willen des Bevollmächtigenden beruht. (2) Auch im Interesse des Vertragspartners ist es geboten, daß trotz des Widerrufs des einen Ehegatten der Vertrag mit dem anderen bestehen bleiben kann. Denn die Nichtberücksichtigung des Gläubigerschutzes bei der Auslegung des § 1357 BGB darf nicht dazu führen, daß der Vertragspartner schlechter gestellt wird, als er stünde, wenn er mit einer nicht verheirateten Person abgeschlossen hätte. Eine Schlechterstellung des Vertragspartners würde es aber bedeuten, wenn der andere Ehegatte durch Ausübung seines Widerrufsrechtes auch den Vertrag des Vertragspartners mit dem handelnden Ehegatten beseitigen könnte. Dann hinge nämlich die Wirksamkeit des Vertrages vom Willen eines Dritten ab, den der Vertragspartner sich nicht ausgesucht hat. Sofern der handelnde Ehegatte nicht widerrufen hat, muß sein Vertrag wirksam sein, es sei denn, daß der Vertragspartner an einem Vertrag nur mit ihm (etwa wegen dessen Zahlungsunfähigkeit) kein Interesse hat (dazu unter I I I 2 b am Ende). d) Der Verbraucherschutz wird am besten gewährleistet, wenn jeder einzelne Ehegatte sich allein vom Vertrag lösen kann, ohne daß die Verpflichtung des anderen dadurch berührt wird. Dem entspricht es, jedem ein in Voraussetzungen und Folgen grundsätzlich eigenständiges Widerrufsrecht einzuräumen. 2. Hat jeder der beiden Ehegatten ein eigenständiges, vom Widerrufsrecht des Ehepartners unabhängiges Widerrufsrecht, dann fragt es sich vor allem, in welcher Frist der andere Ehegatte sein Widerrufsrecht ausüben muß und welche Folgen die form- und fristgerechte Widerrufserklärung für das Geschäft seines nicht widerrufenden Ehepartners hat. Schließlich ist zu erörtern, ob das Widerrufsrecht des anderen Ehegatten ausnahmsweise ausgeschlossen ist. a) Die Widerrufsfrist von einer Woche (§ 1 Abs. 1 HaustürWG) beginnt mit der Aushändigung der schriftlichen Widerrufsbelehrung an den Kunden (Einzelheiten: § 2 Abs. 1 HaustürWG). Da dem anderen Ehegatten ebenfalls ein Widerrufsrecht zusteht, muß auch er gem. § 2 Abs. 1 HaustürWG belehrt werden, damit für ihn die Widerrufsfrist zu laufen beginnt 30 . Dem Vertrags29
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partner ist es zuzumuten, daß er neben dem handelnden auch den anderen Ehegatten entsprechend belehrt, da er gem. § 1357 BGB einen zweiten Schuldner erhält. Unterläßt er die Belehrung des anderen Ehepartners, weil er nicht weiß, daß die mit ihm abschließende Person verheiratet ist, so ist er nicht schutzwürdig, wenn die Verpflichtung des anderen Gatten mangels Belehrung in der Schwebe bleibt; denn er rechnet beim Vertragsschluß nicht mit einem zweiten Schuldner. Unterbleibt eine ordnungsgemäße Belehrung, so erlischt gem. § 2 Abs. 1 S. 4 HaustürWG das Widerrufsrecht des Kunden erst einen Monat nach beiderseits vollständiger Erbringung der Leistung. Das gilt gleichermaßen für das Widerrufsrecht des anderen Ehegatten, wenn dieser über sein Recht nicht belehrt worden ist. Sofern der Vertrag vom Vertragspartner (etwa durch Leistung an den handelnden Ehegatten) und von diesem (etwa durch Zahlung an den Vertragspartner) erfüllt worden ist und seitdem ein Monat verstrichen ist, bestehen demnach keine Rechte und Pflichten des anderen Ehegatten mehr. Deshalb ist dieser nicht schutzwürdig. Diese Rechtslage kann auch schon vor dem Ablauf der Monatsfrist eintreten, sofern der handelnde Ehegatte sein Widerrufsrecht bereits verloren und seine Verpflichtung erfüllt hat; denn dann besteht keine Gefahr mehr, daß der Vertrag mit dem handelnden Ehegatten widerrufen und der andere Gatte in Anspruch genommen wird. b) Die Folgen eines wirksamen Widerrufs durch den anderen Ehegatten für das Geschäft des (handelnden, aber) nicht widerrufenden Ehegatten richten sich nach § 139 BGB. Danach ist bei Teilnichtigkeit eines Rechtsgeschäfts das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, daß es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde. Der Widerruf des anderen Gatten macht das Geschäft, soweit dieser berechtigt und verpflichtet ist, endgültig unwirksam. Ob damit auch das Geschäft, soweit daraus der handelnde Ehegatte berechtigt und verpflichtet ist, unwirksam wird oder wirksam bleibt, richtet sich nach dem Willen der Beteiligten, d.h. des Vertragspartners und des handelnden Ehegatten. Läßt man den (seltenen) Fall, daß die Beteiligten eine Regelung darüber getroffen haben, was im Falle des Widerrufs eines Gatten für das Geschäft hinsichtlich des Ehepartners gelten soll, außer Betracht, so liegt eine Lücke vor, die durch ergänzende Auslegung zu schließen ist. Dafür ist maßgebend, welche Entscheidung die Beteiligten bei Vertragsschluß vernünftigerweise nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte getroffen hätten. Dabei sind die Umstände des Einzelfalles wie Motive, Interessenlage und verfolgte Zwecke zu berücksichtigen. Regelmäßig w i r d man im Interesse des Vertragspartners davon ausgehen können, daß er an dem Geschäft mit dem handelnden Ehe30 Ebenso im Ergebnis für das Widerrufsrecht beim Abzahlungsgeschäft: Bosch, FamRZ 1977, S. 572 Anm. 45.
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gatten festhalten will, selbst wenn er durch den Widerruf des anderen Ehegatten diesen als zweiten Schuldner verliert. Das wäre möglicherweise anders, sofern der Vertragspartner gerade wegen der Bonität des anderen Ehegatten mit dem (insolventen) handelnden Gatten abgeschlossen hat. Wenn dieser erkennbar mit Rücksicht auf die bezweckte Verpflichtung seines Gatten das Geschäft getätigt hat, so könnte das dafür sprechen, daß das Geschäft mit ihm von der Wirksamkeit der Verpflichtung des Ehegatten abhängig sein sollte. c) Einen Ausschluß des Widerrufsrechts sieht § 1 Abs. 2 HaustürWG für Fälle vor, in denen der Kunde nicht schutzbedürftig ist. Sind beispielsweise die Vertragsverhandlungen am Arbeitsplatz oder in einer Privatwohnung auf vorhergehende Bestellung des Kunden geführt worden, so fehlt der Überraschungseffekt, und deshalb steht dem Kunden kein Widerrufsrecht zu (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 HaustürWG). Diese Voraussetzungen können bei dem einen Ehegatten vorliegen, beim anderen dagegen nicht. Bestellt etwa der Ehemann ohne Wissen seiner Frau den „Vertreter" in die Wohnung und schließt die Frau das Geschäft ab, steht ihr ein Widerrufsrecht zu; für den Ehemann ist jedoch das Recht ausgeschlossen. Gerade dieses Beispiel zeigt anschaulich die Selbständigkeit des Widerrufsrechts eines jeden Ehegatten.
IV. Ergebnisse 1. Die Regelung des § 1357 BGB über die Schlüsselgewalt ist nicht wegen des Gläubigerschutzes, sondern nur wegen des geringen Schutzes von Ehe und Familie verfassungsrechtlich noch vertretbar. 2. Bei einer Kollision von § 1357 BGB mit den §§ I f f . HaustürWG ist den Regeln über das Haustürgeschäft, die den Verbraucherschutz bezwecken, der Vorrang zu geben. 3. Schließt ein Ehegatte im Rahmen der Schlüsselgewalt ein Geschäft ab, das unter das HaustürWG fällt, dann hat jeder der beiden Ehegatten ein eigenständiges Widerrufsrecht. 4. Die einwöchige Frist zum Widerruf durch einen Ehegatten beginnt der Aushändigimg der Widerrufsbelehrung (§ 2 Abs. 1 HaustürWG) diesen Ehegatten. Ohne ordnungsgemäße Belehrung erlischt das Recht jeden der beiden Eheleute spätestens einen Monat nach vollständiger bringung der geschuldeten Leistungen.
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5. Bei einem wirksamen Widerruf durch den anderen Ehegatten richtet sich die Wirksamkeit des Geschäfts des handelnden, aber nicht widerrufenden Ehegatten nach § 139 BGB.
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6. Das Widerrufsrecht des anderen Ehegatten ist ausgeschlossen, wenn er ohne Wissen seines Ehepartners den Vertragspartner bestellt hat. 7. Die geschilderte Problematik entfiele, wenn der Gesetzgeber sich entschließen könnte, § 1357 BGB ersatzlos zu streichen.
Die Problematik der Kindesentführung über nationale Grenzen und ihre Regelung durch neue internationale Abkommen Von Walther J. Habscheid Das Recht der Freiwilligen Gerichtsbarkeit - lange auch ein Stiefkind der Rechtswissenschaft - ist für den nicht gerade direkt mit der Materie befaßten Juristen ein Gebiet, von dem er nur unklare Vorstellungen hat. Und geht es erst um die internationale Freiwillige Gerichtsbarkeit, dann ist für ihn die terra incognita erreicht. Und dennoch handelt es sich hier um Verfahren, die in das Leben der Betroffenen oft tiefer einschneiden als ein normaler Zivilprozess mit einem noch so hohen Streitwert. Das gilt vor allem, wenn es um Maßnahmen im Bereiche des Sorgerechts und um ihre Durchsetzimg, ihre Vollstreckung, geht. Hier interessiert der internationale Schutz gegen Kindesentführungen, dessen Mangelhaftigkeit Berichte in der Tagespresse in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gehoben haben. Man nehme nur folgenden - keineswegs erfundenen 1 - Fall: Die Ehe von Doris und Dieter Drosselbarth - letzter gemeinsamer Wohnsitz ist Hamburg - ist zerrüttet. Dieter, Angestellter eines internationalen Konzerns, läßt sich nach Zürich versetzen und nimmt die Tochter Annegret ohne Wissen der Mutter mit in die Schweiz. Auf Antrag von Dieter wird ihm vom zuständigen Gericht in Zürich vorläufig die elterliche Sorge übertragen. Nachdem Doris davon erfährt, verlangt sie beim Schweizer Richter, ihr die Sorge zuzuteilen, da Annegret bei ihr besser aufgehoben sei. Da Dieter (nicht ohne Grund) eine ihn benachteiligende Entscheidung voraussieht, läßt er sich auf die niederländischen Antillen, nach Curaçao, versetzen und nimmt Annegret nach dort mit.
Der Fall ist typisch. Es gibt ihn in verschiedenen Variationen. Besonders nach der Scheidung kommt es vor, daß der Ehegatte, dem das Sorgerecht nicht übertragen wurde, aus egoistischen Beweggründen - und sei es nur, um sich an dem anderen Teil zu rächen - das gemeinsame K i n d in ein anderes Land, meist sein Heimatland, verbringt, wobei er sich den Vorteil ausrechnet, dort eine ihm geneigte Justiz zu finden, welche ihn gegen die Anordnung des ausländischen Gerichts auf Herausgabe des Kindes in Schutz nimmt. 1 Er wird berichtet von Fritz Sturm, Neue Abkommen zum Schutz entführter Kinder, in: Festschrift für Nagel, 1987, S. 457 ff.
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Noch ein weiterer Fall. Er ist der Entscheidung BGH IPRax 1984, 324 ff., nachgebildet: Die Ehe zwischen dem italienischen Staatsangehörigen Christof er ο Piccolo und der Deutschen Käte Krause „kriselt". Das zuständige Gericht in Bologna hat die Trennung der Ehe ausgesprochen und der Mutter die Personensorge für den gemeinsamen Sohn Federico zugesprochen. Das Urteil regelt gleichzeitig das Besuchsrecht des Vaters. Ferner enthält es den Zusatz, daß das Kind in Bologna - seiner gewohnten Umgebung - aufwachsen solle. Käte hält sich nicht daran. Sie zieht mit ihrem Sohn nach Deutschland um und beantragt beim deutschen Gericht Scheidung und Aufenthaltsbestimmungsrecht 2 .
Die Beispiele sind nicht umsonst gemischtstaatlichen Ehen entnommen. Ist schon die Entscheidung über die elterliche Sorge bei rein innerstaatlichen Ehen häufig problematisch - erst recht ihre Durchsetzung - so verschärfen sich die Spannungen, wenn eine bi-nationale Ehe in die Brüche geht. Nach der Statistik werden in der Bundesrepublik jährlich etwa 25 30000 Ehen geschlossen, bei denen ein Ehegatte Inländer, der andere Ausländer ist. 1981 wurden 6232 deutsch-ausländische Ehen geschieden3. Die Scheidung hatte für viele zur Folge, daß sie in ihre Heimat zurückkehrten. Da liegt die Versuchung nahe, das gemeinsame K i n d „mitzunehmen", besonders dann, wenn es nach der Meinung des betr. Elternteils der anderen Seite „zu Unrecht" zugesprochen wurde. Und da es meist Väter sind, die sich in dieser Lage befinden, sind sie es in den meisten Fällen, die Kinder in ihren Heimatstaat verbringen. Alljährlich werden in Deutschland etwa 200 Fälle der Kindesentführung bekannt 4 . Die Dunkelziffer dürfte jedoch die Anzahl der publik gewordenen Fälle übertreffen. Die Aktualität unseres Themas liegt daher auf der Hand. Dem Verfasser sei gestattet, diese Ausarbeitung eines Vortrages an der Trierer Richterakademie5 Paul Mikat in alter freundschaftlicher Verbundenheit zu seinem 65. Geburtstag zu widmen. I. Das autonome Recht und das Minderjährigenschutzabkommen Zwei Aspekte sind auseinanderzuhalten: Ist ein K i n d widerrechtlich aus dem Auslande in die Bundesrepublik verbracht worden, so kann 2 Vgl. auch Habscheid, Bemerkungen zur Rechtshängigkeitsproblematik im Verhältnis Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz einerseits und den USA andererseits, in: Festschrift für Zweigert, 1981, S. 109 ff. Der dem Aufsatz zugrundeliegende Ausgangsfall ist ähnlich. 3 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1986, S. 71; Wirtschaft u. Statistik, 1987, S. 79, 81. 4 Entnommen aus Denkschrift des Bundesministers der Justiz zu den hier behandelten Übereinkommen. 5 Am 23. Juni 1988. Der Vortragsstil wird beibehalten.
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1. der ausländische sorgeberechtigte Teil beim inländischen Richter eine Herausgabeanordnung erwirken und gem. § 33 FGG vollstrecken. Bezüglich der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist zwar allgemein zu beklagen, daß sie in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht geregelt ist, und w i r sie „zusammensuchen" müssen6. Immerhin hilft, wenn alle Stricke zu reißen drohen, der Schluß von der örtlichen auf die internationale Kompetenz und die Fürsorgezuständigkeit. Angesichts dessen ist es erfreulich, daß das Haager Abkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiete des Schutzes von Minderjährigen vom 5. 10. 1961 (BGBl. 1971, II, S. 217) (= Minderjährigenschutzabkommen - MSA) in seinem Art. 1 die internationale Zuständigkeit direkt regelt, indem es von der Zuständigkeit der Gerichte am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ausgeht7. Weiterhin bestimmt es die lex fori als anwendbares Recht (Art. 2); der Richter wird also nicht gezwungen, erst Nachforschungen über fremde Rechtsordnungen anzustellen. Immerhin: Die Gefahr besteht, daß das Kind, bevor es zu einer Anrufung des Gerichts kommt, in ein drittes Land verbracht wird. Die Frage ist hier, ob der das Kind entführende nicht sorgeberechtigte Elternteil dort einen „gewöhnlichen Aufenthalt" begründen kann - mit der Folge, daß die Gerichte des Drittstaats - nehmen w i r an, es handele sich um einen Signatarstaat des MSA - zuständig werden. Die Rechtsprechung 8 hat dies bejaht, und zwar mit der Begründung, das MSA sei nicht in erster Linie auf die Wahrung der Elternrechte, sondern auf den Schutz des Minderjährigen ausgerichtet. So kann man fast sagen, diese Rechtsprechung ermuntere geradezu zur Kindesentführung; denn wenn der ausländische Gatte „sein" Kind in sein Heimatland verbringt, w i r d er dort geneigtere Richter finden. Überhaupt: die Zeit arbeitet für ihn. Je länger er das Kind im Auslande bei sich hat man muß ja zunächst ausfindig machen, wo er sich aufhält (!) - um so größer ist die Chance, daß „sein" Richter erklärt, das Kind habe sich eingelebt und eine Herausgabe widerspreche dem Kindeswohl. Daß auch deutsche Richter so räsonnieren, zeigt etwa der Fall OLG Düsseldorf, FamRZ 1982, 534 (freilich lag hier bereits ein 4 V2-jähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik vor).
