Kirche und Staat: Fritz Eckert zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428436507, 9783428036509


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German Pages 644 Year 1976

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Kirche und Staat: Fritz Eckert zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428436507, 9783428036509

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KIRCHE UND STAAT

KIRCHE UND STAAT Fritz Eckert zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Berbert Schambeck

DUNCKER & HUMBLOT· BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kirche und Staat: Fritz Eckert zum 65. Geburtstag i hrsg. von Herbert Schambeck. 1. Auf!. - Berlin: Duncker und Humblot, 1976.

ISBN 3-428-03650-6 NE: Schambeck, Herbert [Hrsg.]; Eckert, Fritz: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen wiedergabe und der übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03650 6

INHALT

Vorwort des Herausgebers .... . ............................... . ....... IX

Giovanni Benelli Die Kirche und der Dialog mit der Welt ............................. XI

I. Die Kirdle Audomar Scheuermann Die Amtsgewalt des Papstes

3

Bruno B. Heim Das Mysterium Roncalli

21

J ohannes Neumann

Kirche als Sinn träger in einer pluralen Gesellschaft? Anmerkungen zum Selbstverständnis der (katholischen) Kirche ........................ 27

Hans R. Klecatsky Die universale Kirche als Vorbild internationaler Einigung. . . . . . . . . . ..

71

11. Kirche und Staat Heribert Franz Köck Kirche und Staat - Zum Problem der Kompetenzabgrenzung in einer pluralistischen Gesellschaft ........................................ 77

VI

Inhalt

Herbert Schambeck Kirche und Demokratie ............................................ 103 Gerhard Leibholz Dietrich Bonhoeffer als ein Vermächtnis des 20. Juli 1944 . . . . . . . . . . . . .. 129

In.

Die Kirche in österreich

Hans R. Klecatsky Die Kirchenfreiheit in Österreich .................................... 147 Bruno Primetshofer Offene Fragen des österreichischen Staatskirchenrechts .............. 169 Ernst C. Hellbling Staat und Kirche in Österreich aus evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . .. 183 Willibald M. Plöchl Wesen und Funktion der Konkordate am Beispiel des Österreichischen Konkordats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209 Alfred Kostelecky Anerkennung und Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates vom 5. Juni 1933 durch die Zusatzverträge mit dem Hl. Stuhl in den Jahren 1960 bis 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 215 Eugen Thurnher Kirche und Staat in österreichischer Dichtung ........................ 241 Ludwig Jedlicka Vatikanische Warnungen an österreich 1934 bis 1938 .................. 253 FranzLoidl Kaplan Heinrich Maier - ein Opfer des nationalsozialistischen Gewaltsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 271

Inhalt

VII

IV. Staat und christliche Politik Opilio Rossi Der Priester und die Politik .... . . . .... . ............................ 295

Rudolf Weiler Weg und Würde des Menschen ...................................... 303

JosefTaus Die katholische Soziallehre und die soziale Frage der Gegenwart. . . . .. 315

AloisMock Der Freiheitsbegriff in der katholischen Soziallehre ......... . ........ 319

Wendelin Ettmayer Der Eigentumsbegriff in der katholischen Soziallehre und sein Einfluß auf die Gestaltung der politischen Wirklichkeit in Österreich. . . . . . . . .. 331

Rudolf Sallinger Die Aufgaben des Unternehmers aus der Sicht christlichen Sozialdenkens ............................................................ 363 Karl Korinek Die Prinzipien des österreichischen Systems der Sozialpartnerschaft und ihre Fundierung in der katholischen Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . .. 369 J ohannes Messner Marx in der kirchlichen Soziallehre? ................................ 403

Hans Stercken Konservative überzeugungen. Gedanken gegen die Anpassung . . . . . . .. 419

Inhalt

VIII

V. Aufgaben und Probleme der Staatsordnung Wilhelm Korab Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Republik .... . ......... 429 Peter Oberndorfer Föderalismus und Medienpolitik .................................... 449 Wolfgang Waldstein Zur Rechtsstellung ungeborener Kinder ............ . ... . .... . . . .... 477 Ernst Kolb Erwägungen zum Proporz ... . ............. . ........................ 515

VI. Die internationale Ordnung Robert Prantner Die auswärtige Politik der Staaten und das Interesse der Kirche . . . . .. 523 Helmut Liedermann Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) aus österreichischer Sicht .......................................... 555 earl H. Bobleter Zum Dialog der Reichen und Armen der Völkergemeinschaft . . . . . . . . .. 579

VII. Würdigung Otto Hofmann-Wellenhof Von der Aufgabe des Politikers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 597 Robert Prantner Lebenslauf .......................................................... 603

Verzeichnis der Mitarbeiter

609

VORWORT In einer Zeit der Mehrzweckeverwendung des Staates und der damit auch verbundenen Notwendigkeit einer neuen Standortbestimmung des Einzelmenschen kommt der Kirche eine besondere Bedeutung zu. Sie sucht mit ihrer Lehre zur Beantwortung der Sinnfrage der Existenz des Einzelnen, der Interessen der Gesellschaft und der Zwecke des Staates beizutragen. In dieser Weise wirkt die Kirche über den Berei.ch des Religiösen auch auf das öffentliche Leben. Diese Bedeutung der ~irche für den Staat zeigt besonders die postkonziliare Bewegung, die sich um ein weltoffenes Verstehen der Gegenwartsprobleme und eine zeitmäße Formulierung seiner Lehre bemüht. Es eröffnet sich dabei eine Weite des Horizonts, in dem Kirche und Staat weniger in Konfrontation erscheinen, sondern vielmehr in gemeinsamer Sozialverantwortung im Dienste des einzelnen Menschen stehen. Zehn Jahre nach Beendigung des H. Vatikanischen Konzils sowie eingedenk seines Bestrebens na.ch ökumenischer und ökonomischer Brüderlichkeit ist es besonders aufgetragen, sich Gedanken über die heutigen Möglichkeiten des Beitrages der katholischen Kirche zur Entwicklung des Staates einer pluralen Gesellschaft zu machen. Diese Sicht des Verhältnisses von Kirche und Staat will als ein Beitrag zu einem Dialog verstanden sein, der vom katholischen Standpunkt aus nach einer Besinnung auf das gegenwärtige Selbstverständnis der Kirche und damit auch des Papsttums eine Problem abgrenzung von Kirche und Staat versucht, um anschließend die Stellung der Kirche in Österreich näher zu beleuchten und Einzelfragen einer Politik aus christlichem Gewisseri zu behandeln. Sie reichen unter Abgrenzung zum Marxismus vom Schutz des ungeborenen Lebens und der Würde des Menschen über den Freiheits- und Eigentumsbegriff in der katholischen Soziallehre sowie der Autorität in der parlamentarischen Republik bis zu aktuellen Fragen der Sozialpartnerschaft und der Medienpolitik. Probleme der Ordnung der Kirche und des Staates werden in gleicher Weise behandelt. Dabei gilt es, die Möglichkeit des Konfliktes und die Notwendigkeit des Widerstandes ebenso zu bedenken wie in einzelnen Fällen den Standpunkt der evangelischen Christen mit aufzunehmen.

x

Vorwort

Da die Lehre der Kirche nicht allein auf das innerstaatliche, sondern ebenso auf das internationale Gemeinwohl gerichtet ist, wurden auch Interessen der Kirche an der Außenpolitik sowie Probleme der Europäischen Sicherheit und des Dialogs der Reichen und Armen in der Völkergemeinschaft behandelt. Aufgaben des "bonum commune humanitatis" sollten dadurch verdeutlicht werden. Die Weite der Beziehungen von Kirche und Staat sowie die Vielzahl an Ordnungsproblemen des modernen Soziallebens ermöglichen keine Gesamtdarstellung, sondern erlauben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, bloß die Erfassung von Einzelfragen, zu deren Behandlung Persönlichkeiten aus Theorie und Praxis des kirchlichen und staatlichen Lebens sich in dankenswerter Weise bereit erklärt haben. Die geleisteten Beiträge drücken die Verbundenheit von christlichem Apostolat und politischer Verantwortung aus und seien einem Mann gewidmet, der sich beiden Aufgaben hingebend und oft auch unter Gefährdung seines Lebens verpflichtet fühlte: dem langjährigen Stellv. Vorsitzenden des Österreichischen Bundesrates Professor Dr. h. c. Fritz Eckert. Gerne nutze ich diese Gelegenheit, um Dank zu sagen; dieser gilt vor allem dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Ministerialrat a. D. Senator E. h. Professor Dr. Johannes Broermann, für das Verständnis, mit dem er dieses Buch in sein Verlagsprogramm aufgenommen und innerhalb kürzester Zeit veröffentlicht hat. Danken möchte ich auch Herrn Dozent Dr. Heribert F. J. Köck vom Institut für Völkerrecht und internationale Beziehungen der Universität Wien für seine über das bloß Redaktionelle hinausgehende Mitarbeit an der Herausgabe dieses Sammelbandes, an dessen Manuskriptfertigstellung Fräulein Gabriele Aigner vom Institut für öffentliches Recht und politische Wissenschaften der Universität Linz einen bedeutenden Anteil hatte. Herbert Schambeck

DIE KIRCHE UND DER DIALOG MIT DER WELT'" Vün Giüvanni Benelli Wien kann zurecht eine Drehscheibe der Zivilisatiün genannt werden, am Schnittpunkt der Bahnen zweier Welten gelegen, die sich hier begegnen, hier in Küntakt stehen: der Okzident und der Orient, die lateinische und germanische Welt und die Welt der Slaven; die abendländische Kultur, gleichermaßen lateinisch, hellenistisch und christlich; individualistische Ideülügien - eine Frucht der Aufklärung und der Französischen Revülutiün - und die marxistisch-kümmunistischen Ideülügien, wühl ürganisiert in mächtigen staatlichen Strukturen. Wüvün süll ich Ihnen sprechen? In den Gemeinschaften mit alter kathülischer Traditiün kümmt jeder das eine üder andere Mal mit der Kirche in Berührung. Die einen, weil sie ihr angehören, die anderen aber, ühne Mitglieder derselben zu sein, bei verschiedenen Anlässen im Laufe ihrer eigenen Tätigkeiten üder auf Gebieten, die sie sünst interessieren: auf dem Gebiet der Kultur, der Gesellschaft, der Diplümatie, der Pülitik usw. Vielleicht hat aber nüch nicht jeder Gelegenheit gehabt, die Natur und die RüHe der Kirche tiefer zu begreifen, und bleibt daher verlegen und ratlos. Dies ist leicht zu verstehen. Die Kirche ist in der Tat gleichzeitig ein Mysterium und eine süziale Institutiün; sie ist eine geistliche (üder, wie man sagt, pneumatische) und auch eine zweitausend Jahre alte histürische Realität. Und gerade unter diesem letzteren Aspekt hat die Kirche verschiedener Umstände halber häufig eine Rülle einnehmen müssen, die man nur als sekundär und üft als nicht durch ihre spezifische Natur eigentlich gefürdert bezeichnen kann. Wer sich heute mit der Kirche künfrüntiert, wird sie nürmalerweise nach aus der Geschichte gewünnenen Kriterien beurteilen, üder - mit anderen Würten - nach Kriterien histürischer Zusammenhänge, die nicht mehr die unseren sind, Kriterien vün Auffassungen, die als zeitgebunden betrachtet werden müssen.

'" Im Vürliegenden handelt es sich um die revidierte Fassung des Textes des am 4. Mai 1976 in Wien vor der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik gehaltenen Vortrages "L'Eglise et le dialogue avec le monde". Deutsche Übersetzung von Univ.-Doz. Dr. Heribert Franz Köck, Wien.

XII

Giovanni Benelli

Was ist nun die Kirche, welche Rolle will sie, ja muß sie in der Welt von heute spielen? Das Zweite Vatikanische Konzil gibt uns, vor allem in seinen Konstitutionen über die Kirche Lumen gentium und über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes ein klares Bild von ihr. über dieses möchte ich Ihnen sprechen. Im übrigen glaube ich, daß sich diese Wahl aufdrängt. Wenn Sie an mich herantreten, so erwarten Sie ja wohl im Zuge unserer ersten Begegnung, in jenem Moment, wo wir sozusagen Bekanntschaft schließen, nicht, daß ich Ihnen über ein Thema des Umweltschutzes oder der schönen Künste spreche, sondern von dem, was ein Bischof tatsächlich repräsentiert, von dem, worauf ihn seine Qualifikation geradewegs verweist: von der Kirche in ihrem Dialog mit der Welt. Was will, was sagt, was tut die Kirche in diesem Schmelztiegel der Zivilisationen, wie ihn die moderne Welt darstellt, und der, ich wiederhole es, hier in Wien seinen typischen Ort der Begegnung wie auch ein Symbol dessen, was unvereinbar ist und trotzdem gemeinsam gelebt wird, findet? Die einzige Antwort, die ich geben kann, lautet: die Kirche steht im Dienste der Menschheit. Sicherlich, in erster Linie ist sie Gemeinschaft der Gläubigen, die im Hl. Geist Christus verbunden und auf den Vater ausgerichtet sind. Damit ist sie aber gleichzeitig, in Analogie zur Liebe Gottes, auf die Welt hin ausgerichtet, diese zu lieben, ihr zu dienen und sie zu retten. Sie hat die Pflicht des Dienstes am Menschen, an jedem einzelnen und am ganzen Menschen, an den Gläubigen und Ungläubigen, den Männern und den Frauen, denen im Westen und denen im Osten - an allen. Dies ist ihre Berufung, ihre Sendung, ihr Charisma. Und sie weiß, daß dies ihre Aufgabe ist, trotz ihrer inneren Grenzen und Schwächen, weil ihr dies alles durch ihren Stifter Jesus Christus anvertraut worden ist. Sie ist sich auch bewußt, daß sie zur Durchführung dieses Auftrages den ihr eigenen Bedingungen unterworfen bleibt, wie sie sich für sie aus der Offenbarung ergeben. Sie ist in der Welt, blickt aber über die Welt hinaus; und sie hat so ihre eigenen Vorstellungen, ihre eigene Lehre, die sie nicht aufgeben kann, weil sie nicht von ihr stammt, sondern von Gott. Und sie will diese Ideen auch anderen vorlegen, sie in der Welt verbreiten, weil sie weiß, daß sie ein wohltätiges Geheimnis enthalten, ein Geheimnis, das für den Frieden und den Fortschritt der Welt entscheidend ist: das Geheimnis des stetigen Aufstiegs der Menschheit. Die Kirche weiß, daß sie diesen Beitrag leisten, dem Menschen helfen muß, seine Identität wiederzufinden und zu bewahren, und zwar gerade auf dem Boden dieser Lehre. Sie ist nicht im Schlepptau der geschichtlichen Entwicklung, wird nicht Sklave des Historizismus, des doktrinellen Relativismus, opfert keinen

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

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Teil ihrer selbst auf dem Altar des Zeitgeistes. Diese Kirche glaubt, macht den Glauben zu ihrem Lebensinhalt; sie weiß sich als Trägerin einer Botschaft des Heiles, des geoffenbarten Wortes. Diese Kirche versteht sich als, ja will sein Ferment und Sauerteig der Welt von heute, in der Kultur von heute. Diese Kirche ist sich ihrer Aufgabe bewußt, der Motor, nicht bloß ein Anhängsel der Gesellschaft der Gegenwart zu sein. Diese Kirche weiß sich erfüllt vom Wort des Lebens, mit der Verpflichtung, es im Geiste des Dienstes allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Sie dient der Kultur des Menschen, d. h. seinem intellektuellen, sozialen und spirituellen Leben. Dies ist die große Vision - ich wiederhole es - von Gaudium et spes wie auch des Pontifikats Pauls VI. (vgl. seine Ansprache an die römischen Künstler vom 7. Mai 1964) und überhaupt der Päpste, die unseren Gang durch dieses Jahrhundert begleitet haben. In diesem Rahmen wollen wir nunmehr die folgenden Punkte erörtern: I. die Kirche ist der Welt nicht fremd; 11. die Kirche arbeitet für die Entwicklung in der Zeit; 111. die Kirche dient der Menschheit, so wie sie ist; IV. diesen Dienst leistet sie heute durch den Dialog; V. Dialog mit allen, auch mit dem atheistischen Marxismus-Kommunismus? I. Kirche und Welt Vor allem: die Kirche ist in der Welt, sie ist der Welt nicht fremd. Kirche und Welt, Kirche und Geschichte, Kirche und Zeit: das sind nicht bloß vereinfachte Ausdrücke, um eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz zwischen zwei Realitäten zu bezeichnen, die einander fremd und nicht selten von gegenseitigem Mißtrauen beseelt sind. Die Kirche ist der Welt und der Geschichte nicht bloß konfrontiert, sie ist in der Welt, dieser Welt, sie ist in der Zeit, dieser Zeit; dies ist nicht ein bloß zufälliges Faktum, nein, dies gehört zur Natur der Kirche selbst. Und so muß sie daher die Geschichte und die vorgegebene historische Situation befragen, muß die Zeichen der Zeit erkennen, ohne gleich in Relativismus zu verfallen, das wesentlich Transzendente und das eschatologische Ziel ihrer Botschaft und ihres Heilswerkes zu kompromittieren; währ,end sie sich auf keinen Fall mit dem Fortschritt der menschlichen Zivilisation identifiziert, leistet die Kirche zu diesem doch ihren Beitrag. Schließlich anerkennt die Kirche - wiewohl sie sich zu ihrer eigenen Art und Weise der Gegenwart und zum endlichen Ziel ihres HandeIns

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Giovanni Benelli

in der Welt von heute bekennt - "alles, was sie von der Geschichte und von der Entwicklung des Menschengeschlechtes empfangen hat" (Gaudium et spes, 44); sie weiß, wie zahlreich und behutsam die Beziehungen zwischen dem Evangelium Christi und der menschlichen Kultur sind, ohne daß irgend eine Kultur oder Zivilisation die Heilsbotschaft völlig ausschöpfen oder gar für sich reklamieren könnte. Dank dieser Beziehungen erfährt "die Kirche so gut wie die verschiedenen Kulturen" eine Bereicherung. (Ibid., 58) Zur Beziehung zwischen Kirche und Welt hat sich Papst Johannes XXIII. in seiner Botschaft Ecclesia lumen gentium vom 11. September 1962 folgendermaßen ausgedrückt: "Betrachten wir die Kirche auch unter dem Aspekt ihrer Vitalität ad extra. Angesichts der Forderungen und der Notwendigkeiten der Völker - die die Wechselfälle des menschlichen Lebens eher auf die Schätzung und den Genuß der Güter dieser Welt hinlenkt - weiß sie sich verpflichtet, ihrer Verantwortung dadurch gerecht zu werden, daß sie die Menschen lehrt, die zeitlichen Güter so zu gebrauchen, daß sie die ewigen nicht verlieren." Und der gleiche Papst, der die Notwendigkeit gefühlt und erfahren hatte, die Kirche der Welt in einer den neuen Realitäten angepaßten Weise zu öffnen, unterstrich: "Die Welt braucht Christus; und es ist die Kirche, die Christus der Welt geben muß. Die Welt hat ihre Probleme. Häuflg sucht sie nur unter Bangen für diese eine Lösung ... Die Kirche hat sich diese so schweren Probleme stets zu Herzen genommen. Sie hat sie zum Gegenstand aufmerksamen Studiums gemacht ... , um Lösungen anbieten zu können, welche der Würde des Menschen und seiner christlichen Berufung entsprechen." (Doc. cath. 1962, co!. 1219) Die Heilssendung der Kirche - weit davon entfernt, sie der Welt zu entfremden - macht sie gegenüber dieser solidarisch und am Schicksal der gesamten Menschheit umfassend interessiert: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden." (Gaudium et spes, 1) Die Beziehungen zwischen der Kirche und der Welt können viele und verschiedene Aspekte an sich tragen. Theoretisch gesprochen, könnte die Kirche eine Verminderung dieser Beziehungen auf ein Mindestmaß ins Auge fassen, indem sie sich aus dem Umgang mit der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuziehen versucht. Sie könnte sich andererseits aber auch der bürgerlichen Gesellschaft bis zu jenem Punkte nähern, wo sie

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

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versucht, auf diese einen entscheidenden Einfluß oder gar eine theokratische Gewalt auszuüben (vgl. Ecclesiam suam). Jedenfalls stellen sich aber hinsichtlich dieser Problematik folgende Fragen: -

Bis zu welchem Punkt muß sich die Kirche den geschichtlichen und lokalen Gegebenheiten anpassen, unter denen sie ihre Mission ausübt?

-

Wie kann sie sich gegen die Gefahr eines gewissen Relativismus wahren?

-

Wie kann sie sich allen Menschen nähern, um alle zu retten? (vgl. 1 Kor. 9, 22).

Man kann die Welt nicht von außen retten, man muß sich vielmehr in gewissem Maße den Lebensformen derjenigen anpassen, denen man die Botschaft Christi bringen will. Soweit ihre Gewohnheiten menschlich und anständig sind, muß man sie teilen. Bevor man spricht, muß man zuhören, der Stimme und dem Herzen der Menschen, muß sie verstehen und achten (vgl. Ecclesiam suam). 11. Die spezifische Sendung der Kirche Gerade deshalb und um dieses Zweckes willen ist die Kirche in die Geschichte gesandt, wirkt in ihr und trägt so zu ihrer Entwicklung, zu ihrem geordneten Fortschreiten in Richtung auf ihre letzten Ziele bei. Die Idee einer Entwicklung und eines geordneten Fortschreitens der menschlichen und kosmischen Geschichte unter einem bestimmten Ziel ist für die christliche Philosophie charakteristisch. Im Gegensatz zum geschlossenen Konzept der griechischen und der hellenistischen Philosophie, für welche sich alles wiederholt und auf sich selbst zurückkommt, in einem sich ständig um seine eigene Achse drehenden Kreis, läuft die Geschichte nach christlicher Sicht geradlinig ab, auf ein wohlbekanntes Ziel ausgerichtet, das von einer höheren Intelligenz und einem höheren Willen entworfen und gewollt ist (vgl. Dionigi Tettamanzi, "Introduzione generale", La Chiesa incontro al Mondo, Mailand 1967, S. 14 - 22). Die christliche Offenbarung macht klar, daß der Zweck der menschlichen Geschichte die erlösende Begegnung zwischen Gott und den Menschen in der Person und im Werke Christi ist. In der menschlichen Geschichte ist nichts dem Zufall überlassen, denn jedes Ereignis nimmt Teil am göttlichen Plan und dient der Verwirklichung der letzten Bedeutung der Geschichte selbst: die erlösende Begegnung mit Gott in Christus für alle Menschen möglich und gegenwärtig zu machen. Dies ist wahrhaft eine wunderbare religiöse Vision. Weit davon entfernt, das Engagement

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Giovanni Benelli

des Menschen und der Gemeinschaft in der Gestaltung der Geschichte zu beeinträchtigen, fordert sie vielmehr eine solche Gestaltung noch stärker, erfüllt sie mit neuem Geist und bereichert sie mit einem neuen Inhalt. Das Engagement in der Geschichte wird für den Christen zu einem freudigen und kräftigen "Ja" zum Heilsplan Gottes (Gaudium et spes, 33 - 39). In gewissem Sinne bietet die Kirche das zweifache Gesicht der Transzendenz und der Immanenz dar. "Hervorgegangen aus der Liebe des ewigen Vaters, in der Zeit gestiftet von Christus dem Erlöser, geeint im Heiligen Geist, hat die Kirche das endzeitliche Heil zum Ziel, das erst in der künftigen Weltzeit voll verwirklicht werden kann. Sie ist aber schon hier auf Erden anwesend, gesammelt aus Menschen, Gliedern des irdischen Gemeinwesens, die dazu berufen sind, schon in dieser geschichtlichen Zeit der Menschheit die Familie der Kinder Gottes zu bilden, die bis zur Ankunft des Herrn stetig wachsen soll. Der himmlischen Güter willen geeint und von ihnen erfüllt, ist diese Familie von Christus ,in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet' und ,mit geeigneten Mitteln sichtbarer und gesellschaftlicher Einheit' ausgerüstet. So geht denn diese Kirche, zugleich ,sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft', den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft." (Gaudium et spes, 40) Die Sendung der Kirche ist eine religiöse, weil sie auf das übernatürliche Heil des Menschen gerichtet ist, aber ihre Lehre über den Menschen und die Gesellschaft ist und erweist sich als Hilfeleistung für den einzelnen und für die Gemeinschaft: "In Verfolgung ihrer eigenen Heilsabsicht vermittelt die Kirche nicht nur den Menschen das göttliche Leben, sondern läßt dessen Widerschein mehr oder weniger auf die ganze Welt fallen, vor allem durch die Heilung und Hebung der menschlichen Personwürde, durch die Festigung des menschlichen Gemeinschaftsgefüges, durch die Erfüllung des alltäglichen menschlichen Schaffens mit tieferer Sinnhaftigkeit und Bedeutung. So glaubt die Kirche durch ihre einzelnen Glieder und als ganze viel zu einer humaneren Gestaltung der Menschenfamilie und ihrer Geschichte beitragen zu können." (Gaudium et spes, 40) 111. Der Dienst der Kirche am Menschen Bei der Erfüllung dieser Aufgabe hat die Kirche aber kein utopisches Bild der Menschheit vor Augen. Sie dient ihr so, wie sie ist. Sie trauert nicht vergangenen Epochen nach, träumt noch weniger von nicht realisierbaren Phantasiegebilden, wo sie ihre Vorherrschaft errichten könnte. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß sie sich nicht hinter soziologischen Barrieren oder im Innteren geographischer Begrenzungen einschließt. Durchaus nicht. Die Kirche ist kein Ghetto; sie beschränkt ihre Tätig-

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

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keit nicht auf die Gemeinschaft der Gläubigen. Sie ist nicht in sich selbst zurückgezogen, allein darauf bedacht, fortzuschreiten, sich und dem katholischen Lager mehr innere Festigkeit zu geben, sich gegen äußere Bedrohungen zu verteidigen, um den Rest aber sich nicht zu kümmern. Im Gegenteil: Die Kirche erstreckt ihr Interesse, ihre Verantwortung, ihr Handeln auf alle Menschen, wes Glaubens, welcher Farbe, welcher Rasse und Sache auch immer ... Alle werden in den Bereich der sichtbaren oder unsichtbaren Vermittlung der Kirche einbezogen. Das war es, was Christus wollte; und die Kirche setzt nur seine Sendung fort. Wiewohl sie aber vom Menschen und seinen dringendsten Problemen spricht, wünscht sie doch, daß die Augen der Menschen auf das Gesicht Christi, des fleischgewordenen Wortes, gerichtet seien. Christus erscheint so als "Modell" und als "Prinzip" der menschlichen und christlichen Entwicklung. Indem sie dies klarmacht, dient die Kirche der ganzen Menschheit; so wie diese sich darbietet, mit allen ihren Licht- und Schattenseiten, mit ihren Dramen und ihrem Enthusiasmus des Fortschritts, mit ihrem Jammer und mit ihrer Größe. IV. Wie aber diesen Dienst leisten?

Vor allem durch einen aufrichtigen Dialog. In seiner ersten Enzyklika Ecc1esiam suam, einem wahren Programm dieser so reichen Jahre seines Pontifikats, sah Paul VI. im Dialog die entscheidende Haltung der Kirche. Und weil ich nun vom Dialog zu sprechen begonnen habe, wollen Sie mir gestatten, uns die Person Pauls VI. selbst vor Augen zu rufen, den ich als den "Papst des Dialoges" zu bezeichnen wage. Er gibt täglich Beispiele dieses Dialogs. Wie Paul VI. es im Prolog zu seiner ersten Enzyklika selbst betont hat, ist er sich ganz grundlegend der Dringlichkeit des Dialogs bewußt, "als eines Gewichtes, eines Dranges, beinahe einer Berufung." Wer dies aus der Nähe betrachten kann, legt davon bewundernd und erbaut Zeugnis ab. Ich möchte auf diesem Gebiet keine Synthese versuchen. Eine solche würde ein zu weites Ausholen erheischen; ich beschränke mich auf einige ganz kurze Bemerkungen. 1. Das erste feierliche Dokument seines Pontifikats, das sich an die ganze Kirche und an alle Menschen guten Willens richtet, Ecc1esiam suam, können wir mit Recht eine Enzyklika über den Dialog nennen. Das Dokument geht von einer wesentlich grundsätzlichen Behauptung aus, nämlich vom übernatürlichen Ursprung des Dialogs des Heils. Von

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Giovanni Benelli

da aus zeigt es die großen Linien unseres Dialoges auf, der sich gleichsam wie in konzentrischen Kreisen entwickeln muß, nichts Menschliches dabei außer acht lassend. 2. Die Reisen Pauls VI. - eine Neuerung in der Geschichte des römischen Pontifikats - sind unter anderem ebenfalls Ausdruck des Willens zum Dialog mit allen. Auf diesen Reisen hat der Papst alle Vertreter der Menschheitsfamilie getroffen: Landarbeiter, Fabriksarbeiter, Wissenschaftler, Diplomaten und dergleichen; auch die Kranken und die Unbemittelten. Sein Schuh versank im Schmutz eines Armenviertels, an der Peripherie von Bogota, wie auch in Tondo und in Manila. 3. Paul VI. hat für den inner kirchlichen Dialog neue Strukturen geschaffen. Die Bischofssynode, die internationale theologische Kommission, das Familienkomitee ... ; diese Einrichtungen erlauben eine systematische Konsultierung zum Zwecke der Feststellung der brennendsten Probleme, die sich heute dem Gewissen der Kirche darbieten. 4. Vor allem aber hat Paul VI. jene Einrichtungen entwickelt, die dem Dialog mit allen dienen, die an der katholischen Gemeinschaft oder am christlichen Glauben noch nicht Anteil haben. Das von Johannes XXIII. 1960 für den Dialog mit den getrennten Brüdern eingerichtete Sekretariat für die Einheit der Christen hat er verstärkt. Er hat die Gesten und die Vorstöße auf diesem Gebiet vervielfältigt. Wer erinnert sich nicht mit Rührung an die einfache und gleichzeitig ausdrucksvolle Art, mit der er in der Haltung des Dienenden die Füße des Erzbischofs Meliton, des Gesandten des Patriarchen von Konstantinopel, umarmte? Er hat das Sekretariat für die Nichtchristen zum Zwecke des Dialoges mit den großen Religionen der Welt, vor allem der afroasiatischen Welt, errichtet. Er hat das Sekretariat für die Nichtgläubigen geschaffen, um eine Verbindung zu allen jenen zu schaffen, die in ehrlicher Gesinnung die Wahrheit suchen. Paul VI. hat unter anderem auch die Päpstliche Kommission Justitia et Pax errichtet, um in der Welt einen Dialog zugunsten von Fortschritt, Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen; desgleichen den Päpstlichen Rat Cor Unum zur effektiveren Bereitstellung der aus christlicher Liebe gegebenen Hilfe und zur Koordinierung der karitativen katholischen Institutionen, damit der dringendsten Not rasch abgeholfen werden könne. Ecclesiam suam ist also sicherlich kein toter Buchstabe geblieben!

Kommen wir aber auf unser Thema zurück. Die Verkündigung der Frohbotschaft selbst, die ja die raison d'etre der Kirche darstellt, die Verkündigung in ihren verschiedenen Formen, läßt sich auf den Dialog mit den anderen - wer immer diese im konkreten Fall sein mögen - zurückführen. Das vor kurzem erschienene Dokument Evangelii nuntiandi zeichnet davon ein umfassendes Bild, das durch seine Fülle begeistert

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

XIX

und überwältigt. Und dieser Dialog wird um so dringender, als die Welt sich von allem, was den Glauben betrifft, zu entfernen, ja ihn manchmal sogar abzulehnen scheint. Zwar darf unsere Sorge sicherlich nicht zu einer Abschwächung, zu einer Verminderung der Wahrheit führen. Manchmal wirft man den Katholiken vor, sie seien intransigent. Es ist aber die Wahrheit, die intransigent ist. Wäre sie es nicht, sie wäre nicht die Wahrheit. Das Apostolat kann nicht in zweideutigem Komprorniß das Bekenntnis des christlichen Glaubens übergehen. Irenismus und Synkretismus bilden die Grundlage für Arten des Skeptizismus. Nur wer die Fülle der christlichen Berufung lebt, wird gegen jene Irrtümer, mit denen er gegebenenfalls in Berührung kommt, immun sein (vgl. Ecclesiam suam).

Die Kirche kennt ihre Grenzen; aber die Kirche weiß auch, daß sie Samen, Ferment, daß sie das Salz und das Licht der Erde ~st. Die Kirche verspricht kein irdisches Glück, aber sie bietet ihr Licht, ihre Gnade an. Die Kirche spricht von Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Fortschritt, Eintracht, Frieden, Zivilisation. Die Kirche hat eine Botschaft für alle Menschen; sie kann daher mit allen in einen Dialog eintreten (vgl. Ecclesiamsuam).

Einige werden die Kirche vielleicht des Willens zur Macht, ungemessener Ansprüche und der Arroganz verdächtigen. Aber die Botschaft die sie vorlegt, die Gnade, die sie weitergibt, dies alles kommt nicht von ihr. Sie weiß, daß das, was sie tut, nicht ihr Verdienst ist; sie tut es daher in aller Bescheidenheit, die nur eine freiwillige Annahme der Liebe Gottes sucht, ohne einen der menschlichen Werte, die sie vorfindet, zu verachten, die menschliche Freiheit auch nur im geringsten zu kränken. Wie Christus möchte sie dienen, von der Demut der Krippe bis zum Opfer auf Kalvaria. Die Kirche erstrebt den Beginn des Reiches Gottes, sie arbeitet am geistlichen Fortschritt, aber die Früchte ihres Apostolats schreibt sie dem Wrirken des Hl. Geistes zu. Der Dialog mit der Welt muß als ein Dienst betrachtet werden, bestimmt, das Evangelium der Wahrheit zu verkünden und die Liebe mitzuteilen. In seiner Ansprache in Bethlehem im 6. Jänner 1964 hat Paul VI. den tieferen Grund für den Dialog der Kirche mit der Welt angegeben: "Wir betrachten die Welt mit großer Anteilnahme. Wenn sich die Welt dem Christentum gegenüber fremd fühlt, fühlt sich das Christentum der Welt gegenüber nicht fremd, unter welchem Aspekt auch immer die Welt erscheint und welche Haltung sie auch zum Christentum einnehmen mag. Daß die Welt es denn wisse: die Vertreter und die Förderer der Religion schätzen sie, und lieben sie mit höherer und unauslöschlicher Liebe."

Der Grund, der die Kirche zum Dialog mit der Welt veranlaßt, liegt also nicht in ihrer eigenen Ambition, noch weniger im Bestreben, in die Kreise der Mächtigen einzudringen oder ökonomische Vorteile zu erlan-

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Giovanni Benelli

gen; es sind vielmehr aus der Offenbarung geschöpfte und theologische Motive, die in dem einen Ausdruck zusammengefaßt werden können: die Liebe der Kirche für die Menschheit. Um in den Dialog einzutreten, muß die Kirche danach streben, ihr eigenes Selbstverständnis immer mehr zu erhellen und sich selbst nach dem von Christus gegebenen Vorbild auszurichten. Die Kirche unterscheidet sich in so ferne wesentlich vom menschlichen Milieu, d. h. von der Welt. Dieser Unterschied bedeutet jedoch weder Trennung noch Teilnahmslosigkeit. Die Kirche unterscheidet sich von der Menschheit, steht aber nicht im Gegensatz zu ihr. Im Gegenteil: die Kirche ist ganz Wort, Botschaft, Ort der Begegnung (vgl. Ecclesiam suam). Der Dialog in der heutigen Zeit kann unter Zugrundelegung der in Ecclesiam suam dargelegten Prinzipien begonnen und ausgerichtet werden: -

indem man sich daran gewöhnt, die Beziehungen zwischen dem Heiligen und dem Profanen in dieser Weise zu betrachten;

-

durch eine Dynamik, die die moderne Gesellschaft umwandelt;

-

durch den Pluralismus der Manifestationen dieser Dynamik;

-

durch die Reifung des reLigiösen wie des nichtreligiösen Menschen, der durch die Kultur dazu befähigt ist zu denken, zu sprechen und den Dialog aufzunehmen;

-

durch die Vorteile, die dieser Dialog mit sich bringt, indem er eine Bereitschaft zu höflicher Begegnung und ein Zeichen der Wertschätzung, der Sympathie und des Wohlwollens ist und jede Verurteilung a priori, jede beleidigende Polemik, aber auch die Eitelkeit nutzlosen Geredes ausschließt.

Es ist jedenfalls die Kirche, welche die Initiative zum Dialog mit de·, Welt ergreifen muß, ohne darauf zu warten, ihrerseits aufgefordert zu werden. Sie tut dies nicht mit Mitteln äußeren Zwanges, sondern ausschließlich auf den legitimen Wegen der Erziehung des Menschen, der inneren überzeugung, der gewöhnlichen Bekehrung; und wenn sie den Menschen ihre Gabe des Heiles anbietet, tut sie dies stets in der Achtung vor der persönlichen und bürgerlichen Freiheit. Der Dialog der Kirche muß zumindestens grundsätzlich universal, katholisch sein. Das heißt, er muß mit jedem geführt werden können, solange der Mensch ihn nicht kategorisch ablehnt oder ihn - unter Verschleierung seiner wahren Absichten - nur scheinbar annimmt. Er muß entgegenkommend sein, soll den rechten Augenblick wählen und darf keine Zeit verlieren. Er darf nicht versuchen, um jeden Preis eine Umkehr des Gesprächspartners zu erlangen, sondern muß dessen Würde und Freiheit achten; gleichzeitig ist er aber immer auf eine Stärkung des Gemeinsamen im Fühlen und Denken gerichtet.

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

XXI

Um wirksam zu sein, muß der Dialog geführt werden: -

mit Klarheit;

-

mit Güte, ohne Arroganz und ohne beleidigende Absicht;

-

mit Vertrauen auf die eigenen Aussagen und die Fähigkeit des Gesprächspartners, dieselbe zu verstehen;

-

mit Klugheit. Der so geführte Dialog läßt deutlich werden:

-

wie verschieden die Wege zur Wahrheit sind;

-

daß die verschiedenen Wege sich ergänzen können;

-

daß man die Forschung immer mehr vertiefen und die Begriffe stets neu formulieren muß.

Wie grundlegend der Dialog aber auch immer sein mag und wie bedürftig des gläubigen Zeugen, die geheimen Wege in der Seele des Gesprächspartners bleiben Sache seiner Freiheit und das Werk des Hl. Geistes. Kurz gesagt: im Dialog realisiert sich die Vereinigung von Wahrheit und Güte, von Intelligenz und Liebe. Man muß hier sehr auf die besonderen Bedingungen des Dialogs, auch soweit sie den Glauben und die grundlegenden überzeugungen der Existenz betreffen, achten. In diesem Fall kann man nicht nach einem freundlichen Ausgleich der Meinungen, nach einem vorschnellen Kompromiß zwischen Ideen und Ideologien trachten - der Dialog ist kein Mittel, um den Pluralismus der Meinungen oder der überzeugungen zu überwinden; die Identität der beteiligten Personen und ihre gesamte Lebensbasis steht auf dem Spiel. Es kann sich also nicht darum handeln, seinen eigenen Glauben aufzugeben oder die Unterwerfung des anderen zu fordern. Und doch darf man auch nicht in der fruchtlosen Gegenüberstellung zweier Monologe verharren. Der Dialog ist zuallererst darauf gerichtet, durch die Fragen des Gesprächspartners die eigene Identität klarer und tiefer zu erfassen; denn der eine ist so gezwungen, dem anderen gegenüber seine eigene Haltung zu dessen Ideen zu erklären, und umgekehrt. Mit anderen Worten: der Dialog hat gleichermaßen das Ziel: -

die eigene Identität dem anderen klar zu erklären;

-

die Identität des Gesprächspartners und dessen Ideen aufzudecken oder besser zu verstehen;

-

allenfalls bestehende gemeinsame Werte festzustellen.

XXII

Giovanni Benelli

Um diese Ziele zu erreichen, setzt der Dialog als Grundlage eine gemeinsame Haltung der Achtung vor dem Menschen und ein gemeinsames Streben nach der Wahrheit voraus, die nur eine sein kann. Wie wir später sehen werden, sind dies die Gründe dafür, warum ein echter Dialog zwischen Kirche und atheistischem Kommunismus so schwierig, ja unmöglich ist. Es ist daher entscheidend, daß die Gesprächspartner von der Existenz der Wahrheit überzeugt sind, und daß der Dialog auf ihre Erfassung oder doch auf ein sich ihr Nähern gerichtet ist. Nur durch die Suche nach der Wahrheit öffnet sich die Pforte der Freiheit, kommt der Mensch zur Fülle seiner Wesensnatur. Die Konstitution Gaudium et spes, welche ja das Konzilsdokument über die Kirche im Dialog mit der Welt ist, ist ganz auf den Menschen ausgerichtet (No. 3). Der Mensch ist tatsächlich in allen Komponenten seines Seins betrachtet, unter allen Ausrichtungen, nach denen er handelt. Der Mensch in seinen Ausrichtungen ist Seele, Körper, Intelligenz, moralisches Gewissen und Freiheit. In seinem ganzen Sein, in allem seinem Handeln ist er auf Gott hin ausgerichtet, der ihn nach seinem Ebenbild geschaffen hat; er öffnet sich den anderen Menschen durch die innere Notwendigkeit seiner Sozialität, die in den konzentrischen Kreisen der Familie, der Kultur, der lokalen und politischen Gemeinschaft, schließlich in der gesamten Menschheit zum Ausdruck kommt. Er wendet sich der Welt der Dinge zu, weil er berufen ist, sie zu verändern und nach dem Plan Gottes sich untertan zu machen. Er greift aktiv, als Protagonist, in die Geschichte ein. An diesem Punkt können wir den Appell Pauls VI. wiederholen, den dieser in der Schlußsitzung des Konzils gemacht hat: "Gesteht wenigstens dieses Verdienst zu, ihr modernen Humanisten, die ihr auf die Transzendenz des höchsten Dinges verzichtet, und lernt, unseren neuen Humanismus anzuerkennen: auch wir, mehr als irgendjemand sonst, auch wir haben den Kult des Menschen." (7. Dezember 1965) Die Gesellschaft nimmt ihren Ursprung von der menschlichen Person, denn diese ist gleichzeitig arm an Hilfsmitteln - weshalb sie die Hilfe anderer nötig hat - und reich an Talenten, weshalb sie gerufen ist, sich zu öffnen und sich den anderen hinzugeben. Und die Gesellschaft wendet sich ihrerseits der Person zu, denn ihre eigentliche Bedeutung liegt im Dienst an der Person. Aber die Sozialität des Menschen ist auch ein ethischer Imperativ: Wenn die Gesellschaft zur Förderung des Gemeinwohls berufen ist, sind es doch ihre Glieder, welche es realisieren. Alle sind daher eingeladen, ihren Beitrag zum sozialen Leben zu leisten. Das Konzil ruft die Not-

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

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wendigkeit, die individualistische Ethik zu überwinden, ins Bewußtsein und unterstreicht mehrmals mit Nachdruck die moralische Verpflichtung zur aktiven Teilnahme am Leben der Gemeinschaft (vgl. Gaudium et spes, 30 - 31). Das Leben in der Gesellschaft menschlicher Wesen ist daher geordnet, fruchtbar und entspricht der personalen Würde, wenn es auf die Wahrheit gegründet ist, sich auf Gerechtigkeit aufbaut, durch die Liebe belebt und integriert, in Freiheit realisiert wird (vgl. Gaudium et spes, 26). Hier wiederholt der Konzilstext nur, was Johannes XXIII. schon zuvor in seiner Enzyklika Pacem in terris erklärt hat.

V. Dialog mit allen, auch mit dem atheistischen Marxismus-Kommunismus? Unsere gebildeten Zeitgenossen versuchen, den Dialog vom philosophischen und methodologischen Standpunkt aus zu definieren. Sie weisen dabei ständig darauf hin, daß der Dialog die Gegenwart anderer und eine Rezoprozität voraussetzt. Wenn das Konzil, und durch dieses die Kirche, sich der Welt zugewendet haben, um mit ihr in einen Dialog einzutreten, ist es nur legitim, sich zu fragen, was die Antwort der Menschen aus Politik und Kultur darauf gewesen ist. Solche Antworten sind eingegangen von Staaten aus Europa und anderen Teilen der Welt. Sie sind von Gläubigen und Nichtgläubigen gekommen, von Personen mit einer der katholischen Kirche völlig gegensätzlichen philosophischen und ideologischen überzeugung. So stellt sich heute das Problem des Dialogs in seiner ganzen Schwere auch mit den Atheisten und insbesondere mit dem Marxismus-Kommunismus, der unter den Gesprächspartnern der mächtigste ist, den die Kirche heute auf ihrem Weg vorfindet. Der Dialog muß verfolgt werden, man muß aber in aller Ehrlichkeit zugeben, daß er reichlich schwierig ist mit Personen, welche wirtschaftlichen und sozialen Ideologien anhängen, die sich auf ein rein materialistisches Konzept des Lebens stützen. Vielleicht mag er sogar unmöglich erscheinen. Die Konfrontation mit der Kultur, besonders mit der marxistischen, ist in der Tat eines der schwierigsten Probleme der Kirche von heute: der Marxismus, mit den von ihm zur Gesamtinterpretation des Menschen und der Geschichte angebotenen Grundsätzen, ist das Substrat eines großen Teiles der Kultur und der Mentalität der gegenwärtigen Welt. Er fordert die Kirche in entscheidenden, von Menschen betreffenden Themen heraus: was seine Natur, seine Geschichte, seine Arbeit, seine Freiheit, die Zukunft der Welt anlangt. Wie wir gesehen haben, hat die Kirche über dieselben Themen ihre eigene Auffassung, ihre eigenen

XXIV

Giovanni Benelli

Lehre, und sie trägt für diese eine Verantwortung, die sie nicht aufgeben kann. Sie weiß, daß der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, daß er in seinem unsterblichen Sein einen nicht unterdrückbaren Zug in Richtung auf Gott und die Religion hin besitzt: "Fecisti nos, Domine, ad Te, et inqietum est cor nos trum, donec requiescat in Te." (Augustinus, Canf. 1,

1.)

Wegen dieser dem Menschen seinem Wesen nach zukommenden Würde, wie sie von der göttlichen Offenbarung enthüllt wird, weiß die Kirche den Menschen als Herrn des Universums, der durch seine Arbeit das Werk Gottes fortsetzt. Sie feiert die menschliche Freiheit; kennt deren Größe, aber auch deren Grenzen. Die Kirche erwartet eine eschatologische Zukunft, aber sie weiß, daß diese hier auf Erden niemals völlig verwirklicht werden kann, wenngleich sie entschlossen ist, alles, was sie hat und für die materielle, zivile, wirtschaftliche und geistige Besserstellung des Menschen tun kann, auch anzubieten. Die Kirche weiß, daß zahlreiche der vom Marxismus-Kommunismus angebotenen Lösungen nur Utopien sind oder doch dazu führen würden, den Menschen unbefriedigt, ja verstümmelt zu lassen; und sie spricht dies offen aus. Ist der Unterschied zwischen der Position der Kirche und des Marxismus bzw. Kommunismus in den genannten Punkten einmal klar herausgestellt, so muß man sich fragen, welche konkrete Möglichkeit für einen Dialog mit ihm es heute für die Kirche überhaupt noch geben kann. Wir wissen, daß die Kirche ihre Grundsätze hat, die sie nicht übergehen kann, ohne ihre eigentliche Sendung zu verraten. Wir wissen auch, daß die Kirche nicht nur die Pflicht, sondern auch die Fähigkeit besitzt, dank ihrer ausgebildeten Soziallehre, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, zu dessen Fortschritt beizutragen. Und da der Marxismus-Kommunismus behauptet, er verfolge das gleiche Ziel, frägt man uns heute von allen Seiten, welche Haltung die Kirche zum Marxismus-Kommunismus einnimmt. Zahlreiche Motive scheinen diese Frage noch dringlicher zu machen; Motive wissenschaftlicher Natur, denn die marxistischen Philosophen äußerten den Wunsch, die geläufigen nicht-marxistischen Ideologien kennenzulernen. Nach ihnen dürfe der Marxismus kein Monolog sein, sondern ein Dialog mit allen Schöpfungen des Menschen. Wie etwa Garaudy sagt, muß der Marxismus "auch im Christentum die wahre menschliche Realität und ihren authentischen Inhalt suchen". Nach Garaudy, Machovec und anderen Theoretikern, muß das erste Ziel des Dialoges das Gemeinsame Forschen nach dem Sinn des Lebens sein. Es sind also politisch-taktische Motive, welche hier darzustellen ich mir ob der Unmöglichkeit, dies der großen Vielfalt konkreter Fälle hal-

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

xxv

ber zu tun, versagen muß. Aber ist es auch eine Tatsache, daß Johannes XXIII. in seinen Enzykliken Mater et Magistra und Pacem in terris, das Zweite Vatikanum in seiner Konstitution Gaudium et spes und Paul VI. in der Enzyklika Ecclesiam suam das Problem des Dialogs selbst mit dem Atheismus in konkreter und mutiger Weise in Betracht gezogen haben. Die vom Zweiten Vatikanum begonnene Reform des kirchlichen Lebens ist von den Marxisten vielleicht manchmal auch als ein von der Kirche gegebenes Freizeichen für revolutionäre Bewegungen betrachtet worden, die darauf aus sind, die bestehende Ordnung zu ändern, um einen neuen Menschen in einer Gesellschaft zu schaffen, die vom kapitalistischen überbau befreit worden ist (vgl. Giovanni Ricci, "Roger Garaudy 0 il dialogo povero", 57 La Rivista deI Clero Italiano 1976/IV). Für eine klare Definition des Problems ist es nunmehr notwendig, in Erinnerung zu rufen, was Paul VI. in der Enzyklika Ecclesiam suam als grundsätzliche Linie des Dialogs mit allen herausgestellt hat: "Wo immer der Mensch sich darum bemüht, sich selbst und die Welt zu verstehen, können wir mit ihm sprechen; wo immer die Versammlungen der Völker zusammentreten, um die Rechte und Pflichten der Menschen festzulegen, gereicht es uns zur Ehre, wenn sie uns unter ihnen Platz nehmen lassen ... Wir sollten uns und allen bewußt machen, daß unsre Haltung einerseits völlig uneigennützig ist: wir haben keine politischen oder weltlichen Zielsetzungen; wie sie aber andererseits danach trachtet, jeden menschlichen oder irdischen Wert aufzunehmen, d. h. auf eine übernatürliche und christliche Stufe zu erheben. Wir sind nicht selbst Zivilisation, aber wir sind ihre Förderer." Wie ich aber schon einmal, im Zusammenhang mit den unaufgebbaren Grundsätzen, gesagt habe, ist ein beträchtliches Hindernis für diesen wahrhaft uneigennützigen und allgemeinen Dialog von seiten des atheistischen Marxismus-Kommunismus die Gesamtheit seiner philosophischen und soziologischen Vorstellungen über den Menschen und über die Geschichte, deren eine der grundlegendsten die Leugnung Gottes ist. Darum fährt der Papst also fort: "Wir wissen, daß sich einige offen zur Gottlosigkeit bekennen und sich zu Vorkämpfern derselben wie auch eines Programmes menschlicher Erziehung und politischer Führung machen, in der ... fatalen überzeugung, den Menschen vor falschen und veralteten Ideen betreffend das Leben und die Welt zu befreien, um ein - wie sie sagen - wissenschaftliches Konzept an deren Stelle zu setzen, das den Erfordernissen des modernen Fortschritts entspricht. Dieses Phänomen ist heute das schwerwiegendste. Wir sind der festen überzeugung, daß eine Theorie, auf die sich die Leugnung Gottes stützt, einen grundlegenden Irrtum enthält, daß sie den letzten und unabweislichen Ansprüchen des Geistes nicht entspricht ... , daß sie ins menschliche Leben nicht nur eine Lösungsformel, sondern ein blindes Dogma einführt, welches dieses Leben herabwürdigt und unmenschlich gestaltet, und daß sie jedes soziale Regime, das angeblich auf ihr beruht, in der Wurzel zerstört. Das ist keine Befreiung, sondern ein dramatischer Versuch mit dem Ziel, das Licht des lebendigen Gottes ausZ11löschen."

XXVI

Giovanni Benelli

Der Heilige Vater bekräftigt die Verurteilung des atheistischen Kommunismus, wie sie von seinen Vorgängern ausgesprochen worden war, und schließt dann folgendermaßen: "Die Hypothese des Dialoges kann so nur sehr schwer, wenn überhaupt, verwirklicht werden, wenngleich wir auch heute nicht gesonnen sind, Personen, die sich zu diesen Systemen bekennen und diesen Regimes anhängen, apriori auszuschließen. " Für ein genaues Verständnis dieser Probleme ist es notwendig, diese essentiellen Differenzen klar herauszustreichen: -

die große Schwierigkeit (um nicht zu sagen Unmöglichkeit) eines Dialogs zwischen den beiden Systemen, dem Christentum und dem Marxismus-Kommunismus;

-

aber kein Ausschluß di'eses Dialogs apriori, was die Personen anlangt, die sich zum marxistisch-kommunistischen System bekennen und solchen Regimen anhangen.

Das Apostolische Schreiben Octogesima adveniens Pauls VI. an Kardinal Roy spricht mehrmals von Ideologien und spielt insbesondere auf jene des atheistischen Marxismus an, der den Menschen zum bloßen Instrument seiner Strategie macht. Der Papst schließt für den Christen das Anhangen an die marxistisch-kommunistische Ideologie aus. "Der Christ, der seinen Glauben bei seiner politischen Tätigkeit, die er als Dienst auffaßt, leben will, kann niemals, ohne sich dabei selbst zu widersprechen, Anhänger ideologischer Systeme werden, die seinem Glauben und seinem christlichen Menschenbild radikal oder in wesentlichen Punkten entgegenstehen. Er kann sich weder der marxistischen Ideologie verschreiben, ihrem atheistischen Materialismus, ihrer Dialektik der Art und Weise, mit der sie die persönliche Freiheit im Kollektiv aufsaugt und dabei zugleich dem Menschen, seiner Geschichtlichkeit als Person und Gemeinschaft jede Transzendenz abspricht." (Octogesima adveniens, 26) Der Papst ist der Auffassung, daß eine aufmerksame Unterscheidung notwendig ist. "Zu oft haben die Christen, die vom Sozialismus angezogen sind, die Neigung, ihn mit sehr wohlwollenden Worten als entschlossenen Einsatz für Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit zu idealisieren. ... Zwischen den niveaumäßig verschiedenen Ausdrucksweisen des Sozialismus ... sind Unterscheidungen zu machen ... Aber gleichzeitig" - so der Heilige Vater - "ist das tatsächliche Band, das den Umständen entsprechend zwischen ihnen besteht, klar zu sehen. Die klare Sicht der Dinge allein wird es den Christen gestatten, den Grad einer möglichen Mitarbeit in diesem Bereich genau zu erkennen" (vgl. ibid. 31). "Andere Christen fragen sich sogar, ob die geschichtliche Entwicklung des Marxismus nicht zugewissen Annäherungen berechtigt." (Ibid. 32) Aber entgegen einer solchen Behauptung ruft der Papst klar die Notwendigkeit ins Bewußtsein, die verschiedenen Niveaus, in denen sich

Die Kirche und der Dialog mit der Welt

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der Marxismus-Kommunismus auszudrücken fortfährt, wohl zu überlegen. Diese Niveaus sind die folgenden: a) Der Marxismus bleibt wesentlich eine aktive Praxis des Klassenkampfes, manchmal ohne andere Perspektive; ein Kampf, der immer weiter voranschreiten und gleichzeitig stets herausfordernd sein muß. b) Der Marxismus ist die kollektive Ausübung der politischen und wirtschaftlichen Macht unter der Leitung einer einzigen Partei, die sich als alleiniger Ausdruck und alleiniger Garant des Wohles aller betrachtet und Personen und anderen Gruppen die geringste Möglichkeit der Initiative und der Wahl verweigert. e) Der Marxismus, sei er an der Macht oder nicht, bedeutet eine Ideologie, die den historischen Materialismus und die Negation aller Transzendenz zur Grundlage hat. d) Der Marxismus präsentiert sich unter der milderen, aber für die moderne Mentalität verführerischen Form einer wissenschaftlichen Tätigkeit, einer rigorosen Analysierungsmethode der Analyse der sozialen und politischen Realität, einer rationalen und von der Geschichte erprobten Verbindung zwischen theoretischem Wissen und der Praxis revolutionärere Umwälzung. Der Papst unterstreicht: "Es wäre töricht und gefährlich, dahin zu gelangen, daß man die inneren Bande vergißt, das diese verschiedenen Aspekte grundsätzlich miteinander verbindet, daß man die Elemente der marxistischen Analyse übernimmt, ohne ihre Beziehungen mit der Ideologie zu erkennen, und sich am Klassenkampf beteiligt und sich dessen marxistische Interpretation aneignet, indem man es unterläßt, den Typ der totalitären und gewalttätigen Gesellschaft wahrzunehmen, zu dem diese Verfahrensweise führt." (Ibid. 34) Darum fordert der Papst die Christen auf, aus den Quellen ihres Glaubens zu schöpfen und in der Lehre der Kirche die Grundsätze und Kriterien zu suchen, deren es bedarf, damit man nicht verführt und in ein System hineingezwungen wird, dessen Grenzen und Totalitätsanspruch unter Umständen erst zu spät bewußt werden, wenn die Christen nicht in der Lage sind, sie in ihren Wurzeln zu erkennen (vgl. ibid. 36). Ich glaube, daß man aus den von mir zitierten Texten zwei wichtige Anhaltspunkte für die Haltung der Kirche im Dialog mit dem Marxismus-Kommunismus gewinnen kann. 1. Der Atheismus der marxistisch-kommunistischen Ideologie macht einen echten Dialog schwierig, wenn nicht unmöglich.

2. Die Christen müssen, wenn sie wirklich glauben, in einen derartigen Dialog eintreten zu müssen, sich einen gesicherten Glauben erworben haben, der durch das Lehramt der Kirche erhellt ist. Sie müssen den Dialog mit äußerster Vorsicht führen, um sich nicht durch irgendeinen

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Giovanni Benelli

Komprorniß, irgendeine mit ihren Grundsätzen unvereinbare Aktion verführen, sich nicht durch Ideen und Konzepte täuschen zu lassen, welche auf den ersten Blick akzeptabel erscheinen, deren Tragweite aber anfangs zu erfass-en und abzuschätzen sie nicht in der Lage sind. Was den ersten Punkt anlangt, so weiß man, daß bestimmte Philosophen und Theologen die Auffassung vertreten, der Atheismus sei im philosophisch-ideologischen System des Marx nur ein Beiwerk, und es gebe dort keine direkte Absicht, Gott zu leugnen; Marx sei vielmehr infolge seiner Verherrlichung des Menschlichen wie mit logischer Konsequenz zum Atheismus gelangt. Aus einer umfassenden Studie der Schriften Marx' ergibt sich jedoch klar, daß -

er die religiöse Frage dadurch löst, er die Religion und vor allem das Christentum radikal leugnet, welches die höchste Form der Religion darstellt und daher mehr als jede andere deren negatives Wesen verwirklicht;

-

Marx deutlich die Überwindung des Atheismus dergestalt fordert, daß er noch viel radikaler sein will als dieser letztere;

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der Atheismus ein wesentlicher Teil gerade der Substanz des Marxschen Denkens ist. Das mehr oder weniger soziale oder antisoziale Verhalten der Kirche hat daran nichts geändert, oder doch nur sehr wenig;

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es in der zukünftigen Gesellschaft, wie sie Marx im Auge hat, keinen Platz für die Religion mehr gibt.

(Giovanni Codivella, "L'Ateismo e indispensabilmente legato ad ogni forma die Marxismo odierno?", Fede Cristiana e Marxismi oggi, Roma 1973,205 - 206.)

Was den zweiten Punkt anlangt, so muß man im Versuch eines Dialogs mit dem Marxismus-Kommunismus stets gewisse Aspekte im Auge behalten, welche eine schwerwiegende Gefahr darstellen können, ja in der Tat darstellen: -

Die Suche nach der Wahrheit, ihre Vertiefung, ihre Erhellung sind das essentielle Ziel des Dialogs. Dieses Ziel wird aber bereits ausgeschlossen, wenn man sich in einem Dialog auf die Basis Hegelianischer Überzeugung einläßt, nach welcher sich die Unterschiede in -einer tieferen Übereinstimmung aufheben lassen. Wie kann man ein solches Prinzip auf Überzeugungen anwenden, die voneinander so grundlegend verschieden sind wie der Theismus und der Atheismus? Dies könnte nichts anderes erzeugen als eine Haltung der Indifferenz angesichts zweier gegensätzlicher Überzeugungen, eine Haltung, die folglich jeder Form des Dialogs entgegenstehen würde. Es wäre bloße Illu-

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sion, zu einer übereinstimmung kommen zu wollen, wenn jeder Gesprächspartner auch nur ein winziges Stück seines Terrains aufzugeben bereit wäre. Das hieße nämlich nichts anderes als Aufgeben der Wahrheit, jener Wahrheit, die der Kirche von Gott überkommen ist. -

Der Dialog, wie er vom Marxismus-Kommunismus ins Auge gefaßt ward, geht auf Aktion. Die Marxisten sind gerne bereit, den Dialog, d. h. den theoretischen Teil, beiseite zu lassen, wenn eine gemeinsame Aktion zustandekommen kann.

-

Ein wahrer Christ kann nicht angesichts der Forderungen und Ansprüche der Marxisten indifferent bleiben, d. h. die Kirche außerhalb des Dialogs lassen und den Glauben entleeren, um ihn mit marxistisch-kommunistischen Konzepten zu füllen. Man muß stets der Worte Pauls VI. eingedenk sein, wie sie in seiner Enzyklika über das Ziel des Dialogs mit Hinsicht auf den Glauben stehen: er "wird die Heilsgabe stets im Respekt der persönlichen und bürgerlichen Freiheit anbieten".

-

Wenn dem Dialog das einzige Ziel, nämlich die Vertiefung der Wahrheit, tatsächlich fehlt, beginnt man andere Zielsetzungen zu suchen, die die grundlegende ersetzen müssen: die Freiheit, die Brüderlichkeit. Gerade der Freiheit und der Brüderlichkeit halber verliert sich der Dialog aber bald in gegenseitigem Nichtverstehen, das unübersteigbar werden kann. Folge davon ist dann entweder der Rückzug in die Passivität oder die Flucht in eine gemeinsame Aktion. VI. Zusammenfassung

Ich schließe, indem ich versuche, das, was sich aus diesen überlegungen über den Dialog ergibt, präzise zusammenzufassen: Wo es sich um einen echten Dialog handelt (Behauptung der eigenen Identität, Zuhören, respektvoller Gedankenaustausch und Suche nach der Wahrheit), so stellt er eine Form der Liebe und des Dienstes dar; die Kirche ist für einen solchen Dialog immer offen, gegenüber allen Menschen, Atheisten oder nicht. Wo es um das Anhangen an marxistische Theorien oder an Bewegungen handelt, die ihre eigentliche Inspiration aus dem atheistischen Marxismus ziehen und ihm getreulich folgen, so ist dies für einen Christen niemals möglich. Was die Form der Zusammenarbeit anlangt, so bleibt eine solche stets gefährlich und risikoreich, sowohl für den Glauben der Christen als auch für die Freiheit der Bürger; geht man nämlich davon aus, daß jede praktische Aktion Ausdruck einer Idee ist, heißt dann Zusammenarbeit

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auf praktischem Gebiet nicht implizit ein Zugeständnis an, ein Annehmen eine(r), Ideologie, mit der diese Praxis verbunden ist? Betrachtet man nunmehr jene Gegenden, wo die Bedingungen der Freiheit für die Kirche nicht mehr existieren, so dürfen auch dort die Kirche und die Christen niemals ihre Grundsätze vernachlässigen; sie können aber danach trachten, in Würde und in loyalen Beziehungen mit den etablierten Mächten sich überlebensmöglichkeiten zu schaffen und zum Gemeinwohl beizutragen, in der vertrauensvollen Erwartung, daß der christliche Same für alle eine Frucht der Freiheit hervorbringen wird ... Ich habe mich in meinen Ausführungen auf die Bedingungen des Dialogs zwischen Kirche und Welt, zwischen Gläubigen und den Anhängern anderer Ideologien bezogen. Es war nicht meine Aufgabe, praktische Aspekte anzuschneiden, auch nicht auf dem Gebiet der Politik. In Sonderheit habe ich nicht die Frage der Beziehungen behandelt, wie sie zwischen dem Heiligen Stuhl und den kommunistischen Ländern bestehen oder gesucht werden, denn dort handelt es sich nicht um einen Dialog im eigentlichen Sinn, sondern darum, in Zusammenhang mit konkreten Bedingungen in präzisen Punkten eines modus vivendi zu finden. Desgleichen stellen sich täglich viele andere Fragen auf lokaler Ebene, wenn Menschen verschiedener Ideologien zusammenarbeiten müssen, um konkrete Fälle bestmöglichst zum Wohle aller zu lösen. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß meine Ausführungen niemanden richten oder verurteilen wollen, der guten Glaubens meint, die marxistischen Ideen teilen oder in diesem Sinne kämpfen zu müssen. Die Beurteilung des Gewissens ist Sache Gottes. Meine Rolle war es, objektive Haltungen zu klären; und hier betone ich nochmals: das Christentum und die Kirche können weder ihre eigene Identität noch ihre Sendung in dieser Welt aufgeben; nicht aus "Intransigenz", sondern aus einer elementaren Pflicht zu konsequenter Ehrlichkeit.

Sollte man am Ende dieser Ausführungen nicht an jene Worte erinnern, die Pius XI. am 15. September 1937 an die französischen Kardinäle gerichtet hat? Es sind Worte, über die es sich nachzudenken lohnt. Auf die von den französischen Kommunisten ausgestreckte Hand anspielend, sagte der Heilige Vater: "Wir wollen stets dem göttlichen Meister folgen ... ihm vor allem folgen ... in die Leiden der Zwietracht, die das vorzugsweise Los der Kirche Christi und des Hl. Stuhls zu sein scheint ... und wir sagen, daß wir dem göttlichen Meister stets mit dem lebhaften Wunsche folgen wollen, alles Gute wirklich werden zu lassen; wenn schon nicht alles Gute, dann doch Gutes allen zu tun, welche uns die Hand entgegenstrecken, um dergestalt dem Herrn nachzu-

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ahmen: auch wir sollen unsere Hand allem Leiden, allem Jammer reichen, in der Hoffnung, dadurch zu helfen oder doch zu trösten; wir wollen unsere Hilfe allen bringen, vorausgesetzt, daß man uns nicht das kleinste Opfer der heiligen Wahrheit abverlangt, die die erste Caritas, die die Grundlage und die Wurzel des ganzen wirklichen Heils ist ... vorausgesetzt, daß man von uns nicht verlangt, die Wahrheit, wie wenig auch immer, in irgendeiner Verwirrung oder Veränderung der Ideen zu verschleiern; vorausgesetzt, daß man von uns nicht die stillschweigende Begünstigung oder Komplizenschaft angesichts überflüssiger Wiederholungen von Grundsätzen verlangt, die jeder Religion, jeder Gottesfurcht widersprechen, und damit nicht nur allem Christlichen im ursprünglichen Wortsinn, ... sondern auch jedem wahren Gut der bürgerlichen und menschlichen Gesellschaft, angefangen von der Familie." (L'Osservatore Romano, 17. Dezember 1937) In diesem Zusammenhang finden Sie die Bischöfe stets solidarisch mit dem Heiligen Vater und untereinander, und es ist mir ein Vergnügen, abschließend ein Wort des Bischofs von Grenoble, Gabriel Matagrin, zu zitieren: "Ich behaupte, daß die herrschenden Regime im Osten wie im Westen Schiffbruch erlitten haben, weil sie dem Irrtum erlegen sind, den Menschen nicht in allen seinen Dimensionen zu respektieren. Ich behaupte sogar, daß - welche politische Wahl man auch getroffen hat - es klar sein muß: die gegenwärtige Krise ist in erster Linie keine wirtschaftliche, finanzielle oder monetäre, sondern eine kulturelle, moralische und geistige. Jede Politik, die nicht versucht, die Grundlagen dieser Krise aufzudecken, ist verfehlt ... Die Krise des Westens ist eine geistige. Was in Frage steht, ist die Zukunft der Freiheit. Vor dem Ansteigen der Totalitarismen, auf der Rechten wie auf der Linken, erhebt sich die Frage: hat der Westen den geistigen Willen, die Freiheit, die durch die Demokratien so teuer erkauft worden sind, zu erhalten, zu bewahren und zu fördern?" (Documentation catholique LXXVIII 1976, 126 - 127)

J. Die Kirche

DIE AMTSGEWALT DES PAPSTES Von Audomar Scheuermann Es ist keineswegs eine leere Titelei, sondern bereits klare Aussage über die Amtsgewalt des Papstes, wenn dieser im amtlichen Annuario Pontificio 1 bezeichnet wird als: 1. Bischof von Rom, 2. Stellvertreter Jesu Christi, Nachfolger des Erstapostels Petrus und höchster Pontifex der Gesamtkirche2 , 3. Patriarch des Abendlandes, 4. Primas von Italien, 5. Erzbischof und Metropolit der Römischen Kirchenprovinz, 6. Souverän des Vatikanstaates. Gewiß sind die Funktionen des Patriarchen, Primas, Erzbischofs und Metropoliten beim Papst aufgesogen von der überragenden Amtsgewalt der gesamtkirchlichen HauptsteIlung; diese Stellungen sind übrigens in der lateinischen Kirche ohnedies von geringem Rang, was die damit verbundenen Hoheitsrechte betrifft. Im Gegensatz zur Ostkirche hat die im Laufe der Geschichte mehr und mehr erstarkte päpstliche Gewalt Oberbischöfe in patriarchaler Stellung gar nicht aufkommen lassen 3 , so daß der Titel Patriarch hier nur Ehrenstellung und Vorrang bezeichnet (c. 271 CIC). Das gleiche gilt vom Primas 4 , der im Rang folgenden Ehrenstellung, mit der in manchen Ländern ein Bischof aufgrund der herausragenden Stellung seines Bischofssitzes ausgezeichnet ist (c. 280). Die Stellung des Metropoliten begründet ohnehin nur eine begrenzte hoheitliche Stellung gegenüber seinen Suffraganen (ce. 272 - 279) und kann, wenn dem Papst diese Aufgabe zukommt, nichts von Gewicht begründen, sondern nur klarstellen, daß es eine Kirchenprovinz, eben die Römische, gibt, die dem Papst unmittelbar unterstellt ist, also keinen Amtsträger von oberbischöflichem Rang hat. Zur Römischen Kirchenprovinz gehören die 7 suburbikanischen Bistümer Ostia, Albano, Frascati, Palästrina, Porto e Santa Rufina, Sabina e Poggio Mirteto, Velletri, und weitere 37 Bistümer, alle Erzbistümer ohne Suffragansitze, Annuario Pontificio 1975, Citta deI Vaticano, 29*. Zum gebräuchlichen Ehrentitel "Pontifex maximus": Peter Stockmeier, Die übernahme des Pontifex-Titels im spätantiken Christentum, in: Konzil und Papst (Festgabe Hermann Tüchle), 1975, 75 - 84. Die neue Apostolische Konstitution über die Vakanz des Hl. Stuhles und die Papstwahl vom 1. Okt. 1975: A(cta) A(postolicae) S(edis) 67 (1975), 609 - 645, nennt ihn auch "Supremus Pastor", "visibile universalis Ecclesiae Caput" (Einleitung 1. Abs.), "Papa et Caput Collegii Episcopalis" (n. 88). 3 LThK 8, 175 -177; Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, pt 1964, t

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380 f.

, LThK 8,760; Mörsdorf, a.a.O., I 381 f.