6
Vgl. Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 7. Aufl. 1983, S. 69 ff. Zum Anwendungsbereich des MSA Jayme / Hausmann, Internat. Privat- u. Verfahrensrecht, 4. Aufl. 1988, Nr. 34. Dem MSA gehören danach zur Zeit an: Die Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg, Portugal, Schweiz, Niederlande, Frankreich, Österreich, Türkei, Spanien. 8 BGHZ 78, 296 ff.; BayObLGZ 1981, 257 ff.; a.M. OLG Karlsruhe, OLGZ 1976, 1; 1979, 407 ff. 7
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Immerhin: solange das Kind seinen Aufenthalt in Deutschland hat, sind deutsche Gerichte - auch für Eilmaßnahmen (vgl. Art. 9 MSA) - zuständig. Sie werden daher ggf. die Herausgabe des Minderjährigen anordnen und gem. § 33 FGG vollstrecken. Die deutschen Gerichte werden sich auch in ihrer Entscheidung nicht beeinflussen lassen, wenn das Kind während des Verfahrens ins Ausland verbracht wird. Denn der Grundsatz der perpetuatio fori gilt auch in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit 9 . Nur ist er internationalverfahrensrechtlich nicht durch das MSA gesichert 10 . Das hat zur Folge, daß die Vollstreckung der Entscheidung im Auslande nicht garantiert ist. 2. Hat der ausländische Teil im Ausland einen Sorgerechtsentscheid erwirkt, den er in der Bundesrepublik zu vollstrecken gedenkt, so ist das autonome deutsche Recht großzügig: Entscheidungen aus der Freiwilligen Gerichtsbarkeit werden grundsätzlich anerkannt und vollstreckt. Der neue § 16a FGG macht praktisch nur die Ausnahme, daß der ausländische Entscheid nicht gegen eine ausschließliche deutsche Zuständigkeit oder gegen den ordre public, eingeschlossen die guten Sitten, verstoßen darf 1 1 . Hierzu zum ordre public - zählt dann freilich wieder der Vorrang des Kindeswohls 12 . Daß die Gegenseitigkeit für die Anerkennung und Vollstreckung keine Rolle spielt, sei zusätzlich vermerkt. In unserem Italiener-Fall stellt sich hier ein zusätzliches Problem. Es liegt ja bereits eine Sorgerechtsentscheidung des Gerichts in Bologna vor. Ist sie nun anzuerkennen, inwieweit darf der deutsche Richter sie abändern? Die h. M. lehnt (wohl noch immer) eine Abänderung ausländischer Entscheidungen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit ab. Dagegen ist einzuwenden: Mit der Anerkennung wird der ausländische Staatsakt „nostrifiziert", also zu einem inländischen. Dort, wo inländische Akte dieser Art abänderbar sind - das ist bei Sorgerechtsentscheidungen der Fall - muß dies auch für ausländische Staatsakte gelten - wobei es dann eine Frage der Terminologie ist, ob man sagt, der ausländische Entscheid werde mit Wirkung für das Inland abgeändert oder er werde durch den inländischen „überlagert" 13 . Die (relative) Großzügigkeit des deutschen autonomen Rechts bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit findet im Ausland nicht immer eine Entsprechung. Auch muß man, w i l l man sich im Falle einer Kindesentführung an ein ausländisches Gericht wenden, erst einmal wissen, wo sich das Kind aufhält. 9 Vgl. BGHZ 71, 69, 71; OLG Düsseldorf, FamRZ 1981, S. 1005; K G FamRZ 1982, S. 736. Vgl. auch Habscheid (Fn. 6), S. 76. 10 Vgl. auch Sturm (Fn. 1). 11 Siehe hierzu Habscheid (Fn. 6), S. 215 m. Nw. 12 OLG Düsseldorf, FamRZ 1982, S. 534. 13 Habscheid (Fn. 6), S. 216, 217.
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Gerade bei der Verschleierung des Aufenthaltsortes - er kann auch mehrfach, sogar in einen Drittstaat, verlegt werden - entwickeln entschlossene Elternteile oft große Entschlußkraft und Phantasie. Die Regelung des autonomen Rechts mag halbwegs genügen, wenn sich das Kind im Inlande befindet. Auch hilft hier das MSA in seinem, freilich beschränkten, Anwendungsbereich 14 weiter. Ist aber das Kind ins Ausland verbracht, so ist die Rechtslage uneinsehbar. Das MSA hilft nicht weiter; denn in seinem Art. 7 bestimmt es ausdrücklich, daß zwar die von den zuständigen Behörden getroffenen Entscheidungen in den Vertragsstaaten anzuerkennen seien, daß aber dort, wo Vollstreckungsmaßnahmen erforderlich würden, die „Anerkennung und Vollstreckung entweder nach dem inländischen Recht ,des Vollstreckungsstaates' oder nach zwischenstaatlichen Übereinkünften" erfolge. Angesichts dieses Abkommens, dem man mit der Regel: Anerkennung ja, aber nicht ohne weiteres, wenn Vollstreckung - die Zähne gezogen hatte, erscheint es erforderlich, dem Skandalon der internationalen Kindesentführung mit neuen Übereinkünften zu Leibe zu rücken. II. Die neuen Abkommen Bei diesen Abkommen handelt es sich um zwei: Das von der Haager Konferenz erarbeitete Abkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. 10. 1980 (Haager Abk.) und das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses vom 20. 5. 1980. Beide Abkommen greifen im Falle der Kindesentführung. Nur setzt das Europäische Übereinkommen (EÜ) einen Sorgerechtsentscheid voraus, der dann im Aufenthaltsstaat zu vollstrecken ist - hiermit wird das Manko des MSA ausgeglichen - während das Haager Abkommen unabhängig vom Vorliegen eines Entscheids des Entführungsstaates eingreift, es also ermöglicht, direkt im Aufenthaltsstaat die Rückführung des Kindes zu begehren. Die Bundesrepublik hat das Europäische Übereinkommen gezeichnet. Die Ratifikation steht noch aus 15 . Der Entwurf eines Ratifikationsgesetzes 14
Dazu oben Fn. 7. Zum Haager Abkommen: Das Abkommen wurde ratifiziert und ist in Kraft: Frankreich (16. 9. 1982), Kanada (2. 6. 1983), Portugal (29. 9. 1983), Schweiz (1. 1. 1984), Großbritannien u. Nordirland (1. 8. 1986), Luxemburg (1. 1. 1987), Australien (1. 1. 1987). Beigetreten ist Ungarn (1. 7. 1986), doch ist der Beitritt bisher nur von Großbritannien, Luxemburg und Frankreich angenommen worden. Gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert ist das Abkommen noch von Griechenland, USA, Belgien und Italien. Die Bundesrepublik hat noch nicht gezeichnet. Zum Europ. Übereinkommen: Es ist ratifiziert und in Kraft: Frankreich (4. 8. 1982), Portugal (18. 3. 1983), Luxemburg (25. 5. 1983), Schweiz (1. 1. 1984), Spanien (1. 9. 15
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(Stand 10. 3. 1987) liegt den L a n d e s j u s t i z v e r w a l t u n g e n zur Stellungnahme vor, ebenso der E n t w u r f eines Ausführungsgesetzes. Beide Gesetze betreffen auch das Haager A b k o m m e n , das f r e i l i c h v o n der B u n d e s r e p u b l i k n o c h n i c h t gezeichnet ist. Offenbar w i l l die Bundesregierung f ü r beide A b k o m m e n die R a t i f i k a t i o n ohne V o r b e h a l t vorschlagen. H i e r aber soll es gegenteilige S t i m m e n aus den L ä n d e r n geben. Diesen k a n n u n d soll h i e r n i c h t nachgegangen werden. Sie s i n d bis zu einem gewissen Grade b e i jeder b i - u n d m u l t i l a t e r a l e n Ü b e r e i n k u n f t z u erwarten, b e i der m a n f ü r das I n l a n d v o n der einen oder anderen l i e b g e w o n nenen Rechtsgewohnheit A b s t a n d nehmen muß, u m f ü r die D u r c h s e t z u n g i m Auslande Rechtsvorteile einzuhandeln. 1. Vergleich
beider Abkommen
mit Bezug auf Kindesentführungen.
Stel-
l e n w i r uns die Frage, w i e beide A b k o m m e n i m Falle der K i n d e s e n t f ü h r u n g f u n k t i o n i e r e n , so ist folgendes festzustellen: Das Haager Abkommen
Das Europäische Übereinkommen
Art. 1 bestimmt sein Ziel a) die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einem Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen, und
Es greift, wie gesagt, nicht direkt, sondern setzt in Art. 7 voraus, daß eine Sorgerechtsentscheidung eines Vertragsstaates, z.B. eine Übertragung des Sorgerechts nach deutschem Recht, mit Herausgabeanordnung vorliegt.
b) zu gewährleisten, daß das in einem Staat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang i n den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird.
Diese ist im Lande, in das das Kind verbracht wurde, gem. Art. 7 anzuerkennen, gem. Art. 8 zu vollstrecken. Hier ist eine zentrale Behörde einzuschalten, welche die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses zu veranlassen hat. An sie hat sich der Antragsteller binnen 6 Monaten zu wenden.
Um dieses Ziel zu erreichen - so Art. 2 - wenden die Signatarstaaten ihre schnellstmöglichen Verfahren an. Hierzu wird eine zentrale Behörde eingeschaltet (Art. 8-10). Das Abkommen enthält jedoch Anerkennungsverweigerungsgründe (Art. 13, 20).
Soweit erforderlich, schaltet diese Stelle nach ihrem Recht das Gericht ein.
Art. 3 umschreibt die Widerrechtlichkeit des Verbringens des Kindes und stellt
Nun enthält das Europäische Übereinkommen Anerkennungsverweigerungs-
1984), Österreich (1. 8. 1985), Belgien (1. 2. 1986), Großbritannien und Nordirland (1. 8. 1980), Zypern (1. 10. 1986). Außer der Bundesrepublik Deutschland haben das Abkommen gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert: Griechenland, Irland, Italien, Liechtenstein und die Niederlande.
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klar, daß einmal das Sorgerecht nach den Regeln des Aufenthaltsstaates (gewöhnlicher Aufenthaltsort) vor der Verbringung gilt und daß auch die Mißachtung des Mit-Sorgerechts insbes. des Ehepartners widerrechtlich ist.
gründe. Bezüglich des Art. 8 I heißt es aber dann in Abs. 2: „Können" - im Falle der Kindesentführung - nach dem Recht des ersuchten Staates die Voraussetzungen des Abs. 1 nicht ohne ein gerichtliches Verfahren erfüllt werden, so finden in diesem Verfahren die in dem Übereinkommen genannten Versagungsgründe keine Anwendung.
Art. 5 stellt klar, daß als „Sorgerecht" das umfassende Recht der Personensorge und als „Recht zum persönlichen Umgang" das Recht zu verstehen ist, das Kind für eine begrenzte Zeit an einen anderen Ort als seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bringen.
Es soll auf diese Weise die prompte Rückführung des Kindes ermöglicht werden. Allerdings treten die Interessen des Entführungsstaates (vgl. Art. 9) nur dann zurück, wenn das K i n d und seine Eltern nur Angehörige des Entführungsstaates waren (Art. 8 I lit. a) (und noch einige weitere Voraussetzungen erfüllt sind). Hier schlägt also das Staatsangehörigkeitsprinzip durch.
Schließlich stellt Art. 4 klar, daß Kinder über 16 Jahre nicht mehr unter das Abkommen fallen.
Unsere beiden Fälle sind mithin nach beiden Übereinkommen „lösbar", nur ist der Lösungsweg verschieden. Der direktere Weg führt wohl über das Haager Abkommen. 2. Auf alle Fälle aber ist die Zentrale Behörde einzuschalten, auch im Rahmen des Haager Abkommens. Hier bestimmt Art. 6, daß jeder Vertragsstaat eine solche Behörde errichtet, an die der Antrag auf „Rückgabe des Kindes" gem. Art. 8 zu richten ist. Dabei leisten die Zentralen Behörden einander Rechtshilfe (vgl. Art. 9). Die Zentrale Behörde des aktuellen Aufenthalts veranlaßt nach Art. 10 die geeigneten Maßnahmen, um die freiwillige Rückführung zu bewirken. Eine Einschaltung der Zentralen Behörde führt in den Fällen beider Abkommen dazu, daß diese den Aufenthalt des Kindes ermittelt - eine Aufgabe, die der benachteiligte Elternteil oft nur schwer erfüllen kann. Das Verfahren wird so auf alle Fälle beschleunigt. Die Zentrale Behörde kann auch nach Art. 7 lit. f das vom nationalen Recht vorgesehene gerichtliche oder behördliche Verfahren einleiten, um die Herausgabe zu erzwingen, und Art. 11 sieht vor, daß diese Verfahren beschleunigt durchzuführen seien. Das Haager Abkommen greift stärker als die Europäische Übereinkunft; denn nach Art. 12 I ist die sofortige Rückgabe durch die zuständige Stelle (Gericht oder Behörde) anzuordnen, wenn eine Frist von weniger als einem Jahr verstrichen ist. Allerdings gibt es auch hier Versagungsgründe (Art. 13,
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20). Natürlich muß das Kindeswohl hier berücksichtigt werden; doch geschieht dies im Herausgabe- bzw. Herstellungsverfahren nur in Fällen offensichtlicher Mißachtung (vgl. Art. 13 lb, II). Wichtig ist, daß der Umstand alleine, daß eine Sorgerechtsentscheidung im ersuchten Staate ergangen ist, der Rückgabe des Kindes nicht entgegensteht. Damit würde die Regelung des deutschen Rechts, daß der deutsche Richter recht wohl berechtigt ist, eine ausländische Sorgerechtsentscheidung zu „überspielen", außer Kraft gesetzt. Um aber diesen Konflikt nicht erst aufkommen zu lassen bestimmt Art. 16, daß bei einem Sorgerechtsantrag im Verbringungsstaat ein Sachentscheid erst erfolgen darf, wenn entschieden ist, daß das Kind nicht zurückgegeben wird oder wenn innerhalb angemessener Frist nach der gemeldeten Entführung kein Antrag nach dem Abkommen gestellt ist. 3. Der Entwurf eines deutschen Ausführungsgesetzes zum Haager Abkommen (§ 1 AfG) sieht vor, daß die Länder durch Rechtsverordnung je eine Zentrale Behörde einrichten, daß aber international der Generalbundesanwalt beim Bundesgericht die Aufgaben der Zentralen Behörde wahrnimmt. Dasselbe System gilt gem. § 8 AfG für das Europäische Übereinkommen. Allerdings wird hier der Generalbundesanwalt nicht genannt. Die Zentrale Behörde ist das Herzstück der neuen Regelung. Nur wenn sie schnell und unbürokratisch funktioniert, wird sie sich bewähren. Wolfgang Müller-Freienfels hat daher mit Recht den deutschen Partikularismus kritisiert 16 : Jedem Bundesland seine Zentrale Behörde, und der Generalbundesanwalt als „internationaler Briefträger" ! Ob dieses System effektiv arbeiten wird? Zweifel sind jedenfalls angebracht 17 . Sie seien hier zurückgestellt. Wichtig ist allerdings - und dies fügt sich in das Rechtsschutzsystem der Freiwilligen Gerichtsbarkeit nahtlos ein - daß bei Nicht-Tätigwerden der Zentralen Behörde das OLG im Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit angerufen werden kann (§§2,10 AfG). Auf weitere Einzelheiten des Ausführungsgesetzes soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es regelt, nur das sei gesagt, die Möglichkeit für die Zentrale Behörde, das Jugendamt einzuschalten (§ 5), die gerichtliche Zuständigkeit (§ 4), ordnet ein schnelles Verfahren (§ 7) (für das Europ. Übereinkommen vgl. § 11; für beide Abkommen siehe auch § 15).
16 Deutscher Partikularismus im Internationalen Kindesentführungsrecht - Dezentralisation der „Zentralen Behörde", JZ 1988, S. 120 ff. 17 Eigentlich nicht einsichtig ist die Nichterwähnung des Generalbundesanwalts im Europäischen Abkommen (dazu Müller-Freienfels, S. 131 ff.). Konflikte scheinen mir hier vorprogrammiert, etwa wenn aus beiden Abkommen vorgegangen wird.
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Um auf die Abkommen zurückzukommen: Das Haager Abkommen greift bei Kindesentführungen schneller. Da es keine inländische Sorgerechtsentscheidung voraussetzt und da Entführungen noch innerhalb einer Frist von 1 Jahr begegnet werden kann, ist sein Anwendungsbereich weiter als der des Europäischen Übereinkommens. Zudem ist das Verfahren einfacher. Beide Abkommen sehen allerdings vor, daß bei der Ratifikation Vorbehalte angebracht werden können, jedoch sind diese Vorbehalte begrenzt (Art. 42 Haager Abk., 27 EÜ). Für die Bundesrepublik wird dabei zu beachten sein, daß der Vorrang der Grundrechte gewahrt bleibt. Das Haager Abkommen trägt ihm in seinem Art. 20 unmittelbar Rechnung, nicht aber das Europäische Übereinkommen bei den Gründen des Art. 101 lit. a und b. Daher ist hier die Einlegung des Vorbehalts gem. Art. 27 i.V.m. Art. 17 vorgesehen. III. Die Fälle 1. Kehren wir also zu unserem Fall 1 zurück: Es handelt sich um eine Kindesentführung in die Schweiz i. S. des Art. 1 des Haager Abkommens. Eine Sorgerechtsentscheidung liegt nicht vor, da die Eltern das Recht der Sorge bisher gemeinsam ausgeübt hatten. Auch der Bruch des gemeinsam ausgeübten Sorgerechts durch Verbringung des Kindes in die Schweiz ist widerrechtlich i. S.des Art. 3, 4 Abk. Im gegenwärtigen Rechtszustand hilft der Mutter ein deutscher Entscheid - etwa die Übertragung der Sorge gem. § 1672 BGB verbunden mit einer vollstreckbaren Herausgabeanordnung nach § 33 FGG - nur wenig. Der Versuch, ihn in der Schweiz zu vollstrecken, führt in den Dschungel des kantonalen Vollstreckungsrechts, hier des Rechts der Zürcher ZPO. Das neue schweizerische IPRG bestimmt zwar nun, daß ausländische Entscheidungen betreffend die Beziehungen zwischen Eltern und Kind in der Schweiz anerkannt (und grundsätzlich auch vollstreckt) werden, wenn sie in dem Staate ergangen sind, in dem das Kind seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Man könnte also argumentieren, durch die Verbringung in die Schweiz werde weder der Wohnsitz noch der gewöhnliche Aufenthalt betroffen. Die Hoffnung, so im autonomen Schweizer Recht des IPRG eine günstige Regelung zu finden, trügt jedoch. Denn der einschlägige Art. 84 verweist für den Minderjährigenschutz auf das MSA, das dann in Art. 85 zum Bestandteil des schweizerischen autonomen Rechts gemacht und mit Allround-Wirkung ausgestattet wird. Das aber heißt zunächst, daß auch die anerkannte ausländische Entscheidung nach autonomem Kantonsrecht anerkannt und vollstreckt wird. Oder wird hier ein Analogieschluß zum IPRG (etwa Art. 84) in Betracht kommen? Dieser Frage kann hier nicht nachgegangen werden.
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Das Haager Abkommen wird hier jedenfalls Abhilfe schaffen. Durch einen Antrag an die Zentrale Stelle, die deutsche 18 , die dann weiterleitet 19 , oder die schweizerische 20 wird der Rückschaffungsmechanismus des Abkommens in Bewegung gesetzt. Dabei muß der Antrag den Voraussetzungen des Art. 8 des Abkommens entsprechen. Wichtig ist hier insbesondere Art. 8 I I lit. 4. Danach sind die Gründe anzugeben, die der Antragsteller - hier Doris Drosselbarth - für den Anspruch auf Rückführung geltend macht.
Liegt eine gerichtliche Entscheidung über das Sorgerecht oder eine gerichtlich bestätigte Sorgerechtsvereinbarung vor, so ist sie beizufügen. Aber das ist in casu ja eben nicht der Fall. Damit nun aber die letztlich zuständige Schweizer Zentrale Behörde und ggf. schweizerische Gerichte oder andere Vollzugsorgane die Frage des Anspruchs auf Rückgabe schnell und zuverlässig prüfen können, sieht Art. 8 I I lit. f vor, daß beigefügt werden kann eine Bescheinigung oder eidesstattliche Erklärung (Affidavit) über die einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften, die von der deutschen Zentralen Stelle oder einer sonst zuständigen deutschen Behörde oder einer befugten Person ausgehen muß.
Die Schweizer Zentrale Behörde unternimmt dann das Erforderliche. Gelingt es ihr nicht, die freiwillige Rückgabe durchzusetzen, so wendet sie sich an das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsstelle. Da diese eine kantonale Instanz ist, ist dem Antragsteller anzuraten, von seinem Recht, selbst an diese Behörde heranzutreten, keinen Gebrauch zu machen (vgl. Art. 11). Art. 12 sieht dann vor, daß, wenn bei Eingang des Antrages bei Gericht oder bei der zuständigen Verwaltungsstelle eine Frist von einem Jahr seit der Entführung noch nicht verstrichen ist, die sofortige Rückgabe angeordnet und vollstreckt wird. Ist die Jahresfrist überschritten, so kann Dieter Drosselbarth versuchen, darzutun, daß sich das Kind in die neue Umgebung eingelebt hat (Art. 12 II), um so das Herausgabebegehren abzulehnen. Und wie steht es mit der vorläufigen Übertragung des Sorgerechts durch den Zürcher Richter? Art. 17 bestimmt, daß sie auf keinen Fall, für sich genommen, einen Grund darstellt, die Rückgabe abzulehnen. Allerdings: Auch das Haager Abk. kennt in Art. 13 Versagungsgründe. Sie treffen jedoch vorliegend nicht zu. Einen weiteren Versagungsgrund stellt
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Also die Zentrale Stelle des Landes. Durch den Generalbundesanwalt. 20 Bundesamt für Justiz; SR 0.211.230.01; 0.211.230.02; vgl. auch Art. 2 des BB vom 21. Juni 1983 (AS 1983 1680). Hierbei sei unterstrichen, daß der Bundesstaat Schweiz nur eine Zentrale Behörde hat. 19
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Art. 20 auf. Danach kann die Rückgabe abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staate geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist. Nun wird wohl die Schweiz sich nicht gegenüber der Bundesrepublik auf Art. 20 berufen. Aber bei einer Rückführung aus Deutschland in ein anderes Land wird nicht selten zu fragen sein, ob nicht die Grundrechte einer solchen Maßnahme entgegenstehen. Und dann die Verbringung nach Curaçao unter Zugrundelegung des Abkommens. Hier w i r d es kritisch. Doris muß unter allen Umständen versuchen, die Verbringung durch eine einstweilige Maßnahme des Schweizer Richters zu unterbinden. Gelingt das nicht, so greift Art. 12 I I I ein: das Verfahren kann ausgesetzt werden (wenn eine Rückkehr in die Schweiz zu erwarten ist), es kann aber auch der Rückgabeantrag abgelehnt werden (was wohl der Fall sein wird, wenn eine Rückkehr ausgeschlossen ist). Die Frage, ob die Verbringung nach Curaçao durch die vorläufige Sorgerechtszuteilung (die nach neuem Recht gem. Art. 16 so nicht mehr wird ergehen dürfen) gedeckt ist, stellt sich für die Schweiz nicht, da Art. 12 I I I auf das tatsächliche Verbringen abstellt. Doris müßte dann auf den Niederländischen Antillen ihr Recht suchen. Ich breche die Fallerörterung nach dem Haager Abkommen hier ab. Immerhin zeigt die Skizze, daß das Abkommen eine zügige Entscheidung möglich macht und für eine schnelle Zurückführung des Kindes an seinen angestammten Aufenthaltsort sorgt. 2. Befragt man das Europäische Übereinkommen nach dem Prozedere in Sachen Annegret Drosselbarth, so muß zunächst ein deutscher Sorgerechtsentscheid gem. §§ 1672 BGB, 33 FGG her, der der Mutter die alleinige Sorge überträgt und die Herausgabe anordnet. Dann aber findet Doris Hilfe bei den Zentralen Stellen dieses Abkommens in Deutschland und in der Schweiz. An sie ist der Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung zu richten (Art. 4). Die Zentrale Behörde des ersuchten Staates ordnet das Erforderliche an (Art. 5). In unserem Falle wird sie sich an den kantonalen Richter oder die zuständige Verwaltungsstelle wenden. Diese hat nach Art. 7 die deutsche Sorgerechtsentscheidung anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären.
Im Falle der Kindesentführung gibt es nach Art. 8 I keine Versagungsgründe für die Anerkennung und Vollstreckung, wenn a) das Kind (also Annegret) und seine Eltern in casu - das ist der Fall - nur deutsche Staatsangehörige waren und das Kind - auch das trifft zu - seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte und b) der Antrag auf Rückführung innerhalb von 6 Monaten gestellt ist.
Also: Einerseits für die Privilegierung keine Jahres-, sondern nur eine 6-Monatsfrist. Dann Abstellen auf die Staatsangehörigkeit. Dann aber keine 55 Festschrift P. Mikat
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Versagung der Rückführung aufgrund der Nichtanerkennungstatbestände, die das Abkommen im übrigen vorsieht (insbes. in Art. 9, 10). Die Versagungsgründe für nicht unter Art. 8 fallende Entführungen sind in Art. 9 relativ weit gefaßt, und Art. 10 dehnt den Katalog für alle nicht durch Art. 8 und 9 gedeckten Fälle weiter aus. Gesamthaft betrachtet ist das EÜ für die Antragstellerin Doris teils besser, teils weniger gut als das Haager Abk. Sie wird also wählen müssen, welchen Weg sie geht. Die Frage ist, ob sie beide Wege kombinieren, also bei der Zentralen Stelle den Antrag stellen kann, diese solle die günstigste Vorgehensweise oder ein Vorgehen principaliter - eventualiter beachten. Ich möchte dies bejahen, ohne die Frage zu vertiefen. Und dann noch die Verbringung nach Curaçao. Das Übereinkommen schweigt. Man wird wohl davon ausgehen müssen, daß für die Schweiz damit die Hauptsache erledigt ist. Also muß Doris sich an die Niederländischen Antillen wenden. Gesetzt den Fall, die Niederlande treten der EÜ bei: wenn es Dieter gelingt, eine unbeschränkte provisorische Sorgerechtsübertragung durch den Zürcher Richter zu erhalten - so der Fall - so wäre das Verbringen nach Curaçao nicht mehr widerrechtlich, jedenfalls vom Schweizer Standpunkt aus gesehen. Gilt dies auch für den Richter auf den Antillen? Art. 12 EÜ gibt hier ein Rätsel auf. Er lautet: Liegt zu dem Zeitpunkt, in dem das Kind über eine internationale Grenze gebracht wird, keine in einem Vertragsstaat ergangene vollstreckbare Sorgerechtsentscheidung vor - nehmen wir also an, zur Zeit der Verbringung habe Doris noch keine Entscheidung nach §§ 1672 BGB, 33 FGG erwirkt gehabt, sie sei erst später erlassen worden - so ist dieses Abkommen auf jede spätere in einem Vertragsstaat ergangene Entscheidung anzuwenden (hier NL-Antillen), mit der das Verbringen auf Antrag für widerrechtlich erklärt wird.
Hier läge aber für die Verbringung Zürich / Curaçao eine Zürcher Entscheidung vor, welche die Rechtmäßigkeit der Verlegung des Aufenthaltsortes involviert. Doch ist auf diese provisorische Entscheidung abzustellen? Meint Art. 12 EÜ nicht die endgültige Übertragung des Sorgerechts? Das EÜ stellt nun - im Gegensatz zum Haager Abkommen - kein Verbot auf, während des Herausgabeverfahrens eine Sorgerechtsentscheidung zur Sache zu treffen. Dies ist einerseits ein Grund, über eine kumulative Anwendung der Abkommen nachzudenken, gibt aber auch wieder Anlaß zur Frage, ob nicht doch die provisorische Sorgerechtsregelung auch die Verbringung über die Landesgrenzen rechtfertigt. 3. Es wäre nun reizvoll, den Fall 2, von Deutschland her gesehen, durchzuspielen. Hier nur soviel: Auch bei ihm handelt es sich um einen Entführungsfall. Zwar hatte die Mutter Käte das Sorgerecht übertragen erhalten, aber ihr Aufenthaltsbestimmungsrecht war eingeschränkt. Und gegen diese
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Beschränkung hatte sie verstoßen. Gleichzeitig hatte sie dem Vater die Ausübung seines Besuchsrechts unmöglich gemacht. Im Sinne des EÜ greift hier die sofortige Rückführung im Hinblick auf Art. 8 I lit. a) nicht, da die Eltern nicht nur deutsche Staatsangehörige sind. Nach dem Haager Abk. (Art. 12) aber käme es auf die Nationalität nicht an. Aber hier wären dann die Versagungsgründe des Art. 13 zu prüfen. Sie gehen weit: Gefahr eines Schadens für das Kind, aber auch Opposition des Kindes, dessen Alter und Reife es angezeigt erscheinen läßt, seine Meinung zu berücksichtigen. Abstrahiert man davon, daß in casu das Sorgerecht nur ein beschränktes Recht zur Bestimmung von Aufenthalt und Wohnsitz einschloß, so fragt sich, wie dem Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kinde zur Durchsetzung verholfen werden kann. Es ist ja für Christof ero wertlos geworden. Beide Abkommen sind auch hier anwendbar. Das Haager Abkommen sieht in seinem Artikel 21 ebenfalls die Einschaltung der Zentralbehörde im Verfahren nach dem Abkommen vor. Wo sich das Besuchsrecht aus dem Gesetz ergibt, bedarf es daher keiner Titulierung. Auch stellt das Abk. in Art. 1 lit. b fest, daß gewährleistet werden solle, daß das Recht zum persönlichen Umgang tatsächlich beachtet wird. Aus Art. 21 ergibt sich ferner, daß die Zentrale Behörde - hier letztlich in Deutschland - das Gericht anzurufen hat, wenn nur so dem Recht zum Umgang Geltung zu verschaffen ist. Nur: So einfach wie bei der Zurückverbringung ist die Entscheidung hier nicht. Art. 21 I I sagt nur, daß Schritte zu unternehmen sind, „um, soweit möglich, alle Hindernisse auszuräumen, die der Ausübung des Hindernisses entgegenstehen": eine harte Nuß für den deutschen Richter. Was das EÜ betrifft, so kann die Sorgerechtsentscheidung betr. dem Umgang mit dem Kinde nach Art. 4, 7, 11 in Deutschland anerkannt und vollstreckt werden. Auch sind die Zentralen Behörden eingeschaltet. Die Anerkennungsversagungsgründe sind jedoch in Art. 10 weiter gefaßt als in den Entführungsfällen. Doch dann heißt es in Art. 11 II: „Die zuständige Behörde des ersuchten Staates" (das ist in Deutschland der Richter der Freiw. Gerichtsbarkeit) „kann" ... „die Bedingungen für die Durchführung und Ausübung des Rechts zum persönlichen Umgang festlegen."
Und hier kommen dann auch die Versagungsgründe des Art. 10 in Betracht. Sie gehen weit. Anzumerken bleibt, daß es sich in den behandelten Fällen um die Durchsetzung des Besuchsrechts handelt. Hat der zum persönlichen Verkehr Berechtigte das Kind mit ins Ausland genommen und bringt er es nach Ablauf der Besuchsfrist nicht zurück, so liegt ein Entführungsfall vor. 55'
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IV. Schlußbemerkung In diesem Bericht geht es darum, die großen Linien der Abkommen aufzuzeigen. Sie stellen gewiß eine Verbesserung des gegenwärtigen Rechtszustandes - insbesondere gegenüber dem MSA - dar. Sie werfen aber auch neue Fragen auf. Diese Probleme sollten zurücktreten gegenüber der verstärkten grenzüberschreitenden Effektivität des Schutzes der Elternrechte. Gewiß, der Praktiker wird stöhnen, daß er neben dem autonomen Recht zwei Abkommen zu handhaben hat. Seine Aufgabe w i r d auch nicht gerade erleichtert, wenn man meinem Vorschlag einer eventuellen oder gar kumulativen Anwendung nachkommt. Aber die Mühe lohnt sich. Gewiß: Ein Abkommen wäre besser. Aber es ist in der Staatenpraxis nicht zu erzielen. Soweit die betroffenen Staaten (wie die Schweiz und wohl auch demnächst Deutschland) beiden Abkommen angehören, um so besser. Aber Kanada und vor allem die USA werden gewiß dem EÜ nicht beitreten. Das Haager Abkommen ist von Kanada ratifiziert und von den USA immerhin gezeichnet worden, auch Australien hat ratifiziert. Wer - etwa als Gutachter - immer wieder auf Kindesentführungen angesprochen wird, hat meist USA-Fälle zu behandeln. Da ist jetzt guter Rat teuer. Mit Hilfe des Haager Abkommens wird sich aber gewiß - hüben wie drüben - manches ändern 21 .
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Vgl. hierzu: Habscheid, Bemerkungen zur Rechtshängigkeitsproblematik im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz einerseits und den USA andererseits, in: Festschrift für Zweigert, 1981, S. 109 ff.
Die Vertragsübernahme: eine neue Rechtsfigur Von Knut Wolfgang Nörr* Den Ausgangspunkt sollen drei Sachverhalte bilden. In einem Mietvertrag überträgt der Vermieter seine sämtlichen Rechte auf einen Dritten, der dadurch an seiner Stelle in die Vermieterposition eintritt; es erhebt sich die Frage, ob der Bürge, der sich für die Mietzinsforderungen des ursprünglichen Vermieters verbürgt hatte, nun auch für die Forderungen des neuen Vermieters haftet. Zweitens: Eine Baufirma kauft eine Baumaschine und w i l l sie nachträglich mittels Leasing finanzieren; zu diesem Zweck tritt eine Leasinggesellschaft in den Kaufvertrag zwischen der Baufirma und dem Hersteller ein; später macht die Leasinggesellschaft geltend, sie sei durch die Baufirma arglistig getäuscht worden; es erhebt sich die Frage, wem gegenüber die Anfechtung zu erklären ist: der Baufirma, dem Hersteller oder beiden. Schließlich: Im Jahr 1952 wurde an einem Grundstück ein Erbbaurecht bestellt; später wechselten sowohl der Eigentümer des Grundstücks als auch der Erbbauberechtigte, wobei beidemal die Erwerber in den obligatorischen Erbbaurechtsvertrag an Stelle der jeweiligen Veräußerer eintraten; als 30 Jahre später der Grundstückserwerber die Anpassung des Erbbauzinses in Hinblick auf den inzwischen eingetretenen Kaufkraftverlust verlangt, erhebt sich die Frage, ob für das Ausmaß des Kaufkraftschwunds auch der Zeitraum vor der Auswechslung der Parteien des Erbbaurechtsvertrags zu berücksichtigen ist. Diese drei Fälle finden sich in drei aufeinander folgenden Bänden der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus der jüngsten Zeit (Bd. 95 bis 97) 1 ; alle drei sind Fälle der Vertragsübernahme, des Themas des vorliegenden Beitrags. Wenn wir in der Entscheidungssammlung weiter zurückgehen, so vermindert sich auffallend die Zahl der Fälle einer Vertragsübernahme mit wachsendem zeitlichen Abstand; das erste Urteil, das in der Begründung die Vertragsübernahme erwähnt, findet sich, wenn wir nichts übersehen haben, im 44. Bd. aus dem Jahr 19652. Wie erklärt sich diese Erscheinung? Im Wirtschaftsleben treten Vertragsübernahmen vor allem bei Dauerschuldverhältnissen und langfristigen Sukzessivlieferungsverträgen auf. Hier finden sich in der Tat neue Vertrags* Der Aufsatz gibt in erweiterter Form einen Vortrag wieder, den ich im Herbst 1987 an der Universität Sapporo gehalten habe. 1 BGHZ 95, 88; BGHZ 96, 302; BGHZ 97, 171. 2 BGHZ 44, 229.