Audomar Scheuermann

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die exemten Bistümer und in der Regel die gefreiten Abteien und Prälaturen5• Von entscheidendem Gewicht aber sind die Amtsgewalten des Papstes als Bischof von Rom, als Haupt der Gesamtkirche, als Souverän des Vatikanstaates. I. Der Papst als Bischof von Rom Der Papst ist Nachfolger des Apostels Petrus auf dem Bischofssitz von Rom. Petrus hat sicher in den letzten Jahren seines Lebens die Kirche von Rom als ihr erster Bischof geleitet und ist dort des Martertodes gestorben. Soweit die geschichtlichen Quellen fließen, wurde der Bischof von Rom, wie in der alten Kirche gemeinhin, vom Klerus und Volk von Rom bestellt; zum Klerus gehörten der Stadtklerus und die Nachbarbischöfe. Die Stellung des Bischofs von Rom als Haupt der Gesamtkirche ließ dem Stadtklerus, der der Diözese Rom inkardiniert war, mächtigen Einfluß zukommen, so daß im 11. Jahrhundert die Päpste Nikolaus H. 1059 und Alexander III. 1179 diesen an den Stadt kirchen und Umgebungskirchen tätigen Geistlichen, den Kardinälen, das Papstwahlrecht vorbehalten haben6 • Dabei ist es bis heute geblieben. Die neueste Papstwahlkonstitution "Romano Pontifici eligendo" Pauls VI. vom 1. Oktober 1975 erwähnt ausdrücklich, daß bei der Papstwahl die "praecipua primitus inducta elementa, electionis episcoporum propria" gewahrt blieben und den drei Klassen des Klerus von Rom, nämlich den Bischöfen, Priestern und Diakonen des Kardinalkollegiums das Wahlrecht vorbehalten bleibe; denn sie repräsentieren die Römische Kirche. "Alle anderen müssen gänzlich ausgeschlossen bleiben"7, - mit diesem Satz ist jede seit dem 11. Vatikanischen Konzil immer wieder erhobene Forderung, die Bischofssynode oder sonst ein die Weltkirche repräsentierendes Gremium solle den Papst wählen, zurückgewiesen worden. "Secundum veterem tradition em electio Romani Pontificis est penes Ecclesiam Romanam, scilicet penes Sacrum Collegium Cardinalium, illam reprasentantium"8. Seine Diözese Rom verwaltet der Papst durch das Vicariatus Urbis, einer bischöflichen Kurie, an deren Spitze ein Kardinal als Generalvikar des Papstes sowie ein Erzbischof als Vicesgerens stehte. Die Bischofskirche des Papstes ist die Lateranbasilika, während die Peterskirche päpstliche Repräsentationskirche ist. a.a.O., I 347. Decr. Gratiani, c. 1 D. 23, c. 6 Liber Extra I, 6; Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, IZ 1960, 134 - 138,312 - 317, HZ 1962, 87 - 93. 7 AAS, 67 (1975), 609 f. 8 Ebd.,611. • Annuario Pontiftcio 1975, 1363 - 1370, 1480; Prima Romana Synodus 1960, 5

Mörsdorf,

6

nn.11-18.

Die Amtsgewalt des Papstes

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11. Der Papst als Haupt der Gesamtkirche 1. In der Stellung des Petrus Als Bischof von Rom ist der Papst Nachfolger des hl. Petrus auch in dessen Vorrangstellung (c. 218 § 1), die nicht einen bloßen Ehrenvorrang begründet, sondern den Erstapostel Petrus den übrigen Aposteln vorgesetzt hat als den Garanten der Einheit in Lehre und Gemeinschaft. Dieses Petrusamt gründet auf der Verfügung Jesu Christi in der Berufung des Petrus zum Kephas, d. i. Fels (Joh 1, 42), in der Übergabe der Schlüsselgewalt mit der Vollmacht zu binden und zu lösen nach seinem Ermessen und der Zusage, daß seine Verfügung Geltung im Herrschaftsbereich Gottes habe (Mt 16, 18 f.), schließlich in der übertragung des obersten Hirtenamtes (Joh 21, 15 -17). Diese immer festgehaltene katholische überzeugung vom Primat des Petrus, lehramtlich besonders deutlich ausgesprochen vom I. Vatikanischen Konzil 1870 1°, ist der Wurzelgrund für die Primatialgewalt in der Katholischen Kirche. 2. Fortdauer des Petrusamtes

Die Apostel haben ihre Nachfolger in den Bischöfen, Petrus hat seinen Nachfolger im Bischof von Rom, der etwa seit dem 4. Jahrhundert "Papa", "Papst" geheißen wird l1 • Während aber die Nachfolger des einzelnen Apostels nicht an den Wirkort desselben gebunden sind, ist die Nachfolge Petri an Rom gebunden, weil Petrus dort sein Leben vollendet hat 12 • Es ist Glaubensüberzeugung der Katholischen Kirche, daß Petrus auf dem römischen Bischofsstuhl für alle Zeit Nachfolger hat1 3, damit die Kontinuität der Kirche und ihre Einheit in jeder Generation gewährleistet sei1 4 • Vom Nachfolger Petri sagt das Rechtsbuch der Kirche, daß er über die Gesamtkirche die Höchst- und Vollgewalt habe sowohl in Glaubens- und Sittenangelegenheiten, wie auch - und diese Seite des Amtes ist hier ins Auge zu fassen -, was die Leitung und Ordnung der Kirche betrifft (c. 218 § 1). Es geht hier also nicht nur um die Einheit des Glaubens, worüber, ebenso wie über die vom Vatikanum I definierte Unfehlbarkeit des Papstes, in diesem Zusammenhang nicht zu handeln ist. Es geht vielmehr um die Einheit der Leitung, welche die 10 Michael Schmaus, Kath. Dogmatik, III,I, 1958, 474 - 476; Dogmatische Konstitution "Pastor aeternus" des 1. Vat. Konzils vom 18. Juli 1870, in: Denzinger-Schönmetzler, Enchiridion Symbolorum, 1963 (abgekürzt: Denz.), nn. 3053 - 3055. 11 LThK 8, 36 f.; dazu auch Karl Suso Frank, Vita aposto1ica und dominus apostolicus, in: Konzil und Papst (Festgabe Hermann Tüchle, 1975, 37 f. 12 Schmaus, a.a.O., 474. 13 Ausgesprochen von Vat. I: Denz., n. 3058; kurze übersicht über die Entwicklung des Primates in kirchenrechtlicher Hinsicht bei Klaus Mörsdor!, Art. Papst: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, 1745 - 1748. 14 Michael Schmaus, Der Glaube der Kirche, II 1970, 180.

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Einheit der geistlichen Gemeinschaft der Kirchenglieder bewirkt1 5 • Der Verjassungsgrundsatz, daß dem Nachfolger Petri die oberste Gewalt zukommt, wurzelt in dem, was nach katholischer Glaubensüberzeugung Stifterwille Jesu Christi ist. Er ist also nicht wie eine Staatsverfassung gestaltbar, sondern ist als vorgegeben hinzunehmen. Im Papst ist die Herrschaftskompetenz des Petrus gegenwärtig l6 • Das ist im Bewußtsein der Kirche immer, wenn auch erst allmählich zu voller Anerkennung entfaltet, gegenwärtig und steht im Selbstbewußtsein der Päpste, ausgesprochen etwa von Papst Cornelius (251 - 253), daß es nur einen Bischof in der Kirche gäbe, nämlich den Papst1 7, und von Papst Zosimus (417 - 418), daß die Autorität des Papstes aus der des Petrus wachse l8 • 111. Die Höchstgewalt des Papstes Rechtlich ist die päpstliche Gewalt gekennzeichnet als Höchstgewalt (potestas suprema), als eine Gewalt also, die in ihrem Bereich eine ausschließliche, mit keiner anderen Gewalt konkurrierende ist, damit zugleich als eine Gewalt, über die kein Richter mehr befinden kann: "Prima Sedes a nemine iudicatur" (c. 1566). Weder im Bereich der Kirche, wo es gegen die Entscheidung des Papstes keine Berufung, auch nicht an ein Allgemeines Konzil, gibt (c. 228 § 2)19, noch im Bereich des Staates, wo der Papst Unabhängigkeit von jedweder menschlichen Gewalt beansprucht (c. 218 § 2), gibt es eine Autorität, die der Höchstgewalt des Papstes Eintrag tun dürfte. Da aber die staatliche Gewalt immer die mächtigere Instanz gegenüber der geistlichen ist, wird in konkordatsrechtlichen Regelungen der für die Höchstgewalt des Papstes erforderliche Freiheitsraum im Staat gesichert, so insbesondere die Verkehrsfreiheit des Hl. Stuhls mit den Bischöfen und den Angehörigen der Katholischen Kirche 20• Die päpstliche Höchstgewalt beansprucht freilich heute keine Vberordnung über die weltliche Gewalt mehr, wie es Innozenz III. (1198 -1216) dem Kaiser von KonstantinopeI21 oder Bonifaz VIII. (1294 -1303) in seiner berühmten Bulle "Unam Sanctam" erklärte 22 • Doch ist die Tatsache "der einen und einzigen Kirche Gottes", die 15 Encycl. "Satis cognitum" Leo XIII. vom 29. Juni 1896, Denz., n. 3306. 18 Denz., nn.3056, 3057. 17 Denz., n. 109. 18 Denz., n. 221; siehe des weiteren auch nn. 132, 181, 232, 233, 235, 446, 468, 469. 19 Denz., n. 638, erstmals also von Papst Nikolaus I. ausgesprochen, ein Satz, der auf allerdings gefälschte Akten einer Synode des Jahres 500 zurückgeführt wurde, vgl. auch c. 17 C. IX qu. 3. 20 Z. B. Italienisches Konkordat vom 11. 2. 1929 Art. 2, österreichisches Konkordat vom 3. 6. 1933 Art. 11 § 4, Deutsches Reichskonkordat vom 20. 7. 1933 Art. 4. Konkordate siehe bei Lothar Schöppe, Konkordate, seit 1800, 1964. 21 C. 6 X, I, 33. 22 Extravag. comm. I, 8 c. 1.

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existiert, Grund dafür, daß der Höchstgewalt des Papstes grundsätzlich alle Getauften unterstellt sind, sodaß für sie das päpstliche Recht verbindlich ist, außer die "nicht in vollkommener Gemeinschaft mit der Katholischen Kirche" stehenden Christen wären ausdrücklich davon freigestellt worden (wozu die nachkonziliare kirchliche Gesetzgebung stärker tendiert)23. Die Höchstgewalt erstreckt sich auf die West- und Ostkirche,; bei voller Anerkennung der in der Ostkirche vor allem durch die Patriarchen verstärkt ausgeübten oberbischöflichen Gewalt erstreckt sich die Höchstgewalt des Papstes auch über deren Bereich, wie Innozenz II!. schon betont hat24 und es in der päpstlichen Gesetzgebung für die Ostkirche gerade in neuester Zeit deutlich zum Ausdruck kommt25 • Die Höchstgewalt des Papstes ist von Gott seinem Amte zugemessen, weshalb er sie nicht von seinem Wahlkollegium, sondern mit Annahme der Wahl kraft göttlichen Rechts empfängt (c. 219); ein Amtsverzicht bedarf, weil kein Höherer in der zeitlichen Kirche existiert, keiner Annahme, um wirksam zu sein (c. 221).

IV. Die Vollgewalt des Papstes Die von c. 218 § 1 als potestas plena bezeichnete Amtsgewalt des Papstes ist von derartigem Umfang, daß sie für die Kirche insgesamt und all ihre Glieder territorialer (wie den Bistümern) und personeller Art (natürliche und juristische Personen) verbindlich ist und Unterordnung verlangt. Dies ist nicht erst die Forderung eines späten Papalismus, sondern bereits Gemeinschaftsbewußtsein der frühen Kirche, das geradezu bewegend Papst Pelagius I!. (579 - 590) ausspricht, indem er an das Wort des hl. Augustinus (354 - 430), der überragendsten Denkerpersönlichkeit seiner Epoche, erinnert, der Christ sei tot, wenn er außerhalb der Gemeinschaft mit Petrus stehe, und er auch Cyprian von Karthago (200 bis 258) zitiert: Die Einheit der Kirche sei nur in der Einheit mit der Kathedra Petri garantiert, schlimmer als der Abfall in der Verfolgung sei das Schisma26 • Gegenstände dieser Vollgewalt sind zuvörderst die Glaubens- und Sittensachen, wozu dem Papst sowohl in der feierlichen Verkündigung Ilex cathedra" (c. 1323 § 2), der Kathedralentscheidung also, wie auch in der gewöhnlichen Glaubensverkündigung (c. 1323 § 1) die oberste Lehr23 Dazu ce. 12, 13 § 1, Freistellungen z. B. ce. 1070, 1099 § 2. Zitate aus dem Dekret des 11. Vat. Konzils über den Ökumenismus "Unitatis redintegratio" vom 2. 11. 1964, n. 3, in: LThK 11. Vat. Konzil I, 40 ff.; die verstärkte Freistellungstendenz zeigt sich in den nichtveröffentlichten Entwürfen zum kommenden Ehe- und Strafrecht. 24 C. 23 X, V, 33. 25 Dazu Dekret des 11. Vat. Konzils über die kath. Ostkirchen "Orientalium Ecclesiarum" vom 21. 11. 1964, in: LThK H. Vat. Konzil I, 393 ff.; Denz., n. 235. !O Denz., 468, 469.

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gewalt zukommt. Der Papst nimmt erstverantwortlich die Sicherung der reinen Lehre wahr, darin unterstützt von der Glaubenskongregation27 , und sorgt für die Verbreitung des Glaubens (c. 1350 § 2), darin unterstützt von der Propagandakongregation28 • Daneben ist Gegenstand der Vollgewalt die Leitung der Kirche, darin einbeschlossen die Wahrung der kirchlichen Rechtsordnung (disciplina ecclesiae). Während es im Bereich des Lehramtes um die Wahrheit geht, geht es in der Rechtsordnung immer um die Sorge für die Einheit in der Vielheit der Menschen, der Lebensverhältnisse und der unterschiedlichen Traditionen der Teilkirchen. Darin ist der Papst unterstützt von seiner Kurie 29 • An deren Spitze steht das Päpstliche Staatssekretariat 30 , einem Präsidium des Ministerrats vergleichbar, und der Rat für die öffentlichen kirchlichen Angelegenheiten31 , einem Ministerium des Äußeren vergleichbar. Wichtigste Bestandteile dieser Kurie sind die 9 Kongregationen, Gremien von Kardinälen mit einem leitenden Kardinal an der Spitze, ausgestattet mit einem geschäftsführenden Amt, obersten Ministerien vergleichbar3 2, nämlich die Kongregation für die Glaubenslehre, für die Ostkirchen, für die Bischöfe, für Sakramente und Gottesdienst, für Selig- und Heiligsprechungen, für die Geistlichen, für die Ordensleute, für das Katholische Unterrichtswesen, für die Glaubensverbreitung. Im richterlichen Bereich fungieren als Organe des Papstes die Gerichte der Apostolischen Signatur und der Römischen Rota33 • Die päpstliche Vollgewalt wird tätig in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung. Diese hoheitliche Kirchengewalt ist entscheidend charakterisiert durch die Gewalteneinheit, die das Verfassungsrecht der Kirche überhaupt bestimmt34, im Gegensatz zur Gewaltentrennung des heutigen Staatsrechts. Freilich sind auch in der Kirche die Funktionen sehr wohl unterschieden: da der Papst die Obliegenheiten der verschiedenen Funktionen nicht selbst erledigen kann, besteht eine gewisse Gewaltentrennung in der Ausübung der Gewalten: sie werden nämlich verschiede27 Maßgeblich ist für die gesamte Römische Kurie nunmehr die Apost. Konstitution "Regimini Ecclesiae universae" Pauls VI. vom 15. 8. 1967: AAS 59 (1967), 885 - 928. über die Glaubenskongregation (Congregatio pro Doctrina Fidei) dort nn. 29 - 40. Das päpstliche Lehrbeanstandungsverfahren ist geregelt in der Instruktion dieser Kongregation vom 15. 1. 1971: AAS 63 (1971), 234 - 236. 28 über die Propagandakongregation (Congregatio pro Gentium Evangelizatione seu de Propaganda Fide) "Regimini Ecclesiae universae", nn. 81 - 91. 28 CIC cc. 242 - 264, geltendes Recht siehe Anm. 27. 30 "Regimini Ecclesiae universae", nn. 19 - 25. 31 Ebd., nn. 26 - 28. 32 Ebd., nn. 29 - 91; dazu Apost. Konst. "Sacra Rituum Congregatio" Pauls VI. vom 8. 5.1969: AAS 61 (1969),267 - 305 und Apost. Konst. "Constans Nobis" Pauls VI. vom 11. 7.1975: AAS 67 (1975), 417 - 420. 33 "Regimini Ecclesiae universae", nn.l04 -113. U Ebenso wie die bischöfliche Amtsgewalt, c. 335 § 1.

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nen Organen anvertraut35, die Rechtsprechung den päpstlichen Gerichten, der Signatur und der Rota, die Verwaltung den Ämtern der Römischen Kurie, vor allen den Kardinalskongregationen. Die Gesetzgebung sowohl für die Gesamtkirche sowie für Teile derselben verbleibt in der Hand des Papstes, wenn allerdings auch weitgehend den Kardinalskongregationen Gesetzgebungsrechte in Form von Generaldekreten, die vielfach ausdrücklich vom Papst bestätigt werden, anvertraut sind36 • Die Vollmacht dieser Organe der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung fließt aus der Höchstvollmacht des Papstes. Die Anvertrauung dieser Aufgaben an verschiedene Organe schließt nicht aus, daß sich der Papst jede Sache selbst vorbehalten und damit die Zuständigkeit bestellter Vertretungs organe ausschalten kann, soweit dies nicht schon vom allgemeinen kirchlichen Recht vorgesehen ist, wie z. B. bei den "causae maiores" (c. 220)37 und dem Sondergerichtsstand von Staatsoberhäuptern und Kardinälen (in allen Angelegenheiten), sowie Bischöfen (in Strafsachen) (c. 1557 § 1). Diese der noch zu besprechenden Immediatgewalt des Papstes entspringende Befugnis heißt affectio Papae: der Papst kann gewissermaßen auf jede Sache die Hand legen und sie der Zuständigkeit untergeordneter Stellen entziehen38 • 1. Der Papst als Gesetzgeber

Der Papst als höchster Gesetzgeber ist nur an das göttliche Gesetz gebunden, sei dies positiv in der HI. Schrift ausgesprochen, wie z. B. die Unauflöslichkeit der Ehe (Mt 19, 3 - 9), oder im vernunftgemäß erkennbaren höheren Recht, dem Naturrecht, enthalten. Alles andere ist für ihn disponibel: er kann Gesetze erlassen, ändern, aufheben, davon befreien und Sonder- oder Ausnahmerechte gewähren. Papa super canones. Diese scheinbar absolutistische Möglichkeit ist dem Außenstehenden nur verständlich, wenn er weiß, wie stark das Gemeinwohl und das Einverständnis mit der Gesamtkirche, vertreten im Kollegium der Bischöfe, jedem Papst die Leitlinien für sein gesetzgeberisches Handeln vorzeichnet, eine wirksamere Schranke - freilich nur in einer der besonderen Sorge Gottes versicherten Gemeinschaft -, als sie ein Grundrechtskatalog oder eine staatliche Verfassung setzen kann. Jedes allgemeine Gesetz, heute überwiegend in der Gestalt des Codex Iuris Canonici von 1917, ist Gesetz des Papstes, von seiner Autorität getragen. Mögen seiner Veröffentlichung auch, vor allem außerhalb eines allgemeinen Konzils, Beratungen mit den Bischöfen und Einholung ihrer Stellungnahme vorMörsdorf, a.a.O., I 318 - 320. Mörsdorf, a.a.O., I 365; Heinrich Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber, 1954,7 - 21. 37 Mörsdorf, a.a.O., I 346. 38 Joh. Bapt. Haring, Die affectio Papae: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 109 (1929), 127 - 177. 35 38

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angehen, das päpstliche Gesetz ist kein demokratischer Beschluß, sondern hoheitliche Rechtsetzung des Papstes.

2. Der Papst als Richter Der Papst als höchster Richter kann von jedem Kirchenglied unter Umgehung der Instanzenordnung angegangen werden, sowohl in Streitwie in Strafsachen, unmittelbar oder im Wege der Sprungberufung oder auch während eines an einem nichtpäpstlichen Gericht anhängigen Instanzenzugs (c. 1569). Der Papst kann dann selbst oder durch päpstliche Gerichte oder durch eigens bestellte Richter rechtsprechen lassen (c. 1597). Durch die Apostolische Signatur führt er des weiteren die Aufsicht über alle untergeordneten Gerichte, vor allem die Diözesangerichte, und errichtet gegebenenfalls überdiözesane Gerichte, sog. Regionalgerichte, welche dann erforderlich sind, wenn das Gerichtswesen kleinerer Bistümer zusammenzufassen ist. Durch die Signatur können auch Gerichte dritter und weiterer Instanz in den einzelnen Ländern bestellt werden, abweichend von der Grundregel, daß Prozeßsachen in dritter Instanz an die Römische Rota gehen39 •

3. Der Papst als Verwalter Der Papst hat als höchster Verwalter der Kirche die umfassende Autorität im gesamten Verwaltungsbereich, so daß er jede untergeordnete Verwaltung durch seine Vorbehalte binden kann. Trotzdem während des 11. Vatikanischen Konzils und nachher durch die beiden Motuproprio Pauls VI. "Pastorale munus" vom 30. 11. 1963 und "De Episcoporum muneribus" vom 15. 6. 1966 den Bischöfen erhebliche, bisher dem Papst zustehende Vollmachten zuerkannt und damit Schritte zur Dezentralisation und zur Stärkung des Bischofsamtes getan wurden, bleibt immer noch, insbesondere im Kleriker- und Eherecht, im gesamten Prozeßrecht und in den Gesetzen, die die personelle und territoriale Organisation der Kirche festlegen (leges constitutivae), ein beträchtlicher Bestand von Gesetzen, von denen die untergeordnete Verwaltung auch nicht im Einzelfall dispensieren darf40 • Eine weitere Funktion der Verwaltungshöchstgewalt: der Papst sucht durch ständige Legaten, Nuntien oder Delegaten genannt (je nachdem ob sie Beziehungen auch zum Staat oder nur zu den Diözesen einer kirchlichen Region zu unterhalten haben), das Band der kirchlichen Einheit zu fördern, seine oberste Sorge um die Teilkirchen zu bekunden und Informationen über das kirchliche Leben dortselbst zu erhalten41 • Die regierenden Bischöfe aller Riten in West "Regimini Ecclesiae universae", n. 105. "Pastorale munus": AAS 56 (1964), 5 -12; "De Episc. mun.": AAS 58 (1966), 467 - 472, hier bs. IV u. IX; dazu Josef Lederer, Die Neuordnung des Dispensrechts : Arch. f. kath. Kirchenrecht, 135 (1966),415 - 443. (j Motuproprio "Sollicitudo omnium Ecclesiarum" Pauls VI. vom 24.6. 1969: AAS 61 (1969),473 - 484. 39

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und Ost haben die Pflicht, alle 5 Jahre über den Stand ihrer Bistümer schriftlich Bericht zu erstatten und persönlich zum Besuch des Papstes und zur Fühlungnahme mit der päpstlichen Aufsichtsverwaltung ihre Romfahrt (visitatio liminum Apostolorum) zu machen 42 . Die Pflicht zum schriftlichen Bericht kommt alle 5 Jahre auch allen klösterlichen Verbänden des päpstlichen Rechts zu (c. 510). Dem Papst als höchstem Verwalter steht vor allem die Ernennung aller Bischöfe zu (c. 329 § 2), und zwar grundsätzlich im Weg der freien Verleihung, soweit er nicht in Konkordaten Beispruchsrechte irgendwelcher Art Dritten eingeräumt hat, z. B. kirchlichen Gremien, wie Domkapiteln (Wahlrecht aus päpstlichem Dreiervorschlag)43, kirchlichen Persönlichkeiten (Listenvorschläge der Bischöfe und Domkapitel)44 oder staatlichen Instanzen (früher Nominationsrechte, heute überwiegend Geltendmachung von Einwendungen)45. Wenn hier Vollständigkeit verlangt würde, dann müßten noch zahlreiche Vorbehalts- und Ingerenzbefugnisse des Papstes gegenüber der untergeordneten Verwaltung genannt werden, wie etwa bei der Festlegung von Diözesangrenzen und Kirchenprovinzen46, bei der Dispense von nichtvollzogenen Ehen47, bei der Auflösung nichtsakramentaler Ehen48, bei der Laisierung von Geistlichen49 , bei der Veräußerung oder Belastung von Kirchengut fio • Nur auf eines sei noch hingewiesen: Außer 42 CIC cc. 340, 341; CIC orientalis de personis cc. 405 - 407; Dekret der Kongregation für die Bischöfe vom 29.6.1975: AAS 67 (1975),674 - 676. 43 Z. B. Wahlrecht des Salzburger Metropolitankapitels gemäß Österr. Konkordat Art. IV § 1 Abs. 3, Wahlrecht der Kapitel nach dem Preußischen Konkordat von 1929 Art. 6. u Z. B. Österr. Konkordat Art. IV Abs. 2; Preußisches Konkordat Art. 6 Abs. 1; Bayer. Konkordat Art. 14 § 1. 45 Vorherige Anfrage, ob Grunde allgemein politischer Natur gegen dt!n zu Ernennenden geltend gemacht werden, bei der Bundesregierung in Österreich gemäß Konkordat Art. IV § 2, bei der Staatsregierung in Bayern gemäß Konkordat Art. 14 § I, in Preußen gemäß Konkordat Art. 6 § 1. Dazu Werner Weber, Die politische Klausel in den Konkordaten, 1939. Eine sehr viel weitgehendere Zuständigkeit wurde dem Staat in Spanien durch das Abkommen vom 7. 6. 1941 gewährt: AAS 33 (1941) 480 f., auch Schöppe, a.a.O., 441 - 443. 46 C. 215 § 1; Dekret "Christus Dominus" über die Hirtenaufgabe der Bischöfe des 11. Vat. Konzils vom 28.10.1965 nn. 23 - 25,39 - 41, in: LThK 11. Vat. Konzil 190 - 196,240 - 243. 47 Inkonsummationsprozeßordnung der Sakramentenkongregation vom 7. 5. 1923: AAS 15 (1923) 389; Instruktion der Sakramentenkongregation vom 7.3.1972: AAS 64 (1972) 244 - 252. 48 Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. 12. 1973: Arch. f. kath. Kirchenrecht 142 (1973) 474 - 479. 49 Normen der Kongregation für die Glaubenslehre vom 13. 1. 1971: AAS 63 (1971) 30 - 308; Erklärungen derselben Kongregation vom 26. 6. 1972: AAS 64 (1972) 641 - 643. 50 CIC c. 1532; Schreiben der Kongregation für den Klerus vom 5. 7. 1974: Arch. f. kath. Kirchenrecht 143 (1974) 473 - 475.

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der Diözesansynode, auf der noch immer der Diözesanbischof der exklusive und unabhängige Gesetzgeber aufgrund seiner unmittelbaren Gewalt als Apostelnachfolger bleibt (c. 362), bedürfen die Beschlüsse aller überdiözesanen Synoden der überprüfung durch den Hl. Stuhl vor ihrer Veröffentlichung (c. 291 § 1)51. Beschlüsse einer Bischojskonjerenz erhalten verpflichtende Kraft in den einzelnen Diözesen nur, wenn sie mit Zweidrittelmehrheit gefaßt sind, vom Hl. Stuhl die Gutheißung erlangt haben und von diesem eine entsprechende Anordnung ergangen ist, also eigentlich nur, wenn Beschlüsse der Bischofskonferenz auf diese Weise gewissermaßen in päpstliches Recht transformiert worden sind52 • Dieser Eingriff der höchsten Gewalt ist bedingt durch die Gleichstellung der Bischöfe untereinander, so daß grundsätzlich auch eine Mehrheit von Bischöfen einer Kirchenprovinz oder eines Landes den einzelnen Bischof, der von der Mehrheitsmeinung abweicht, nicht verpflichten kann. Mit dieser Darstellung der Höchst- und Vollgewalt des Papstes stellt sich nun zwingend das aktuelle Problem in den Fragen: Wie verhält sich die Gewalt des Papstes zu der des Bischofs? Wie verhält sich diese zur Gewalt der Gesamtheit der Bischöfe? Das wird noch deutlicher bei einem kurzen Blick auf

v. Die Immediatgewalt des Papstes Im Gefolge des Vatikanums I bezeichnet c. 218 § 2 die päpstliche Gewalt als eine wahrhaft bischöfliche, dem Papstamt innewohnende (potestas ordinaria), unmittelbare Gewalt über jede Teilkirche (Diözese), ihre Hirten und ihre Gläubigen. Der Sinn des Begriffes "unmittelbar" ist eindeutig und kann nicht auf die unmittelbare Übertragung der Gewalt von Gott, ohne Mittlerschaft der Kirche, bezogen werden (vgl. c. 219)53; ganz klar ist gemeint, daß der Papst seinerseits die gleiche Vollmacht in jeder einzelnen Diözese habe, wie sie der für diese Diözese bestellte Bischof innehat. Hat die Diözese also ein zweifaches Haupt? Kann das Vatikanum I noch sagen, daß durch die päpstliche Immediatgewalt der ordentlichen und unmittelbaren Gewalt des Bischofs über sein Bistum kein Eintrag geschehe 54 ? Die Brisanz dieser Fragen wurde vor 100 Jahren deutlich: 51 Dekret der Kongregation für die Bischöfe vom 14. 2. 1970 zur Bestätigung des Statuts der Pastoralsynode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland: Arch. f. kath. Kirchenrecht 139 (1970) 150 f., zusammen mit Dekret "Christus Dominus" (s. Anm. 46) n. 38, 4. 62 Anmerkung zu "Christus Dominus" n. 38, 4 von Klaus Mörsdorf, in: LThK II. Vat. Konzil, II 237. 53 Dazu Klaus Mörsdorf, Die Unmittelbarkeit der päpstlichen Primatialgewalt im Lichte des kanonischen Rechts, in: Einsicht und Glaube (Festschrift Gottlieb Söhngen) 1962, 465.

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Reichskanzler Otto von Bismarck hat am 14. Mai 1872 in einer Circular-Depesche behauptet, die Beziehungen zwischen dem Reich und dem Papst seien deswegen schwer gestört, weil das Vatikanum I in seinem Dekret über den Papst den römischen Zentralismus und den päpstlichen Totalitarismus gewissermaßen als Dogma den Gläubigen zu glauben auferlegt habe. Diese Circular-Depesche wurde allerdings erst am 29. Dezember 1874 im "Deutschen Reichsanzeiger" veröffentlicht, woraufhin die deutschen Bischöfe in den Monaten Januar und Februar 1875 eine gemeinsame Erklärung herausgegeben haben 55 • Sie erwähnen zunächst die Behauptungen Bismarcks: nunmehr habe der Papst die Möglichkeit, in jeder einzelnen Diözese die bischöflichen Rechte in seine Hand zu nehmen; die bischöfliche Jurisdiktion sei in der päpstlichen aufgegangen; der Papst übe nicht mehr bloß einzelne Vorbehalstrechte aus, sondern die ganze Fülle der bischöflichen Rechte ruhe in seiner Hand; im Prinzip sei er an die Stelle jedes einzelnen Bischofs getreten und es sei in sein Belieben gestellt, sich auch in der Praxis jederzeit an die Stelle des Bischofs gegenüber den staatlichen Regierungen zu setzen. Die Bischöfe seien nur mehr Beamte ohne eigene Verantwortlichkeit, Beamte eines fremden Souveräns USW. 56 • Die Bischöfe weisen Bismarcks Behauptungen als unbegründet und dem Vatikanum I widersprechend zurück. Der Papst habe eine eigene höchste ordentliche und unmittelbare Gewalt; seine oberste Amtsgewalt zur Erhaltung der Einheit des Glaubens, der Disziplin und der Leitung der Kirche bestehe nicht nur aus einigen Reservatsrechten. Dies sei aber keine neue Lehre, sondern nur gegenüber den Irrtümern der Gallikaner, Jansenisten und Febronianer neuerdings erklärt worden. Der Papst sei Bischof von Rom, keineswegs Bischof von Köln oder Breslau. Als Bischof von Rom aber sei er zugleich Papst, d. h. Hirt und Oberhaupt der gesamten Kirche, und habe darüber zu wachen, daß jeder Bischof im ganzen Umfang seines Amtes seine Pflicht erfülle; wo ein Bischof behindert sei oder es eine andere Notwendigkeit fordere, habe er, nicht als Bischof der betreffenden Diözese, vielmehr als Papst, alles anzuordnen, was der Verwaltung der Diözese dienlich ist 57 • Deswegen sei der Papst keineswegs vollkommen absoluter Monarch geworden, schon deswegen nicht, weil er unter dem göttlichen Recht stehe und an die von Christus getroffene Grundordnung gebunden sei: er könne die der Kirche von ihrem Stifter gegebene Verfassung nicht ändern, wie der weltliche Gesetzgeber eine Staatsverfassung ändern kann5s • So könne der Papst nicht 64 Heinrich Bacht, Primat und Episkopat im Spannungs feld der beiden Vatikanischen Konzile, in: Wahrheit und Verkündigung. Michael Schmaus zum 70. Geburtstag. II 1967, 1462; Denz., 3061. 55 Denz., 3111. 58 Denz., 3112. 67 Denz., 3113.

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daran rütteln, was dem Bischofsamt von Gott an Recht und Pflicht zugeteilt ist59 • Das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit beziehe sich einzig auf das Lehramt, nicht auf Regierungshandlungen des Papstes. Als auf diese Erklärung hin den deutschen Bischöfen vorgeworfen wurde, sie hätten die Lehre des Vatikanum I unrichtig wiedergegeben, hat sie Papst Pius IX. am 4. März 1875 in einem Apostolischen Schreiben in Schutz genommen und ihre Erklärung als durchsichtig und solid gutgeheißen: sie enthalte die richtige Lehre der Kirche, des Konzils und des Hl. Stuhls60 •

VI. Papst und Bischöfe Sicher aber ist das Vatikanum I die Antwort darauf schuldig geblieben, wie sich dann die Gewalt der Diözesanbischöfe zur Immediatgewalt des Papstes verhalte. Es ist eben ein unvollendetes Konzil gewesen. Hier hat nun das Vatikanum II mit seiner Aussage über die Stellung des Diözesanbischofs in der Dogmatischen Konstitution "Lumen gentium" vom 21. November 1964 ergänzt: "Die Bischöfe leiten die ihnen zugewiesenen Teilkirchen als Stellvertreter und Gesandte Christi .... Diese Gewalt ... kommt ihnen als eigene, ordentliche und unmittelbare Gewalt zu, auch wenn ihr Vollzug letztlich von der höchsten kirchlichen Autorität geregelt wird und im Hinblick auf den Nutzen der Kirche und der Gläubigen mit bestimmten Grenzen umschrieben werden kann61 ." Der Diözesanbischof hat also als der Apostelnachfolger göttlich-rechtlich bestimmte Gewalt, ist Stellvertreter Christi, nicht des Papstes, in seiner Teilkirche, eigenständig ihm gegenüber, für seinen Bereich mit aller Gewalt zur Ausübung seines Dienstes ausgestattet, zur Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung befugt. Es bestehen päpstliche Vorbehaltsrechte, doch spricht gerade wegen der Aufwertung des Bischofsamtes durch das Vatikanum II bis zum Erweis des Gegenteils die Vermutung für die unbeschränkte Gewalt des Diözesanbischofs62 • Trotzdem bleibt die Immediatgewalt des Papstes. Ihm als dem Uni versalbischof steht in jeder Teilkirche die Amtsgewalt zu wie dem Bischof in seinem Sprengel. Das erfordert Abgrenzung der Kompetenz. Das Vatikanum II hat diese freilich nicht durchgeführt; es hat nur die Grundsätze hiefür verdeutlicht. Maßgeblich ist auch hier das Subsidiaritätsprinzip, ausgesprochen in der Enzyklika "Quadragesimo anno" Pius' XI. vom 15. Mai 1931 n. 79 63 , wonach es gegen die Gerechtigkeit verstößt, 58 59 80

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Denz., 3114. Denz., 3115. Denz., 3116, 3117. Zum Ganzen Mörsdorf, a.a.O. (Anm. 53), 465 - 468. N. 27, AAS 57 (1965), 32 f.; auch "Christus Dominus" (Anm. 46), n. 8. Dazu Klaus Mörsdorf, Kommentar in: LThK Ir. Vat. Konzil H, 158 -161.

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"das, was die kleinen und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weite und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen". Hier wird die Grenze sichtbar und die scheinbar konkurrierende Gewalt des Papstes in der Teilkirche als schließlich doch nicht gleichartig zuständig erkannt: die von Jesus Christus vorgegebene Grundstruktur der Kirche und ihre Gliederung in Teilkirchen in Nachfolge der ursprünglichen Apostelkirchen ist bindend und Grenze setzend auch für den Papst: seine höchste Bischofsgewalt darf nicht nach Belieben und Willkür, sondern nur nach dem Prinzip der Subsidiarität in die Zuständigkeit des Diözesanbischofs eingreifen dann, wenn es zur Erfüllung der Aufgabe der Teilkirche und zu deren Dienst an der Einheit der Gesamtkirche, der Communio Ecc1esiarum, erforderlich ist64 • Nach diesem Grundsatz der Subsidiarität bedarf das spezielle Tätigwerden des Papstes in der einzelnen Diözese entweder einen inneren, in der Natur der Teilkirche und in ihrer Funktion innerhalb der Gesamtkirche liegenden Grund oder eine gesetzliche Norm für Vorbehalte des Papstes bzw. der in seinem Namen handelnden kurialen Behörden. Solche Vorbehalte nehmen ihre Berechtigung daraus, daß sie den Grundsatz der Subsidiarität wahren. Dienst an der Einheit, wozu auch die Wahrung der Primatialgewalt gehört, ist das Kriterium für das päpstliche Eingreifen in die Ortskirche. Dieses ist dann geboten, wenn der Ortsbischof die ihm als Haupt der Teilkirche zukommenden Aufgaben zu erfüllen nicht willens oder in der Lage ist. So kann der Papst aus gegebener Veranlassung auch die Leitung einer Diözese einem Apostolischen Administrator übergeben, der dann als Stellvertreter des Papstes, nicht des Bischofs, in Vollzug des Subsidiaritätsprinzips die Ortskirche leitet (ce. 312, 316), wie es z. B. im Gefolge der beiden Weltkriege oftmals der Fall gewesen ist, wenn Sprengel eines Bistums durch neue politische Grenzen vom zuständigen Ortsbischof nicht geleitet werden konnten. Keinesfalls aber kann der Papst die Kirche ohne Bischöfe regieren65 • Von einem Eingreifen des Papstes muß allerdings noch keine Rede sein, wenn der Papst Untergebene des Diözesanbischofs für die Dienste der Gesamtkirche in Anspruch nimmt. So haben schon die Päpste GreAAS 23 (1931), 190 ff. Matthäus Kaiser, Das Prinzip der Subsidiarität in der Verfassung der Kirche: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 133 (1964), 3 -13, hier 3 - 6; Klaus Mörsdorf, Die Autonomie der Ortskirche: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 138 (1969), 388 - 405; Schmaus, Der Glaube der Kirche, a.a.O., 182; Winfried Aymans, Die 63

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Communio Ecclesiarum als Gestaltgesetz der einen Kirche: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 139 (1970),69 - 90; Os kar Saier, Communio in der Lehre des Ir. Vat. Konzils, 1973, 154 f. 65 Kaiser, a.a.O., 7 f.; Schmaus, Kath. Dogmatik, 111, 1, 1958.490.

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gor I. (590 - 604) und Nikolaus I. (858 - 867) das Recht, Mönche und Kleriker aus den einzelnen Diözesen für gesamtkirchliche Aufgaben in Dienst zu nehmen, geltend gemacht66 . Dieses Recht entspricht der Pflicht der Bischöfe zur Teilhabe an der Sorge für die Gesamtkirche, die das Vatikanum II erneut betont hat67 . Von den Ortskirchen sind allerdings die Sprengel der Missionskirchen streng zu unterscheiden: wo die ordentliche Bischofskirche noch nicht errichtet ist, im Bereich nämlich der von der Propagandakongregation geleiteten Missionskirche, da ist der Papst Bischof. Die normalerweise an der Spitze der Missionssprengel stehenden Apostolischen Vikare oder Präfekten sind Stellvertreter des Papstes (e. 293 § 1), nicht eigenberechtigte Gebietsherren 68 ; sie können im Gegensatz zum Residentialbischof vom Papst frei abberufen werden. VII. Papst und Bischofskollegium Das Vatikanum II hat in besonderer Weise die verfassungsrechtlich sehr bedeutsame Lehre von der Höchstgewalt, die beim Bischofskollegium liege, entwickelt. Diese Lehre ist nicht neu, spricht ja auch das geltende kirchliche Gesetzbuch sowohl vom Papst (c. 218 § 1) als auch vom Ökumenischen Konzil (c. 228) als Trägern höchster Jurisdiktionsgewalt; allerdings ist hier ausgesprochen, daß es kein derartiges Konzil ohne Papst gebe (c. 222). Damit ist die Frage aufgegeben: Wer ist nun also höchste Autorität, der Papst oder das Bischofskollegium? Das Konzil lehrt: wie Petrus zusammen mit den Aposteln, so bilden die durch sakramentale Weihe und hierarchische Gemeinschaft mit dem Papst verbundenen Bischöfe das Bischofskollegium. Dieses hat Autorität nur in Gemeinschaft mit dem Römischen Bischof. Dieser hat "volle, höchste und universale Gewalt über die Kirche und kann sie immer frei ausüben. Die Gruppe der Bischöfe aber, die dem Kollegium der Apostel im Lehr- und Hirtenamt nachfolgt, ... ist gemeinsam mit ihrem Haupt, dem Römischen Bischof, und niemals ohne dieses Haupt, gleichfalls Träger der höchsten und vollen Gewalt über die Kirche"69. Diese Lehre ist auf Veranlassung Papst Pauls VI. vor der Beschlußfassung in einer "Nota explicativa praevia" erläutert worden: es werde bei den beiden höchsten Gewalten keineswegs zwischen dem Papst einerseits und den Bischöfen andererseits unterschieden, sondern zwischen dem Papst tür C. 123 C I qu. 1; c. 21 C IX qu. 3. 67 "Christus Dominus" (s. Anm. 46), nn. 4 -7. es Darüber darf c.294 § 1, der die Stellung der Missionsoberhirten der der Bischöfe angleicht, nicht hinwegtäuschen. G. Vromant: Ius Pontificium 11 (1931),62 - 74; Vietorio Bartoccetti, Ius constitutionale missionum, 1947. 08 Dogm. Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" vom 21. 11. 1964, n. 22: AAS 57 (1965), 25 ff.; auch "Christus Dominus" (Anm. 46), n. 4. 88

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sich allein und dem Papst ve,reint mit den Bischöfen. "Dem Urteil des Papstes ... unterliegt es, je nach den im Lauf der Zeit wechselnden Erfordernissen der Kirche die Weise festzulegen, wie diese Sorge tunlich ins Werk gesetzt wird, sei es persönlich, sei es kollegial. Der Römische Papst geht bei der Leitung, Förderung und Billigung der kollegialen Betätigung ... nach eigenem Urteil vor" (n. 3)1°. Damit ist klar: Höchstgewalt wird immer durch den Papst betätigt, entweder durch ihn allein oder durch ihn zusammen mit dem Bischofskollegium. Wie kommt nun das Bischofskollegium zur Tätigkeit? Zweifellos im Ökumenischen Konzil. Der Papst könnte aber auch ohne formelle Einberufung eines Konzils sämtliche Bischöfe zu gemeinsamem Handeln zusammenrufen; er könnte auch eine irgendwie entwickelte Initiative dieser Bischöfe aufnehmen und gutheißen 71 • Hier wird der Ansatzpunkt kommender Entwicklungen sichtbar: diese gehen sicher nicht in Richtung auf ein Kollegium als Leitungsteam der Kirche, vielmehr in Richtung auf ein häufigeres und intensiveres Zusammenwirken des Papstes mit dem Bischofskollegium, wozu die heutigen schnellen Verständigungs- und Verkehrsmittel Möglichkeiten bieten, die es nie gegeben hat. Ein Anfang ist bereits gemacht: noch vor Abschluß des Konzils hat Paul VI. im Motuproprio "Apostolica sollicitudo" vom 15. September 1965 die Bischofssynode errichtet, bestehend aus Vertretern der Bischöfe der verschiedenen Riten und Länder (ergänzt durch Obere von Priesterordensverbänden), die periodisch als Repräsentanz des gesamten katholischen Episkopats dem Papst als Informations- und Beratungsorgan zur Seite stehen; der Papst kann der Bischofssynode auch Entscheidungsaufgaben übertragen, wobei dann durch die Gutheißung des Papstes für die Gesamtkirche verbindliches Recht geschaffen wird 72 • Drei allgemeine Bischofssynoden haben 1967, 1971 und 1974 stattgefunden; sie haben gezeigt, wie ein in repräsentativer Vertretung gebildetes Ökumenisches Konzil zustande kommen kann und dabei der Nachteil eines mehrere tausend Mitglieder umfassenden und jahrelang tagenden Konzils vermieden werden könnte 73 • Die Lehre vom Bischofskollegium und die Einrichtung des Bischofssynode - beide müssen klar voneinander unterschieden werdenmachen deutlich: 1. Immer bleibt die Primatstellung des Papstes unanAAS 57 (1965),74. Klaus Mörsdorf, Primat und Kollegialität nach dem Konzil: über das bischöfliche Amt, Veröffentlichungen der Kath. Akademie der Erzdiözese Freiburg, 1966,41. 72 AAS 57 (1965), 775 - 780; dazu Ordo der Bischofssynode vom 8. 12. 1966: AAS 59 (1967), 91 - 103 und dessen Revision vom 8. 8. 1969: AAS 61 (1969),525 539. Dazu Winfried Aymans, Kritische Erwägungen zum formellen Beschlußfassungsrecht der Bischofssynode: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 137 (1968), 70

71

125 - 138. 73

Mörsdorf, a.a.O. (Anm. 71), 42.

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getastet; das Bischofskollegium ist nur mit dem Papst als Haupt existent, sein kollegiales Handeln nur wirksam, wenn der Papst zustimmt; eine rechtliche Verpflichtung des Papstes, dem Rat des Bischofskollegiums oder der Bischofssynode zu folgen bzw. ihrer Entscheidung zuzustimmen, besteht nicht74 • 2. Das kollegiale Prinzip aber ist nunmehr in der Kirche viel wirksamer neben das monarchische Prinzip getreten; dieses war durch die Betonung des Primats auf dem Weg, mindestens de facto zum ausschließlichen Prinzip zu werden. Hier liegt wohl die säkulare Leistung des jüngsten Konzils, daß es - gewiß nicht aus irgendwelcher Verfallenheit an Demokratisierungstendenzen modischer Art, sondernaus theologischer Besinnung und in Anknüpfung an das Vatikanum I lehrmäßig möglich gemacht hat, die in der Weltkirche vorgegebene Spannung zwischen wesenhafter Einheit und verstärktem Pluralismus fruchtbar durchzuhalten 75 . Man kann sich gerade in der Kirche nicht auf die juridische Denkweise beschränken. Juridisch ist es so: der Papst kann ohne Genehmigung und Zustimmung, ja ohne Rat des Bischofskollegiums seine Höchstgewalt gebrauchen, während das Bischofskollegium ohne den Papst nicht einmal zusammenkommen und ohne ihn verbindlich nichts bestimmen kann. Josef Ratzinger sagt, "daß der Papst bei seinem Handeln keinem äußeren Tribunal untersteht, das als Appellationsinstanz gegen ihn auftreten könnte, wohl aber an den inneren Anspruch seines Amtes, der Offenbarung, der Kirche gebunden ist. Dieser innere Anspruch seines Amtes schließt aber auch eine moralische Bindung an die Stimme der Gesamtkirche ohne Zweifel mit ein ... Während juridisch der Papst inappellabel ohne das Kollegium, dieses aber nicht ohne ihn wirken kann, wird auf der moralischen Ebene für den Papst eine Verpflichtung entstehen können, auf die Stimme der Bischöfe zu hören, und umgekehrt für die Bischöfe eine Notwendigkeit auftreten können, von sich aus initiativ zu werden"76. Auf die Bischöfe zu hören und damit die Teilkirchen ihre Stimme in die Gesamtkirche einbringen zu lassen, - das werden wohl auch in der Zukunft die verschiedenartigen Persönlichkeiten der Päpste unterschiedlich verwirklichen. Man muß abwarten: die Verfassungstheorie der Kirche läßt ein riesiges Maß von exklusiver Höchstgewalt des Papstes zu, die Verfassungswirklichkeit aber wird sich bestimmt auf eine stärkere Ausgewogenheit des Monarchischen und des Kollegialen hin entwickeln77 • Und immer wird es die gleiche Ge74 Klaus Mörsdorf, Die hierarchische Verfassung der Kirche, insbesondere der Episkopat: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 134 (1965), 88 - 90; ders., Kommentar zu "Christus Dominus", in: LThK II. Vat. Konzil II, 164. 75 Vgl. Bacht, a.a.O., 1452; Kaiser, a.a.O., 12. 7& Kommentar zu "Lumen gentium", Nota praevia, in: LThK Ir. Vat. Konzil I,

356.

77 Vgl. Karl Rahner, Kommentar zu "Lumen gentium", n. 22, ebd. I, 356.

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walt sein, ob der Papst allein oder ob er mit dem Kollegium handelt. "Die kollegial ausgeübte oberste Gewalt ist die breiteste Entfaltung (formal), die persönlich ausgeübte oberste Gewalt die äußerste Verdichtung ein und derselben obersten Gewalt in der Kirche78 ." Beide Formen des Tätigwerdens sind nötig, die kollegiale und die monarchische, letztere schon auch deswegen, weil das Kollegium gerade im Bereich der Verwaltung viel zu schwerfällig, ja außerstande ist, den täglichen Erfordernissen an Höchstgewalt zu genügen.

VIII. Der Papst als Souverän Der Papst ist über 1100 Jahre hindurch Herrscher über den Kirchenstaat gewesen, bis dieser im Ansturm des italienischen Nationalismus

im 19. Jahrhundert allmählich, 1870 endgültig zusammenbrach. Als Herrscher war bis dahin der Papst weltlicher Souverän gewesen, damit Subjekt des Völkerrechts, befähigt, völkerrechtliche Verträge in Gestalt von Konkordaten abzuschließen und bei anderen Staatsregierungen Gesandte (Nuntien genannt) zu unterhalten, diese nach dem Rangreglement des Wiener Kongresses vom 9. Juni 1815 jeweils die Doyens des Diplomatischen Corps in dem Lande, in dem sie akkreditiert waren 79 • S~it 1870 bestand ein Schwebezustand; währenddessen haben die Päpste ohne Staatsgebiet Souveränitäts rechte nur auf Grund des von ihnen nie anerkannten Garantiegesetzes des Landes Italien vom 13. Mai 1871 ausgeübt. Dies endete durch den Lateranvertrag vom 11. Februar 1929 zwischen dem Hl. Stuhl und dem König von Italien, der einleitend bekundete, "die im Jahre 1870 durch die Einverleibung Roms in das Königreich Italien ... entstandene ,Römische Frage' als endgültig und unwiderruflich beigelegt" betrachten zu wollen und "dem Hl. Stuhl zur Sicherstellung völliger und sichtbarer Unabhängigkeit eine unstreitige Souveränität auch auf internationalem Gebiet" zu verbürgen. Durch diesen Vertrag wurde der Staat der Vatikanstadt (Cittci deZ Vaticano), nur 44 ha groß, geschaffen, der die Peterskirche, den päpstlichen Palast und die Vatikanischen Gärten sowie den Petersplatz umfaßt. Die Einwohner dieses Staates sind nur der päpstlichen Gewalt unterworfen. Zu diesen Staatsangehörigen zählen außer den dort Wohnenden auch die außerhalb der Vatikanstadt in Rom residierenden Kardinäle. Italien garantiert das aktive und passive Gesandtschaftsrecht des Hl. Stuhls nach dem internationalen Recht und anerkennt den Staat der Vatikanstadt unter der Souveränität des Papstes. Der Hl. Stuhl seinerseits anerkennt das

78 Winfried Aymans, Papst und Bischofskollegium als Träger der kirchlichen Hirtengewalt: Arch. f. kath. Kirchenrecht, 135 (1966), 146. 79 LThK 4, 770. Zum Datum 5.6.1815 siehe Lateranvertrag Art. 12 Abs.4: AAS 21 (1929), 209 ff. und bei Schöppe, a.a.O., 161 - 170.

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Königreich Italien mit Rom als Hauptstadt des italienischen Staates80 • Auf dieser Rechtsgrundlage ist heute die völkerrechtliche Stellung des Papstes gegründet. StaatsrechtIer mögen versucht sein, die Amtsgewalt des Papstes den Formen eines überwundenen Absolutismus zuzurechnen, und die damit verbundenen menschlichen Risiken als zu gewagt einschätzen; sie müßten allerdings gerade in der Gesellschaft von heute bedenken, daß die Möglichkeiten dieser Amtsgewalt schon deswegen gar nicht ausschöpfbar sind, da sich jeder Betroffene der geistlichen Macht ohne weiteres entziehen kann. Es gibt KirchenrechtIer, die beanstanden gen au das Gegenteil: in der gegenwärtigen Turbulenz im innerkirchlichen Bereich müßte der Papst mehr von seiner Autorität einsetzen und die Selektion von Böcken und Schafen rascher vornehmen; sie müßten allerdings bedenken, daß der Stellvertreter Christi seinem Herrn viel variablere Verhaltensweisen abzuschauen hat, nicht bloß das Vorbild der Tempelreinigung (Mt 21, 12 f.). Ein Weiser, Hans Urs von Balthasar 8 t, meint anders: die Dienstfunktion des Papstes, Garant der Einheit zu sein, sei noch nie so unentbehrlich gewesen wie in dieser von einem zerstörerischen Pluralismus gefährdeten Welt. Zwar gebe es in der Kirche die viel stärkeren Einheitsfunktionen des einenden Christus und der einenden gegenseitigen Liebe der Christen. Diese aber seien Sünder, "das heißt Egoisten und Separatisten". Darum bedürfe es des einenden Petrusamtes.

80 WiHibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, HF, 1970, 40 f.; Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, '1964, 743 - 748; Literaturangaben auch bei Schöppe, a.a.O., 353 - 356.

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In: Papsttum heute und morgen. Hrsg. Georg DenzIer, 1975, 22 - 25.

"DAS MYSTERIUM RONCALLI" Von Bruno B. Heim Von einem "Mysterium Roncalli" zu reden und zu schreiben (Etudes, Paris, Juillet-Aou-Septembre 1963), konnte nur Leuten einfallen, die mit dieses Papstes Wesensart nicht aus direkter, lebendiger und langer Erfahrung vertraut waren. Gewiß hat die von seinen Elektoren unerwartete Initiative die Kirche in eine nicht gefahrenlose und zuweilen stürmische Bewegung gebracht. Jene, die damals sagten, man werde 50 Jahre brauchen, um wiedergutzumachen, was Johannes XXIII. der Kirche eingebrockt habe, hatten wohl nicht erkannt, daß vieles ruhiger und mit weniger scharfen Auseinandersetzungen hätte verlaufen können, wenn ein Konzil 2 - 3 Jahrzehnte früher stattgefunden hätte. Das kann man aber nicht Johannes XXIII. anlasten. Was im Zusammenhang mit dem Konzil hochkam, hatte schon lange unter der Oberfläche gebrodelt. Hätte man die konziliäre Aussprache noch länger hinausgeschoben, wäre vermutlich aufgestauter Unmut und lange verhaltene Kritik (an Methoden und Leuten) viel heftiger und wirklich schädlich zum Ausbruch gekommen. Mir waren Seelsorger bekannt, die schon vor 50 und mehr Jahren (gehorsam und ohne an Aufruhr zu denken) an den Problemen gelitten haben, die das Konzil zu lösen versuchte. I.

Ist nun das Konzil so verlaufen, wie Papst Johannes es sich gedacht hat? Hatte er es sich überhaupt so genau ausgedacht, oder wollte er, voll Vertrauen auf die göttliche Vorsehung, schauen, was dabei herauskomme? Konrad Adenauer hat mit einem Jahr Abstand zweimal mir gegenüber seiner Enttäuschung darüber Ausdruck gegeben, daß dieser Papst das Konzil so unbedacht angeündigt habe, ohne einen im Detail ausgearbeiteten Plan bereit zu haben. Johannes XXIII. hatte das Adenauer anläßlich seines Besuches im Vatikan selbst gesagt. Hier haben wir wieder für Fernerstehende das "Mysterium Roncalli", während jene, die seine offene Spontaneität kannten, gar nicht überrascht waren. Ich habe Adenauer beide Male geantwortet, daß die politi-

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sche Regierung eines Landes und die charismatische Leitung der Kirche doch zwei verschiedene Dinge seien. Johannes hat sich jedenfalls über den schon zu seinen Lebzeiten sichtbaren Durchbruch neuer Methoden gefreut. Er hat die freie Meinungsäußerung der Konzilsväter gewollt und verteidigt. Er wollte kein Prophet sein. Er wollte nicht, daß das Konzil in zum voraus von der Kurie festgelegte Bahnen gezwungen werde. Er wollte, daß sich alle frei aussprechen können, daß man gemeinsam berate, wie die Kirche in der modernen Welt ihre Aufgabe zum Wohle aller am besten erfüllen könne. 11. Im Februar 1947 stand ich in Paris vor seinem Schreibtisch und sagte in einem Gespräch über die Getrenntheit der Christen: "Ich denke, daß Rom in dieser Hinsicht zu wenig Initiative hat. Die sitzen auf ihrem Thron und denken, wenn die andern auf den Knien kommen, können wir uns überlegen, ob wir mit ihnen reden wollen oder nicht. Der Papst sollte immer wieder zu den andern Christen sprechen, und selbst wenn sie ihm vor die Füße spucken würden, hätte er nichts eingebüßt, sondern nur seine Pflicht getan." Roncalli schaute mich ernst an und sagte: "Sie haben eine bittere Zunge, ... aber Sie haben recht." 111.

Wenn man "seine Haltung" gegenüber der Mission de Paris verdächtigt und Widersprüche sieht zwischen manchen Einstellungen während seiner Nuntiaturzeit und Äußerungen als Papst, ist das wiederum nicht ein "Mysterium Roncalli", sondern leicht erklärlich mit seinem bischöflichen Wahlspruch oboedientia et pax. Als Nuntius hatte er Instruktionen zu befolgen, als Papst konnte er seine Meinung äußern. Ich glaube auch, daß es falsch ist, ihm Taktiken zu unterschieben, als ob er aus schlauen überlegungen Gesten bald nach links und bald nach rechts gemacht hätte, um die Dinge irgendwie im Gleichgewicht zu halten. Solches Handeln entsprang vielmehr seiner Neigung, allen ihr Recht zu lassen: den Jungen und den Alten, den Erneuerungseifrigen und jenen, welche die bestehenden Formen und Methoden der Praxis und der Herrschaft erhalten wollten.

Beide zusammen sind die echte Wirklichkeit, nicht die einen allein. Gegenseitige Intoleranz ist ungut, ungerecht und wirklichkeitsfremd. Die Zukunft der Kirche soll nicht das Resultat eines sturen Konservativismus sein und auch nicht das Ergebnis einer wilden Revolution. Nicht vom stürmischen Umbruch ist das Beste zu erwarten, sondern von der ehrlichen und wohlmeinenden Auseinandersetzung bestehender und vorwärtsschauender Gedankenwelten.

"Das Mysterium Roncalli"

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Als Papst Johannes zu den je 24 vom Konzil gewählten Mitgliedern der Kommissionen je 9 dazuernannte, waren unter den von ihm Berufenen viele, die seinen Absichten und der Tendenz der Mehrheit der Konzilsväter widerstrebten. Ich hatte Gelegenheit, ihm diese Tatsache vorzuhalten. Darauf sagte er wörtlich: "Das habe ich absichtlich gemacht. Sie sind nicht gewählt worden, aber sie haben auch das Recht, zu Wort zu kommen. Sie sollen nachher nicht sagen können, sie hätten nichts zu reden gehabt." - Das war Größe, nicht Schwäche!

IV. Alle jene, die Papst Johannes, ohne ihn gekannt zu haben, für extreme Ideen und abrupte Vorwärtsstürmerei in Anspruch nehmen wollen, verfälschen sein Bild (manchmal sogar unehrlicherweise). Roncalli war ein traditionsverbundener, historisch denkender Mensch. Er wollte nicht zerstören, sondern weiterbauen. Er wollte niemanden kränken, sondern alle zu einem in unserer Zeit wirkungsvolleren Denken und Tun führen. Die Kirche kann demokratische Methoden anwenden und soll es, wo es möglich ist. Die Kirche wird aber nie eine Demokratie sein. Das ist ihrem Wesen und ihrer Sendung fremd. Die Wahl der Leute, die Art des Vorgehens, der Stil des Auftretens und solche Dinge können mit Nutzen diskutiert werden, obschon sie es (leider) lange Zeit nicht waren. Die Grundsätze der Sittlichkeit und die religiöse Wahrheit sind jedoch niemals dem Zeitgeist oder Mehrheitsbeschlüssen zu unterstellen. Das kann mit überaus simplen und unverfänglichen Beispielen klar gemacht werden: die Lüge ist immer verwerflich, auch wenn eine überwältigende Mehrheit sie für nützlich und praktisch ansehen sollte, und: 2 + 2 sind immer 4 und bleiben 4, auch wenn unter Tausenden nur noch einer dafür stimmen würde.

V. Als seinerzeit die Welt sich fragte, ob Papst Johannes wohl Adschubei empfangen würde, bestand für mich kein Zweifel. Aus taktischen und politischen Gründen hätte er es nach der Meinung vieler nicht tun sollen. Er wäre aber nicht er selbst gewesen, wenn er je einen Menschen zurückgewiesen hätte. Daraus zu schließen, er habe nun wieder einmal eine Geste nach links machen wollen, wäre grundfalsch. Er war ein überaus sozial eingestellter Mensch, mit einer echten Liebe zu den Armen, Schwachen und Demütigen, zu Kindern, Alten und Kranken, aber er war kein Linker und warum hätte er ein Rechter sein sollen? Er hat aber auch die Aristokraten nicht zurückgestoßen und gedemütigt: jetzt, nachdem es kaum mehr Privilegien gibt.

Wenn er mit einem Kommunisten redete, durfte daraus nicht geschlossen werden, daß er nun irgend welche Sympathie für den atheisti-

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schen Materialismus bekunde oder daß er Mordgrenzen und brutale Unterdrückung individueller Freiheit für richtig und erlaubt halte. Wie sollte er, der ihm bekannte Gegner seines Reformwillens, die nicht gewählt worden waren, als Mitglieder der Kommissionen ernannte? Die Freiheit hat er immer und in jedem Menschen geachtet. Wie sollte er sich da nicht bewußt gewesen sein, daß die perverse Unterbindung der persönlichen Rede-, Bewegungs- und Gewissensfreiheit der wesentlichste Punkt ist, der uns von allen gewalttätigen Diktaturen trennt? (Damit ist nicht gesagt, daß es eine berechtigte Freiheit zum politischen Menschenraub, Morden und Bombenlegen gibt.) Für Roncalli war es unmöglich, die Freiheit des Mitmenschen nicht zu respektieren. Bis ins Kleinste anerkannte er das Recht auf Freiheit, das Gott uns allen gegeben hat (die Möglichkeit zu sündigen eingeschlossen). Wenn er eine persönliche Bitte an seine Sekretäre richtete, fügte er gelegentlich hinzu: "Aber nur wenn Sie gerne wollen. Ich will keine Zwangsruderer an meiner Galeere"!

VI. Wenn die überklugen sich fragen: hat er die Schwierigkeiten, die seinem Hauptanliegen, der Einheit der Christen, entgegenstehen, richtig erkannt und eingeschätzt, dann muß man sagen: er hat sicher nicht geglaubt, in kurzer Zeit den Abgrund jahrhundertelanger Trennung ausfüllen zu können. Er wollte aber einen Anfang machen mit einer Art überbrückung, die uns erlaubt, von diesseits und jenseits des Abgrunds zusammenzukommen, miteinander zu reden, einander zu achten und zu lieben und zusammenzuarbeiten, wo immer möglich. Vielleicht hat er in EngZand, das er wenig kannte, dafür mehr Verständnis gefunden als in anderen Ländern. Ist es so lächerlich, daß er zu einem anglikanischen Konzilsbeobachter gesagt haben soll: "Die Theologen haben uns in diese Schwierigkeiten gebracht, es liegt an den einfachen Christen, wie Sie und ich, wieder herauszukommen" (Church Times, 7. Juni 1963)? Wenn man die weitgehend vom heutigen koptisch-orthodoxen Patriarchen und Papst von Alexandrien, Shenouda, formulierte Schluß erklärung des von der Stiftung pro Oriente 1971 in Wien durchgeführten Treffens katholischer und praechalzedonischer orthodoxer Theologen liest und jene Sätze betrachtet, die sich auf die Natur und Person Christi beziehen (Wort und Wahrheit, Dezember 1972), dann kann man kaum verkennen, daß es sich bei diesem wesentlichen Argument einer eineinhalbtausendjährigen Trennung und Feindschaft mehr um verbale als um substantielle Differenzen handelte. - Und heute sind wir Freunde!

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Der forma mentis von Papst J ohannes würde unbedingt nahe stehen, was Patriarch Shenouda 1973 zum Schreibenden sagte: "Wir sollten uns bewußt werden, daß wir in dem, was für die Allgemeinheit der Gläubigen auf ihrem Weg zum ewigen Heil notwendig und wichtig ist, praktisch übereinstimmen, und über anderes mögen sich die Theologen unterhal ten, solange sie wollen." Ist das nicht vielleicht der Standpunkt von Männern, die wirkliche Seelsorger waren und sind? Jede Tätigkeit in der Kirche und namentlich auch, was in den Büros der Kurien und der Nuntiaturen geschieht, hat doch die Seelsorge zum Hauptzweck. Der Seelsorge soll letzten Endes alles dienen, und die seelsorgliche Erfahrung und Zielsetzung soll jeder Verwaltungsarbeit in der Kirche zugrunde liegen.

Paul Claudel nannte einst in Paris in einem Gespräch mit Ronealli den Papst "le eure de l'univers", und das wollte Johannes XXIII. als Summus Pontifex sein: der alle verstehende und allen verständliche Pfarrer der Welt.

KIRCHE ALS SINNTRÄGER IN EINER PLURALEN GESELLSCHAFT?

Anmerkungen zum Selbstverständnis der (katholischen) Kirche Von J ohannes Neumann Unsere gegenwärtige Gesellschaft wird von unterschiedlichen Kräften geformt, mitgestaltet und teilweise - allem Reden von der "Mündigkeit der Bürger" zum Trotz - bevormundet. Obwohl in einzelnen Ländern der Bundesrepublik Deutschland - vornehmlich - den evangelischen Kirchen ein "Öffentlichkeitsauftrag" vertrags rechtlich bestätigt worden ist!, müssen sich die Kirchen mehr denn je als gesellschaftlich bedeutsame "Sinninstanzen" gegen eine immer zahlreicher werdende Konkurrenz behaupten. Ihr Anspruch, Instanzen für Sinn- und Werthaftigkeit des menschlichen Lebens zu sein und ein sittliches, gesellschaftsrelevantes "Wächteramt" auszuüben, steht heute nicht mehr allein. Zunehmend beanspruchen auch andere Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen durchaus Vergleichbares!. Das bisherige kirchliche "Monopol" für Sinnerhellung des menschlichen Lebens und Normgebung für menschliches Verhalten besteht nicht mehr. Ja dadurch, daß die Kirchen nicht selten politische Handlungsmodelle predigen, soziale Pragmatik üben und direkt gesellschaftliche "Erfüllung" verheißen, begeb€n sie sich ihres eigentlich geistlichen Auftrags, "profanisieren" sie sich selber, werden sie zum Komplizen politischer Opposition oder zum Stabilisator bestehender gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse; und dies aus einer gesetzlich, ja verfassungsrechtlich besonders gesicherten Position heraus. Mit Recht warnt deshalb H. Maier vor einer "institutionalisierten" kritischen Funktion von Kirche und Theologie gegenüber der konkreten geschichtlichen Gesellschaft, weil durch eine solche 1 Zuerst formuliert im Niedersächsischen Kirchenvertrag (Loccumer Kirchenvertrag) vom 19.3. 1955 (abgedruckt in: W. Weber, Die deutschen Konkordate und Kirchenverträge der Gegenwart I, 1962, 212 ff. - Aus diesem Vertrag wurden dieser Begriff und andere Grundsätze in fast alle neueren Kirchenverträge übernommen. Vgl.: W. Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, 1964; W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, 1973 (Lit.); D. Pirson, Offentlichkeitsanspruch, in: Evangel. Staatslexikon 21975,1658 - 1663. 2 So spricht H. Schelsky von der (Priester)herrschaft der Intellektuellen durch "Sinngebung" und der Klassenherrschaft der Sinnverwalter (in: DiE~ Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, 11975, insbes. 39 ff.; 167 ff.).

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Einbeziehung der Kirche als Institution in den Prozeß der politischdialektischen Kritik und Gesellschaftsveränderung, die faktischen Möglichkeiten der Kirche in der modernen Gesellschaft überschätzt (und die ihr gesetzten Grenzen überschritten) werden. Die Kirche wird von dieser Art "politischer Theologie" auf eine "Rolle" festgelegt, die sie unvermeidlich als rivalisierende Kraft unter anderen Kräften in den politischen Kampf hineinziehen muß. Damit aber wird das Gesetz verkannt, unter dem die Kirche im modernen Verfassungsstaat und in der demokratischen Gesellschaft lebt: daß nämlich ihr spiritueller Primatanspruch gerade durch die Anerkennung der (relativen) Autonomie des Zeitlichen, durch Eigenständigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft, nicht durch Teilhabe an ihnen, gesichert ist .... Sie kann ihre eschatologische Vorläufigkeit in vielen Formen realisieren: durch Weltdistanz ebenso wie durch Weltveränderung, durch den contemptus mundi ebenso wir durch richterliche Weisung und Zurechtweisung; durch institutionelle Autonomie ebenso wie durch das ,Allen-Alles-Werden' im Gesetz der geschichtlichen Anpassung. Wer ihr ein bestimmtes Verhalten verbindlich vorschreiben will, verkennt sowohl ihre Geschichtlichkeit wie ihre innere Differenzierung, legt sie auf eine historische Phase fest, politisiert sie nach dem Modus der jeweiligen Gesellschaft. Denn auch eine den ,gesellschaftlichen Prozeß' kritisierende Kirche ist notwendig politisch und wird zum Teil des ,Systems', wenn sie auf ihre politische Rolle institutionell festgelegt wird; sie empfängt die Imperative ihres Tuns von der Gesellschaft, der sie doch ,kritisch-befreiend' gegenüber zu treten beansprucht"3. I. Der Auftrag der Kirche Es soll hier weder die Meinung bestimmter kirchlicher Autoren analysiert noch untersucht werden, ob und inwieweit bzw. wodurch sich die Kirchen als institutionalisierte "Sinninstanzen" von jenen anderen Heilslehren unterscheiden, die oft mit charismatischem Rigorismus und hohem ethischen Anspruch auftreten. Auf jeden Fall ist davon auszugehen, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dem kirchlichen Selbstverständnis für die konkrete rechtliche und politische Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen eine wesentliche und rechtsbedeutsame Rolle zuweist. Weil und insofern es für ein kirchenpolitisches System, wie es in der Bundesrepublik Deutschland besteht, entscheidend ist, wie das kirchliche Selbstverständnis die eigene Rolle in Staat und Gesellschaft versteht, mag es gerechtfertigt sein, die vielfach unbekannten Modifikationen, wie sie durch das 11. Vatikanische Konzil weiterentwickelt bzw. 3

H. Maier, Politische Theologie? Einwände eines Laien, in: StdZ 184, 1969,

73 - 91; hier: 81 f.