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typen, die einer Vertragsübernahme zugänglich sind; als Beispiel erwähnen wir den Wärmelieferungsvertrag. Andere Vertragstypen sind älteren Datums, aber ihr Vorkommen hat sich vervielfacht; Beispiele sind das Zeitschriftenabonnement und vor allem der Kreditvertrag. Auf der anderen Seite gibt es Verträge, die seit hundert Jahren die Auswechslung von Vertragsparteien kennen; das Hauptbeispiel ist der Bierlieferungsvertrag, ein Kontrakt, der in Bayern ein besonderes Ansehen genießt und der deshalb im bayerischen Ausführungsgesetz zum BGB von 1899 geregelt worden ist. Hier heißt es in Art. 13 Abs. 2, daß der Wirt, der sein Bierlokal veräußert, dafür zu sorgen habe, daß der neue Wirt in den Bierlieferungsvertrag mit der Brauerei eintritt. Es kann also nicht die Entwicklung des Wirtschaftslebens, die Tatsachenseite allein sein, die uns die Zunahme der Entscheidungen zur Vertragsübernahme in der amtlichen Sammlung erklärt. Vielmehr handelt es sich primär um eine Fortentwicklung der Rechtsdogmatik, um die Gewinnung einer neuen rechtsdogmatischen Konzeption. Wenn Sachverhalte der erwähnten Art früher vor die Gerichte kamen, so wurden sie je nach Bedarf unter dem Gesichtspunkt der Forderungsabtretung (§ 398) oder der Schuldübernahme (§§414, 415 BGB) behandelt; man hielt also streng am Konzept des BGB fest, dessen Kernelement das einbahnige Schuldverhältnis im Sinne des § 241 darstellt und das grundsätzlich nur die Übertragung eines solchen Schuldverhältnisses vorsieht, nicht aber des Vertrags als Ganzen. Oder man faßte zwar den Vertrag als Ganzen ins Auge, erkannte aber nicht die Möglichkeit der Nachfolge oder Sukzession in den Vertrag, sondern operierte dann mit der Figur des Neuabschlusses eines Vertrags unter Aufhebung des früheren Vertrags. Auch der Umstand, daß das Gesetz, wie wir noch sehen werden, in bestimmten Fällen eine Vertragsübernahme vorsah, ändert nichts an unseren Feststellungen, denn diese Fälle wurden als eng begrenzte Spezialfälle angesehen und nicht etwa als Beispiele für die Anwendung einer allgemein anerkannten Rechtsfigur. Um die ganze Entwicklung zu verstehen, ist ein kurzer historischer Rückblick angebracht. Die Vertragsübernahme ist eine junge Ausprägung eines viel älteren und umfassenderen Konzepts, nämlich der Rechtsnachfolge oder besser Sukzession. Unter Sukzession verstehen wir die Auswechslung des Rechtssubjekts unter Wahrung der Identität und Kontinuität des oder der Rechtsverhältnisse. Beispiele der Sukzession sind der Erbfall, die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, die Übertragung von Eigentum, die Forderungsabtretung und die Schuldübernahme. Aber diese Rechtsfiguren sind keineswegs alle auf einmal entstanden, sondern erst nach und nach als Tatbestände der Sukzession begriffen worden. Am Anfang standen der Erbfall und die Eigentumsübertragung. An ihnen ist historisch der Gedanke der Sukzession entwickelt worden. Hingegen hat dieser Gedanke das Schuldrecht erst spät und auch dann nur in Stufen erreicht, zuerst mit der Forderungszession, dann der Schuldübernahme und zuletzt, wie schon angedeu-
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tet, mit der Vertragsübernahme. Hiervon hat die Forderungsabtretung die längste Geschichte3. Das römische Recht hatte die Vorstellung vom Schuldverhältnis als iuris vinculum zwischen Gläubiger und Schuldner geprägt. Die Wendung iuris vinculum, das heißt die rechtliche Bindung zur Erbringung einer Leistung, geht auf die Institutionen Justinians (3.13 pr.) zurück, war von dorther seit dem Mittelalter dem gemeinen Recht geläufig und wurde als persönliches Band zwischen den Parteien interpretiert. Die Auffassung hemmte für Jahrhunderte den Durchbruch des Konzepts der Forderungsnachfolge, obwohl aufgrund der praktischen Bedürfnisse die Dogmatik immer wieder im Lauf ihrer Geschichte nahe daran war, das Konzept zu erreichen, beispielsweise im justinianischen Recht selbst oder dann in den frühmodernen Wirtschaftsverhältnissen des Spätmittelalters. Den Umschwung führten aber erst die Theoretiker des Vernunftsrechts herbei, die in der Forderung neben der obligatorischen Beziehung die Eigenschaft als Vermögensgegenstand herausstellten und eine allgemeine Lehre der Rechtsübertragung entwickelten, die neben der Sache auch die Forderung umfaßte. In Deutschland brachte allerdings die historische Schule einen Rückschlag, der aber bald von Windscheid und Bähr aufgefangen wurde. I m Dresdner Entwurf eines Gesetzes über die Schuldverhältnisse von 1866 hat sich das Konzept der Sukzession in die Forderung endgültig durchgesetzt. Ruhiger verlief die Entwicklung zur Schuldübernahme. Eine Sukzession in Schulden konnte man sich noch weniger vorstellen, und einen übertragungsfähigen Gegenstand bildete die Verpflichtung nur in Form eines passiven Vermögenspostens. Hier blieb das römische Konzept der Novation und Delegation weithin unangefochten. Der Weg zum modernen Verständnis wurde erst 1853 durch eine kleine Monographie aus der Feder Berthold Delbrücks, eines Praktikers, geöffnet 4 . Einmal aufgeworfen, setzte sich freilich der Sukzessionsgedanke nun auch für die Passivseite rasch durch und wurde auch vom BGB anerkannt. Die Vertragsübernahme schließlich hat sich als eigene Rechtsfigur der Sukzession erst in unserem Jahrhundert entwickelt. Dem allgemeinen Vertrags- und Schuldrecht des BGB war sie unbekannt. Es ist bemerkenswert, daß zwischen dem hohen Abstraktionsgrad des Rechtsgeschäfts einerseits und des Schuldverhältnisses anderseits für den Vertrag offenbar ein Rest der Vorstellung einer persönlichen Beziehung zwischen den Vertragsparteien bestehen blieb; jedenfalls dauerte es 3 Zur Geschichte der Zession s. H. Schumann, Die Forderungsabtretung im deutschen, französischen und englischen Recht, Entwicklung und heutige Gestaltung, 1924; K. Luig, Zur Geschichte der Zessionslehre, 1966; ders., Zession und Abstraktionsprinzip, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert II, 1977, S. 112; B. Huwiler, Der Begriff der Zession i n der Gesetzgebung seit dem Vernunftrecht, 1975; ders., Begriff und Rechts Wirkung: zum Zessionsrecht des Obligationenrechts von 1881, in: Das Obligationenrecht 1883 - 1983, hrsg. von P. Caroni, 1984, S. 209. 4 Berthold Delbrück, Die Übernahme fremder Schulden nach gemeinem und preußischem Rechte, 1853.
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nach Inkrafttreten des BGB seine Zeit, bis man auch zur Objektivierung und Mobilisierung des Vertrags als Ganzen schritt. In den ersten Jahrzehnten hielt die herrschende Lehre daran fest, daß die Vertragsstellung nur im Wege der Kombination von Forderungsabtretung und Schuldübernahme übertragen werden könne. Erst in den 50er Jahren gewann die Gegenansicht an Boden. Ihre dogmatische Zusammenfassung fand sie in der von H. Pieper 1963 verfaßten Habilitationsschrift 5 . In der Rechtsprechung wurde die neue Rechtsfigur endgültig in den 70er Jahren anerkannt. Mit dieser Entwicklung war sozusagen die letzte Bastion der Vorstellung vom persönlichen Band zwischen den Vertragsparteien eingerissen. Der Wechsel der Vertragspartei bedeutete nicht mehr eine Summe von Zessionen und Schuldübernahmen, sondern wurde als ein einheitliches Rechtsgeschäft begriffen. Die Vertragsübernahme hat sich seitdem als neuer Typus der Sukzession ihren Platz gesichert. Nebenbei sei vermerkt, daß der Gedanke der Sukzession auch mit der Vertragsübernahme noch nicht ausgeschöpft zu sein scheint, sondern sich weiterhin neue Bereiche erobert. Das letzte Beispiel bietet hierfür die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Vorgesellschaft der GmbH, das heißt zu dem Gesellschafts Verhältnis, das während des Zeitraums zwischen der vertraglichen Errichtung der GmbH und ihrer Eintragung ins Handelsregister besteht; seit der Leitentscheidung im 80. Bd. von 19816 gilt die GmbH als Gesamtnachfolgerin der Vor-GmbH, womit ein weiterer Fall der Universalsukzession ins dogmatische Leben getreten ist. Die Vertragsübernahme ist nach alldem eine junge Rechtsfigur, und so ist es nicht verwunderlich, daß sie dogmatisch noch nicht nach allen Seiten ausgereift scheint 7 . Trotzdem läßt sich heute schon eine Grundstruktur feststellen, an deren Stabilität nicht mehr zu zweifeln ist. Aber woher werden hierfür die Bausteine genommen, da das Gesetz die Rechtsfigur nicht kennt? Hier bewährt sich zunächst wieder einmal der hohe Abstraktionsgrad des BGB. Viele Regeln aus der Lehre zum Rechtsgeschäft lassen sich auf den Übernahmevertrag anwenden, also auf die Vereinbarung, die zur Auswechslung der Vertragsparteien führt. Was den übernommenen Vertrag selbst, sein weiteres Schicksal nach der Übernahme betrifft, so können bestimmte Regeln aus der Zession und Schuldübernahme herangezogen werden. Eine andere Quelle bilden die gesetzlichen Fälle einer Vertragsübernahme. Das Gesetz hat auf mehreren Gebieten eine Vertragsübernahme als Folge bestimmter Rechtsvorgänge angeordnet. Das früher bekannteste Beispiel war der Grundsatz „Kauf bricht nicht Miete" in § 571 BGB; hiernach tritt 5 Helmut Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt: zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Vertrags Verhältnis, 1963. 6 BGHZ 80, 129. 7 Zum folgenden s. Nörr, in: K. W. Nörr / R. Scheyhing, Sukzessionen (Handbuch des Schuldrechts in Einzeldarstellungen, hrsg. von J. Gemhuber, Bd. 2), 1983, S. 246 ff.
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der Erwerber der vermieteten Sache eo ipso in den Mietvertrag zwischen dem Veräußerer und dem Mieter ein. Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Versicherungsrecht; wird eine versicherte Sache übereignet, so geht das Versicherungsverhältnis kraft Gesetzes auf den neuen Eigentümer über (§69 VVG). Gerade zu dieser Norm hat die versicherungsrechtliche Literatur und Rechtsprechung verschiedene Regeln entwickelt, die sich auf die allgemeine Lehre von der Vertragsübernahme anwenden lassen. Von großer praktischer Bedeutung ist schließlich der gesetzliche Übergang der Arbeitsverhältnisse, wenn der Betrieb den Inhaber wechselt; diese Regelung wurde 1972 in das BGB eingefügt (§ 613 a). Aber um Bausteine für die Vertragsübernahme zu gewinnen, können wir auch auf verwandte Rechtsfiguren zurückgreifen. Am nützlichsten erweist sich hier das Gesellschaftsrecht, genauer: die Regelung der Übertragung des Anteils an einer Personengesellschaft. Freilich dürfen die hierzu entwickelten Rechtssätze nicht unbesehen auf die Vertragsübernahme angewandt werden. Denn zwischen den beiden Rechtsfiguren bestehen Unterschiede, die vor allem davon herrühren, daß mit dem Gesellschaftsanteil die Übertragung der Mitgliedschaft verknüpft ist und die Mitgliedschaft an einer Personengesellschaft über die Stellung als bloße Vertragspartei hinausgeht. Aus diesen Elementen läßt sich eine Dogmatik der Vertragsübernahme errichten. Natürlich bleiben, wie in allen Gebieten unseres Faches, Lücken übrig, die dann der Jurist kunstgerecht zu füllen hat. Hierbei entstehen regelmäßig Kontroversen, die erst nach einiger Zeit zu einer communis opinio führen. Im folgenden erörtern wir zwei Fragenkreise, die solche Kontroversen erst kürzlich aufgeworfen haben. Daran schließt sich ein dritter Fragenkreis an, der uns in den Kern der Idee der Sukzession führen soll. Der erste Fragenkreis betrifft den Abschluß des Übernahmevertrags. An dem Vertrag müssen sich alle drei Betroffenen beteiligen: der Übernehmer, der Ausscheidende und der Verbleibende. Die Beteiligung aller drei wird vom Grundsatz der Privatautonomie gefordert, der auch die Freiheit in der Wahl des Vertragspartners umfaßt. Hierüber besteht kein Streit. Bisher war auch nicht bestritten, daß den drei Beteiligten zwei Wege offenstehen. Sie können einen dreiseitigen Vertrag schließen. Oder zwei Beteiligte schließen den Vertrag und der Dritte erteilt seine Zustimmung. Beide Abschlußarten hat auch der Bundesgerichtshof wiederholt für möglich erklärt. Gegen diese Ansicht ist nun neuerdings Widerspruch erhoben worden. Vor vier Jahren erschien die Habilitationsschrift von H. Dörner mit dem Titel „Dynamische Relativität". Die Schrift setzte sich zum Ziel, ein System oder Theoriengefüge der Singularsukzession herauszuarbeiten, unter das die Forderungsabtretung, die Schuld- und die Vertragsübernahme sowie der Vertrag zugunsten Dritter vereint werden können. Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung erörtert Dörner zunächst die Schuldübernahme 8 . Nach dem Gesetz
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kann sie auf zweierlei Weise erfolgen: durch Vertrag zwischen Übernehmer und Gläubiger (§ 414) und durch Vertrag zwischen Übernehmer und Ausscheidendem unter Zustimmung des Gläubigers (§ 415). Dörner ist der Meinung, daß in § 415 das Grundmuster eines Übernahmevertrags vorliege. Es habe daher auch für die Vertragsübernahme zu gelten. Neben diesem Grundmuster sei für den dreiseitigen Vertrag kein Platz. Um diese These zu begründen, geht Dörner vom Begriff der Zuwendung aus. Die Zuwendung vollzieht sich zwischen der ausscheidenden und der eintretenden Partei, denn zwischen ihnen finden die Wertverschiebungen im Aktiv- und Passivvermögen statt. Auf diesem Zuwendungsverhältnis läge nun der Schwerpunkt der Regelung des Übernahmegeschäfts. Für den Verbleibenden ist wichtig, ob die Vermögenslage und Zahlungsfähigkeit des Übernehmers nicht schlechter ist als die des Ausscheidenden. Unter diesem Aspekt sei auch der Verbleibende vom Übernahmevertrag betroffen, aber doch nur mittelbar. Daraus schließt Dörner auf ein „Interessengefälle" zwischen den Parteien der Übernahme einerseits und dem Verbleibenden andererseits. Diesem Interessengefälle entspräche nicht der dreiseitige Vertrag, sondern nur der Vertrag nach Muster des § 415. Aber das Interessengefälle wird nicht näher belegt und bewiesen. Es wird kein Maßstab entwickelt, an dem sich die Interessen der Beteiligten abwägen und bewerten lassen. Warum soll das Interesse des Gläubigers an der Solvenz des Schuldners geringer zu bewerten sein als das Interesse des Ausscheidenden und Übernehmers an der Vermögensverschiebung zwischen ihnen? Hier zeigen sich einmal mehr die Fallstricke der Interessenjurisprudenz. Hinzu kommt eine weitere Erwägung. Es gibt Konstellationen, in denen der Anstoß zur Vertragsübernahme gerade vom Verbleibenden ausgeht. Ein Beispiel ist der schon genannte Bierlieferungsvertrag. Wenn er vom neuen Gastwirt übernommen werden soll, so steht das Absatzinteresse der Brauerei, also des Verbleibenden im Vordergrund. Im Ergebnis ist daher die Ansicht Dörners abzulehnen und den Beteiligten die Wahl offenzuhalten, welchen Weg des Übernahmevertrags sie gehen wollen. Der zweite Fragenkreis hängt mit dem ersten zusammen. Es geht um die Folgen von Willensmängeln, die bei Abschluß des Übernahmevertrags auftreten. Das BGB hat bei der Regelung der Willensmängel an das einseitige Rechtsgeschäft und an den zweiseitigen Vertrag gedacht, nicht aber an die Konstellation, daß drei Parteien notwendigerweise am Vertrag beteiligt sind. Einige Vorschriften erwähnen allerdings neben dem Erklärenden und dem Erklärungsempfänger noch andere Dritte, vor allem § 123 Abs. 2 S. 1 BGB zur arglistigen Täuschung; hiernach kann, wenn ein Dritter die Täuschung verübt hat, der Getäuschte nur anfechten, wenn der Erklärungsemp8 Heinrich Dörner, Dynamische Relativität: der Übergang vertraglicher Rechte und Pflichten, 1985, S. 133 ff.
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fänger die Täuschung des Dritten hätte erkennen müssen. Aber unter dem Dritten versteht das Gesetz solche Personen, die am Vertragsschluß unbeteiligt sind. Am Übernahmevertrag sind aber alle drei Betroffenen beteiligt. Hierbei ist es gleichgültig, ob sie einen dreiseitigen Vertrag schließen oder ob einer von ihnen im Wege der Zustimmung am Vertrag beteiligt ist. In jedem Fall stehen dem Erklärenden, der seine Willenserklärung anfechten will, zwei Erklärungsempfänger gegenüber. Daraus ergeben sich auch Folgerungen für den Schadensersatz. Wer seine Willenserklärung wegen Irrtums anficht, muß unter bestimmten Voraussetzungen dem Empfänger Schadensersatz leisten. Nehmen wir als Beispiel den Übernehmer, der sich über den Inhalt des übernommenen Vertrags, also etwa über die Höhe der auf ihn zukommenden Verbindlichkeit irrt; er kann nach § 119 Abs. 2 BGB anfechten, hat aber Schadensersatz nach § 122 BGB den beiden anderen zu leisten, auch wenn einer von ihnen nur im Wege der Zustimmung am Vertragsschluß beteiligt war. Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, wem gegenüber der Anfechtungsberechtigte die Anfechtung erklären muß (§ 143 BGB). Die einfachste Lösung lautet dahin, daß die Anfechtung immer den beiden anderen gegenüber zu erfolgen hat, so daß die Anfechtung wirkungslos ist, wenn sie nur einem gegenüber erklärt worden ist. Diese Lösung hat den Vorzug der Klarheit für sich, doch liegt ihr Nachteil darin, daß sie den Anfechtungsberechtigten auch dann im Stich läßt, wenn er die zweite Anfechtungserklärung aufgrund eines entschuldbaren Versehens unterlassen hatte. Die zweite Lösung stellt darauf ab, wem gegenüber im Einzelfall die anfechtbare Willenserklärung abgegeben worden war, und benennt diesen Beteiligten dann als Anfechtungsgegner; aber diese Lösung ist für den dreiseitigen Vertragsschluß kaum durchzuführen. Die dritte Lösung läßt dem Anfechtungsberechtigten die Wahl, wem gegenüber er die Anfechtung aussprechen will; diese Lösung muß dann aber zusätzlich für den Drittbeteiligten sorgen, der von der Anfechtung nichts erfährt und deshalb bestimmte Vermögensdispositionen trifft oder unterläßt 9 . Das Problem des Adressaten der Anfechtungserklärung hat den Bundesgerichtshof in dem zu Beginn dieses Beitrags erwähnten Fall des Leasings der Baumaschine beschäftigt 10 . Ohne alle Lösungsmöglichkeiten zu erörtern, hat er sich für die erste Lösung entschie9 Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten. Im Recht der Forderungsabtretung besteht die Vorschrift, daß der Schuldner sich auf eine Mitteilung des Gläubigers verlassen kann, in der ihm die Abtretung angezeigt wird; für den Schuldner gilt dann der angegebene Zessionar als Gläubiger, auch wenn die Abtretung nicht wirksam erfolgt war (§ 409 BGB). Diese Vorschrift kann man auf unsere Konstellation zugunsten des Dritten anwenden, dem die Anfechtung nicht mitgeteilt wird (vgl. Dörner, nächste Fn.). Der andere Weg geht dahin, dem Anfechtenden oder dem Aiifechtungsgegner, je nach Lage, die Verpflichtung aufzuerlegen, den Dritten von der erfolgten Anfechtung zu benachrichtigen, eine Verpflichtung, deren Verletzung dem Dritten einen Schadensersatzanspruch gewährt. 10 BGHZ 96, 302; hierzu Dörner, NJW 1986, S. 2916ff.
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den und den Satz aufgestellt, daß eine Anfechtung nur wirksam sei, wenn sie den beiden anderen Beteiligten gegenüber erklärt worden ist. Bedeutsam ist hierbei, daß das Gericht seine Lösung nicht davon abhängig macht, ob der Übernahmevertrag dreiseitig oder zweiseitig unter Zustimmung des Dritten zustandegekommen ist. Diese Ansicht ist meines Erachtens zu erweitern und als allgemeiner Grundsatz die Regel aufzustellen, daß die Fehlerhaftigkeit des Übernahmevertrags denselben Maßstäben unterliegt, gleichgültig welche Art des Vertragsschlusses die Beteiligten gewählt hatten. Die bisher behandelten Fragen betrafen das Übernahmegeschäft, den Vertrag, der die Übernahme herbeiführt. Mit dem dritten Fragenkreis wenden wir uns dem Gegenstand des Geschäfts zu, dem übernommenen Vertrag selbst. Der übernommene Vertrag hat auf einer Seite die Parteien gewechselt, an die Stelle des Ausscheidenden ist der Übernehmer getreten. Im übrigen hat der übernommene Vertrag seine Identität gewahrt. So lautet jedenfalls der Grundsatz. Die Vertragsübernahme spricht man als Fall der Sukzession an, weil mit dem Begriff der Sukzession die Vorstellung von der Kontinuität und bleibenden Identität des Rechtsverhältnisses trotz Subjektswechsel verknüpft ist. Der Vertrag geht also in der Lage über, in welcher er sich im Zeitpunkt des Subjektwechsels befand. Ein Beispiel bietet die am Anfang unseres Beitrags erwähnte Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Erhöhung des Erbbauzinses 11 . Den Hintergrund bildet das Dauerthema des Nominalismus der Geldschuld. Das Prinzip des Nominalismus wird nach wie vor aufrecht erhalten, aber die Bereiche, in denen die Rechtsprechung von dem Prinzip abweicht, vermehren sich ständig. Zu diesen Bereichen gehört neuerdings auch der Erbbauzins. Der Bundesgerichtshof erlaubt eine Anpassung des Erbbauzinses, sobald ein Geldwertschwund von mehr als 60% eingetreten ist. In unserer Entscheidung hatte der Erbbaurechts vertrag durch Vertragsübernahmen auf beiden Seiten die Parteien gewechselt. Aber diese Vorgänge ändern nichts daran, daß für die Berechnung des Kaufkraftverlustes der gesamte Zeitraum einbezogen wird, also auch der Zeitraum, der vor den Vertragsübernahmen liegt. Die Beispiele, in denen das Identitätsprinzip zum Ausdruck kommt, lassen sich beliebig vermehren. So gehört hierher auch die zu Beginn angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Bürgschaft; wer sich für Mietzinsforderungen verbürgt hat, haftet auch für die Mietzinsforderungen des Übernehmers des Mietvertrags 12 . Aber das Identitätsprinzip gilt nicht 11
BGHZ 97, 171; s. schon BGHZ 96, 371. BGHZ 95, 88; hierzu Nörr, JZ 1985, S. 1095f. Zu Recht macht der BGH darauf aufmerksam, daß das Ergebnis beim Kreditvertrag regelmäßig anders ausfällt. Wenn eine andere Bank das Kreditverhältnis übernimmt, dann haftet der Kreditbürge nur für den vor der Vertragsübernahme, nicht aber für den danach, durch die neue Bank, gewährten Kredit. Denn der Anspruch auf Rückzahlung des Kredits, für den der Bürge haftet, entsteht nicht schon mit der Vereinbarung des Kredits, sondern erst mit 12
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unbegrenzt. Es gibt Konstellationen, in denen die Vorstellung der Identität nicht ausreicht, weil noch andere Erwägungen eine Rolle spielen. Solche Konstellationen wollen wir im folgenden erörtern. Das erste Beispiel betrifft die Unwirksamkeit des übernommenen Vertrags. Grundsätzlich ist der Vertrag nach der Übernahme genauso wirksam oder unwirksam wie er es vorher gewesen ist. Er bleibt bedingt oder befristet, er bleibt nichtig oder anfechtbar. Aber es gibt doch Ausnahmen. So kann für Verträge, die der behördlichen Genehmigung bedürfen, anderes gelten. Wir bringen ein Beispiel. Nach dem Grundstückverkehrsgesetz bedürfen Verkäufe von landwirtschaftlichen Grundstücken aus agrarpolitischen Gründen der behördlichen Genehmigung. Diese kann unter anderem davon abhängig gemacht werden, daß der Käufer das Grundstück an einen Landwirt weiterverpachtet oder weiterveräußert 13 . Wenn also das Grundstück zunächst an einen Landwirt verkauft worden ist, dann wird die Genehmigung ohne weiteres erteilt und der Kaufvertrag ist voll wirksam. Übernimmt jetzt aber an Stelle des Landwirts ein berufsfremder Stadtbewohner den Kaufvertrag, so muß erneut um die Genehmigung nachgesucht werden, um die Prüfung zu ermöglichen, ob die neue Kaufvertragspartei das Grundstück weiterzuverpachten hat. Juristisch tritt hier die eigenartige Situation ein, daß sich der voll wirksame Kaufvertrag mit der Vertragsübernahme eo ipso in einen schwebend unwirksamen Vertrag zurückverwandelt. Dieses Ergebnis wird vom Zweck des Grundstückverkehrsgesetzes gefordert; ihm gegenüber hat der Identitätsgedanke zurückzutreten. Die Wirksamkeit des Vertrags knüpft an bestimmte Eigenschaften einer Vertragspartei an; w i r d die Partei ausgewechselt, so stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit des Vertrages neu. Ein zweites Thema sind die Gestaltungsrechte. Ihre Behandlung gehört zu den umstrittensten Problemen der Singularsukzession überhaupt. Allerdings ist hier die Lage für die Vertragsübernahme einfacher als für die Einzelübertragung von Forderungen und Schulden, für die Zession und die Schuldübernahme. Wir wollen im folgenden vorweg auf die Problematik bei der Zession eingehen; was wir schildern, gilt mutatis mutandis auch für die Schuldübernahme. Die Forderung, die abgetreten wird, stammt meist aus einem gegenseitigen Vertrag. Sie ist daher regelmäßig mit der Gegenforderung synallagmatisch verknüpft. Diese synallagmatische Verflechtung gehört zum Wesen der aus einem gegenseitigen Vertrag entstehenden Forderung. Wird jetzt die Forderung abgetreten, so würde das Konzept der Identität voraussetzen, daß die Forderung nicht gewissermaßen isoliert, sondern dessen Auszahlung. Hier bewährt sich also die Auffassung, daß der Darlehens vertrag eine Mischfigur darstellt, die neben den gewöhnlichen Merkmalen des Konsensualvertrags auch den Charakter eines Realvertrags besitzt. Wegen dieser Eigenart ist für das Darlehen die Identitätsvorstellung zu modifizieren. 13 §§10 und 11 GrundstückverkehrsG.
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in ihrer synallagmatischen Natur übergeht. Die synallagmatische Natur fließt aber nicht aus der reinen Gläubigerstellung, sondern aus der Vertragsstellung als Ganzes, von der die Gläubigerstellung nur einen Teil ausmacht. Mit anderen Worten, durch die Zession würde nicht nur die Gläubigerstellung, sondern auch ein Stück der Vertragsstellung übergehen, wie immer dieses Stück dann zu definieren wäre. Aber diese Folgerung steht im strikten Widerspruch zum Konzept des Gesetzes, das dem Zessionar die Gläubigerstellung verschafft, das ihm aber nicht in irgendeiner Form zum Vertragsbeteiligten erhebt, also keinen Beitritt des Zessionars zum Vertrag zwischen Zedent und Schuldner wünscht. Diesen Widerspruch kann man nur so auflösen, daß man für die Abtretung die Identität in einem eingeschränkten Sinne versteht. Die Einschränkung der Identität kann natürlich nicht dem Begriff der Identität selbst entnommen werden, sondern ist aus anderen Gesichtspunkten herzuleiten. Das gilt nun in besonderem Maße für die Gestaltungsrechte. Wie ihre Ausübung zwischen Zessionar und Zedent verteilt wird, wer von ihnen empfangszuständig ist für Gestaltungserklärungen des Schuldners, kann nicht aus dem Identitätsgedanken beantwortet werden, sondern muß auf andere Erwägungen zurückgreifen. Hier ist nun die Lage für die Vertragsübernahme leichter. Denn der Übernehmer folgt in die ganze Vertragsstellung des Ausscheidenden nach, so daß der synallagmatische Charakter von Forderungen oder Schulden keine Schwierigkeiten bereitet. Aus diesem Grund stehen dem Übernehmer das Recht zum Rücktritt und zur Kündigimg des Vertrags zu, desgleichen das Recht, zum Schadensersatz wegen Nichterfüllung des Vertrags überzugehen. Nicht ganz so reibungslos verlaufen allerdings die Überlegungen zur Anfechtung wegen Willensmängel. (Es geht jetzt um die Anfechtung des übernommenen Vertrags, nicht des Übernahmevertrags wie oben.) Wenn sich der Ausscheidende geirrt hatte oder er arglistig getäuscht worden war, dann hilft die Vorstellung der Identität nicht weiter. Denn der Willensmangel bezieht sich auf die Schließung des Vertrags; dieser Tatbestand wird durch die Vertragsübernahme in keiner Weise verändert. Ziehen wir die Parallele zur Auslegung: Wie sich die Auslegung des übernommenen Vertrags nach den Umständen richtet, die bei seinem Abschluß zwischen Ausscheidendem und Verbleibendem gegeben waren, so wäre der Vertrag auch nach wie vor von demjenigen anzufechten, dessen Vertragserklärung auf Willensmängeln beruhte. Wir müssen daher das Problem von einer anderen Seite angehen. Als sich der Gesetzgeber entschloß, Willensmängel zu berücksichtigen und ihnen abzuhelfen, stand er vor zwei Lösungsmöglichkeiten. Nach der einen bewirkte der Willensmangel die Nichtigkeit der Willenserklärung, nach der anderen, wofür sich das BGB schließlich entschieden hat, die Anfechtbarkeit derselben, das heißt, es wurde dem Erklärenden überlassen, ob er seine Willenserklärung vernichten will. Das Anfechtungsrecht ist also ein bloß technisches Instrument, um an die Stelle schlichter Nichtigkeit die Ent-
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Scheidung hierüber dem betroffenen Vertragsteil zu überlassen. Wenn w i r die Funktion ins Auge fassen, dem wahren Willen zum Siege zu verhelfen, dann sind die beiden Lösungen untereinander austauschbar. Es ist nun kein Zweifel, daß sich der Übernehmer, hätte das BGB die erste Lösung gewählt, auf die Nichtigkeit des Vertrags berufen könnte. Technisch läge hier eine Einwendung vor. Bei funktionaler Betrachtung kann aber für die zweite Lösung nichts anderes gelten; die Ausübung des Gestaltungsrechts der Anfechtung hat dieselbe Aufgabe und Wirkimg wie die Erhebung des Einwands der Nichtigkeit. Es ist also dem Übernehmer das Recht zur Anfechtung zu verleihen. Das Ergebnis läßt sich auch aus der Erwägung rechtfertigen, daß das Anfechtungsrecht nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern auf den Vertrag bezogen ist und daher der Partei des Vertrages zustehen muß. Es gibt keinen Sinn, einen Vertrag mit seinen Wirkungen auf einen anderen zu übertragen und ausgerechnet die Fähigkeit, den Vertrag zunichte zu machen, bei jemandem zu belassen, der an dem Vertrag nunmehr völlig unbeteiligt ist. Allerdings gilt diese Lösung nicht uneingeschränkt. Wir müssen noch zwischen unteilbaren und teilbaren Verträgen unterscheiden. Zu den unteilbaren Verträgen gehören solche mit einmaliger oder mit einheitlicher Leistung, z.B. die Subskription eines mehrbändigen Kommentars. Hier gilt uneingeschränkt, daß dem Übernehmer des Vertrags das Anfechtungsrecht zusteht. Anders ist die Lage bei zeitlich teilbaren Verträgen wie der Miete oder dem Bierlieferungsvertrag. Hier ist daran zu erinnern, daß das BGB eine Teilnichtigkeit des Vertrags kennt (vgl. § 139 BGB), die sich gerade auch auf den Zeitfaktor beziehen kann. Diese Rechtsfigur machen wir uns nun zunutze. Danach verbleibt dem Ausgeschiedenen das Anfechtungsrecht hinsichtlich des Vertragsabschnitts, zu dem er Vertragspartei gewesen war; er ficht den Vertrag, zeitlich gesehen, nur teilweise an, seine Anfechtung bewirkt Teilnichtigkeit des Vertrags vor der Übernahme. Entsprechend steht dem Übernehmer die Anfechtung hinsichtlich seines Vertragsabschnitts zu, seine Anfechtung führt zur Teilnichtigkeit des Vertrags nach der Übernahme. Fassen w i r die Überlegungen zur Identität kurz zusammen. Die Vertragsübernahme ist eine junge Rechtsfigur, eine neue Kategorie der Rechtsnachfolge oder Sukzession. Man spricht von Nachfolge und Sukzession, weil zwar eine Vertragspartei auswechselt, im übrigen aber das Vertragsverhältnis seine Identität bewahrt. Allerdings haben w i r einige Konstellationen geschildert, in denen das Konzept der Identität uns nicht weiterbringt. Trotzdem ist an ihm festzuhalten. Der Begriff der Identität ist ein echter juristischer Begriff. Wie alle anderen Begriffe enthält er ein bestimmtes Programm, in welchem sich erklärende und normative Elemente zusammenfinden. Wir brauchen solche Programme, um uns einen Weg durch das Dickicht der Erscheinungen des Lebens zu bahnen. Ohne die Begriffe wäre die Welt,
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auch die juristische Welt unzugänglich. Natürlich gibt es nicht nur ein, sondern viele, unzählig viele Programme. Sie auf einen einzigen Nenner zu bringen, ist noch niemandem gelungen. So stoßen sie aufeinander, geraten in Konflikt oder suchen einen modus vivendi. Kein Programm, kein juristischer Begriff kann sich in reiner Form behaupten und in allen Konsequenzen verwirklichen. Er muß sich immer Abstriche und Beschränkungen gefallen lassen. Aber die Notwendigkeit, mit juristischen Begriffen zu arbeiten, wird hierdurch nicht im geringsten tangiert. Jeder neue Schritt in der Rechtsentwicklung bestätigt diesen Zwang; die Vertragsübernahme bildete hiervon keine Ausnahme.
Strukturfragen des geplanten Betreuungsrechts Von Dieter Schwab I. Einleitung Das Jahr 1989 entscheidet nach aller Voraussicht über das Schicksal einer der wichtigsten Reformvorhaben des deutschen Familien- und Personenrechts in diesem Jahrhundert: des Plans, die Entmündigung abzuschaffen und die Vormundschaft und Pflegschaft über Volljährige durch ein einheitliches Rechtsinstitut der „Betreuung" (oder „Beistandschaft") zu ersetzen. Das Projekt hat in der weiteren Öffentlichkeit, gerade auch bei älteren Menschen und ihren Interessenvertretungen, große Beachtung gefunden und ist weit überwiegend auf lebhafte Zustimmung gestoßen. Da der rechtspolitische Konsens auch über die Parteigrenzen hinweg erzielt zu sein scheint, kann mit der Verwirklichung des Reformvorhabens gerechnet werden (wenn nicht die Kostenfrage in letzter Minute Hindernisse aufrichtet). Die Unterstützung des genannten legislatorischen Projekts entbindet die Rechtswissenschaft nicht von der Aufgabe, die Ausgestaltung des neuen Betreuungsverhältnisses durch den derzeit vorliegenden Entwurf kritisch auf ihre Anwendungs- und Strukturprobleme hin zu untersuchen. Einige zentrale Strukturfragen sollen der Gegenstand des folgenden Beitrags sein. Er versteht sich als Zeichen tiefen Dankes an meinen akademischen Lehrer Paul Mikat, der als Wissenschaftler wie als Politiker die großen familienrechtlichen Reformen der vergangenen Jahrzehnte begleitet und mitgestaltet hat. 1 Der Stand der Reformarbeiten stellt sich in dem Augenblick, da diese Abhandlung entsteht, wie folgt dar. Nach mehrjährigen Vorarbeiten 2 hat 1 Zur Eherechtsreform siehe insbesondere: Paul Mikat, Möglichkeiten und Grenzen einer Leitbildfunktion des bürgerlichen Ehescheidungsrechts, Paderborn 1969 (auch in: lus Sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag, hrsg. von Audomar Scheuermann und Geord May, München / Paderborn / Wien 1969; ferner in: Paul Mikat, Religionsrechtliche Schriften, hrsg. von Joseph Listi, Berlin 1974, Bd. 2, S. 1057 ff.); Scheidungsrechtsreform in einer pluralistischen Gesellschaft, Bielefeld 1970 (auch in: FamRZ 1970, S. 333 ff., und in: Religionsrechtliche Schriften, ebd., Bd. 2, S. 1087 ff.); Zum Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts, FamRZ 1972, S. 1 ff. (auch in: Religionsrechtliche Schriften, ebd., Bd. 2, S. 1129 ff.) 2 Im April 1986 war vom Bundesminister der Justiz eine interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe eingesetzt worden, welche die Teilentwürfe erstellt hat. Die Arbeit
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der Bundesminister der Justiz im November 1987 zunächst einen Diskussions-Teilentwurf eines „Gesetzes über die Betreuung Volljähriger (Betreuungsgesetz - BtG) vorgelegt (im folgenden: DE I). 3 Der zweite Teilentwurf folgte im April 1988.4 Unter dem 2. November 1988 präsentierte der Bundesminister der Justiz den Referentenentwurf (im folgenden: RE), zu dem die beiden Teile des Diskussionsentwurfs unter gewissen sachlichen Modifikationen und Erweiterungen zusammengefaßt worden waren. 5 Unter dem 1.2. 1989 hat die Bundesregierung sodann den Regierungsentwurf eines Betreuungsgesetzes (RegE) - weitgehend identisch mit dem Referentenentwurf - dem Bundesrat zugeleitet (Bundesrats-Drucksache 59/89; Bundestags-Drucksache 11/4528). Grundfragen der Reform hatten den Bundestag bereits im Vorfeld beschäftigt (Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der SPD, Bundestags-Drucksache 10/5970; Anträge der SPD-Fraktion vom August 1986 und August 1987, Bundestags-Drucksache 10/5911 und 11/669). Die Diskussion in der breiteren Öffentlichkeit setzte vor allem mit dem Bekanntwerden der Diskussions-Teilentwürfe ein, zu denen Fachminister der Länder, Gerichte und zahlreiche Verbände Stellung nahmen. 6 Als sehr geschickte Zeitplanung erwies es sich, daß die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags die Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts über Erwachsene als ein Thema der Beratungen des im September 1988 zu Mainz stattfindenden 57. Deutschen Juristentages wählte. 7 Die in Mainz gefaßten Beschlüsse8 drücken insgesamt eine breite Unterstützung der in den Entwürfen verfolgten rechtspolitischen Linie aus.