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ausgestoßen worden sind, wenigstens umrißhaft darzustellen 4 • Wenn die nachfolgende Darstellung sich auf das katholische Selbstverständnis beschränkt, so soll damit keineswegs der Unterschied zur - hier eben nicht darzustellenden - evangelischen Auffassung verwischt oder verkleinert werdens. Diese Auslassung mag jedoch angesichts der Tatsache zu verantworten sein, daß die evangelischen und katholischen Aufassungen sich sowohl in den theoretischen Begründungen als auch vor allem in den praktischen rechtlichen und politischen Konsequenzen einander stark angenähert haben6 • Umgekehrt lassen auch die verschiedenen Theologien der "Befreiung", der "Revolution" oder des "Politischen" kaum wesentliche konfessionelle Unterschiede erkennen. Die Fronten gehen diesbezüglich quer durch die "Konfessionen". Diese theologischen Konzepte sind oft der problematische, aber immer wiederkehrende Versuch - oder die immer neue Versuchung - "die Religion" in einem durchaus säkularisierten Sinn tagespolitisch interessant und machtpolitisch brauchbar zu machen, um so ihre "Fortschrittlichkeit" zu erweisen. Dabei wird manchmal nicht nur die spezifische Eigenart des christlichen Glaubens, sondern auch allgemein der sittlich-geistliche Wert des "Religiösen" verkannt. Gerade nämlich in einer Zeit, die zwischen euphorischer Fortschrittsgläubigkeit (alles ist plan- und machbar) und hoffnungsloser Verzweiflung (alle Planung ist sinnlos) hin- und herschwankt, ist es fatal, wenn Religion und Theologie, Kirche und kirchliche Verkündigung, sich mit Vorder4 Das kirchenpolitische System der Bundesrepublik Deutschland zwingt jedoch keine Religionsgesellschaft den ihnen zur Gestaltung überlassenen Raum zu nützen. Dadurch kann der Eindruck einer scheinbaren Ungleichbehandlung entstehen. Andererseits ist tatsächlich auch mehrfach behauptet worden, daß die verfassungs- und vertragsrechtliche "Privilegierung" der Kirchen unzulängliche Ungleichheiten perpetuieren würde (so z. B.: E. Fischer, Trennung von Staat und Kirche. Die Gefährdung der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik, 21971). 5 Vgl. u. a. P. Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdbStKirchR) hrsg. von E. Friesenhahn und U. Scheuner i. V. m. J. Listl, 1974, I 143 -187; H. Simon, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der evangelischen Kirche, in: ebenda 189 - 212. - Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß es in diesem Beitrag nicht um eine Darstellung der Sozial- oder der Staatslehre der (katholischen) Kirche geht, sondern um den Versuch eines Aufrisses des Selbstverständnisses der Kirche als geistlich-geistige, humane "Sinninstanz". Die katholische "Staatslehre" hat neuestens J. Listl knapp und zutreffend dargestellt in: Evangel. Staatslexikon 21975, 2479 - 2485. 6 Besonders wichtig dürfte sein, daß die staatskirchenrechtliche Doktrin der evangelischen Autoren im rechtspolitischen Ergebnis mit den katholischen Auffassungen in den bedeutsamen Grundfragen übereinstimmt. Man vgl.: A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1973, Handbuch des Staatskirchenrechts, hrsg. v. E. Friesenhahn und U. Scheuner i. V. m. J. Listl I 1974; II 1975 oder die einschlägigen Artikel in der zweiten Auflage des Evangel. Staatslexikons hrsg. v. H. Kunst, R. Herzog, W. Schneemelcher, 1975.

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gründigem und Vorletztem begnügen. Ihnen würde es obliegen, den Menschen sachgerechte Maßstäbe für die Wertung der gängigen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ideen anzubieten; vor allem aber hätten die Kirchen und ihre Theologien, aus ihrer geistlichen Quelle und dem Reichtum ihrer geistigen Erfahrung, auf die Urfragen der Menschheit nach dem Sinn des menschlichen Lebens, des Leidens, der Freude und des schließlichen Todes Antworten zu geben, die heute glaubwürdig, versteh- und nachvollziehbar sind. Dabei muß die Kirche und ihre Verkündigung einerseits auf die tatsächlichen Gegebenheiten und Veränderungen ebenso Rücksicht nehmen, wie sie andererseits auf jene Fragen eine Antwort zu geben hat, die heute wirklich die Not des Menschen ausmachen. Es ist überflüssig zu sagen, daß sie dabei von keinem anderen Grund ausgehen kann, als jenem, der gelegt ist in Jesus, dem Christus (1 Kor 3, 11). Die kirchliche Verkündigung hat sich dabei freilich ebenso vor der Skylla eines primitiven Fundamentalismus wie vor der Charybdis eines nachahmenden Säkularismus zu hüten. 11. Die Gefahr der gegenseitigen Indienstnahme Sicherlich steht es weder staatlichen Organen noch gesellschaftlichen Kräften zu, den Kirchen vorzuschreiben, was und wie sie ihre Botschaft zu verkündigen haben. Aufgrund einer gewissen Unsicherheit bei Kirchenführern und Theologen kann man gegenwärtig nämlich beobachten, daß Politiker und Soziologen, Philosophen und Psychologen zunehmend den Kirchen und ihren Theologen glauben sagen zu müssen, was und wie sie reden sollen. Wenn sie es auch meist aus achtenswerten Gründen tun, zeigt sich darin doch weithin ein funktionalistisches Verständnis von "Religion" allgemein und christlicher Kirche im besonderen und ein eigenartiges Unverständnis gegenüber der dialektischen Dynamik der evangelischen Botschaft, in deren Natur es liegt "anstößig" zu sein. Allein dadurch vermag sie geistlich-geistige Impulse freizusetzen und als jenes geistige Feuer zu wirken, das Jesus, ihr Herr, auf die Erde zu werfen gekommen ist (vgl. Lk 12, 49). Oft mag diese "von außen" kommende Kritik ihre Ursache in der deutlichen Unsicherheit oder in der auffallenden Unkenntnis empirischer Sachverhalte von seiten der Kirchenführer und Theologen haben; manchmal allerdings wird dahinter auch ein bestimmtes weltliches Konzept stehen von dem, was "Kirche" politisch und gesellschaftlich leisten oder lassen soll. In bestimmten Bereichen versucht "man" von außen der Kirche ihren Ort in der Gesellschaft oder die Weise ihres theologischen Selbstverständnisses vorzuschreiben. Die Gefahr eines gutmeinenden "Staatskirchentums" neuer politischer Prägung ist wenigstens in gewissen Bereichen und unter bestimmten politischen Konstellationen nicht ganz auszuschließen. Und es macht diese Gefahr keineswegs harmloser,

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daß sie "gutmeinend" ist; denn "fürsorglich" waren die weltlichen Herren der Kirche gegenüber ja stets, wenn sie tat, was jene wollten! Umgekehrt steht besonders die katholische Kirche ständig in der Gefahr ihr Moralsystem - oder besser gesagt, ganz bestimmte ihrer moralischen Anforderungen -, als allgemein verbindliche sittliche Normen durchsetzen und von der staatlichen Gewalt mit Sanktionen versehen lassen zu wollen. Dabei wird von seiten der Kirche oder der theologischen Autoren häufig mit dem sogenannten "Naturrecht" gearbeitet oder von einer angenommenen "Natur der Sache" her argumentiert. Auf diese Weise geschieht aber etwas sehr Entscheidendes: Die von Jesus Christus angebotene "neue" Sittlichkeit der "Herzensreinheit" angesichts der angebrochenen und offenbar gewordenen Gottesherrschaft, wird ihres Glanzes beraubt und als "natürliche" Sittlichkeit qualifiziert. Sicherlich hat der Impuls des Evangeliums geholfen, im Laufe der Geschichte das Wesen des Menschen und seiner "Natur" wesens- und sachgerechter zu erfassen. Aber diese Erkenntnis ist dann eben nicht nur "rein" natürlich. Soweit ihr jedoch "natürliche" Erkenntnis zugrunde liegt, ist sie andererseits auch wieder dem Wettstreit der Systeme und dem "Fortschritt" der menschlichen Erkenntnis ausgesetzt und insofern variabel. Gerade also durch den Hinweis auf die "Natürlichkeit" ihrer sittlichen Forderungen, wird das einmalige Spezifikum des christlichen Ethos relativiert7. Zwar will christlicher Glaube durch "korrekturoffene Vernunft" vermittelt werden, doch fallen beide nicht zusammen. Vielmehr will der Glaube die Vernunft realer Versöhnung erschließen, wie sich auch ein solcher Glaube als "jene Kraft der Freiheit erweist, zu der der Mensch in Christus als dem endgültigen und unüberbietbaren ,Ja' Gottes zur Welt und zum Menschen befreit ist"8. Eine geistlich verantwortliche Kritik von seiten der Kirche und ihrer Theologie wird somit weder unmittelbar in die Sachverhalte des sozial-technologischen Planungsprozesses hineinsprechen noch allgemein verbindliche Normen für sittliches oder politisches Handeln entwerfen; sie wird jedoch "protestieren gegen den Versuch einer Verheizung der augenblicklich lebenden Generation zugunsten einer technisch durchrationalisierten Zukunft und überhaupt gegen die Utopie, daß man mit Wissenschaft und Technik allein ein Paradies auf Erden bauen kann, gegen die Verabsolutierung bestimmter geschichtlich gewordener und verfestigter Sozialverhältnisse und gegen die Proklamation bestimmter evolutionär oder revo7 Man vergleiche dazu die sehr differenzierten Erwägungen von W. Kortt (Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, 1973, insbes. 111, 125 ff.), mit denen er gewissermaßen propädeutisch die "Vernünftigkeit" einer normativen Sittlichkeit feststellen will, ohne diese jedoch mit "christlicher" Sittlichkeit zu identifizieren. 8 W. Korff, Theologische Ethik. Eine Einführung (theologisches seminar) 1975,127.

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lutionär anzustrebender sozialer und politischer Zustände (z. B. klassenlose Gesellschaft) als definitiver gesellschaftlicher Existenzformen"9.

111. Die "kritische Funktion" Wenn die Kirche - oder Führende ihrer Mitglieder - gegenüber einer bestimmten politischen Entscheidung der staatlichen Gewalt glaubt ein hartes "Nein" sprechen zu müssen, was ihr unbezweifelbares Recht und unter Umständen eine ihr nicht zu ersparende Pflicht ist, muß sie diese ihre Haltung dennoch in die konkrete politische und gesellschaftliche Relation setzen. Sie tut dies immer dann selbstverständlich, wenn durch ihre deutliche Negation den Gläubigen unmittelbarer physischer Schaden erwachsen würde. Man kann über die dabei gezogenen Grenzen sicher im Einzelfall streiten; im Grundsätzlichen wird jedoch nur ein rigoristischer Heuchler zu fordern wagen, die konkreten politischen und gesellschaftlichen Umstände dürften niemals dazu führen, geistliche oder ethische Grundsät.ze 'lU "modifizieren" bzw. bestimmte Abweichungen von allgemeinen Regeln der Sittlichkeit oder Verletzungen der Menschenrechte zu überschweigen. Das bringt die Kirche manchmal in die Versuchung, unterschiedlich zu reagieren, je nachdem, ob sie es mit einem freiheitlich-demokratischen, die Meinungs- und Glaubensfreiheit respektierenden Staatswesen zu tun hat oder aber mit diktatorischen Systemen der verschiedensten Prägungen, die auf unkontrollierte Äußerungen mehr oder weniger repressiv und scharf reagieren. Es sollte jedoch festgehalten werden, daß die Kirche ihrem geistlichen Auftrag nur in einem freien demokratischen Staatswesen angemessen nachkommen kann. Das sollte die Kirche insgesamt, aber auch jeder einzelne Kirchenführer, Theologe und "christliche" Politiker bedenken. Es gibt überdies auch im Politischen eine Hierarchie der Werte; wird diese nicht beachtet, sondern ein Konflikt um einen bestimmten Wert oder den staatlichen Schutz eines Wertes so ausgetragen, daß dabei die ethischen Grundlagen des betreffenden Staatswesens allgemein in Frage gestellt werden, dann kann es sein, daß die Kirche tatsächlich ein geringeres übel durch ein größeres vertreibt! Die Haltung der Kirchen gegenüber den demokratischen Staaten (insbesonderer der Weimarer und der Österreichischen Republik) in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts sollte um der Sache willen weder beschönigt noch gar vergessen werden10. Wenn nun heute ein kirchlich engagierter Christ einen Staat glaubt als "Räuberbande" apostrophieren zu müssen, weil in ihm der verfas9 10

A. Au er, Autonome Moral und christlicher Glaube, 1971, 195 - 196. Man vergleiche statt vieler: J. Neumann, Auf Wegen der Versöhnung. Zu

einigen Grundproblemen des Verhältnisses von Kirche und staat im Deutschland der Neuzeit, in: Versöhnung. Gestalten - Zeiten - Modelle, hrsg. v. H. Fries und U. Valeske, 1975,263 - 297.

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sungsmäßige Gesetzgeber beispielsweise Strafsanktionen für bestimmte Handlungen aufhebt, die Christen grundsätzlich nicht billigen können, wie etwa die sozial indizierte Abtreibung, so kann er das tun; er muß jedoch wissen, welcher politische Preis dafür möglicherweise eines Tages zu zahlen ist: nämlich der Verlust der politischen Freiheit und die Verachtung des Prinzips der demokratischen Willensbildung. Der politische Kampf der Parteien um die Mehrheit ist zweifellos nicht immer dem Gemeinwohl nur förderlich, sondern kann sowohl für den einzelnen als auch für das Ganze gefährlich werden. Ohne Zweifel sind unsere derzeitigen demokratischen Staatssysteme in vielen Bereichen noch verbesserungswürdig; dennoch ist die Herrschaft einer Einheitspartei oder seelenloser Technokraten dem Menschen, seiner freien Entfaltungsmöglichkeit und einem humanen Gemeinwohl weitaus gefährlicher. Die den Kirchen in den Demokratien, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, von der Verfassung gewährte Freiheit setzt voraus, daß die Kirchen ihrerseits den politischen Gesamtkonsens, wie er sich in der Verfassung ausdrückt, respektieren. Es zeugt von einer dem Menschen gerecht werden wollenden Konzeption, wenn eine Verfassung - wie in der Bundesrepublik Deutschland oder der Republik Österreich - den Kirchen ausdrücklich einen Freiraum schafft, in dem sie institutionell um des Menschen willen als Sinninstanzen öffentlich ihr Wächteramt auszuüben vermögen. Damit erhalten sie vom Staat weder ihren Auftrag noch hat er über sie und ihr Wirken Kontrollfunktionen auszuüben oder ihnen Weisungen zu geben. Aber er anerkennt ihre Funktion im öffentlichen Bereich; er verbannt die Kirchen weder ins Private noch in die Sakristei; er ist bereit mit ihnen im Rahmen der jeweiligen Kompetenzen öffentlich zusammenzuwirken zum Wohle der Menschen und um des inneren Friedens in diesem Staate willen 1oa. IV. Der "öffentlichkeitsauftrag" Die verfassungsmäßige Anerkennung und Sicherung des öffentlichen Wirkens der Kirchen in Staat und Gesellschaft dürfte einer der besten, dem Wohl der Menschen und ihrer Freiheit dienenden Gedanken der abendländischen Verfassungsentwicklung gewesen sein. Der demokratische, freiheitliche Staat hätte die Freiheit gehabt, ohne sich dadurch gleich als "unfreiheitlich" oder religionsfeindlich auszuweisen, die öffentliche Bedeutung der Kirchen zu ignorieren und das beiderseitige Handeln in der Öffentlichkeit in einem beziehungslosen Nebeneinander lOa In seiner Silvesteransprache 1975 sagte der Erzbischof von Wien, Kardinal König: Die Kirche werde auch bei wesentlichen Differenzen "nicht gegen

den staat zu Felde ziehen, der auch ihr Freiheit und Frieden garantiert. Und sie wird nicht Verbündeter oder Gegner einer anderen Partei sein" (OssRomD v. 9. 1. 1976). 3 Kirche und Staat

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zu belassen. Es war jedoch seine grundsätzliche und politische Entscheidungl l , jener Öffentlichkeitsbedeutung der Kirchen zwar in unterschiedlichen Ausformungen, in verschiedenem Umfang und aufgrund je anderer rechtlicher Voraussetzungen, grundsätzlich Rechnung zu tragen. Das solchermaßen den "Öffentlichkeitsauftrag" der Kirche anerkennende Verhältnis zwischen Staat und Kirchen ist nach beiden Seiten "voraussetzungslos" und nur an die Verfassung gebunden und allein durch sie begrenzt, aber nicht von ihr gegeben; d. h. der Staat akzeptiert das öffentliche Wirken der Kirchen nicht nur bei grundsätzlichem Wohlverhalten, wie umgekehrt die Kirchen ihre positiv-kritische Einstellung zum Staat nicht von bestimmten Leistungen oder politischen Verhaltensweisen der staatlichen Gewalt abhängig machen. Überdies bringt es die säkulare Natur des Staates mit sich, daß der Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen mit dem Gehalt, den er für die Kirchen hat, "gar nicht in die staatliche Rechtsordnung einbezogen werden kann. Denn die Funktion des Öffentlichkeitsanspruchs als eines Mittels im Dienste der Verkündigung kann in einer weltlichen Rechtsordnung nicht unmittelbar zur Geltung kommen. Es bleibt aber trotzdem die Möglichkeit, daß der Staat der auch für ihn erkennbaren Tatsache, daß die Kirche jenen Öffentlichkeitsanspruch erhebt, durch eine bewußte Entscheidung Rechnung trägt. Nicht der Öffentlichkeits anspruch selbst", sondern die sich darin abzeichnende "gesellschaftliche Relevanz der Kirche kann in der staatlichen Rechtsordnung zum Ausdruck kommen"1!. Wie aber, wenn es religiöse Gruppen wären, die den innerstaatlichen Frieden stören? Daß hier Probleme wieder auf uns zukommen können, die ebenso alt wie ungelöst sind, dürften die blutigen Vorgänge in Nordirland deutlich genug zeigen. Der demokratische, freiheitliche Staat wird hier wenig Rat wissen, will er seine eigenen Grundsätze nicht verleugnen und Religions-, Bekenntnis und Gewissensfreiheit einschränken. Deshalb liegt es zu einem guten Teil an den Religionsgesellschaften, vornehmlich also an den Kirchen, sich klar zu werden, was ihres Auftrags ist angesichts eines modernen Staates und seiner potentiell gefährlichen Macht. Die katholische Kirche hat auf dem Ir. Vatikanischen Konzil und in der Zeit danach ihr traditionell grundsätzlich positives Verhältnis zum Staat erneut reflektiert und beachtlich differenziert.

V. Zum kirchlichen Selbstverständnis Wenn auch die wesentlichen Grundpositionen des katholischen Selbstverständnisses über den Auftrag der Kirche konstant geblieben sind, so ist doch ihre Applizierung auf die konkreten gesellschaftlichen und Vgl.: D. Pirson, Öffentlichkeitsanspruch, in: Evangel. Staatslexikon 1662. D. Pirson, ebenda 1660 -1661; richtungweisend vor allem: K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht, 1972, insbes. 164 ff. 11

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staatsrechtlichen Gegebenheiten vielfältig und variabel. Die sie bestimmende Grunderkenntnis versteht den Staat als Teil der Schöpfungsordnung, der seinen Seinsgrund in Gott hat. Unbeschadet der Frage, ob und in welchem Maße eine Ursünde die ursprüngliche Schöpfungs ordnung verletzt haben könnte, wird ein in sich gutes Strukturprinzip der Schöpfung vorausgesetzt, welches so lange währt, als die Schöpfung existiert. Zu dieser an sich guten Schöpfung gehört der Mensch mitsamt den ihm eigenen und wesensgemäßen gesellschaftlichen Bindungen und Ordnungen13 • Nach dieser Auffassung erhält der konkrete Staat seine jeweilige Gestalt stets durch die sittliche Entscheidung des Menschen. Diese politische Verantwortung des Menschen, die des Christen eingeschlossen, hat das Ir. Vatikanische Konzil ausdrücklich bekräftigt und ins rechte Bewußtsein zu rücken versucht. Damit hat es zugleich auf die grundsätzlich geistlich-geistige Dimension des Verhältnisses der Kirche zu den jeweiligen Staaten hingewiesen. Es wäre allerdings eine unheilvolle Verkürzung, würde dieses Verhältnis der Kirche zum Staat entweder nur rein "naturrechtlich" betrachtet oder aber einer überordnung der geistlichreligiösen bzw. gar der kirchlichen Komponente über das Politische das Wort geredet. "Naturrechtlich" ist dabei lediglich die Anschauung der Kirche über Ursprung, Wesen und Bedeutung des Staates. Was die Kirche ihrerseits in dieses Verhältnis einzubringen hat, ist die eschatologisch-geistliche Dimension aufgrund der Offenbarung. Von daher steht die Kirche, jede christliche Kirche, in einem notwendigen Spannungsverhältnis zu jeder weltlichen, d. h. menschlichen und eben deshalb immer auch gebrochenen und unvollkommenen Ordnungsgestalt, auch ihrer eigenen. Somit sind die Aussagen der Kirche über ihr Verhältnis zum Staat (und zur Gesellschaft bzw. zu den gesellschaftsbestimmenden Gruppierungen) immer notwendig auch von theologischen, insbesondere ekklesiologischen und sozialethischen Voraussetzungen abhängig, insofern sich in ihnen eine biblisch begründbare Haltung gegenüber der je veränderten Situation ausdrückt. Diesen bewußten Rückgriff auf die biblische Grundlage und die Aktualisierung in bezug auf die heutigen Fragen hat das Ir. Vatikanische Konzil zu formulieren versucht. Es bestätigte die bisherige katholische Auffassung, wonach beide Bereiche, nämlich Staat und Kirche, unabhängig und selbständig, nicht aber beziehungslos nebeneinander stehen; beide dienen, je auf ihre Art freilich, der einen und unteilbaren individuellen und sozialen Berufung des Menschen. Der Kirche obliegt es dabei, nicht nur naturrechtlich Vorgegebenes, sondern vor allem auch das spezifisch Christliche, nämlich Ge13 Vgl.: P. Mikat, Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, in: Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, hrsg. v. J. Listl, 1975, I 127 - 235; hier: 218 - 220. - Dort auch ein instruktiver Abriß der diesbezüglichen "katholischen" Grundsätze. Vgl. auch zum ganzen Abschnitt: H. Schambeck, Kirche - Staat - Gesellschaft. Probleme von heute und morgen, 1967, 33 ff.

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rechtigkeit und Friedfertigkeit, Verzeihung und Barmherzigkeit, als Ausdruck der Liebe Gottes, einzubringen. Die Kirche versteht sich also keineswegs als "Dienstleistungsbetrieb" zur Befriedigung ethisch-irrationaler Bedürfnisse des Menschen. Das Ir. Vatikanische Konzil hat - insbesondere in der Konstitution über die Kirche (Lumen Gentium) - den Begriff von der Kirche unter Heranziehung der biblischen Vorstellung vom Volk Gottes, das durch diese Weltzeit pilgert, neu zu bestimmen gesucht. Damit aber wurde die Rede vom "Volk Gottes" auch zum Schlüsselwort für ein gewandeltes Verhältnis der Kirche zur Welt und damit auch zum Staat. Als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe versteht sich die Kirche zwar immer und wesentlich als sichtbares Gefüge, als verfaßte Gesellschaft (Lumen Gentium Art. 8), doch ist die tragende Bedeutung der Gesamtheit der Getauften und Glaubenden, als dem von Gott gerufenen Volk, deutlicher als es bisher der Fall war, betont. Obwohl ein Volk mit geistlicher Sendung und konkreter Gestalt, ist die Kirche als mystischer Leib Christi zugleich auch eine Gemeinschaft der Sünder, weil und insofern sie stets hinter ihrem Auftrag zurückbleibt; sie schreitet, wie das II. Vatikanum es mit den Worten Augustins ausdrückt, "zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin" (Lumen Gentium Art. 8, Augustinus, Civitate Dei XVIII, 51, 2). Dieses über die ganze Erde verstreute Volk hat teil sowohl an den Sorgen und Gefährdungen als auch an den allgemeinen Aufgaben und der Verantwortung aller Menschen, so wie diese in den verschiedenen Kulturen und Nationen zu Völkern und Staaten gegliedert sind. Die Christen leben somit kraft Geburt und Natur sowohl als Bürger ihres nationalen Volkes als auch an eben diesem ihrem weltlichen Ort dank Gnade und Berufung als Glieder des Volkes Gottes. Die Kirche lebt also durch ihre Glieder in den jeweiligen Staaten und ethnischen Traditionen, doch versteht sie sich nicht in erster Linie als eine diesen gegenüberstehende Groß organisation. Der alte Dualismus, bei dem die Kirche als "Heilsanstalt", dem Staat als einer "Schutz- und Ordnungsanstalt" gegenüberstehend gedeutet wurde, ist - wenn nicht überwunden, so doch - relativiert. Durch das wiederbelebte Verständnis der Kirche als "Volk Gottes", und dank der Betonung des brüderlichen Auftrags aller Gläubigen (im hierarchischen Gesamtaufbau der Kirche) wird das geistliche Wesen der Kirche wieder deutlicher sichtbar. Damit aber ist auch ihr eigenständiger Auftrag, der wesentlich anderer Art ist als der des Staates oder anderer gesellschaftlicher Gruppen, erkennbar geworden. Gerade die Betonung des Begriffs vom Volk Gottes, der eine neue W ertung der "Laien" impliziert 14 , ist geeignet, der Kirche wieder größere 14 Das wird besonders betont im Dekret über das Laienapostolat "Apostolicam actuositatem". Dieses Dekret muß in engem Zusammenhang mit den Aussagen der dogmatischen Konstitution über die Kirche gesehen werden, da

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politische Eigenständigkeit und Selbstsicherheit zu geben. Das bedeutet freilich keineswegs, daß der Charakter der Kirche als hierarchisch strukturierter Institution aufgehoben wäre; doch die hierarchische Ordnung wird als geistliche Form des Dienstes für den Glauben und am Menschen funktionsbezogen gedeutet: "So kommt es, daß das Volk Gottes nicht nur aus den verschiedenen Völkern sich versammelt, sondern auch in sich selbst aus verschiedenen Ständen (ordines) verschmolzen wird. Unter seinen Gliedern herrscht eine Verschiedenheit sei es bezüglich der Ämter ... sei es bezüglich der Aufgaben und der Lebensordnung ... " (Lumen Gentium Art. 13). Unter den reich gewählten Bildern und Aussagen von der Kirche sind diejenigen über die rechtlich verfaßte Amtskirche auffallend zurückhaltend; gewiß nicht ohne Absicht wird weder in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche noch in der Pastoralkonstitution der Begriff "societas perfecta" auf die Kirche bezogen. Während Papst Leo XIII. in mehreren Enzykliken noch die Natur der Kirche als äußere und sichtbare Gemeinschaft hervorhob, die einen eigenständigen, nach oben abgeschlossenen Rechtsbereich umfaßt und damit in ihrem Wirkbereich unabhängige und oberste Kompetenz beansprucht1 5 , und auch noch Pius XII. erklärte, daß Kirche und Staat zwei vollkommene Gesellschaften seien, die darum als zwei unabhängige Gewalten nebeneinander beständen l6 , vermeiden die Konzilstexte derartige Aussagen. In dieser Beschränkung der Konzilsaussagen liegt nicht die Preisgabe früherer Aussagen, wohl aber eine stärkere theologische Akzentuierung des eigentlichen Wesens der Kirche. "Würde die Kirche nur vom juristischen Begriff der Societas (perfecta) her beschrieben, wie dies in der katholischen Theologie während Jahrhunderten einseitig geschehen ist, so würde die Kirche an den Grenzen der katholischen Glaubensgemeinschaft aufhören und außerhalb deren gäbe es nur ,Nichtkirche' "17. Die die "Laien" in stärkerem Maße nicht nur an dem Auftrag der Kirche in der Welt, sondern auch an der innerkirchlichen Aufgabe eines allgemeinen Priestertums teilhaben sollen. Danach haben die "Laien" "Pflicht und Recht" (officium et ius) zum Apostolat kraft ihrer geistlichen "Vereinigung mit Christus, dem Haupt. Denn durch die Taufe dem mystischen Leib eingegliedert und durch die Firmung mit der Kraft des Hl. Geistes gestärkt, werden sie vom Herrn selbst mit dem Apostolat betraut" (Art. 3). Denn "als Teilhaber am Auftrag Christi (participes muneris Christi) haben die Laien ihren aktiven Anteil am Leben und Tun der Kirche". Ja, "Laien mit wahrhaft apostolischer Einstellung ergänzen, was ihren Brüdern fehlt; sie stärken geistig die Hirten und das übrige gläubige Volk ... " (Art. 10). - Hier werden die "Laien" keineswegs nur als solche verstanden, die den Hirten zu folgen und zu gehorchen haben, sondern denen Sachkompetenz ebenso zugestanden wird wie geistliche Kraft. 15 Vgl.: B. Tischleder, Die Staatslehre Leo's XIII., 1925; weitere Nachweise siehe bei A. F. Utz, Friedensenzyklika Papst Johannes XXIII., 1963,40 ff. 16 Vgl.: K. Walf, Die katholische Kirche eine "societas perfecta"?, in: ThQ 156, 1976, Heft 2. 17 J. Feiner, Kommentar, LThK - 11. Vat. Konz. II 50.

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Aussage, Kirche und Staat seien jeweils "societates perfectae", beinhaltet überdies die Gefahr, daß beide zu sehr als vergleichbare Größen gewertet werden. So kam es auch, daß die Kirche sich in der Vergangenheit, wenigstens was ihre äußeren Erscheinungsformen betraf, vielfach der weltlichen Herrschaftsformen und der politischen Modebegriffe bedient hat. Der Ausdruck "Kirchenfürst" mag das Gemeinte beispielhaft verdeutlichen. Dem Konzil ging es nun bewußt um die Darstellung der wesentlichen Andersartigkeit der Kirche. Auf diese Bemühung des 11. Vatikanischen Konzils hinweisen, heißt allerdings auch zugeben, daß die alltägliche Wirklichkeit dieser grundsätzlichen Neuorientierung weithin noch nicht entspricht. Die Kirche sucht ihren rechten Standort gegenüber dem Staat und den sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften. Die deutliche Betonung der unersetzbaren und unverzichtbaren Würde des Menschen und der daraus fließenden, unvertretbaren Freiheit der menschlichen Person in den Texten des 11. Vatikanischen Konzils, insbesondere in der Pastoral konstitution "Gaudium et spes" und der Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" stellt eine beachtliche Neuorientierung der bisherigen diesbezüglichen kirchlichen Auffassungen dar. Man kann darum die heutige Einstellung und das gegenwärtige Verhalten der Kirche zu vielen Fragen, die heute Staat und Kirche betreffen, nicht richtig verstehen, wenn man diese Wandlung, wie sie vor allem, aber keineswegs allein in den Texten des II. Vatikanischen Konzils ihren Ausdruck gefunden haben, weder kennt noch ernst nimmt l8 • Auch diesbezüglich soll keineswegs geleugnet werden, daß die Verwirklichung etwa des Grundsatzes von der Freiheit der menschlichen Person und der Anerkennung seiner unvertretbaren Würde in der Praxis und bezüglich der Realisierung in der Kirche selber im Denken und Handeln sowohl der Hierarchie als auch der Gläubigen weder voll durchgeführt noch zur bestimmenden Maxime des allgemein christlich-kirchlichen HandeIns geworden ist. Aber ein grundsätzlicher Wandel ist eingeleitet. Das mag an nachfolgend behandelten Bereichen deutlich werden:

1. Der Mensch und seine Welt Vom Menschen und der Welt, in die der Mensch eingefügt ist, und dem Verständnis der Kirche zu beiden, den Menschen und seiner Welt, handelt das II. Vatikanum vor allem im ersten Teil der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes". In einem zweiten Teil betrachtet diese Konstitution die verschiedenen Aspekte des heutigen Lebens in der menschlichen Gesellschaft (Art. 1). Das Konzil wendet sich in diesem Dokument ausdrücklich - und das ist zu beachten - nicht nur an die katholischen Christen, sondern "an alle Menschen in der Absicht, darzulegen, wie es 18

Vgl.: P. Mikat, Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht, a.a.O., 228 ff.

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Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht" (Art. 2). Das Dokument des Konzils will also weder - und auch das ist neu und beachtenswert - ein Missionsaufruf sein, noch ein Appell, endlich im Sinne der Kirche zu handeln. Es will vielmehr den eigenen Standort erläutern, freilich in der Hoffnung, Gleichgesinnte im Kampf gegen die vielfältigen Nöte und Gefahren, die Welt und Menschen heute bedrohen, zu finden. Ausdrücklich betont deshalb die Konstitution, daß die Kirche um des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft willen in einen Dialog über die allen Menschen aufgegebenen Probleme mit der ganzen Menschheit und mit allen Menschen eintreten wolle: Es geht dem Konzil, es geht der Kirche, hier vorrangig um den Menschen und nicht um den sublimen Versuch, die eigene Bedeutung zu betonen, schon gar nicht um Behauptung von Machtpositionen. Die Kirche will mithelfen zu retten; sie will helfen, der Not, dem Hunger, dem Unfrieden und dem Haß zu wehren. Zu ernst ist bei diesen Texten auf dem Konzil um jedes Wort gerungen worden, als daß man ein Recht hätte, heute diese Aussagen als leere Floskeln, als fromme Kaschierungen kirchlicher Herrschaftsansprüche auf die Seite zu schieben; auch dann nicht, wenn zugegebenermaßen die Kirche als Institution selber noch hinter den vom Konzil gesteckten Anforderungen und Zielvorstellungen zurückbleibt. Die katholische Kirche hat sich auf dem II. Vatikanischen Konzil grundsätzlich willens gezeigt, mit allen Menschen, mit allen gesellschaftlichen Institutionen, auch mit den jeweiligen Staaten, zusammenzuarbeiten zum Wohl der Menschen und zum Heile der gesamten Welt. Dabei versteht das Konzil den Begriff des "Heiles" zunächst durchaus auch innerweltlich. Die Konstitution "Gaudium et spes" will als kritische Rechenschaft und verantwortungsvolle Selbstbesinnung nach innen und als eine Einladung zum Gespräch und zur Zusammenarbeit nach außen verstanden werden; sie will Anstoß sein und nicht als ein fertiges Rezept mißdeutet werden. Dabei - und auch das ist neu und sollte nicht übersehen werden - beansprucht die Kirche keineswegs "absolute" Aussagen zu machen; sie versucht vielmehr die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums zu deuten, um der jeweiligen Generation in angemessener Weise eine Antwort geben zu können (Art. 4). Technik, Wissenschaft und Politik werden als eigenständige Bereiche menschlicher Entwicklung, aber auch großer personaler Verantwortung anerkannt. Die heutigen Probleme der Personalisation und Sozialisation werden gesehen und behutsam in die überlegungen aufgenommen. Die Situationsanalyse der psychologischen, sittlichen und religiösen Veränderungen ist von einer für ein kirchliches Dokument bis dahin kaum gekannten Nüchternheit und Realistik; das Dokument redet sachlich und nicht ideologisch. Das Konzil nimmt den gegenwärtigen Trend zur Kenntnis, "in dem der Zweifel zur öffentlichen Meinung geworden" zu sein scheint, ohne jedoch selber in einer Beschreibung dieses Zweifels unserer Zeit

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stecken zu bleiben. Es wird deutlich gesehen, daß in vielen Ländern nicht nur die Theorien der Philosophen, sondern in großem Ausmaß auch die Literatur, die Kunst, die Deutung der Wissenschaft und Geschichte und sogar das bürgerliche Recht von einem schon selbstverständlich gewordenen Atheismus geprägt sind (Art. 7). Nach einer Analyse jener Faktoren, die das Gleichgewicht in der heutigen Welt stören, die sich in Mißtrauen und Feindschaft, Konflikten und Notlagen äußern und deren Ursache und gleichzeitiges Opfer der Mensch ist, geht die Konstitution auf das ein, was die Menschen bewegt und was sie erwarten: ein erfülltes und freies Leben. Die Kirche sieht dabei ihre Rolle keineswegs als jene einer Weisen, deren Rat man nur genau zu befolgen bräuchte, damit alles gut und recht werde, sondern sie weiß sich hineingestellt in die allgemeine Unsicherheit und Fragwürdigkeit; sie respektiert ausdrücklich die Eigenständigkeit der verschiedenen weltlichen Lebens- und Entscheidungsbereiche, zu denen auch die Politik gehört. Als Institution von Menschen weiß sie sich ausgeliefert an das Kräftespiel der gesellschaftlichen und politischen Mächte. Von diesen Kräften kann ihre Wirksamkeit erheblich beeinträchtigt werden. Andererseits weiß die Kirche, daß sie sich nicht selber anzubieten hat; sie weist vielmehr auf den hin, an den sie glaubt: Jesus, den Christus, der für alle starb und auferstand (Art. 10), der dem menschlichen Leben und der Geschichte des Menschen einen Sinn zu geben vermag. Die Antwort der Kirche auf die Fragen der (jeweiligen) Zeit erhält ihre Dimension keineswegs nur aus der Vergangenheit, so entscheidend die Geschichte Jesu dabei auch für ihre eigene Kontinuität und Identität ist. Sie weist vielmehr in die Gegenwart und darüber hinaus in die Zukunft. Dadurch, daß sie eingeht auf den Kairos, will sie durch ihr Stehen im Geist des Herrn die Geister der Zeit in die Dia-krisis führen 19 • Sie bringt somit in das Gespräch mit den menschlichen Mächten keineswegs nur Beliebigkeit und Zweifel ein: sie gibt Sinnerhellung und setzt Wertmaßstäbe, jedoch hütet sie sich, politische oder ökonomische Vorschläge für die Lösung konkreter Fragen oder Konflikte zu machen. Was sie an geistlichen Worten sagt, will sie als Angebot verstanden wissen, nicht als Zwang; als ein Angebot das zwar zur Entscheidung herausfordert, das aber nicht droht, sondern der personalen und zu verantwortenden Freiheit ihren Raum beläßt. Die drängenden Fragen nach dem Sinn des menschlichen Lebens und der Bedeutung der menschlichen Tätigkeit für die Menschheit will die Kirche auf ihre Weise mit beantworten helfen. Dadurch soll "klarer in Erscheinung treten, daß das Volk Gottes und die Menschheit, der es eingefügt ist, in gegenseitigem Dienst stehen, so daß die Sendung der Kirche sich als eine religiöse und gerade dadurch höchst humane erweist" (Art. 11)20. 19 Vgl.: J. RatzingeT, Kommentar zum ersten Kapitel der Pastoralkonstitution, in: LThK - H. Vat. Konz. III, 314 - 315.

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Diesen vom Konzil inaugurierten Wandel im kirchlichen Denken und in der kirchenpolitischen Handlungsmaxime müssen unsere überlegungen über das Verhältnis von Kirche und Staat berücksichtigen. Die katholische Kirche hat sich nach Aussage der Konzilsdokumente "über die Religionsfreiheit" und "über die Kirche in der Welt von heute" keineswegs zum Laissez-faire-Liberalismus bekehrt; sie hat aber nachdrücklich und ohne Vorbehalt nicht nur die Würde und die geistige Freiheit des christlichen Menschen betont, sondern sie als fundamentale und natürliche Rechte eines jeden Menschen anerkannt 21 • Für die Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen im sittlichen und politischen Bereich tritt sie ausdrücklich ein. Allerdings hält das Konzil daran fest, daß die Anerkennung Gottes der Würde des Menschen keineswegs widerstreitet, da die Würde des Menschen eben in diesem Gott gegründet ist (Gaudium et spes Art. 21). Dieser bedeutsame Wandel im Ansatz muß gesehen und als wahrhaftig akzeptiert werden, soll ein Gespräch über das Zusammenwirken von katholischer Kirche, heutiger Gesellschaft und gegenwärtigem Staat sinnvoll geführt werden. Wollte man diesen Neuansatz und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die theologische Grundlegung des kirchlichen Verhaltens gerade auch bezüglich ihres Zusammenwirkens mit dem Staat negieren, wäre eine Auseinandersetzung in der Sache und bezogen auf eine wirklich existierende kirchliche Vorstellung und Verhaltensweise nicht möglich.

2. Natur - Kultur Der Mensch muß das, was er zum Leben braucht, "schaffen"; die Natur ist Gegenstand und Material seiner Arbeit. Durch seine geistigen und körperlichen Kräfte gestaltet er die Natur nach seinen Bedürfnissen, damit sie ihm das gibt, was er braucht. Aber indem er gestaltend auf die Natur einwirkt, wandelt sich der Mensch auch selbst. Aus dieser Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur entsteht das, was wir "Kultur" nennen; man kann sie also als ein Wesensmerkmal menschlichen Daseins bezeichnen 22 • Da die Kultur gleichsam das Produkt menschlicher Arbeit an der Natur ist, die der Mensch für seinen Gebrauch formt, 20 Recht undifferenziert werden in diesem Text allerdings die Begriffe "Konzil", "Kirche" und "Volk Gottes" miteinander identifiziert. Auf diese Weise besteht die Gefahr, von neuem in eine bloß soziologische und dann auch ideologische Sicht der Kirche abzusinken, weil man sich hierbei eines Begriffs bedient, der zum Schlagwort vereinfacht und veräußerlicht ist, der seinen eigentlichen Sinn jedoch nur innerhalb eines theologischen Zusammenhangs bewahren kann (vgl.: G. Alberigo, Die Konstitution in Beziehung zur gesamten Lehre des Konzils, in: G. Barauna, Die Kirche in der Welt von heute, 1967,

49 - 76).

21 Vgl.: P. Pavan, Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit, in: LThK - II. Vat. Konz. IIr, 712 - 725. 22 Vgl.: R. Tucci, Kommentar ZiUm zweiten Kapitel des zweiten Teils der Pastoralkonstitution, in: LThK - II. Vat. Konz. IIr, 453.

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wohnt der Kultur nach der Pastoralkonstitution immer auch eine geschichtliche und gesellschaftliche Seite inne, weshalb "der Begriff der Kultur meist das Gesellschaftliche und Völkische mitbezeichnet" (Art. 53). Da der Mensch von "Natur aus" ein Kulturwesen ist, "taucht, wo immer der Mensch auftaucht, auch Kultur auf"23. Wo menschliche Kultur besteht, ist auch das religiöse Element zu finden. Weil "die Kultur unmittelbar aus der vernünftigen und gesellschaftlichen Anlage des Menschen hervorgeht, bedarf sie immer des ihr zustehenden Freiheitsraumes, um sich zu entfalten, und der legitimen Möglichkeit, den eigenen Prinzipien gemäß zu handeln" (Art. 59). Für unsere Fragestellung darf so viel daraus abgeleitet werden, daß für das H. Vatikanische Konzil die allgemeine Kulturpflege zu den wesentlichen Aufgaben der menschlichen Gemeinschaft, insbesondere des Staates gehört. Da - so gesehen - die Religion eine wesentliche Funktion menschlicher Kultur ist, gehört implizit auch die Gewährleistung eines aktiven und positiven Gestaltungsraumes für die religiösen Institutionen, sofern sie ihn auszufüllen willens und in der Lage sind, zum " Kulturauftrag" des Staates bzw. der menschlichen Gesellschaft. Diese Gedanken hat die Sachkommission V der "gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer" auf die deutsche Situation zu beziehen versucht. Sie stellte fest, daß die umfassende Daseinsvorsorge des sozialen Rechtsstaates nicht nur die materielle, sondern "auch die geistige Daseinsvorsorge, also Erziehung, Bildung und Kunstpflege bis hin zur Ermöglichung und Förderung der Verwirklichung des ,religiösen Interesses' der Bürger, das in den Kirchen und Religionsgemeinschaften seine gesellschaftliche Gestalt angenommen hat", mit eingeschlossen sein müsse24 . Das H. Vatikanische Konzil verkennt allerdings auch nicht, daß gerade im kulturellen Gebiet, wo nationale Traditionen, gesellschaftliche Konflikte, politische Interessen und staatliche Machtpositionen miteinander in Konflikt geraten (können), zahlreiche, oft ideologisch begründete Antinomien bestehen. Mit ihnen muß der Mensch sich so auseinandersetzen, daß die Kultur ihm hilft, seine "volle menschliche Persönlichkeit harmonisch" auszubilden (Art. 56). Die Pastoralkonstitution VgI.: J. Maritain, Religion et culture, 1930, 11 - 26: Nature et culture. Das Arbeitspapier der Sachkommission V der Synode der deutschen Bistümer wurde aufgrund der Beschlüsse zur Reduzierung und Konzentration von der Vollversammlung der Synode nicht weiterbehandelt sondern unterm 15.2.1973 vom Präsidium der Synode zur Veröffentlichung freigegeben: Synode 1/1973 vom 8. 3. 1973, 45 - 64, hier: 53. Die in diesem Arbeitspapier ausgesprochene recht weitgehende Erwartung ist sowohl vom verfassungsrechtlichen als auch vom politischen Standpunkt aus nicht unbedenklich. Doch braucht sie hier nicht weiter gewürdigt zu werden. VgI. auch: P. Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, 1973; auch in: Religionsrechtliche Schriften I, 303330. - über die Kulturverantwortung des Staates handelt ausführLich: M. Heckel, Staat - Kirche - Kunst. Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler, 1968, insbes. 125 - 138; 188 - 190; 255. 23

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verkleinert diese Antinomien nicht und vermeidet es auch, allgemein verbindliche Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Weil jedoch die Kultur selber in der menschlichen Person gründet, glaubt das Konzil allerdings, daß überall - also auch in den sogenannten Entwicklungsländern - ein wahrhaft humaner, dem Menschen entsprechender Lebensraum nur dann geschaffen werden kann, wenn es gelingt, vom bloßen unreflektierten Traditionalismus zu geistig bewältigter Rationalität vorzustoßen 25 • In dieser Zusammenschau von Humanität, Kultur und Rationalität glaubt das Konzil sogar die "Geburt eines neuen Humanismus" sehen zu dürfen, eines Humanismus "in dem der Mensch sich vor allem von der Verantwortung für seine Brüder und die Geschichte her versteht" (Art. 55). Hierin zeigt sich besonders deutlich, wie sehr das Konzil in der Tradition abendländisch-aufgeklärter Geistesgeschichte steht. Vielleicht darf es als ein Sepzifikum christlich-abendländischer überlieferung bezeichnet werden, daß es die transzendentale Bestimmung des Menschen und seine chiliastische Sehnsucht rational zu durchdringen und geistigvernünftig aufzuarbeiten und dennoch aus dem Glauben zu deuten versucht. Das Konzil, das sich "der Universalität" der Sendung der Kirche bewußt ist, und die "vielfachen Beziehungen ... zwischen der Botschaft des Heiles und der menschlichen Kultur" kennt, weiß, daß "die gute Botschaft Christi unausgesetzt Leben und Kultur des gefallenen Menschen erneuert.... Schon durch die Erfüllung der eigenen Aufgabe treibt die Kirche die menschliche und mitmenschliche Kultur voran und trägt zu ihr bei (ad humanum civilemque cultum impellit atque confert)" (Art. 58). Das Konzil hat mit dieser Aussage einen Mittelweg zu weisen versucht zwischen den beiden entgegengesetzten Tendenzen, die auch auf dem Konzil zur Sprache kamen, nämlich entweder auf der einen Seite den Beitrag der Kirche zur Kultur zu übertreiben oder auf der anderen Seite die Armut der Kirche im kulturellen Bereich zu sehr zu betonen 26 • Obwohl das Konzil, das alle apologetischen Bemerkungen zu vermeiden suchte, diese Folgerungen nicht ausdrücklich gezogen hat, darf auf folgendes hingewiesen werden: überall dort, wo ein bestimmtes Maß an kirchlich-rationaler Geistigkeit des Religiösen verdrängt wird, besteht die Gefahr, daß die archaisch-mythische Sehnsucht des Menschen sich in irrationale Bahnen ergießt und der Aberglaube dort das Feld erobert, wo der kirchliche Glaube, der wesentlich von kritischer Rationalität mitbestimmt ist, verdrängt wird. Das Konzil versteht "Kultur" im weitesten Wortsinn, nämlich als Auftrag des Menschen, in der Welt alles "menschlicher" zu gestalten 27 • Dar25 So O. v. Nell-Breuning, Exkurs über die Probleme des zweiten Abschnitts des fünften Kapitels,in: LThK - H. Vat. Konz. III, 562 - 565, hier: 563. 28 Vgl.: R. Tucci, a.a.O., 446. 27 Vgl.: R. Tucci, a.a.O., 460.

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um erfahren sich die Menschen gerade auch durch den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt zugleich als eigenverantwortlich und als solidarisch verantwortlich für die Schaffung einer menschlicheren Welt, da sie nun zum ersten Mal in der Lage sind, wirksam auf das Weltganze Einfluß zu nehmen. "Es läßt sich nicht leugnen, daß hier ein Aspekt, der gerade die Kultur von heute entscheidend bestimmt, höchst positiv beurteilt wird: Von dem ,faustischen' oder ,prometheischen' Stolz abgehend, stellt sich die Kultur von heute immer mehr unter das Zeichen eines wachsenden Verantwortungsbewußtseins und einer allgemeinen Solidarität 28 ." Obwohl es dem Konzil weder darum ging, die Religion allgemein noch das Christentum auf diesem Wege aufzuwerten, hat es doch - vielleicht sogar unbewußt - deutlich die kulturell-kreative Funktion des Religiösen allgemein und insbesondere des Christentums, vornehmlich in seiner katholischen Gestalt, herausgearbeitet. Das Religöse erweist sich als eine kulturwirksame - und wegen des Zusammenhangs von Kultur und Gesellschaft - auch als eine überaus bedeutsame gesellschaftliche Kraft, die des notwendigen "Freiheitsraumes" ebenso bedarf, wie der Sorge des Staates um ihre "gewisse Unverletzlichkeit" (Art. 59). Deshalb muß es ihr immer auch möglich sein, sich in institutionellen Formen darstellen zu können.

3. "Befreiung aus dem Elend der Unwissenheit" Bezüglich des Verhältnisses von Natur und Kultur macht vor allem die Pastoralkonstitution deutlich, daß es der Kirche immer um den ganzen Menschen geht, um sein irdisch-leibliches Wohl ebenso wie um seine transzendente Berufung, um sein Heil. Angesichts der Gefährdungen, die in der technisierten und geplanten, verwalteten und computergesteuerten Welt dem Menschen auf vielfältige Weise drohen, wächst der Kirche und den Christen - noch dringlicher als bisher - Aufgabe und Verantwortung zu, auch als Anwalt für die geistig-geistliche Berufung des Menschen und damit für seine volle Selbstverwirklichung in Freiheit einzutreten. Beachtlich dürfte sein, daß die Pastoralkonstitution in Art. 60 die kantische Definition von Aufklärung 29 gewissermaßen rezipiert. Dabei 28

R. Tucci, a.a.O., 457.

E. Kant, Was ist Aufklärung? 1783: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen ... Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 1. Teil, Werke in 10 Bänden, Bd. 9. Hrsg. v. W. Weischedel, 1008, 51- 61; hier: 29

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geht sie jedoch gemäß dem alten theologischen Axiom vor, daß "die Gnade die Natur voraussetzt", wenn sie zunächst nicht das Elend des Unglaubens, sondern der Unwissenheit als grundlegendes Hemmnis der menschlichen Kultur und damit der Beeinträchtigung der Möglichkeit für die Entfaltung des Menschen bezeichnet. Diesen Zusammenhang der konziliaren Aussage mit der theologischen Tradition muß man kennen, will man die zunächst aufklärerisch-optimistische Forderung des Konzils nicht mißverstehen: "Es ist heute eine höchst zeitgemäße Pflicht, vor allem für die Christen, tatkräftig darauf hinzuarbeiten, daß in der Wirtschaft wie in der Politik, auf nationaler wie auf internationaler Ebene Grundentscheidungen getroffen werden, durch die das Recht aller auf menschliche und staatsbürgerliche Kultur ("ius omnium ad humanum civilemque cultum") auf der ganzen Welt anerkannt und zur Verwirklichung kommt, ein Recht, das entsprechend der Würde der menschlichen Person allen ... zukommt" (Art. 60). Der Kontext macht deutlich, daß dieses Recht aller auf menschliche und staatsbürgerliche Kultur letztlich nichts anderes will, als den Menschen aus seinen vielfältigen unwürdigen bzw. entwürdigenden Abhängigkeiten zu befreien. Zu befreien, "damit nicht weiterhin ein großer Teil der Menschheit durch Analphabetismus und Mangel an verantwortlicher Eigeninitiative von einer wahrhaft humanen Mitarbeit am Gemeinwohl (bonum commune) ausgeschlossen wird" (ebenda). "Kultur" wird hier also als umfassende Grundlage und gleichzeitig als Ausdruck und Verwirklichung wahren Menschseins verstanden. Dabei wird "Kultur" in unmittelbarem, wesentlichem Bezug zum "Gemeinwohl" ebenso gesehen wie zur eigenverantwortlichen und selbstbestimmungsfähigen Freiheit; es scheint, als ob das Konzil davon ausgeht, daß es ohne diese "kulturelle Aufklärung" letztlich keine wahrhaft humane Mitarbeit am Gemeinwohl geben kann, Kultur und Gemeinwohl sich also gegenseitig bedingen wie sie Freiheit voraussetzen. Die sogenannten "Kulturgüter" gehören nach Auffassung des Konzils genauso wesentlich wie die "materiellen" Güter zum menschlichen Dasein. Kultur ist somit kein überbau, kein Luxus, sondern eine wesentliche Komponente des menschlichen Lebens 30 und zwar aller Menschen. Der Bezug zum Wohl aller Menschen liegt somit auf der Hand. Aber, was hat die Kirche mit Kultur (Aufklärung) zu tun und wieso soll sie für das Gemeinwohl verantwortlich sein? Sind das nicht gerade die genuinen Aufgaben des Staates? Mischt sie sich damit nicht doch wieder in Bereiche ein, die sie letztlich nichts angehen? Das Konzil geht bei seinen diesbezüglichen Aussagen von der Annahme aus, daß angesichts der vielfältigen Zwänge einer verplanenden und umfassenden Organisation durch den Staat und durch gesellschaftliche Mächte, oftmals nur noch die Kirche als Fürsprecher für den Menschen, 30 Vgl.: eh. MoeHer, Der Aufstieg der Kultur, in: G. Barauna, Die Kirche in der Welt von heute, 271 - 332, insbes. 283 f., 311 f.

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sein Wohl und sein Heil auftreten kann. Gerade angesichts der heute weit verbreiteten Wohlfahrts- und Freizeitideologie wird die Kirche dem Menschen zu helfen haben, daß er Sinn und Erfüllung seines Lebens nicht verfehlt. Denn "der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er unverkürzt seine ewige Berufung" (Art. 76). Nicht selten mag nur noch die Kirche aufgrund der Fülle ihrer transzendenten Botschaft, ihres weltweiten moralischen Ansehens wie auch eines gewissen politischen Einflusses, in der Lage sein, sowohl die Rechte des einzelnen Menschen als auch die Belange eines umfassenden Gemeinwohls wirksam, über nationale oder völkische Grenzen hinweg, zu vertreten. Diese Möglichkeit bedeutet jedoch keineswegs, daß die Kirche in dieser Hinsicht ein Monopol besitzt oder zu beanspruchen hätte. So sehr sie als Volk Gottes weiß, daß ihr die Fülle der evangelischen Botschaft anvertraut und der Dienst der Stärkung (Lk 22, 32) aufgetragen ist, beansprucht sie weder im kulturell-gesellschaftlichen Bereich eine Monopolstellung noch in politischen Fragen eine Entscheidungskompetenz; wohl aber hat sie Auftrag, Recht und Pflicht, ihre Soziallehre zu verkünden und auch die politischen Entscheidungen sittlich zu beurteilen (Art. 76). Es kann ganz sicher nicht Aufgabe der christlichen Kirchen sein, die Rechte des Individuums in einem Gemeinwesen zu sichern oder gegen das Gemeinwohl auszutarieren und dem Staat gegebenenfalls eine institutionalisierte Opposition zu bieten. Aber, so ist zu fragen, woher soll der Staat als Garant für die Freiheit der Bürger in einer pluralen Gesellschaft die Sinngehalte und Wertstrukturen nehmen, wenn nicht von jenen Kulturinstanzen, die in seiner pluralen Gesellschaft von ihrem Selbstverständnis her die transzendent-humane Seite des Menschen sich in besonderer Weise angelegen sein lassen, und zwar um des Menschen, nicht um irgend eines Gewinnes oder eines Zuwachses an Macht willen. Um des Menschen und seiner Freiheit willen, aber auch um des Gemeinwohls willen, mit dessen Hilfe allen Menschen Recht und Freiheit gesichert werden sollen, kommt den Kirchen als Sinninstanzen eine nicht geringe Rolle in unserer Gesellschaft zu, allerdings - und dies sei nochmals betont - keine wie auch immer geartete Monopolstellung. Denn keineswegs erst seit neuester Zeit sehen auch Philosophie und Kunst, insbesondere die literarische, eine ihrer Aufgaben darin, dem Menschen den Sinn seines Lebens zu erschließen und ihn durch sittliche Impulse zu ethischem Verhalten anzuspornen. Auch - oder gerade? - die avantgardistischen Künstler wollen ja das Gewissen der Menschen aufrütteln! Anders als die Religionsgemeinschaften haben diese anderen "Sinninstanzen " in der Regel keine gemeinschaftsbildende Funktion, fehlt ihnen die stützende institutionalisierte Form, die "Gemeinde". Ihre Impulse gehen von einzelnen aus und sprechen jeweils entweder nur den einzelnen oder eine "Masse" an; nur selten wird es geschehen, daß viele ein-

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zeIne zusammen eine "Jüngergemeinschaft" eines Philosophen oder Künstlers bilden. Ihre gemeinschaftlichen Reaktionen verlaufen meist nach dem Gesetz der Masse und wirken kaum über jenen Zustand hinaus 31 • - Solche philosophischen, religiösen oder künstlerischen Impulse können allerdings ein geistiges "Klima" schaffen und den Geist einer Epoche prägen oder wenigstens beeinflussen, aber sie schaffen in der Regel direkt kaum Gemeinschaft im soziologischen Sinn. Im Gegensatz dazu erweisen die Kirchen ihre geistig-kulturelle Bedeutung nicht zuletzt auch darin, daß sie dem einzelnen helfen, seine Vereinzelung zu überwinden, eben weil sie sich als soziologische Gruppe darstellen und als solche in der Gesellschaft wirken. Auf diese Weise vermögen sie den einzelnen zu beheimaten und ihm sozialen Schutz für sein Verhalten in der Öffentlichkeit geben. Trotz dieser öffentlichen und gemeinschaftlichen Wirksamkeit sind die Kirchen keineswegs Teil der staatlichen Ordnung, auch dann nicht, wenn der Staat auf ihr Wort hört und ihre Meinung ernst nimmt; selbst dann nicht, wenn sie einen bestimmenden Einfluß auf diesen Staat und seine Gesellschaft haben und einen bedeutenden gesellschaftlichen Stellenwert besitzen sollten. Wenn die Botschaft der Propheten und manche Maxime der Weisen und Künstler das öffentliche Leben zu prägen vermögen und legitimerweise beeinflussen, so dürfen doch die religiösen Sinninstanzen, insbesondere die Kirchen, nicht von vornherein und aus Prinzip den individualistischen oder kollektivistischen Interessensgruppen oder gar privaten Vereinen zugerechnet werden. Das würde nicht nur die freie Sinngestaltung des individuellen Menschseins in Frage stellen, sondern auch die in einer pluralen Gesellschaft notwendige Weite der Gemeinwohlfaktoren beeinträchtigen. Denn so unbestritten es auch sein mag, daß die politischen Entscheidungen über das Gemeinwohl von den jeweils verfassungsmäßig zuständigen politischen Instanzen und der gesetzesmäßigen öffentlichen Verwaltung getroffen werden müssen, basieren doch auch diese politischen Entscheidungen niemals nur auf neutraler, wertfreier Sachanalyse und objektiver Urteilsfindung; vielmehr liegen ihnen in der Regel bestimmte sittliche Wertentscheidungen zugrunde. Gerade in einem Staatswesen, das den vielfältigen Anschauungen und Wertbegründungen in seinem Bereich weithin Rechnung tragen will- und aufgrund seiner Verfassung auch tragen muß -, haben die Kirchen als öffentliche Sinninstanzen einen legitimen Ort. Der weltanschaulich neutrale Staat als friedenstiftender Vermittler und gemeinwohlfördernder Mantel einer geistig vielförmigen Gesellschaft ist wesentlich auf in der Gesellschaft institutionell verankerte Sinninstanzen angewiesen; sie haben den Menschen, die seine Bürger sind, Wertmaßstäbe und Sinngehalte des Daseins 31 Vgl.: E. Canetti, Masse und Macht, 2 Bände 1960, insbes. I 26 - 48. Die

"Verpuffung" der Massenveranstaltungen eines Billy Graham oder (in kleinerem Maßstab) eines Pater Leppich scheinen das zu belegen.

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zu vermitteln. Wenn die Kirchen solchermaßen als gesellschaftsrelevante Institutionen Sinngehalte vermitteln und Wertmaßstäbe an die Hand geben, so können sie in einem demokratischen Staatswesen solches freilich jeweils nur gegenüber den einzelnen Menschen, niemals gegenüber dem Staat als solchem tun. Sie dürfen deshalb weder als "staatstragende Kräfte" mißdeutet werden noch sich selber so verstehen. Andererseits aber dürfen sie sowohl um ihres eigenen Auftrags als auch um der Menschen willen den Staat nicht bevormunden! Gerade das II. Vatikanische Konzil hat die Autonomie des Politischen ebenso wie die des Ökonomischen anerkannt. Wohl hat die Kirche Recht und Pflicht an alle politischen und ökonomischen Entscheidungen den Maßstab sittlicher Verantwortlichkeit anzulegen (u. a. Art. 66, 72; 74, 75 insbes. 76; aber sie steht von ihrer Sendung und ihrem Auftrag her jeder weltlichen Gewalt gegenüber "in kritischer Distanz". Darum gibt es auch per definitionem keinen "christlichen" oder sonstwie "religiösen" Staat! Ein solcher läuft notwendig immer in Gefahr die geistige und geistliche Freiheit wenigstens eines Teiles seiner Bürger, zu gefährden, wenn nicht gar zu vergewaltigen. Auch das ist eine wesentliche Erkenntnis des Ir. Vatikanischen Konzils, die man nicht übersehen sollte, wenn heute das Verhältnis der Kirche zu Staat und Gesellschaft in Rede steht. Die Rolle der Kirche darf allerdings nicht als die einer Wächterin für das Gemeinwohl mißdeutet werden; deshalb wird sie sich diesbezüglich von konkreten Einzelanweisungen zu hüten haben. Dennoch obliegt es ihr vor allem - eben weil sie ihrem Wesen nach kein Interessenverband ist - einerseits allgemein auf die unveräußerliche Würde und die Unverletzlichkeit der menschlichen Person hinzuweisen und andererseits allen im konkreten Fall die Gemeinwohlverantwortung vor Augen zu stellen und dabei die transzendente Berufung des Menschen zu betonen. Denn das Gemeinwohl, das in sich die Summe aller jener Bedingungen gesellschaftlichen Lebens begreift, "die den einzelnen, den Familien und gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen gestatten" (Art. 74), kann nicht allein aufgrund pragmatisch-empirischer Erkenntnisse bestimmt werden. Bei jeder Abwägung zwischen den Rechten des Individuums und den Notwendigkeiten des Gemeinwohls spielen sittliche Grundhaltungen und ethische Wertvorstellungen ebenso eine Rolle wie die Beurteilung der Frage nach Sinn und Zweck der in Rede stehenden Entscheidung und nach deren moralischer Vertretbarkeit. Auf diese vielfältigen und mehrschichtigen Voraussetzungen und Zusammenhänge hat die Kirche als gesellschaftliche Institution immer wieder hinzuweisen; sie hat also aufgrund ihrer Verantwortung für die transzendente Berufung des Menschen zu raten und zu mahnen als eine Instanz, die über den Sinn des Lebens und die Berufung des Menschen durch die Dimension des Glaubens eine tiefere Schau hat als die bloßen Pragmatiker der Wohlfahrt oder der Macht!