stützte sich auf Gutachten, siehe: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Gutachten zu einer Neuordnung des Entmündigungs-, des Vormundschafts- und des Pflegschaftsrechts, Bonn 1985 (Jahreszahl auf den Innenseiten des Buches: 1986); Gisela Zenz / Barbara von Eicken / Ellen Ernst / Cornelia Hoffmann, Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige, Eine Untersuchung zur Praxis und K r i t i k des geltenden Rechts, Bonn 1987. 3 Zunächst als Typoskript verbreitet, dann in Buchform erschienen unter dem Titel: Diskussions-Teilentwurf Gesetz über die Betreuung Volljähriger (Betreuungsgesetz - BtG), hrsg. vom Bundesminister der Justiz, November 1987, Bonn 1987. Nach dieser gedruckten Ausgabe wird im folgenden zitiert. 4 Diskussions-Teilen twurf eines Gesetzes über die Betreuung Volljähriger (Betreuungsgesetz - BtG) Teil II, herausgegeben vom Bundesminister der Justiz. 5 Entwurf eines Gesetzes über die Betreuung Volljähriger (Betreuungsgesetz BtG), Stand: 2. November 1988. 6 Die Stellungnahmen finden sich aufgelistet in der Druckfassung meines auf dem 57. Deutschen Juristentag gehaltenen Vortrags (Verhandlungen des 57. Deutschen Juristentages, Bd. 2, Sitzungsberichte, München 1989, S. Κ 8 Fn. 1). 7 Das Thema der Abteilung 2 des 57. Deutschen Juristentages lautete: „Empfiehlt es sich, das Entmündigungsrecht, das Recht der Vormundschaft und der Pflegschaft über Erwachsene sowie das Unterbringungsrecht neu zu ordnen?" Dazu die Gutachten B/C von Heinz Holzhauer und Jens Bruder, München 1988, sowie die Referate und Diskussionen (Fn. 6). β Abgedruckt auch in NJW 1988, S. 2998 f.
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Bei diesem Stand der Dinge scheint es wichtig, daß die Wissenschaft vom Zivilrecht sich der Aufgabe stellt, die als künftiges Recht angesteuerten Regelungen kritisch auf ihre rechtspolitische Stimmigkeit, Systematik, Anwendbarkeit und auf ihre Auswirkungen hin zu überprüfen. Daß schwierige Systemfragen ins Haus stehen, habe ich bereits in meinem Juristentagsvortrag herausgestellt. 9 Der folgende Beitrag gibt Gelegenheit, manches dort Angedeutete näher zu erläutern, vor allem aber weitere, durch den Referentenentwurf erstmals thematisierte Probleme in die Gesamtsicht einzubeziehen. II. Betreuung und Geschäftsfähigkeit Zu den wichtigen Zielen der Reform gehört die Abschaffung der Entmündigung - sowohl der die Geschäftsunfähigkeit bewirkenden Entmündigung wegen „Geisteskrankheit" (§ 6 Abs. 1 Nr. 1, § 104 Nr. 3 BGB) als auch der Entmündigung wegen Geistesschwäche, Verschwendung, Trunksucht und Rauschgiftsucht, welch letztere die beschränkte Geschäftsfähigkeit zur Folge hat (§ 6 Abs. 1 Nr. 1, § 114 BGB). Eine konstitutive Feststellung der Geschäftsunfähigkeit soll es nicht mehr geben. 10 Dem entspricht der Grundsatz des geplanten Rechts, daß die Einrichtung eines Betreuungsverhältnisses als solche keinen Einfluß auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten hat. 1 1 Dieses Prinzip erscheint schon im Hinblick darauf zwingend, daß die Entwürfe auch die (ausschließlich) körperlich Behinderten in den Regelungsbereich des Betreuungsrechts einbeziehen (§ 1896 I BGB-RE); es soll aber auch im Hinblick auf die geistig und seelisch Behinderten und psychisch Kranken gelten. Dahinter steht der anziehende Gedanke, daß die Personen, die einer Betreuung bedürfen, weder in ihrer Umgebung negativ abgestempelt werden noch in ihrem Selbstbewußtsein gekränkt werden sollen. Es wird ihnen gleichsam gesagt: Dadurch, daß ihr einen Betreuer erhaltet, wird euch von eurer Handlungsfähigkeit nichts genommen; vielmehr wird nur dem Umstand entsprochen, daß ihr Hilfe nötig habt und daher die Betreuung als soziale Leistung der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen berechtigt seid. Nun kann aber ein solches Konzept nicht darüber hinwegtäuschen, daß es die geistige Behinderung und psychische Krankheit gibt und daß die darunter leidenden Menschen häufig in ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung - in unterschiedlichen Graden - eingeschränkt sind. Dieser Sachverhalt erklärt ja überhaupt erst, daß durch gerichtlichen Akt ein Betreuungsverhältnis angeordnet werden darf und muß, dessen Funktionen auch den Schutz des 9
Oben Fn. 6. DE I, Begründung, S. 48 ff. 11 DE I, Begründung, S. 52 ff. 10
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Betreuten, notfalls vor sich selbst, umfassen. Dem Problem der Defizite in der Fähigkeit des Erkennens, der Willensbildung und der Willenssteuerung und dem daraus resultierenden Schutzbedürfnis kann sich auch ein modernes Betreuungsrecht nicht verschließen. Das geltende Recht weist diesbezüglich eine schwer überschaubare Lage auf. - Die Grundregel ist in § 104 Nr. 2 BGB enthalten: Geschäftsunfähig ist, wer sich nicht nur vorübergehend in einem „die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet." Hier knüpft die Rechtsfolge der Geschäftsunfähigkeit (Nichtigkeit aller Willenserklärungen! § 105 BGB) 1 2 an einen tatsächlichen Befund an (sogenannte „natürliche Geschäftsunfähigkeit"); gleichgültig ist, ob die betroffene Person entmündigt ist oder nicht. Dieser Zustand kann auch partiell sein, d. h. nur Teilbereiche des Lebens betreffen (Querulantenwahn etc.). 13 Hingegen wird die Möglichkeit einer relativen Geschäftsunfähigkeit, d. h. der Geschäftsunfähigkeit nur für kompliziertere, nicht aber für einfachere Geschäfte auf einem bestimmten Lebensgebiet, von der Rechtsprechung derzeit nicht anerkannt. 14 Gesondert geregelt ist die Frage der „natürlichen Geschäftsunfähigkeit" für den Bereich des Testaments: Ein Testament kann nicht errichten, „wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewußtseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln" (§ 2229 Abs. 4 BGB); nach gängiger Meinung ist hiermit aber nichts anderes gemeint als der in § 104 Nr. 2 BGB beschriebene Zustand. 15 - Zur Geschäftsunfähigkeit führt auch die Entmündigung wegen Geisteskrankheit (§ 104 Nr. 3 BGB). Der Begriff der Geisteskrankheit wird dabei 12 Daß diese Rechtsfolge angemessen sei, ist von Claus-Wilhelm Canaris, JZ 1987, S. 933 ff., unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bestritten worden; dazu Thilo Ramm, JZ 1988, S. 489; Eberhard Wieser, JZ 1988, S. 493 ff.; Canaris, JZ 1988, S. 494 ff. 13 Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2: Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, § 13, 4; Dieter Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 3. Aufl. 1988, Rdnr. 549; Karl Larenz, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl. 1989, § 6 I a; Münchener Kommentar / Wolf gang Gitter, Bürgerliches Gesetzbuch, 2. Aufl. 1984, § 6 BGB Rdnr. 19; § 104 BGB Rdnr. 8, 9; Staudinger / Hermann Dilcher, BGB, 12. Aufl., § 104 Rdnr. 24. Aus der Rechtsprechung: BGHZ 18,184 ff., 186 f.; BGHZ 30, 112 ff., 117; BGH, WM 1970, S. 1366; WM 1975, S. 1279 f.; anderer Ansicht HansMartin Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, 3. Aufl. 1987, Rdnr. 197, 198. 14 BGHZ 30, 112 ff., 117; BGH, NJW 1953, S. 1342 ff.; BGH, NJW 1961, S. 261; BGH NJW 1970, S. 1680; KG, FamRZ 1969, S. 440; siehe auch Medicus (Fn. 13), Rdnr. 550; Larenz (Fn. 13), § 6 I a; Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 104 Rdnr. 10. Für die Anerkennung einer relativen Geschäftsunfähigkeit hingegen Flume (Fn. 13), § 13, 5 sowie auch das Reichsgericht, JW 1938, S. 1590 f., ebenso OLG Köln, NJW 1960, S. 1389. 15 Flume (Fn. 13), § 13, 5; Staudinger / Karl Firsching, BGB, 12. Aufl., § 2229 Rdnr. 15; Palandt / Wolfgang Edenhofer, BGB, 48. Aufl. (1988), § 2229 Anm. 6 b.
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weit genommen, etwa als „geistige Anomalie gleich welcher A r t " 1 6 , die nur schwer genug sein muß, um die Entmündigung mit der Folge völliger rechtlicher Handlungsunfähigkeit zu rechtfertigen. Wie sich die „Geisteskrankheit" des § 104 Nr. 3 BGB zu dem in § 104 Nr. 2 beschriebenen Befund verhält, erscheint bis heute nicht wirklich geklärt. Angeblich sind die Begriffe der Geisteskrankheit und Geistesschwäche einerseits, der krankhaften Störung der Geistestätigkeit andererseits nicht voneinander abhängig. 17 Doch ist es m. E. unvorstellbar, einen Menschen wegen Geisteskrankheit (§ 104 Nr. 3 BGB) zu entmündigen, dessen geistige Behinderung oder psychische Krankheit nicht mindestens den in § 104 Nr. 2 vorausgesetzten Grad erreicht. 18 Das bedeutet umgekehrt nicht, daß jeder Befund nach § 104 Nr. 2 bereits die Entmündigung wegen Geisteskrankheit rechtfertigt; dafür w i r d es gerade in Fällen bloß partieller Geschäftsunfähigkeit vielfach keine Notwendigkeit geben. 19 - Außer der Entmündigung wegen Geisteskrankheit kennt das Gesetz die Entmündigung wegen Geistesschwäche, Verschwendung, Trunksucht oder Rauschgiftsucht, die zur beschränkten Geschäftsfähigkeit führt (§ 114 BGB). Die „Geistesschwäche" betreffend w i r d gesagt, sie unterscheide sich von der „Geisteskrankheit" des § 104 Nr. 3 BGB nicht der Art, sondern dem Grade nach. 20 Wer wegen Geistesschwäche entmündigt ist, kann sich also - generell oder partiell - de facto in einem Zustand nicht bloß geminderter, sondern ausgeschlossener Fähigkeit zur freien Willensbildung (§ 104 Nr. 2 BGB) befinden; er ist dann, obwohl „nur" wegen Geistesschwäche entmündigt, insoweit geschäftsunfähig. 21 - Die Lage wird weiterhin dadurch kompliziert, daß an die Seite und vielfach an die Stelle der Entmündigung die auf Teilbereiche des Lebens begrenzte Gebrechlichkeitspflegschaft (§ 1910 Abs. 2 BGB) mit Bestellung eines Pflegers tritt. 2 2 Die Voraussetzungen der Pflegschaftsanordnung nach §1910 Abs. 2 BGB verhalten sich, was die geistig-seelische Behinderung 16
Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 6 BGB Rdnr. 10; § 104 BGB Rdnr. 4; Staudinger / Helmut Coing / Norbert Habermann, BGB, 12. Aufl., §6 Rdnr. 7; Palandt / Helmut Heinrichs (Fn. 15), § 6 Rdnr. 2 a. 17 Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 6 BGB Rdnr. 15; Staudinger / Coing / Habermann (Fn. 16), § 6 Rdnr. 10. 18 Vgl. Staudinger / Coing, BGB, 11. Aufl. (Bd. 1, 1957), § 6 Rdnr. 8. 19 BGHZ 41, 104, 106 = NJW 1964, S. 1129; RGZ 50, 203, 205; Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 6 Rdnr. 19; Staudinger / Coing / Habermann (Fn. 16), § 6 Rdnr. 18. 20 Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 6 BGB Rdnr. 13; Larenz (Fn. 13), § 6 I b; Medicus (Fn. 13), Rdnr. 541; Palandt / Heinrichs (Fn. 16), § 6 Anm. 2 a. Aus der Rechtsprechung: RGZ 50, 203 f.; RGZ 130, 69/71; OGH Britische Zone, MDR 1950, S. 668. 21 Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 6 BGB Rdnr. 15; Palandt / Heinrichs (Fn. 16), § 6 Anm. 2 a. 22 Zur rechtstatsächlichen Entwicklung Zenz et al. (Fn. 2), S. 11 ff.
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betrifft, zunächst neutral: Es ist nur gefordert, daß die betreffende Person aufgrund körperlicher (hier außer Betracht) oder geistiger Gebrechen einzelne oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten nicht besorgen kann. Ganz gleichgültig ist hierbei, ob der Pflegebefohlene als „geisteskrank" oder „geistesschwach" zu qualifizieren wäre oder den in § 104 Nr. 2 BGB beschriebenen Befund aufweist; 23 auch hat die Anordnung der Pflegschaft als solche keine Auswirkung auf die rechtliche Handlungsfähigkeit des Betroffenen. Die Frage der geistig-seelischen Befindlichkeit muß aber dann genauer geprüft werden, wenn die Pflegschaft ohne Einwilligung der betreuungsbedürftigen Person angeordnet werden soll. Nach dem Gesetz ist dies nur statthaft, wenn eine Verständigung mit ihr nicht möglich ist (§ 1910 Abs. 3 BGB). Die Rechtsprechung legt diese Voraussetzung in dem Sinne aus, daß sie - für das Aufgabenfeld des Pflegers - die „natürliche Geschäftsunfähigkeit" des Gebrechlichen im Sinn des § 104 Nr. 2 BGB verlangt und genügen läßt. 24 Dieser sogenannten Zwangspflegschaft liegt also die Inzident getroffene Feststellung zugrunde, daß der Pflegebefohlene auf dem Gebiete, für das ein Pfleger bestellt werden soll, sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Der somit klare Unterschied zwischen der freiwilligen Pflegschaft, bei deren Anordnung der geistig-seelische Zustand des Gebrechlichen nicht qualifiziert wird, und der Zwangspflegschaft dürfte in der Praxis allerdings dadurch verwischt werden, daß, vorsichtig gesagt, manche Einwilligung nicht hinreichend darauf überprüft sein dürfte, ob sie wirklich als Akt verantwortlicher Selbstbestimmung angesehen werden kann. 25 Der kurze Überblick macht hinreichend deutlich, daß es nach geltendem Recht eine sichere Beurteilung der Fähigkeit einer Person zu selbstverantwortlichem Handeln vielfach auch dann nicht gibt, wenn diese von einschlägigen gerichtlichen Anordnungen betroffen ist. Zwar legt das BGB unzwei23 Münchener Kommentar / Goerke, Bürgerliches Gesetzbuch, 2. Aufl. 1987, § 1910 Rdnr. 18 ff., 38; Soergel / Jürgen Damrau, BGB, 12. Aufl., § 1910 Rdnr. 4. 24 Siehe BGHZ 15, 262, 267 f.; 35, 1, 5 f.; 48, 147, 159; 70, 252, 258 ff.; 93, 1, 3 f. = FamRZ 1985, S. 276; BayObLG, FamRZ 1984, S. 208; BayObLGZ 1986, 214; so auch die herrschende Literaturmeinung, vgl. Soergel / Damrau (Fn. 23), § 1910 Rdnr. 6; Münchener Kommentar I Goerke (Fn. 23), § 1910 Rdnr. 18; anderer Ansicht Hans Dolle, Familienrecht, 1964/1965, Bd. 2, § 141 I I 4. 25 Eher scheint diese Prüfung bei Anträgen auf Aufhebung einer Pflegschaft erfolgt zu sein, jedenfalls spielt hier die Frage, ob die Einwilligung bzw. ihr Widerruf als Willenserklärungen anzusehen sind, die Hauptrolle, bejahend die h. M. siehe: RGZ 65, 199/203; 145, 284, 287; BGHZ 35, 1, 5; 48, 147, 159; BayObLG Rpfleger 1982, S. 422; Soergel / Damrau (Fn. 23), § 1910 Rdnr. 6; Münchener Kommentar / Goerke (Fn. 23), § 1910 Rdnr. 23 ff., § 1920 Rdnr. 14 ff.; verneinend einige Gerichte wie OLG Frankfurt, NJW 1974, S. 2071 und ein Teil der Lit., siehe nur Beitzke, FamRZ 1960, S. 506 f.; Gemhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. 1980, § 70 V I 9; Dölle (Fn. 24), § 148 I I 2 b. Die Problematik des Aufhebungsantrags wird künftig anders geregelt werden (§ 1908 d Abs. 2 BGB-RegE).