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4. Freiheit als verantwortete Sinnhaftigkeit Jedes demokratisch-pluralistische Gemeinwesen gründet notwendig ebenso auf bestimmten geistigen Wertvorstellungen - etwa der Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit - wie es ein nicht geringes Maß an sittlicher Verantwortung und politischer Vernunft voraussetzt. Es kann ohne einen Mindestkonsens in bezug auf die Deutung wesentlicher Grundwerte und Sinngehalte nicht bestehen. Darum muß ein demokratisch-pluralistisches Gemeinwesen geistige Werte und folglich auch die transzendentale Seite des Menschen ernst nehmen. Wenn es den Menschen in seiner sittlich freien Entscheidung nicht vergewaltigen will, wird es dementsprechend auch Sinninstanzen in der Gesellschaft anerkennen müssen, die gewichtiger sind als private Gedankenkonglomerate; als öffentlich anerkannte gesellschaftliche Institutionen haben sie dem Menschen zu helfen, als einzelner wie in Gemeinschaft den Sinn seines Lebens, seines Leidens und seines endlichen Sterbens zu erfahren. a) Die Kirchen als institutionelle Sinninstanzen, als humane Ratgeber und Leuchtfeuer der transzendenten Berufung des Menschen, können sinnvoll nur wirken in einem Raum der Freiheit, da sich nur in einer verantworteten Freiheit wahres Menschsein verwirklichen läßt. Das bedeutet: eine totale Trennung der Bereiche des Staates auf der einen und des gesellschaftspolitischen und geistlichen Auftrags der Kirchen auf der anderen Seite würde in Wahrheit keinen Freiraum für die Kirchen und noch viel weniger für den Menschen schaffen, sondern - wie noch zu zeigen sein wird - einen kulturellen Leerraum entstehen lassen. Auch und gerade der religiös neutrale Staat, die pluriforme Öffentlichkeit und die nicht auf eine bestimmte Ideologie festgelegte freiheitliche Gesellschaft bedürfen der kulturellen Institutionen insgesamt und besonders der ethischen Sinninstanzen. Dabei sei, um Mißverständnisse von vornherein auszuschließen, nochmals ausdrücklich festgestellt und zugegeben, daß auch andere Institutionen religiöser und weltanschaulicher Art, als es die christlichen Kirchen sind, ein Lebens- und Wirkungs recht in einer modernen freiheitlichen Gesellschaft haben und haben müssen. Es ist selbstverständlich, daß - wie oben bereits dargelegt - auch andere geistige Kräfte ihre gesellschaftsformende Wirkung frei müssen entfalten können. Der Kulturstaat muß seinen Bürgern nicht nur einen institutionalisierten Zusammenschluß zum Zweck religiöser Betätigung ermöglichen, sondern auch aufgrund seines Kulturauftrags diese Institutionen für Sinn und Ethos in einer der jeweiligen Situation entsprechenden und angemessenen Weise fördern, wie er auch andere Einrichtungen kultureller Art, seien es Bildungsanstalten oder Institutionen für Kunst und Wissenschaft fördert, ja unterhält. Derjenige Staat jedoch, der die weltanschaulichen Sinninstanzen ins rein individuell-private zurückdrängt, ist 4 Kirche und Staat

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in Gefahr kein Kulturstaat mehr zu sein, sondern in eine organisierte Barbarei abzusinken, weil er dem Menschen das Wesentlichste seines Menschseins nicht ermöglicht, nämlich das gemeinsame und gemeinschaftliche Streben und Suchen nach transzendentem Sinn des menschlichen Lebens. Zwar gibt es auch in einem pluralen Staatsgebilde ein staatsimmanentes Wertethos. Doch eine noch so werterfüllte freiheitliche und humane Verfassung, wie es beispielsweise die Verfassung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist, vermag keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, des Glücks und des Leides und noch weniger nach dem Sinn des Todes zu geben. Glück ist eben mehr als Wohlfahrt, Geborgenheit etwas anderes als Vollbeschäftigung und Vertrauen ist nicht nur durch wirtschaftliches Wachstum machbar wie auch liebende Hilfe nicht sozialstaatlich verordnet werden kann. Es gibt Kategorien, die notwendig zum menschlichen Dasein und zur Erfüllung menschenwürdigen Lebens gehören, die sich aber weder verfassungsrechtlich "machen" noch gesetzlich "verordnen" lassen. Gerade wenn ein Staat ein liberaler, freiheitlicher Rechtsstaat sein will, muß er darauf verzichten, bestimmte Lebensmaximen, nach denen seine Bürger leben und glücklich werden, vorzuschreiben; dennoch muß er Raum schaffen, damit solche Institutionen für Sinn und Sinnerhellung seinen Bürgern helfen können, als Menschen, d. h. als auf Sinnerfüllung hin angelegte denkende Wesen, leben zu können. Verweigert der Staat diese Möglichkeiten, läuft er in Gefahr in einen totalitären Beliebigkeitsstaat entweder seelenloser Technokraten oder totalitärer Partei ideologen zu entarten. Damit soll - nochmals sei es betont - nicht einer Monopolstellung 32 der Kirchen im geistlich-moralischen Bereich das Wort geredet werden, wohl aber ist festzustellen, daß ohne eine transzendente Rückbindung die rein innerweltlichen Kategorien von Sitte und Moralität fließend und keineswegs gegen Ideologien gefeit sind, die das Gemeinwohl zerstören können33 • 32 Bereits K. Mannheim hat darauf hingewiesen, daß Begriffe wie "Monopol", "Konkurrenz" u. a. nicht nur in der ökonomischen Sphäre angewandt werden können, sondern als Phänomene auch des geistigen Lebens betrachtet werden dürfen. (Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, 1929, abgedruckt in: K. Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und herausgegeben v. K. H. Wolff, 1964,566 - 613.) - A. Hahn spricht vom "Weltdeutungsmonopol" der Kirchen im Mittelalter aufgrund des Analphabetismus der Massen und dem Schriftmonopol des Klerus (in: Religion und Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft, 1974,60). 33 Auch transzendente Systeme einschließlich der christlichen Religion sind grundsätzlich nicht gegen eine Verideologisierung und ideologische Verengung gefeit, wie die Geschichte zur Genüge zeigt. Weil christlicher Glaube sich jedoch wesentlich durch korrekturoffene Vernunft vermittelt, ist er am ehesten imstande, ideologische Verfremdungen, die nichts anderes als Unglauben ver-

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b) Außerdem muß bedacht werden: sicherlich steht im Mittelpunkt der Sorge der Kirche bzw. der Religionsgesellschaften allgemein, der Mensch in seiner Einmaligkeit und wird er unter dem Gesichtspunkt seiner Transzendenz gesehen. Aber auch und gerade die christlichen Kirchen, insbesondere die katholische Kirche, messen seit alters her der Gemeinwohlkomponente - wie oben dargelegt - deutliches Gewicht bei. Der Gedanke der Gemeinverantwortlichkeit ist freilich nicht spezifisch christlich, sondern reicht einerseits durch die europäische Geistesgeschichte zurück bis auf Platon und Aristoteles und andererseits auf die alttestamentlichen Propheten. Diese abendländische philosophisch-religiöse Tradition hat durch die an alle Welt gerichtete gute Botschaft Jesu einen "oikumenischen", d. h. weltweit-universalistischen Impuls bekommen, wie sie durch die Verbindung mit dem römischen Recht in der geordneten Gemeinwohlverantwortung ihr bestimmendes Prinzip erhielt. Darum wäre es in höchstem Maße töricht, leichtfertig und ungeschichtlich, wollte ein Staat aus angeblich weltanschaulicher Neutralität diese Gemeinverantwortung der Kirchen aus seinem Gefüge ausklammern und zurückweisen, weil diese Gemeinverantwortung, diese humane Lehre vom Menschen, durch die Kirchen als religiöse Instanzen tradiert wird. Wie es die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" ausdrücklich betont, besagt die Feststellung dieser Gemeinwohlverantwortlichkeit auch des religiösen Lebens und Verhaltens keineswegs, daß Kirche und Staat hinsichtlich ihrer Aufgaben und Zuständigkeiten verwechselt oder miteinander vermischt werden dürften. Noch weniger darf diese Auffassung zum Vorwand dienen, die Kirche an ein bestimmtes politisches System zu binden oder aus dem Bereich des Politisch-Öffentlichen überhaupt zu eliminieren. Nur dann nämlich, wenn die Kirche frei ihren Auftrag ausüben kann, vermag sie Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person und seiner Freiheit zu sein (Art. 76). Denn gerade dadurch, daß sie die Wahrheit des Evangeliums frei verkündet und alle Bereiche menschlichen Daseins und HandeIns durch ihre Lehre und das Zeugnis der Christen zu erhellen bestrebt ist, fördert sie auch die politische Freiheit der Bürger und ihre soziale Eigenverantwortlichkeit. In diesem Zusammenhang wird man ferner bedenken müssen, daß auch die Psyche des Menschen ein Anrecht auf eine individuell freie und der Natur des Menschen entsprechende Pflege und Förderung hat. Dieses Anrecht völlig ignorieren oder aus dem öffentlichen Leben eines Staates hinausverweisen zu wollen, bedeutet selbst eine weltanschauliche Entscheidung, nämlich eine Entscheidung gegen Möglichkeit, Bedeutung und Sinn des Transzendenten für das Leben des Menschen und seiner Existenz als Mensch. Der Staat würde in einem solchen Fall sich selber als säkularisierte "Staatskirche" verstehen, die darüber urteilt, welche raten, zu erkennen und zu überwinden (vgl.: W. Korff, Theologische Ethik, u. a. 126 f.). 4·

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weltanschaulichen Richtungen und Theorien dem Menschen frommen und welche ihm schaden könnten. Und wer wollte leugnen, daß auch für einen Staat mit freiheitlicher Verfassung die Ver:suchung groß ist. unter dem Vorwand, eben diese freiheitliche Verfassung sichern zu wollen, mittels der totalen Verwaltung alle Lebensbereiche des Menschen zu präformieren, zu koordinieren, zu planen und zu kontrollieren. Vielleicht werden es dann allein die in den Kirchen konzentrierten und institutionalisierten Kräfte des Herzens sein, die diesem umfassenden Anschlag auf das Wesen des Menschen und seiner Freiheit zu trotzen vermögen. Wem sollte an einer solchen Instanz für menschlichen Sinn und an einem solchen "Wächteramt" für Humanität und menschliche Freiheit mehr liegen als dem freiheitlichen, demokratischen Staat? Alle, die es mit der Freiheit eines jeden Menschen, und nicht nur mit ihrer eigenen, ernst nehmen, muß daran liegen, daß die Kirchen in der Öffentlichkeit der Gesellschaft und unter dem Schutz des Staates frei zu wirken vermögen. VI. Religion und Gesellschaft Die hier anstehenden Fragen sprengen nicht nur den Rahmen einer juristischen überlegung, sondern sind auch von so komplexer Natur, daß es vermessen wäre, sie in einer so kurzen Darstellung erschöpfend behandeln zu wollen; es können lediglich einige soziologische überlegungen wiedergegeben werden, die hinweisen wollen auf die tieferliegende Problematik. Es geht nämlich nicht nur um die Stellung der Kirchen nach dem positiven Recht des (jeweiligen) Staates und das kirchliche Selbstverständnis über ihr Verhältnis gegenüber Staat und Gesellschaft, sondern es geht auch um die Frage, ob und in welchem Umfang die sinnvermittelnde Funktion der Kirchen objektiv einsichtig gemacht werden kann. Dies nämlich ist die Voraussetzung dafür, daß die Kirche in einer pluriformen Gesellschaft einen Rechtsstatus eigener Art behalten bzw. zuerkannt bekommen kann. Die Kirche muß also ihren "Öffentlichkeitsanspruch" inhaltlich - und nicht nur rechtlich formal- begründen. In drei knappen Schritten soll also die gesellschaftliche Dimension aufgezeigt werden, die dem Religiösen auch im weltanschaulich neutralen Staat zukommt; außerdem sollen Widerstände angedeutet werden, mit denen sich das Religiöse, insbesondere in seiner kirchlich-institutionalisierten Form heute aufgrund der gewandelten geistigen Situation auseinanderzusetzen hat. Es scheint nämlich, als ob bei der bisherigen juristischen und politischen Diskussion um das Verhältnis von Staat und Kirche der allgemeine, höchst bedeutsame Spannungs bezug zwischen Staat und Religion einerseits, sowie die Bedeutung des Religiösen für die Gesellschaft andererseits, übersehen werden. Diese Nichtbeachtung aber drückt eine verhängnisvolle Verkürzung des Verständnisses vom Menschen und seiner Geistigkeit aus: Man scheint zu glauben, daß das

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menschliche Glück und die Sinnerfüllung seines Lebens regelbar und durch optimalen Mitteleinsatz machbar seien, es also genüge, wenn Institutionen für Sinn in ausreichender Zahl und hinreichender öffentlicher Wirksamkeit überhaupt vorhanden sind. - Diesem formalen, wenn auch weit verbreiteten Zweckoptimismus steht jedoch gegenwärtig eine bezeichnende und kaum wegzudiskutierende Ineffizienz der institutionalisierten Kirchentümer gegenüber: sehr viele Funktionen, die früher die Kirchen selbstverständlich am Menschen und für die menschliche Gesellschaft erfüllten, werden heute von anderen Personen und Institutionen deshalb übernommen, weil die Menschen sich an diese und nicht an die traditionellen Repräsentanten der Kirchen wenden. Man beachte beispielsweise, wie stark das Beichtgespräch alten Stils weithin abgelöst worden ist von Psychotherapie, Lebensberatung oder Telefonseelsorge; ein großer Teil der Ratsuchenden wendet sich übrigens entweder an den Arzt, den Astrologen oder an die freundliche "Tante" oder den "Onkel" in der Fragespalte der Illustrierten. Die Kirchen scheinen ideologieverdächtig und ihre Antworten glaubt man bereits im voraus zu kennen. Die Suchtberatungsstellen, die offene Jugend- oder Altenarbeit wird darum nur noch zu einem Teil von den Kirchen (offen) getragen. Auf der anderen Seite fällt auf, daß viele Lebensängste ihre religiöse Komponente haben, so daß in gewisser Weise Angst und Religion in einer möglichen Symbiose zu sehen sind34 • Es stellt sich also - gerade für die institutionalisierten Kirchen als Sinnvermittler - die dringende Frage nach der gesellschaftlichen Dimension des Religiösen. Damit hängt die andere Frage zusammen, warum weder die heutige - säkularisierte - Gesellschaft noch der moderne Staat gänzlich vom Phänomen des Religiösen absehen können. Es stellt sich allerdings auch die Frage, welche spezifische Rolle den Kirchen, als öffentlich wirksamen Institutionen, hierbei zukommt bzw. welcher Freiraum ihnen zugebilligt werden kann und muß. 1. Die gesellschaftlichen Dimension des Religiösen In dem Maße wie sich die Identität von Volk, Stamm oder "Staat" auf der einen mit der Religion auf der anderen Seite, also von "Gesellschaft" einerseits und Kultgemeinschaft andererseits, auflöste, begann das Sinndefizit im Leben des einzelnen zu wachsen. Zwar nahm in dem gleichen Ausmaß auch der Glaube zu, daß alles menschliche Glück sich durch rationales, zweckgerichtetes und geplantes Handeln "machen" lasse. Inzwischen hat sich jedoch auch die rationalistische Verheißung, daß des Menschen Glück durch Planung machbar sei, als Täuschung erwiesen. Wohl wird das allgemeine Bewußtsein unserer Zeit noch von der Ratio34 VgI. u. a.: F. Riemann, Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, 91975; E. Fromm, Die Kunst des Liebens, 1975, insbes. 89 ff.; P. Matussek, Kreativität als Chance. Der schöpferische Mensch in psychodynamischer Sicht,

1974.

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nalitätseuphorie beherrscht35 , doch vielfältige soziale und psychologische Faktoren sowie die Eigenart der menschlichen Natur und der Verlauf der Geschichte - die hier nicht näher dargestellt zu werden brauchen - haben diese Euphorie und ihre Glaubenssätze als illusionistische Utopie entlarvt36 • überdies mag die Erhebung der "Göttin Vernunft" zur Ehre der Altäre darauf hinweisen, daß die Verherrlichung des Rationalen letztlich rational gar nicht begründet ist37 • Auf der anderen Seite bewirkte der geistig-rationale Pluralismus der Lehren, der Ideen und Ideologien, vor allem aber die Möglichkeit ihrer Verbreitung und der gegenseitigen überlappung, jedoch auch eine Abnahme der Plausibilität der Religion insgesamt. Die Tatsache, daß es in der modernen Gesellschaft sehr schwer ist, "unter sich" zu bleiben, ganz besonders im religiösen Bereich, hat diese Entwicklung nur noch gefördert38 • Die jeweilige religiöse Vorstellung sieht sich nun in Konkurrenz mit vielfältigen anderen Meinungen und innerweltlichen, scheinbar plausibleren, weil "vernünftigen" Sinnangeboten. Der soziale Wohlfahrtsstaat mit seiner Verheißung eines Optimum an "Lebensqualität" , so hoffte man bis zur Stunde, würde letztlich alle Menschen zum Glück führen können3D • Ohne hier auf das Phänomen des "Gratifikationsverfalls"40 einzugehen, kann gesagt 35

Vgl.: F. K. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, 1972, 15, 96,

104 und 139.

36 Man denke etwa an die (in gewisser Weise wohl ebenfalls prophezeihungsgläubige) Studie: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, hrsg. v. D. Meadows u. a., 1972. 37 Vgl.: A. Hahn, Religion und Verlust der Sinngebung, 109. 38 Vgl.: P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, 1972, 70. 39 A. Auer (Utopie, Technologie, Lebensqualität, 1976) setzt sich mit dieser politisch-ökonomisch gefährlichen Utopie kritisch auseinander. 40 A. Hahn, Religion und Verlust der Sinngebung, verdeutlicht das Gemeinte mit folgendem Beispiel: "Wer Hunger hat, glaubt, wenn er nur zu essen habe, dann sei alles übrige zweitrangig. Sobald er aber keinen Grund mehr hat, je fürchten zu müssen, unter Hunger zu leiden, macht ihn die Tatsache, daß er nicht hungert, keineswegs glücklich. Das gleiche geschieht mit allen anderen Bedürfnissen. Jedes benennbare Bedürfnis, soweit es überhaupt zu befriedigen ist, hört auf, als solches empfunden zu werden, wenn es routinemäßig und sicher befriedigt wird" (92). - F. H. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, hat dem Thema "Zweck und Gratifikationswert" ein ganzes Kapitel gewidmet. Der systematische Grund für den Verfall des Gratifikationswertes liegt seiner Meinung nach "in der Undurchs.ichtigkeit unserer Bedürfnisstruktur und, nachfolgend, in der Unbestimmbarkeit des endgültigen Gratifikationswertes unserer Ziele" (26). Außerdem weist er das Gemeinte auch an einem anderen sozialen Phänomen der Gegenwart stringent nach: "Die Geschichte der industriellen Gesellschaft ist ein einzigartiges Beispiel dafür, wie die zweckhafte Gestaltung von Lebensbereichen, also vor allem der Arbeit und Wirtschaft, nicht nur neue, spezifizierbare und insofern prinzipiell auch wieder zweckhaft planend zu befriedigende Bedürfnisse, hier also wirtschaftlicher Art, sondern laufend neue soziale und politische Gegebenheiten und Bedürfnisse schafft, die zu einem erheblichen Teil erst einmal nicht genauer zu spezifizieren und so lange auch durch zweckhafte Planung gar nicht zu befriedigen sind.

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werden, daß in einer pluralistischen Gesellschaft auf die wirklichen "Krisen" im Leben eines Menschen, wie es Krankheit, Leid und Tod sind, keine - allgemein akzeptierten - Antworten mehr gegeben werden können und sie im Alltag oft auch gar nicht gewünscht werden, wenigstens so lange die Krise vom Individuum nicht selber erfahren werden muß. Der heutige Mensch glaubt die Welt als "hominisierte" (J. B. Metz) verstehen zu dürfen, "d. h. als Sinnzusammenhang von naturwissenschaftlich prinzipiell erfaßbaren Vorgängen und Prozessen einerseits und als menschlich-gesellschaftliches Geschehen andererseits. Wo die Religion früherer Zeiten Schicksale göttlichen Einflüssen, dem Segen oder Fluch von Geistern oder sonstigen außermenschlichen Geistern zuschrieb, bleibt in der ,religionslosen' Sphäre nur noch die Kategorie des Zufalls"41. Wenn diese Analyse von der zunehmenden Sinnleere in der rationalisierten, verplanten Welt zutrifft, dürften in der Gesellschaft in wachsendem Maße erhebliche Sinngebungsprobleme entstehen. Dies um so mehr als A. Hahn glaubt annehmen zu dürfen, daß rein "innerweltliche" Sinngebungskonfigurationen hinsichtlich ihrer Lösungskapazität für Sinnprobleme beschränkter zu sein scheinen als die der Religionen im engeren Sinn42. Sowohl Freizeiterlebnisse und Leistungssteigerungen als auch die großen säkularisierten Religionsersatzformen, seien sie nun neue fortschrittsgläubige "Kulturreligionen" oder Träumereien von einer heilen Weltzeit marxistischer Provenienz, vermögen in ihrer reinen Innerweltlichkeit dem Menschen keinen Rat zu geben angesichts der "offenbaren Sinnlosigkeit des Todes", welcher gerade unter den optimalen BedingunVon der Zeitstruktur dieses Prozeßgefüges her müßte man sagen: wenn latente Bedürfnisbefriedigungen aufgelöst werden, so bedarf ein Teil der ungesättigten Bedürfnisse einer Latenzzeit, um neue Befriedigungsformen zu finden. Sie werden schließlich entweder in neu evolvierten Lebensformen eine wiederum latente Befriedigung finden oder am Ende so weit kristallisieren, daß sie als einigermaßen umrissene Bedürfnisse zu Zwecken werden und damit prinzipiell durch planendes Handeln befriedigt werden können. Folgen solche Verdrängungen einander in einem Tempo, das schneller ist als die Latenzzeit, so müssen ungesättigte Bedürfnisse akkumulieren und bei gegebener kritischer Schwelle die Gratifikationswerte der gegebenen Zustände verändern, d. h. zu einer Unsicherheit und Unruhe im sozialen System führen, die auf der Nichtbefriedigung unkristallisierter, vielleicht sogar unfaßbarer Bedürfnisse beruht und deshalb durch absichtsvolle Veranstaltungen auch nicht mehr behoben werden kann." (27 - 28) 41 A. Hahn, Religion und Verlust der Sinngebung, 86. 42 Ebenda, 86. - Dabei fällt auf, daß die Soziologen auch diesbezüglich häufig die Rolle neuer Sinndeuter übernehmen; teilweise werden sie von den Theologen dadurch provoziert, teilweise aber scheinen sie sich auch in ihrer "priesterlich-prophetischen" Rolle z;u gefallen. - Die Zielrichtung dieses Beitrags und der grundsätzlich begrenzte Umfang verbieten jedoch eine eingehende Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Dem kundigen Leser wird es überdies nicht entgehen, daß hier wohl einige sachliche Feststellungen der zitierten Autoren, nicht aber ihr gesamtes "theologisches" Konzept übernommen werden!

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gen der "vernünftigen Kultur" die letzte Sinnlosigkeit des Lebens hervortreten läßt 43 • Es kann nicht verwundern, daß die modernen Gesellschaften mit dem Tod nicht fertig werden, ihn vielmehr verdrängen bzw. den einzelnen vor der - vorzeitigen - Konfrontation mit ihm abschirmen. Damit wird nicht nur dem einzelnen, der sich in der Krise des Leidens oder des Sterbens befindet, die sonst so viel berufene Solidarität der Gesellschaft versagt, sondern auf die Dauer auch die humane Glaubwürdigkeit einer solchermaßen geistig defizienten Gesellschaft in Frage gestellt. Augenblicklich ist noch nicht zu erkennen, ob die Gesellschaft, die auf den Pluralismus ihres Sinndefizits stolz ist, erkannt hat, welche Gefahr hier auf sie lauert44 . Umgekehrt zeigte sich bereits heute, "daß Menschen in extremen Daseinskrisen auf das Sinnangebot der Kirchen zurückgreifen"45. Ohne diese statistisch nicht erhärteten Beobachtungen verallgemeinern oder überbewerten zu wollen, dürfen sie vielleicht als ein Hinweis darauf gedeutet werden, daß der Mensch in schweren Krisen - die keineswegs nur auf Tod und Leid reduziert werden dürfen, sondern die etwa auch das "Scheitern" in wichtigen Lebensformen, wie Ehe, Beruf, soziale Karriere, umfassen - nach einem "extrinsischen" Sinn, der sich nicht mit irdischem Glück und zeitlicher Wohlfahrt begnügt, verlangt 46 • Dieses weitgehende Unvermögen rein innerweltlicher Sinngebungsversuche beschränkt sich nun keineswegs auf " kapitalistische " Gesellschaftssysteme; gerade das Phänomen des "Gratifikationsverlustes" erweist nämlich alle Bemühungen, an Stelle jenseitiger Seligkeitsverheißungen die diesseitige Glücksrealisierung im Paradies des Proletariates treten zu lassen, als naiven Aberglauben. Wenn eine Gesellschaft einmal jenen Reflektionsstand erreicht hat, daß sie Gerechtigkeit als tragenden Grundsatz ihres Daseins versteht, stellt sich dem Menschen - vor allem wenn er in einer Krise steckt - die 43

Vgl.: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 61972, I

569 ff .

•• Auf die Absurdität des Leerlaufs einer Gesellschaft, welche den Tod glaubt durch Praktiken "überlisten" zu können, weist P. Eicher (in: Solidarischer Glaube. Schritte auf dem Weg in die Freiheit, 1975, insbes. 50 - 78) eindrucksvoll hin. Er zeigt dort jene Schwachstellen auf, durch die die Kirchen heute gehindert werden, ihrem Auftrag zu entsprechen. 45 A. Hahn, Religion und Verlust der Sinngebung, 88. n Dabei ist zu beachten, daß auch religiöse Phänomene keineswegs "monokausal" sondern "vielursächlich" sind. - über die Plurikausalität auch religiöser Entwicklungen und Verschiebungen liegen kaum zuverlässige Untersuchungen vor. Es wäre beispielsweise wichtig, einmal die - möglichen Zusammenhänge zwischen einer bestimmten Religion und Volkstum, der Religion und politischer Opposition etwa in totaLitären Systemen und zwischen wirtschaftlicher Rezession und der Zunahme religiöser Interessen bzw. der Bereitschaft in den kirchlichen Dienst zu treten, zu analysieren.

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Frage, woher die Diskrepanz zwischen der - an sich guten - Idee und den tatsächlichen Zuständen, die gar nicht so gut sind, kommt. Das Axiom "ens et bonum convertuntur" impliziert die Frage nach der Ursache der Todesverfallenheit und nach der Herkunft des Bösen, die Frage nach dem Warum, letztlich also das Theodizeeproblem. Ist dieser Fragenkomplex schon für den gläubigen Menschen bei Annahme eines gerechten und guten Gottes schwer deutbar und bleibt er ein nur im Glauben annehmbares Geheimnis, so versagt erst recht jeder innerweltliche Deutungsversuch. Damit aber steht für die Gesellschaft - also nicht nur für das Individuum -letztlich die Ertragbarkeit von frustrierenden Leben~­ erfahrungen überhaupt auf dem Spiel: "In dem Maße, wie die Ungerechtigkeiten, die man erfährt, erklärungslos bleibt, sowohl affektiv wie intellektuell, das eigene Schicksal folglich als sinnloser Zufall erscheint, als Absurdität, wächst die Gefahr des Zusammenbruchs des Menschen. Wo ein gesellschaftliches Sinngebungsdefizit solche Absurdität für immer größere Gruppen produziert, erhöht sich wahrscheinlich die Zahl der psychisch Kranken, der Depressionen und der Selbstmorde. Es gibt daher auch heute schon eine Anzahl von Prognosen, die zunehmende Eindämmung physischer und vermehrte Häufigkeit psychischer Erkrankungen für die Zukunft annehmen47 ." Angesichts solcher Perspektiven muß man fragen, wann der Punkt erreicht sein wird, an dem das Sinngebungsdefizit die gesellschaftlichen Institutionen, also auch den Staat, in ihrer Funktionsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen. Dabei vermag die wissenschaftlich-empirische Prognostik heute noch nicht zu sagen, ob und inwieweit diese destruktiven Folgen abgewendet oder gar geheilt werden können. Es wäre aber sicher notwendig, daß die christlichen Kirchen hierin - und nicht in gesellschaftskritischem und revolutionärem Aktivismus - ihre große, notwendige und wahrheit befreiende gesellschaftliche Aufgabe sehen sollten. Wie keine andere "Heilslehre" könnte die Kirche den Armen, den Kranken und Sterbenden, aber auch den nach Wahrheit Dürstenden eine Antwort geben, nämlich denjenigen zu bezeugen, aus dem sie lebt und der von sich gesagt hat, er sei "der Weg, die Wirklichkeit und das Leben" (Joh 14,6). Das aber setzt - worauf P. L. Berger nachdrüchlich hinweist - voraus, daß die Kirchen "die Zeichen der Transzendenz", jene Phänomene der natürlichen Wirklichkeit also, die über sich hinauszuweisen vermögen, als Möglichkeiten der Sinndeutung erkennen und den Menschen zu erschließen versuchen 48 : Als solche "Zeichen der Transzendenz" können dienen etwa das Prinzip der Ordnung als überwindung des Chaos, das Spiel als Grundlage aller Kultur und jeglichen Kultes wie als Quelle der Freude, der Trost als Frucht der den Tod überwindenden 47

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A. Hahn, a.a.O., 105. Auf den Spuren der Engel, 79 - 80.

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Hoffnung 49 • Sie können helfen, ein religiöses Verständnis der Lage des Menschen zu erwecken und ihm in einer konkreten Stunde seines Lebens den Sinn seines Daseins aufzutun: "In der Welt habt ihr Drangsale zu bestehen, - aber seid getrost: ich habe die Welt überwunden!" (Joh 16, 33). Die Kirche dieses Herren wird den Menschen diesen seinen Weg nur zu zeigen vermögen, wenn sie sich auf ihre besondere Aufgabe in dieser Zeit und für diese Menschen, die letztlich doch vom Phantom des Scheins verführt, wie "Schafe sind, die keinen Hirten haben" (Mt 9, 36) nüchtern, aber gläubig, liebend und auf den verheißenen Beistand hoffend, vorbereitet. Dabei wird sie nicht der emanzipatorischen Gedanken und großen Leistungen des menschlichen Verstandes im Humanismus und in der Aufklärung entraten können. Unser gegenwärtiger Zustand ist nämlich nicht die Folge eines Zuviels an menschlicher Rationalität, sondern eher das Ergebnis eines nicht entschlossenen Zu-Ende-Denkens grundsätzlicher Erkenntnisse bzw. einer Trivialisierung, die sich mit Machbarkeit glaubte begnügen zu können, wo tatsächlich die Frage nach Sein und Sinn anstand. Augenblicklich scheint es so zu sein, daß die säkularisierte, einst fortschrittsgläubige Gesellschaft, welche die vielfältigen Leiden des Menschen nicht zu lindern, seinen sicheren Tod nicht zu bannen und auf die Frage nach dem letzten Sinn seines Daseins keine Antwort zu geben imstande ist, angesichts ihrer enttäuschten, weil zu hoch gespannten Hoffnungen verzweifelt ist. Diese Enttäuschung läßt die Sinnlosigkeit nur eskalieren. Es könnte darum wieder erfahrbare und notvolle Wirklichkeit, nicht nur im Leben des einzelnen, sondern der Gesellschaft insgesamt werden, was Reinhold Schneider meinte, wenn er schrieb, "allein den Betern kann es noch gelingen das Schwert ob unseren Häuptern abzuwenden", nämlich dem Chaos und der Verzweiflung zu wehren und den Sinn des menschlichen Lebens zu retten. Dann aber hätten das Religiöse und auch die religiösen Institutionen, insofern sie willens und bereit sind, sich um solchen Sinn für das Heil des Menschen zu mühen, nicht nur eine klare gesellschaftliche Aufgabe, sondern geradezu einen öffentlichen Anspruch darauf, daß der säkularisierte Staat ihr freies Wirken fördert und achtet, daß er um der Gesellschaft willen sie nicht bloß gewähren läßt, wie er jedem Raum zum friedlichen Tun gewähren muß. Die Kirchen werden dieser Aufgabe jedoch allein dann zu entsprechen vermögen, wenn sie die Fülle ihrer geistlichen Erfahrung und ihres menschlich-humanen, also rationalen Wissens vom Menschen weiterreichen. Die Weisheit des Menschen über sich, sein Woher und Wohin, bedarf der Tradition, der Vermittlung aus der Vergangenheit in die Zukunft. 49 Vgl.: J. Huizinga, Homo ludens, 71965; J. Moltmann, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Versuche über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel, 1971, insbes. 36 H.

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2. Die Kirche und das öffentliche Wohl

Aufgrund der nun fast schon notorischen Unfähigkeit der säkularisierten Gesellschaft, dem Menschen einen tragfähigen Sinn für die Bewältigung seiner Lebenskrisen und zur Meisterung seiner Existenzangst vorzustellen, ist es somit nicht auszuschließen, daß den religiösen Institutionen als den - die religiöse Idee gegenwärtig machenden - Trägern, wieder eine bedeutsame gesellschaftliche, als auch "politische" Aufgabe zuwächst. Diese Aufgabe ist zu umfassend und im wahrsten Sinn des Wortes zu "tiefgründig", als daß sie auch von der christlichen "Religion" und den christlichen Kirchen einfachhin bewältigt werden könnte. Soll sie gelingen, was ohnedies immer nur partiell und temporär wird möglich sein können, dann allein aufgrund einer großen gemeinsamen religiös-geistigen Anstrengung, das wesentlich Notwendige der Jesus-Botschaft vom angebrochenen Gottesreich als Antwort auf die Sinnlosigkeit des Lebens der Menschen von heute erfahrbar werden zu lassen. Das wird die Kirche nur vermögen, wenn sie jenen Mut wieder zurückerlangt, den sie im 4. Jahrhundert hatte, als sie es wagte, ihre Kirchen in die alten Tempel zu bauen und anstelle der "Pax Romana" die "Pax Christi" zu verkünden. Die sogenannte "Konstantinische Wende", deren historische Bedeutung für die Menschheitsgeschichte in blindwütiger Geschichtslosigkeit heute oft leichtfertig übersehen oder vorsätzlich mißdeutet wird, war tatsächlich eine - gar nicht selbstverständliche - epochale Option der Kirche zugunsten eines politisch-gesellschaftlichen Kulturauftrages gegen eine sektiererische Weltflucht. Es ging vom 4. bis zum 8. Jahrhundert nicht in erster Linie um Erlangung von Macht, sondern letztlich um die Frage nach Sinn und Wert des menschlichen Lebens; man hatte zu wählen zwischen geordneter Kultur oder chaotischer Barbarei50 • Bedeutende Theologen hatten diese Aufgabe nicht nur auf die Kirche zukommen sehen5 !, sondern hatten auch eine religiös-politische Integration des Imperiums als Erfüllung biblischer Verheißung herbeigewünscht52 ; die grandiose Vision Augustin's vom Gottesstaat wollte kaum nur ein platonisch-eschatologisches Konzept sein53 • 50 Auf die beiderseitige Komplexität der Vorgänge zu Beginn des 4. Jahrhunderts hat P. Stockmeier mehrfach hingewiesen: Konstantinische Wende und kirchengeschichtliche Kontinuität, in: HistJahrb 82, 1963, 1 - 2; Glaube und Religion in der frühen Kirche, 1973, bes.: 81- 99. - H. Rahner, Konstantinische Wende? Eine Reflektion über Kirchengeschichte und Kirchenzukunft, in: StdZ 86, 1960(61,419 - 428; A. v. Campenhausen, Konstantinisches Zeitalter, in: Evangel. Staatslexikon, 1374 - 75. 51 So z. B.: MeUto von Sardes (gestorben um 172) und Origenes (gestorben 254). 52 Wenigstens stellt es Eusebius so in seiner panegyrischen Festrede "anläßlich der glücklichen Wendung der Dinge" dar: Kirchengeschichte X 4. 53 "An Augustin (gestorben 430) läßt sich diese Adaption gut beobachten, weil er als Zeuge der heidnisch-christlichen Auseinandersetzung und zeit-

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Heute wird der Kirche vielfach vorgeworfen, sie hätte damals ihre jesuanische Einfachheit und ursprüngliche Glaubwürdigkeit verraten. Dabei wird zu wenig bedacht, daß die historisch wahrscheinliche Alternative gar nicht ein "reineres" Christentum gewesen wäre, sondern allenfalls die Fortexistenz eines Jesus-Mythos in einer christlich-orientalischen Sekte. Ferner wird übersehen, daß der jüdisch-christlichen überlieferung eine solch gnostisch-intellektuelle Esoterik völlig zuwider war und ist. Deshalb darf vielleicht umgekehrt die These gewagt werden, daß das Christentum, wollte es sich selber treu bleiben und seinem geistlichen Anspruch, so wie es ihn während seiner kurzen Geschichte damals ausgeprägt hatte, nicht aufgeben, sich so entscheiden konnte, wie es dies getan hat: es durfte sich der unerwarteten politisch-gesellschaftlichen und kulturell-religiösen Aufgabe stellen und öffentliche Verantwortung für die res publica mit übernehmen. Damit soll keineswegs jegliche politische Adaption an die Machtstrukturen, die Herrschaftsformen und die geistigen Prinzipien des römischen Imperiums gerechtfertigt sein. Es soll nur festgestellt werden, daß es ohne diese schwerwiegende Entscheidung das nicht gegeben hätte, was wir "abendländische" Kultur zu nennen pflegen! Mit Recht stellt darum Peter Stockmeier fest, daß sich die Begegnung von christlichem Glauben und antiker Religion damals unter Aspekten vollzog, "die einerseits in der Objektivität des Glaubens selbst lagen, andererseits von der Umwelt her aufgegeben waren". Wenn auch die Begegnung mit hellenistischer Geistigkeit und römischem Imperium gerade wegen ihrer politischen Dimension nicht geringe Gefahren mit sich brachte, die bis heute noch virulent sind, so macht sie doch andererseits auch die vom Glauben getragene Dynamik deutlich, "mit der die Gläubigen der Frühzeit sich den Problemen ihrer Zeit stellten und selbst problematische Lösungen anerkannten. Als geschichtliche Tatsachen demonstrieren sie, wie auch religiöse Strukturen eine zeitgebundene Dimension aufweisen und darum auch nicht unter dem Vorwand der theologischen Qualität der Diskussion entzogen werden sollen"54. Umgekehrt aber verlieren religiöse Entscheidungen aufgrund ihrer politischen Bedeutung und kulturellen Wirkungen nicht ihren spezifisch geistlichen Charakter. Heute nun trifft die biblische Botschaft der Kirche auf ein religiöses Vakuum; sie muß ihre Kraft nicht gegenüber transzendent-religiöser Konkurrenz bewähren, sondern sie hat ihren Sinn zu erweisen angesichts der Behauptung, daß die Sinnlosigkeit den Unsinn allen Sinns erweise. Doch nicht nur die äußeren kulturell-geistigen und gesellschaftlich politischen Bindungen sind andere, sondern auch die innere Lage des Christentums gleicht jener des vierten Jahrhunderts in weiliges Mitglied der Manichäer um das Selbstverständnis des Christentums hart gerungen hat." P. Stockmeier, Glaube und Religion, 107. 54 P. Stockmeier, Glaube und Religion, 120, 122.

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keiner Weise: Das Christentum ist heute in vielfältige historisch, ethnisch-kulturell und politisch bedingte Parteien zerfallen, befindet sich in der schwierigen Lage einer "alten" Religion, die weithin zu einem bürokratisch-dogmatischen Apparat erstarrt ist. Die Versuchung, sich nun mit den Mächten dieser Welt anzubiedern und mit ihnen konkurrierend Wohlfahrt und Befreiung, Gleichberechtigung und chiliastisches Heil feilzubieten, ist groß. Aber vielleicht ist sie nicht größer als jene der christlichen Antike, da die Kirche versucht war ihre Frohbotschaft als "vera religio" und das Reich Gottes als Imperium Romanum mißzuverstehen. Andererseits trägt die Kirche gerade wegen ihrer damaligen geschichtlichen Entscheidung und ihres historischen Mutes zum öffentlichen Auftrag auch eine große Verantwortung für die heutige geistige Krise der Welt, die unter der dynamischen Kraft des Christentums weltweites Ausmaß angenommen hat. Die Kirche muß also auch heute wieder wagen, kulturell-geistige und gesellschaftlich-politische Verantwortung zu übernehmen. Sie kann es nicht anders tun, als in dem demütigen Bewußtsein: ich habe zwar jahrhundertelang in der Nacht dieser Welt gearbeitet und mich müde und schuldig gemacht, "aber auf dein Wort hin, Herr, will ich die Netze auswerfen" (Lk 5,5). Es kann in unserem Zusammenhang hier nicht darum gehen, darüber Erwägungen anzustellen, wie dieses Netz der Wahrheit und diese Reuse des Sinnes aussehen müssen, damit der verheißene Auftrag gelingt. Es geht hier lediglich um den Hinweis, daß wir Christen wider in zelotischem innerweltlichen Aktivismus die längst verödeten Heilslehren eines revolutionären Messianismus propagieren, noch in einer geschichtslosesoterischen Gnosis uns der politischen wie der kulturellen Aufgabe unserer Zeit versagen dürfen. Es ist nämlich kein Evangelium, daß der Säkularisierungsprozeß weitergehen muß5 •. Thomas Luckmann kommt zu dem wohlbegründeten Schluß: "So lange wir uns auf die Betrachtung der industriellen Gesellschaften beschränken, verbinden sich tiefgreifende Veränderungen mit ganz augenfälligen Kontinuitäten. Vom Ende des Christentums kann ebensowenig die Rede sein, wie vom völligen Verlust der Transzendenz oder dem Schwund des Sakralen. Das Christentum ist in die Gesamtkultur eingeschmolzen; die institutionell spezialisierten Kirchen werden weiter bestehen, allerdings unter schon jetzt merklichen ,inneren', d. h. thematischen Veränderungen und bei noch viel gewichtigeren Funktionsverschiebungen. Noch weniger kann vom Ende der Religion die Rede sein. Transzendenzbezogene Themen werden subjektiv zur Integrierung des eigenen Lebens übernommen, verwandelt und sogar intersubjektiv neu aufgebaut - oft erst nach der Primärsozia55 Vgl.: P. L. Berger, Soziologische Betrachtungen über die Zukunft der Religion. Zum gegenwärtigen Stand der Säkularisierungsdebatte, in: Hat die Religion Zukunft?, hrsg. von O. Schatz, 1971, 49 - 68.

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lisierung. Es dürfte jedenfalls kurzsichtig sein, die Zukunft der Religion unter das Motto ,Alles ist hin' zu stellen, wie es manche Säkularisationstheorien tun. Aber es wäre ebenso falsch über die Religion zu sagen: ,Le plus ~a change, le plus c'est la meme chose', wie es manche Funktionalisten tun. Denn Religion ist ebenso ein Aspekt der vom Menschen geschaffenen und erlittenen Geschichte wie Gesellschaft und Person56 ." Für die Kirche bedeutet dies, daß sie ihren Ort und ihre Aufgabe in der Gesellschaft und für die Menschheit richtig sehen muß. Ihre Verantwortung vor dem ihr aufgegebenen Wort und gegenüber den Menschen ist zunächst geistlich-geistig. Es steht ihr nicht zu, die Verhältnisse in Staat und Gesellschaft direkt und unmittelbar verändern zu wollen; vielmehr hat sie Recht und Vollmacht dazu nur und erst dann, wenn sie ein neues geistliches Bewußtsein geweckt, die Herzen aus Stein zu lebendigen Herzen erweckt hat (vgl. Ez. 11, 19). "Paulus nennt diese Arbeit ,vernünftigen Gottesdienst', d. h. einen Gottesdienst im Alltag der Welt, und er gibt zu verstehen, daß die Welt nicht länger ,sich selbst überlassen bleibt', wie der Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann treffend formuliert. Wo sich die Existenzbewegung christlichen Lebens vollzieht, da bleibt die sich in der Regel recht andersartig bewegende Welt nicht als ein mächtiger, aber dennoch trauriger Rest zurück, sondern da wird die Welt und ihre vom Leben in den Tod führende Geschichte hineinverwickelt in Gottes Geschichte vom Tode zum Leben 57 ." Deshalb ist es für die christliche Kirche unmöglich, ihre Verkündigung von der Menschwerdung, vom Leiden und Sterben Gottes in Jesus Christus mit sozialrevolutionären, sozialistischen oder anderen innerweltlichen Heilstheorien zu verbinden. Auch das Beispiel der Entscheidung der 56 Th. Luckmann, Verfall, Fortbestand oder Verwandlung des Religiösen in der modernen Gesellschaft?, in: Hat die Religion Zukunft?, 69 - 82, hier: 82. Wenn Th. Luckmann in dem angeführten Text (an einer von mir ausgelassenen Stelle) von den "theologischen Kindereien vom Tode Gottes" spricht, so zeugt das von tiefem Unverständnis des christlichen Glaubens und damit auch der christlichen Theologie. Wenn Gott freilich nur eine soziologische Größe ist, dann ist es sicher unsinnig von seinem Tod zu reden. Er steht dann in immer neuen Formen, Bildern, Hoffnungen und Ängsten auf. Der christliche Theologe wird jedoch nicht anders verfahren können, als es G. Ebering gefordert hat: "Wir dürfen das Reden von Gott nicht unverantwortet fortsetzen, aber auch nicht unverantwortet unterlassen" (Gott und Wort, 1966, 13). Die Alternative der christlichen Theologie besteht für E. Jüngel eben darin, einerseits einen unchristlichen Theismus und andererseits einen unchrdstlichen Atheismus hinter sich zu lassen: "Wer am Kreuz Jesu Christi vorbei von Gott redet, redet Gott tot. Und wer am Kreuz Jesu Christi vorbei von Gott schweigt, schweigt Gott tot ... Theologische eindeutig wird das Wort vom Tode Gottes aber erst, wenn Licht in das Dunkel dieses Todes gebracht wird ... " (E. Jüngel, Das dunkle Wort vom "Tode Gottes", in: Evangelische Kommentare 2, 1969, 133 -138, hier: 138). Die Rede vom "Tod Gottes" ist also für den christlichen Theologen eine wesentliche Sache und alles nur keine "Kinderei". 57 E. Jüngel, Das dunkle Wort vom "Tode Gottes" (II), in: Evangeldsche Kommentare 2, 1969, 198 - 202, hier: 202.

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Kirche im Zeitalter Konstantins verweist uns heute nicht in Richtung auf eine künftige Konspiration mit den möglichen Caesaren des kommenden Jahrhunderts, sondern verlangt das Zeugnis von der "Menschenfreundlichkeit" jenes Gottes, der geboren wurde und starb um aufzustehen, verlangt also das Zeugnis gläubiger Hoffnung. Was das Christentum im 4. Jahrhundert so anziehend machte und zur Berge versetzenden Macht werden ließ, war sein sieghafter Glaube, sein überzeugendes Ethos und seine hoffnungsfrohe Zuversicht. Durch die Wirren der Völkerwanderung und die Zusammenbrüche der römischen Reiche hat die Kirche ihre Botschaft von der Menschwerdung des göttlichen Wortes und der Inkarnation seiner Liebe verkündet und so die Welt letztlich überwunden. Das allein ist ihre Chance auch heute! Nicht in der Propagierung einer Gewalt der Befreiung, sondern in der Macht der verzeihenden Liebe liegt ihr Auftrag! Dort erwartet sie auch die Sehnsucht der Menschen.

3. Mögliche Kriterien für Sinnhaftigkeit Die eben dargestellte These ist nicht nur kategorisch und programmatisch, sondern sie geht auch von der Annahme aus, daß religiöse Sozialisation, kirchlicher Dienst am Menschen und seiner Kultur möglich, ja um der Einheit des Menschen willen notwendig ist. Nun sind aber Möglichkeit und Funktion der Religion allgemein und des Christentums insbesondere so gut wie gar nicht erforscht58• Darum ist diese These wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu begründen. Es muß, auch wenn "das Netz der Wahrheit und die Reuse des Sinns" hier nicht inhaltlich bestimmt werden kann, doch Rechenschaft darüber gegeben werden, in welcher Weise der christliche Glaube, verkündet und dargestellt durch die Kirche59, dem Menschen helfen könnte, Sinnerhellung für sein Leben zu finden: Sinnerhellung und Trost lassen sich nicht verordnen und schon gar nicht aufzwingen. Sie vermögen nur als Angebot und angenommene Antwort, akzeptierte Weisheit und erfahrene Wegweisung hilfreich zu sein. Das nötigt die Kirche, auf eben die Fragen der jeweiligen Menschen 58 DieteT Stoodt (Religiöse Sozialisation und emanzipiertes Ich, in: Religion - System und Sozialisation, K.- W. Dahm, N. Luhmann, D. Stoodt, 1972, 189 237) hat diesbezüglich ein erstes Konzept zu entwickeln und mögliche Konsequenzen daraus abzuleiten versucht. Seine Ergebnisse haben meine nachfolgenden Ausführungen beeinflußt. Niemand möge ihm jedoch einen Vorwurf für das machen, was ich daraus gefolgert habe. 5g Wenn hier von "Kirche" die Rede ist, dann ist zuerst immer die kathOlische Kirche gemeint. Das nicht etwa deshalb, weil den anderen "Kirchen" dieser Charakter abgesprochen oder aber sie umgekehrt einfach unter den Oberbegriff "Kirche" subsumiert werden sollten, sondern um an einer Kirche exemplarisch das Gemeinte aufzuzeigen. Dabei wird die teilweise beträchtliche Differenz zu der Theologie der anderen Kirchen und ihrem Selbstverständnis etwa bezüglich ihres Verhaltens zu Kultur, Philosophie und Gesellschaft keineswegs übersehen. Im Gegenteil, gerade der Respekt vor dieser Differenz scheint es mir zu gebieten, nicht einfachhin von den christlichen Kirchen zu sprechen!

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konkrete Antworten und Hilfen zu geben; sie darf sich nicht damit begnügen "zeitlose" Wahrheit zu verkünden, wenn der Mensch aus seiner ganz bestimmten Not ruft: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben" (Mk 9, 24). Es geht somit nicht nur um ein unverfälschtes Bewahren des depositum fidei, vielmehr um die Ansage des Gottesreiches und die Aktualisierung der jesuanischen Botschaft in einer bestimmten Stunde der Geschichte. Jedes Hineinsteigen in die Aktualität der Zeit prägt auch die Wahrheit, denn die Wahrheit gerade des Evangeliums ist immer konkret, wie Jesu Tod und Auferstehung ihre rechtfertigende Kraft nur in ihrer Geschichtlichkeit haben. So wie die Hinwendung der Kirche im vierten Jahrhundert zur "vera religio" die "reine" Botschaft Jesu mit der hellenistischen Philosophie, dem römischen Recht und der Gefährdung der Macht belastet hat, was - wie schon gesagt - manche als einen greulichen Abfall glauben qualifizieren zu müssen, so muß sich die Kirche auch in der heutigen Stunde bewußt sein, daß sie nicht nur um des Menschen und seines Heiles willen, sondern darum eben auch um des ihr überantworteten Auftrags willen, eine geschichtliche und gesellschaftliche Verantwortung hat, auch wenn damit geistliche Risiken verbunden sind60 • Da viele Menschen, die irgendwie im "christlichen Milieu" groß geworden sind, das Christentum nur in seiner "reduzierten Gestalt" kennen, ist es für sie oft nur noch eine "unbegriffene ideologische Hülle, seine Symbole haben vom verdinglichten Bewußtsein aus gerurteilt keinen einlösbaren Wahrheitsanspruch mehr"61. Eine "Religion", die solchermaßen "um die Wirkung ihrer selbst gebracht ist", kann man als "neutralisierte Religion" bezeichnen62 • Diese "neutralisierte Religion" lebt als defizientes Christentum innerhalb und außerhalb der Kirchen, bei Gläubigen, die teilweise die defiziente Form sogar als das wesentliche mißverstehen, und bei jenen, die nicht (mehr) glauben und die (vorgeben) wegen dieser Form, in der das Religiöse ihnen begegnete, nicht glauben (zu) können 63 • Oftmals haben sie sich in einer spontanen Abwehrreaktion 60 N. Luhmann (Religiöse Dogmatik und gesellschaftlic..'1e Evolution, in: Religion - System und Sozialisation, 15 - 132) hat mit deutlichen Belegen gezeigt, wie sehr die "heimliche Allianz zwischen dogmatischer Thematik und Bedingungen gesellschaftskultureller Kompatibilität... zu den Evolutioru;bedingungen bisheriger Gesellschaften" gehörte (97). Doch wagte er - zu recht - keine Prognose, wie es weitergehen, ob etwa Interpretation durch Reflektion ersetzt werden müßte. Diesbezüglich wäre eine Auseinandersetzung mit ihm ebenso angebracht wie lohnend. 61 D. Stoodt, a.a.O., 220 - 221. 62 So auch D. Stoodt (a.a.O., 220), der darin Th. W. Adorno folgt. 63 Es ist sicherlich tragisch, daß das Christentum der Neuzeit (insbesondere in Gestalt der katholischen Kirche) sich meist nur durch Ablehnung bestimmter emanzipatorischer Meinungen artikuliert, nicht aber deren positiven Seiten weiterdenkt und daraus christliche Alternativen entwickelt. Die Ablehnung neuer (irreversibler) Ideen und Daseinsformen schafft diese nicht aus der Welt, sondern offenbart nur geistig-geistHche Phantasielosigkeit. Angesichts der gegenwärtig überbordenden Sexualität kann man nur bedauern, daß die

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der Autorität eines anderen Glaubens - und sei es in der Form einer aggressiven politischen Ideologie - ausgeliefert. Folgt man den von Dieter Stoodt aufgewiesenen Perspektiven, können selbst die in ihren Inhalten defizienten bzw. verfälschten Phänomene der "reduzierten Religion" in Richtung auf eine positive Deutung aufgearbeitet werden, ja sie können unter Umständen die einzige Form sein, wie ein äußerlich unüberbrückbar erscheinender Bruch zum Religiösen wieder geheilt und mit neuem und geistlich adäquatem Sinn gefüllt werden kann64 • Das setzt voraus, daß die Kirche, ihre Theologie und ihre pastorale Praxis diese Phänomene nicht nur als defiziente, sondern auch als bedrohliche Formen erkennen und aufzuarbeiten versuchen. Die überwindung durch geistliche Auseinandersetzung kann eine Form sein, wie die Botschaft der Kirche wieder glaubwürdig wird, weil sie von den Menschen in der Not als sinngebend, in der Angst und Einsamkeit als helfend und in der Ortlosigkeit als emanzipatorisch, weil heilend und integrierend, erfahren wird. Es könnte beispielsweise "reduzierte Religion" dem Menschen zeitweilig jenen Raum bieten, den er braucht um zu einer individuellen Stabilisierung und damit zu einer sozialen Kontaktfähigkeit zu gelangen oder er könnte dort jenen Bereich erleben, in welchem er die religiösen Symbole als Ausdrucksweisen menschlicher Grunderfahrung und ihrer Bewältigung erfährt. Schließlich kann "Kirche" der Anlaß sein, zur Klärung dessen zu gelangen, was gesollt und gedurft wird aufgrund der Gebote des beispielhaften HandeIns Jesu; gleichermaßen kann in ihr der Ort gefunden werden, wo dem einzelnen durch diese in ihrem Wesen zutiefst ideologiekritische Institution Selbstwert- und Freiheitserlebnis, also personale Selbständigkeit und Selbsterfahrung, widerfährt. Liturgische Form und traditionelles Gebet können vielleicht einmal verloren gegangene Ehrfurcht, echte Hingabebereitschaft und Verantwortungsbewußtsein wecken, so daß die im gemeinsamen Gottesdienst tragende und notwendige Kraft der Communio und der sozialen Haftung spürbar wiedergefunden wird. Diese Hinweise wollen - bewußt - keine Lösungsmodelle vorstellen. Da Freiheit nur mit und in Ordnungen, nicht aber gegen Ordnungen wachsen kann, impliziert ein solches Konzept grundsätzlich auch eine fundamentale Revision der innerkirchlichen Ordnung. Nicht, als ob sie römische Glaubenskongregation (in ihrer Erklärung vom 15. 1. 1976) es nicht verstanden hat, die menschliche Sexualität in die christliche Daseinsweise zu integrieren und schöpferisch zu bewältigen. Gleiches gilt auch für viele kirchliche Stellungnahmen zu politischen Zeiterscheinungen. Ihre bloße Ablehnung hat keinerlei Aussicht auf Erfolg; allein Entwürfe für politische und geistiggeistliche Alternativen hätten die Möglichkeit, die Menschen zrur Änderung zu motivieren. 84 Vgl. hierzu und zum folgenden: D. Stoodt, a.a.O., 231. 5 Kirche und Staat

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abgeschafft oder im Sinn der modernen Gefälligkeitstendenzen "erleichtert" werden sollte; sie müßte beispielsweise vielmehr einerseits die religiös begründete und geforderte Freiheit des Menschen achten und andererseits bestimmte und vorgegebene oder sachbedingte Niveaudifferenzierungen auch durch Rollendifferenzierung stützen. Das dürfte etwa in bezug auf das Recht der kirchlichen Dienste von entscheidender Bedeutung sein: Wenn die innerverbandliche Rolle und die gruppenspezifische Stufung aufgrund bestimmter dogmatisch-liturgischer und/oder disziplinärer Postulate einander nicht entsprechen, wird es kaum möglich sein, daß die in diesen Diensten Stehenden zu ihrer Identität finden. Damit aber sind sie gehindert, ihre "Rolle" optimal wahrzunehmen und sich angemessen mit der Kirche als Institution zu identifizieren. Ein Teil der gegenwärtig immer wieder beschworenen Krise der "Kirche" im allgemeinen oder des "Priestertums" im besonderen hat zweifellos darin eine ihrer Ursachen! Aber auch die Frage, wie die Lehrgehalte und Ordnungsstrukturen bzw. die Funktionsmec.'1.anismen der Kirche (- auch in ihr gibt es solche! -) sachgerecht und evangeliumsgemäß, d. h. ursprungsanalog, zu legitimieren sind, muß beantwortet werden, damit Reden und Handeln der Kirche wieder stimmig und als glaubwürdig empfunden werden können. Diese allgemeinen Hinweise mögen genügen um anzudeuten, in welche Richtung die kirchliche Theorie sich vortasten müßte, damit heute und morgen in unserer Gesellschaft die Botschaft der Kirche verstanden und ihre religiöse Praxis sie als glaubwürdige Sinninstanz im Wettstreit auf dem Jahrmarkt der Meinungen aufweist! Es mag manchem blasphemisch klingen, daß solches der Kirche, der Künderin göttlicher Botschaft, zugemutet werden soll. Wir sollten aber nie vergessen, daß J esus auf lauten Hochzeiten und dem lärmerfüllten Vorplatz des Tempels, auf überfüllten Gassen und vor wenig feinen Leuten seine gute Botschaft verkündet hat. Der Kirche bleibt es nicht erspart, ihm darin ebenso nachzufolgen, wie man auch nicht hoffen sollte, daß eine solche situationsbezogene Rede die Kirchen wieder füllen würde. Im Gegenteil, es geht gerade nicht um bloß formale Anpassung, durch welche die geistliche Rede zur leeren Rhetorik werden kann, wo dann jeder mit jedem redet und keiner etwas zu sagen hat. Auch J esus, der die Sprache der einfachen Beduinen und Fischer vom See Genezareth sprach, scheiterte. Er hat uns vor Selbstherrlichkeit gewarnt: "Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe; der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen; und haben sie mein Wort gehalten, so werden sie auch das eure halten" (Joh 15, 20). Es ist der Kirche heute aufgetragen, die Gratwanderung zwischen Tradition und Anpassung zu wagen65 • 65

Vgl.: P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel, 47.

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Ganz sicher wird die Kirche durch bloßes Beharren auf juristischen Positionen und Vertrauen auf politisches Taktieren in der pluralistischen und geistig oft haltlosen Gesellschaft von heute und morgen ihren Ort nicht behaupten und ihre Bedeutung nicht zu erweisen vermögen. Diplomatische Klugheit allein wird ihr nichts nutzen; nur in Verbindung mit einer "radikalen" und geschichtsbewußten Besinnung auf ihren Auftrag und durch das vorbehaltlose Wagnis, Gott zu gehorchen, in dem sie dem Menschen in seiner Not dient, wird sie sich als hilfreiche und wegweisende Zeugin des Sinnes eines jeden menschlichen Lebens zu erweisen vermögen. Gerade in der pluralistischen Gesellschaft eines freiheitlich verfaßten Staates wird die Kirche den ihr verfassungs rechtlich zugestandenen Raum nur zu erhalten vermögen, wenn sie ihn inhaltlich zu füllen, ihr Dasein also sachlich zu legitimieren versteht. Gerade die Tatsache, daß das Christentum seine Botschaft "geschichtlich" verkündet und mit korrekturoffener Vernunft reflektiert, gibt ihm bis heute einen wesentlichen "Vorsprung" vor allen anderen Versuchen, den Sinn des Lebens zu deuten. Darin liegt freilich auch eine Versuchung: nämlich, das lebendige Zeugnis der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes zur rationalistischen "Lehre" erstarren zu lassen. Allerdings ist es nicht Sache des Staates, die geistliche Legitimation der Kirche zu prüfen. Aber im "Staat" spiegeln sich Wille und Verständnis seiner Bürger wieder. Diesen Bürgern muß die Kirche glaubhaft dartun, was sie beiträgt zur Erfahrung des Menschen über sich und sein Dasein. Gerade wegen der Doppelbezüglichkeit der von der Kirche verkündeten "Humanität", die einerseits den Menschen als transzendenz bezogenes, der Offenbarung bedürftiges Wesen erweist, und die ihn andererseits in seiner geschichtlichen Existenz, seiner Fehlbarkeit und Not ernst nimmt, kann die Kirche überzeugende Sinnfinalität anbieten. Weil sie zu verkünden hat, daß "einer für die vielen starb", vermag sie auch dem einzelnen, seiner Würde und seinen unveräußerlichen Anrechten ebenso gerecht zu werden wie dem Gemeinwohl. Die Texte des Ir. Vatikanischen Konzils machen wiederholt und nachdrücklich deutlich, daß der Mensch zwar der Gemeinschaft notwendig bedarf, er aber nicht funktionalistisch verzweckt und verplant werden darf, auch wenn keiner sich selber lebt (Röm 14, 7). Da ein solches Verlangen nach (religiöser) Sinnerhellung dem Menschen wesentlich zu sein scheint und die menschliche Gesellschaft ohne bestimmte geistige Sinnziele auf Dauer nicht bestehen kann, ist jener moderne Staat sicherlich gut beraten, der den Kirchen einen Ort für ihr öffentliches Wirken beläßt. Das vor allem auch deshalb, weil die Kirche wegen ihrer "Doppelbezüglichkeit", insofern sie nämlich um des Menschen willen da ist, sie diesem aber Gottes Offenbarung zu bezeugen hat, am ehesten in der Lage sein sollte, darüber zu wachen, daß der Mensch in seiner Gott gegebenen personalen Würde von allen, auch den Mächti-

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gen, geachtet wird. Je nachdrücklicher die Kirche die verantwortliche Freiheit des von Christus erlösten Menschen verficht, um so mehr wird sie dem Menschen Sinn zu erschließen und seine Freiheit zu bezeugen vermögen. Damit ist die Frage nach dem geistig-humanen und gesellschaftlichen Wert der Kirche in der heutigen Gesellschaft zwar theoretisch festgestellt, doch bleibt die Frage offen, wie sich die Kirche nun tatsächlich in der politischen Tagesauseinandersetzung verhalten kann und darf. Allgemein dürfte das schwerlich zu beantworten sein. Abstrakt wird man sagen dürfen, daß die Kirche immer dann, wenn sie realiter in die konkreten politischen Auseinandersetzungen eingreift, zur "Partei" unter anderen gesellschaftlichen Parteiungen wird. Das kann im Einzelfall, wenn es gilt, dem Bösen, Unmenschlichen, zu widerstehen, geboten sein; es sollte aber die Ausnahme bleiben; und das nicht nur deshalb, weil sonst ihre geistliche Glaubwürdigkeit im Ringen um die Macht zu schnell verschlissen wäre. Die Geschichte bezeugt diesen Abnutzungsprozeß zur Genüge. Die Kirche soll bezüglich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit weder mit der politischen Gemeinschaft verwechselt noch an irgendein politisches System gebunden werden oder sich selber daran binden, eben damit sie sein und bleiben kann "Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person" (Gaudium et spes Art. 76). Ihr Recht "immer und überall ... in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen" (Gaudium et spes Art. 76), besagt nicht, daß die Kirche damit direkt in den politischen Tageskampf eingreifen will. Vielmehr hat sie die Waffe der Mahnung und das Schwert des gerechten, abwägenden Urteils, mit denen sie den politischen Verantwortlichen die Normen sittlich gerechten Tuns vor Augen stellt. Auf diese Weise vermag sie gerade in einem freiheitlichen Gemeinwesen mit allen Menschen aufgrund der gemeinsamen "menschlichen und göttlichen Berufung ohne Gewalt und ohne Hintergedanken zum Aufbau einer wahrhaft friedlichen Welt zusammenzuarbeiten" (Gaudium et spes Art. 93) und Wesentliches und Einmaliges einzubringen. Wenn die Kirchen sich heute nicht zu einer Gegnerschaft zum pluralen, weltanschaulich neutralen Staat verführen lassen, wenn sie andererseits aber auch nicht zu seinem Komplizen werden, der sich mit ihm in der Beute, nämlich der menschlichen Freiheit, teilt, sondern Mahner und Wächter der Würde und Freiheit des Menschen und seiner Gottebenbildlichkeit sind, dann stellen sie eine wirkliche Grenze der staatlichen Gewalt dar, dann sind sie in einem neuen Sinn und in legitimer Weise "politische" Faktoren in unserer Gesellschaft; dann nämlich, wenn sie den

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Staat und die gesellschaftlichen Mächte in ihre Schranken und in den Raum ihrer Zuständigkeit verweisen und darauf hinwirken, daß der Staat und alle in ihm wirkenden Gruppen nur dem einen Ziel dienen: dem allgemeinen Wohl und dem Besten aller Menschen. Wenn die Kirche in dieser neuen - und doch immer wieder gleichen Weise, sich ihrerseits beschränkend, Gott gibt, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist, und nicht erwartet, daß ihr gegeben wird, was Gott oder dem Kaiser gebührt, dann erfüllt sie - über ihren eigentlich religiösen Auftrag hinaus - oder besser gesagt: eben durch ihn - eine heute notwendige "politische" Aufgabe. Unter diesem Gesichtspunkt kann, ja müßte, auch der plurale, bekenntnisneutrale Staat - wie die Bundesrepublik Deutschland oder die Republik Österreich die Kirchen und ihre arteigenen Aufgaben als legitime, ihre Bürger als geistig-geistliche Wesen fördernde Bestandteile seiner Ordnung anerkennen und angemessen fördern. Um der Freiheit und Würde des Menschen willen haben die Kirchen den Staat und die gesellschaftlichen Mächte auf ihre Grenzen hinzuweisen und ihnen notfalls Einhalt zu gebieten! Dabei haben sie dieses ihr "Wächteramt" geistlich wahrzunehmen; sie dürfen sich weder als gesellschaftliche Interessenvertretung noch als "Lobby Gottes" mißverstehen: Sie haben die ihnen aufgetragene Frohe Botschaft zu verkünden und nicht Postulate einer praktischen Ethik oder sozialreformerische Utopien. Wenn sie Gottes Wort und seine in Jesus Christus erschienene "Menschenfreundlichkeit" glaubhaft bezeugen, werden sie dazu beitragen, daß der Geist "das Angesicht der Erde erneuert". Es ist ihnen aufgetragen aus ihrem geistlichen Grund und kraft ihrer rationalen Tradition Zeugnis zu geben für die in der Gottebenbildlichkeit gründende Würde eines jeden Menschen. Wenn sie jedoch Kampf - gegen wen oder für wen auch immer - predigen, verleugnen sie ihren Ursprung, handeln sie gegen ihre Sendung, machen sie sich zur innerweltlichen, politischen Größe, ordnen sie sich ein in die miteinander rivalisierenden oder einander bekämpfenden Gruppen der Gesellschaft. Wenn die Kirchen das geistige Erbe der Menschheit mit ihrer geistlichen Botschaft vereinen und den Menschen in seiner Freiheit wie in seiner Angefochtenheit vorbehaltlos ernstnehmen, werden sie auch künftig in der geistig pluralen Gesellschaft als "Sinninstanzen", als Anwalt der ganzen Menschen zu wirken vermögen. "Die historischen Konflikte und Antagonismen zwischen Staat und Kirche, wie sie insbesondere in der abendländischen Kirchengeschichte sich ereignet haben, sind nicht bestimmend geworden für die Formulierung der konziliaren Aussagen; vielmehr betont das Konzil ungeachtet der stets möglichen und gegebenen Konfliktsituation die gemeinsame Verpflichtung von Kirche und Staat für den Dienst an der Welt.

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Damit bestimmt sich die Stellung der Kirche in der modernen Welt allgemein und innerhalb der politischen Gemeinschaft aus einem veränderten, nämlich spirituellen Selbstverständnis der Kirche, das weniger institutionell und mehr personal und sozialverpflichtet charakterisiert ist. Freiheit und Würde des Menschen sowie das Gebot zum Weltdienst begründen ein Staats- und Ordnungs verständnis der katholischen Kirche, das zugleich Ausdruck ihrer geistlichen, heilsgeschichtlichen Sendung ist 66 ." Die Kirche versteht sich somit nicht mehr als Rivalin des Staates, sondern als eine Gemeinschaft von Glaubenden, die aus dem Schatz der gläubigen und vernünftigen Tradition dem Menschen den Sinn seines Daseins und den Quell seiner Hoffnung zu erschließen sucht. Es dürfte jene Staaten ehren, die eine solche Begrenzung ihrer Macht, solche institutionalisierten Zeichen der menschlichen Freiheit und des Gewissens, solche Weggenossen der transzendenten Berufung des Menschen anerkennen und ihnen in ihrem Verfassungs- und Ordnungssystem einen Platz zuerkennen.

66 P. Mikat, Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche, in: HdbStKirchR,187.

DIE UNIVERSALE KIRCHE ALS VORBILD INTERNATIONALER EINIGUNG* Von Hans R. Klecatsky Die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute stellt sich der Erfahrungswelt des Menschen von heute. Sie will ihm geben, von ihm, seinen Problemen, Vorstellungen und Hoffnungen aber auch in sich zurücknehmen und ihm so fühlbarer die Last seiner Zeit tragen helfen. Vermag sie das? Kann die Kirche dieser Menschheit vor dem Ende des 2. Jahrtausends nach Christi Geburt existenzielles Vorbild sein, das als glaubwürdig in menschliche Wirklichkeit aufgenommen wird? Das ist zweifellos gerade in jenem menschlichen Zentralbereich der Fall, in dem weltweit friedvolle, in Gerechtigkeit vollzogene Einheit der Menschheit ersehnt wird. Hier verbindet sich die Konstitution, auf der Linie der vorangegangenen Enzykliken des Papstes Johannes XXIII. "Mater et Magistra" und "Pacem in terris" liegend, mit der heutigen Begriffs- und Bilderwelt besonders innig. Hier gedeiht der Brückenbau zwischen Welt und Kirche von beiden Seiten her sichtlich. An dieser Baustelle muß auch in Zukunft alle Kraft eingesetzt werden, unermüdlich und vorbehaltlos. Wir sind heute auf dem Wege zur Einheit der menschlichen Gesellschaft, zur Weltgesellschaft. Das ist nicht nur mehr, wie in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden, eine Utopie, sondern eine von allen Zweigen moderner Wissenschaft diagnostizierte, ja eine für jedermann einsichtige Wirklichkeit. Eine gewaltige Kraft planetarischen Stils schmilzt den überkommenen Staatenpluralismus um und drängt zum Weltstaat. Jenseits scheinbar gegenläufiger ideologischer Deklarationen, unterhalb des tagespolitischen Bewußtseins greift Gleichförmigkeit um sich. Der Staat im alten Sinn zerbricht. Von außen her wird er in seiner Souveränität mehr und mehr von supranationalen Organisationen und ihrer Politik beschnitten, von innen her wird er im Westen von einem unorganischen Gruppenpluralismus, im Osten von Einheitsparteien ausgehöhlt und zur Fassade. Die Mittel moderner technischer Kommunikation fördern die Einheit über alle verwitternden Grenzen hinweg. Das Ziel aber um dessentwillen die Menschheit seit je von Welteinheit träumt, ist nicht die uniforme Welt-Massengesellschaft. Hellsichtige Geister ha-

* Nach einem am 3. Oktober 1974 in Radio Vatikan gehaltenen Vortrag.

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ben schon frühzeitig die tödliche Erstickungsgefahr erkannt, die von einem universalen Kollektiv droht. Welteinheit erstrebt die Menschheit im Gegenteil als Welteintracht, als Weltfrieden, in dem das Menschliche in seinem ganzen Reichtum sich frei entfalten kann. Solch wahrer Frieden ist indes nicht nur Verzicht auf äußere, primitive Gewalt in Form militärischen oder polizeilichen Zwanges. Wir wissen heute, daß es solchen Zwanges gar nicht mehr bedarf, um Menschen botmäßig zu machen. Die verschiedenen Formen "kalter" Unterdrückung durch technische, medizinische, gesellschaftliche oder politische Manipulation vermögen die Aggression gegen das Menschliche weit wirksamer zu gestalten, denn menschliche Automaten können nicht einmal die Fäuste ballen. Nur dort ist wahrer Frieden, wo statt Gewalt das Recht herrscht - das Recht nicht einiger, sondern das gleiche Recht alle7· Menschen, wo die Menschenwürde als unveräußerlicher Ausgangs- und Zielpunkt durchsetzbarer Menschenrechte anerkannt ist.

Welteinheit, Weltfrieden und Welt-Menschenrechte als untrennbar Verbundenes machte der Beschluß der Vereinten Nationen klar sichtbar, das Jahr 1968, in das der 20. Jahrestag der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte fiel, in allen Kontinenten als Welt jahr der Menschenrechte zu begehen. Und an das Ende dieses Welt jahres schloß sich der von Papst Paul VI. zum "Welttag des Friedens" erklärte 1. Jänner 1969, gestellt unter das Leitwort: "Die Förderung der Menschenrechte: ein Weg zum Frieden". Die universalen Menschenrechtsdokumente unserer Zeit bezeugen den unlösbaren Zusammenhang von Welteinheit, Weltfrieden und Welt-Menschenrechten nicht nur beiläufig und irgendwo, sondern ausdrücklich und an der Spitze. Die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, beschlossen am 10. Dezember 1948 von der UN-Generalversammlung, beginnt mit der Feststellung, daß "die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet". Die beiden aus dieser Erklärung emporgewachsenen, am 16. Dezember 1966 von der UN-Generalversammlung einstimmig verabschiedeten Weltpakte für politische und bürgerliche Rechte und für wirtschaftliche, soziale und kulutrelle Rechte werden unter Verweis auf die UNCharta mit fast den gleichen Worten eingeleitet. Die Abstimmung über die bei den Weltpakte ergab Einstimmigkeit. Hier wurde also in der Tat die zentrale Grundnorm des Weltrechtes formuliert, von der her das ganze Gliederwerk der modernen politischen Gemeinwesen zu sehen ist. Verfassung, Gesetz, unabhängiges Richtertum, Demokratie, Gewaltenteilung, Parlamentarismus, sozialer, ethnischer und landschaftlicher Föderalismus und alle die anderen Institutionen dienen entweder der Würde und den gleichen unveräußerlichen Rechten, wie sie allen Menschen zukommen, oder sie knebeln den Menschen in seiner Einmaligkeit,

Die universale Kirche als Vorbild internationaler Einigung

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dann sind sie juristischer Formelkram oder ein politisches Schlagwortregister, ja Strukturen der Unterdrückung, die zugunsten einer menschenwürdigen Ordnung zu sprengen sind. Das gilt auch für die internationale Ordnung. Auch sie empfängt als solche Leben und Sinn nur von der Zentralnorm der Menschenwürde. Die UN-Charta vom 26. Juni 1945 - die "Verfassung" der Weltgesellschaft - stellte an ihre Spitze das Bekenntnis "des Glaubens an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person". Von daher hat sich auch das aus früheren Jahrhunderten überkommene Völkerrecht, das nur ein Recht des Verkehrs zwischen souveränen Herrschern oder Staaten war und deren einzelne "Untertanen" ignorierte, entscheidend verwandelt. Von Tag zu Tag wächst die Zahl der Völkerrechtsnormen, die unmittelbar auf den Schutz des Einzelmenschen abzielen. Das Völkerrecht unternimmt es bereits, den Staatsbürger vor seinem eigenen Staat zu schützen. Die Europäische Menschenrechtskonvention hat nicht nur uie Menschenrechte und Grundfreiheiten für West- und Zentraleuropa ausgebaut, sondern in der Menschenrechtskommission und im Menschenrechtsgerichtshof auch internationale Rechtsschutzorgane eingesetzt. Der einzelne schreitet so im Namen der Menschenwürde der Völkerrechtsunmittelbarkeit entgegen; so daß man schon von einem Wandel des "Völkerrechtes" zu einem "Recht der Menschheit" spricht. Dazu gesellt sich eine zweite, internationale Tendenz, vom einzelnen ausgehend und auf sein Wohl abzielend. Das Völkerrecht wird mehr und mehr ein solches der internationalen "Zusammenarbeit". Art. 55 der UN-Charta umreißt die Verpflichtung zu dieser Zusammenarbeit, als deren Ziele dort angegeben werden: Frieden, Freundschaft, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, Verbesserung des Lebens und am Ende wieder als oberstes Ziel: "Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion". Internationale friedliche Einheit im Zeichen der Würde und unveräußerlichen Rechte des Einzelmenschen: das ist aber nicht nur das Programm der politischen Weltgemeinschaft. Das Vorbild einer solchen menschenwürdigen Einheit durch zwei Jahrtausende - mögen auch manche Irrwege gegangen worden sein - ist die universale Kirche. Sie ist es, die die Offenbarung von der gleichen überirdischen Würde jedes einzelnen Menschen durch die Zeiten und Länder trägt und damit allen irdischen Kollektiven ihre unüberschreitbaren Grenzen gesetzt hat. Ohne sie könnte von Menschenrechten im heutigen Sinn überhaupt nicht die Rede sein, denn sie sieht sich (und darf sich sehen) "zugleich als Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person". Durch diese Transzendenz erst werden die Menschenrechte "unveräußerlich" und

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die Menschen - jeder für sich lichen Kollektivs.

zum gleichberechtigten Partner jeg-

Eben deshalb ist die Kirche mit allen ihren Mitgliedern aber auch aufgerufen, für die Verteidigung, den Ausbau und die Vertiefung der Menschenrechte unablässig zu arbeiten. Gewiß ist die Aufgabe groß und schwer. Die Weltproklamationen der Menschenrechte können nicht über die Klüfte hinwegtäuschen, die zwischen den tatsächlichen gesellschaftlichen Systemen bestehen. Aber ebenso gewiß ist, daß dem Christen keine Macht der Erde die Verantwortung für die Erfüllung dieser Aufgabe abzunehmen vermag. Denn die Menschenwürde als Zentralnorm des Weltrechtes einer in Frieden und Freiheit einigen Weltgemeinschaft ist sein Programm. Die Weltgesellschaft hat es angenommen. Nun muß er in der Erfüllung vorangehen.

11. Kirche und Staat

KIRCHE UND STAAT -

ZUM PROBLEM DER KOMPETENZ-

ABGRENZUNG IN EINER PLURALISTISCHEN GESELLSCHAFT Von Heribert Franz Köck

I. Traditionelle Versuche einer Kompetenzabgrenzung Das Problem der Abgrenzung des - um in modernen Kategorien zu sprechen - kirchlichen vom staatlichen Bereich ist so alt wie das Bewußtsein, daß beide grundsätzlich nicht zusammenfallen 1 •

1. Kompetenzabgrenzung in einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft a) Der kirchliche Standpunkt Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob diese Bewußtseinsbildung im Christentum mit dem Wort Jesu, man möge dem Kaiser geben, was des Kaisers, Gott aber, was Gottes sei 2 , einsetzt oder erst eine Folge der 1 Für den antiken Staat, wie er uns vor allem in der Idealform der griechischen Polis gegenübertritt (dazu Verdross, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie [2. Aufl. 1948]) 1 ff. war dieses Zusammenfallen ein Axiom, gemäß welchem der "Verkehr mit den Göttern den Organen des Staatskultus vorbehalten" war. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (2. Aufl. 1963), 28. Freilich darf nicht verkannt werden, daß dieses Idealbild der Polis (dazu Heuss, "Hellas - Die klassische Zeit", Propyläen Weltgeschichte Irr [1962), 271 f.) mehr in den Schriften des Platon, in der Politeia und in den Nomoi (Verdross, Rechtsphilosophie, 32 ff.), und jenen des Aristoteles, in der Politik wie in der Nikomachischen Ethik (vgl. ibid., 43), denn in der Wirklichkeit existiert hat. Dazu auch Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 5 ff. und 18 ff. - "Der Humanismus des 19. Jahrhunderts", sagt Gigon, "Das hellenistische Erbe", PWG Irr, 587, "hat sich gern vorgestellt, daß der antike Mensch, Grieche wie Römer, ein durch und durch politischer Mensch gewesen sei; sein Leben sei aufgegangen im Leben der Gemeinschaft, in die er hineingeboren war ... ; ein Leben außerhalb der polis, der res publica, habe er sich im Grunde gar nicht vorstellen können ... Aber ... der vielzitierte Satz, der Mensch sei ein zoon politikon, spricht eine persönliche These des Aristoteles aus und ist keineswegs die Meinung der Griechen schlechthin. Für die Griechen Ist vielmehr charakteristisch, wie früh sie schon verstanden haben, sich die Ansprüche von Staat und Gemeinschaft vom Leibe zu halten." Das kann aber nicht verhehlen, daß die Besorgung des Kultes und damit Fragen des Religiösen eine staatliche Angelegenheit waren (vgl. Heuss, loc. cit., 268), und daß von einem freiheitlichen Rechtsstaat auch im demokratischen Athen des Perikles keine Rede sein konnte. (Ibid., 281.) Vgl. auch die Behandlung des Konflikts zwischen staatlichem Recht und Einzelgewissen in Sophokles' Tragödie Antigone. Dazu nochmals Verdross, Grundlagen, 34 ff. t Mt 22, 21; vgl. auch Mk 12, 17; Luk. 20, 25.

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Nichtannahme der Lehre Jesu durch die jüdische Obrigkeit gewesen ist3. Feststeht jedenfalls, daß den verschiedenen Aussagen im Neuen Testament, insbesondere bei Paulus4, aber auch bei Petrus 5 , noch keine systematischen überlegungen zugrundeliegen6 ; zumindest sind solche nicht erkennbar. Immerhin finden sich auch hier in der Praxis schon Ansätze zu einem passiven Widerstandsrecht7, wie es wohl für die Zeit der Christenverfolgungen überhaupt angenommen werden mußB und damit zu einer ersten Absteckung eines der staatlichen Reglementierung nicht offenstehenden Individualbereichs der Religion angesichts staatlicher Zwangsmaßnahmen führt, wenngleich sich ein aktives Widerstandsrecht zu jener Zeit noch kaum nachweisen läßt 9 • Eine solche mehr kasuistisch entwickelte Lehre von der (wie wir heute sagen würden) mangelnden Kompetenz des Staates in religiösen Dingen findet eine erste Systematisierung in den nur wenig nach Beginn der konstantinischen Epoche der Kirche mit Autorität vorgetragenen einschlägigen Lehren der Kirchenväter, insbesondere jener des hl. Ambrosius von Mailand, nach welchem der Kaiser in, nicht über der Kirche stehe lO • Die Feststellung ist wohl zulässig, die zu jener Zeit begonnene Auseinandersetzung über die Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat habe sich bis in unsere Tage fortgesetzt, wobei beide Seiten, die Kirche wie der Staat, ihre Ansprüche zwar mit wechselndem Erfolg, im allgemeinen aber mit durchaus gleichem, wenn auch immer mehr verfeinertem Instrumentarium vorgetragen haben. Entscheidend war dabei für diese Auseinandersetzung, daß sowohl die Kirche wie auch der Staat - letzterer jedenfalls seit der Staatsreligionswerdung des Christentums unter Theodosius d. Gr.1 1 - ursprünglich von einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft ausgegangen sind l2 • 3 Vgl. dazu Müller, "Jesus und die Sadduzäer", Biblische Randbemerkungen (Festschrift für Schnackenburg; hrsg. von Merk lein und Lange, 1974), 3 ff. f Röm 13, 1 ff.; Tit 3, 1. 5 1 Petr 2, 13 ff. 6 So auch Blinzler, "Staat in der Schrift", Lexikon für Theologie und Kirche [LThK] IX (2. Aufl. 1976), Sp. 995 ff., mit ausführlicher Literatur. 7 Vgl. Apg 4,19; 5, 29. Wir schließen dabei aus dem Verhalten auf die dahinter stehende Rechtsüberzeugung. 8 Vgl. Wul!, "Widerstandsrecht", LThK X (2. Aufl. 1965), Sp. 1092 ff. g Ibid., Sp. 1093. Vgl. dazu Rahner, H., Kirche und Staat im frühen Christentum (1961). 10 "Imperator enim intra Ecc1esiam, nun supra Ecc1esiam est." Migne, Patrologia latina XVI, 1028. Vgl. dazu Raab, "Kirche und Staat 1.", LThK VI (2. Aufl. 1961), Sp. 289: ,,[D]as eigentliche Problem Kirche - Staat ... begann [erstl, als das Imperium christlich wurde." Dazu Voigt, Staat und Kirche von Konstantin d. Gr. bis zum Ende der Karolingerzeit (1936); Plächl, Geschichte des Kirchenrechts I (2. Auf!. 1960), 118 ff. 11 Codex Theodesianus XVI I, 2; auch 2, 25. Vgl. Lippold, "Theodosius 1.", LThK X (2. Aufl. 1965), Sp. 50: "Die Glaubenseinheit, manifestiert in der

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Auf dieser Grundlage finden wie die weitestgehende Ausprägung des kirchlichen Standpunkts in den Ansprüchen Bonifaz' VIIpa, der sich dem römischen Volk abwechselnd in päpstlichen und in kaiserlichen Gewändern zeigte und ihm dabei zurief: "Ego Caesar, ego ImperatorP4", und ihre systematische Darlegung in der kurialen Zwei-Schwerter-Theorie t5 , nach welcher beide Schwerter (die geistliche und die weltliche Macht symbolisierend) dem Papst verliehen worden seien, welcher das zweite den Fürsten zur Ausübung übertragen habe, jedoch "ad nutum et patientiam sacerdotis"t6. Dieser kirchliche Standpunkt, der theoretisch noch durch Jahrhunderte aufrecht erhalten wurde 17, hat in der WirkStaatskirche, sollte zugleich Fundament der Reichseinheit werden." 392 wurde jeder heidnische Kult verboten. Codex Theodosianus XVI 10, 12. Vgl. dazu Baus, "Staat und Mission", Handbuch der Kirchengeschichte [HKG] lI/I (1973), 225 f. Der Gedanke des einen Glaubens (des katholisch-orthüdoxen), der gemeinsam mit der einen Sprache (der lateinischen) und dem einen Recht Grundlage des Imperiums sein sollte, wurde von Justinian nochmals zu verwirklichen gesucht. Vgl. dazu Dölger, "Justinianos", LThK V (2. Aufl. 1960), Sp. 1227 ff., und die dort angegebene Literatur. 12 "Religion und Staat kannten in der Spätantike nur ein grundsätzliches Zueinander. Es wäre revolutionär gewesen, wenn römischer Kaiser und Staat eine absolute Neutralität gegenüber den religiösen Kulten zum dauernden Grundsatz ihrer Politik gemacht hätten und an irgendwelchen Beziehungen zwischen Staat und Religion uninteressiert gewesen wären. Die Vorstellung von einem religiös notwendig neutralen Staat gegenüber einer pluraHstischen Gesellschaft ist für den Beginn des 4. Jh. anachronistisch." Baus, HKG I (1962), 477. Vgl. auch Berkhof, Kirche und Kaiser. Eine Untersuchung der byzantinischen und theokratischen Staatsauffassung im 4. Jh. (1947). 13 Vgl. dazu Wolter, "Die Krise des Papsttums und die Kirche im Ausgang des 13. Jahrhunderts (1274 - 1303)", HKG 1II/2 (1968), 344 ff., bes. 352 ff., mit ausführlichen Literaturhinweisen ibid., 340 f. Vgl. auch Mikat, "Bonifatius VIII.", LThK 11 (2. Aufl. 1958), Sp. 589 ff. 14 Vgl. von der Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates (1952), 79. 15 Vgl. Bernhm·d von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium !II, Liber IV, Cap. 3, Migne, PL CLXXXII, 776. 16 Zur umstrittenen Bulle Unam Sanctam (1302) vgl. Chenu, "Unam Sactam", LThK X (2. Aufl. 1965), Sp. 462, sowie die erläuternde Einleitung zu ihrem Teilabdruck in Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rubus fidei et mo rum (33. Auf!. 1965), 279. Schon Bonifaz' zweiter Nachfolger, Clemens V, milderte die Kirche-Staat-Theorie von Unam Sanctam in seinem Breve Meruit von 1306. Auch die Bestätigung der Bulle durch das Fünfte Lateranum (Pastor aeternus gregem, 1516) geschah "sine tarnen praeiudicio Declarationis Clementis V Meruit". Ibid., 355. 17 Wegbereiter einer systematischen überwindung war vor allem Robert Bellarmin mit seiner 1610 verfaßten Schrift De potestate Summi Pontificis in rebus temporalibus, wo er gegen die früher verfochtene potestas directa in temporalibus-Lehre die Auffassung von einer bloßen potestas indirecta in temporalibus verfocht. Vgl. Jedin, "Religiöse Triebkräfte und geistiger Gehalt der katholischen Erneuerung", HKG IV (1967), 567. Der erste Band seiner Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos (1586) war bereits in dieselbe Richtung gegangen und deshalb beinahe indiziert worden. Vgl. Tromp, "Bellarmin", LThK II (2. Aufl. 1958), Sp. 161. Dazu ders., "De evolutione doctrinae potestatis indirectae Romani Pontificis", Act. Congr. Iur. Intern. 1934 (1936). Es kann wenig Zweifel beste-

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lichkeit niemals volle Entsprechung gefunden; die geschichtliche Entwicklung in Europa ließ ihn in der Praxis mehr und mehr zurücktreten18 • b) Der staatliche Standpunkt Der von einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft ausgehende staatliche Standpunkt ist grundsätzlich schon in der Polis der Antike vorgezeichnet, wo staatliche und religiöse Einheit zusammenfielen und die Verletzung religiöser Gesetze staatliche, die staatlicher Gesetze aber religiöse Sanktionen nach sich ziehen konnte 19 • Diese grundsätzliche Tendenz zum totalitären Staat, der auch in Religionssachen die Gesetze vorschreibt, war im römischen Reich vor Konstatin so gut wie nach ihm gegeben 20. Das Eingreifen der oströmischen Kaiser21 in kirchliche Glauhen, daß die Verschleppung seines Kanonisationsprozesses, der erst 1930 abgeschlossen wurde, u. a. auf diese Lehre zurückzuführen ist. 18 Dazu trug einerseits die Desintegration des politischen Quasi-Universalismus des hohen Mittelalters in Westeuropa (vgl. hiezu von der Heydte, op. cit., 28 ff. und 41 ff., der darauf hinweist, daß die Unabhängigkeit der französischen Krone vom römischen Kaisertum erst 1202 durch den Hl. Stuhl anerkannt wurde libid., 66]) mit der Ausbildung der Nationalstaaten bei. Vgl. dazu Merzbacher, "Europa im 15. Jahrhundert", PWG VI (1964), 375 ff.; dann Iserloh, "Kirchenbegriff und Staatsidee in der Polemik des 14. Jahrhunderts. Der laizistische Staat bei Marsilius von Padua", HKG III/2, 438 ff. Dazu kam eine innerkirchliche Entwicklung, die die Stellung der kirchlichen Zentralgewaltbisher entscheidender Träger der kirchlichen Rechtsansprüche gegenüber dem Staat, zu schwächen geeignet war: das päpstliche "Exil" in Avignon (dazu Fink-Iserloh-Glazik, "Die Päpste in Avignon", HKG III/2, 365 ff.), das große abendländische Schisma und der daraus erwachsene Konzilarismus (dazu FinkIserloh, "Das abendländische Schisma und die Konzilien", ibid., 490 ff.) und die Reformation (dazu Lutz, "Der politische und religiöse Aufbruch Europas im 16. Jahrhundert", PWG VII [1967], 25 ff.; Iserloh-Jedin, "Die protestantische Reformation", HKG IV [1967], 3 ff.), schließlich der Konfessionspluralismus und die Aufklärung (dazu Schalk, "Die europäische Aufklärung", PWG VII, 467 ff.; Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung [1961]; Raab-Köhler-Cognet-Stasiewski-MüHer-Schneider, "Staatskirchenturn und Aufklärung", HKG V [1970], 353 ff.). Vgl. dazu auch Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls (1975), 185 ff. IV Das klassische Beispiel hiefür ist der Prozeß Sokrates (staatliche Verurteilung wegen Asebie); dazu Kuhn, "Sokrates", LThK IX (1964), Sp. 858. Vg!. auch Verdross, Rechtsphilosophie (2. Auf!. 1963),27 ff. 20 In der vorkonstantinischen Aera war es vor allem der Kaiserkult, an dem der prinzipielle Konflikt zwischen dem Reservatsanspruch des Christentums und dem Totalanspruch des römischen Staats ausbrach. Vgl. dazu Baus, "Die beginnende Auseinandersetzung zwischen Christentum und römischer Staatsmacht", HKG I (1961), 148 ff., sowie ibid., 249 ff. ("Der Angriff der heidnischen Staatsgewalt auf die Organisation der Kirche") und 433 ff. ("Letzter Ansturm des Heidentums"). Zum Kaiserkult vgl. auch den gleichnamigen Beitrag von Pax in LThK V (2. Auf!. 1960), Sp. 1251. 21 Raab, "Kirche und Staat 1. Geschichte - 1. Im hellenistisch-römischen Kulturkreis", LThK VI, Sp. 289, spricht ausdrücklich von der "Auffassung, daß der christliche Kaiser mit von Gott verliehener Macht als Wahrer kirchlicher Einheit und Verteidiger der Rechtgläubigkeit auch Bischöfe und Kirche regiere"; dies stelle "in gewissem Sinne eine Repristination der antiken Reli-

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bensstreitigkeiten22 legen davon Zeugnis ab. Eine Unterbrechung erfuhr diese Entwicklung lediglich in Westeuropa im hohen Mittelalter, weil sich hier Kirche und Staat für kurze Zeit als eine - u. a. vom Kreuzzugsgedanken 23 stark geförderte - Einheit verstanden, als das eine Corpus universale christianum 24, sodaß es Kompetenzkonflikte allenfalls zwischen zwei verschiedenen Gewalten in diesem Corpus, nämlich Papsttum und Kaisertum (von denen die eine die andere aber nie grundsätzlich in Frage stellte) geben konnte. Der Zerfall dieses Corpus universale christianum 25 - das ohnedies nicht eigentlich universal genannt werden konnte26 - seit dem späten Mittelalter27 bringt aber in der Renaissance eine Rückbesinnung auf den Staat der Antike und damit erneut einen Rückgriff auf das totalitäre Bild des Staates, der den Menschen als ganzen erfaßt28 • In der Neuzeit finden wir dann eine Reihe von Konzepten, die alle die Staatsräson zur obersten Maxime und den Staat damit totalitär machen. Für den angelsächsischen Raum ist hier besonders Thomas Hobbes 29 , für den kontinental europäischen Jean Jacques Rousseau 3o zu nennen. Vom gionsherrschaft dar". Vgl. dazu auch Dölger, "Byzantinisches Kaisertum", LThK V, Sp. 1245 ff. Vgl. schließlich Baus, "Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Staat im 4. Jahrhundert. Die Reichskirche", HKG lI/I (1973),80 ff. zz Vgl. den bei Athanasios, Geschichte des Arianismus, überlieferten Ausspruch des Kaisers Konstantius aus 355: "Was ich will, hat als kirchliches Gesetz zu gelten." Bei Baus, ibid., 85. 23 Zahlreiche auf die durch den Kreuzzugsgedanken ins Leben gerufenen Ritterorden bezügliche Dokumente bei Fischer, A Collection of International Concessions I und II (1975). Vgl. dazu Kempj, "Papsttum, heilige Kriege und erster Kreuzzug", HKG III/l (1966), 506 ff,; vgl. auch ibid., 397, sowie Wolter, "Das Ende des Kreuzzugszeitalters", HKG III/2 (1968), 356 ff. Vgl. schließlich von der Heydte, op. cit., 232 ff. M

Ibid., passim.

Von ihm berichtet schon Bartolus de Saxojerrato, der diese Desintegration für eine Folge "unserer Sünden" hält. Tractatus represaliarum (1354). Bei Verdross, Völkerrecht (5. Aufl. 1964), 96. 28 Vgl. Verosta, "Geschichte des Völkerrechts", in: Verdross, Völkerrecht, 51 ("Die abendländische res publica christiana"). 27 Da die Gesellschaft aber auch im Mittelalter nur scheinbar weltanschaulich homogen war, und in Wirklichkeit neben der Orthodoxie verschiedene andere Strömungen existierten, wie auch die Ketzerbewegungen zeigen (vgl. hiezu Kempj, "Ketzer und Reformbewegungen bei Klerus und Laien [10001050]. Das Abendland an der Wende zum Hochmittelalter", HKG III/1, 388 ff.), kann auch im Mittelalter von einem totalitären Staat insofern gesprochen werden, als gegen diese Bewegungen Maßnahmen ergriffen wurden, die für einen totalitären Staat typisch sind. Vgl. weiter Wolter, "Häretische Bewegungen und die Anfänge der kirchlichen Inquisition", HKG III/2, 123 ff., und ders., "Häresie und Inquisition im 13. Jahrhundert", ibid., 263 ff.; Fink, "Die nationalen Irrlehren: Wyclif und Hus", ibid., 539 ff. 28 In diesem Sinn fordert Machiavelli, daß dem Staat alle Güter, sogar die eigene Seele, geopfert werden müsse. Vgl. Verdross, Rechtsphilosophie, 103. 2D Ibid., 113 ff. Vgl. auch Hampshire, The Age of Reason. Selected Writings of the 17th Century Philosophers (1956), 34 ff. 25

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19. Jahrhundert an zeigt sich - wohl in Zusammenhang mit der verminderten geistigen Ausstrahlung und der faktisch verminderten weltlichen Macht der Kirche 31 - ein immer radikalerer Zug zu totalitären Staatsmodellen32 , wobei es hier genügen mag, auf Fichte33 , HegeP4 und Marx 35 zu verweisen. Die praktischen, wenn auch durchaus nicht unmittelbar mit ihnen zusammenhängenden oder auf sie rückführbaren Pendants zu diesen Konzepten waren das landesherrliche Kirchenregiment der Reformation 36, das Staatskirchenturn der Aufklärung37 und seine Radikalisierung während der französischen Revolution mit der Dekretierung einer Religion der Vernunft 38 , das Staatskirchenturn der Restauration 39 sowie - nach einem "liberalen" Zwischenspiel 40 - die totalitären Regimes 4 \ des Faschismus 42 und des Kommunismus 43 . Vgl. Verdross, Rechtsphilosophie, 124 ff. So in Deutschland der Untergang der alten Reichskirche durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803; dazu von Aretin, Heiliges römisches Reich 1776 -1806 I (1967), 436 ff.; Raab, "Der Untergang der Reichskirche in der großen Säkularisation", HKG V, 533 ff. Dem entsprach in Frankreich die Zerschlagung der alten gallikanischen Kirche. Vgl. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, 198; Schmidlin, Papstgeschichte I (1933), 12 f.; von Aretin, Papsttum und moderne WeIt (1970), 30 ff.; Aubert, "Die Reorganisation der Kirche von Frankreich", HKG VI/I (1971),73 ff. 32 Vgl. u. a. Gurland, "Wirtschaft und Gesellschaft im "übergang zum Zeitalter der Industrie", PWG VIII (1960), 279 ff. 33 Vgl. Verdross, Rechtsphilosophie, 154 ff. 34 Vgl. Ibid., 157 ff. 35 Vgl. Ibid., 165 ff. 36 Vgl. dazu Simon, "Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der evangelischen Kirche", Handbuch des Staatskirchenrechts der BRD I (1974), 189 ff., bes. 191 f., und die dort, passim, angegebene Literatur. Vgl. schließlich allgem. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, 412, Anm. 39, und die dort angegebene Literatur. 37 Ibid., 186. Vgl. allgemein und grundlegend Ermacora, Allgemeine Staatslehre I (1970), 90 ff. ("Die Ideen vom Wesen des Staats und vom Staatsbegriff in Aufklärung und Liberalismus. "). 38 Michelet, Geschichte der französischen Revolution VIII (1847) (Bd. IV der deutschen Ausgabe), 349 ff. (Bei Köck, op. cit., 198). 39 Vgl. ibid., 323. Dazu illustrativ Hegel, Die kirchenpolitischen Beziehungen Hannovers, Sachsens und der norddeutschen Kleinstaaten zur römischen Kurie 1800 - 1846 (1934), passim. 40 Auch das als "juristischer Liberalismus" bezeichnete Konzept hat versucht, die Freiheit der Kirche zu zerstören. Dazu Köck, op. cit., 426 ff. Mit dem Namen dieser Art Liberalismus wird für immer das Andenken an die "KuIturkämpfe" des 19. Jahrhunderts, besonders den deutschen Kulturkampf, verbunden bleiben. Zu diesem vgl. Kissling, Geschichte des KuIturkampfes, 3 Bde. (1911 - 1916); dann Schmidt-Volkmar, Der KuIturkampf in Deutschland 1871 - 1878 (1971). Vgl. allgem. Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 135 ff. ("Die Säkularisierung des Staates"). 41 Vgl. Messner, Naturrecht (4. Aufl. 1960),727 ff., 840 f. 42 Vgl. Köck, op. cit., 429 ff. Dazu grundlegend Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 176 ff. ("Die Staatslehre des Nationalsozialismus und Faschismus"), 30

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c) Gemeinsames All diesen Auffassungen ist gemeinsam, daß sie vom Idealbild einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft ausgehen, d. h., Konzepte für das Verhältnis von Kirche und Staat in einer solchen Gesellschaft entwickeln, in der alle Staatsangehörigen in Fragen der Weltanschauung ganz allgemein, der Religion und der Kirche im besonderen, und damit auch bezüglich deren Verhältnis zum Staat, übereinstimmen. In einer derartigen homogenen Gesellschaft können allgemeingültige Kompetenzabgrenzungen zwischen Kirche und Staat versucht werden, deren Ergebnis sich letztlich nach einer von allen akzeptiertne Wertabwägung des Religiösen gegenüber dem Staatlichen und einer auf Grund des Ergebnisses entweder der Kirche oder dem Staat zugesprochenen Kompetenzkompetenz - als der Kompetenz zur Kompetenzabgrenzung im konkreten Fall - bestimmen wird. Dabei dürfte es aber in einer solchen Gesellschaft gar nicht zu einem Konflikt zwischen Staat und Kirche kommen, sodaß sich Kompetenzabgrenzung als formeller Akt nicht als Konfliktsbereinigung, sondern als harmonischer Erkenntnisvorgang darstellt - Harmonie der Gesellschaft mit sich selbst in ihren verschiedenen Aspekten, dem politischen wie dem religiösen. Wenn daher gerade in totalitären Regimes der Kampf gegen nicht zugelassene religiöse Gemeinschaften 44 oder gegen die Religion überhaupt45 ein Charakteristikum darstellt, so zeigt dies nur, daß diese totalitären Regimes die Homogenität der Gesellschaft entweder nur fingieren oder erst als Ziel setzen und die Auffassung jener, die sich dem offiziellen Standpunkt nicht anund die dort angegebene Literatur. Dazu auch Messner, Naturrecht (4. Auf!. 1960),30. 43 Vgl. Köck, op. cit., 431 ff. Vgl. allgemein Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 143 ff. ("Hegel, Marxismus-Leninismus über Staat und Staatsbegriff"), und die dort angegebene Literatur; weiter nochmals Verdross, Rechtsphilosophie, 157 ff. und 165 ff.; Messner, Naturrecht, 654. Vgl. auch Heer, Europa, die Mutter der Revolutionen (1964), 291 ff. Vgl. schließlich jüngst das von den Akademien der Wissenschaften der UdSSR bzw. der DDR herausgegebenen Werk Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechtes, 4 Bde. (1974 ff.). 44 Man denke hier insbesondere an die Ketzerverfolgungen (oben, Anm. 27) und die Einrichtung der Inquisition, die die Kirche im übrigen mit nichtchristlichen Staaten teilt. Vgl. dazu Closs-Mikat, "Inquisition", LThK V (2. Auf!. 1960), Sp. 698 ff. Die 1542 von Paul II!. geschaffene und 1588 durch Sixtus V. reorganisierte S. Congregatio Romanae et universalis Iiquisitionis bestand immerhin bis 1908. Mikat weist ibid., Sp. 702, mit Recht darauf hin, daß ,,[djie Praxis der Inquisition ... zu den dunkelsten Kapiteln der Kirchengeschichte zählt ... Die Geschichte der Inquisition ist zugleich für die Kirche eine ständige Warnung vor blindem Glaubenseifer und vor der unzulässigen Verquickung von kirchlicher und staatlich-politischer Zielsetzungen". (Hvhg. vom Verf.). 45 So bei den vom atheistischen Kommunismus geprägten Regimes. In Albanien etwa, dem "ersten atheistischen Staat der Welt", sind derzeit alle Gotteshäuser geschlossen und ist offiziell jede Religion unterdrückt. Vgl. dazu 22 Herder-Korrespondenz (1968), 292 ff. 6·

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schließen, als quantite negligeable vernachlässigen. Da die Möglichkeit der Existenz religiöser Dissenters (i. w. S. als weltanschauliche Abweichler verstanden)46 aber stets gegeben ist, bleibt die weltanschaulich homogene Gesellschaft eine Wunschvorstellung, mit deren Verwirklichung in der Praxis nicht gerechnet werden kann.

2. Kompetenzabgrenzung in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft Geht es beim Problem der Kompetenzabgrenzung in einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft letzten Endes um die Frage, welcher von den beiden Gewalten, der staatlichen oder der kirchlichen, die Kompetenzkompetenz zukommt, also letztlich gar nicht um eine Kompetenzabgrenzung, sondern vielmehr um die der Allkompetenzzuweisung oder Allkompetenzbestimmung bzw. -feststellung, so ist die Situation in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft 47 anders. Nur in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft, also in einer solchen, wo mehrere Weltanschauungen nebeneinander bestehen, kann das Problem der Kompetenzabgrenzung als Konfliktsbereinigung zwischen Kirche und Staat überhaupt auftreten, weil nur hier sich tatsächlich die Standpunkte von Kirche und Staat gegenüberstehen können. Nur wo Kirche und Staat organisatorisch nicht auf einen Nenner gebracht werden können4B 46 Nach der grund1egenden Studie von Kussbach, "Die Vereinten Nationen und der Schutz des religiösen Bekenntnisses", 24 (NF) Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (1973), 267 ff., wird - um alle Formen der Weltanschauung zu erfassen, worauf es ja ankommt - dort der Begriff des Religiösen sehr weit verstanden und umfaßt dieser "theistic and non-theistic religion, or belief concerning religion, including rejection of any or all such religion or belief". UN Doc. E/CN. 4/SR. 819, 6 - 7. (Auf 289 ff.) :7"Es muß betont werden, daß es hier um den weltanschaulichen Pluralismus in der Gesellschaft geht, der, vom Staat respektiert, auch zu einem politischen Pluralismus führt. Die Einzigartigkeit gerade des weltanschaulichen Pluralismus als nicht bloß eines Faktums des, sondern eines essentiellen Konstituens für den, Staat(s) wird überraschenderweise weithin nicht adäquat (ein) geschätzt ; auch Messner, Naturrecht, 651, sagt bloß (etwas farblos): "Es sind jedoch, wie manchmal angenommen wird, nicht nur wirtschaftliche Interessen und Klasseninteressen, die nach Einfluß auf die Gestaltung der staatlichen Funktionen drängen und den politischen Pluralismus bestimmen, sondern auch militärische, nationale, kulturelle Interessen und alle anderen, die in einem Staatsideal von einzelnen Gruppen der Gemeinschaft zum Ziel ihrer Bestrebunger gemacht werden können." Vgl. aber Schambeck, Kirche - Staat - Gesell· schaft (1967), 104: "Beurteilen wir daher den Pluralismus nicht negativ und sehen wir in der Diasporasituation der Kirche die Chance ständiger übung der christlichen Tugend der Toleranz im Sinne einer Erfüllung der Freiheit." Auch bei Ermacora, Allgemeine Staatslehre, kommt der Pluralismus nur als "Vielfalt von politischen Kräften" vor, denen das Individuum im Liberalismus preisgegeben ist (I, 94). Ansätze zu einer "Theologie des Pluralismus" bei Rahner, K., in seinem gleichnamigen Beitrag im LThK VIII (2. Aufl. 1963), Sp. 566 f. Vgl. auch die dort angegebene Literatur. über Pluralismus, Neutralität und Toleranz vgl. auch Scheuner, "Offene Neutralität im pluralistischen Staat", HbStKR 1(1974),61 ff.,und die dort angegebene Literatur.

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und sich die Vertreter eines "kirchlichen" und eines "staatlichen" Standpunktes gegenüberstehen, wird Kompetenzabgrenzung als Absteckung jenes Bereiches notwendig, in dem Selbstbestimmung 49 geübt wird. In einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft dagegen ist der Staat entweder eine Funktion der Kirche 50 oder die Kirche eine Funktion des Staates 51 , so daß von der Abgrenzung der Kompetenzen zweier einander gegenüberstehender Gewalten überhaupt nicht gesprochen werden kann 52 • In Zusammenhang mit der Kompetenzabgrenzung in einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich nun, daß eine solche sowohl von einem "kirchlichen" als auch von einem "staatlichen" Standpunkt aus versucht worden ist, und zwar vor allem seit der Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum Teil aber auch schon früher, wo sich die Vorstellung einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft nicht einmal mehr als Fiktion erhalten ließ, und die Gesellschaft im Bewußtsein des weltanschaulichen Pluralismus sich auch zu ihm zu bekennen begann53 • a) Der kirchliche Standpunkt Die Tatsache einer pluralistischen Gesellschaft wurde - wengleich durchaus mit verschiedener Bewertung - sowohl von der Kirche wie vom Staat akzeptiert und die vom jeweiligen Standort aus vorgenommene neue Kompetenzabgrenzung daran orientiert. Der offizielle Durchbruch zu einer "moderneren" kirchlichen Doktrin in diesem Punkte er48 Zwar kannte auch der "christliche" Staat Konflikte zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt, doch wurden dieselben theoretisch durch eine Delegationskonstruktion zu überwinden gesucht, indem man die weltliche Gewalt entweder direkt aus der geistlichen ableitete (letztere die erstere also unmittelbar delegieren sollte [so im Mittelalter; vgl. oben)) oder sie doch indirekt durch letztere kontroHiert sein ließ (was einer Gewaltenkontrolle gleichkam und im Derogationsproblem ebenfalls eine [eben indirekte] Delegationsfrage aufwarf). 48 Vgl. dazu Art. 15 (österr.) StGG 1867: "Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen." Vgl. dazu Gampl, österreichisches Staatskirchenrecht (1971), 26 ff. Dann Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichs-Verfassung, der durch Art. 140 Bonner GG Bestandteil desselben geworden ist. Vgl. Hollerbach, "Die verfassungsrechtHchen Grundlagen des Staatskirchenrechts", HbStKR I (1974), 21 ff. Dazu Scheuner, "Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften und seine Grenzen", ibid., 76 ff. 50 Kirchenstaatsturn. 51 Staatskirchentum. Vgl. auch Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 137 f. 52 Die klassische Darstellung des letztgenannten Konzeptes findet sich schon bei Pufendorf, De habitu religionis ad vitam civilem (1687). Dazu Köck, op. cit., 411 ff. 53 Vgl. dazu Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 135 ff.

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folgte unter dem Pontifikat Leos XIII., der in seiner Enzyklika Immortale Dei aus 1885 54 dem Staat zugestand, daß er auf seinem Gebiet - so wie die Kirche auf dem ihren - die höchste Gewalt besitze. Die leonini-

schen Lehren von Kirche und Staat wurden vor allem unter Pius XII. weiter vertieft 55 und vom Zweiten Vatikanum 56 - allerdings nur teilweise 57 - wieder aufgenommen und verfeinert 58 •

Es ist hier nicht der Ort, den kirchlichen Standpunkt im einzelnen darzulegen; dies wäre in diesem Zusammenhang auch durchaus überflüssig. Es genügt vielmehr, sich seine zwei Grundthesen vor Augen zu halten. Die erste geht davon aus, daß Kirche und Staat von ihrer Zwecksetzung her verschiedene Gemeinschaften sind, die beide prinzipiell mit 54 18 ASS (1885/86), 162 ff. Auszugsweise bei Denzinger-Schönmetzer, Enchiirdion symbolorum, 618 ff., Nos. 3165 ff. Vgl. ibid., No. 3168: "Itaque Deus humani generis procurationem inter duas potestates partitus est, seilicet ecclesiastieam et civilem, alteram quidem divinis, alteram humanis rebus praepositam. Utraque est in suo genere maxima." Vgl. dazu Mörsdort, "Kirche und staat 11 - Grundsätzliches", LThK VI (2. Aufl. 1961), Sp. 295 f. 55 In einer Ansprache vom 1. Juni 1941 reklamierte dieser Papst für die Kirche das Recht, "in denjenigen Belangen des sozialen Lebens, die an da,s Gebiet der Sittlichkeit heranreichen oder es schon berühren, darüber zu befinden, ob die Grundlagen der jeweiHgen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewigen göttlichen Ordnung übereinstimmen, die Gott, der Schöpfer und Erlöser, durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan hat." 33 AAS (1941), 239 f. (Hvhbg. vom Verf.). 56 Vgl. die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 58 AAS (1966), 1025 ff., Zweiter Teil, Viertes Kapitel, Art. 76. 57 So anerkennt die Dogmatische Konstitution über dde Kirche Lumen gentium, 57 AAS (1965), 5 ff., im Vierten Kapitel, Art. 36, "daß die irdische Gesellschaft mit Recht den weltlichen Bestrebungen zugeordnet ist und darin von eigenen Prinzipien geleitet wird". Daher: "Um der Heilsökonomie selbst willen sollen die Gläubigen genau zu unterscheiden lernen zwdschen den Rechten und Pflichten, die sie haben, insofern sie zur Kirche gehören, und denen, die sie als Glieder der menschlichen Gesellschaft haben." Deutscher Text zit. nach der im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgten, von ihnen genehmigten verbesserten Fassung von 1966, LThK - Das Zweite Vatikanische Konzil I (1966), 157 ff., auf 279. In der Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 58 AAS (1966), 929 ff., Art. 7, wird der Staatsgewalt das Recht eingeräumt, der Ausübung der Religionsfreiheit unter Beobachtung der "objektiven sittlichen Ordnung" Grenzen zu ziehen, ,,[d]a die bürgerliche Gesellschaft außerdem das Recht hat, sich gegen Mißbräuche zu schützen, die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit vorkommen können". Deutscher Text zit. nach der im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgten, von ihnen genehmigten, leicht verbesserten Fassung von 1967, LThK - Das Zweite Vatikanische Konzil 11 (1967), 729. 58 Die größere Differenziertheit der Lehren des Zweiten Vatikan'llms unter wesentlicher Beibehaltung der traditionellen Position seit Leo XIII. in diesem Punkt besteht z. B. darin, daß dem Staat nicht mehr eine "höchste" Gewalt zugesprochen wird, sondern nur eine von der Kirche unabhängige. "Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind je auf ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom." Gaudium et spes, Zweiter Teil, Viertes Kapitel, Art. 76; deutscher Text zit. nach der im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgten übersetzung, LThK - Das Zweite Vatikanische Konzil 111 (1968), 281 ff., auf 531.

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allen Mitteln zur Erreichung ihrer Ziele ausgestattet sind und insoweit als vollkommene Gemeinschaften sich selbst genügen59 • Die erste These ist daher jene der Unabhängigkeit von Kirche und Staat voneinander60 • Eine potestas directa in temporalibus kommt - im Gegensatz zum früheren kirchlichen Standpunkt - der Kirche also nicht mehr ZU61 • Die zweite These geht von der Tatsache aus, daß die Kirche und der Staat als Glieder ihrer Gemeinschaft dieselben Menschen erfassen62 , und hat die Erfahrung zur Grundlage, daß es in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft zwischen Staat und Kirche zu Meinungsverschiedenheiten darüber kommen kann, wieweit sich der legitime Anspruch der einen oder der anderen Gemeinschaft - sei es des Staates, sei es der Kirche - im konkreten Fall tatsächlich erstreckt. Materiell vertritt 59 Zur so ci etas perjecta-Lehre vgl. historisch: Thomas von Aquin, Summa theol. lI/I, qu. 90, 3, ad 3; Tarquini, Iuris publici ecclesiastici institutiones (1862 und öfter); Köck, op. cit., 420 ff. Auf der Grundlage von Immortale Dei (1885) findet sich die klassische Darstellung der kirchlichen Lehre von der vollkommenen Gemeinschaft bei Ottaviani-Damizia, Institutiones iuris publici ecclesiastici I (4. Aufl. 1958), Pars I, Tituli I - III. 60 Nach Gaudium et spes besitzt die politische Gemeinschaft (der staat) ein Eigenrecht, das sich aus dem Begriff des Gemeinwohls ableitet (Art. 74). Vgl. dazu und zum Verhältnis von Kirche und staat (Art. 76) den Kommentar von von NeH-Breuning, Quelle wie Anm. 58, 520 ff. 61 Wohl noch weiter geht Gaudium et spes in dem grundsätzlichen Zugeständnis, daß sich ,,[d]ie ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, ... nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich [erstreckt]: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an". Erster Teil, Viertes Kapitel, Art. 42. Dabei wird auf Pius' XII. Ansprache an Historiker und Archäologen vom 9. März 195-6, 48 AAS (1956), 212, verwiesen. Diese Aussage ist besonders wichtig für den im Vierten Kapitel des Zweiten Teils ausgesprochenen Anspruch der Kirche, "ihre Soziallehre kundzumachen" (ibid., 533); dies kann im Sinn von Art. 42 nicht als in eigener Sendung geschehen, sondern nur als "Dienst an allen" betrachtet werden. Der Kommentar von Congar, ibid., 397 ff., verwischt hier mehr als er klarstellt, wenn er darauf hinweist, es werde in der Konstitution von einer religiösen, nicht von einer rein geistlichen Sendung der Kirche gesprochen, wobei das "Religiöse" als dasjenige, was den lebendigen Gott betrifft, das ganze Schicksal des Menschen erfasse. Damit wäre nämlich die Eigenständigkeit des "weltlichen" als jenes Bereiches, der nicht von der Sendung der Kirche erfaßt ist, aufgehoben. Tatsächlich ist nämlich die Kompetenz der Kirche zwar eine im Bereich der religiösen Ordnung, doch erfaßt sie dieselbe nicht total, sondern nur insoweit, als sie die Menschen im Auftrag Christi lehrt, "alles zu halten, was ich euch geboten habe" (Mt. 28. 20). Es handelt sich also nur um die (notwendigsten, sich aus der Offenbarung ergebenden) Wegzeichen im religiösen Bereich, nicht um ein denselben erfassendes Gesamtsystem. Dazu vgl. Köck, "Zur Frage der Zuständigkeit der Kirche für das Naturrecht", Messner-Festschrift 1976, 75 ff., auch 87 ff. 62 "Beide [Staat und Kirche] ... dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen ... Der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er ungeschmälert seine eigene Berufung." Gaudium et spes, Art. 76. (ZU. nach der in Anm. 58 gegebenen Quelle, 531.)

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die Kirche in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß ein etwaiger Konflikt durch Rekurrieren auf die der Kirche bzw. dem Staat ihrer Natur nach1l3 zukommenden, aus ihren Zwecken ableitbaren und damit immanenten Kompetenzen beigelegt werden kann 64 • Der Kompetenzkonflikt zwischen Kirche und Staat findet also dadurch seine Lösung, daß jene Gewalt, die in concreto ihre Kompetenzen überschritten hat, sich hinter die ihr von der Natur der Sache65 her gezogenen Linien zurückzieht. Formell dagegen begehrt die Kirche - für den Fall, daß zwischen ihr und dem betreffenden Staat im Einzelfall kein Einvernehmen darüber erzielt werden kann, wo die Grenzlinien der Kompetenzen verlaufen - die letzte Entscheidung für sich66 und begründet dies mit dem Vorrang der spirituellen von den temporalen Zwecken67 • Die zweite These ist daher jene der Kompetenzkompetenz der Kirche in Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat68 • 83 Für den Staat: "Offenkundig sind also die politische Gemeinschaft und die öffentLiche Autorität in der menschlichen Natur begründet und gehören zu der von Gott vorgebildeten Ordnung ... " Gaudium et spes, Art. 75 (zit. nach ibid., 523). Für die Kirche: " ... Christus hat seine heilige Kirche ... hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfaßt und trägt sie unablässig ... " (Lumen gentium, Art. 8). ,,[Christus) hat sie ... mit geeigneten Mitteln sichtbarer und gesellschaftlicher Einheit ausgerüstet." (Ibid., Art. 9.) (Zit. nach der in Anm. 57 gegebenen Quelle, 181). " [D)ie Kirche [hat] das endzeitliche Reich zum Ziel ... " Gaudium et spes, Art. 40. (Zit. nach der in Anm. 58 gegebenen Quelle, 405.) Die klassische Zweck-Mittel-Lehre bei Ottaviani-Damizia, Institutiones I, 33 ff. 64 ,,[C]onflictus qui oritur inter Ecclesiam et Statum ... est conflictus non inter iura Ecclesiae et iura Status, sed est lucta moraHs inter ius et ini'llriam ... " Ibid., 121. (Hvhbg. im Original.) 65 Zum Begriff der Natur der Sache vgl. grundlegend Schambeck, "Der Begriff der ,Natur der Sache"', 10 (NF) ÖZöR (1960), 452 ff., und vor allem: Der Begriff der "Natur der Sache". Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung (1964). 88 Ausdrücklich stellen Ottaviani-Damizia, Institutiones I, 130, als Principium I fest: "In conflictu inter societates formaliter distinetas: A. superior, seu quae finem altioris ordinis habet, praevalere debet; B. eidemque competit iudicium ferre de ipsius conflictus terminis et solutione. " 87 Vgl. ibid., 11 (1960), passim, und bes. 136: "Indirecta subordinatio potestatis temporalis ad potestatem spiritualem est immediatum et logicum consectarium relationis iuridicae subordinationis indirectae finis temporalis (Status) ad finem spiritualem (Ecc1esiae). Societates enim sunt ut fines." Zur Konkordatspraxis der Kirche, die es in Anspruch nimmt, bei Aussichtslosigkeit einer einvernehmlichen Lösung die Auslegung der strittigen Bestimmung oder die Entscheidung der im Zusammenhang mit dem Konkordat sonst aufgetretenen Streitfragen verbindlich zu regeln, vgl. Köck, op. cit., 342, der sich wiederum auf Ottaviani-Damizia, Institutiones 11, 319, stützt. 88 In den Aussagen des Zweiten Vatikanums findet sich diese These allerdings zumindest nicht explizit; jene Stelle in Gaudium et spes (Zweiter Teil, Viertes Kapitel, Art. 76), wo die Kirche nicht nur das Recht in Anspruch nimmt, "in wahrer Freiheit den Glauben zu verküriden", sondern auch "politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen", bietet sich allerdings für eine diesbezügliche Heranziehung an. (Zit. nach der in Anm. 58 gegebenen Quelle, 533.)

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Damit zeigt sich aber, daß die in der ersten These verkündete Unabhängigkeit von Kirche und Staat voneinander nur eine relative ist, und daß die Kirche auch in der pluralistischen Gesellschaft nach ihrer bisherigen Doktrin eine Art potestas indirecta in temporalibus für sich behauptet69 • Daß sich diese Auffassung hart an der Wirklichkeit stößt, eben weil in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft der hinsichtlich seiner Kompetenz eine andere Auffassung vertretende Staat sich nicht am Selbstverständnis der Kirche orientieren wird, bleibt selbstverständlich den Vertretern dieser Auffassung nicht verborgen7o • Daß jedoch der Kompetenzkompetenzanspruch der Kirche auch in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft nur durch Rückgriff auf eben dieses eigene Selbstverständnis begründbar ist und damit in einer für die plurealistische Gesellschaft durchaus inadäquaten Weise geschieht71 , ist offenbar in den die kirchliche Doktrin tragenden Kreisen bisher weithin nicht erkannt worden oder hat doch in der kirchlichen Lehre keinen Niederschlag bzw. zumindest keine entsprechende Berücksichtigung gefunden 72 • Auch das Zweite Vatikanum hat gerade in diesem Bereich zwar Weichen gestellt 73 ; eine vollständige Ausarbeitung der neuen Theorie S8 So auch Ottaviani-Damizia in Zusammenhang mit dem "nichtkatholischen" Staat: die Grundsätze seines Verhältnisses zur Kirche sind d~eselben wie die des "katholischen" Staates ("salvis utique principiis")j Zugeständnisse werden nur in der Praxis gemacht. Verletzt aber ein nichtkatholischer Staat die Rechte der Kirche auf Durchführung ihrer Mission mit allen ihr notwendig erscheinenden Mitteln, so verstößt er gegen das Naturrecht (II, 178 und 182). Da aber die Kirche selbst beurteilt, was ihr nötig ist, grenzt sie auch hier wiederum die Kompetenz des Staates von der eigenen selbst ab. - Die Schwierigkeit mit der kirchlichen Doktrin besteht darin, daß diese bis in die jüngste Zeit vom "katholischen" Staat als dem Normalfall ausgegangen ist und den nichtkatholischen nur en passant behandelt hat. Der einzige echte, hier aber nicht ins Gewicht fallende Unterschied dürfte aber in Zusammenhang mit dem uns hier interessierenden Problem darin liegen, daß die Kirche gegenüber dem katholischen Staat Kompetenzkompetenz iure divino positivo, gegenüber dem nichtkathoLischen Staat aber iure divino naturali beansprucht. 70 "Practice tarnen aliter res se habet." Ottaviani-Damizia, Institutiones II, 178. 71 So sagt Rahner, K., "Pluralismus", loc. cit., Sp. 566 ff., es sei "deutlich, daß Gott in seiner absoluten, universalen Macht und allseitigen Verfügung in der Welt keinen Stellvertreter hat, weder den Staat, noch die Kirche. Alle Gottes Hoheit repräsentierenden Mächte (die es je in ihrer Art gibt!) sind regionale Mächte, deren faktisches Zusammenspiel ... letztlich Geheimnis der souveränen Vorsehung Gottes bleibt." (Hvhbg. im Orig.) 72 Richtig sagt aber Mörsdorj, "Kirche und Staat 11. Grundsätzliches", LThK VI (2. Aufl. 1961), Sp. 297: "Die Eintracht der beiden in ihrem Bereich höchsten Gewalten kann nicht durch ein System der überordnung der einen über die andere gefunden werden." 73 Vgl. Gaudium et spes, Zweiter Teil, Viertes Kapitel, Art. 76: "Sehr wichtig ist besonders in einer pluralistischen Gesellschaft, daß man das Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche richtig sieht ... " (Zit. nach der in Anm. 58 gegebenen Quelle, 529.) Von Nell-Breuning sagt dazu in seinem Kommentar (loc. cit., 529): "Wenn Leo XIII. vom Verhältnis der beiden [Kirche und Staatj Anm. des Verf.] handelt, unterstellt er den christlichen

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aber nicht selbst vorgenommen und damit fürs erste der Wissenschait überlassen. b) Der staatliche Standpunkt Der moderne staatliche Standpunkt läßt sich wohl in seiner Theorie und Praxis bereits bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, wenn wir die Lehren John Lockes von einer Demokratie mit Freiheitsrechten74 und die versuchte Nachahmung des Lockeschen Konzeptes durch die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1789/91 in Betracht ziehen 75. In Europa war es vor allem die altliberale These von der "freien Kirche im freien Staat"76, die ihren Niederschlag in den sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrenden Grundrechts- und -freiheitskatalogen fand. Als Beispiel verweisen wir hier auf das österreichische Staatsgrundgesetz von 1867 77 • Diese Konzeption ist auch im 20. Jahrhundert weithin gültig geblieben. Dies zeigt nicht nur die übernahme des alten Grundrechtskatalogs in die (neue) österreichische Bundesverfassung 78, sondern auch die Grundrechtskonzeption der Weimarer Verfasfung 79 und selbst jene des Bonner Grundgesetzes8o. Staat, genauer gesprochen den katholischen Glaubensstaat; welche Abwandlungen sich ergeben, wenn der Staat diesen Vorstellungen nicht entspricht, muß man sich auf eigene Verantwortung ausdenken; auf diesen nicht sein sollenden Zustand und die aus ihm zu ziehenden Folgerungen ging Leo XIII. nicht ein. Auch seine Nachfolger blieben im wesentlichen dieser Linie treu; so noch Pius XII. in seiner Lehre von der Toleranz ... Von einer grundlegend anderen Voraussetzung geht das Konzil aus. Es akzeptiert die weltanschaulich pluralistische Gesellschaft zwar nicht als Idealfall, wohl aber unter den heutigen Umständen als den NormalfalL So zielt gleich die erste Aussage, die es über das Verhältnis von Staat und Kirche macht, zwar nicht allein, aber doch vorzugsweise auf die pluralistische Gesellschaft ... " 7. Dazu Isaiah (Hrsg.), The Age of Enlightment. The 18th Century Philosophers (1956), 30 ff. Dazu Verdross, Rechtsphilosophie, 122 ff.; ZippeHus, Geschichte der Staatsideen (1971), 106 ff. 75 Vgl. dazu Elliott, The Debates, Resolutions, and Other Proceedings, in Convention, on the Adoption of the Federal Constitution. 5 Bde., 1827 - 45, Neuauflage 1937; Perry, Sources of Our Liberties (1959); Rutland, The Birth of the Bill of Rights, 1776 - 1791 (1955); Sutherland, Constitutionalism in America: Origins and Evolution of the Fundamental Ideas (1965). 76 Zu dieser Formel vgl. Messner, Naturrecht (4. Aufl. 1960), 769'; die traditionellen kirchlichen Argumente dazu aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanum bei Ottaviani-Damizia, Institutiones 11, 77 ff. ("Liberalismus et systema separationis"). Vgl. auch Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 138 ff. 77 Vgl. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte (1963), 350 ff. und 376 ff. 78 Vgl. ibid., 2 f.; ders., Österreichische Verfassungslehre (1970), 358. Vgl. auch Klecatsky- WeHer, Österreichisches Staatskirchenrecht (1958), Gampl, Staatskirchenrecht, 2, Anm. 2. 78 Listl, "Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit", HStKR I (1974), 402 ff.; Hesse, "Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften", ibid., 420 ff. Es ist interessant anzumerken, daß man mit Artikel 140 Bonner GG, nach dem ,,[d]ie Bestimmungen der Art. 136, 137, 138,

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Auch hier wiederum lassen sich aus Praxis und Lehre zwei Thesen für den staatlichen Standpunkt ableiten. Die erste ist jene der Freiheit der Kirche vom Staat. über die theoretische Grundlage dieser These besteht jedoch weithin keine Einigkeit. Vielmehr stehen sich hier zwei Auffassungen diametral gegenüber, von denen die eine davon ausgeht, daß diese Freiheit eine der Kirche vom Staat erst (und damit frei) gewährte S1 sei, während die andere Auffassung der Kirche diese Freiheit als eine ursprüngliche zuspricht, die der Staat lediglich nachträglich anerkennt 82 • Die betreffenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind im allgemeinen so gefaßt, daß sie beide Deutungen zulassen s3 ; nur in Einzelfällen - etwa in der italienischen Verfassung84 - ist die Formulierung eine derartige, daß sie selbst erkennen läßt, von welcher theoretischen Konzeption der Verfassungsgesetzgeber ausgegangen ist. Im Rahmen des "staatlichen" Standpunkts ist es daher materiell strittig, ob der Staat und die Kirche oder nur der Staat allein als eine unabhängige Gewalt anzusehen sei(en). Formell nimmt es der Staat, geleitet vom Gedanken seiner Verpflichtung zur Verwirklichung des Gemeinwohls, für sich in Anspruch, dem Wirken der Religionsgemeinschaften durch 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 [d. h. der Weimarer Reichsverfassung; Anm. des Verf.] ... Bestandteile dieses Gesetzes" sind, eine ähnliche Verlegenheitslösung geschaffen hat, wie in Österreich 1920. Vgl. dazu statt vieler Listl, "Staat und Kirche in Deutschland. Vom Preußischen Allgemeinen Landrecht bis zum Bonner Grundgesetz", 6 Civitas (1967), 117 ff. 80 Vgl. Hollerbach, "Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts - 1. B. Die Entstehungsgeschichte", HStKR I (1974), 218 ff. Vgl. auch Mörsdorf, "Kirche und Staat - Gegenwärtige Rechtslage in Deutschland", LThK VI (2. Aufl. 1961), Sp. 297 ff. 81 So sagt Gampl, Staatskirchenrecht, 171, daß kirchliche Selbständigkeit zu verstehen sei "als die völlige Unabhängigkeit vom Staate, die jedoch allein schon dadurch relativiert ist, daß der Staat es ist, der sie gewährt und garantiert". 82 So sagt Scheuner, "Das System der Beziehungen von Staat und Kirche im Grundgesetz. Zur Entwicklung des Staatskirchenrechts", HStKR I (1974), 5 ff., auf 8: "Innerhalb der staatlichen Rechtsordnung zeigt das Gebiet des Staatskirchenrechts auf Grund der Natur seines Gegenstandes gewisse besondere Charakterzüge. Ein erstes, spezielles Merkmal liegt in dem Umstand begründet, daß es die Erscheinungen der religiösen und weltanschaulichen Gruppen nur einer partiellen Regelung unterstellt. Es fügt sie in die staatliche Ordnung ein, greift aber nicht in das innere Leben der Religionsgemeinschaften ein. Dieser bleibt vielmehr ein vom Staat anerkannter Raum der weltanschaulichen Selbstbestimmung." (Hvhbg. vom Verf.) 83 Daher sagt auch Scheuner, ibid., 6 f., über den "Bestand des Staatskirchenrechts, wie wir ihn in der deutschen Entwicklung, aber auch in der Schweiz, in Österreich und Italien und anderen Ländern kennen, ... [: er] bildet einen Teil der staatlichen Rechtsordnung, stellt die vom Staat gegebene und anerkannte Ordnung dar, ohne auszuschließen, daß Teile dieses Bereiches auch durch vertragliche Einigung zwischen Staat und Kirche geregelt werden können." Man beachte die zweideutige Wendung "gegeben und anerkannt". 84 So heißt es in Art. 7, Abs. 1, der italienischen Verfassung vom 27. Dezember 1947: "Lo Stato e la Chiesa cattolica sono, ciascuno nel propria ordine, indipendenti e sovrani."

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seine Gesetze85 Grenzen zu ziehen und damit die Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Kirche mit letzter Verbindlichkeit vorzunehmen. Diese zweite These, daß nämlich vom "staatlichen" Standpunkt aus die Kompetenzabgrenzung beim Staat liegen müsse, stellt für die Staatsrechts- und Staatskirchenrechtslehre offenbar ein Axion dar, das eine weitere Reflexion nicht mehr erheischt86 ; dies wird in der Praxis vom Staat auch dort in Anspruch genommen, wo er sich in der Theorie zur Unabhängigkeit von Kirche und Staat voneinander bekennt, wie das Vorgehen des italienischen Parlaments in der Scheidungsfrage gezeigt hat 87 • c) Gemeinsames Betrachtet man sowohl den kirchlichen wie den staatlichen Standpunkt in der Frage der Kompetenzabgrenzung heute, so zeigt sich, daß beide Standpunkte vom Mangel der Fähigkeit zeugen, das Problem in einer dem Phänomen einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft entsprechenden Weise in den Griff zu bekommen. Ein Fortschritt gegenüber den Standpunkten, denen ein Bekenntnis zu (oder die vereinfachte Erfahrung) einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft zugrundeliegt, zeigt sich lediglich im programmatischen Zugeständnis einer (relativen) Unabhängigkeit an die jeweils andere Seite. In jenem Bereich dagegen, wo diese programmatischen Bekenntnisse ihren juristisch greifbaren Niederschlag finden müßten, nämlich in der Kompetenzabgrenzung in jeweils konkreten Situationen, verzeichnen der kirchliche wie der staatliche Standpunkt einen Rückfall in den Anspruch der Kompetenzkompetenz, wie er für Gemeinschaften, die sich zu einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft bekennen, eigentlich ausgeschlossen sein müßte. In der Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat ist daher bis heute kein entscheidender juristisch greifbarer Durchbruch gelungen, ohne daß man dies in Theorie oder Praxis aber hinreichend deutlich einbekannt hätte. 85 Für Österreich beinhaltet schon Art. 14 stGG 1867 einen Gesetzesvorbehalt, wenn er in Zusammenhang mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit fordert, daß "den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen" darf. Vgl. dazu allgern. ausführlich Ermacora, Handbuch, 368 ff. - Noch deutlicher sagt Art. 15 StGG 1867, daß die Kirche, "wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen" ist. Dazu nochmals Ermacora, ibid., 424 f. Zum Begriff des Gesetzesvorbehalts vgl. ibid., 18; ders., Allgemeine Staatslehre II, 849. - Für die BRD vgl. Art. 137, Abs.3, WRV. 88 Vgl. nochmals Scheuner, "Das System der Beziehungen von Staat und Kirche im Grundgesetz", loc. cit., 80: "Was nun aber die Frage anlangt, wem die Zuständigkeit zur Abgrenzung dieses Raumes kirchlicher Selbstbestimmung zusteht, so wird man hier dem Staat dieses Recht zusprechen müssen ... Man wird hier nicht auf ein allgemeines objektives Verständnis aus der Natur der Sache verweisen können, ebensowenig aber die Bestimmung den Religionsgesellschaften selbst zugestehen dürfen." 87 Vgl. italienisches Gesetz n. 898 vom 1. Dezember 1970. Dazu Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, 358 f., Anm. 190.

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Dieser Umstand zeigt, daß sowohl der Staat wie die Kirche 88 den weltanschaulichen Pluralismus - jedenfalls in diesem Punkt - noch nicht ausreichend ernst genommen haben 89 • Anders wäre der jeweilige Rückzug auf eine Position, die nur dann zur Beilegung des Kompetenzkonflikts führt, wenn sich die andere Seite dem eigenen Standpunkt anschließt, nicht erklärlich. Kirche wie Staat bedienen sich insoweit bei der Kompetenzabgrenzung der Methode Alexander d. Gr.: der gordische Knoten wird, weil man ihn nicht lösen kann, einfach durchhauen. Die Reklamation einer Kompetenzkompetenz in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft ist ein Kraftakt, mit dem die anstehende Frage nicht beantwortet, sondern umgebracht wird.

11. "Hypothetische" Kompetenzabgrenzung Es ist notwendig, dem "staatlichen" wie dem "kirchlichen" Standpunkt einen "pluralistischen" Standpunkt entgegenzusetzen. Eine weltanschaulich pluralistische Gesellschaft erfordert das Einbekenntnis, daß eine objektive Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staatd. h. eine Kompetenzabgrenzung, die allseits als verbindlich erkannt würde - nicht möglich ist.

88 Mikat, "Staat und Kirche nach der Lehre der katholischen Kirche V. Die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils über die richtige Zuordnung von Kirche und Staat", HStKR I, 170, spricht geradezu von einer "positive[n] Hinnahme eines Pluralismus der Konfessionen und Religionen". Wiewohl der Autor darauf hinweisen muß, daß" [d]ie rechtswissenschaftliche Kommentierung der staats- und gesellschaftstheoretischen Abschnitte der Pastoralkonstitution .,. bald nach dem Erscheinen auf innere Widersprüche, sogar auf bedenkliche Unwissenschaftlichkeit und fehlende Systematik aufmerksam gemacht [hat]", kommt er doch, ibid., 189, zu einem Ergebnis u. a. dahingehend, daß ,,[d]ie historischen Konflikte und Antagonismen zwischen Staat und Kirche, wie sie insbesondere in der abendländischen Kirchengeschichte sich ergeben haben, ... nicht bestimmend geworden [sind] für die Formulierung der konziliaren Aussagen; vielmehr betont das Konzil ungeachtet der stets möglichen und gegebenen Konfliktsituation die gemeinsame Verpflichtung von Kirche und Staat für den Dienst an der Welt." 88 Nicht in Gaudium et spes, wohl aber in Dignitatis humanae kommt der traditionelle kirchliche Anspruch in Art. 13 wieder - gleichsam durch die Hintertür - herein, indem ,,[d]ie Freiheit der Kirche" zum "grundlegende[n] Prinzip in den Beziehungen zwischen der Kirche und den öffentlichen Gewalten sowie der gesamten bürgerlichen Ordnung" erklärt wird, so daß, "wer immer gegen sie streitet, gegen den Willen Gottes handelt", und dieser Anspruch fundamentaltheologisch ("In der Tat ist sie etwas Heiliges, diese Freiheit, mit der der eingeborene Sohn Gottes die Kirche beschenkt hat, die er sich mit seinem Blute erwarb.") und damit für eine weltanschaulich pluralistische Gesellschaft völlig inadäquat begründet wird. Entsprechend fährt die Erklärung fort: "In der menschlichen Gemeinschaft und angesichts einer jeden öffentlichen Gewalt erhebt die Kirche Anspruch auf Freiheit als geisUiche, von Christus dem Herrn gestiftete Autorität." (Zit. nach der in Anm. 57 gegebenen Quelle, 741 f.)

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1. Nicht erkannte, sondern anerkannte Kompetenzabgrenzung Eine pluralistische Gesellschaft ist nun einmal gerade auch dadurch charakterisiert, daß in ihr über Weltanschauungs- (und ganz allgemein über Wert-)fragen keine Einigkeit besteht. Es gilt nun, diese - theologisch als Folge der Unvollkommenheit der (gefallenen, zwar erlösten, aber noch nicht völlig wiederhergestellten) Menschheit (und damit Welt) erklärbare90 - Situation juristisch so zu bewältigen, daß ihrer Voraussetzung, also dem weltanschaulichen Pluralismus, keine Gewalt angetan wird. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß das Wesen des weltanschaulichen - und i. w. S.: jedes Wert- - Pluralismus darin besteht, daß es in ihm keine allgemein als objektiv erkannten, sondern nur (d. h. allenfalls) anerkannte Werte gibt. Von dieser Erkenntnis ausgehend, bestätigt sich der von uns bereits oben ausgesprochene Satz, daß in einer pluralistischen Gesellschaft auch die Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat nicht auf Grund allgemein erkannter, sondern nur auf Grund anerkannter Kriterien vorgenommen werden kann, lediglich als konkrete Ausformung eines allgemeinen Prinzips. Es muß einmal in aller Klarheit ausgesprochen und in aller Bescheidung akzeptiert werden: eine allein sachbezogene Argumentation ist in der pluralistischen Gesellschaft nicht zieljührend, weil sie schon voraussetzt, daß der Gesprächspartner von der prinzipiell gleichen Grundlage ausgeht, womit der Pluralismus aber ebenso prinzipiell überwunden wäre. In einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft die Kompetenzkompetenz der Kirche gegenüber dem Staat von ihrem eigenen Selbstverständnis her zu begründen ist daher ebenso verfehlt wie der Versuch des Staates, dies auf der Grundlage eines seinem Selbstverständnis entsprechend konzipierten Gemeinwohls zu tun.

80 Rahner, K., "Pluralismus", loc. cit., geht sogar noch einen Schritt weiter, als für ihn "Pluralismus im unvermeidlichen Sinn einer kreatürlichen Notwendigkeit" die Tatsache bedeutet, daß der Mensch und sein Daseinsraum (seine Umwelt und seine Mitwelt) trotz der Einheit in Gott und in der Bestimmung und trotz letzter gemeinsamer metaphysischer Strukturen aus so verschiedenen und v,ielfältigen Wirklichkeiten gebildet werden, daß die Erfahrung des Menschen selber von ursprüngLich mehreren Quellen herkommt (deren Zusammenspiel nicht von vornherein einheitlich strukturiert ist) und er weder theoretisch noch praktisch diese Vielfalt auf einen einzigen Nenner bringen kann ("System"), von dem allein aus diese Vielfalt ableitbar, begreifbar oder beherrschbar wäre. Die absolut durchschaute und konkrete Einheit der Wirklichkeit ist für den Menschen als metaphysisches Postulat und eschatologische Hoffnung da, nicht aber als verfügbare Größe" (Sp. 566). Für Rahner gehört "Pluralismus" also schon ursprünglich zum Geschaffenen.

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2. Kompetenzabgrenzung: keine rechtstheoretische sondern eine rechtspolitische Aufgabe Da also hier keine Einigung über rechtliche Grundsätze besteht, die allgemein anerkannt - als Basis für eine solche Kompetenzabgrenzung dienen könnten, zeigt es sich, daß die Aufgabe der Kompetenzabgrenzung keine rechtstheoretische, sondern eine rechtspolitische ist. Wie die Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat im einzelnen ausfallen wird, hängt also nicht [nur] von einem Erkenntnisprozeß, sondern [auch] von einem Willensprozeß ab, nämlich von der zeitlich und logisch vorgängigen Wahl des politischen Systems im Staat, die in diesem Sinn bereits eine Vor-Wahl in der Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat darstellt, eben weil sie für diese die politische Grundlage bietet91 • Mit der Wahl des in einem Staat zu verwirklichenden politischen Systems ist damit auch schon die Vorentscheidung für die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat gefallen 92 • Das zeigt aber, daß die Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat kein Akt ist, der zwischen zwei vorgegebenen Größen - eben der Kirche und dem Staat - stattfindet und dessen Gestaltung im Zeitpunkt seiner Setzung (inhaltlich) noch offen ist. Dieser Akt ist vielmehr im Augenblick des Aufeinandertreffens von Kirche und Staat inhaltlich bereits determininiert 93 (und zwar durch die Wahl des staatlichen politischen Systems). Die Entscheidung fällt also gar nicht in einer Konfrontation zwischen Kirche und Staat, sondern vielmehr in einer Konfrontation der einzelnen in der Gesellschaft bei der "Wahl" des politischen Systems. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat ist damit ein Problem, dessen Lösung durch eine gesellschaftliche Entscheidung, also eine solche Entscheidung, an der der einzelne als solcher ursprünglich mitwirkt94 , bestimmt wird. Auch und gerade in der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft zeigt sich demnach, daß die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat mit eine Grundlage für den Konsens über den (konkreten) Staat selbst und sein politi91 Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 405: "Es kommt auf den politischen Weg an, der zur Erfüllung der Staatszwecke eingeschlagen werden soll." 82 Nicht von ungefähr tendiert daher die Kirche stet.s zur Favorisierung bestimmter, nämlich solcher Systeme, die ihr in der jeweiligen geschichtlichen Situation die beste Wirkungsmöglichkeit sichern. So gilt nach Mikat für Gaudium et spes, daß ,,[t]rotz dieser Abstinenz gegenüber konkreten politischen Systemen ... eine prinzipielle übereinstimmung mit der liberal konzipierten Demokratie westlichen Ursprungs nicht zu übersehen [ist]". Loc. cit., 182. 93 "Die Grenzen der Staatsgewalt", sagt Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 381, "liegen im Vorkonstitutionellen begründet ... Ihr sind natürUche Grenzen gegeben. Sie sind ableitbar aus den Ideen und Ideologien ... Wenn dann der Jurist und Politiker Grenzen für die Staatsgewalt aufrichtet, sind dies künstliche, auch institutionalisierte Grenzen ... " 84 Ibid.

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sches System darstellt (bzw. in diese eingeht) und damit zu einer Existenzfrage des Staats selbst wird. Nur wenn auch - was in entsprechender Weise noch für andere Fragen gelten kann - in dieser Frage ein ausreichender Konsens erzielt werden kann, ist die den Staat tragende Basis nicht gefährdet95 •

3. Kompetenzabgrenzung im demokratischen System Es entspricht dem Wesen der pluralistischen Gesellschaft, daß das von ihr getragene politische System ein "gewähltes" in dem Sinne darstellt, daß es auf Grund einer Entscheidung und nicht einer Erkenntnis instituiert worden ist; es kann demnach auch durch ein anderes "gewähltes" ersetzt werden. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, zwischen denen eine solche Entscheidung zu wählen hat, wobei jede dieser Möglichkeiten in verschiedenen Varianten auftreten kann96 • Die Entscheidung kann entweder für ein System fallen, in dem der Pluralismus respektiert wird 97 • Respektierung des Pluralismus bedeutet aber Respekt vor den (wenngleich verschiedenen) Wertvorstellungen des anderen 98 • Im konkreten Fall bedeutet es Respektierung der Auffassung des anderen über seine und seiner Kirche (religiöse) Freiheiten. Der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft entspricht als politisches System am ehesten das demokratische, weil ihm über den einzelnen sowenig ein Werturteil zugrundeliegt wie über dessen weltanschauliche (und ganz allgemein: Wert-)Vorstellungen. Rechtspolitisches Ziel einer demokratisch verfaßten Gesellschaft wird daher - in Zusammenhang mit der Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat - die Einräumung eines weitestmöglichen Freiheitsraumes für die religiöse Betätigung des einzelnen und der Gruppe, im konkreten 85 Vgl. dazu Köck, "Menschenrechte und kirchliche Unabhängigkeit", Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, 442, Anm. 29, und 447, Anm. 61. 88 Richtig hat schon Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 405, ausgesprochen, daß es in dieser Hinsicht im Prinzip nur zwei Arten des Staats gibt: den Staat der "Grenzenlosigkeit" und den Staat der "Begrenztheit" seiner Aktion. Es werden also zwei klare Typen der Grenzen der Staatsgewalt von vornherein zu bestimmen sein, je nach dem ob die Staatszwecke im freien Spiel der Kräfte oder unter Ausschluß dieses freien Spiels - also unter Zwang - realisiert werden sollen. 97 Dies setzt allerdings voraus, daß der Pluralismus selbst als Wert anerkannt wird; nur dann wird er einen juristisch greifbaren Niederschlag im positiven Recht des betreffenden Staates finden. Vgl. dazu Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen (1969), 40: "Die Sollvorschriften des positiven Rechts verkörpern nicht nur eine formale Struktur, sie stehen aLs Träger von Werten oder objektiven Sinnbezügen zueinander in einem widerspruchsfreien System von mehreren Grundwertentscheidungen." 88 Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 405.