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deutig fest, daß der wegen Geisteskrankheit Entmündigte generell geschäftsunfähig ist, und zwar auch dann, wenn er de facto den in § 104 Nr. 2 BGB vorausgesetzten Grad geistiger Behinderung nicht erreicht 26 oder in einer Phase besseren Befindens 27 handelt. An diesem Punkt endet auch schon die erzielbare Klarheit: - Der wegen Geistesschwäche Entmündigte (§ 114 BGB), den das Gesetz grundsätzlich als beschränkt geschäftsfähig behandelt, kann in Wirklichkeit - generell oder partiell - geschäftsunfähig sein. 28 - Bei Personen, die ohne ihre Einwilligung einen Pfleger erhalten (§ 1910 Abs. 3 BGB), muß zwar zuvor Inzident ihre (partielle) Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Nr. 2 BGB) festgestellt werden; doch heißt dies nicht unbedingt, daß der Betreffende auch wirklich im Aufgabenbereich des Pflegers geschäftsunfähig ist. Denn einmal kann schon bei der Pflegschaftsanordnung ein Fehler begangen worden sein, der um so näher liegt, je weniger Sorgfalt und Fachkompetenz auf das zugrundeliegende ärztliche Gutachten verwendet worden ist; 2 9 zum anderen kann sich die geistig-seelische Befindlichkeit des Pflegebefohlenen später wieder gebessert haben. - Wer schließlich mit seiner Einwilligung unter Gebrechlichkeitspflegschaft nach § 1910 Abs. 2 BGB steht, muß nicht geschäftsunfähig nach § 104 Nr. 2 BGB sein, es kann dieser Befund aber gleichwohl zutreffen. Die Skizze über den derzeitigen Gesetzesstand war notwendig, um den Kern der Reformvorschläge zu erfassen: Mit der geplanten Abschaffung jeglicher Entmündigung laufen sie darauf hinaus, nunmehr allgemein die bei der Pflegschaft gegebene Lage als Lösung anzubieten, freilich mit Modifikationen: - Wie bisher mit Anordnung der Pflegschaft soll künftig mit der Bestellung eines Betreuers für sich gesehen keine Einschränkung der Handlungsmacht des Betreuten verbunden sein. - Auch soll, wie beim jetzigen § 1910 Abs. 2 BGB, die Feststellung eines bestimmten Grades geistiger oder psychischer Behinderung nicht Voraussetzung einer Betreuung sein; als erforderlich und genügend w i r d betrachtet, daß der Volljährige aufgrund einer psychischen Krankheit, einer (kör26 Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 104 BGB Rdnr. 11; Staudinger / Dilcher (Fn. 13), § 104 Rdnr. 29; Heinz Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1985, Rdnr. 399. 27 Herkömmlich spricht man von „lichten Augenblicken" (lucida intervalla), ein Ausdruck, der den medizinischen Befund kaum richtig bezeichnen dürfte. Zur Rechtsfrage siehe z. B. RG Recht 1906 Nr. 1144. 28 Münchener Kommentar / Gitter (Fn. 13), § 6 BGB Rdnr. 15, und Nachweise in Fn. 21. 29 Zu den Realitäten der vormundschaftsgerichtlichen Praxis siehe Zenz et al. (Fn. 2), S. 23 f.
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perlichen) geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB-RegE). Wie im jetzigen Pflegschaftsrecht ist also der aufgrund irgendwelcher Behinderungen gegebene Betreuungsbedarf entscheidend. - Im Gegensatz zum geltenden Pflegschaftsrecht spielt indes der Unterschied zwischen konsentierter und nicht konsentierter Betreuung in den Entwurfstexten keine Rolle. Es ist dies, wie wir sehen werden, von großer Bedeutung. Zwar kennen die Entwürfe den Unterschied zwischen Anordnung der Betreuung auf Antrag und von Amts wegen (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB-RegE), doch werden beide Varianten - sieht man von bloß körperlich Behinderten ab (§ 1896 Abs. 1 S. 3 BGB-RegE) - in den sachlichen Voraussetzungen gleich behandelt; die Betreuung ohne Einwilligung hat nach den Entwurfstexten namentlich keine weitere Hürde nach Art des § 1910 Abs. 3 BGB zu überspringen. Daß die Betreuung auf Antrag des Betroffenen nicht dasselbe ist wie die derzeitige Pflegschaft mit Einwilligung des Betreuten zeigt deutlich die vorgeschlagene Regelung des § 1896 Abs. 1 S. 2 BGB-RegE: Den Antrag auf Bestellung eines Betreuers kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen; es darf dabei also gar nicht geprüft werden, ob der Antragsteller sich in einem Zustande der Fähigkeit zu freier Willensbestimmung befindet. - Nimmt also grundsätzlich die Bestellung eines Betreuers dem Betreuten nichts an seiner Geschäftsfähigkeit, mag er nun einen Antrag gestellt haben oder nicht, mag er eingewilligt haben oder nicht, so sehen die Entwürfe doch die Möglichkeit vor, durch einen weiteren gerichtlichen Akt die Geschäftsfähigkeit des Betreuten zu beschränken, nämlich durch einen „Einwilligungsvorbehalt" (§ 1903 Abs. 1 BGB-RegE), der angeordnet werden darf, soweit es zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten erforderlich ist. 3 0 Der Einwilligungsvorbehalt ist gleichsam der letzte Rest einer Freiheitsminderung durch konstitutiven Gerichtsakt, dessen Möglichkeit die Reformpläne nicht vermeiden zu können glauben. - Bei all dem soll aber § 104 Abs. 2 BGB (ebenso § 2229 Abs. 4 BGB) ungeschmälerte Geltung behalten: Derjenige, dessen freie Willensbestimmimg infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit (partiell) ausgeschlossen ist, ist geschäftsunfähig, mag er nun unter Betreuung stehen oder nicht, mag ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet sein oder nicht. Nach dem neuen Recht werden folglich mehr noch als nach derzeitigem Unsicherheiten darüber entstehen können, ob Willenserklärungen einer Person wegen mangelnder Geschäftsfähigkeit nichtig sind. Wer von Amts 30 Die Voraussetzungen des Einwilligungsvorbehalts sind im RE und RegE gegenüber dem DE erschwert worden, vgl. DE I, S. 127 ff.; RE, S. 141 f.
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wegen einen Betreuer erhält, muß auf dem Betreuungsgebiet nicht geschäftsunfähig sein, kann es aber. Gleiches gilt für den auf seinen Antrag hin Betreuten und schließlich nichts anderes für den, der unter Einwilligungsvorbehalt steht: Denn die Aussage des § 1903 Abs. 1 S. 2 BGB-RegE, wonach auf seine Erklärungen die §§108-113 BGB entsprechend anzuwenden sind, läuft ins Leere, wenn er de facto auf dem betreffenden Gebiet geschäftsunfähig ist (§ 104 Nr. 2 BGB); dann gilt nämlich nach wie vor § 105 BGB. III. Strukturelle Probleme in den Reformkonzepten Das Konzept der Entwürfe, die Bestellung eines Betreuers auch für psychisch Kranke und geistig Behinderte strikt von einer Beschränkung der Geschäftsfähigkeit des Betreuten freizuhalten und damit eine „stigmatisierende" Wirkung der Betreuung zu vermeiden, wirft Probleme auf. Einige davon sollen im folgenden angesprochen werden. 1. Letztlich bleibt - psychisch Kranke und geistig oder seelisch Behinderte betreffend - unklar, welches eigentlich die materiellen Voraussetzungen für eine Betreuung sind. Nach dem Wortlaut des Regierungsentwurfs ist die Prüfung dreigliedrig: - Es muß erstens eine psychische Krankheit oder eine geistige oder seelische Behinderung gegeben sein (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB-RegE). Als psychische Krankheit nennt die Entwurfsbegründung endogene und exogene Psychosen, Abhängigkeitskrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien). 31 Als geistige Behinderung werden angeborene oder frühzeitig erworbene 32 Intelligenzdefekte verschiedener Schweregrade angesehen, seelische Behinderungen sind definiert als bleibende psychische Beeinträchtigungen als Folge psychischer Krankheiten. 33 Die Betreuerbestellung darf nur aufgrund eines Sachverständigengutachtens erfolgen (§ 68 b FGGRE). Ein bestimmter Schweregrad der genannten Krankheiten oder Behinderungen ist indes nicht genannt. - Zweite Voraussetzung ist das Unvermögen der in Frage stehenden Person, ihre Angelegenheiten oder einen Teil davon zu besorgen (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB-RegE). Erst unter diesem Aspekt soll offenbar die Schwere der Krankheit oder Behinderung eine Rolle spielen. - Drittens ist die Einwendung des § 1896 Abs. 2 BGB-RegE zu beachten, wonach eine Betreuung für den in Aussicht genommenen Aufgabenkreis 31
DE I, S. 103. Warum sie, wie DE I, S. 104 will, „frühzeitig" erworben sein müssen, ist mir allerdings nicht einsichtig. 33 DE I, S. 104. 32
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erforderlich sein muß. Die Betreuung soll nicht erforderlich sein, soweit die Angelegenheiten des Betreffenden durch einen Bevollmächtigten oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 S. 2 BGB-RegE; sogenanntes Subsidiaritätsprinzip). 34 Ganz zu Recht hat dieses Konzept die Sorge ausgelöst, die Schwelle zur Betreuung mit ihren freiheitsmindernden Effekten werde gegenüber dem geltenden Pflegschaftsrecht in bedenklicher Weise erniedrigt. 35 Diese Befürchtung hängt damit zusammen, daß die Einwilligung des (geschäftsfähigen) Betreuten keine juristisch definierte Rolle mehr spielen soll und daß somit selbstverantwortete Betreuung und „Zwangsbetreuung" in einen Topf geworfen werden. So ist es nach dem geplanten Recht durchaus denkbar, daß eine betagte Person, die gewisse Minderungen ihrer geistigen Fähigkeiten zu beklagen hat, aber weder geisteskrank im Sinne des § 104 Nr. 3 noch geistesschwach im Sinne des geltenden § 114 BGB ist, gegen ihren Willen einen Betreuer erhält, wenn nur die das Verfahren betreibenden Angehörigen den Richter davon überzeugen können, daß der Betreffende gewisse Angelegenheiten nicht mehr (so gut wie früher?) zu besorgen vermag und wenn der Betreffende sich weigert, die zur Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips nötigen Vollmachten zu erteilen. Ob es solche Fälle nach neuem Recht geben wird, hängt natürlich von der Handhabung durch die Gerichte ab, denen im allgemeinen durchaus Vertrauen entgegengebracht werden kann. Nur gilt es, den Vormundschaftsrichtern durch strukturelle Einsichten zur Hilfe zu kommen. Diese müssen an der Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Betreuung anknüpfen. Da nicht angenommen werden kann, der Reformgesetzgeber wolle den Weg zu den freiheitsmindernden Effekten der Pflegschaft (Betreuung) erleichtern, ist in jedem Verfahren festzustellen, ob der Betreffende einer Betreuung zustimmt und, wenn ja, ob diese Zustimmung als A k t der Selbstbestimmung anzuerkennen ist. Bei Vorliegen einer solchen Zustimmung kommt es im übrigen auf die Voraussetzungen des § 1896 Abs. 1, 2 BGB-RegE an. Stimmt die in das Verfahren verwickelte Person ihrer Betreuung hingegen nicht zu oder stellt sich die gegebene Einwilligung nicht als Akt freier Willensbestimmung dar, so ist Erfordernis der Betreuung die Feststellung, daß der Betroffene unter geistigen oder seelischen Defiziten leidet, die nach derzeitigem Recht entweder eine Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder eine - die partielle Geschäftsunfähigkeit voraussetzende - Zwangspflegschaft oder zumindest eine Entmündigung nach § 114 BGB rechtfertigen würden. 34 Das Subsidiaritätsprinzip ist im RegE etwas anders formuliert als im DE, siehe DE I, S. 1;RE, S. 10, 88, 125 f. 35 Namentlich Bürgle, NJW 1988, S. 1881, 1883 f.
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Der fundamentale Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Betreuimg muß also auch im neuen Recht zum Tragen kommen; versteht sich das Gesetz nicht expressis verbis dazu, so liegt es an der Gerichtsbarkeit, die unabdingbaren rechtsstaatlichen Postulate zu verwirklichen. Dabei darf - um es noch einmal zu sagen - die Einwilligung nicht mit dem im Gesetzentwurf genannten Antrag des Betreuten verwechselt werden, den auch ein Geschäftsunfähiger soll stellen können (§ 1896 Abs. 1 S. 2 BGBRegE) und dann zwar verfahrensrechtlich relevant ist, aber materiellrechtlich keinen zurechenbaren Akt der Selbstbestimmung darstellt. Aus diesen Zusammenhängen w i r d ersichtlich, daß sich Gutachter wie Gericht auch im künftigen Recht sehr wohl mit der Frage auseinandersetzen müssen, inwieweit der Betroffene selbstverantwortlich handeln kann, sei es um die Tragfähigkeit einer Einwilligung, sei es um die Voraussetzungen einer nicht konsentierten Betreuung zu prüfen. Vielfach w i r d Erkenntnisgrundlage der Betreuerbestellung sein, daß der zu Betreuende in dem angestrebten Funktionsbereich des Betreuers nicht selbstverantwortlich zu handeln in der Lage und folglich geschäftsunfähig nach § 104 Nr. 2 BGB ist, ob dies nun in den Beschlußgründen ausdrücklich so verlautbart wird oder nicht. 2. Das führt zu einem weiteren Strukturproblem des geplanten Betreuungsrechts. Dem Konzept der Entwürfe nach nimmt die Bestellung eines Betreuers für sich gesehen dem Betreuten keineswegs die Fähigkeit, rechtsgeschäftlich zu handeln, er bleibt - vorbehaltlich der Geltung des § 104 Nr. 2 BGB - voll geschäftsfähig. Erstaunlicherweise erleidet die als „voll geschäftsfähig" angesehene Person indes erhebliche Einschränkungen ihrer Freiheit der Selbstbestimmung. Vor allem erhält sie im Betreuungsbereich obligatorisch den Betreuer als gesetzlichen Vertreter (§ 1902 BGB-RE). Obwohl sie neben diesem auch weiterhin selbständig soll handeln können (Duplizität der Handlungsfähigkeit), liegt in der gesetzlichen Vertretung eine beträchtliche Beschränkung der Freiheit. Denn der Betreute hat dann einen Vertreter, den er nicht bevollmächtigt hat und dem er die Vertretungsmacht auch nicht ohne weiteres entziehen kann. 3 6 Die Verfasser des Diskussionsentwurfs 37 gehen - zu Lasten der Freiheit des Betreuten - sogar über die derzeitige Rechtslage bei der Pflegschaft hinaus, indem sie die von der Rechtsprechung akzeptierte Theorie ablehnen, bei Geschäftsfähigkeit des Betreuten könne der gesetzliche Vertreter nur die Funktion eines „staatlich bestellten Bevollmächtigten" haben. 38 Folgerichtig führt nach den Vorstel36 Der Weg führt über den Antrag beim Vormundschaftsgericht auf Aufhebung der Betreuung, also über ein Gerichtsverfahren. 37 DE I, S. 127. 38 So BGHZ 35, 1, 3; 48, 147, 160 und herrschende Lehrmeinung; a. A. OLG Celle, FamRZ 1963, S. 465, 466 f.; Gemhuber (Fn. 25), § 70 V I 4; Soergel / Damrau (Fn. 23), § 1909 Rdnr. 4 und vor § 1901 Rdnr. 7; Dölle (Fn. 24), § 138 IV.
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lungen der Entwürfe allein die Aufhebung der Betreuung zur Beseitigung der „gesetzlichen Vertretung" auch in den Fällen voller Geschäftsfähigkeit - selbst bei körperlich Behinderten! Der geschäftsfähige Betreute könnte, anders als nach geltendem Recht bei der Pflegschaft, dem Betreuer dann auch nicht Befreiung von den Genehmigungsvorbehalten der §§ 1821, 1822 BGB erteilen, obwohl er sonst jedermann beliebige Generalvollmachten erteilen kann. 3 9 Man muß zwangsläufig fragen, wie eine derartige Einschränkung der Selbstbestimmung sich mit der grundsätzlich angenommenen Geschäftsfähigkeit des Betreuten vereinbaren läßt. Die gesetzliche Vertretungsmacht ist nicht die einzige freiheitsmindernde Wirkung der Betreuung. Auch wenn die Entwürfe das im Innenverhältnis auferlegte Gebot der Berücksichtigung des Betreutenwillens allenthalben betonen, liegt der Betreuung gleichwohl das Bild auch von möglicher Fremdbestimmung durch den Betreuer zugrunde. Der Betreuer „hat die Angelegenheiten des Betreuten ... zu besorgen" (§ 1901 Abs. 1 S. 1 BGBRegE), er übt also Funktionen der Personensorge oder Vermögenssorge für den Betreuten aus, er hat unter Umständen die Befugnis, in eine Heilbehandlung des Betreuten einzuwilligen (§ 1904 BGB-RegE), ihm kommt unter Umständen das Recht zu, den Aufenthalt und den Umgang des Betreuten zu bestimmen (vgl. § 1908 i Abs. 1 BGB-RegE i.V.m. § 1632 Abs. 2 BGB). Der Betreute soll nach dem Planungsstand des Regierungsentwurfs auch nicht wahlfähig sein, wenn für alle seine Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist (Bundesrats-Drucksache 59/89, S. 68); dabei soll es nach dem Entwurfstext gleichgültig sein, weshalb die Betreuung angeordnet wurde. Bei alledem fragt sich nun doch, wie derartige Befugnisse des Betreuers und Minderungen der Rechtsstellung des Betreuten mit der Vorstellung vereinbar sein sollen, der Betreute sei im Grundsatz als voll geschäftsfähig zu betrachten. Die genannten Einschränkungen der Selbstbestimmung können doch nur gerechtfertigt sein, wenn und soweit die Fähigkeit des Betreuten zu dieser Selbstbestimmung de facto gemindert ist. Dann wäre es aber konsequent und ehrlich, diese logische Voraussetzung eines strukturell mit Fremdbestimmungsbefugnissen ausgestatteten Sorgeinstituts auch zu formulieren. Die derzeitige Entwurfsfassung öffnet in ihrem Bestreben, bei den Betreuungsvoraussetzungen nur ja nicht das Kernproblem der Fähigkeit zur Selbstverantwortung anzusprechen, ein allzu breites Tor in die Fremdbestimmung. Den Gerichten w i r d die Aufgabe anheimfallen, den allzu bequemen Eingang auf die Dimension eines Nadelöhrs zu verengen. Die Verfasser des Entwurfs werden gegenüber solcher K r i t i k auf das Prinzip der Erforderlichkeit verweisen, das namentlich in § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB-RegE enthalten ist. Doch ist auffällig, daß der Erforderlichkeitsgrund39 Auch diese absurde Konsequenz nehmen die Urheber des Diskussionsentwurfs hin, siehe DE I, S. 127.