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Fall also: der Kirche, sein. Da in einer pluralistischen Gesellschaft die Erkenntnis der Andersartigkeit des Anderen der Anerkennung des Gemeinsamen logisch immer vorausgeht, ist damit auch ein Vorrang der Freiheit des einzelnen vor den Notwendigkeiten der Gemeinschaft begründet, einer Freiheit, die erst in der Selbstbeschränkung des einzelnen durch Anerkennung der Notwendigkeiten der Gemeinschaft seine Grenze findet. Für das Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat bedeutet dies aber, daß die Verwirklichung des behaupteten Gemeinwohls ihre Grenze an der geforderten kirchlichen Freiheit findet, nicht die geforderte kirchliche Freiheit ihre Grenzen an der Verwirklichung des behaupteten Gemeinwohls. Materiell entspricht dieser (der "pluralistische") Standpunkt (eines den Pluralismus respektierenden demokratischen Systems) nicht dem "staatlichen" Standpunkt, wie dieser heute allgemein vertreten wird, sondern dem "kirchlichen" Standpunkt seit Leo XIII99. Formell hingegen unterscheidet sich der "pluralistische" Standpunkt von diesem "kirchlichen", da er die Kompetenzkompetenz nicht der Kirche als Institution zuspricht, sondern feststellt, daß die Abgrenzung im konkreten Fall mangels einer mit Kompetenzkompetenz ausgestatteten Instanz dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen bleibt lOO , wobei freilich von allen die Respektierung des "pluralistischen" Prinzips nach Treu und Glauben erwartet werden kann. Wenn sich die Kirche in diesen politischen Entscheidungsprozeß einschaltet, so kann sie dies legitimerweise nur gegenüber ihren Mitgliedern mit Berufung auf eine höhere Autorität tun 101 ; in der pluralistischen Gesellschaft wirkt sie hingegen - ob nun über diese ihre Mitglieder 102 oder über ihre Organe als Institution 103 - lediglich als eine unter mehreren gesellschaftlichen Kräften104 • Wie weit sie dabei ihre eigenen Auffassungen zum Vgl. oben, Anm. 73. Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 381, spricht davon, daß ,,[d]ie Grenzen der Macht des politischen Staates ... zunächst in ihrem innersten Kern in den Vorstellungen begründet [sind], die die nach Gewaltinnehabung drängenden Gruppen der Gesellschaft - die Menschen - vom Staat haben, insbesondere, wie sie den Menschen, um dessen Beherrschung oder Mitarbeit es geht, einschätzen". (Hvhbg. im Orig.) 101 Und insoweit ist Dignitatis humanae, Art. 13 (oben, Anm. 89), kein wohlgelungenes Argument für die politische Auseinandersetzung. 102 " ••• so daß zwischen dem, was die Christen als einzelne oder im Verband im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden ... " Gaudium et spes, Art. 76; zit. nach der in Anm. 58 gegebenen Quelle, 529. 103 " ••• und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten tun, klar unterschieden wird." (lbid.) 104 Vgl. dazu die Stellungnahme des Grazer Bischofs Weber auf einer Pressekonferenz der österreichischen Bischofskonferenz am 6. November 1975, der für die Kirche das Recht reklamierte, wie jede andere gesellschaftliche Kraft ihrem Einfluß im öffentlichen Bereich geltend zu machen und sich nicht in die Sakral- oder Kulträume verbannen zu lassen. Kathpress-Aussendung vom selben Tag. 99

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Tragen bringen kann, hängt ausschließlich vom rechten Gebrauch des politischen Instrumentariums ab 105 •

4. Kompetenzabgrenzung im nicht-demokratischen System Auch in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft kann die Entscheidung für ein politisches System fallen, das den Pluralismus an sich verneint und ihn überwinden Will 1011 • Hierher gehören alle Systeme, welche - sei es in nicht-demokratischen, sei es in den "demokratischen" Formen der "Mehrheitsdiktatur" - die Auffassung nur einer Gruppe an die Stelle der Meinungsvielfalt setzen will 107 • In einem solchen System orientieren sich selbstverständlich alle Entscheidungen an der Grundentscheidung über das als anzustreben gesetzte Gemeinwohl. Auch die Freiheit des einzelnen ist hier nur insoweit verwirklichbar, als sie nicht mit den Bestrebungen zur Verwirklichung dieses Gemeinwohls in Konflikt gerät. In einem politischen System, das den Pluralismus negiert bzw. überwinden will, wird die Freiheit des einzelnen als vom Staat zugestanden zu einem logischen posterius gegenüber dem Gemeinwohl, und damit auch die religiöse Freiheit durch dieses, nicht aber jenes durch die religiöse Freiheit begrenztloB. Materiell und formell liegt die Kompetenzkompetenz in einem solchen totalitären Gesellschaftssystem bei der politisch verfaßten Gemeinschaft, dem Staat, dem sie von der pluralistischen Gesellschaft durch die Entscheidung für das politische System mit logischer Notwendigkeit als übertragen anzusehen istiOD. 105 Die Kirche, so verkündet Gaudium et spes., loc. cit., 533 (Art. 76), bediene sich selbst "des Zeitlichen; soweit es ihre eigene Stellung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, daß durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern ... Sde wendet dabei alle, aber auch nur jene Mittel an, welche dem Evangelium und dem Wohl aller je nach den verschiedenen Zeiten und Verhältnissen entsprechen ... " lOS "Die Erfüllung der Staatszwecke in der gelenkten Demokratie bedeutet - auch wenn es nur am Anfang einer Handlungsreihe liegt -, keinen Kompromiß einzugehen, d. h. keine verschiedenen Meinungen, die von der politischen Grundtendenz abweichen, die ,revisionistisch' sind, zu dulden." Ermacora, Allgemeine Staatslehre I, 406. 107 Ihre klassische Konzeption hat· die totalitäre Demokratie in der Lehre Rousseaus von der volonte generale gefunden (Contrat social, IV, 1), die nach Verdross, ReChtsphilosophie, 128, "in eine schrankenlose Mehrheitsdiktafur mündet". 108 Daher bekämpfte z. B. Marxauch die Auffassung von auf das Christentum zurückführbaren Menschenrechten. In seiner Schrift "Zur Judenfrage", Marx-Engels Werke I (8. Auf!. 1972), 347 ff., bezeichnet er solche Menschenrechte (und insbesondere die Religions- und Eigentumsfreiheit) als bloßen Ausdruck egoistischen menschlichen Strebens, das ihn in Wirklichkeit aber nicht befreie, sondern in seinen "bürgerlichen Freiheiten" versklave. Nur wenn der Mensch von diesen "Freiheiten" befreit werde, werde er wirklich frei sein.

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Da sich ein solches System aber seinem Wesen nach (als a- bzw. antipluralistisch) in einer in Wirklichkeit pluralistischen Gesellschaft nicht auf die Unterstützung aller stützen kann, trägt es seinen Widerspruch in sich, was in der Praxis zu dauernden Konflikten zwischen der Staatsgewalt und jenen führt, die die offizielle weltanschauliche Zielsetzung nicht akzeptieren11o • Ein solches System tendiert demnach zu einem (evolutionären oder revolutionären) übergang zu einem den Pluralismus respekHerenden, also freiheitlich-demokratischen System.

5. Kompetenzabgrenzung als Verantwortung des einzelnen Ein Vergleich unseres Ergebnisses, daß nämlich das Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat in einer pluralistischen Gesellschaft eine die politische Entscheidung des einzelnen und damit die dauernde politische Verantwortung jedes einzelnen ist - ein Ergebnis, das wir auch als im richtigen Sinn verstanden "individualistisches" Ergebnis 111 bezeichnen können -, stimmt tendenzmäßig mit jenen Entwicklungen überein, die wir vor allem im zwischenstaatlichen Bereich in Zusammenhang mit der Sicherung von Menschenrechten und Grundfreiheiten beobachten können. Sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 112 als auch der Convenant on CiviZ and PoZitical Rights von 1966 113 konzipieren die Freiheit der Religionsgemeinschaften und damit der Kirche insoweit individualistisch, als sie sie ein Ausfluß des Rechts auf Religionsfreiheit des einzelnen sein lassen, d. h. seines Rechts, seine Religion "einzeln oder in Gemeinschaft mit anm Wenn der Staat sich nicht von der pluralistischen Gesellschaft tragen lassen, sondern diese überwinden soll, muß angenommen werden, daß er mit diesem Ziel impliziert auch die nötige Handlungskompetenz besitzt - eine klassische Anwendung der impZied powers-Doktrin, wie sie der Supreme Court of the US schon 1819 in Zusammenhang mit der Verfassung der VSt entwickelt hat. Vgl. dazu McCuZZogh v. MaryZand, 4 Wheaton 316 (1819): "Let the end be legitimate, let it be within the scope of the constituion, and all the means which are appropriate, which are plainly adepted to that end, ... are constitutional. .. 110 So hat selbst Hobbes, der, nach Verdross, Rechtsphilosophie, 118, in der Oxforder Tradition stehend (die seit Ockham den Nominalismus gepflegt hat), die potestas Dei absoZuta von Gott auf den Staat übertragen hat, dem einzelnen Bürger zugestanden, sein geordnetes Leben gegen die Staatsgewalt zu verteidigen. (Leviathan, Kap. 21.) 111 Was natürlich nicht sagt, daß heute die Bedeutung der Religionsgemeinschaften für den Komplex der Religionsfreiheit verkannt würde; es sagt lediglich, daß im weltanschaulich pluralistischen Bereich Kompetenzen der Kirche nur auf dem Umweg über die Freiheit des Einzelnen konstruiert werden können. ListZ, "Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit", Zoc. cit., 399, spricht im Zusammenhang mit ,,[i]ndividuelle[r] Religionsfreiheit und Kirchenfreiheit" von einem "wesensmäßige[n] innere[n] Zusammenhang zwischen idividueller Religionsfreiheit und institutioneller Kirchenfreiheit ... Vgl. dazu nochmals Köck, Die völkerrechtliche StelLung des H. Stuhls, 438 ff. 112 UNTS CCXIII, 221 ff.; Berber, Dokumente 1(1967),955 ff. 113 AJIL (1967), 870 ff. 7·

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deren" privat und öffentlich zu üben 114 . Daß diese individualistische Konzeption in der Praxis von der Kirche bereits akzeptiert wird, zeigt der Umstand, daß die Delegation des Hl. Stuhls während der zweiten Phase der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sie ihren verschiedenen Anträgen zugrundelegte 115• In diesem obengenannten politischen Eiltscheidungsprozeß hat der einzelne (der ja selbst nicht pluralistisch sein kann)116 jedoch nicht nur von seinen eigenen Wertvorstellungen auszugehen, sondern immer auch die Freiheit des anderen, der auf diesem Gebiet durchaus andere Wertvorstellungen hegen mag, mitzubedenken 117 • Die Verantwortung des einzelnen ist dabei in zweifacher Weise gefordert. Er ist einmal berufen, daran mitzuwirken, daß das für die als solche erkannte pluralistische Gesellschaft "gewählte" pluralistische, d. h. demokratische System funktionsfähig bleibt, was bedeutet, daß man sich seine Voraussetzungen immer wieder bewußt macht und sie die politischen Entscheidungen mitbestimmen läßt. Da aber auch die Entscheidung für das "pluralistische" System eine (wie wir gesehen haben) "gewählte" ist, hat der einzelne auch die Aufgabe, im täglichen politischen Entscheidungsprozeß darüber zu wachen, daß dieses System erhalten bleibt, also nicht etwa nachträglich verfälscht wird oder gar völlig abhanden kommt. Wenn wir hier von einer Aufgabe des einzelnen sprechen, so ist damit einmal jeder gemeint, der an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, auch an solchen, die man nicht als i. e. S. politische versteht, teilhat, was für jeden täglich in allen seinen Lebensbereichen der Fall ist. In besonderer Weise aufgerufen ist aber in diesem Zusammenhang der einzelne als Politiker, der an der Willensbildung im politischen Prozeß i. e. S. teilhat 118 , und der Rechtswissenschaftler, der rechtliche Entscheidungen wertend bedenkt und ihre politischen Konsequenzen aufzeigt 119 • 114 So Art. 9, Abs. 1, Europäische Menschenrechtskonvention; Art. 18 des Covenants:" ... either individually or in community with others ... " 115 Vgl. dazu Köck, "Kanonisierung des Gei,stes von Helsinki? Zur Präsenz des Hl. Stuhls auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", Wien er Blätter zur Friedensforschung (1975), 2 ff. 11ß Selbst der Agnostiker hat ja insoweit "seinen Standpunkt", von dem aus er zu den gesellschaftlichen Fragen Stellung bezieht. Die Schriften (etwa) Kelsens zeigen dies ganz deutlich. 117 Was die religiöse Freiheit anlangt, vgl. dazu Dignitatis humanae, Art. 6: "Das Gemeinwohl der Gesellschaft besteht in der Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, unter denen die Menschen ihre eigene Vervollkommnung in größerer Fülle und Freiheit erlangen können; es besteht besonders in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person. Somit obliegt die Sorge für das Recht auf religiöse Freiheit sowohl den Bürgern wie auch den sozialen Gruppen und den Staatsgewalten, ... und den ... religiösen Gemeinschaften ... " (Hvhbg. vom Verf.) Dabei gilt aber, was Art. 26 sagt: "Jede Gruppe muß den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen ... Rechnung tragen." (Ibid., 363). ZU. nach der in Anm. 57 gegebenen Quelle.

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Damit erweist sich das Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen Kirche und Staat in der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft als ein permanentes, für das es nicht nur keine zeitlos gültige Lösung, sondern vor allem auch keine endgültigen Lösungen gibt. Die politische Entscheidung und ihre Durchsetzung ist vielmehr im Einzelfall immer wieder neu aufgegeben.

118 Grundlegend für das Vorstehende Schambeck, "Der Einzelne in Kirche, Staat und Gesellschaft", Kirche - Staat - Gesellschaft (1967), 95 ff., bes. 104 und 110 f., auch 108: " ... ist ... das vermehrte Engagement des Laien in Eigenverantwortung so notwendig geworden." 119 Zu dieser Tätigkeit, die wegen der dem positiven Recht immanenten Wertordnung auch und gerade für den Juristen durchaus legitim ist, wenn er sich der mit der Immanenz gegebenen Grenzen bewußt bleibt, sei nochmals auf die wegweisende Studie von Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, passim, verwiesen.

KIRCHE UND DEMOKRATIE* Von Herbert Schambeck Kennzeichen unserer Zeit sind nicht allein das durch die Technik und die Bevölkerungsentwicklung hervorgerufene Näherkommen und Zusammenrücken der Menschen, auch in ihrem Bewußtsein treten Veränderungen auf. Dachte der einzelne früher getrennt in den Kategorien seines privaten, öffentlichen und religiösen Lebens, so sind heute hier weitgehende Annäherungen erfolgt. So hat der einzelne auf dem Wege demokratischer Willensbildung den Staat neben der Sicherung auch zur Entfaltung seines privaten Lebens gerufen und jeder spürt es ständig, wie sehr der persönliche Haushalt vom Staatshaushalt abhängig wird. Die Demokratisierung des Staates verbindet sich so mit der Tendenz wachsender Verstaatlichung des einzelnen, das heißt, mit der Zunahme der Auswirkung des politischen Systems eines Staates auf die Persönlichkeit des einzelnen. Das gleiche kann in bezug auf das religiöse Leben gesagt werden. Da die Kirche als Glaubensgemeinschaft auf die Erfassung des einzelnen abgestellt ist, kommt es darauf an, daß sie den Menschen in seiner gesamten Entwicklung, d. h. auch einschließlich seines politischen Bewußtseins anspricht. Dieses politische Bewußtsein des einzelnen wird in einem steigenden Maße von der Idee der Demokratie geprägt, die heute in einer nicht zu unterschätzenden Weise zum Gegenstand theoretisierender Betrachtungen gemacht wird. Dabei wird man an eine Feststellung Hegels in seinem Brief an Niethammer erinnert, in der er bemerkt: "Die theoretische Arbeit - überzeugte ich mich täglich mehr - bewegt mehr Zustände in der Welt als die praktische; ist das Reich der Vorstellungen revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus"!. Die Kirche als Glaubensgemeinschaft ist zwar nicht aus dieser Welt stammend, aber in dieser Welt wirkend, daher kann ihr die Entwicklung des politischen Bewußtseins der Menschen, für die sie beauftragt ist, nicht gleichgültig sein. So wird auch die Kirche mit der Idee der Demokratie konfrontiert. Diese Konfrontation von Kirche und Demokratie kann eine

* Erweiterte Fassung des Vortrages, den der Autor vor dem Forum academicum des Südtiroler Kulturinstituts am 6. 4. 1972 in Bozen und am 7. 4. 1972 in Meran gehalten hat. 1 Hegel, Briefe I, S. 194 Jubil.Ausg.

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zweifache sein: einmal, daß die aus dem weltlichen Bereich der Politik kommende Forderung nach Demokratisierung auch für das kirchliche Leben erhoben wird, ein andermal, daß die Kirche selbst im Bereich ihrer sozial ethischen Verantwortung, nämlich in dem der christlichen Soziallehre, gegenüber der Demokratie als politisches System Position bezieht und die Aufgaben des einzelnen in der Demokratie artikuliert. Bevor diese beiden Fragen nach Demokratie und Kirche beantwortet werden, ist es erforderlich, beide Begriffe zu erklären.

I. Der Kirchen- und Demokratiebegriff Geht man von dem katholischen Kirchenverständnis aus, wird die Kirche als die auf J esus Christus und seiner Erlösung beruhende Gemeinschaft des Glaubens verstanden. Die Kirche ist Ausdruck des "Corpus Christi Mysticum", sie ist die von J esus Christus gestiftete Heilsgemeinschaft der Menschen, die in der Welt gegenwärtig ist. Das Wort Kirche leitet sich aus dem Wort ekklesia ab, was Versammlung bedeutet. Die Kirche ist danach die Versammlung, in die Gott einladet. So ist die Kirche schon im Sinne des Wortes ein Ausdruck des Anrufes Gottes an die Welt. Dieser Ruf in die ekklesia erging zunächst an sein Volk Israel und wurde hernach von seinen zwölf Aposteln in die ganze Welt hinausgetragen. Dieser Kirche überträgt er die Binde- und Lösegewalt auf Erden. "Was immer ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst werden" (Mt. 18, 18). So wie jede Gemeinschaft in ihrer für ihren Bestand erforderlichen Ordnung von einer Autorität getragen sein muß, kann dies auch von der Kirche und ihrer Verfassung gesagt werden. Sie beruht in ihrer Grundordnung nicht auf einem weltlichen Willen, auch nicht in dem Willen des Volkes, sondern in dem Stifterwillen Gottes, seiner Offenbarung und die darin geltendgemachte Ordnung der Kirche ist weder den Gläubigen noch ihren Hirten verfügbar, denn der Ursprung der Kirchengewalt ist nicht in der Mitte der Gläubigen, sondern in Gott gelegen, "er ist nicht von unten her demokratisch zu erklären, sondern von oben her, christokratisch"2. Die Vollmacht der Apostel und ihrer Nachfolger unterscheidet sich daher wesentlich von den Autoritäten, die außerkirchliche Ordnungen prägen. Sie ist "Teilnahme an der Vollmacht Jesu Christi"3. 2 Georg May, Demokratisierung der Kirche Möglichkeiten und Grenzen, Wien - München 1971, S. 27. 3 Heinrich Bacht, Nomos und Pneuma, Kritische überlegungen zur Diskussion über Autorität und Freiheit in der Kirche, Stimmen der Zeit 1969. S. 102.

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Dieser Stiftungsursprung der Kirche beschränkt auch ihre Gewalt. Sie ist auf den religiösen und nicht auf den weltlichen Bereich bezogen. Die Souveränität der Kirche ist daher keine aus sich selbst begründete, sondern eine abgeleitete, das heißt vom Willen Jesu gestiftete, der sie in den Dienst des Anspruches seines Evangeliums an die Welt stellte und damit jeden "Positivismus des Selbstbetriebs"4, wie ihn der Staat bisweilen kennt, für die Kirche ausschließt; ist doch die Gewalt der Kirche immer eine stellvertretende Gewalt, da sie in ihrer Einsetzung und Ausübung auf Gott zurückweist. Dies unterscheidet die Kirche grundlegend von der Demokratie. Wie schon die Erklärung dieses aus dem Griechischen stammenden Wortes erkennen läßt, fußt die Demokratie auf der Idee der Herrschaft des Volkes 5 und begründet in ihrer Anwendung auf den Staat6 den Ursprung und die Ausübung seiner Gewalt im Willen des Volkes. Die Idee der Identität von Herrscher und Beherrschtem drückt sich in ihr ebenso aus wie die Erfüllung des Wunsches nach Selbstbindung des Volkes. Diese Jahrhunderte lang das abendländische Denken in unterschiedlicher Sinngebung beeinflussende Idee wurde im 18. Jhdt. von Jean Jacques Rousseau in seinem Werk "Der Gesellschaftsvertrag" zu einer anfangs in Frankreich und dann über Europa hinaus weltbewegenden Theorie entwickelt7, die allerdings totalitäre Züge annahm 8 • Nach Rousseau geht nämlich der einzelne mit seinen Rechten und Ansprüchen insoferne unter, als er diese an das Volk abtritt; gegenüber diesem volonte generale genannten Gemeinwillen, der die Ausübung der Staatsgewalt bestimmt, hat der einzelne keine Freiheitsrechte mehr, er hat sich unterzuordnen. In ihrer konsequenten Anwendung während der französischen Revolution hat diese Lehre Rousseaus zu einer Demokratisierung aller drei Staatsfunktionen, nicht allein der Gesetzgebung, sondern auch der Verwaltung und Gerichtsbarkeit geführt, wodurch sowohl die Rechtssetzung, als auch die Rechtsvollziehung demokratisiert und damit verpolitisiert wurden 9 • Denkt man etwa an die damals auch eingeführten 4 Joseph Ratzinger, Demokratisierung der Kirche?, in: Demokratie in der Kirche, von Joseph Ratzinger und Hans Maier, Limburg 1970, S. 21. 5 Siehe Hans Maier, Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffes, in: Theory and Politics, Theorie und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag von earl Joachim Friedrich, Haag 1971, S. 127 ff. S Beachte Herbert Schambeck, Der Staat und die Demokratie, Festschrift für Karl R. Stadler zum 60. Geburtstag, Wien 1974, S. 419 ff. 7 Dazu Max Imboden, Rousseau und die Demokr,atie, Recht und Staat, Heft 267, Tübingen 1963. 8 Siehe J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen 1961 und derselbe, Politischer Messianismus, Köln und Opladen 1963. 9 Siehe zu diesem Problemkreis grundlegend Adolj Merkl, Demokratie und Verwaltung, Wien und Leipzig 1923 und Hans Kelsen, Demokratisierung der Verwaltung, in: Zeitschrift für Verwaltung 1921, S. 5 ff., Neudruck in: Die Wiener rechts theoretische Schule, hrsg. von Hans Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck, 2. Bd. Wien - Salzburg 1968, S. 1581 ff.

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sogenannten Volksgerichte, wird man an die Terrorherrschaft erinnert, welche diese Jakobinisierung lO der Staats funktionen bewirkte. Der Grund für diese durch die Theorie Rousseaus bewirkte Freiheitsgefährdung des einzelnen lag darin, daß man seine Idee der Demokratie in ihrer plebiszitären, also direkt demokratischen Form ausführen wollte, ohne daß man sich bewußt war, daß diese von Rousseau nur für einen Kleinstaat von der Größe Korsikas l l , aber nicht für einen modernen Flächenstaat mit einer pluralistischen Gesellschaft gedacht war. Dazu kam noch, daß diese plebiszitäre Demokratie auf Grund ihrer totalen Demokratisierung auch keine Gewaltenteilung, wie sie schon Aristoteles l2 , John Locke l3 und Montesquieu l4 forderten, kannte und damit jede Kontrollmöglichkeit ausschaltete. Im Zuge der nachrevolutionären Zeit entwickelten sich aber, wie der Weg Frankreichs von der Jakobiner-, über die Direktorial- zur Konsulund Kaiserverfassung zeigte, auch Formen des Repräsentativstaates, die aber nicht der Freiheit des Volkes dienten. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang es in Auseinandersetzung mit der absoluten Monarchie, den Staat insofern zu konstitutionalisieren und zu demokratisieren, als eine Verfassung und ein Parlament geschaffen wurden, das den Weg von der Stände- zur Volksvertretung antrat und der Regierung des Monarchen gegenüber bestimmte Kontrollrechte ausübte, wodurch einerseits die Idee der Demokratie eine dem Großstaat angepaßte repräsentative Form annahm und durch Gewaltenteilung eine auch die Freiheitssicherung des einzelnen einschließende KOhtrolle eröffnete, die nach der Ausrufung der Republik weiterentwickelt wurde und zu der heutigen Form des demokratischen Rechtsstaates führte l5 • Sie ist das Ergebnis einer Symbiose von Demokratismus und Liberalismus l6 , in der einer der Größe des Staatgebietes und des Staatsvolkes angepaßten Weise das Vertrauen des Volkes in seine Amtsträger "nicht nur ideell, sondern auch real und institutionell gesichert werden kann"17. 10 Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit, Stuttgart 1955, S. 29 ff., besonders S. 42 ff. n Siehe Jean Jacques Rousseau, Contrat social, 10. Kapitel (Ausgabe H. Denhardt, Leipzig o. J.), 'S. 58. 12 Aristoteles, Politik IV, 1298.a. 13 John Locke, Two Treatesis on Civil Government, 1690. 14 Montesquieu, De L'esprit des lais, 1748, X!2 und 3. 15 Dazu Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin e. V. Heft 38, Berlin 1970. U Beachte Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese), in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 107 ff. und Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 163 ff. n Hans Maier, Vom Ghetto der Emanzipation, Kritik der "demokratischen" Kirche, in Ratzinger - Maier, a.a.O., S. 66.

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Der Liberalismus hat dem Jakobinisierungseffekt der Demokratie durch seine Idee von der Gewaltenteilung und der Grundrechte auszugleichen verstanden und die Freiheit und Würde des Menschen in einer zeitangepaßten Form zu sichern gewußt. Die Lehre der Kirche von der dignitas humana, die ihren Grund in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen hat1 8 , war daran insofern wesentlich beteiligt, als sich zwar die Repräsentanten der Kirche an dem Kampf gegen die absolute Monarchie nicht beteiligten, die Grundrechte dieses Verfassungsstaates aber nichts anderes als die Säkularisation uralten christlichen Gedankengutes waren. Die Demokratie wurde daher auf diesem Weg unter dem Einfluß der Lehre der Kirche vermenschlicht. Unbewußt und bisweilen auch ungewollt ist so der Einfluß der Kirche auf die Demokratie ausgegangen. Je mehr nach der Abschaffung der Monarchie und der Ausuferung der Republiken das öffentliche Leben besonders im 20. Jahrhundert demokratisiert wurde, desto mehr wurde auch das politische Bewußtsein des einzelnen und somit sein Ordnungsdenken demokratisiert. Es erhebt sich daher die Frage, wieweit der Einfluß der demokratischen Idee auch für die Kirche selbst von Bedeutung sein kann.

11. Demokratie in der Kirche Vergleicht man Kirche und Demokratie, kann festgestellt werden, daß beide verschieden sind; diese Verschiedenheit liegt in ihrem Ursprung und Ziel. Die Kirche beruht auf dem Stifterwillen Gottes und nicht der Menschen, in das Evangelium einzuführen und auf das Jenseits vorzubereiten; die Demokratie findet hingegen ihren Grund im Willen des Volkes und sucht, diesen innerweltlich auszuführen. Während die Verwirklichung der Ziele der Demokratie durch menschliche Kräfte allein möglich ist, kann dies von der Kirche nicht behauptet werden; sie lebt aus der Verbundenheit mit Gott. Daher ist es für das Grundgefüge der Kirche bezeichnend, daß in ihr Institution und Charisma sowie Nomos und Pneuma verbunden sind. "Keines von beiden ist auf das andere zurückführbar, keines darf das andere verdrängen oder zum Schweigen bringen. In ihrem spannungsreichen Zusammenspiel garantieren sie der Kirche auf dem Gang durch die Jahrhunderte, daß weder Institution und Recht sie in starre Unbeweglichkeit führen, noch die Unberechenbarkeit des Charismas sie von einem Abenteuer ins andere stürzt"19. 18 Siehe Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 221 ff. und Alfred Verdross, Die Würde des Menschen und ihr völkerrechtlicher Schutz, Schriftenreihe der niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft Heft 3, St. Pölten 1975. I' Bacht. a.a.O., S. 110.

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Bewahrung, Tradierung und Verwirklichung des Wortes Gottes ist Aufgabe der Kirche, der damit ein für alle Male das Ziel ihres Handelns vorgegeben ist. Anders hingegen die Demokratie, von der Hans Kelsen in seiner Schrift "Vom Wesen und Wert der Demokratie" selbst feststellt, daß sie "der Ausdruck eines politischen Relativismus ist"20, und im folgenden gleichsam beweisführend auf das 18. Kapitel des Johannesevangeliums verweist, nach dem Pilatus während des Osterfestes den Juden einen Verurteilten freigeben will und er sie fragt: "Wollt ihr nun, daß ich;euch den König der Juden freigebe"; sie aber schrien: "Nicht diesen, sondern Barabas". Und Kelsen selbst verweist darauf, daß der Chronist aber die Feststellung hinzufügt: "Barabas war ein Räuber". Demokratie ist ihrem Wesen nach auch dadurch gekennzeichnet, daß ihr ein Wertpluralismus zugrundeliegt, der den in ihr zustandekommenden Entscheidung,en einen relativistischen Charakter verleiht. Dieser der Demokratie eigene Relativismus ist in der Kirche unzulässig, da ihre Grundordnung und damit die Bedingung ihres Wollens und HandeIns durch Gott in Jesus Christus vorgegeben wurde; dies verpflichtet die Amtsträger der Kirche wie das Kirchenvolk. Die Unterscheidung von Amtsträger und Kirchenvolk ergibt sich aus dem Gesamtverständnis des Neuen Testaments, sind doch die Amtsträger von Christus beauftragt, das Evangelium zu predigen, die Sakramente zu spenden und die Kirche zu leiten, waren doch auch die Apostel schon mehr als bloße "primi inter pares"21; sie besaßen eine Leitungsgewalt, die sich auf die Päpste und ihre Bischöfe auf dem Wege apostolischer Sukzession fortsetzte. Auf diese Kirche kann die Idee der Demokratie nicht so ohne weiteres angewendet werden22, da die Grundverfassung der Kirche einer demokratischen Willensbildung des Kirchenvolkes nicht untersteht. Diese Unabhängigkeit der Verfassung und des Auftrags der Kirche vom Kirchenvolk soll aber nicht übersehen lassen, daß die Kirche mit ihren Amtsträgern ihren Auftrag nicht unabhängig vom Kirchenvolk, sondern nur innerhalb desselben erfüllen kann. Gerade das 11. Vaticanum hat in seiner dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" diese Weite des Kirchenbegrijjes da20 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auf!., Tübingen 1929, S. 103. 21 Bacht, a.a.O., S. 110. 22 Beachte u. a. Demokratisierung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, ein Memorandum deutscher Katholiken, hrsg. vom Bensberger Kreis, Mainz 1970, S. 10: "Auch ist bisher keine dieser gesellschaftlich-staatlichen Demokratien ganz zu sich selbst gekommen: Ausnahmslos sind sie in Demokratisierungsprozessen oder in gegenläufigen Prozessen begriffen; schon deshalb eignen sie sich nicht ohne weiteres als Modell kirchlicher Demokratisierung" und siehe die Konfrontationen von Kirche und Staat bei Georg May, Demokratisierung der Kirche, Wien 1971 sowie Hans Urs von Balthasar, Der antirömische Affekt, wie läßt sich das Papsttum in der Gesamtkirche integrieren, Freiburg - Basel - Wien 1974.

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durch verdeutlicht, daß sie die Kirche als das Volk Gottes in der Welt erklärte. Es betont, daß sich zwar das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach unterscheiden. "Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt ja auf besondere Weise am Priestertum Christi teil. Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes dar; die Gläubigen hingegen wirken Kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Ltebe"23. Ausdrücklich spricht das Konzil von dem heiligen und organisch verfaßten Wesen dieser priesterlichen Gemeinschaft 24 und betont, daß dieses Gottesvolk in allen Völkern der Erde wohnt, "da es aus ihnen allen seine Bürger nimmt, Bürger eines Reiches, freilich nicht irdischer, sondern himmlischer Natur. Alle über den Erdkreis hin verstreuten Gläubigen stehen mit den übrigen im Hl. Geist in Gemeinschaft" und so weiß, um mit Johannes Chrysostomus 25 zu sprechen, "der, welcher zu Rom wohnt, daß die Inder seine Glieder sind"28. Darin kommt eine Brüderlichkeit zum Ausdruck, die ihren Grund in der Vaterschaft Gottes hat. Das Kapitel über das Volk Gottes wird daher in der genannten dogmatischen Konstitution über die Kirche den Kapiteln, über die hierarchische Verfassung der Kirche und über die Laien vorangestellt und damit auch festgestellt: "Das heilige Gottesvolk nimmt auch Teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben im Glauben und Liebe, in der Darbringung des Lobesopfers an Gott als Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (vgl. Hebr. 13, 15). Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Jo. 2, 20 und 27), kann im Glauben nicht irren"27. Kann aus dieser Sicht der Kirche als Volk Gottes in der Welt die Forderung nach Demokratie in der Kirche im Sinne von Demokratisierung der Kirche· erhoben werden 28 ? Diese Frage wird zu verneinen sein, da Jesus Christus seinen Aposteln und über diese ihren Nachfolgern eine 23 Lumen gentium Nr. 10, Karl Rahner - Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilkompendium, 2. Auf!., Freiburg - Basel - Wien 1966, S. 134 f. 2~ Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 135. 25 Jo. Hom. 65, 1. PG 59, 361. 28 Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 138. 27 Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 136. 28 Dazu auch Willi Kreiterling, Katholische Kirche und Demokratie, Frankfurt am Main 1960 und Alexander Dordett, Kirche zwischen Hierarchie und Demokratie, Wien 1974.

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Autorität verliehen hat, ist diese von einer Abstimmung der Gemeinde unabhängig; das soll aber nicht heißen, daß diese Autorität sich nicht um die Bezogenheit mit der Gemeinde bemühen und diese ausdrücken solL So erklärt das Gutachten, das dem Holländischen Pastoral konzil vorgelegt wurde und den Titel trägt "Autoritätsauffassungen und Autoritätserlebnis": "Das Gebot der Stunde heißt daher: Die Autorität muß sich öffnen und sich der Diskussion stellen. Recht gehandehabte kirchliche Autorität bedarf keiner Rechtfertigung, sie kommt aus dem Wort, an das man selbst glaubt und führt zu der Tat, die durch ihren Wert für sich selber spricht"29. Das heißt, daß der jeweilige Amtsträger in der Ausübung seiner Autorität sich seiner Bezogenheit auf die ihm anvertraute Gemeinde besonders bewußt sein soll, also der Papst auf die Weltkirche, der Bischof auf seine Diözese und der Pfarrer auf seine Gemeinde; eine doppelte Repräsentation begegnet sich hier in der Kirche: die Repräsentation Christi und die Repräsentation der Gläubigen30 . In dieser Weise bestand schon in der urchristlichen ekklesia der Antike ein Nebeneinander von beschließender Körperschaft und anwesender Öffentlichkeit in einer Volksversammlung, und die Apostelgeschichte berichtet unter anderem, daß das Apostelkonzil zwar vor der Öffentlichkeit der ganzen ekklesia stattfand, Entscheidungsträger waren aber allein die "Apostel und Presbyter"31. Dieser Hinweis auf die Apostelgeschichte zeigt deutlich, daß schon in der Urkirche Autoritäten bestanden und anerkannt waren. Diese Autoritäten schließen aber die freie Mitverantwortung nicht aus, sie sind, wie Heinrich Bacht schon erklärte: "ergänzende Größen. Autorität, die die Freiheit der Untergebenen nicht respektiert, ist Tyrannei: Freiheit, die die vorgegebene Autorität nicht achtet, ist Anarchie"32. Welche Möglichkeiten für eine derartige Mitverantwortung eröffnen sich dazu heute in der Kirche? Wie jede Autoritätsstruktur33 der Natur der jeweiligen Ordnung anzupassen ist, muß dies auch in bezug auf die Mitverantwortung in der Kirche gesagt werden. So werden Autorität und Mitverantwortung in Familie, Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Schule und Hochschule, Krankenhaus und auch in der Kirche jeweils anders strukturiert und fundiert sein. Harry Hoefnagels meint: "Die Demokratie in der Kirche kann nicht bedeuten, daß das Volk die durch Gott selbst über seine Kirche ausgeübte Autorität übernimmt, sondern nur, daß das Kirchenvolk an n Stimmen der Zeit 1968, S. 190 f. Dogmatische Konstitution über die Kirche, Art. 19, 21, 27 und Dekret über Dienst und Leben der Priester Art. 2, 5. 31 Apg. 15, 6 und 15, 22. 82 Bacht, a.a.O., S. 107. 33 Siehe über Autorität allgemein J. M. Bochenski. Was ist Autorität? Einführung in die Logik der Autorität, Freiburg im Breisgau 1974. 30

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der Führung der Kirche als der die Unterwerfung unter Gottes Willen wollenden Vergemeinschaftung aktiv beteiligt ist"34. Diese Mitverantwortung ist ja schon deshalb erforderlich, damit das Charisma sich Zugang zur Kirche verschaffen und sich entfalten kann. Das Amt ist in diesem Sinne auch "als Dienst am freien Charisma"35 zu verstehen. Jeder Autoritätsträger befindet sich in der Kirche in dienender Funktion. Es sollte daher schon bei den Bestellungen von Amtsträgern insofern deutlich werden, daß diese immer unter einem orts- und gesamtkirchlichen Aspekt erfolgen und niemals unter derartig ausschließlichen Erwägungen von oben, daß kein Einvernehmen mit den unmittelbar Betroffenen, nämlich der entsprechenden Gemeinde hergestellt wird; muß doch auch bei der übertragung von Ämtern zwischen der Bezeichnung der Person und der übertragung der Gewalt unterschieden werden; an erstgenanntem Vorgang könnte eine demokratische Mitverantwortung auch in der Kirche einsetzen. Die letzte Entscheidung verbleibe trotzdem weiter bei der übergeordneten Autorität, welche die Amtsgewalt übertragen und dabei die Eignung und Würdigkeit überprüfen muß, die dem Stiftungswillen Christi zu entsprechen hat, denn "die Kirchengewalt ist wohl zu Volkes Diensten, nicht aber von Volkes Gnaden"36. Es sollte daher ein Weg der Ämterbestellung beschritten werden, der ebensowenig nur von oben wie nur von unten erfolgt, ist doch die Kirche in der Ausführung ihres Stifterwillens unter Ausschluß der Willkür auf die Zuordnung aller getauften Christen abgestellt. So verlangt schon der Gottesdienst als Erstform der Kirche die Versammlung der Gläubigen und das Evangelium kann nur in der Gemeinschaft verwirklicht werden und jede Gemeinde kann nur als ein Teil der Gesamtkirche bestehen, der in ihrem Bereich eine Eigenverantwortung zukommt. Die Mitverantwortung in der Kirche könnte neben der einvernehmlichen Ämterbesetzung ihren Ausdruck in beratenden Gremien auf allen Ebenen der Kirche von der Pfarre bis zum Papst finden 37 ; in dieser Sicht 3f Harry Hoefnagels, Demokratisierung der kirchlichen Autorität, WienFreiburg - Basel 1969, S. 87. 35 Karl Rahner, Demokratie in der Kirche? Stimmen der Zeit 1968, S. 3. 3e May, a.a.O., S. 31. 37 Beachte Johannes Neumann, Synodales Prinzip, der größere Spielraum im Kirchenrecht, Freiburg - Basel - Wien 1973, S. 55 f.: "So gesehen, ist auch diese Ausweitung des synodalen Systems bis in die Einzelgemeinde nichts ungewöhnlich Neues, sondern nur die heute von der Sache geforderte und konsequente Anwendung des traditionellen Grundsatzes der Brüderlichkeit auch im Bereich der einzelnen Gemeinde. Durch eine solche Teilhabe der Repräsentanten der Gemeinde oder der Teilkirche an der Information wird jedoch weder die Bedeutung des amtlichen Dienstes und seine unaufhebbare Verantwortung in der Kirche geschmälert, noch wird das Amt abhängig gemacht

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könnte die Forderung nach sogenannter Demokratisierung der Kirche ihre Entsprechung auch im synodalen Prinzip finden. Anerkennt doch auch das II. Vatikanum in der Nr. 36 der Pastoralkonstitution die Kirche in der Welt von heute "gaudium et spes" die "richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten"38 und damit auch die Bedeutung des Eigenwertes wissenschaftlicher Erkenntnisse, die der Kirche zu vermitteln sind. Je komplizierter unser soziales Leben wird, desto dringender wird sich die Notwendigkeit zur Bildung derartiger beratender Gremien für die Ausübung des Lehr- und Hirtenamtes der Kirche ergeben; denn die Richtigkeit einer moralischen Wertung durch die Autoritätsträger der Kirche setzt deren Sacheinsicht und damit deren Sachverständnis voraus, ohne daß ihnen die Verantwortung für ihr moralisches Urteil abgenommen werden kann und soll. Es wird noch genau zu prüfen sein, in welchen Bereichen und Formen eine tätige Mitverantwortung in der Kirche von Laien gegenüber dem Priester und von Priestern gegenüber höheren Autoritätsträgern in der Kirche möglich ist3 9 • Schon heute läßt sich sagen, daß es dabei zwei Extreme abzugrenzen gilt: auf der einen Seite wird eine volle Demokratisierung der Mitverantwortung in der Kirche derart, daß über Glaubenssätze abgestimmt und deren Änderung beschlossen wird, nicht möglich sein; insoferne besitzt die Kirche eine absolut starre Verfassung, aber andererseits sollte man die Weihegewalt der Kirche nicht auf jede Angelegenheit der Kirche erstrecken 40 • So stellte schon Hans Maier fest: "Die Regierung eines Bistums ist sicher ein Akt geistlicher Gewalt. Es wäre undenkbar, daß ein Laie das täte. Kirchliche Amtsverantwortung ist gebunden an die Weihe, an das Amt im eigentlichen Sinn. Aber diese heilige Gewalt ist nicht vonnöten für die kirchlichen Finanzen, für Dinge der kirchlichen Caritas, für kirchliche Soziallehre und Sozialpolitik, für das Presse- und Nachrichtenwesen"41. In diesem Sinne könnten mehr als bisher in diesen Bereichen der Kirche auch Laien herangezogen werden und den Klerus für seine eigentlichen seelsorglichen Aufgaben entlasten 42 • vom Willen der Mehrheit - wo allerdings versucht würde, einfach den Willen einer (zufälligen) Abstimmungsmehrheit zur Norm für das Handeln der kirchlichen Amtsträger zu machen, würde nicht nur der Boden der kirchlichen Tradition verlassen, sondern auch das Wesen und das (evangelische) Selbstverständnis der Kirche in Frage gestellt ... Diese konsultative Mitwirkung meint nicht, Mitbestimmung im heutigen Sinn, sondern Teilhabe an der Mitverantwortung der gesamten Kirche"; beachte dazu die von Neumann, a.a.O., S. 105, Anm. 66 angeführten postkonziliaren Gesetze und Verordnungen, besonders auch die Apostolische Konstitution Paul VI. "Regimini Ecclesiae" vom 15. 8. 1967 zur Neuordnung der Römischen Kurie (AAS 59 [1967] 885 - 928). 38 Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 482. 3g Beachte Hans Dombois, Hierarchie Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur, Freiburg - Basel - Wien 1971. 40 Siehe auch Josef Pieper, Entsakralisierung?, Zürich 1970. 41 Maier, in: Ratzinger - Maier, a.a.O., S. 75.

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Eine dem Wesen der Kirche entsprechende Form der Demokratisierung der Kirche würde daher nicht allein zur Mehrung des Verantwortungsdenkens in der Kirche, sondern auch zu einer Konzentration des Klerus auf seine eigentlichen Aufgaben führen 43 , auf die er zeitgemäß vorzubereiten wäre. Voraussetzung dafür ist aber, daß bei den Bemühungen um eine Demokratisierung der Kirche der für das gesamte abendländische Denken grundlegende Unterschied von Politischem und Nichtpolitischem nicht außer acht gelassen wird und die Formen der politischen Demokratisierung, die im Staat zu gegensätzlichen Parteiungen führen und auf die Vertretung und den Ausgleich entgegengesetzter Interessen und Anliegen gerichtet sind, auf den Bereich der Kirche, die sich nicht um eine politische Willensbildung, sondern um eine religiöse Heilsfindung des einzelnen bemüht, wesensfremd übertragen werden44 • Viele Probleme, wie etwa die einer entsprechenden Laienrepräsentation, gilt es noch zu lösen. Neben diesen Bemühungen um eine sachgerechte Demokratie in der Kirche im Sinne einer Mehrung mitverantwortlichen Denkens, ist jenes Bemühen der Kirche um die Demokratisierung zu unterscheiden, in dem sich die Kirche im Rahmen ihrer Soziallehre mit dem sittlichen Auftrag der Demokratie als politischem System beschäftigt45 • 42 Maier, a.a.O., S. 75: "Ich würde also eine zweifache Richtung sehen, in der sich ein Prozeß der Demokratisierung sinnvoll entwickeln könnte: einmal eine deutliche Scheidung der bis jetzt noch einheitlichen Gewalt der Gesetzgebung, der Exekutive, der Judikative (Stichwort: kirchliche Verwaltungs gerichte unabhängig von der Exekutive; Hineinwachsen der Laien in die Teilhabe an der kirchlichen Gesetzgebung); und zum anderen eine deutliche Scheidung zwischen der heiligen Gewalt, die unaufhebbar ist und mit dem Stiftungscharakter zusammenhängt, und jeder anderen politischen Gewalt in der Kirche. Am weitesten ist der Prozeß der ,Demokratisierung' wohl im Bereich der sogenannten Räte vorangeschritten. Die ,Synodalisierung' auf Pfarrei-, Dekanats- und Diazösanebene ist in vollem Gang", dazu siehe näher Klaus Mörsdor!, Das synodale Element der Kirchenverfassung, in: Volk Gottes, Festschrift für Joseph Höfner, Freiburg - Basel- Wien 1967, S. 568 ff. und Johannes Neumann, Synodales Prinzip sowie derselbe, Menschenrechte auch in der Kirche? Zürich 1976. 43 Siehe Demokratisierung der Kirche, S. 15: "Rasche Reformen der übergreifenden Institutionen, des kirchlichen Rechtskanons, der theologischen Fakultäten, der Theologenausbildung und anderer Grundstrukturen der Kirche sind in der Richtung der Demokratisierung dringend nötig." 44 So auch Demokratisierung der Kirche, S. 20: "Ebensowenig wie seit Konstantin die Antike, später die mittelalterliche Ordnungs struktur die Kirche in ihrer Gemeinsamkeit geprägt hat, vielmehr auch durch Strukturelemente durchbrochen wurde, die auf Grund des Evangeliums und der Wirkung des Heiligen Geistes quer zur üblichen und geltenden Ordnung standen, ebensowenig läßt sich ein irgendwie geartetes liberales oder sozialistisches Demokratieverständnis, unmittelbar auf die Kirche übertragen"; beachte auch Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, 3. Auf!., Freiburg - Basel - Wien 1973, bes. S. 127 ff. 45 Siehe etwa die päpstlichen Rundschreiben "Diuturnum illud" , 1881, "Immortale Dei", 1885 und "Sapientiae christianae", 1890 abgedruckt in: Mensch

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111. Die Einstellung der Kirche zur Demokratie Die Kirche hat den politischen Systemen und Staatsformen gegenüber stets eine neutrale Haltung bewahrt und keinen Widerstand gegen sie geleistet, solange sie nicht das Gemeinwohl und die Grundrechte der Menschen verletzten46 • Die Kirche hat dabei jede Evolution einer Revolution47 vorgezogen und diese nur als ultima ratio für den Fall für zulässig erklärt, daß sie imstande ist, die bestehende schlechte öffentliche Ordnung durch eine neue, bessere öffentliche Ordnung unmittelbar zu ersetzen. Da die Demokratie durch Jahrhunderte hindurch meist in revolutionärer Weise und in Ablehnung gegen die Staatsform der Monarchie, welche die Kirche in ihrem Sendungsauftrag - meist nicht uneigennützig - unterstützte, auftrat, fand sie eine schon zur Geschichte gewordene Ablehnung durch die Kirche 48 • Dazu kommt noch, daß die Demokratie von einigen charismatisch, nämlich geradezu als Religionsersatz, aufgefaßt und revolutionär gegen das Bündnis von Thron und Altar vertreten wurde. Sie forderten eine Trennung von Kirche und Staat, welche von der Kirche damals abgelehnt wurde49 , da es ein Stadium eines langen, gegen die Kirche seit dem Mittelalter gerichteten Prozesses der Säkularisation war50• Je mehr aber die Kirche auf Distanz zu dem als Hemmschuh der Entwicklung des öffentlichen Lebens empfundenen Absolutismus und der noch vom Mittelalter übernommenen Feudalordnung ging, desto mehr öffnete sie sich zum Gespräch mit den Anliegen der Demokratie. Im Hinblick auf das in der Demokratie mögliche Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, das in der Idee von der Identität von Herrscher und Beherrschten mit enthalten ist, hätte gerade der Katholizismus offen für die Demokratie sein können. Diese Entwicklung setzt aber erst ein, als der Demokratismus sich mit dem Libeund Gemeinschaft in christlicher Schau, hrsg. von EmU Marmy, Freiburg 1945, S. 553 ff., 71 ff. und 603 ff. 46 Beachte die Entwicklungsenzyklilm Papst Paut VI. Populorum Progressio Nr. 31, Freiburg im Breisgau1967, S. 163: "Trotzdem: Jeder revolutionäre Aufstand - ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes schwer schadet - zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttungen hervor. Man darf ein übel nicht mit einem noch größeren übel vertreiben"; dazu siehe die von Paul VI. am 23. August 1968 in Bogota gehaltene Ansprache, KathpressDokumentation, Papstreden in Bogota, S. 15 f. sowie Herbert Schambeck, Populorum Progressio und das Zweite Vaticanum, in: Soziale Verantwortung, Festschrift für Goetz Briefs, Berlin 1968, S. 604 ff. 47 Hans Maier, Revolution und Kirche, 2. Aufl., Freiburg 1965. 48 Siehe Hans Maier, Kirche und Gesellschaft, München 1972, bes. S. 84 ff. 48 Vgl. etwa die päpstlichen Rundschreiben "Mirari vos" 1832 und "Quanta cura" 1864, abgedruckt bei Marmy, a.a.O., S. 15 ff. und 33 ff. 50 Watdemar Besson, Die christlichen Kirchen und die moderne Demokratie, in: Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, hrsg. von Watther Peter Fuchs, Stuttgart 1966, S. 202.

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ralismus auf dem Weg zum Verfassungsstaat51 und damit zum Rechtsstaat52 vereinte 53 und so die politische Freiheit des einzelnen54 eine neue Prägung erhielt, welche der christlichen Lehre von der dignitas humana mehr entsprach als das politische "Hintersaßenverhältnis" unter autoritären und absolutistischen Staatsformen. Diese Konstitutionalisierung und Demokratisierung des Staates zum demokratischen Verfassungsund Rechtsstaat war durch eine allmähliche Demokratisierung des Wahlrechtes 55 , der Staatswillensbildung56, die Bindung der Vollziehung an die Gesetze57, die Justizmäßigkeit der Verwaltung58, die Entwicklung der Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts 59 , die Rechnungs- und Gebarungskontrolle 60 und letztlich durch die Amtshaftung 61 gekennzeichnet62 • Allmählich wurde im Laufe des 19. und später deutlicher im 20. Jahrhundert jene oft auch harte Auseinandersetzung beendet, von welcher Jacques Maritain schrieb: "Infolge der blinden Logik der geschichtlichen Auseinandersetzungen und des mechanisch wirksamen Massenbewußt51 Siehe earl J. Friedrich, Der Verfassungs staat der Neuzeit, Berlin - Göttin gen - Heidelberg 1953. 52 Beachte Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates. 53 Dazu Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie. 54 Hierzu Adol! Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 163 ff. 55 Siehe z. B. hinsichtlich der allgemeinen Entwicklung des Wahlrechtes immer noch am informativsten Karl Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, 2 Bde., Berlin und Leipzig 1932 und speziell für Österreich Herbert Schambeck, Die Entwicklung des österreichischen Wahlrechtes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Tübingen 1973, S. 247 ff. 58 Dazu näher Kurt Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, Köln - Berlin 1967. 57 Dazu Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968 und Hans Klecatsky, Der Verwaltungsgerichtshof und das Gesetz, in: 90 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich, Wien 1966, S. 46 ff. 5B Siehe dazu vor allem Friedrich Tezner, Das österreichische Administrativverfahren, 2. Aufl., Wien 1925. 59 Dazu vor allem Felix Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, GrazWien - Köln 1956; sowie Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit - Fünfzig Jahre Verfasungsgerichtshof in Österreich, hrsg. Felix Ermacora - Hans Klecatsky - Rene Marcic, Frankfurt - Salzburg 1968, Kurt Ringho!er, Der Verwaltungsgerichtshof, Graz - Wien - Köln 1955 und Friedrich Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wien 1972. 60 Vgl. Rudol! Hoenig, Der österreichische Rechnungshof, Wien 1951; 100 Jahre Rechnungshof, Wien 1001 und Herbert Schambeck, Österreichs Wirtschaftsstaat und seine Kontrolle, 'Österreichische Juristenzeitung 1971, S. 589 ff. S. 589 ff. 61 Siehe Edwin Loebenstein und Gustav Kaniak, Kommentar zum Amtshaftungs gesetz, Wien 1951 und 1957 sowie Hans Spanner, Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe (Österreich), in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 1967, S. 505 ff. 82 Siehe diesbezüglich auch Leopold Werner, Österreichs Weg zum Rechtsstaat, in: Juristische Blätter 1948, S. 120 ff.; Hans Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien - Freiburg - Basel 1967 und Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin 1970, S. 19 ff.

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seins - einer Logik, die mit der Logik des Denkens nichts zu tun hatwar es möglich, daß die führenden Kräfte der modernen Demokratie ein Jahrhundert hindurch im Namen der Freiheit das Evangelium und das Christentum ablehnten, während die führenden Kräfte der christlich sozialen Kreise ein Jahrhundert hindurch im Namen der Religion die demokratischen Bestrebungen bekämpften"63. In dieser Zeit allmählicher Öffnung des Katholizismus für die Demokratie entstand dort eine christliche Demokratie, "wo sich die Absicht des politischen und sozialen Katholizismus mit einer geschichtsphilosophischen Konzeption trifft, die in der Demokratie nicht nur die providentielle Staats- und Gesellschaftsform des christlichen Zeitalters, sondern auch die sicherste Bürgschaft für die Freiheiten der Kirche sieht"64. In diesem Zusammenhang sei auf die democratie chretienne der Revolution von 1848 in Frankreich und nach 1891 auch in Belgien und Italien verwiesen. Es seien im französischen Katholizismus 65 Lamennais66 und Lacordaire67 genannt. Auch in der Lehre der Päpste zeichnete sich ein Wandel ab, so erklärte Leo XIII. 1885 in der Enzyklika Immortale Dei: "Wenn das Volk in mehr oder minder großem Umfang an der Ausübung der Staatsgewalt beteiligt ist, ist das an sich nicht zu tadeln, ja eine solche Teilnahme kann in bestimmten Zeiten und unter bestimmten Gesetzen nicht nur zum Nutzen der Bürger beitragen, sondern geradezu zu ihren Pflichten gehören"68, und 1888 bemerkt er in seiner Enzyklika Libertas praestantissimum: "Auch ist es keine Pflichtverletzung, eine Staatsverfassung anzustreben, die durch eine Volksvertretung gemäßigt ist"69. Den Begriff "democratia christiana" verwendet Leo XIII. erstmals 1901 in seiner Enzyklika Graves de Communi070 . Als nach Beendigung des ersten Weltkrieges auch im Zusammenhang mit der Ausrufung von Republiken die Demokratisierung der Staatsformen und politischen Systeme wuchs, nahm nicht zuletzt aus pastoralen Gründen die Bedeutung der Demokratie in der Lehre der Päpste zu. Am deutlichsten hat sich geradezu empfehlend Pius XII. mit dem Anliegen der Demokratie in seiner Weihnachts ansprache 1944 auseinander63 Jacques Maritain, Christianisme et democratie, New York 1943, deutsch von Franz Schmal, Christentum und Demokratie, Augsburg 1949, S. 26. 64 Hans Maier, Revolution und Kirche, S. 32. 65 Dazu Maier, a.a.O., besonders S. 259 f., 268 f., 272 ff. und 303 ff. 66 F. de Lamennais, Essai sur l'indifference en matiere de religion, Paris 1836/37 und derselbe, Defense de l'Essai, Paris 1818, dazu Maier, a.a.O., S. 164 ff. 61 Hiezu Maier, a.a.O., S. 215 ff. und S. 231 ff. 68 AAS Vol. XVIII, 1885, S.174. 69 Vgl. Marmy, a.a.O., S. 115. 10 AAS XXXIII 1900 - 1901, S. 385 ff.

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gesetzt; er betont, daß es angesichts der damaligen Verletzungen der Menschenrechte und des Gemeinwohls nicht zu verwundern sei, wenn sich die Menschen von der Idee der Demokratie angesprochen fühlen 71 • Pius XII. hatte bei dieser Gelegenheit gleichsam einen Sittenspiegel der Demokratie entfaltet. Am 10. März 1948 erklärte Pius XII. sogar später: "Unter den gegenwärtigen Umständen ist es strenge Pflicht aller Männer und Frauen, die das Recht haben, an der Wahl teilzunehmen. Wer sich davon fernhält, besonders aus Trägheit oder Feigheit, begeht an sich eine schwere Sünde, lädt eine tödliche Schuld auf sich"72. Am 13. Dezember 1950 fügte dem Pius XII. noch hinzu: "Wer in unseren Tagen berufen ist, beim Werk der Gesetzgebung mitzuarbeiten, übernimmt damit zugleich eine Aufgabe, von der oft Leben und Tod, Zufriedenheit oder Verbitterung, Fortschritt oder Verfall von unzähligen Menschen abhängt. Vom Augenblick an, wo sie ihren Stimmzettel in die Urne werfen, legen Tausende von Wählern ihr Schicksal in seine Hände. Für die Dauer der Legislaturperiode hängt ihr Glück oder Unglück, ihr wirtschaftliches- soziales, kulturelles und geistiges Wohl mehr oder weniger endgültig vom Ja oder Nein einer Stimme ab, die Ihr den Gesetzesvorschlägen gebt, welche den Gegenstand Eurer Erörterungen und überlegungen bilden"73. Auch die Nachfolger Pius XII. haben sich in positiven Äußerungen mit den Notwendigkeiten der Demokratie auseinandergesetzt. Johannes XXIII. legte am 11. April 1963 in seiner Friedensenzyklika Pacem in terris ein Bekenntnis zur Demokratie ab 74 und hat diese mit einer systematischen Darlegung der Grundrechte des Menschen verbunden. Diesen umfassenden Grundrechtskatalog (Nr. 11 - 27) stellte er in engen Zusammenhang mit den Pflichten der Staatsbürger (Nr. 28 - 45). Paul VI. hat wieder in seiner Enzyklika "Ecclesiam Suam" die Eigenschaften, aber auch die Grenzen angegeben, die für den Dialog, der Voraussetzung jeder Demokratie ist, bestimmend sind75 . In dieser Weise steht die Lehre Papst Paul VI. im Zusammenhang mit dem 11. Vatikanischen Konzil, das besonders in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" über die Kirche in der Welt von heute,einen deutlichen positiven Bezug zur Demokratie nimmt: "Anerkennung verdient das Vorgehen jener Nationen, in denen ein möglichst großer Teil der Bürger in echter Freiheit am Gemeinwesen beteiligt ist"76. 71 Utz - Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens (Soziale Summe Pius XII) II, Freiburg/Schweiz 1954, S. 2102 f. 72 Utz - Groner, a.a.O., S. 1408 f. 73 Utz - Groner, a.a.O., S. 1793 f. 74 Arthur-Fridolin Utz, Die Friedensenzyklika Papst Johannes XXIII., Freiburg im Breisgau 1963, bes. S. 103. 75 Papst Paul VI., Enzyklika Ecclesiam Suam 1964, Nr. 76. 76 Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 478.

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Diese Anerkennung der Demokratie in der Lehre der katholischen Kirche stellt keine Abkehr von ihrer traditionellen Einstellung des Neutralismus gegenüber den Staatsformen dar; es ist vielmehr eine zeitbedingte Modifikation dieser Position, da das politische System der Demokratie sowohl in einer Staatsform der Monarchie als auch der Republik verwirklicht werden kann. Es läßt sich daher heute feststellen, daß die Kirche heute jede Staatsform anerkennt, ausgenommen die absolutistische Monarchie und die autoritäre Republik, sofern sie die Menschenrechte des einzelnen und das Gemeinwohl nicht verletzt. Damit hat die Kirche aber selbst keinen allzu großen Raum empfehlungslos gelassen, da sie seit Jahrhunderten, nämlich seit Ambrosius, neben der Individualmoral eine eigene Sozialmoral vertritt, die sich später zu einer eigenen katholischen Soziallehre entwickelte. Die katholische Soziallehre 77 ist eine seit Ambrosius von der katholischen Kirche entwickelte Lehre von der sozialen Ordnung in Staat und Gesellschaft, der es vor allem um die Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen geht und dazu eine Reihe von Grundsätzen entwickelt hat, die als Sozialgestaltungsempfehlungen zeit- und ortsorientiert jeweils weiterzuentwickeln sind. Die Lehre der katholischen Kirche von der Freiheit und Würde des Menschen, der dignitas humana, kann heute rückblickend als ein Teil der Entwicklung der Grundrechte 78 bezeichnet werden und hat zur Humanisierung der Rechts- und Staatsordnung79 überhaupt beigetragen. 77 Dazu siehe zur grundlegenden Problematik Karl Rahner, Die gesellschaftskritische Funktion der Kirche, in: derselbe, Schriften zur Theologie, Band IX, Einsiedeln - Zürich - Köln 1967, S. 569 ff. und Fortschritt wohin, zum Problem der Normenfindung in der pluralen Gesellschaft, hrsg. von Willi Oelmüller, Düsseldorf 1972 sowie zu den Grundsätzen und dem System der katholischen Soziallehre Gustav Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, 2 Bände, Köln 1964; Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer Rheinland 1962; derselbe, Die katholische Soziallehre gestern und heute, ihre Dynamik und Herausforderung, Bonn 1975; Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, Geschichte und System, Osnabrück 1968; Johannes Messner, Die soziale Frage, 7. Auf!., Innsbruck - Wien - München 1964; derselbe, Das Naturrecht, 5. Auflage, Innsbruck - Wien - München 1966; derselbe, Ethik und Gesellschaft, Köln 1975; Nikolaus Monzel, Katholische Soziallehre, 2 Bände, Köln 1965 und 1967; Emir Muhler, Die Soziallehre der Päpste, 2. Auflage, München 1958; Os wald von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft heute, 3 Bände, Freiburg 1956 ff.; derselbe, Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg 1968; derselbe, Wie sozial ist die Kirche, Düsseldorf 1972 sowie Katholisches Soziallexikon, Schriftleitung Alfred Klose, Innsbruck Wien - München 1964. 78 Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Auflage, Wien 1963 und derselbe, Die Würde des Menschen und ihr völkerrechtlicher Schutz. 7D Vg!. dazu Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, hrsg. von Theodor Tomandl, Wien 1970 und Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967.

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Dabei hat die katholische Kirche durch ihre Lehre von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, der Imago Dei-Lehre, die Würde des Menschen metaphysisch begründet und einen Anstoß zu einer Rangordnung der Werte gegeben, in welcher mit einer zunehmenden Anerkennung der Mensch an der Spitze der Bemühungen um eine gerechte Sozialordnung auch der pluralistischen Gesellschaft in der technisierten Industriegesellschaft steht80. Dies zeigt sich in dem Bemühen um eine Neukodifikation der Menschrechte im innerstaatlichen Bereich81 wie in dem Postulat von Menschenrechten im Bereich des Europarates82 oder weltweit der UN083. Diese feststellbare Erweiterung des Grundrechtsschutzes ergibt sich sowohl aus seiner Internationalisierung als auch aus vielen sachlichen Notwendigkeiten. Die Menschenwürde ist so ein Wirkungsgrund geworden, der sich neben den sogenannten klassischen, nämlich den liberalen und demokratischen Grundrechten, auch auf die sozialen Grundrechte bezieht84 . Die Grundrechte sind damit zu einem Bestimmungsgrund staatlichen Wollens geworden, der sich auf ein Tun als auch ein Unterlassen des Staates und damit auf eine Freiheit von und durch den Staat bezieht. Diese Erweiterung der Objekte des Grundrechtsschutzes verlangt heute eine ihr angepaßte Auswahl der entsprechenden Rechtsform, damit nicht das ihnen gemeinsame Menschenbild verloren geht. Hier zeigt sich auch wieder einmal die Problematik der Beziehung von Freiheit und Sicherheit. Die Technisierung des Lebens hat aber gezeigt, daß wirtschaftliches Wachstum, soziale Sicherheit und kultureller Fortschritt umsonst erreicht werden, wenn sie nicht der einzelne als physisch und psychisch gesunder Mensch erleben kann. Damit erweist sich der Umweltschutz85 und die auf ihn gerichteten existentiellen Grundrechte als erster und letzter Grund aller Grundrechtsentwicklung überhaupt. In dieser Entfaltung der Lehre von den Grundrechten zeigt sich die christliche Lehre von der Menschen80 Beachte Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, und Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner, Berlin 1976, S. 445 ff. 81 Siehe für Österreich Peter Pernthaler, Die Grundrechtsreform in Österreich, Archiv des öffentlichen Rechts 1969, S. 31 ff. 82 Siehe dazu die übersicht bei Felix Ermacora (Hrsg.), Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz, Stuttgart 1971, S. 94 ff. 83 Vgl. dazu Andreas Khol, Der Menschenrechtskatalog der Völkergemeinschaft, Wien - Stuttgart 1968. 84 Siehe grundsätzlich Peter Saladin, Grundrechte im Wandel, Bern 1970, speziell zu den sozialen Grundrechten beachte Franz van der Ven, SQziale Grundrechte, Köln 1963, Theodor Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Tübingen 1967 und Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Berlin 1970. 85 Siehe dazu Herbert Schambeck, Umweltschutz und Rechtsordnung, Österreichische Juristenzeitung 1972, S. 617 ff. und derselbe, Whose Rights are to be Protected, in: Parliamentary Conference on Human Rights, Strasbourj;( 1972. S. 57 ff.

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würde als der heute immer deutlicher werdende Wirkgrund der Rechtsentwicklung, der aber ebenso oft durch die Politik in Verletzung der Menschenrechte gestört wird. Eng mit der Lehre von der Menschenwürde hängt die Idee des Gemeinwohls 86 ab. Das Gemeinwohl ist kein Inbegriff der Gruppeninter-

essen, also gleichsam das Ergebnis einer Addition von Organisationsbegehren, sondern auf den einzelnen bezogen; es ist ein Ausdruck der kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Werte, die der Mensch bedarf, um die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in Eigenverantwortung zu erfahren. Dieses Gemeinwohl wird heute sowohl inner- als auch zwischenstaatlich verstanden und wie bereits Papst Paul VI. in seiner Entwicklungsenzyklika Populorum progressio betonte, auch als Verpflichtung der Völkergemeinschaft herausgestellt87 , die Entwicklungshilfe verlangt. Mit dem Grundsatz des Gemeinwohls ist die katholische Soziallehre auf eine Brüderlichkeit gerichtet, die ökomenisch und ökonomisch zugleich sein will; zur Verwirklichung dessen sind in der katholischen Soziallehre einige Grundsätze als Sozial gestaltungs empfehlung entwickelt worden. Es sind dies die Grundsätze der Autorität, der Solidarität, der Subsidiarität, die Empfehlung leistungsgemeinschaftIicher oder berufsständischer Ordnung und die Anerkennung der Autonomie der irdischen Wirklichkeit; sie seien hervorgehoben. In der Besprechung dieser Grundsätze kann man die Lebensnähe der katholischen Soziallehre und die Ablehnung aller Utopien erkennen. Wer wollte nämlich nicht anerkennen, daß jede Ordnung zu ihrem dauernden Bestand von Autoritäten 88 getragen sein muß und dieser Grundsatz gerade in einer Zeit von größter Bedeutung ist, in der die Anarchie offen und verdeckt in verschiedenen Formen eine früher nicht für möglich gehaltene Renaissance feiert. Dabei darf nicht angenommen werden, daß Autoritäten immer gleich bleiben können. Auch diese entwickeln sich mit den Ordnungen, die sie tragen und zu sichern haben, weiter. So gehen wir den Weg von den hierarchischen zu den partnerschaftIichen Ordnungen, in welchen es auch Autoritäten geben muß. Waren diese früher bloß in den Positionen begründet, werden sie in Zukunft auch in den Argumentationen gelegen sein müssen. So erwartet man sich Autoritäten, die befragbar, also partnerschafts- und antwortsfähig sind. 86 Vgl. dazu Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, 2. Aufl., Osnabrück 1968. 87 Siehe dazu Herbert Schambeck, Populorum progressio und das zweite Vaticanum, S. 587 ff. 88 Beachte Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, S. 47.

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Diese Partnerschaft 89 wird in Ehe, Familie, Gesellschaft und Staat, im Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschehen der Natur der jeweiligen Sache entsprechend verschieden sein. Man halte sich das Erfordernis unterschiedlicher Partnerschaft von Kindern und Eltern in der Familie, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Betrieb und von lernender und lehrender Seite in den Schulen der 6- bis 10-, der 10- bis 14 und der 14- bis 18jährigen und der Studenten und Professoren an den Hochschulen vor Augen. Es wird jeder in einer partnerschaftlichen Ordnung nur so viel an Aufgaben übernehmen können, als er verantworten kann, und verantworten kann man nur das, was man auch versteht. Diese Form der Autorität läßt die Solidarität 90 als ihren gleichsam bedingten Grund erkennen. Sie ist aus der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen religiös erklärlich und in Grundrechten des einzelnen rechtlich gesichert. Diese Grundrechte sind in Freiheitsrechten auf den Schutz der Privatsphäre des einzelnen und in politischen Rechten auf seine Mitwirkung an der Staatswillensbildung gerichtet. Neben diesen mehr auf ein Unterlassen des Staates gerichteten Grundrechten haben sich in letzter Zeit zwei neue Gruppen von Grundrechten entwickelt, die auf ein Tun des Staates ausgerichtet sind, nämlich die im Dienste der sozialen Sicherheit stehenden sozialen Grundrechte und die den Umweltschutz bezwekkenden sogenannten existentiellen Grundrechte. So findet der von der Freiheit und Würde des Menschen getragene Grundsatz der Solidarität seinen Ausdruck in dem Streben, dem einzelnen nicht allein die Freiheit zu gewähren, sondern auch zu ihrer Nutzung zum Zweck der vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit in Eigenverantwortung auch die politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu geben, die heute auch den Schutz verlangen, diese so ermöglichte Freiheit auch als gesunder Mensch erleben zu können. Dieser vermehrte Einsatz des Staates ist mit dem dritten Leitsatz der katholischen Soziallehre, nämlich dem Prinzip der Subsidiarität 91 als dem Grundsatz der ersatzweisen Hilfeleistung, zu konfrontieren. Dieser Grundsatz hat in verschiedener Weise eine Ausprägung gefunden. Es sei im Staatsrecht an die Bundesstaatlichkeit92 und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik an die Formen der paritätischen Politik der SozialpartnerU3 BV Siehe Herbert Kohlmaier, Partnerschaft, in: Katholisches Soziallexikon, Sp. 816 ff. 90 Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 15 ff. 91 Dazu Albrecht Beckel, Subsidiaritätsprinzip, in: Katholisches Soziallexikon, Sp. 1202 ff. 92 So auch Herbert Schambeck, Österreichs Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip, in: Festschrift für Ernst Kolb zum sechzigsten Geburtstag, Innsbruck 1971, S. 309 ff. va Karl Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien - New York 1970, S. 161 ff. und Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft, das österreichische Modell, Wien 1970.

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erinnert, in welcher der Gedanke der Leistungsgemeinschaft94 seine zeitund ortsbezogene Ausführung erfahren hat. Während durch den Föderalismus eine Aufteilung der Ausübung der Staatsfunktionen auf Bund und Länder erfolgt, kann die paritätische Politik dem Staat die Mühen um eine Lösung wichtiger sozial- und wirtschaftspolitischer Probleme dadurch ersparen, daß die Interessenverbände als freiwillige und gesellschaftliche Selbstschutz- und Selbsthilfeeinrichtungen der Sozialpartner, die sie betreffenden Fragen in Eigenverantwortung einer Lösung zuzuführen suchen, damit den Staat entlasten und dem Gemeinwohl dienen. In all den skizzierten Grundsätzen der katholischen Soziallehre geht es der Kirche nicht um den Einsatz und die Ausübung monologischer Macht, sondern um die Entfaltung und das Erleben dialogischer Verantwortung; hier drückt sich sehr deutlich der im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts vollzogene Wandel im Ordnungsstreben der katholischen Kirche von der oft auch weltpolitischen Einflußnahme in die mehr noch als bisher deutlich gewordene ausschließliche pastorale Aufgabe des Heiligen Stuhles aus 95 • Daraus läßt sich auch die Bedeutung der 1964 von Paul VI. verkündeten Enzyklika "EccIesiam Suam" erkennen, in welcher als Eigenschaften des Dialoges empfohlen wurden: die Klarheit, den Sanftmut, das Vertrauen und die Klugheit. Diese Dialogbereitschaft der Kirche, die sich auch in den Reisen des Papstes nach Nord- und Südamerika, nach Indien und in das Heilige Land zeigte, kann als Zeichen der WeItverantwortung und WeItbejahung gewertet werden. Dabei werden aber auch die Gefahren gesehen, die mit jedem Dialog gegeben sind. So erklärte auch Paul VI.: "Die Kunst des Apostolates ist ein Wagnis. Die Sorge, den Brüdern näher zu kommen, darf nicht zu einer Abschwächung und Herabminderung der Wahrheit führen. Unser Dialog kann uns nicht von der Verpflichtung gegenüber unserem Glauben entbinden. Das Apostolat darf keinen doppelseitigen Kompromiß eingehen bezüglich der Prinzipien des Denkens und HandeIns, die unser christliches Bekenntnis kennzeichnen" (Art. 81). In dieser dialoghaft verstandenen Sozialverantwortung hat sich die Kirche bemüht, zur Gesellschafts- und Staatswillensbildung in der Demokratie unter Wahrung ihrer grundsätzlich neutralen Haltung gegenüber den Staatsformen96 ihre empfohlenen Grundsätze zur Sozialgestaltung auf wichtigen Gebieten der Politik näher auszuführen. Hier g4 Siehe Johannes XXIII., Mater et Magistra 1961, Nr. 37 und 65, dazu den Kommentar von Eberhard Welty, 2. Auflage, Herder-Bücherei Band 110, Freiburg - Basel - Wien 1962, S. 106 und 120 f. 95 Beachte grundlegend Heribert Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Heiligen Stuhles, Berlin 1975. 96 Beachte den Maßstab in "Gaudium et spes" Art. 42: " ... unter jegliche Regierungsform, die die Grundrechte der Person und der Familie und die

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paaren sich Ethik und Sachlichkeit, was besonders ein Anliegen des 11. Vatikanums in seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" war. Es betonte im Art. 36 die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten: "Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muß. Vorausgesetzt, daß die methodische Forschung in allen Wissenbereichen in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und gemäß den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben 97 ." Ein Fall Giordano Bruno oder Galileo Galilei wäre daher heute nicht mehr möglich. Das H. Vatikanum hat neben der neu formulierten Standortbestimmung von Glauben und Wissenschaft auch ebenso eine solche von Kirche und Politik vorgenommen. In Nr. 42 (Die Hilfe, welche die Kirche der menschlichen Gemeinschaft hingeben möchte) wird in der Pastoralkonstitution betont: "Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an"98. Im Rahmen ihrer Soziallehre bemüht sich die Kirche, ihre Sozialgestaltungsempfehlungen offen allen anzubieten, um zu einer Humanisierung der Zeit beizutragen. Im Art. 75 von "Gaudium et spes" geht das 11. Vatikanum auf die Notwendigkeit der Mitarbeit aller am öffentlichen Leben ein. Rahner-Vorgrimler sprechen in diesem Zusammenhang in ihrem Kommentar von einem uneingeschränkten Lob des Konzils für die Demokratie99 • Dabei wird die Monopolisierung des Begriffes "christlich" zu politischen Zwecken abgelehnpoo. "Berechtigte MeinungsverErfordernisse des Gemeinwohls anerkennt." Rahner - Vorgrimler, a.a.O.,

S.491. ~7 Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 482; beachte auch dort den Hinweis auf 1. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über den katholische Glauben, Kap. III: Deuz. 1785 -1786 (3004 - 3005). 98 Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 489; vgl. Pius XII. Ansprache an Historiker und Archäologen, 9. März 1956, AAS 48 (1956/212): .. Ihr göttlicher Stifter Jesus

Christus gab ihr weder einen Auftrag noch eine Zielsetzung auf der Ebene der Kultur. Das Ziel, das Christus ihr anweist, ist streng religiös (...) Die Kirche muß die Menschen zu Gott führen, damit sie sich ihm vorbehaltlos hingeben (...) Die Kirche kann dieses streng religiöse und übernatürliche Ziel nie aus dem Auge verlieren. Der Sinn all ihrer Tätigkeiten, bis zum letzten Artikel ihres Rechtsbuches, kann nur der sein, direkt oder indirekt zu diesem Ziel beizutragen." .~ Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 441. 100 Siehe Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 442.

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schiedenheiten in Fragen der Ordnung irdischer Dinge sollen sie anerkennen, und die anderen, die als einzelne oder Kollektiv solche Meinungen vertreten, sollen sie achten." Es wird damit auch zum Ausdruck gebracht, daß in manchen Fällen mehrere Möglichkeiten bestehen, Grundsätze katholischer Soziallehre, also christlich in der Politik handelnd, zu verwirklichen. Differenziert in bezug auf das notwendige Engagement des einzelnen Katholiken in der Politik geht das Ir. Vatikanum auch vor und betont im Art. 76 der obengenannten Konstitution, "daß zwischen dem, was die Christen als einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihrem Hirten tun, klar unterschieden wird"lOl. So hat das Ir. Vatikanum das Verhältnis von christlichem Apostolat und politischer Gesamtverantwortung neu formuliert und die Bereiche eigenständiger Position von Laien und Autoritätsträgern der Kirche sowie beide zusammen als Glaubensgemeinschaft hera usgearbei tetl° 2 • Handelt es sich nun aber bei der Soziallehre der katholischen Kirche um eine der vielen heute existierenden Ideologien? Eine Ideologie ist eine Lehre, die von der Erfahrung einer Teilwirklichkeit aus den gesamten Bereich des Innerweltlichen zu erklären sucht. In diesem Sinne sind z. B. der Liberalismus, der von der Erfahrung des eigenen und einzig scheinenden Ichs, und der Marxismus, der von dem Erleben der kollektiv gefaßten Gemeinschaft ausgehen, Ideologien. Viele andere Ideologien ließen sich noch hinzuzählen. Die Lehre der Kirche ist aber keine Ideologie, sondern die Lehre von einer umfassenden Seinsordnung, welche nicht bloß die Formen des Seins, sondern vielmehr auch den Grund des Seins - die Schöpfung selbst - zu erklären sucht. Sie ist religiös bedingt, eine Lehre, die keinen Teilaspekt absolut setzt und sich mit der Erfahrung des Innerweltlichen nicht begnügt, sondern die Erfahrungen des Innerweltlichen vielmehr mit der Erfahrung des überweltlichen, der Transzendenz, konfrontiert. Die Lehre des Christentums könnte sich auch mit einer Ideologie schon deshalb nicht "messen", weil jede Ideologie in ihrer Wirkkraft auf ein angebbar Fühl- und Spürbares abgestellt ist. In dieser Weise ist die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und der Heilsauftrag der Christen wohl unvergleichbar etwa mit der Blut- und Bodenlehre des Nationalsozialismus und der auf Pläne und Daten abgestellten Lehre des Kommunismus, nach welcher Freiheit die Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit ist. Die Kirche hat nämlich in ihrer Soziallehre die "innere" Freiheit des einzelnen ständig als Wirk101 102

Rahner - Vorgrimler, a.a.O., S. 534. Dazu näher Herbert Schambeck, Kirche - Staat - Gesellschaft, Wien-

Freiburg - Basel 1967, S. 95 ff.

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grund in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen über Staat und Gesellschaft gestellt und alle Erscheinungsformen "äußerer" Freiheit als Reflex sozialer Institutionen daran gemessen103 • Auf diese Weise wurde die Soziallehre der Kirche ein Beitrag zur Lehre von Möglichkeiten der Freiheit des einzelnen in unserer Zeit und zur Vermenschlichung der Demokratie. IV. Aufgaben postkonziliaren Christentums Gedanken über Kirche und Demokratie haben uns mit dem Bemühen um eine zeitnahe und menschlich ansprechende Kirche konfrontiert. Beide Positionen galt es zu erfassen: die Position der einen, die nach mehr Demokratie in der Kirche streben und der anderen, die dabei nicht vergessen haben, die Kirche mit der heutigen Demokratie zu befassen. Die Entwicklung deos nachkonziliaren Christentums zeichnet sich durch ein neues kirchliches Weltverständnis und damit einer dreifachen Hilfe der Kirche, die "Gaudium et spes" besonders deutlich machen, aus: erstens die Hilfe, die die Kirche dem einzelnen Menschen leisten möchte, zweitens die Hilfe, die sie der ganzen menschlichen Gemeinschaft, Staat und Gesellschaft anbietet und dritten die Hilfe, die die Kirche selbst von der heutigen Welt erfährt, ja braucht. Dieses Bemühen um ein neues kirchliches Weltverständnis unter dem Aspekt Kirche und Demokratie ist nicht risikolos, denn es wäre falsch, wollte man in einer Zeit der Entkonfessionalisierung der Politik die Konfession verpolitisieren. Es kommt vielmehr darauf an, das Ordnungsbewußtsein des einzelnen mit dem Wesen, nämlich dem Heilsauftrag der Kirche in Einklang zu bringen. Dies verlangt eine Entlastung des Klerus von nicht unmittelbar in seinem eigentlichen Bereich, nämlich dem der Seelsorge gehörenden Aufgaben, und auch für die Seelsorge wäre mehr als bisher eine Zusammenarbeit von Klerus und Laien ebenso wünschenswert, wie eine kollegialere Zusammenarbeit der Autoritäten der Kirche. Im ersteren Fall würde die Seelsorge lebensnaher und im letzten Fall die Kirche auch im Innenverhältnis menschlicher werden. Dies setzt allerdings ein richtiges Demokratie- und Kirchenverständnis voraus, es wäre nämlich verhängnisvoll, wollte man heute bei dem Bemühen um mehr Demokratie in der Kirche die Entwicklung der Demokratie selbst übersehen und an einen längst in Staat und Gesellschaft überholten Demokratiebegriff anknüpfen; die Folge wäre ein Substanzverlust an Glaubenskraft und ein Weg entweder in eine Anarchie oder 103 So schon Schambeck, a.a.O., S. 105 ff.; beachte auch Karl Rahner, Ideologie und Christentum, in: derselbe, Schriften zur Theologie, Bd. VI, Einsiedeln - Zürich - Köln 1965, S. 59 ff.

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eine Diktatur. Der konsequente Marxismus ist im Kommunismus in diesem Sinne den Weg über die Anarchie zur Diktatur gegangen. Hannah Arendt hat schon geschrieben: "Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platons und Aristoteles. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden"l04. Damit drückt Hannah Arendt klug aus, daß die abendländische Kultur aus der Trennung von Politischem und Nichtpolitischem in unserem Leben ausgeht, lebendige Begriffe wie Staat, Verfassung, Freiheit, Individuum entwickelt hat, ohne die wir heute gar nicht denken können; wo wir aber den unterschiedlichen Geltungsanspruch dieser Begriffe nicht erkennen, gefährden wir uns selbst. So erklärte Wilhelm Hennis in seinen Gedanken über: "Demokratisierung - zur Problematik eines Begriffes": "Wer ihre abendländische Ursprungsproblematik abschneidet, treibt nicht Ideologiekritik, sondern legt die Axt an die Wurzel der Sache"105. Das bedeutet für unser Thema "Kirche und Demokratie", daß die Kirche wohl sich in ihrem Inneren zu einer zeitgenössischen Erfüllung ihres Heilsauftrages demokratisieren, das heißt, ihre Meinungsbildung auf eine breitere Basis stellen soll, um dem Klerus auch die Arbeit damit zu erleichtern und lebensnaher zu gestalten, was allerdings gegenseitiges Vertrauen ebenso voraussetzt, wie Grundsätze ein- und desselben Glaubens sowie Toleranz und Takt im Handel aller Beteiligten. Wer allerdings die Demokratie in der Kirche im übertragen politischer Kategorien versteht, verkennt das Wesen der Kirche und die Zeichen der Zeit. Das Wesen der Kirche liegt in der Verwirklichung des vorgegebenen Wortes Gottes und nicht in der Ausführung eines zu beschließenden Gesetzes. Die Zeichen der Zeit verlangen auch nicht die Anwendung einer Rousseauschen Demokratievorstellung in der Kirche just in dem Augenblick, in dem im Bereich von Staat und Gesellschaft von ihr Abschied genommen wird. Genauso wie auch die Formen direkter Demokratie in der modernen Massengesellschaft unmöglich sind, ist auf die Kirche eine Form des Repräsentativsystems des Staates unübertragbar. Die Demokratie in der Kirche wird daher zu keiner Bildung von Parteien und Interessenverbänden in der Kirche führen können und dürfen. Es würde sich in diesem Fall nur der Pluralismus außerhalb der Kirche auf ihr Inneres ergießen und eine Kirche, welche nur die Gegensätze 104 Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt/Main 1957, S. 9. 105 Siehe Wilhelm Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffes, Köln - Opladen 1970, S. 23. Neudruck in: derselbe, Die mißverstandene Demokratie, Freiburg - Basel - Wien 1973, S. 150.

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ihrer Zeit widerspiegelt, ist wertlos für diese Zeit. Die Kirche hat vielmehr - und eine sachgerechte Demokratie könnte dies begünstigen diesen Pluralismus durch Koordination und Integration auszugleichen und sich dem Gespräch mit dieser Welt und ihren Ideologien zu stellen. Eine falsche Demokratisierung würde die Kirche an der Erfüllung ihrer Aufgaben in unserer Zeit behindern; die Kirche würde mehr Kräfte im Inneren verkraften als in der Auseinandersetzung mit der Welt verbrauchen. Die Demokratie in der Kirche zum Selbstzweck geworden, würde die Kirche in dieser Zeit wertlos machen. Der Abbau der Autorität in der Kirche hätte in tragischer Weise, aber mit unerbittlicher Konsequenz, eine Verminderung der Autorität der Kirche nach außen zur Folge. Hier zeigt sich der Zusammenhang von Demokratie in der Kirche und Kirche gegenüber der Demokratie, wenn in einer noch zu findenden entsprechenden Form der ausgeführten Brüderlichkeit - wozu das synodale Prinzip einen Beitrag leisten kann - die Demokratisierung der Kirche durchgeführt ist und dann die Kirche ihren Auftrag mit vermehrter Glaubwürdigkeit in der Welt erfüllen kann. Die heutige Notwendigkeit besteht aber nicht in einer Verpolitisierung der Kirche im inneren und einer Neutralisierung der Kirche gegenüber der Politik nach außen. Es warten noch große Aufgaben auf die Kirche in einer Welt, in der die Menschen umgeben von lauter Garanten äußerer Sicherheit innerlich immer unsicherer werden; in der bei allen Schutzmaßnahmen der Staat immer mehr Aufgaben der Menschen an sich zieht, ohne selbst menschlicher zu werden, und in der der Menschen einfach versagt, weil es Bereiche des Menschlichen und Zwischenmenschlichen gibt, in denen keine Rechtsinstitutionen des Staates helfen können, sondern der einzelne der brüderlichen Hilfe der Nächsten wie die der Kirche bedarf. Dies verlangt den Dienst der Kirche auch bei äußerlich Gesicherten, aber innerlich Verunsicherten: bei zerrütteten Ehen, versagenden Kindern, bei Rauschgiftsüchtigen, Trinkern, Neurotikern, aber auch bei Kranken, Alten, Verlassenen, kurz bei all den Einsamen in lauter Weltl 06 • Sehen wir daher die Aufgabe von Kirche und Demokratie nicht als Möglichkeit der Verpolitisierung weiterer Bereiche unseres Daseins an, sondern als eine Möglichkeit der Bewährung in neuer Heilsfindung, die weniger in der Diskussion um den Glauben, sondern in Aktionen für den Glauben besteht, dann wird vielleicht an die Stelle des ethischen Minimalismus in der Politik der Demokratiediskussion eines Tages wielOS Beachte die Erklärung Nr. 114 Verantwortung im Wohlstand, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben von der bischöflichen Kommission für gesellschaftspolitische Fragen.

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der das glaubwürdige Zeugnis eines vorgelebten christlichen Apostulats treten, das zwar noch nicht die Garantie, vielleicht aber eine Chance gibt, daß die Antwort auf die jederzeit - auch an uns - wiederholbare Frage des Pilatus: wen wollt ihr freihaben, nicht mehr Barabas, sondern Jesus Christus lautet.

DIETRICH BONHOEFFER ALS EIN VERMÄCHTNIS DES 20. JULI 1944* Von Gerhard Leibholz Freiheit ist nicht Freiheit an sich und für sich. Freiheit und Willkür, Freiheit und Belieben sind nicht identisch. In Wahrheit stehen Freiheit und Bindung in einem inneren kompensatorischen Verhältnis zueinander. In einer freiheitlichen Demokratie müssen demnach die Bindungen, die diese Demokratie erst möglich machen, respektiert werden. Bei von der Geschichte begünstigteren Nationen mögen Tradition und Erziehung diese Bindungsfunktionen erfüllen. Dort, wo dies nicht der Fall ist, ist es das Recht, wenn nicht gar die Pflicht einer freiheitlichen Demokratie, mit den Waffen des Rechtes denen das Handwerk zu legen, die darauf aus sind, diese Demokratie zu unterminieren und die Freiheit, die das Lebenselixier dieser Demokratie ist, ad absurdum zu führen. Frei ist in Wahrheit nur derjenige, der sich der ihm um der Erhaltung der Freiheit willen auferlegten Bindungen bewußt und bereit ist, in Selbstdisziplin sich diesen Bindungen zu unterwerfen. Nimmt er eine Freiheit für sich in Anspruch, so darf durch die Ausübung dieser Freiheit nicht möglicherweise die Freiheit anderer beeinträchtigt oder ganz aufgehoben werden. Dieses Selbstverständnis einer richtig verstandenen Freiheit gehört zum Vermächtnis des 20. Juli 1944. Noch heute gehören mit zu dem Größten und Erschütternsten die Dokumente der Männer des 20. Juli, in denen dieses Ringen zum Ausdruck kommt. Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie das Dilemma zwischen der Notwendigkeit, um des Menschen willen die als notwendig erkannte Aktion zu wagen, und der Verantwortung, die als notwendig anerkannten Bindungen der Freiheit zu respektieren, bei einem der Widerstandskämpfer - bei Dietrich Bonhoeffer - konkrete Gestalt angenommen hat. Sein Lebensbild soll daher im folgenden kurz aufgezeichnet werden.

* Memoir zuerst erschienen in englischer Sprache in D. Bonhoejfer, The Cast af Discipleship, Landan 1948, und in Gerhard Leibholz, Palitics tnd Law, Leyden 1965, S. 139 ff., übersetzt von Elisabeth Schambeck, Wien. 9 Kirche und Staat

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I. Lebensdaten Dietrich Bonhoeffer* wurde am 4. Februar 1906 in Breslau geboren. Er war der Sohn des Universitätsprofessors für Psychiatrie und Neurologie, Karl Bonhoeffer. Zu seinen Vorfahren gehörten Theologen, Professoren, Juristen und Künstler. Von seiner Mutter her floß aristokratisches Blut in seinen Adern. Seine Eltern waren kluge, kultivierte, warmherzige Menschen, die in allen wichtigen Dingen des Lebens kompromißlos ihren Weg gingen. Von seinem Vater erbte Dietrich Bonhoeffer die ihm eigene Selbstdisziplin, die Fähigkeit, den Menschen in Güte zu begegnen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, das richtige Wort zur richtigen Zeit zu sagen, von der Mutter die ihm eigene Warmherzigkeit, das unmittelbare Betroffensein, wenn andere unterdrückt oder ungerecht behandelt wurden, die Willenskraft und Beharrlichkeit den rechten Weg zu gehen, gleichgültig, welche Schwierigkeiten sich ihm entgegenstellten. Vater und Mutter erzogen ihren Sohn Dietrich und seine drei Brüder, seine Zwillingsschwester und drei andere Schwestern in Breslau und seit 1912 in Berlin in der christlichen, menschenfreundlichen und liberalen Tradition, welche zu den Bonhoeffers gehörte wie die Luft, die sie atmeten. Dieser Geist bestimmte Dietrich Bonhoeffers Leben von Anfang an. Bonhoeffer war allen Dingen gegenüber, die das Leben schön machen, aufgeschlossen. Er erfreute sich der Liebe seiner Eltern, seiner Geschwister, seiner Braut und zahlreicher Freunde. Er liebte die Berge, die Blumen, die Tiere - die großen und einfachen Dinge im Leben. Seine Herzensfreundlichkeit und angeborene Ritterlichkeit, seine Liebe zur Musik, zu Kunst und Literatur, sein persönlicher Charme und seine Fähigkeit zuzuhören, schafften ihm überall Freunde. Was für ihn jedoch am charakteristischsten war, war seine Selbstlosigkeit und Bereitschaft, anderen bis zur Selbstaufopferung zu dienen. Immer, wenn andere zögerten, eine schwierige Aufgabe zu übernehmen, die besonderen Mut erforderte, war Bonhoeffer bereit, das Wagnis auf sich zu nehmen. Die Theologie selbst lag ihm irgendwie im Blut. Sein Großvater mütterlicherseits, von Hase, war Geistlicher bei Wilhelm 11., fiel jedoch in Ungnade, als er sich erlaubte, von dessen politischen Ansichten abzuweichen. Als der Kaiser glaubte, seine Dienste entbehren zu können, war von Hase gezwungen, um seine Entlassung nachzusuchen. Bonhoeffers Urgroßvater war Carl von Hase, der bedeutendste Kirchenhistoriker Deutschlands im 19. Jahrhundert, der uns in seiner Autobiographie noch von seinem Besuch bei Goethe in Weimar 1830 erzählt und der (ebenso wie Dietrich Bonhoeffers Großvater väterlicherseits) 1825 seiner revolutionären, liberalen Anschauung wegen in der Festung am Hohen Asperg in Haft gesetzt wurde. Von seinem Vater her gehörte er einer

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alten, schwäbischen Familie an, die seit 1450 in Württemberg lebte und aus der ebenfalls in früheren Generationen mehrere Theologen hervorgegangen waren. Diese Tradition der Bonhoefferschen Familie mag erklären, warum Dietrich Bonhoeffer schon als Schüler, im Alter von 14 Jahren entschlossen war, Theologie zu studieren. Mit 17 Jahren wurde er an der Tübinger Universität immatrikuliert. Ein Jahr später studierte er in Berlin und hörte bei Adolf von Harnack, R. Seeberg, Lietzmann und anderen. Harnack gewann bald eine hohe Meinung von Bonhoeffers Charakter und Fähigkeiten. Später geriet er unter den Einfluß der Theologie Karl Barths, die ihre Spuren in Bonhoeffers erstem Buch Sanctorum Communio hinterließ. 1928 ging er als Vikar für ein Jahr nach Barcelona. Im Alter von 24 Jahren habilitierte er sich als Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Berlin. Vor Beginn seiner eigentlichen akademischen Laufbahn jedoch ging er, wie Reinhold Niebuhr sagte, als ein "ungewöhnlich begabter und theologisch durchgebildeter junger Mann" nach den Vereinigten Staaten, um am Union Theological Seminary in New York seinen weiteren theologischen Studien zu obliegen. Seine Schriften verschafften ihm einen festen Platz in der theologischen Welt, besonders seine Nachfolge, eine Schrift, die durch seinen Tod eine neue und tiefe Bedeutung erlangt hat. Eine glänzende Karriere lag so vor Bonhoeffer. Im Lichte dessen, was er erreicht hat, und im Hinblick darauf, was er hätte erreichen können, enthält sein Tod eine tiefe Tragik. Aber irdische Maßstäbe sind unzulänglich, das, was geschehen ist, richtig zu würdigen; denn Gott hatte ihn bestimmt, sich der höchsten Aufgabe zu unterziehen, die ein Christ auf sich nehmen kann: Er hatte ihn zum Märtyrer bestimmt. "Und du begehrest dir große Dinge? Begehre sie nicht! Denn siehe, ich will Unglück kommen lassen über alles Fleisch, aber deine Seele will ich dir zur Beute geben, an welchen Ort du ziehest." - "Ich kann nicht loskommen von diesen Worten von Jeremias", schrieb Bonhoeffer aus der Gefängniszelle.

11. Bonhoeffer und der Nationalsozialismus Dietrich Bonhoeffer war ein Realist. Er war einer der wenigen, die schnell, noch bevor Hitler an die Macht kam, erkannten, daß der Nationalsozialismus ein brutaler Versuch war, Geschichte ohne Gott zu machen und sie allein auf den Menschen zu gründen. Er gab, als Hitler 1933 zur Macht kam, seine akademische Karriere auf, die ihm unter dem nationalsozialistischen Regime ihre eigentliche Bedeutung verloren zu haben schien - hierin von den meisten seiner Kollegen sich unterscheidend, die, soweit möglich, mit dem Nationalsozialismus zu einem Komprorniß zu kommen versuchten. Schon im Februar 1933 distanzierte er 9"

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sich so deutlich über den Rundfunk von einem politischen System, das seiner Meinung nach die Nation zerrütten und in die Irre führen mußte, weil sie den Führer zu ihrem Götzen und Gott machte. Er entschloß sich, zunächst Berlin zu verlassen und nach London zu ziehen, wo er als Pastor die seelsorgerliche Betreuung von zwei Gemeinden übernahm und versuchte, seine britischen Freunde, unter ihnen besonders den Bischof von Chichester, über den wahren Charakter des Kampfes der deutschen Kirche zu informieren. Er erkannte schnell, daß in der Situation, in der sich die Welt und die Kirchen in den dreißiger Jahren befanden, die Kirchen sich nicht mehr auf bloßes Lehren von Glaubenssätzen beschränken konnten. Die ökomenische Bewegung, deren Ziel es ist, die verschiedenen Glieder des Leibes Christi wieder miteinander zu verbinden, erschien Bonhoeffer besonders geeignet, die einzelnen Kirchen an ihre Pflichten zu mahnen, sie in ihrem Handeln auf die Botschaft der Bibel hinzuweisen und sie in den Gesamtzusammenhang der alle umfassenden Kirche zu stellen. Daher ist es kein Wunder, daß Bonhoeffer bald eine bemerkenswerte Rolle in der ökumenischen Bewegung spielte, und daß er mehr als irgend ein anderer Universitätslehrer berufen war, deutsche Studenten mit dem Leben der Geschichte und der Entwicklung der nicht-lutherischen Kirchen vertraut zu machen. 1935 kehrte Bonhoeffer - indessen bereits zu einem der Führer der Bekennenden Kirche geworden - nach Deutschland zurück. Doch wurde ihm von der Gestapo verboten zu predigen, zu sprechen oder Berlin zu betreten. Daher zog er nach Pommern, um anfangs auf einer kleinen Halbinsel an der Osts tee, später in Finkenwalde bei Stettin ein illegales Predigerseminar zu leiten. Dieses Seminar war in seiner Art einmalig. Es war weder ein Zusammenschluß von Menschen, die in asketischer Abgeschlossenheit lebten, noch war es ein Predigerseminar im üblichen Sinne. Hier wurde der Versuch gemacht, das "Gemeinsame Leben" eines Christen zu leben, wie es in einer von Dietrich Bonhoeffers kurzen Schriften dargestellt war. Junge Theologen aus dem ganzen Reich lernten hier, was auch heute noch so wichtig ist, nämlich, wie im 20. Jahrhundert ein christliches Leben im Geist echter Bruderschaft gelebt wer·· den soll und wie solch ein Leben natürlich und frei wachsen kann, wenn es nur Menschen gibt, die ganz dem Herrn und deshalb in brüderlicher Liebe einander zugehören. Erst 1940 wurde das Seminar endgültig von der Gestapo geschlossen. Als der Krieg unvermeidbar schien, wollten Bonhoeffers Freunde, daß er Deutschland verlasse, um sein Leben zu retten, da er es strikt ablehnte, in einem Angriffskrieg in der Wehrmacht zu dienen. Auf die Frage eines Schweden während der Ökumenischen Konferenz 1934 in Fanö (Dänemark): "Was werden Sie tun, wenn es Krieg gibt?", antwor-

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tete er: "Ich werde zu Christus beten, daß er mir die Kraft gibt, keine Waffen zu ergreifen." - Im Juli 1939 holten ihn amerikanische Freunde aus Deutschland heraus. Doch bald fühlte er, daß er in Amerika nicht bleiben könne, sondern in sein Vaterland zurückkehren müsse. Als er bei seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten nach England kam, merkten seine Freunde sofort, daß Bonhoeffers Herz seinen unterdrückten und verfolgten Glaubensgenossen in Deutschland gehörte und daß er sie nicht verlassen würde, in einer Zeit, wo sie ihn am nötigsten brauchten. Die überlegungen, die Bonhoeffer zu diesem Entschluß brachten, gehörten, wie Reinhold Niebuhr sagt, "zu den schönsten Äußerungen christlichen Märtyrertums". - "Ich werde kein Recht haben", schrieb Bonhoeffer, bevor er Amerika verließ, an Niebuhr, "am Wiederaufbau christlichen Lebens in Deutschland nach dem Krieg teilzunehmen, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile. Christen in Deutschland werden sich der furchtbaren Entscheidung gegenübersehen, entweder die Niederlage ihrer Nation zu wünschen, damit die christliche Kultur überlebe, oder den Sieg ihrer Nation zu wünschen und damit unsere Zivilisation zu zerstören. Ich weiß, welche dieser Möglichkeiten ich wählen muß; aber ich kann diese Entscheidung nicht fällen und selbst in Sicherheit bleiben." Dietrich Bonhoeffer bedauerte diesen Entschluß nie, nicht einmal im Gefängnis, wo er in späteren Jahren schrieb: "Ich bin mir Gottes Hand und Führung gewiß ... Du darfst niemals daran zweifeln, daß ich dankbar und froh bin, den Weg zu gehen, den ich geführt werde. Mein vergangenes Leben ist übervoll von Gottes Gnade, und über aller Sünde steht die vergebende Liebe des Gekreuzigten." Bei Ausbruch des Krieges brachten es Freunde in Deutschland fertig, ihm die Prüfung des Wehrdienstes zu ersparen, so daß er in der Lage war, die Arbeit für die Bekennende Kirche fortzusetzen und sie mit aktiver Unterstützung für die politische Untergrundbewegung zu verbinden. Bonhoeffer, durch Charakter und Umsicht gleichermaßen dazu bestimmt, gehörte bald zu den wenigen, die einen starken geistigen Einfluß auf die wachsende Opposition in Deutschland ausübten. Zusammen mit seiner Schwester Christel und ihrem Mann, Hans von Dohnanyi, wurde Bonhoeffer im Hause seiner Eltern am 5. April 19-13 von der Gestapo verhaftet. Im Gefängnis und Konzentrationslager gab Bonhoeffer allen, die mit ihm in Berührung kamen, Halt durch seinen Mut, seine Selbstlosigkeit und seine Güte. Sogar seine Wächter erfüllte er mit Achtung, so daß einige von ihnen derart an ihm hingen, daß sie seine Papiere und Gedichte, die dort geschrieben wurden, aus dem Gefängnis schmuggelten und sich bei ihm entschuldigten, wenn sie nach der Runde auf dem Gefängnishof seine Tür abschließen mußten. Sein Hauptwunsch im Gefängnis war, mit den Kranken und Mitgefangenen Gottesdienst halten zu dürfen. Seine Gabe, die Verängstigten

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und Deprimierten zu trösten, war sehr groß. Wir wissen, was Bonhoeffers Worte und sein religiöser Beistand den Mitgefangenen (sogar Molotows Neffen Kokorin, der mit Bonhoeffer in Buchenwald gefangen gehalten war), besonders in ihren letzten Stunden bedeutete. Wir wissen, was Bonhoeffers Hilfe im Gefängnis (Tegel) während politischer Vernehmungen den Menschen bedeutete, von denen 1943 und 1944 wöchentlich zehn oder zwanzig durch ein Militärgericht zum Tode verurteilt wurden. Einige von ihnen - sogar ein britischer Soldat -, die der Sabotage angeklagt waren, wurden durch ihn (seinen Vater und einen Anwalt) vor dem sicheren Tode bewahrt. Seine Mitgefangenen waren tief beeindruckt von der Ruhe und Selbstkontrolle, die Bonhoeffer selbst in den grauenhaftesten Situationen an den Tag legte. Während die schweren Bombenangriffe auf Berlin z. B., als die Detonationen von den Schreien seiner Leidensgefährten begleitet wurden, die mit den Fäusten gegen die verschlossenen Zellentüren trommelten und ihre Überführung in den Bunker verlangten, soll Bonhoeffer völlig ruhig und unaffiziert gewesen sein. Aber dies ist nur die eine Seite seines Wesens. Auf der anderen Seite war Bonhoeffer ein Mensch, der in dieser Welt lebte und die Welt liebte. Er, ein Riese unter den Menschen, war nur ein Kind vor Gott. Während der Haft vollzog sich in ihm der Kampf zwischen Fleisch und Geist, zwischen Adam und Christus. Manchmal schien er sich selbst ein Rätsel geworden zu sein. Eines Tages verlieh er diesem Konflikt seiner Seele Ausdruck in einem Gedicht, das er in der Gefängniszelle unter dem Titel schrieb: Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloß. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

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müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer? Bin ich bei des zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling, oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin. Du kennst mich. Dein bin ich, 0, Gott!" Am 5. Oktober 1944 wurde Bonhoeffer von Tegel in das Hauptgestapogefängnis in der Prinz-Alb recht-Straße in Berlin übergeführt. Obwohl er sein Schicksal klar vor Augen sah, war er gefaßt, verabschiedete sich von seinen Freunden, als wenn nichts geschehen sei. Doch, "seine Augen hatten einen unnatürlichen Glanz", berichtete einer seiner Gefährten. Die direkte Verbindung mit der Außenwelt, die bis dahin immer noch aufrechterhalten wurde, war nun abgeschnitten. Die einzige und letzte Nachricht von ihm war folgendes Gedicht aus dem Gestapogefängnis in Berlin, das während schwerster Luftangriffe entstanden ist und den Titel "Neujahr 1945" trägt: Neujahr 1945

Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr. Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last, ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen das Heil, für das Du uns bereitet hast. Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand. Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann woll'n wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört Dir unser Leben ganz. Laß warm und still die Herzen heute flammen, die Du in unsre Dunkelheit gebracht, führ', wenn es sein kann, wieder uns zusammen, wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so laß uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all' Deiner Kinder hohen Lobgesang. Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

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Im Februar, als das Gestapogefängnis bei einem Luftangriff zerstört wurde, wurde Bonhoeffer in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht und von dort in andere Lager, bis er auf besonderen Befehl Himmlers am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenburg - wenige Tage vor der Befreiung durch die Alliierten - gehängt wurde. Dies geschah im gleichen Monat, als auch sein Bruder Klaus und seine Schwäger Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher durch die Gestapo in Berlin und im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet wurden. III. Der Glaube Bonhoeffers Die treibende Kraft in Bonhoeffers Leben, in allem, was er tat, wofür er arbeitete und litt, war sein Glaube und seine Liebe zu Gott, in dem er seinen inneren, beglückenden Frieden fand. Aus diesem Glauben sprang die Weite seines Blickes, der ihn befähigte, im Leben die Spreu von dem Weizen zu trennen und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. In seinem Glauben wuchs seine Beständigkeit. Er gab ihm die Kraft, in seiner Liebe zur leidenden Menschheit und zur Wahrheit unbeschadet seiner eigenen Erfahrungen auszuharren. Der Glaube war die Quelle seines Gerechtigkeitsgefühls. Es genügte ihm nicht, Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte um ihrer selbst willen zu suchen und geduldig dafür zu leiden. Nein - nach Bonhoeffer folgten diese Verpflichtungen aus dem Gehorsam Ihm gegenüber, der Ursprung und Quelle aller Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit ist und von dem Bonhoeffer sich in all seinem Tun abhängig fühlte. Der Ruf Gottes zwingt uns auch, von der Freiheit nur mit Verantwortung Gebrauch zu machen. Bonhoeffer glaubte an den Menschen und seine Freiheit, aber an durch göttliche Gnade verliehene Freiheit, die nicht der Verherrlichung des Menschen, sondern der göttlichen Ordnung im menschlichen Leben dient. Wenn uns im Gebrauch unserer Freiheit nicht das Christentum leitet, und wenn Gott geleugnet wird, werden nach ihm alle Verpflichtungen und alle Verantwortungen, die dem Menschen heilig und bindend sind, untergraben. Ein Christ hat dann keine andere Wahl, als zu handeln, zu leiden und - wenn es sein muß - zu sterben. So sagte er in seinem Gedicht: "Stationen auf dem Weg zut' Freiheit", das er im Gefängnis schrieb, als er erkannte, daß sein Tod bevorstand: Tod

Komm' nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit, Tod, leg' nieder beschwerliche Ketten und Mauern uns 'res vergänglichen Leibes und uns'rer verblendeten Seele, daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist. Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden, Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.

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Es war die brüderliche Liebe zu seinen Mitmenschen, die Bonhoeffer zu dem Glauben brachte, daß es nicht genüge, Christus durch Predigen, Lehren und Schreiben zu folgen. Es war ihm todernst, wenn er zu christlicher Tat und Selbstaufopferung aufrief. Dies erklärt, warum er Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit als die große Sünde gegen den Heiligen Geist ansah und Ehrgeiz und Eitelkeit für den Anfang auf dem Weg zur Hölle hielt. Bonhoeffer trat zunächst einmal für das ein, was man heute unter einem christlichen Humanismus verstehen würde. Er opferte sich für ein neues Verstehen des Lebens in Gott. Bonhoeffer war es, der nach dem Wort "Der Geist des Menschen ist die Lampe des Herrn" (Prov. 20, 27) lebte, und der wußte, daß Gott sich durch den Menschen und für den Menschen offenbart. Für Bonhoeffer war das Christentum nicht das Christentum einer gläubigen, frommen Seele, die sich abschließt und innerhalb der Grenzen des sakramentalen Raumes bleibt. Nein, seiner Meinung nach hat das Christentum seinen Platz mitten in dieser Welt, und ebenso kann die Kirche als das Haus Gottes und die Gemeinschaft in Ihm nur die sichtbare Kirche sein. Der Mensch muß Ihm folgen, der durch diese Welt gegangen ist als der lebendige, sterbende und auferstandene Herr. Deshalb muß der Christ, wohin Gott ihn auch immer auf dieser Welt stellen mag, zum Martyrium und zum Tode jederzeit bereit sein. Nur auf diese Weise lernt der Mensch glauben. Bonhoeffer selbst hat dies so ausgedrückt: Der Christ ist kein ,homo religiosus', sondern ganz einfach ein Mensch, wie Jesus (im Gegensatz zu Johannes dem Täufer) ... Nicht die flache und banale ,Diesseitigkeit' des Erleuchteten, des Aktiven, des Bequemen und des Trägen, sondern die tiefe ,Diesseitigkeit', die voller Zucht und in der das Wissen um Tod und Auferstehung allgegenwärtig ist, die meine ich. Wenn ein Mensch wirklich aufgibt, irgend etwas aus sich selbst zu machen - einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder, einen Geistlichen, einen Gerechten oder Ungerechten ... wenn sich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, in Erfolg oder Mißerfolg, Erfahrungen und Verwirrungen ein Mensch in die Arme Gottes wirft ... dann wacht er mit Christus in Gethsemane. Das ist Glauben, das ist ,metanonia', und allein das läßt ihn Mensch und Christ werden. Wie kann ein Mensch anmaßend werden, wenn er in einem diesseitigen Leben die Leiden Gottes teilt?" Die Vorstellung, daß Gott selbst durch Christus in dieser Welt und an ihrer Abkehr von Ihm gelitten hat, hat Bonhoeffer immer und immer wieder beschäftigt. Bonhoeffer spürte oft deutlich, daß er selbst Gottes Leiden teile. In der zweiten Strophe des Gedichtes: "Christen und Heiden", von Bonhoeffer kurz vor seinem Tode geschrieben, kommt dieses Gefühl deutlich zum Ausdruck.

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Gel'hm'd Leibholz Christen und Heiden

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden. Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, seh'n ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod und vergibt ihnen beiden. Bonhoeffers Ausharren in Gott in der Stunde seiner Leiden erklärt, warum er sie tragen konnte, und warum sie seinen Mut nicht brechen konnten. Seine Standhaftigkeit, Beharrlichkeit und Opferbereitschaft hat er bei vielen Gelegenheiten unter Beweis gestellt. Als z. B. im Sommer 1940 Verzweiflung die meisten derer ergriffen hatte, die sich gegen das nationalsozialistische Regime verschworen hatten, und der Vorschlag gemacht wurde, weitere Aktionen aufzuschieben, damit sich Hitler nicht mit einem Märtyrerschein umgeben könne, widersetzte sich Bonhoeffer diesem Vorschlag energisch und erfolgreich. "Wenn wir den Anspruch erheben, Christen zu sein, so ist kein Raum für Zweckmäßigkeitserwägungen. " So setzte seine Gruppe ihre Tätigkeit fort, zu einer Zeit, in der die Welt innerhalb und außerhalb Deutschlands weitgehend an einen Sieg des Nationalsozialismus glaubte. Oder, als die Frage auftauchte, wer bereit sei, die britische Regierung über die Einzelheiten der deutschen Widerstandsbewegung zu informieren, war es Bonhoeffer, der im Juni 1942 unter Einsatz seines Lebens nach Stockholm (und zwar auf Veranlassung seines Schwagers, Hans von Dohnanyi) zu dem Bischof von Chichester flog in der Hoffnung, daß die britische Regierung ihre kompromißlose, "unconditional surrender"-Politik ändern würde. Vor der Gestapo stander machtlos, wie er war-nur gefestigt durch das Wort Gottes -, aufrecht und ungebrochen vor seinen Peinigern. Er weigerte sich zu widerrufen. Im Gegenteil, er reizte die Gestapo-Schergen, indem er als Christ sich offen als ein unversöhnlicher Gegner des Nationalsozialismus und seiner totalitären Ansprüche bekannte; er blieb hierbei, obwohl er ständig mit Folterungen und der Verhaftung seiner Eltern, seiner Schwestern und seiner Verlobten bedroht wurde, die ihm alle bei seinen Taten eine helfende Hand gereicht hatten. - Wir wissen auch von einem anderen Geschehnis im Oktober 1944, als Freunde ihn befreien und ins Ausland in Sicherheit bringen wollten, er sich aber entschied, im Gefängnis zu bleiben, damit er nicht die anderen durch seine Flucht in Gefahr brächte.

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Durch das Zeugnis eines britischen Offiziers, der mit ihm im Gefängnis war, wissen wir auch etwas über den letzten Gottesdienst, den Dietrich Bonhoeffer am Tage vor seinem Tode hielt und der "alle, Katholiken und Protestanten, durch seine schlichte Aufrichtigkeit tief beeindruckte". Als er nach dem Gottesdienst versuchte, die gefangenen Frauen, deren Männer wegen ihrer Beteiligung am Attentat gegen Hitler hingerichtet worden waren, in ihrer Angst und Verzweiflung zu trösten, wurde er von der plötzlich erschienenen Gestapo fortgeführt. Dietrich Bonhoeffer, der nie einem ordentlichen Gerichtsverfahren unverworfen wurde, ging standhaft, in Ruhe und Würde seinen letzten Weg, nachdem er zuvor längere Zeit in seiner Zelle im Gebet verharrt hatte. Gott hat ihn erhört und ihn der "teuren Gnade" teilhaftig werden lassen - des Vorrechtes, für andere das Kreuz zu tragen und den Glauben durch sein Martyrium zu krönen. IV. "Das andere Deutschland" Dietrich Bonhoeffers Leben und Wirken hat weitreichende Konsequenzen. Einmal zeigte Bonhoeffers und seiner Freunde politische Aktivität, daß die zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen noch immer weitverbreitete Ansicht verkehrt war, nach der das Attentat vom Juli 1944 nur eine "Verschwörung einer kleinen Clique reakionärer und entmutigter Offiziere" gewesen sei, die gesehen hätten, daß Hitler den Krieg verloren habe und daß deshalb ihr Beruf in Verruf gekommen sei. Es gab vielmehr von Anbeginn in der deutschen Opposition auch noch andere geistige Kräfte, die um jeden Preis zu verhindern bereit waren, daß Hitler und der Nationalsozialismus an die Stelle des Christentums und seiner Grundwerte - Wahrheit und Gerechtigkeit, Güte und Anstand - treten würden. Mitglieder aus den verschiedenartigsten politischen Parteien und religiösen Bekenntnissen hatten sich zu diesem Zweck in der Oppositionsbewegung zusammengefunden. Sie waren alle innerlich verbunden durch die Bejahung der Werte, die zu zerstören das Ziel des Nationalsozialismus war. In dieser Bewegung lebte das "andere Deutschland", von dem in den dreißiger Jahren so viel die Rede war. Diese Menschen waren in Wahrheit die Hüter europäischer und westlicher Tradition in Deutschland, und Dietrich Bonhoeffer erkannte klarer als die meisten anderen, daß nur eine Rückkehr zum Christentum selbst Deutschland vor der weiteren Zerstörung retten könnte. Daß diesen Menschen der Erfolg nicht beschieden war, war nicht nur eine deutsche Tragödie, sondern zugleich eine solche für ganz Europa, und eines Tages mögen Historiker vielleicht zu dem Ergebnis kommen, daß die Folgen des Fehlschlages am 20. Juli überhaupt nicht wieder gutgemacht werden können.

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Diese Männer gaben der innerdeutschen Opposition das entscheidende geistige Gepräge. Sie zeugten zugleich davon, daß der letzte Krieg im Grunde einen ideologischen Charakter getragen hatte, und daß wir heute in einem primär "ideologischen" Zeialter leben. Nur so kann man auch das Handeln Dietrich Bonhoeffers recht verstehen. Ohne Zweifel war Bonhoeffer ein großer Patriot, der sein Vaterland sogar so sehr liebte, daß er den Tod der persönlichen Sicherheit vorzog. Aber: er war zugleich auch ein zu kluger politischer Analytiker, um nicht zu sehen, daß Deutschland durch den Krieg letzthin in seiner wahren geistigen Existenz entscheidend in Frage gestellt werden sollte. Die teuflischen Mächte des Nationalsozialismus ließen Bonhoeffer keine Wahl. Ihr Ziel war, Deutschland als ein europäisches und christliches Land zu zerstören. Durch planvolles politisches Handeln hoffte Bonhoeffer, diesem tragischen Geschehen Einhalt gebieten zu können. Er pflegte dazu zu sagen: "Es ist nicht nur meine Aufgabe, nach den Opfern eines Verrückten zu sehen, der ein Auto in eine dichtgedrängte Straße fährt, sondern alles zu tun, was in meiner Macht steht, um seine Fahrt aufzuhalten." Schließlich war es die Verpflichtung, die er Gott gegenüber fühlte, die ihm den schweren Entschluß abrang, nicht nur den Nationalsozialismus zu bekämpfen (das taten auch die anderen Untergrundbewegungen, die alle zugleich an das Nationalbewußtsein der vergewaltigten Völker appellieren konnten) - sondern auch gegen die Tyrannei im eigenen Vaterland zu arbeiten, da nur so Deutschland als christliches und europäisches Land und sein geschichtliches Erbe vor der völligen Vernichtung gerettet werden konnten. Aus eben diesem Grund wurden Bonhoeffer und seine Freunde gefoltert, gehenkt und gemordet. Bonhoeffer und seine Freunde bewiesen durch ihren den Tod überwindenden Widerstand, daß es selbst im Zeitalter des Nationalstaates Bindungen gibt, die höher stehen als die gegenüber Staat und Nation. Sie standen dafür, daß auch der Nationalstaat letzthin unter Gott steht, und daß es eine Sünde wider Gott ist, wenn das gesunde Nationalgefühl in Verachtung der göttlichen Gebote sich zu einem degenerierten, egoistischen und "gierigen" Nationalismus entwickelt. Nur so wird deutlich, warum Hitler und seine Gefolgsleute nicht nur als die Zerstörer Europas, sondern auch als Verräter und Quislinge ihrers eigenen Vaterlandes erscheinen. Gewiß, der letzte Krieg ist von den westlichen Nationen nicht wirklich nach ideologischen Grundsätzen geführt worden. Wir wissen, daß der Krieg insbesondere im späteren Stadium, als die westlichen Länder in Casablanca die ebenso kurzsichtige wie bedauerliche Politik der bedingungslosen übergabe verfolgten, Schritt für Schritt seinen ideologischen Charakter verloren und statt dessen mehr und mehr einen nationalistischen Charakter angenommen hat. Letzten Endes ist dieser Wandel in der politischen Zielsetzung darauf zurückzuführen, daß der Westen und seine führenden Politiker sich nicht in dem tragischen Konflikt, dem die

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Christen in Deutschland ausgesetzt waren, befanden. Natürlich gab es auch in den westlichen Ländern hervorragende Männer (Christen und Nicht-Christen), die diesen Konflikt in seiner ganzen Schwere auf ihrem Gewissen lasten fühlten, und die sich während des Krieges mutig weigerten, sich dem Joch der irregeleiteten öffentlichen Meinung zu beugen. Diese Männer erkannten ohne Zögern an, daß die nationalen Bindungen nicht die höchsten sein konnten. Sie setzten sich aber damit in Gegensatz zu den Forderungen der damaligen Politiker und kirchlichen Würdenträger. Sie haben aber naturgemäß nicht das volle Gewicht des tragischen Konflikts am eigenen Leibe spüren können. Nur wer mit seinem Leben die Lösung dieses Konfliktes bezahlt hat, kann mit Fug beanspruchen, zum Märtyrer einer neuen Zeit geworden zu sein. V. Bonhoeffer und die protestantische Kirche Die Folgerungen auf religiösem Gebiet gehen besonders die protestantische Kirche in Deutschland an - und darüber hinaus jedoch auch diE Kirche als Ganzes. In den frühen Stadien seiner Entwicklung bekannte sich Bonhoeffer zu der traditionellen lutherischen Ansicht, nach der zwischen dem politischen und kirchlichen Bereich geschieden werden müsse. Schritt für Schritt jedoch änderte er seine Meinung, nicht, weil er ein Politiker war oder, weil er sich weigerte, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, sondern, weil er zu erkennen begann, daß die politischen Autoritäten in Deutschland korrupt und unmoralisch geworden waren, und daß ein Irrglaube ungeheuerlicher Dinge fähig sein kann. Für Bonhoeffer war Hitler der Antichrist, der Zerstörer des Lebens und seiner Grundwerte, der Antichrist, der seine Freude an der Zerstörung um ihrer selbst willen hat, der Antichrist, der das Negative als das Positive und Schöpferische hinzustellen vermag. Unumstößlich war Bonhoeffers Überzeugung, daß es nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht der Christen Gott gegenüber sei, der Tyrannei, d. h. einer Regierung, die nicht mehr auf das Naturrecht und das Gesetz Gottes ihre Ordnung gründet, Widerstand zu leisten. Für Bonhoeffer folgte dies aus der Tatsache, daß die Kirche als lebendige Kirche in dieser Welt gänzlich auf ihre Diesseitigkeit angewiesen ist. Natürlich verstand Bonhoeffer diesen Ausdruck weder im Sinne moderner, liberaler Theologie, noch im Sinne des nationalsozialistischen Pseudobekenntnisses. Sowohl moderne, liberale Theologie, als auch die säkularisierten totalitären Weltanschauungen stimmen darin überein, daß die Botschaft der Bibel mehr oder weniger den Erfordernissen dieser Welt angepaßt werden müsse. Daher ist es kein Wunder, daß die fortschreitende innere Zersetzung des Christentums schließlich zu einer

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vollständigen Pervertierung und Verfälschung des Christentums durch den Nationalsozialismus geführt hat. Bonhoeffer war fest davon überzeugt, daß "diese Seite" des Lebens ganz und gar auf die christliche Liebe bezogen und von ihr durchdrungen sein muß, und daß ein Christ bereit sein muß, notfalls sein Leben hierfür zu opfern. So sind alle totalitären Weltanschauungen, die den Menschen zwingen, seine unter Gott stehenden religiösen und moralischen Bindungen aufzugeben und Recht und Moral dem Staat unterzuordnen, mit seiner Grundkonzeption des Lebens unverträglich. Dies erklärt, warum Bonhoeffer nicht zum Pazifisten wurde, obwohl seine aristokratische Haltung und seine gewinnende Güte ihn im Grunde seines Herzens zu einem Pazifisten geradezu determinierten. Aber, stille zu halten, wenn es sich darum handelte, das nationalsozialistische Regime zu beseitigen, stand zutiefst in Widerspruch mit seiner Auffassung, daß das Christentum irgendwie auf das menschliche Leben realiter bezogen werden müsse und daß in Staat und Gesellschaft Liebe und Verantwortung gegenüber den Menschen tätig praktiziert werden müssen. Wiederum war es charakteristisch für Bonhoeffer, daß er durch sein Handeln die Kirche nicht bloßstellen wollte. Die Verantwortung wollte er selbst tragen. Er wollte die Kirche nicht belasten, und deshalb kann man nicht sagen, daß er etwa durch sein Handeln die Bekennende Kirche als Ganzes repräsentiert habe. Zwar hatte die "Barmer Erklärung" die Kirche sowohl auf politischer als auch auf religiöser Ebene zum Handeln aufgerufen. Bonhoeffer ließ keinen Zweifel, daß die Entscheidung für oder gegen Barmen eine Entscheidung für oder gegen die Bekennende Kirche im "Nazi"-Deutschland war. So sagte er einmal: "Wer sich von der Bekennenden Kirche löst, trennt sich von der Gnade Gottes." Aber es gab nur wenige ihrer Mitglieder, die die Barmer Erklärung so ernst nahmen, daß sie mutig bereit waren, praktisch nach ihren Beschlüssen zu handeln. Deshalb brauchen wir uns nicht zu wundern, daß Bonhoeffer mit wachsender Sorge über die Haltung erfüllt war, die die Bekennende Kirche in den folgenden Jahren der nationalsozialistischen Regierung einnahm. Er fühlte, daß die Bekennende Kirche mehr an ihr eigenes Fortbestehen und ihre ererbten Rechte dachte, als daran, gegen den Krieg zu predigen und sich um das Schicksal der Verfolgten und Unterdrückten zu kümmern. Die Lehre der Oxford-Konferenz nämlich, daß das Leben der Kirche mit dem Leben des Volkes aufs engste verknüpft werden müsse, übermittelte Bonhoeffer zu jener Zeit zuerst der Lutherischen Kirche in Deutschland. Ob der deutsche Protestantismus den Sinn von Bonhoeffers Martyrium und Tod richtig verstehen wird, wird die Zukunft erst lehren können.

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VI. Die Bedeutung des Todes von Bonhoeffer Jene, die dem auf Veranlassung des Bischofs von Chichester in Holy Trinity in London am 27. Juli 1945 abgehaltenen Gottesdienst beiwohnten, standen an jenem Tag unter dem bewegenden Eindruck, daß am 9. April 1945, als in dem Konzentrationslager Flossenburg Dietrich Bonhoeffer von der SS ermordet wurde, etwas in Deutschland geschah, das mit menschlichen Maßstäben nicht gemessen werden konnte. Man hatte das Gefühl, daß in dem furchtbaren Krieg, der die Welt bis in die Tiefe aufgewühlt hatte, Gott selber interveniert hatte, indem er einen seiner treuesten und mutigsten Jünger opferte, um die Verbrechen eines teuflischen Regimes zu sühnen und den Geist zu verlebendigen, in dem die neue europäische Zivilisation wieder aufgebaut werden sollte. Wenn wirklich Selbstaufopferung die höchste Erfüllung des menschlichen Lebens ist und der Wert eines Menschen von dem Opfer abhängt, das jemand für andere um der Liebe willen zu bringen bereit ist, dann gehört Bonhoeffers Leben und Tod zu den Annalen christlichen Märtyrertums oder - wie Niebuhr sagte - "zu den modernen Acts der Apostel". Sein Kampf war ein Symbol für den Sieg des "spirit", des Guten über das übel, das nicht fähig war, das letzte Bollwerk verantwortungsbewußter geistiger Freiheit zu erobern. "Das Leben des ,spirit' ist nicht dazu da, den Tod zu meiden und sich von Zerstörung freizuhalten, vielmehr muß er den Tod erdulden, und im Tod ist er bewahrt. Er erreicht die Wahrheit nur mitten in der völligen Zerstörung." Man hat oft gesagt, daß die große Anzahl der Menschen, die nicht an den Verbrechen des früheren nationalsozialistischen Regimes beteiligt waren, doch wegen ihrer passiven Haltung für dieses Regime verantwortlich gemacht werden müsse. In einer modernen Diktatur jedoch mit ihren überall gegenwärtigen und instrumental umfassenden Methoden der Unterdrückung bedeutet eine Revolte gegenüber einem totalen Regime sicheren Tod für alle, die eine solche unterstützen. Einem Volk als Ganzem in einer modernen Tyrannei Vorwürfe zu machen, weil es für eine Revolte zu schwach war, bedeutet so viel, wie einen Gefangenen dafür zu tadeln, daß er nicht aus einem schwerbewachten Gefängnis entwichen ist. Die Mehrheit des Volkes besteht in allen Nationen nicht aus Helden. Was Dietrich Bonhoeffer und andere taten, kann nicht von den Vielen erwartet werden. Die Zukunft der modernen Gesellschaft hängt vielmehr von dem stillen Heldentum der Wenigen ab, die von dem Geist Gottes erfüllt sind. Diesen wenigen durch die göttliche Gnade Inspirierten, obliegt die Aufgabe, über die Würde des Menschen und die wahre Freiheit zu wachen und dafür zu sorgen, daß das Gesetz Gottes beachtet wird, selbst, wenn dies Martyrium und Tod bedeuten sollte. Diese Wenigen haben das Gesetz zu erfüllen, "weil sie nicht auf die sichtbaren Dinge ihre Augen richten, sondern auf die unsichtbaren,

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denn die sichtbaren Dinge sind vergänglich, doch die unsichtbaren sind ewig". Bonhoeffer fragte sich selbst oft über die tiefere Bedeutung seines Lebens, das ihm zuweilen so unzusammenhängend und verwirrt erschien. Wenige Monate vor seinem Tode, als die Ereignisse schon ihre Schatten vorauswarfen, schrieb er im Gefängnis: "Es hängt alles davon ab, ob unser kurzes Stück Leben Sinn und Stoff des Ganzen offenbart oder nicht. Es gibt Fragmente, die nur zum Wegwerfen gut sind, und andere, die für Jahrhunderte ihre Bedeutung haben, weil ihre Vollendung nur ein göttliches Werk sein kann. Sie sind Fragmente, die Fragmente sein müssen. Wenn unser Leben - auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, dann sollten wir unser früh vollendetes Leben nicht beklagen, sondern ganz im Gegenteil uns daran freuen." Niemand kennt das Grab Dietrich Bonhoeffers; aber das Andenken an sein Leben wird sicher bewahrt werden, nicht nur in den Herzen derer, die unlöslich mit ihm verbunden sind, sondern auch im Herzen der Kirche, die ihre Lebenskraft immer wieder von denen empfängt, die "IHM" nachfolgen. Eines Tages wird man auch erkennen, daß zu dem uns überkommenen Vermächtnis von Dietrich Bonhoeffer und jener, die mit ihm starben, die Gewißtheit gehört, daß das, was man gemeinhin unter westlicher Zivilisation versteht, gerettet werden kann. Die frohe Botschaft von Dietrich Bonhoeffers Leben und Sterben ist, daß die westliche Kultur trotz ihrer fortschreitenden Auflösung nicht dem Tode verfallen ist und zu neuem Leben erweckt und mit einem neuen Glauben erfüllt werden kann. Was Moses vor seinem Tode gesagt wurde: "Und Gott zeigte ihm sein ganzes Land", gilt für Bonhoeffer und alle, die mit ihrem Martyrium einem neuen Menschentum den Weg geebnet haben. So ist mit Bonhoeffers Leben und Sterben eine große Hoffnung für die Zukunft geboren worden. Er hat uns das Leben eines Mannes vorgelebt, der, durchdrungen vom Evangelium und erfüllt vom Geist wahren christlichen Humanismus und den hieraus resultierenden Pflichten eines Bürgers, jederzeit für das Martyrium bereit ist. Der Sieg, den er errungen hat, war ein Sieg für uns alle, ein Sieg, niemals ungeschehen zu machen, von Liebe, Licht und Freiheit. Biographische Literatur Bethge, E.: Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse, München 1967

Bosanquet, Mary: The Life and Death of Dietrich Bonhoeffer, London 1968 Leibholz-Bonhoeffer, Sabine: Vergangen, Erlebt, überwunden, 5. Aufl. 1971 Mancini, Italo: Bonhoeffer, Florenz 1969 Robertson: Dietrich Bonhoeffer, London 1966

111. Die Kirche in Usterreich

DIE KIRCHENFREIHEIT IN ÖSTERREICH* Von Hans R. Klecatsky I. Die verfassungsrechtliche Absage an das Staatskirchentum Die Verfassungsnorm des Art. 15 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG) sagt: "Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitz und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds, ist aber wie jede Gesellschaft den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen." Die den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften garantierte Selbständigkeit in der Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten und die dabei jede und nicht nur eine gesetzlich anerkannte Kirche oder Religionsgesellschaft bedenkende Parität! schließt jegliches Staatskirchentum aus. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dieses Staatskirchenturn als die Kirche belastende oder sie privilegierende Fremdbestimmung in Erscheinung tritt2 • Institutionelle Verflechtungen zwischen der politischen und der kirchlichen Ordnung im "inneren Verfassungsrechtskreis 3 " beeinträchtigen den geistlichen Auftrag der Kirche jedenfalls, denn sie gerät dadurch in den Sog staatlicher Interessenswahrnehmung und wird damit in der freien Entfaltung eben ihres geistlichen Auftrages gehemmt'. Obwohl der österreichische Verfassungsgerichtshof bereits im Jahre 1932 in seinem Erkenntnis VfSlg. 1430 ausgesprochen hatte, daß Art. 15 StGG den Bestand eines Staatskirchenturns ausschließt, blieben staatliche Gesetzgebung, staatliche Kultusverwaltung und Rechtswissenschaft '. Nach einem am 22. März 1973 vor der österreichischen Gesellschaft für Kirchenrecht in Wien gehaltenen Vortrag. t Vgl. Inge Gampl: Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1971, S. 45. 2 Wie etwa das heute noch in Liechtenstein bestehende "Landeskirchenturn"; darüber ausführlich Herbert Wille: Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein, Freiburg 1972, insbesondere S. 261 ff. 3 So Alexander Hollerbach in den Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Statsrechtslehrer, Heft 26, Berlin 1968, S. 62 f. 4 So Wille, a.a.O., S. 170. 10·

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Hans R. Klecatsky

auch in der Republik lange in den Vorstellungen des Staatskirchenturns der Monarchie befangen5 • Insbesondere die verfassungsrechtZichen Grundfragen wurden lange Zeit überhaupt nicht erkannt, dann aber zunächst grundlegend verkannt. Erwin Melichar veröffentlichte noch im Jahre 1957 eine Abhandlung über "Die verfassungsrechtliche Stellung der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften nach österreichischem Recht"6, in der er folgende Grundthesen vertrati: 1. Die Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten durch die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften stelle vom staatlichen Standpunkt aus gesehen einen besonderen Teilbereich der staatlichen Rechtsordnung dar.

2. Die innerkirchlichen Normen seien als unmittelbarer Vollzug der Bundesverfassung anzusehen, wie die Bundes- und Landesgesetze. 3. Bei Vollziehung der "inneren Angelegenheiten" seien die Organe der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften auch mittelbare Staatsorgane.

4. Die "inneren Angelegenheiten" der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften würden vom Staat grundsätzlich auch zu seinen Aufgaben gezählt, wenn er ihnen auch kraft Verfassung eine Sonderstellung durch Unterwerfung unter die Autonomie der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften einräume.

Ernst C. Hellbling 8 komplettierte diese Thesen noch zu der Theorie, daß es sich bei den "inneren Angelegenheiten" um keine von der sonstigen staatlichen Selbstverwaltung wesensverschiedene Selbstverwaltung handle und daß daher innerkirchliche Akte generell von Staatsorganen überprüft und im Falle des Widerspruchs nicht nur zu staatlichen Gesetzen, sondern auch zu innerkirchlichen generellen Vorschriften kassiert werden könnten.

Dieser verfassungsrechtliche Auftakt bot Hans Weiler und mir Anlaß, unsere seit langem vorbereitete verfassungsrechtliche Widerlegung theoretischen und praktischen Staatskirchenturns in unserem damals eben erscheinenden Buch: "Österreichisches Staatskirchenrecht"9 antithetisch zu formulieren 10 • Wir hielten Melichar vor allem entgegen: 5

Darüber treffend Erwin Melichar in Österreichische Landesreferate zum

VIII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Pescara 1970, Wien 1971, S. 175 ff. G JBl. 1957, S. 57 ff., 91 ff., 123 ff. 7 Genaue Zitate bei Klecatsky-Weiler: österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1958, S. 40 f. 8 Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 1958, S. 83 ff., 1959, S. 5 ff. 9 Wien 1958. 10 a.a.O., S. 41 ff.; vgl. auch S. 36 ff.

Die Kirchenfreiheit in Österreich

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1. Der Art. 15 StGG gehört zu jenen Bestimmungen der Bundesverfassung, die "Grund- und Freiheitsrechte" gewährleisten. Das Wesen dieser Grund- und Freiheitsrechte besteht darin, daß sie die Schranken aufrichten, die "die staatlichen Organe bei Ausübung der staatlichen Funktionen, einschließlich der Funktion der einfachen Gesetzgebung, dem einzelnen Staatsbürger gegenüber zu wahren haben" (Adamovich). Auf die im Art. 15 StGG enthaltene Bestimmung: "Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig" angewendet, bedeutet diese Erkenntnis, daß die "inneren Angelegenheiten" jenseits jener Schranke liegen, die die staatlichen Organe bei der Ausübung der staatlichen Funktionen den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften gegenüber zu respektieren haben. Es können daher weder die Organe der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, wenn sie auf dem Gebiete der "inneren Angelegenheiten" tätig sind, als Staatsorgane tätig sein, noch kann das von ihnen in dieser Funktion geschaffene Recht staatliches Recht (Gesetz, Verordnung, Bescheid) sein, noch können die Normen, die von den Organen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften auf dem Gebiete der "inneren Angelegenheiten" gesetzt werden, einer überprüfung durch Verwaltungsgerichtshof oder Verfassungsgerichtshof unterliegen, noch können schließlich überhaupt die "inneren Angelegenheiten" zum Aufgabenbereich des Staates gehören. Eine Rechtsansicht, die aus dem Art. 15 StGG das Gegenteil ableitet, gibt den in dieser Bestimmung gewährleisteten Grund- und Freiheitsrechten einen Inhalt, der mit der historischen Gewordenheit dieser Rechte unvereinbar ist l l . 2. Die Rechte des Art. 15 StGG werden den "gesetzlich anerkannten" Kirchen und Religionsgesellschaften gewährleistet. Die Kirchen und Religionsgesellschaften, denen das Recht der Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten garantiert ist, müssen daher schon vor dem Zeitpunkt, in dem sie dieses Recht erlangt haben, als organisierter Personenverband existent gewesen sein und daher auch eine Rechtsordnung gehabt haben, deren Bestand von der Bundesverfassung unabhängig war. Die Annahme, daß diese Eigenständigkeit durch die Anerkennung vernichtet wird und daß an ihre Stelle der "Einbau" in die staatliche Rechtsordnung tritt, ist mit dem Begriff der "Anerkennung" unvereinbar. Dieser Begriff läßt daher auch die Annahme einer "Ermächtigung" der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zur Normensetzung durch den Art 15 StGG nicht zu. 3. Die im Art. 15 StGG enthaltene Wendung: "Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig" kann grammatikalisch richtig nur im 11

So später treffend auch Johann Schima jun., ÖJZ 1965, S. 538.

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Sinne einer Garantie der Selbständigkeit bei der Ordnung und Verwaltung der "inneren Angelegenheiten", nicht aber im Sinne einer E1'mächtigung an sich verstanden werden. Denn die Wortfolge dieser Wendung ist so gestaltet, daß in ihr das Wort "selbständig" gegenüber den Worten "ordnet und verwaltet" hervorgehoben ist. 4. Der Gedanke, das Recht der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften auf dem Gebiete der "inneren Angelegenheiten" sei ebenso eine auf dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) basierende Teilrechtsordnung, wie es die Rechtsordnungen des Bundes und der Länder sind, steht mit den grundlegenden Baugesetzen der österreichischen Bundesverfassung in Widerspruch.

Dazu kam, daß die ganze Argumentation MeZichars nicht auf einer rechtslogischen Prämisse, sondern auf einer von ihm selbst gesetzten Zweckmäßigkeitserwägung aufbaute und er selbst folgerichtig andere rechtliche Lösungsmöglichkeiten nicht ausschloß12. Selbstverständlich waren es nicht religionsfeindliche Ideologien, die die beiden prominenten Lehrer des öffentlichen Rechtes, Melichar und HeHbZing, in die Irre führten, sondern offenbar einerseits ein für Österreich typischer, geschichtsfremder methodischer Ansatz, wie ihn in bezug auf den Föderalismus Pernthaler einem anderen Autor gegenüber aufdeckte13, andererseits aber jene immer noch vom Staatskirchenturn beherrschte Atmosphäre, die Melichar selbst dreizehn Jahre später vor einem internationalen Forum für Österreich einbekannt hat14.