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satz für den Umfang des vom Betreuer wahrzunehmenden Aufgabenkreises, nicht aber für die einzelnen Bestimmungsbefugnisse formuliert ist (außer erneut beim Einwilligungsvorbehalt, § 1903 Abs. 1 S. 1 BGB-RegE). Wie bei der Zuteilung der gesetzlichen Vertretung scheint sich mit der Erforderlichkeit der Betreuung auf einem bestimmten Gebiet der Zufluß von Fremdbestimmungsbefugnissen von selbst zu verstehen (wo nicht im Gesetzentwurf besondere Vorbehalte gemacht werden). Der Begriff der Erforderlichkeit als einzige Voraussetzung fundamentaler Freiheitsbeschränkungen erscheint allerdings reichlich unbestimmt. Aus all dem folgt, daß die gesetzliche Vertretung und die übrigen Befugnisse des Betreuers zur Fremdbestimmung des Betreuten nur dann und insoweit gerechtfertigt sind, als die Fähigkeit des Betreuten zu selbstverantwortlichem Handeln auf dem in Frage stehenden Lebensgebiet wesentlich (d. h. mindestens in einem den in § 114 BGB genannten Behinderungen und Krankheiten entsprechenden Maße) gemindert erscheint. Das ist vor Bestellung des Betreuers, vor Festlegung seines Aufgabenkreises und seiner Befugnisse zu prüfen. Wenn dem so ist, so erweist sich die Vorstellung vom „voll geschäftsfähigen Betreuten" allerdings weithin als Fiktion. Für eine Person, die nicht unter derartig gravierenden Defiziten ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung leidet, kann eine mit Fremdbestimmung verbundene Betreuung nur aufgrund ihrer Einwilligung eingerichtet werden. Weil die geschilderten Freiheitsminderungen fundamentaler Art sind, muß die Einwilligung jederzeit widerruflich sein mit der Folge, daß die Betreuimg sofort aufzuheben ist (unklar in diesem Punkt § 1908 d Abs. 2 BGB-RegE). „Gesetzliche Vertretungsmacht" kann in solchen Fällen auch nach künftigem Recht nichts anderes sein, als eine auf der Einwilligung des Vertretenen beruhende, durch Staatsakt begründete Vertretungsmacht mit Vollmachtfunktion. Sie hindert den Vertretenen nicht, dem Betreuer durch privatrechtlichen Akt beliebige andere Vollmachten zu erteilen, die den Beschränkungen des Betreuungsrechts nicht unterliegen. 3. Vor dem geschilderten rechtlichen Hintergrund kann nun der von den Reformplänen vorgesehene Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB-RegE) betrachtet werden. Soll schon mit der Betreuung wegen geistiger oder seelischer Behinderung und Krankheit kein Eingriff in die Handlungsfähigkeit des Betreuten verbunden sein, so sehen die Entwürfe doch Fälle voraus, in denen eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit zum Schutze des Betreuten notwendig ist. Durch Anordnung des Vormundschaftsgericht soll dann bewirkt werden können, daß der Betreute zu einer Willenserklärung im Bereich der Betreuung (oder einem Teilbereich davon) der Einwilligung des Betreuers bedarf (§ 1903 Abs. 1 S. 1 BGB-RegE). Der Betreute ist dann nicht allgemein beschränkt geschäftsfähig, aber wird, soweit der Einwilligungsvorbehalt reicht, wie ein beschränkt Geschäftsfähiger behandelt: Die
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§§ 108 - 113, 131 Abs. 2 und 206 BGB sollen entsprechend gelten (§ 1903 Abs. 1 S. 2 BGB-RegE). Das bedeutet vor allem, daß Verträge, die der Betreute im Bereich des Vorbehalts schließt und die ihm nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil bringen, nur mit Zustimmung des Betreuers wirksam werden. Die materiellrechtliche Problematik des Einwilligungsvorbehalts ist evident. In Fällen, in denen ein zweifellos Geschäftsfähiger sich freiwillig einer Betreuung unterstellt, ist eine derartige Anordnung unstatthaft. In den Fällen hingegen, in denen die Betreuung wegen der Selbstbestimmungsdefizite des Betreuten notwendig wird, läuft der Einwilligungsvorbehalt über weite Strecken leer. Denn unvermindert gilt § 105 BGB. Ist also, wie dies der typische Fall sein wird, der Betroffene auf dem Betreuungsgebiet geschäftsunfähig, dann nutzt der Einwilligungsvorbehalt materiellrechtlich gesehen nichts, da die Willenserklärungen des Betreuten schlechthin nichtig sind und somit in ihrer Wirksamkeit nicht von der Einwilligung oder Genehmigung des Betreuers abhängen können. Sogar Geschäfte, die dem Betreuten lediglich einen rechtlichen Vorteil bringen, wären unheilbar nichtig. 4 0 Die Diskrepanz der geplanten Regelung hängt unmittelbar mit der Fiktion der Entwürfe zusammen, die Anordnung einer Betreuung wegen seelischer Krankheit und geistiger Behinderung habe keinen spezifischen Bezug zu einer geminderten Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Da diese Kernfrage bei der Einrichtung der Betreuung nicht thematisiert werden soll, muß der Betreute nach der Konzeption der Entwürfe als voll handlungsfähig gelten, bis der beschriebene Einwilligungsvorbehalt angeordnet wird, während in Wirklichkeit häufig partielle Geschäftsunfähigkeit vorliegen wird, ja vorliegen muß, um eine nicht konsentierte Betreuimg überhaupt zu rechtfertigen. Der Einwilligungsvorbehalt steht, wo er angeordnet wird, also auf sehr unsicherem Grunde. Dieser Unsicherheit könnte man entgegenwirken, wenn man den Einwilligungsvorbehalt an die gutachtlich zu stützende Feststellung binden würde, daß der Betreute auf dem betreffenden Gebiet nicht geschäftsunfähig, sondern im Selbstbestimmungsvermögen nur gemindert sei (im Grade etwa der „Geistesschwäche" des § 114 BGB entsprechend). Eine derartige Voraussetzung würde freilich der Konzeption der Entwürfe geradewegs entgegenstehen: Der Einwilligungsvorbehalt, gedacht als äußerste Stufe des gerichtlichen Eingriffs in die rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit, verwandelte sich funktional in das Gegenteil, in eine Bestätigung der - wenn auch beschränkten - Handlungsfähigkeit. Daß der Betreute geschäftsunfähig sei, könnte dann beim Fehlen eines Einwilligungsvorbehalts eher angenommen werden als bei dessen Anordnung. Folgerichtig lehnt es die Begründung des Entwurfs denn auch ab, Ge40
Beachte hierzu aber die verfassungsrechtlichen Bedenken von Canaris (Fn. 12).
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schäftsunfähigkeit als Hindernis für den Einwilligungsvorbehalt zu betrachten. 41 Ein zweiter Weg, aus den Unsicherheiten herauszukommen, läge darin, die Regelung des § 105 BGB zu modifizieren. Wenn man überhaupt unheilbare Nichtigkeit von Erklärungen als Wirkung der Geschäftsunfähigkeit aufrechterhalten will, so könnte man doch die Regelung des Einwilligungsvorbehalts als lex specialis einführen: Ist für einen Betreuten ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, so bleibt es für seine Erklärungen und den Zugang von Erklärungen an ihn bei der Regelung der §§ 108 ff., 131 Abs. 2 BGB, auch wenn er im Zeitpunkt der Vornahme des Geschäfts (partiell) geschäftsunfähig im Sinne des § 104 Nr. 2 BGB war. Die Arbeitsgruppe hat dergleichen erwogen, aber leider nicht weiter verfolgt. 42 Die gegen ein solches Konzept gesehenen Gründe bleiben an der Oberfläche: Die Einwilligung des Betreuers in ein Geschäft des Betreuten könne bei dessen Geschäftsunfähigkeit (§§ 104 Nr. 2, 105 BGB) in eine Eigenvornahme des Betreuers umgedeutet werden, wobei bei internen Einwilligungsakten der Betreute als Bote fungiere. 43 Diese Begründung vernachlässigt die praktisch viel wichtigeren Fälle der nachträglichen Zustimmung zu einem ohne Einwilligung des Betreuers vorgenommenen Geschäft des geschäftsunfähigen Pfleglings. Hier kann die Genehmigung des Betreuers unter der Geltung des § 105 BGB nur als Neuvornahme gedeutet werden und ob diese zum Ziele führt, ist ungewiß - denn eine vertragliche Bindung des Geschäftspartners hat sich wegen § 105 BGB ja nicht ergeben. Die Begründung zum Diskussionsentwurf 44 sieht den Sinn des auch bei Geschäftsunfähigkeit angeordneten Einwilligungsvorbehalts in der Beweiserleichterung, die sich für den Betreuten ergibt, wenn er sich von einem vom Betreuer nicht konsentierten Geschäft lösen will. Ist kein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, so hat der Betreute seine Geschäftsunfähigkeit darzulegen und zu beweisen. Ist der Vorbehalt hingegen angeordnet, so genügt diese leicht zu überprüfende Tatsache, es sei denn der Gegner könne die Zustimmung des Betreuers darlegen und beweisen. Aufs Ganze hat dieser beweisrechtliche Aspekt zu wenig Gewicht, um die vorgeschlagene Struktur zu begründen, die überdies dem Geschäftspartner die Möglichkeit offenläßt, sich von einem Geschäft mit dem Betreuten mit der (zu beweisenden) Behauptung zu lösen, dieser sei geschäftsunfähig gewesen.
41 42 43 44
DE DE DE DE
I, I, I, I,
S. S. S. S.
129. 129/130. 130. 129.
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IV. Schluß Es erscheint evident, daß die geplanten Regelungen zum Verhältnis von Betreuung und Geschäftsfähigkeit eine Quelle von Unklarheiten bilden, die nach aller Voraussicht im Testamentsrecht eine besondere Bedeutung erhalten werden. Man kann nicht annehmen, daß die Urheber der Entwürfe die oben entwickelten Probleme gänzlich übersehen hätten. Maßgeblich für die Gestalt der Regelungsvorschläge war augenscheinlich die Absicht, das geringere Übel zu wählen: Mehr Klarheit würde bedingen, daß schon bei der Bestellung eines Betreuers die Frage der („natürlichen") Geschäftsunfähigkeit des zu Betreuenden thematisiert werden müßte - gerade das w i l l man vermeiden, um der Betreuung das Odium der mit Beschränkung und Beschränktheit verbundenen Vorstellungen zu nehmen. Die somit gezielten Unklarheiten sind auch auf die Hoffnung gegründet, die Praxis des Geschäftslebens werde in Zweifelsfällen die in der Neuregelung gegebenen Möglichkeiten juristischer Komplikation nicht ausschöpfen, faktisch werde in den allermeisten Fällen wie schon bei Pflegebefohlenen und Mündeln die Sache im Kulanzwege bereinigt. 45 Möge die Hoffnung bei einem gewaltigen Anstieg der Zahl von hochbetagten Menschen und damit von möglichen Betreuungsfällen nicht trügen! Bei dem heutigen Stand der rechtspolitischen Diskussion scheint es angebracht, eine die Grundlagen betreffende Einsicht in Erinnerung zu rufen. Personengebundene Beschränkungen der rechtsgeschäftlichen wie außergeschäftlichen Freiheit sind nur statthaft zum Ausgleich von schweren Defiziten des Selbstbestimmungsvermögens, welche das die Menschen gewöhnlich treffende Maß erheblich überschreiten. Wo diese Defizite allerdings anzutreffen sind, ist der Schutz der Rechtsordnung auch gefordert. Was dann formal gesehen als Einschränkung der Selbstbestimmungsrechte eines Menschen erscheint, ist in Wahrheit deren Verwirklichung mit Hilfe eines Treuhänders, mag er Vormund, Pfleger oder Betreuer heißen. Die in diesem Rahmen mögliche Fremdbestimmung und Fremdbestimmtheit dürfen nicht nur als Übel begriffen werden - sie sind notwendiger Schutz, Wahrimg der Integritäts- und Entfaltungsinteressen der betreuten Person. Es versteht sich, daß die treuhänderische Wahrnehmung von Rechten der Selbstbestimmung nicht weiter gehen darf, als das Unvermögen ihrer eigenen Wahrnehmung reicht - die Grenze ist zwar nicht mathematisch-exakt auffindbar, aber als die entscheidende Linie anzusteuern. Diese Zusammenhänge in pädagogisch-persuasiver Absicht zu verunklaren, kann Ausdruck gutgemeinten rechtspolitischen Wollens sein. Ist es aber auch Ausdruck gesetzgeberischer Weisheit?
45
Vgl. etwa DE I, S. 50 ff.
Verzeichnis der Mitarbeiter Quintin Aldea, Dr. phil., Professor, Universidad Comillas - Madrid, Forschungsprofessur im Spanischen Forschungsrat Alfons Auer, Dr. theol.; em. Professor der theologischen Ethik an der Kath.-theol. Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Hans Michael Baumgartner, Dr. phil.; o. Professor der Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Leiter der Sektion Philosophie der GörresGesellschaft; Präsident der Internationalen Schelling-Gesellschaft Hans-Jürgen Becker, Dr. iur.; o. Professor; Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäische Rechtsgeschichte und Kirchenrecht an der Universität Regensburg Friedrich Wilhelm Bosch, Dr. iur., Dr. iur. utr. h.c.; em. o. Professor für Bürgerliches Recht und Prozeßrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Landgerichtsrat a. D. Hans Brox, Dr. iur.; em. o. Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Arbeitsrecht und Zivilprozeßrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Bundesverfassungsrichter a.D. Carlrichard Brühl, Dr. phil.; o. ö. Professor der Geschichte; Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Correspondant de l'Institut Stephan Buchholz, Dr. iur.; o. Professor; Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Philipps-Universität Marburg Ernst Dassmann, Dr. theol.; o. Professor für Alte Kirchengeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hermann Dilcher, Dr. iur.; o. Professor; Lehrstuhl für Rechtsgeschichte der Neuzeit und Bürgerliches Recht an der Ruhr-Universität Bochum Else Ebel, Dr. phil.; akademische Rätin am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum Albin Eser, Dr. iur. utr., M. C. J.; Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Strafrechtsvergleichung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.; Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. Hans Constantin Faußner, Dr. iur., München; Univ. Dozent an der Universität Innsbruck Dieter Giesen, Dr. iur., M. A. status (Oxon.); o. Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsvergleichung an der Freien Universität Berlin; Visiting Fellow, Pembroke College, Universität Oxford Ernst Ludwig Grasmück, Dr. phil.; o. Professor; Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Patrologie an der Universität Bamberg 5
Festschrift P. Mikat
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Verzeichnis der Mitarbeiter
Nikolaus Grass, Dr. iur., Dr. phil., Dr. rer. pol., Dr. iuris utriusque h.c. der Universität Freiburg/Schweiz, Dr. phil. h. c. der Universität Graz; em. o. ö. Professor der Deutschen und Österr. Rechtsgeschichte und der Allgemeinen Wirtschaftsgeschichte an der Universität Innsbruck; Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Corresponding Fellow of the British Academy Walther J. Habscheid, Dr. iur., Dr. h.c. mult.; o. Professor für Zivilprozeßrecht, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht und Zivilrechtsvergleichung an der Universität Zürich; Honorarprofessor der Universität Genf Martin Heckel, Dr. iur.; o. Professor des Öffentlichen Rechts und Kirchenrechts an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Alexander Hollerbach, Dr. iur.; o. Professor; Lehrstuhl für Rechts- und Staatsphilosophie, Geschichte der Rechtswissenschaft und Kirchenrecht an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i. Br. Ludger Honnefelder, Dr. phil.; o. Professor der Philosophie an der Rheinischen Friedrich· Wilhelms-Universität Bonn Josef Isensee, Dr. iur. utr.; o. Professor; Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Walter Kasper, Dr. theol. habil.; Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart Gerd Kleinheyer, Dr. iur.; o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches und Handelsrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Diethelm Klippel, Dr. iur.; o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen Wolf gang Kluxen, Dr. phil., Dr. h.c., Dr. theol. h.c.; em. o. Professor der Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Franz-Ludwig Knemeyer, Dr. iur.; o. Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht; geschäftsführender Vorstand des Instituts für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg Rolf Knütel, Dr. iur.; o. Professor für Bürgerliches und Römisches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Wilhelm Korff, Dr. theol.; o. Professor; Lehrstuhl für Christliche Sozialethik am Institut für Moraltheologie und Christliche Sozialethik der Ludwig-Maximilians-Universität München Christoph Krampe, Dr. iur.; o. Professor; Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Antike Rechtsgeschichte und Römisches Recht an der Ruhr-Universität Bochum Hermann Krings, Dr. phil.; em. o. Professor der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Peter Landau, Dr. iur.; o. Professor; Leopold Wenger-Institut für Rechtsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Adolf Laufs, Dr. iur., Dr. h.c. Université de Montpellier I; o. Professor; Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Verzeichnis der Mitarbeiter
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Joseph Listi, Dr. iur.; o. Professor des Kirchenrechts an der Universität Augsburg; Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Bonn Wolf gang Loschelder, Dr. iur.; Universitätsprofessor für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre an der Ruhr-Universität Bochum Hans Maier, Dr. phil., Dr. iur. et phil. h.c.; o. Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Rudolf Morsey, Dr. phil.; Universitätsprofessor für neuere Geschichte an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; Vizepräsident der Görres-Gesellschaft Knut Wolfgang Nörr, Dr. iur.; o. Professor; Forschungsstelle für internationale Privatrechtsgeschichte; Juristische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Konrad Repgen, Dr. phil.; em. Universitätsprofessor der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; o. Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; korr. Mitglied der Britischen Akademie der Wissenschaften Hans Schadewaldt, Dr. med.; o. Professor; Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Ludwig Schmugge, Dr. phil.; Ordinarius der Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich Jan Schröder, Dr. iur.; o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Dieter Schwab, Dr. iur. utr.; o. Professor; Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg; Erster Vorsitzender der Wissenschaftlichen Vereinigung für Familienrecht e. V. Walter Simonis, Dr. iur., Dr. theol.; Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg Christian Starck, Dr. iur.; o. Professor für Öffentliches Recht an der Georg-AugustUniversität Göttingen; o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Klaus Stern, Dr. iur., Dr. h.c.; o. Professor für Öffentliches Recht, Verwaltungslehre und Allgemeine Rechtslehre an der Universität zu Köln Hans-Wolfgang Strätz, Dr. iur. utr.; o. Professor; Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Universität Konstanz Winfried Trusen, Dr. iur. utr., Dr. phil.; o. Professor für Deutsche und Vergleichende Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Zivilrecht an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dietmar Willoweit, Dr. iur. ; o. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht; Vorstand des Instituts für deutsche und bayerische Rechtsgeschichte der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg
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