11. Kirchliche Selbstbestimmung - "staatliche" Selbstverwaltung Indes fand die Theorie vom "Einbau" der inneren Rechtsordnungen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften als" Teilrechtsordnungen" in die staatliche Rechtsordnung - einmal widerlegthinfort keinen weiteren Widerhall. So trat etwa FeZix Ermacora 15 im Jahre 1963 Weilers und meiner Auffassung mit dem ausdrücklichen Vorhalt gegenüber Melichar bei, die Annahme seiner "Einbau"-Theorie würde "die Kirchen wieder in das Säkulum des Josephinismus verweisen". Und Johann Schima jun. konnte im Jahre 1965 als "herrschende Ansicht" - sich selbst dazu bekennend - jene von Anderle, AntonioHi, Ermacora, Klecatsky-Weiler und Mayer-Maly anführen, die "in den inneren AngeVgl. Klecatsky-Weiler, a.a.O., S. 43. Vgl. Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht (ÖZÖR) 1969, S. 361 ff. 14 Vgl. Anm. 5. Vgl. zur hier behandelten Gesamtproblematik auch Klecatsky: "Zum Selbstbestimmungsrecht der Kirche nach der heutigen österreichischen Verfassungsordnung", in der Maass-Festschrift: "Kirche und Staat in Idee und Geschichte d~s Abendlandes" (hrsg. von Baum), Wien 1973, S. 286 ff. 15 Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, Wien 1963, S. 407. 12

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legenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften keine staatliche Selbstverwaltung, sondern eine Selbstverwaltung besonderer Art, eben kirchliche Selbstverwaltung"16 sieht. Und auch Inge Gampl schrieb im Jahre 1971 (mit einer allerdings entscheidenden, später noch zu behandelnden Einschränkung17) treffend 18 : "Nun erhebt sich sofort die Frage, ob die Gewalt, kraft derer die Kirchen ihre inneren Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten, vom Standpunkt des staatlichen Rechtes aus als hoheitliche Gewalt zu beurteilen ist oder nicht. Die Antwort lautet: Diese Frage ist vom Standpunkt des staatlichen Rechtes aus überhaupt nicht zu beurteilen. Den Maßstab für die juristische oder auch nicht-juristische QuaHfikation der Gewalt, die die Kirchen im inneren Bereich üben, kann nicht das staatliche Recht liefern, sondern einzig und allein das kirchliche ,Selbstverständnis' ... aber - und damit schließt sich der Kreis - die staatlich-verfassungsrechtliche Anerkennung der Kompetenz selbständiger Ordnung und Verwaltung der inneren kirchlichen Angel~gen­ heiten kann nicht den Sinn haben, daß das Ergebnis der kirchlichen Ordnungsund Verwaltungstätigkeit keinerlei rechtliche Bedeutung für den Staat hat, wenn es actuaZiter darauf ankommen sollte. So ist dem Wortlaut des Art. 15 StGG zu entnehmen, daß die Kirchen und Religionsgesellschaften ihre inneren Angelegenheiten mit (für den inneren Bereich) originärer, von ihnen allenfalls hoheitlich verstandener Gewalt ordnen und verwalten mögen und daß ihre (Hoheits)Akte darüber hinaus (im staat1ichen Bereich vermittels der verfassungsrechtlichen Anerkennung, die in Art. 15 StGG impZicite enthalten ist) derivativ öffentlich-rechtlich wirksam sein können, sofern solche Rechtskraft im staatlichen Bereich überhaupt ,in Frage kommt und ausdrücklich vorgesehen ist. " Die Auffassung, daß die Staatsordnung den kirchlichen Selbstbestimmungsraum "vorgefunden und nicht erst eigen geschaffen" hat und daß daher die hoheitlichen kirchlichen Rechtsakte "eigener ursprünglicher Gewalt entspringen", scheint heute übrigens im deutschsprachigen Raum allgemeine Auffassung zu sein. "Abwegig ist es, sie" (die hoheitlichen kirchlichen Rechtsakte) "aus einer staatlich verliehenen Gesetzgebungsgewalt ableiten zu wollen"19. Aus diesem Grunde haben Hans Weiler und ich auch auf folgendes aufmerksam gemacht20 : Angesichts des Umstandes, daß die "inneren Angelegenheiten" außerhalb des staatlichen Aufgabenbereiches liegen, besteht ein wesenhafter Unterschied zwischen diesen Angelegenheiten und jenen Angelegenheiten, die von den Gemeinden, Gemeindeverbänden, Kammern und allen sonstigen Einrichtungen, die man unter dem Begriff der "Selbstverwaltungskörperschaften" zusammenzufassen pflegt, im "selbständigen" oder "eigenen Wirkungsbereich" besorgt wer16 ÖJZ 1965, S. 538. 17 Letzter Satzteil des folgenden Zitates. 18 Österreichisches Staatskirchenrecht, S. 28 f.; vgl. auch S.19 f. 1U Vgl. Wille, a.a.O., S. 172 ff., unter Berufung auf deutsche, österreichische und Schweizer Autoren. !O a.a.O., S. 37.

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den. Die Wahrnehmung dieser Angelegenheiten ist nämlich dezentralisierte Staatsverwaltung. Zu ihrer Besorgung hat der Staat die Selbstverwaltungskörperschaften erst geschaffen, und ihre Tätigkeit im selbständigen Wirkungsbereich ist weitgehend durch staatliche Rechtsvorschriften determiniert 21 • überdies sind diese selbständig,en Wirkungsbereiche durch Rechtszüge an die staatlichen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes den Verwaltungsgerichtshof und den Verfassungsgerichtshof - , aufsichtsbehördliche Kontrollen, ja unter Umständen auch durch administrative Instanzenzüge 22 institutionell mit anderen Staatsorganen verknüpft. Zweckmäßig wäre es daher, auch den Ausdruck: "Selbstverwaltungskörperschaften (sui generis)" für die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zu vermeiden. Ähnliches gilt auch für die alte Frage nach der öffentlich-rechtlichen Korporationsqualität der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften23 . Im Grundsätzlichen sei etwa auf die auch für Österreich bedeutsame Untersuchung Hermann Webers zur deutschen Rechtslage: "Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes"24 verwiesen. Zusammenfassend stellt Hermann Weber klar25 : "Daher ist es heute auch zu Recht allgemeine Auffassung, daß der verwaltungsrechtliche Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechtes auf die Kirchen nicht zutrifft und daß es sinnlos ist, diese in eine Begriffsbildung der öffentlichen Korporation einzubeziehen; die Bezeichnung muß hier vielmehr in einem spezifischen Sinn verstanden und von dem allgemeinen Begriff geschieden werden. Ihr eigentlicher Inhalt kann also über das aus dem formalen Begriff folgende Mindestmaß hinaus nicht als Deduktion aus einer allgemeinen Formel abgeleitet werden, sondern muß sich für diesen Einzelfall konkret aus Verfassungszusammenhang, Entstehungsgeschichte und historischer Entwicklung ergebenzB." Dazu kommt, daß mir die verabsolutierte Zweiteilung von privatem und öffentlichem Recht in der heutigen gesellschaftlichen Lage überhaupt sinnlos erscheint27 . 21 Vgl. auch die Hinweise Marschalls (Privatautonomie, Verbandsautonomie und Familienautonomie, Wien 1972, S. 28) und Schnorrs (Die für das Arbeitsrecht spezifischen Rechtsquellen, Wien 1969, S. 32), wonach "die heute maßgebenden kollektiven Mächte allmählich erst ihre Verbandsautonomie auszubauen vermochten, während es nur die christlichen Kirchen verstanden haben, auf Grund ihres traditionellen Rechtsbewußtseins sich ihre echte Autonomie während der ganzen Zeit der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates zu erhalten". 22 Vgl. Klecatsky: Das Österreichische Bundesverfassungsrecht, Wien 1973, S. 358, Rechtssatz Nr. 9. 23 Dazu Klecatsky-Weiler, a.a.O., S. 26 f. 24 Erschienen 1966. 25 Vgl. auch Werner Weber in Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 11, Berlin 1954, S. 170. Z8 Ähnlich Schima jun., OJZ 1965, S. 539, und ÖJZ 1966, S. 417.

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Andererseits hat gerade die neuere österreichische Gesetzgebung Anordnungen getroffen, die angesichts der Vergünstigungen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts zukommen, den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften eine berechtigte Parität verschaffen. So hat der einfache Bundesgesetzgeber mit dem Bundesgesetz vom 6. Juli 1961, BGBL 182, über die äußeren Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche (§ 1 Abs. 2 Z. I) in quasi-authentischer Interpretation des Art. 15 StGG festgestellt, nach ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Stellung "genießt" die Evangelische Kirche "die Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes". Diese Aussage muß als ausdrückliche Ableitung aus Art. 15 StGG für alle gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften gelten. Auch das Bundesgesetz vom 23. Juni 1967, BGBL 229, über die äußeren Rechtsverhältnisse der griechisch-orientalischen Kirche in Österreich spricht in verschiedenen Bestimmungen Kirchengemeinden dieser Kirche den "Genuß der Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes" ZU28 . Felix Ermacora 29 und Inge GampPo haben diese Ausdrucksweise eben mit Argumenten kritisiert, die den Wesensunterschied des staatlichen Bereiches und des Bereiches der "inneren Angelegenheiten" der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften hervorheben. Auch aus dem den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zugesprochenen "Genuß der Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechtes" kann somit keine "Einbau"-Theorie abgeleitet werden. Freilich sollte auch vermieden werden, daß die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften bei Aufgabe des ihnen einmal gesetzlich zuteil gewordenen Attributs einer die Rechtsstellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes genießenden Korporation - ebenso unrichtig - auf die Vereinsstufe abgedrängt werden. Eine solche verfassungsfremde Assoziation: Kirche = Verein tritt ohnedies bereits in der Rechtsprechung zum Kirchenbeitragsgesetz zutage 31 • überdies hat sich die spezifische Korporationsqualität der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften bei Erörterung der Religionsdelikte im Zuge der seit Jahrzehnten diskutierten Strafrechtsreform als bedeutsam erwiesen32 • 27 Vgl. dazu meine Ausführungen (S. 9 ff.) anläßlich eines von mir in Strobl am Wolfgangsee am 6./7. Juni 1969 veranstalteten wissensch·aftlichen Gesprächs und das Gespräch selbst, veröffentlicht vom Bundesministerium für Justiz unter dem Titel: Zur Erneuerung der Struktur der Rechtsordnung, Wien 1969. 28 Vgl. §§ 2, 5, 6 Abs. 1. 29 a.a.O., S. 408. 30 a.a.O., S. 167 ff. 31 Vgl. dazu Klecatsky: Lage und Problematik des österreichischen Kirchenbeitragssystems im Band 6 der Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, herausgegeben von Krautscheidt-Marre, Münster 1972, S. 60. Vgl. dazu auch Grundmann in der Anmerkung 42 zitierten Abhandlung. 32 Vgl. dazu Klecatsky: Religionsfreiheit und Religionsdelikte, Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 1970, S. 34 ff., Gampl: "Das religiöse Gefühl" !lls

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III. Die Rechtsprechung zur kirchlichen Selbstbestimmung Auch die Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes bestätigt den vom Staat unabhängigen Selbstbestimmungsraum der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften. Schon in der Ersten Republik hatten es der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 868/1927 und der Verwaltungsgerichtshof in seinen Beschlüssen VwSlg 13001 A/1922 und 17031 A/1932 abgelehnt, innerkirchliche Akte zu überprüfen. In seinem Erkenntnis VfSlg 2944/1955 erklärte der Verfassungsgerichtshof: Das den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften durch Art. 15 StGG verfassungsgesetzlich gewährLeistete Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung und der selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten darf nicht durch ein einfaches Gesetz beschränkt werden. Daran ändert auch der Vorbehalt in Art. 15 StGG, daß sie "wie jede Gesellschaft den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen sind", nichts, denn er erlaubt eine Beschränkung durch einfaches Bundesgesetz nur unter der Voraussetzung, daß damit jede Gesellschaft im Staate getroffen wird. Im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs VfSlg 3657/1959 wird gesagt: In den inneren Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ist den staatlichen Organen durch Art. 15 StGG jede Kompetenz rur Gesetzgebung und Vollziehung genommen. In diesen Angelegenheiten ist die Tätigkeit der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften keine staatliche Tätigkeit im Sinne der Bundesverfassung; ihre generellen und individuellen Akte sind nicht Verordnungen und nicht Bescheide im Sinne der Bundesverfassung. Die Organe einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft können nur dann als staatliche Behörden und ihre Akte nur dann als Verordnungen und Bescheide angesehen werden, wenn und soweit ihnen eine Kompetenz in einer äußeren Angelegenheit übertragen ist; sie müßten dann je nach dem Gegenstand dieser äußeren Angelegenheit funktionell als Bundes- oder Landesbehörden und ihre Akte als Bundes- oder Landesvollzugsakte qualifiziert werden. Im Erkenntnis VfSlg 3816i1960 äußerte der Verfassungsgerichtshof: Die (israelitischen) Kultusgemeinden und [hre Organe sind keine staatlichen Behörden. Vielmehr handelt es sich dabei um eine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft, die gemäß Art. 15 StGG außerhalb der staatlichen Behördenorganisation steht. Der Verwaltungsgerichtshof sagte in seinem Erkenntnis vom 22. April 1964, Zl. 2355/63: Das nicht von staatlichen Organen, sondern von einer Kirchengemeinde beschlossene Statut einer Kirchengemeinde (der griechisch-or.ientalischen Schutzobjekt des Strafgesetzbuch-Entwurfes 1968, JBl. 1971, S. 109 ff., Liebscher: "Religiöses Gefühl" und Strafgesetz, JBl.1971, S. 114 ff.

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Kirche) fällt als eine Angelegenheit der Verfasssung und der Organisation der Kirchengemeinde unter die "inneren Angelegenheiten", die durch Art. 15 StGG der selbständigen Ordnung und Verwaltung der Kirche, also der kirchlichen Autonomie, verfassungs rechtlich überlassen sind. Das Statut stellt kein staatliches Gesetz im Sinne des Art. 18 Abs. 1 B-VG dar, das als Grundlage staatlicher Aufsichtsakte über die Kirchengemeinde angesehen werden könnte.

IV. Das "Konkordanz"-System In seiner im Jahre 1970 erschienenen "Österreichischen Verfassungslehre" bezeichnet Felix Ermacora das Verhältnis von Staat und Kirche in Österreich "vom Verfassungsrechtlichen her als Trennung von Staat und Kirche"33. Diese Trennung sei aber nicht "kirchenfeindlich" im Sinne der Mißachtung religiöser Kulte, Erschwerung öffentlicher und privater Religionsausübung, Beeinträchtigung und mangelnder Unterstützung religiöser Bildung und Jugenderziehung, Duldung kirchenfeindlichen Verhaltens. Die Trennung sei "kirchenfreundlich", "wobei dies aber nicht als Verfassungsrecht gilt". Unter der Verfassungsebene jedoch könne man "von einer Koordination von Staat und Kirche sprechen, wobei unter Kirche nicht jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft zu verstehen ist, sondern nur die römisch-katholische Kirche und lutherische Kirche A. B.". Auch diese Koordination, die Ermacora in der Besorgung der sogenannten "gemeinsamen Aufgaben" verwirklicht sieht, sei kein Verfassungsprinzip. Im Anschluß an Ebers 34 hat Ermacora die Art dieser "gemeinsamen Aufgaben" bereits in seinem 1963 erschienenen "Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte"35 nachgezeichnet. Schule, Militär- und Anstaltsseelsorge, die Theologischen Fakultäten etwa, werden hier genannt. Schima jun. hat diesen Angelegenheiten im Jahre 1965 eine gründliche Abhandlung gewidmet38 , in der er insbesondere auch die verfassungsrechtlichen Aspekte kurz gestreift hat. Diese "gemeinsamen Angelegenheiten" sollen sich von "gemischten Angelegenheiten" (res mixtae) alten Stils dadurch unterscheiden, daß bei diesen - anders als bei jenen - mangels staatlicher Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses mit aktiver kirchlicher Mitwirkung nicht gerechnet werden kann37 • Schließlich formulierte Schima jun. 38 : S. 403 ff. Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930, S. 260 ff.; übernommen in der Bundesrepublik Deutschland etwa von Konrad Hesse in: Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, Göttingen 1965, S. 69, und Paul Mikat in: Kirchen und Religionsgemeinschaften in: Die Grundrechte, herausgegeben von Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Bd. IVI1, S.194 ff. 35 S. 417 ff. M Die gemeinsamen Angelegenheiten von Kirche und Staat, ÖJZ 1965, S. 533 ff., 565 ff. 37 a.a.O., S. 537. 38 a.a.O., S. 570. 33

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"Die gemeinsamen Angelegenheiten liegen an der Grenze zwischen den inneren Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften (i. S. des Art. 15 StGG) und den sogenannten äußeren Angelegenheiten. Materiell sind die gemeinsamen Angelegenheiten grundsätzlich Zlugleich kirchliche und staatliche Angelegenheiten. Formell werden sie heute - wenn man von den Konkordaten absieht - im österreichischen Staatskirchenrecht weitgehend wie äußere, also staatliche Angelegenheiten behandelt." Den konkordatären Regelungen, die für die katholische Kirche zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich in Form völkerrechtlicher Verträge 39 abgeschlossen werden, entsprechen etwa jene Verhandlungen zwischen dem Staat und der evangelischen Kirche, in denen der Inhalt des nachmaligen Bundesgesetzes vom 6. Juli 1961, BGBl. Nr. 182, über die äußeren Rechtsverhältnisse der evangelischen Kirche einvemehmlich, wenn auch (angesichts der mangelnden Völkerrechtssubjektivität der evangelischen Kirche) nicht staatsvertraglich festgelegt wurde 40 • Zweifellos war es verdienstvoll, durch die übernahme des Begriffs der "gemeinsamen Angelegenheiten" in den österreichischen Rechtsbereich für den Juristen allgememe moderne Entwicklungslinien sichtbar gemacht zu haben. Der Öffentlichkeits auf trag der Kirchen verträgt es im säkularisierten oder laisierten Staat41 weniger denn je, auf die "gemeinsame öffentliche Religionsübung" und die "selbständige Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten", also auf den Kirchenraum beschränkt zu bleiben, "zerniert und privatisiert" zu werden42 • Gerade in den "gemeinsamen Angelegenheiten" wird die staatliche (kirchenfreundliche) Anerkennung des "Gesamtstatus" der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sichtbar. Gesamtstatus insofern, als - wie Alexander Hollerbach für die Bundesrepublik Deutschland gesagt hat43 - "kein Sachbereich ersichtlich ist, wo nicht die Kirchen mit Hilfe staatlicher Normierungen zumindest dem Grunde nach anwesend und beteiligt wären, soweit die Sphäre ihres weit ausgreifenden Auftrages berührt ist". Wenn schon nicht als "Koordinationssystem", weil noch mit Staatshoheitselementen gemischt, will Inge Gampl dieses System als 39 Konkordat vom 5. Juni 1933, BGBl. II Nr. 2/1934, abgeändert und ergänzt durch die Verträge BGBl. Nr. 195/1960, 273/1962, 227/1964 und die Verträge BGBl. Nr. 196/1960, 147/1968,289/1972. 40 Vgl. Gampl, ÖZÖR 1964, S. 267 ff. 41 Darüber Ermacora: Allgemeine Staatslehre, 1. Bd., Berlin 1970, S. 135 ff.; weiter etwa Gustav E. Kafka: Der Öffentlichkeitsanspruch der Kirche nach dem Grundgesetz (1960). 42 Vgl. Siegfried Grundmann: Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht in: Kirche und staat. Festschrift für Bischof D. Hermann Kunst, Berlin 1967, S. 126 ff. 43 Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts in: Essener Gespräche (1), Essen 1967, S. 60. Siehe auch Ulrich Scheuner, ebenda S. 108 ff., insbesondere S. 131.

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"Konkordanzsystem" ansehen44 , genauer als "System der demokratischparitätischen Konkordanz", das sie "alles in allem ... als ein System freiheitlich-demokratischer, säkular-rechtsstaatlicher Gewährungen und Abgrenzungen, die - de facto - weitgehende kirchliche Zustimmung genießen" charakterisiert45 • V. Erhaltung der Verfassungsklarheit So weit, so gut. Aber diese Betrachtungsweisen, die erklärtermaßen den verfassungsrechtlichen Grundstatus der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften und den mit dem Staat ausgehandelten einfachrechtlichen Wirkungsbereich vermischen, stoßen meines Erachtens zunächst dem Grunde nach auf den gleichen Vorwurf, den etwa Martin Heckel gegen den Begriff der "res mixtae" erhoben hat4 6• Heckel hat die kritiklose Vernachlässigung des Ineinandergreifens kirchlicher und staatlicher Kompetenzbereiche und seine Aktualisierung durch die kasuistische (und im Grunde zufällige) enge Bereichsbegrenzung der "res mixtae" scharf angegriffen. Mit Recht lehnt er den Begriff der "res mixtae" als "aus dem 19. Jahrhundert, aus dem System der Staatskirchenhoheit, Staatsaufsicht und Staats kuratel, die in den obrigkeitsstaatlichen und behördenkirchlichen Bevormundungen und Kompetenzabgrenzungen hängen blieb", stammend, als staatstheoretisch und ekklesiologisch unhaltbar und einer freiheitlichen Verfassungsordnung widersprechend ab. Es ist kennzeichnend, daß in einem der jüngsten staatskirchenrechtlichen Werke, Herbert Willes: "Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein" (1972)47, vorgeschlagen wird, die Terminologie der "gemischten Belange" (res mixtae) beizubehalten und sie analog der Schweizerischen Staatskirchenrechtsdoktrin in Sinndeutung der "gemeinsamen Angelegenheiten" von Ebers zu verwenden, von dem wieder - wie erwähnt - dieser Begriff in die österreichische Literatur übernommen wurde. Der verfassungsrechtlich gesicherte Status der Kirchen und Religionsgesellschaften wird - wie kann es im modernen Verfassungsstaat anders sein - heute noch von den meisten juristischen Autoren als das zentrale Element des Verhältnisses von Staat und Kirche gesehen. Ein so prominenter Staatskirchenrechtslehrer wie Ulrich Scheuner sagte etwa 4S ; Österreichisches Staatskirchenrecht, S. 53 ff. a.a.O., S. 56. Hervorhebung von der Autorin. 46 Die Kirchen unter dem Grundgesetz, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 26, Berlin 1968, S. 34 ff. 47 Vgl. die Anmerkung 2, S. 174 ff. 48 Erörterungen und Tendenzen im gegenwärtigen Staatskirchenrechtder Bundesrepublik Deutschland in: Esseller Gespräche (1), Essen 1967, S. 131, vgl. auch S.129. 44

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"An der heutigen Stellung der Kirchen ist die verfassungsrechtliche Einfügung in die öffentliche Ordnung das Bedeutsame. Ihr gegenüber sind die einzelnen Berechtigungen eher veränderlich. Ohne den vermssungsrechtlich gesicherten Stand würden manche Verknüpfungen von Staat und Kirche schwierig zu beurteilen sein." Diesen verfassungs rechtlichen, vor dem Verfassungsgerichtshof zu verteidigenden Status durch Einbeziehung einfachrechtlicher Bereiche terminologisch zu verdunkeln, besteht um so weniger Anlaß, als ja die bestehenden rechtlichen Positionen der Kirchen - etwa in der Bundesrepublik Deutschland - nicht unangefochten sind und jedenfalls nicht in aller Zukunft unangefochten bleiben müssen. Auch in Österreich bedarf ja beispielsweise die rechtliche Verworrenheit und tatsächliche Mangelhaftigkeit des "gemeinsamen" Kirchenbeitragskomplexes von der Verfassungsnorm des Art. 15 StGG her dringend einer Erneuerung 49 • Der evangelische Münchner Staatskirchenrechtslehrer Siegfried Grundmann hat schon im Jahre 1966 eine Mahnung ausgesprochen, die seither immer aktueller geworden ist und die auch für Österreich Geltung hat 50 : "Die Erkenntnis des Widerstandsrechtes als der letzten sedes materiae des Staatskirchenrechts zeigt die ganze Schärfe, die diesem Rechtsgebiet zu allen Zeiten eigen gewesen ist. über sie darf man sich durch - beiderseits ehrlich gemeinte - Bekenntnisse zur Partnerschaft, zur gemeinsamen Verantwortung und zum freundschaftlichen Verhältnis von Kirche und Staat ... nicht hinwegtäuschen lassen. Die Probleme bleiben auch dann, wenn der Staat allen caesaropapistischen und die Kirche allen theokratischen Versuchungen widerstehen und statt dessen die ,freiheitliche Ordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat' anstreben ... Damit sollen nicht Gräben und kaum verheilte Wunden aufgerissen werden. Damit soll vielmehr in einer Zeit, in der das möglich ist, dazu gemahnt werden, die sich aus dem weithin koordinationsrechtlich gewordenen Staatskirchenrecht ergebenden Fragen bis in die letzte Konsequenz als Rechtsfragen ZiU durchdenken. Ein Rest an Machtfragen wird ohnedies übrigbleiben. " Ich stimme daher auch Inge Gampl insoferne ganz zu, als sie gegenüber dem Begriff der "gemeinsamen Angelegenheiten" darauf besteht51 , daß es nach der positiven österreichischen Rechtsordnung nur "innere" und "äußere" Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften gibt, und vorschlägt, diese Bezeichnungen "allein unter dem Blickwinkel der rechtlichen Kompetenzen und nicht unter jenen von (staatlichen und kirchlichen) Interessen oder postulierten Zielsetzungen zu wählen". Auf solche Weise ließen sich alle sogenannten "gemeinsamen" Angelegenheiten zerlegen in innere (der kirchlichen Autonomie überlassene) und äußere (in die staatliche Kompetenz fallende) Angelegenheiten, so daß man auch "rechtstheoretisch" mit der erwähnten 50

Vgl. darüber K~ecatsky in der in der Anmerkung 31 bezeichneten Arbeit. Juristenzeitung 1966, S. 81 ff., insbesondere S. 86. Hervorhebung durch

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Österreichisches Staatskirchenrecht, S. 39 ff.

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Grundmann.

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positiv-rechtlichen Zweiteilung das Auslangen finden könnte, ja sollte, "um Mißverständnissen und (auch der Gefahr politischer) Mißdeutungen vorzubeugen" . VI. Ein rechtstheoretisches "Staatskirchentum" Allein Inge GampZ konstruiert ein rechtstheoretisches "Staatskirchentum" anderer Art, das - soweit ich sehe - mit Literatur und Rechtsprechung in auffälligem Widerspruch steht. Ich kann darauf im vorliegenden Rahmen nur skizzenhaft eingehen. Weiler und ich52 und so dann Ermacora 53 haben vor dem Hintergrund österreichischer Rechtstradition dargelegt, daß die Abgrenzung der inneren von den äußeren Angelegenheiten nicht Sache der einfachen Gesetzgebung sein kann, weil der Begriff der "inneren Angelegenheiten" dem Bereich des Verfassungsrechtes zugehört und daher der Bestimmung durch die einfache Gesetzgebung entzogen ist. Dabei haben wir alles, was zur Erhellung des Begriffes der "inneren Angelegenheiten" an Literatur, Rechtsprechung und legislativer Praxis dienlich schien, aus eine!' über hundertjährigen Rechtsentwicklung zusammengetragen. Daß es sich bei den "inneren Angelegenheiten" um einen, eben wie alle allgemeinen und daher unbestimmten Rechtsbegriffe, mit den Mitteln juristischer Interpretation auszulegenden "verfassungsrechtZichen Begriff" und auch unter starker Beobachtung der historischen Interpretationsmethode in "Wissenschaft und Praxis"54 tatsächlich ausgelegten Begriff handelt, beweist nicht nur das erwähnte historische Material, sondern auch die unter 111 dieser Abhandlung erwähnte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs und die neuere Literatur. So verweise ich etwa auf Schima jun. 55 , der im Jahre 1965 den Begriff der "inneren Angelegenheiten" ausdrücklich als einen "verfassungsrechtlichen" Begriff (etwa S. 533) bezeichnete, von einem unveränderlichen "Wesenskern" dieser Angelegenheiten, dem "Kernbereich des kollektiven Grundrechtes des religiösen Lebens, wie es in Art. 15 StGG verankert ist", "das nicht angetastet werden darf", sprach (S. 539) und erklärte, daß "eigentlich wenig Meinungsverschiedenheit über den Umfang dessen, was als innere Angelegenheiten bezeichnet werden darf, herrscht" (S. 538). MeZichar hat in seinem ebenso klar formulierten wie inhaltlich ausgeglichenen Landesreferat über "Die Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen" zum VIII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Pescara 1970 58 von einer den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgea.a.O., S. 28 ff., insbesondere S. 29. Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, S. 142 f. 5' So Melichar in dem in der Anmerkung 5 angegebenen Referat, S. 165. 55 ÖJZ 1965, S. 533 ff. 56 Siehe die Anmerkung 5. 52

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sellschaften in ihren "inneren Angelegenheiten" von "keiner der drei Staatsfunktionen beeinftußbaren" "besonderen Autonomie" gesprochen, für die der Begriff der "inneren Angelegenheiten" von "besonderer Bedeutung" sei. Mangels einer Umschreibung dieses Begriffes sei es Aufgabe von Wissenschaft und Praxis, "die Grenze zu finden und damit diesen verfassungsrechtlichen Begriff zu bestimmen". Im Anschluß daran hat Melichar einen "sicheren Kernbestand" dieses Begriffes im einzelnen dargestellt. In dem traditionsreichen, nun im Jahre 1971 in sechster Auflage erschienenen "Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts", herausgegeben von Ludwig Adamovich jun., heißt es: "Was unter den inneren Angelegenheiten zu verstehen ist, deren Ordnung und Verwaltung den gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften gemäß Art. 15 StGG g,arantiert ist, darf nicht von der einfachen Gesetzgebung selbständig geregelt werden, sondern ergibt sich wesensmäßig aus dem Aufgabenbereich der betreffenden Religionsgesellschaft56a ." Demgegenüber kritisiert Gampl57 die Annahme, daß der Begriff der "inneren Angelegenheiten" ein "Verfassungsbegriff" sei, weil er vom staatlichen Verfassungsrecht her eines materiellen Inhaltes überhaupt entbehre. Er sei lediglich insofern "Verfassungsbegriff", als nicht die einfache Gesetzgebung durch ihre materiellrechtlichen Regelungen insgesamt auf einen "Entzug" dieses "Rechtes" hinauslaufen dürfe. Gampl gibt aber unter einem das zu, was eben auch tatsächlich österreichische Praxis ist, daß nämlich der Begriff im Wege historischer Interpretation nach dem Zeitpunkt des ersten Inkrafttretens des Bundes-Verfassungsgesetzes inhaltlich aufzufüllen sei. Ihr Einwand, daß damit auch eine Versteinerung der Abgrenzung zuungunsten einer Kirche eintreten würde, ist unzutreffend. Gampl verkennt dabei das Wesen historischer Verfassungs interpretation. Nicht die Summe der im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassungsnorm bestehenden Rechtsvorschriften bestimmt ein für allemal den Verfassungsinhalt, sondern das aus den vorgefundenen Rechtsvorschriften ableitbare "Begriffsbild" tritt in die Verfassung ein58, 59. Desgleichen belastet ihr gegen Ermacoras und indirekt auch gegen Melichars (etwa "auf das Wesen der Religionsgesellschaft" abgestellten)

Abgrenzungsthesen erhobener Vorwurf, diese Interpretationskategorien seien für die Ermittlung konkreten materiell-rechtlichen Inhaltes sehr 56a

S. 549.

Österreichisches Staatskirchenrecht, s. 32. 58 Darüber ausführlich SchäffeT: Verfassungsinterpretation in Österreich, Wien 1971, S. 64 f., S. 97 f. Vgl. auch Klecatsky: Das österreichische Bundesverfassungsrecht, Wien 1973, S. 95. 59 Fälschlich beruft sich Gampl auch auf Antoniolli (Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 1969, S. 231), der ja ausdrücklich sagt, daß der einfache Gesetzgeber bei seinen Abgrenzungsmaßnahmen "immer im Rahmen der verfassungsgesetzlichen, allerdings unbestimmten Begriffe ble,iben" müsse. 57

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zweifelhaft, zumindest im gleichen Maße ihre eigene Argumentation. Sie selbst nämlich unterscheidet zwischen "staatsfremden" und "staatsfreien" kirchlichen Angelegenheiten, die zusammen die "inneren Angelegenheiten" ausmachen sollen. Die von ihr positivistisch aufgefaßte "Staatsfremdheit" einer Angelegenheit sei vom Staatsbild der Republik Österreich "als ganz und gar säkularer Staat in der Erscheinungsform einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie mit daraus resultierender teils relativer, teils absoluter Freistellung der religiös-weltanschaulichen Individualsphäre von staatlicher Einwirkung"60 her zu sehen. Die daraus folgenden "staatsfremden" innerkirchlichen Maßnahmen stünden nicht unter dem Gesetzesvorbehalt, denn sie seien prae- und extrapositiv. Ihnen werde vielmehr ein qualifizierter Schutz nach Art. 44 Abs. 2 B-VG zuteil; sie könnten nur im Wege einer Totaländerung der Bundesverfassung der staatlichen Gesetzgebung unterworfen werden. Dabei extrapoliert aber Gampl aus ihrer - wie gesagt - ausdrücklich positivistisch konzipierten "Bemessungsgrundlage" der Staatsfremdheit den ganzen Art. 15 StGG, obwohl sie einige Seiten zuvor 61 bei Kennzeichnung des republikanischen Staatsbildes selbst den von einer "freiheitlichen Demokratie legitimerweise" zur Verfügung gestellten "Komfort gesetzlich anerkannter Kirchen und Religionsgesellschaften" erwähnt. So bleibt es denn auch nur folgerichtig, wenn auf dem Boden dieses willkürlichen, die Gemeinschaftsbezogenheit der Religion außer Bea.a.O., S. 34. Vgl. auch S. 9 ff. a.a.O., S. 18. Vgl. auch S. 10 f. Ich will mich mit meinen obigen Ausführungen keineswegs gegen die an den vorstehend zitierten Stellen geäußerten Gedanken der Autorin über das Hervortreten des einzeLnen in Demokratie und Kirche wenden. Ich darf mich darauf berufen, daß ich in meinen Schriften immer wieder diesen einzelnen in seiner Rechtssphäre zu verteidigen getrachtet habe (vgl. u. a. Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, 1967, schon S. 9 ff.). Hier aber sagt GampL selbst: "Dabei ist die genannte IndividualRechtssphäre heutzutage als das Primäre anzusehen, das jedoch zu seiner Effektuierung der Ergänzung durch das Staatskirchenrecht bedarf, solange und insoweit das Individuum seine religiöse Erfüllung nur durch Vermittlung einer im Rahmen des staatlichen Rechtes organisierten und gesicherten Kirche oder Religionsgemeinschaft finden mag." (Hervorhebung durch die Autorin.) Da danach also GampL selbst der Meinung ist, daß zumindest derzeit noch "im Rahmen des staatlichen Rechtes organisierte Kirchen und Religionsgesellschaften" für die "religiöse Erfüllung" des einzelnen Bedeutung haben und das hiezu aufgebotenen "Staatskirchenrecht" in Österreich eben verfassungsrechtlich grundgelegt ist, bin ich als ein Verfassungsjurist, der sich der Grundrechtssphäre besonders verpflichtet erachtet, zu zweierlei nicht in der Lage: 1. die an sich einmal gegebene verfassungsrechtliche Baslis dieses Staatskirchenrechtes zu schmälern, 2. damit der religiösen "Individualrechtssphäre gerade eben das - zumindest zum Teil - zu nehmen, was sie Ziur "Effektuierung bedarf"; letzteres heute weniger denn je, weil heute im gesamten Grundrechtsraum, und nicht nur in diesem, die Abkehr von "altliberalen" Kategorien und die Zuwendung zur Ausformung von geseLLschaftLichen, die Freiheit des einzelnen erst "effektuierenden" Bedingungen gefordert wird. 60

61

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tracht lassenden Ansatzes der Autonomiebereich des Art. 15 StGG zu kurz kommt. Die "staatsfreien Angelegenheiten" hingegen will Gampl62 voll und ganz der Disposition des einfachen Gesetzgebers unterworfen sehen. Nach ihrer Meinung hört eine bisher als staatsfreie Materie den Kirchen zur selbständigen Regelung überlassene Angelegenheit auf, eine innerkirchliche Regelung zu sein, sobald der staatliche Gesetzgeber sie einer gesetzlichen Regelung unterwirft. Die Bestimmung dessen, was als "innere Angelegenheit" anzusehen sei, hänge im übrigen aber vom Selbstverständnis der einzelnen Kirchen und Religionsgesellschaften ab. Es wurde schon gesagt, daß diese Thesen von der herrschenden Auffassung stark abweichen. Sie haben auch keine "genetische Logik" für sich. Selbst zur Zeit, als es eine die normative Rangordnung zwischen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen garantierende Verfassungsgerichtsbarkeit noch nicht gab, der "einfache Gesetzgeber" sich also über Art. 15 StGG hinwegsetzen konnte, wurde bei Konzipierung der religions genossenschaftliche Außenbeziehungen regelnden Gesetze immer wieder über die Wahrung der religionsgenossenschaftlichen Autonomie strikt reflektiert. So hieß es etwa im Motivenbericht zur Regierungsvorlage betreffend das nachmalige Katholikengesetz, RGBl. Nr. 50/187463 : "Formell ist innere und äußere kirchliche Angelegenheit das, was der Staat hiefür erklärt. MaterielL ist der Staat verpflichtet, diese Festsetzung so zu treffen, daß der Kirche nicht bloß das Glaubens- und Gewissensgebiet und die Art des Gottesdienstes überlassen, sondern ihr auch für die Bereiche des äußeren Lebens und der weltlichen Einrichtungen die für eine gedeihliche Entwicklung nötige Freiheit und Selbstbestimmung gewahrt bleibt." Und im Motivenbericht zum nachmaligen Israelitengesetz, RGBl. Nr. 57/1890, der mit besonderem juristischen Scharfsinn abgefaßt ist, heißt es 64 : "Denn im gleichen Maße, als es der Staatsgewalt zukommt, ihre Machtsphäre unverkümmert zu erhalten, ist es ihre Pflicht, sich die Grenzen derselben stets und namentlich auch dann gegenwärtig zu halten, wenn eine diese Grenzen übersteigende Machterweiterung seitens der Betroffenen selbst keiner Anfechtung ausgesetzt wäre. Nicht die einer Konfession eigene Auffassung ihres Verhältnisses zum Staate, sondern nur objektive, insbesondere die durch die Staatsverfassung gegebenen Momente sollen das Verhalten der Staatsgewalt auf konfessionellem Gebiete bestimmen, und diese allein konnten auch für die staatliche Regelung der jüdischen KultusverhäItnisse maßgebend sein. a.a.O., S. 172 ff. 40 der Beilagen zu den Steno graphischen Protokollen des Abgeordnetenhauses VIII. Session, 1. Band, S. 236. M 202 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Herrenhauses X. Session, S. 12. 62

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Aus diesen Erwägungen ergeben sich dde leitenden Grundsätze des vorliegenden Gesetzesentwurfes, welche sich in einigen Sätzen kennzeichnen lassen. Als Objekt der gesetzlichen Regelung erscheint die jüdische Religionsgenossenschaft in jener Gestaltung, welche ihr auf Grund historischer Entwicklung in Österreich eigen und in welcher ihr die staatliche Anerkennung zuteil geworden ist. Weil staatlich anerkannt, steht sie im Genusse der staatsgrundgesetzlich gewährleisteten Autonomie: ,sie ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig (Art. 15 StGG)'. Indem jedoch der Staat die Regelung dieser inneren Angelegenheiten der Genossenschaft selbst überläßt, muß er im Interesse der Rechtsordnung darauf bestehen, daß diese Regelung überhaupt erfolge. Rücksichtlich der inneren Angelegenheiten beschränkt sich somit die Ingerenz des Staates auf die Forderung, daß für jede Kultusgemeinde ein Statut bestehe. Sobald aber das religionsgesellschaftliche Leben und Wirken in irgendeiner Richtung dde staatliche Sphäre berührt oder staatliche Interessen in Mitleidenschaft zieht, wird der Staat - je nach der Wichtigkeit und Tragweite dieser Rückwirkung - entweder die Regelung der diesfälligen Verhältnisse selbst in die Hand nehmen oder doch dieselben seiner Aufsicht und Kontrolle unterwerfen. Dies ist die prinzipielle Auffassung, welche den Einzelbestimmungen des Gesetzesentwurfes zugrunde gelegt ist." Völlig richtig, allerdings nicht neu, an der in Rede stehenden Theorie Inge GampZs ist die Qualifikation der "inneren Angelegenheiten" als "staatsfremd" und vom "Selbstverständnis" der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften determiniert. Nur hat sie eben schon kraft ihrer den Art. 15 StGG vernachlässigenden Prämisse zu vieles "staatseigen" gelassen. Es ist klar, daß in einem deduktiv gewonnenen Schlußsatz nicht etwas enthalten sein kann, was bereits in der Prämisse ausgeschieden wurde. Richtig ist auch, daß die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zufolge ihrer vom Staat anerkannten umfassenden Rechtssubjektivität65 im "staatsfreien", also dem durch staatliche Rechtsvorschriften nicht besetzten Bereich frei handeln können. Unrichtig aber ist die Annahme GampZs, daß der Begriff der "inneren Angelegenheiten" kein "Verfassungsbegriff" sei. Was immer dieser Begriff sonst sein mag, so ist er für die Staatsorgane ein Verfassungsbegriff in formeller Hinsicht, weil er in Art. 15 StGG in Zusammenhalt mit Art. 149 B-VG aufgenommen ist, und er ist es in materieller Hinsicht, weil die Staatsorgane ihn auslegen müssen - auslegen, um jene Grenze zu finden, die sie nicht überschreiten dürfen, weil dahinter das "staatsfremde" Territorium liegt, also jenes Land, in dem Staatsorgane aufhören, solche zu sein. Insofern muß selbstverständlich auch der einfache Gesetzgeber66 seine eigenen Grenzen erkennen und dabei den Begriff der "inneren Angelegenheiten" interpretieren, aber eben nicht, ohne im Falle einer Grenzverletzung wegen Verfassungs widrigkeit korrigiert zu werden. 85

ee

Vgl. Gampl: Österreichisches Staatskirchenrecht, S. 164 ff., 210, 216 ff. Vgl. Antoniolli laut Anmerkung 59.

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Hans R. Klecatsky VII. Kirche und "allgemeine Staatsgesetze"

Art. 15 StGG unterwirft die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften "wie jede Gesellschaft den allgemeinen Staatsgesetzen". Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem schon erwähnten Erkenntnis VfSlg 2944/1955 die Auffassung geäußert, daß dieser Vorbehalt eine Beschränkung des verfassungs gesetzlich gewährleisteten Selbstbestimmungsraumes durch einfaches Bundesgesetz nur unter der Voraussetzung erlaube, "daß damit jede Gesellschaft im Staate getroffen wird". Hans Spanner 67 wollte diese wortgetreue Interpretation dahin berichtigt sehen, daß es nicht darauf ankomme, ob wirklich jede Gesellschaft von einem solchen Gesetz betroffen sei, sondern daß nur "Sondergesetze, die nur auf eine Gesellschaft oder eine bestimmte Gruppe von Gesellschaften zutreffen können, ausgeschlossen sein sollen"68. Daß Gampl69 ausgehend von ihrer dargestellten Grundtheorie den Verfassungsgerichtshof kritisiert und den Inhalt der Begriffe: "allgemeine Staatsgesetze" und "jede Gesellschaft" entgegen dem Wortlaut des Art. 15 StGG zu minimalisieren trachtet, ist nur selbstverständlich. Allein schon Spanner hat in seiner grundsätzlich dem Verfassungsgerichtshof beipflichtenden Abhandlung nicht nur die Tragweite der verfassungsgerichtlichen Interpretation, sondern auch die Parallelität der rechtlichen Problematik zur Verfassungslage in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt. Ausdrücklich und durchaus zutreffend hat Spanner gesagt: "Ähnliche Erwägungen sind für die Gewährleistung der Selbstverwaltung der Religionsgesellschaften ,innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes' in Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Verfassung" (welche Bestimmung bekanntlich durch Art. 140 des Bonner Grundgesetzes zu dessen Bestandteil erklärt wurde) "von Bedeutung". Dieser Art. 137 Abs. 3 lautet: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde." Zu dieser Bestimmung hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß vom 17. Februar 1965 70 neben anderen sehr präzise gehaltenen Gründen auch erklärt: 87 Aufhebung des § 67 Personenstandsgesetzes durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof in: Die öffentliche Verwaltung 1956, S. 292 ff., 294. 68 Vgl. auch Adamovich jun.: Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts, Wien 1971, S. 549. 88 a.a.O., S. 210 ff. Vgl. auch Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart NF. Band 21, Tübingen 1972, S. 238 f. 70 1 BvR 732/64; Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 18. Bd., Tübingen 1965, S. 385 ff. Siehe auch Joseph Listl: Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1971, S. 383 ff. und Konrad Hesse im Handbuch des Staatskirchen-

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"Die in der Verfassung anerkannte Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt würde geschmälert werden, wenn der Staat seinen Gerichten das Recht einräumen würde, innerkirchliche Maßnahmen, die im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Deshalb sind insoweit die Kirchen im Rahmen ihrer Selbstbestimmung an ,das für alle geltende Gesetz' im Sinne des Art. 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverliassung nicht gebunden71 ." Diese Entscheidung ist um so interessanter, als die vom Bundesverfassungsgericht ausgelegte Bestimmung des Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von ihrem Wortlaut her meines Erachtens den religionsgesellschaftlichen Selbstbestimmungsraum viel schärfer einschränkt als Art. 15 StGG. Der in diesem Beschluß geäußerte Gedanke, daß das "für alle geltende Gesetz" nicht in den verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsraum der Religionsgesellschaften hineinwirken dürfe, ist für die "allgemeinen Staatsgesetze" des Art. 15 StGG aus den Materialien zur Entstehung des Art. 15 StGG klar nachweisbar. In der ersten Debatte des Abgeordnetenhauses, und zwar in der Spezialdebatte, entspann sich zu Art. 15 des nachmaligen Staatsgrundgesetzes eine Auseinandersetzung zwischen dem aus der Bukowina stammenden (geistlichen) Abgeordneten Andriewicz und dem aus Mähren stammenden Abgeordneten Dr. Ryger über eine von Andriewicz geforderte Ergänzung des Art. 15 StGG72. Art. 15 des dem Abgeordnetenhaus damals vorliegenden Gesetzentwurfes des Verfassungs ausschusses lautete wie folgt: "Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, ist aber wie jede Gesellschaft den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen73." So lohnend auch die nähere Lektüre dieser Auseinandersetzung ist, so erübrigt sich doch hier ihre nähere Darstellung, wesentlich ist nur, wie sie zunächst geschlichtet wurde. Der Berichterstatter Dr. Sturm erklärte: "Was die Befürchtungen des hochwürdigen Herrn Vorredners geistlichen Standes betrifft, so glaube ich ihn darüber vollkommen beruhigen zu können. Wenn hier auch gesagt worden ist: ,die inneren Angelegenheiten', so versteht es sich von selbst, daß die Kirche auch ihre Angelegenheiten nach Außen besorgt, und es soll das Wort ,innere' nur anzeigen, daß die Kirche in Besorgung dieser Angelegenheiten vollkommen selbständig und unabhängig von der Staatsgewalt, in Besorgung der äußeren Angelegenheiten aber wie jede Gesellschaft den Staatsgesetzen unterworfen ist7'." rechtes der Bundesrepublik Deutschland (herausgegeben von FriesenhahnScheuner-Listl), 1. Bd., Berlin 1974, S. 430 ff. (mit weiteren Schrifttumshinweisen). 71 a.a.O., S. 387 f. 72 Vgl. Die neue Gesetzgebung Österreichs. Erläutert aus den Reichsratsverhandlungen, 1. Bd., Wien 1868, S. 340 ff. 73 a.a.O., S. 314. 74 a.a.O., S. 345. Hervorhebung in dem zitierten Band.

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Der Verfassungsgerichtshof hat also in seinem Erkenntnis VfSlg 2944 klarer gesehen als seine Kritiker, wenngleich dieses Erkenntnis einer Korrektur zugunsten des Selbstbestimmungsbereichs der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften bedarf. An diesem Punkt erweist sich die Grundauffassung Gampls wieder fruchtbar: die "allgemeinen Staatsgesetze" dürfen, ja können nicht, die Grenze des Staates überschreitend, in den "staatsfremden" Raum der "inneren Angelegenheiten" hineinwirken.

VIII. Kirchenfreiheit in der "pluralistischen" Gesellschaft Die Aufnahme der Europäischen Menschenrechtskonvention in die österreichische Rechtsordnung hat auch auf dem Gebiete der Religionsfreiheit eine Anzahl bisher nicht bereinigter Rechtsprobleme mit sich gebracht75 , wenn auch die Rechtsstellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften nach Art. 15 StGG dadurch nicht berührt worden ist7l1 • Seit dem Jahre 1964 berät ein vom damaligen Bundeskanzler Dr. Klaus einberufenes und von jetzigen Bundeskanzler Dr. Kreisky bestätigtes Expertenkollegium laufend eine Totalerneuerung des Grundrechtskatalogs in allen Einzelheiten, wozu selbstverständlich auch die religiösen Grund- und Freiheitsrechte gehören. Auf Grund der Beratungsergebnisse soll dann das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst einen neuen Grundrechtskatalog entwerfen und diesen der Öffentlichkeit zur Stellungnahme vorlegen. In welchem Maße schließlich das Selbstbestimmungsrecht der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften verfassungsrechtlich garantiert und gegenüber Eingriffen des einfachen Gesetzgebers und der staatlichen Verwaltung abgesichert werden wird, kann erst die Zukunft zeigen. Zur dynamischen Gestaltung und Erhaltung dieses Selbstbestimmungsrechtes der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ist es notwendig, auch neue verfassungsrechtliche Mittel zur Verteidigung ihrer Rechtssphäre einzusetzen. Schon im Jahre 1973 bin ich dafür eingetreten, den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften auch das Recht zur Anfechtung von Gesetzen, Staatsverträgen und Verordnungen vor dem Verfassungsgerichtshof verfassungsrechtlich einzuräumen77 • Dieser Forderung wurde durch die Bundes-Verfassungsnovelle vom 15. Mai 1975, BGBl. Nr. 302, die mit 1. Juli 1976 in Kraft treten wird78, zum Teil entsprochen. Zufolge der Neufassung des Art. 139 79 und 75 Vgl. darüber Melichar: Lmr neuen verfassungsrechtlichen Regelung der Religionsfreiheit in Österreich in: Plöchl-Festschrift, S. 289 ff. 76 Vgl. Klecatsky: Religionsfreiheit und Religionsdelikte, Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 1970, S. 34 ff., Dokumentation I, S. 56 ff.; Adamovich jun., a.a.O., S. 547; Berthold Moser: Die Europäische Menschenrechtskonvention und das bürgerliche Recht, Wien 1972, S. 220. 77 Klecatsky in Maass-FS, Wien 1973, S. 306.

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des Art. 14080 B-VG haben nun die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften wie andere Personen die Möglichkeit, vor dem Verfassungsgerichtshof unmittelbar Verordnungen wegen Gesetzwidrigkeit und Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit anzufechten, wenn die Verordnung oder das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für sie wirksam geworden ist. Das ist zwar ein Fortschritt, der es nun den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften erlaubt, den ihnen verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsraum besser als bisher zu verteidigen. So werden die Katholische Kirche, die Evangelischen Kirchen und die Altkatholische Kirche es nun auch in der Hand haben, durch entsprechende Anträge an den Verfassungsgerichtshof die bereits aufgezeigte rechtliche Problematik auf dem Gebiete des Kirchenbeitragswesens 81 vom Art. 15 StGG her einer Klärung zuzuführen. Auch mit dieser verfassungsrechtlichen Neuregelung wurde - gemessen am bisherigen Verfassungssystem - ein Stück modernen Staatskirchentums abgebaut. Aber der Fortschritt reicht nicht hin. Die Auseinandersetzungen um die in Österreich eingeführte "Fristenlösung"82, das unfaßbare Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs 83 , das Volksbegehren und seine Unterstützung durch die Kirchen haben wohl klargemacht, daß die Verteidigung der Menschenrechte und Grundfreihei ten des Einzelmenschen84 schlechthin heute zu jenem religiösen Auftrag gehört, um dessen Erfüllung sie den durch das Selbstbestimmungsrecht gewährleisteten Freiheitsraum besitzen. Daher müßte ihnen schon deshalb, losgelöst von den durch die Bundes-Verfassungsnovelle vom 15. Mai 1975 für jede Person geschaffenen Anfechtungsmöglichkeiten, das Recht zur Anfechtung von Staatsverträgen, Gesetzen und Verordnungen in der Weise eingeräumt werden, wie es der Bundesregierung gegenüber Rechtsvorschriften der Länder und den Landesregierungen gegenüber Rechtsvorschriften des Bundes besitzen. So könnten die Kirchen und Religionsgesellschaften mit rechtlichen Mitteln und in voller Öffentlichkeit jenen Freiheitsraum bewahren, den sie zur Erfüllung ihres religiösen Auftrages benötigen. Die Zeiten des alten Staatskirchentums sind vorbei, auch deshalb, weil es einen Staat im alten Sinne nicht mehr gibt. Heute stehen die Kirchen und ReligionsArt. II Abs. 1. Art. I Z. 7 des BVG BGBl. Nr. 302/1975. 80 Art. I Z. 8 des BVG BGBl. Nr. 302/1975. 81 Vgl. darüber Klecatsky in der in Anm. 31 bezeichneten Arbeit. 8! Vgl. darüber etwa Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft (Wien): "Vom Volksbegehren zum Schutz des menschlichen Lebens", 1975. 83 Erk. v. 11. Oktober 1974, G 8/74 - 22; dazu etwa die Kritik von Pernthaler, JEl. 1975, S. 316 ff., oder R. Novak, EuGRZ 1975, S. 197 ff. 84 Vgl. dazu auch Klecatsky in der vorliegenden Festschrift: Die universale Kirche als Vorbild internationaler Einigung, S. 71 ff. 78

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gesellschaften, ob sie es wollen oder nicht, in der Arena der sogenannten "pluralistischen Gesellschaft" neben den kollektiven Mächten der politischen Parteien, Gewerkschaften, Kammern und anderen Interessenverbänden, die den Regierungs- und Gesetzgebungsapparat beherrschen85 • Ob sie in diesem politischen System zu Stabilisatoren korrumpiert oder sich in freier Erfüllung ihres transpolitischen Auftrages behaupten werden, hängt - sicherlich nicht allein - aber doch wesentlich vom Recht und seiner entschlossenen Verteidigung ab. Entziehen sich zumal die großen Kirchen den daraus entspringenden Aufgaben, so wer-· den sie selbst es zu verantworten haben, wenn sie eines Tages in ein Politsystem "eingebaut" sind, gegenüber dem das durch Art. 15 StGG abgelöste Staatskirchenturn eine Kinderei war.

85 Darüber schon Werner Weber, in der in Anmerkung 25 bezeichneten Publikation, insbesondere S. 168 ff.

OFFENE FRAGEN DES ÖSTERREICHISCHEN STAATSKIRCHENRECHTS Von Bruno Primetshofer Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, die am Beginn der Zweiten Republik einigen nicht unerheblichenBelastungen ausgesetzt waren1, können derzeit, mehr als dreißig Jahre nach dem Wiedererstehen Österreichs, als ausgeglichen und im großen und ganzen für beide Seiten zufriedenstellend bezeichnet werden. Dies gilt insbesondere für die Fragenbereiche Schule und Vermögensrecht, die am Beginn der Zweiten Republik das Verhältnis zwischen Staat und (insbesondere) katholischer Kirche belasteten und seitdem einer einvernehmlichen Regelung zugeführt wurden 2 • Dennoch gibt es im Bereich des österreichischen Staatskirchenrechts eine Reihe von Problemen, wo die derzeitige Rechtslage als unbefriedigend empfunden wird und eine Änderung derselben teils vom Prinzip der Vertragstreue - wie etwa bei nicht eingehaltenen Bestimmungen des österreichischen Konkordats - teils von den geänderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen gefordert wird. Aus der Fülle der hier einschlägigen Probleme seien zwei Detailfragen des Eherechts und Vermögensrechts herausgegriffen. Eine eingehende Behandlung dieser beiden Punkte liegt u. a. deswegen nahe, weil in beiden Bereichen in jüngster Zeit Schritte in bezug auf eine Rechtsänderung unternommen wurden, die den noch ungelösten Fragenkomplex besonders deutlich zutage treten und nach geeigneten Abhilfemaßnahmen Ausschau halten lassen 3• 1 Vgl. dazu das im Auftrag der Österreichischen Bischofskonferenz herausgegebene Weißbuch "Kirche und Staat", Wien 3 1955. 2 Vertrag vom 23. 6. 1960 (BGBl 195/1960) zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen, sowie die Ergänzung dieses Vertrages durch BG 22.2.1970 (BGBl 10711970). Vgl. dazu J. Rieger, Die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat auf Grund der Konvention vom Jahre 1960, ÖAKR 15/1964,42 ff. Vertrag vom 9. 7. 1962 zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen (BGBI 17311962), 'Sowie die Ergänzung dieses Vertrages durch den Zusatzvertrag vom 8. 3. 1971 (BGBl289/1972). Vgl. E. Melichar, Die Schul gesetzgebung 1962, ÖAKR 15/1974, 277 ff. 3 BG vom 1. 7. 1975 über die Neuordnung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe (BGBI 412/1975). - Reskript der Kongregation für die Religiosen und Säkularinstitute vom 8.7.1974, ÖAKR 25/1974, 279.

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I. Eherecht und Konkordat Der erste Fragenbereich betrifft die derzeitige Lage auf dem Gebiet des Eherechts. Anläßlich der Unterzeichnung eines Zusatzvertrages zum Konkordat wies der Apostolische Nuntius in Österreich am 9.1.1976 darauf hin, daß in bezug auf das Eherecht ein bis heute nicht erfüllter Anspruch des Konkordats bestehe4 • Das Konkordat sah in Art. VII und in ZusProt dazu folgende vertragliche Vereinbarung vor: 1. Den nach dem kanonischen Recht geschlossenen Ehen kommen bürgerliche Rechtswirkungen zu; 2. die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte und Behörden zum Verfahren bezüglich der Ungültigkeit der Ehe und der Dispens von der geschlossenen, nicht vollzogenen Ehe wird anerkannt; die diesbezüglich ergangenen Verfügungen und Urteile sind im staatlichen Bereich vollstreckbar; 3. die Zuständigkeit der kirchlichen Behörden zum Verfahren bezüglich das Privilegium Paulinum wird ebenfalls anerkannt und den diesbezüglichen Verfügungen wird staatliche Vollstreckbarkeit garantiert5• Diese Bestimmungen des österreichischen Konkordats (Art. VII und ZusProt) stehen als völkerrechtliche Norm weiterhin in Geltung; im innerstaatlichen Bereich ist ihnen jedoch durch die Bestimmungen des Gesetzes über die Eheschließung und Ehescheidung vom 6. Juli 1938 (DRGBl I, S. 807; GBlÖ 1938, 244), d. i. durch das derzeitige Ehegesetz (EheG.) derogiert worden. Denn einerseits steht Österreich heute vorbehaltlos auf dem Boden der obligatorischen Zivilehe, andererseits wird eine andere als die staatliche Ehegerichtsbarkeit, die über Nichtigerklärung, Aufhebung und Scheidung der Ehe befindet, nicht anerkannt. Einer gesetzgeberischen Bereinigung dieses Fragenkomplexes wird zunächst eine Bestandsaufnahme der Widersprüche zwischen der konkordatären Vereinbarung und der gegenwärtigen Gesetzeslage in Österreich vorangehen müssen. Beginnen wir zunächst mit dem anscheinend schwierigeren Bereich der Ehegerichtsbarkeit. Gegenstand der Vereinbarung ist, wie gezeigt wurde, die Anerkennung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit in ihren verschieKathpreß 9.1. 1976, S. 5, "Eherecht und Konkordat". Allerdings wurde die im Konkordat (Art. VII und ZusProt) getroffene Vereinbarung hinsichtlich der umfassenden Anerkennung der kirchlichen Eheschließungsform und Ehegerichtsbarkeit durch das - einseitig vom staatlichen Gesetzgeber erlassene - Konkordats-Durchführungsgesetz (BG 4. 5. 1934, BGBI 11/2/1934) nicht unerheblich eingeschränkt. Vgl. dazu B. Primetshofer, Ehe und Konkordat, Wien 1960, 45 ff., 70 ff. 4

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denen Aspekten (Ungültigerklärung, Dispens von der geschlossenen, nicht vollzogenen Ehe) und die Anerkennung des Verfahrens bezüglich des Privilegium Paulinum. Die gegenwärtigen Bestimmungen des staatlichen Eherechts tragen zweifelsfrei diesem Detail der konkordatären Vereinbarung nicht Rechnung. Doch stellt dies an sich noch nicht das größte Problem dar. Die brennende Frage ist vielmehr die, ob das staatliche Scheidungsrecht, demzufolge jede Ehe bei Vorliegen entsprechender Gründe geschieden werden kann, eine Konkordatsverletzung bedeutet oder nicht. Es geht hier also um die Frage, ob das Konkordat dem staatlichen Gesetzgeber verbietet, eine Regelung zu treffen, derzufolge eine kirchliche Ehe mit bürgerlichen Rechtswirkungen durch staatliche Gerichte dem Bande nach geschieden werden kann. Zur Zeit der Geltung des Konkordats stand die herrschende Lehre, gefolgt von einem Teil der Rechtsprechung, auf dem Standpunkt, daß das Konkordat und das (staatliche) Konkordats-Durchführungsgesetz (BG vom 4. 5. 1934, BGBl IIf8/1934) den staatlichen Gerichten jede Möglichkeit genommen habe, staatliche Ehescheidungsbestimmungen auf kirchliche Ehen anzuwenden, denen im Sinne des Konkordats bürgerliche Rechtswirkungen zugekommen waren. Besonders deutlich etwa Lenhoff, der schon in Art. 1 des Konkordats eine grundsätzliche Anerkennung der Souveränität der katholischen Kirche bezüglich der Regelung ihrer in Anspruch genommenen Aufgabe und Zwecke herauslesen wilL Wenn auch das Konkordats-Durchführungsgesetz keine direkte Bestimmung enthalte, derzufolge staatliche Scheidungsnormen auf die dem Konkordat unterliegenden Ehen nicht anwendbar seien, so bedürfe es einer derartigen ausdrücklichen Bestimmung überhaupt nicht, da Art. XXII,1 des Konkordats ganz allgemein bestimme, daß alle anderen auf kirchliche Personen oder Dinge bezüglichen Materien, die in den vorhergehenden Artikeln des Konkordats nicht behandelt wurden, dem geltenden kanonischen Recht gemäß behandelt würden. Infolgedessen sei aus dem Schweigen des Konkordatstextes hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Ehescheidung zu folgern, daß die auf die Ehescheidung bezugnehmenden Normen des staatlichen Eherechts als mit dem Konkordat in Widerspruch stehend abgeschafft seien. überdies enthalte Art. XXII,3 des Konkordats nochmals einen Hinweis darauf, daß die mit den Bestimmungen des Konkordates in Widerspruch stehenden Gesetze und Verordnungen außer Kraft treten. Die kirchlich-bürgerliche Ehe im Sinne des Konkordates sei demnach für den Staat nur noch insoweit lösbar, als das kirchliche Recht dies zulasse 6 • 6 A. Lenhoff, Rsp 1711935, 64 ff. Gegen die Anwendbarkeit burgenländischer Scheidungsbestimmungen auf die im Sinne des Konkordats "kirchlichen Ehen mit bürgerlichen Rechtswirkungen " sprechen sich weiter aus A. Breymann,

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Bevor die Richtigkeit dieser hier vorgetragenen Ansicht untersucht wird, muß auf eine Eigentümlichkeit des zur Zeit der Geltung des Konkordates bestehenden Eherechts in Österreich hingewiesen werden: Es gab in der fraglichen Zeit von 1934 - 1938 in Österreich zwei verschiedene Eherechte. Das des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), welches in den österreichischen Bundesländern mit Ausnahme des Burgenlandes galt, und das Eherecht des Ungarischen Gesetzesartikels XXXI vom Jahre 1894, das im Burgenland galt. Das Eherecht des ABGB kannte nun für jene Ehen, bei denen auch nur ein Teil zum Zeitpunkt des Eheabschlusses der katholischen Religion angehörte, keine Scheidung dem Bande nach7 (Trennung nach der Terminologie des ABGB); eine solche war vielmehr nur den "nichtkatholischen christlichen Religionsverwandten" sowie den Juden gestattet8 • Hingegen kannte das im Burgenland geltende Eherecht auch für Katholikenehen eine Scheidung dem Bande nach 9 • Es muß also festgehalten werden, daß für den Großteil des österreichischen Bundesgebietes die Scheidung (Trennung nach dem ABGB) einer im Sinne des Konkordates eingegangenen "kirchlichen Ehe mit bürgerlichen Rechtswirkungen" aufgrund der staatlichen Gesetzgebung nicht möglich war, weil es sich bei den dem Konkordat unterliegenden Ehen in jedem Falle um solche Ehen handelte, die nach den einschlägigen Bestimmungen des ABGB als Katholikenehen anzusehen waren und daher unter den Grundsatz der Untrennbarkeit dieser Ehen fielen. Lediglich eine dem ungarischen (burgenländischen) Eherecht unterliegende Ehe von Katholiken (Voraussetzung für die Anwendbarkeit burgenländischen Eherechts war der Besitz der burgenländischen Landesbürgerschaft)lO Das Eherecht für Katholiken in Österreich, JBI 63/1934, 342; R. Hermann, "Das neue österreichische Recht", hrsg. von R. Bartseh, II/a/15, S. 3 und 17; O. Haeller, Das ungarische Eherecht und die ungarische Zivilprozeßordnung, JBI 64/1935, 452 ff.; G. Ratzenhojer, Die Bedeutung des Konkordats für die Entwicklung des österreichischen Eherechts, NZ 77/1935, 27 und R. Köstler, Das österreichische Konkordats-Eherecht, Wien 1937, 116. Köstler beruft sich für seine Ansicht, daß die kirchliche Ehe für den Staat nur noch insoweit lösbar sei, als das kirchliche Recht dies zulasse, auf § 7a des Konkordats-Durchführungsgesetzes. - Damit ist aber für die in Rede stehende Diskussion nichts gewonnen, da es ja nicht strittig ist, daß das 1935 erlassene Konkordats-Durchführungsgesetz im angezogenen § 7 a die Anwendung burgenländischen Scheidungsrechts ausschloß; strittig ist vielmehr, ob das Konkordat selbst bereits eine derartige Bestimmung enthielt. 7 § 111 ABGB. Hierbei war es nach staatlicher Auffassung unerheblich, in welcher Form diese Katholikenehe eingegangen worden war, ob als kirchliche Ehe mit bürgerlichen Rechtswirkungen, als Zivilehe (sog. Notzivilehe nach Art II, 1 des G vom 25. 5. 1868, RGBI 47/1868) oder als konfessionell gemischte Ehe vor dem akatholischen Religionsdiener (nach G vom 31. 12. 1868, RGBI 4iI869). Der Grundsatz der Untrennbarkeit dieser Ehen kam auf jeden Fall zur Anwendung. 8 §§ 115, 133 ABGB. g Ungarischer Gesetzesartikel XXXI aus 1894, §§ 75 - 103.

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konnte überhaupt von der staatlichen Gesetzgebung her dem Bande nach geschieden werden. Dies bedeutet, daß die Frage nach einer dem Konkordat eventuell innewohnenden derogatorischen Wirkung bezüglich staatlichen Scheidungsrechts nur dort akut werden konnte, wo es sich um eine dem burgenländischen Eherecht unterliegende Katholikenehe mit bürgerlichen Rechtswirkungen handelte. Gegen die vorhin vorgetragene herrschende Lehre wurde schon zur Zeit der Geltung des Konkordats eingewendet, daß weder Art. VII des Konkordats noch die Bestimmungen des Konkordats-Durchführungsgesetzes etwas über die Unzulässigkeit der staatlichen Ehescheidung bezüglich der kirchlichen Ehen mit bürgerlichen Rechtswirkungen enthielten. Österreich habe sich im Konkordat zwar verpflichtet, den gemäß den Bestimmungen des kanonischen Rechts geschlossenen Ehen die bürgerlichen Rechtswirkungen zuzuerkennen, nicht aber auch dazu, den Fortbestand dieser Ehen nach kanonischem Recht zu beurteilen. Die kirchliche Ehe habe vielmehr genau wie jede andere Bestand nach Maßgabe der einschlägigen staatlichen Gesetze. Des näheren müsse zwischen der Ehescheidung und der sog. Aberkennung der bürgerlichen Rechtswirkungen im Sinne des Konkordats-Durchführungsgesetzes strenge unterschieden werden. Letztere bedeute vom staatlichen Gesichtspunkte aus, daß eine Ehe von Anfang an mit einem ihrer Gültigkeit entgegenstehenden Mangel zustande kam, die bürgerlichen Rechtswirkungen seien ihr daher zu Unrecht zugekommen und somit sei die Aberkennung für den staatlichen Bereich nichts anderes als die Erklärung der Ungültigkeit. Die Scheidung hingegen berühre die Dauer einer Ehe und lasse die Frage ihrer Rechtsgültigkeit völlig außer Betracht. Nun sei aber der österreichische Staat nur in bezug auf die Aberkennung der bürgerlichen Rechtswirkungen durch die Konkordatsgesetzgebung an vertraglich umschriebene Grenzen gebunden, d. h. er könne keiner Ehe die bürgerlichen Rechtswirkungen aberkennen, sofern nicht die im Konkordats-Durchführungsgesetz diesbezüglich aufgestellten Tatbestände verwirklicht seien. Hingegen habe er in bezug auf die Dauer des Rechtsverhältnisses der einmal gültig eingegangenen Ehe freie Hand. Dies gelte um so mehr, wenn man sich darauf berufe, daß die Aufhebung eines Rechtsverhältnisses nicht zu den Folgen gezählt werden, die sich an die Eingehung desselben knüpfen, daß mit anderen Worten die Regelung der Dauer des Rechtsverhältnisses Ehe mit den Rechtswirkungen der Eheschließung nichts zu tun habe. Es könne nicht als Argument gegen diese Ansicht ins Treffen geführt werden, daß der Staat durch die Scheidung der kirchlichen Ehen dieser die bürgerlichen Rechtswirkungen wieder nehme, obwohl er sich durch das Konkordat verpflichtet habe, sie ihr zu verleihen und zu belassen, da nirgends die Verpflichtung des Staates ausgesprochen sei, die beim Eheab10 Zur Burgenländischen Landesbürgerschaft vgl. F. Schwind, Kommentar zum österreichischen Eherecht, Wien 1951, 12.

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schluß entstandenen Rechtswirkungen bis zum Tode eines Ehegatten bestehen zu lassen11. Dieser Meinung schloß sich der OGH in einem Erkenntnis vom 12. 3. 1935 an12 • Darin wurde eine dem burgenländischen Eherecht unterliegende kirchliche Ehe mit bürgerlichen Rechtswirkungen dem Bande nach geschieden. In der Urteilsbegründung wurde ausgeführt, daß Österreich durch das Konkordat verpflichtet sei, den vor einem Priester der katholischen Kirche gemäß dem kanonischen Recht geschlossenen Ehen die bürgerlichen Rechtswirkungen zuzuerkennen, d. h. jene Rechtswirkungen, die nach staatlichem Recht mit dem Abschluß einer Ehe verbunden seien. Gemäß dem im gegenständlichen Falle in Frage kommenden burgenländischen Eherecht bestünden diese Wirkungen insbesondere darin, daß diese Ehen dem burgenländischen Recht unterworfen seien, es wäre denn, daß das Konkordat oder Konkordats-Durchführungsgesetz eine Änderung bzw. Aufhebung des Ungarischen Gesetzesartikels XXXI vom Jahre 1894 angeordnet hätte. Dies sei jedoch nicht geschehen, sondern im Konkordats-Durchführungsgesetz werde in § 6,3 sogar auf die Geltung des Ungarischen Gesetzesartikels ausdrücklich verwiesen. Es könne sich daher nur darum handeln, ob und inwieweit einzelne Bestimmungen des Ungarischen Gesetzesartikels durch positive Bestimmungen des Konkordats bzw. Konkordats-Durchführungsgesetzes abgeändert oder durch die Generalklausel des Art. XXII,3 des Konkordats aufgehoben wurden. Solche Bestimmungen seien zwar hinsichtlich der Form der Eheschließung ergangen, nichts sei jedoch enthalten über die Unzulässigkeit der Lösung burgenländischer kirchlich geschlossener Ehen. Dies werde vielmehr überhaupt nicht erwähnt. - Die Urteilsbegründung schließt mit der Feststellung, daß, falls wirklich durch das Konkordat eine derart weitreichende Wirkung auf die dem burgenländischen Eherecht unterliegenden Ehen beabsichtigt gewesen wäre, d. h., wenn also die staatlichen Scheidungsbestimmungen auf die kirchlichen Ehen mit bürgerlichen Rechtswirkungen nicht mehr anwendbar sein sollten, der Gesetzgeber dies in unzweideutiger Weise zum Ausdruck gebracht hätte. Nachdem dies aber nicht geschehen sei, könnten die im burgenländischen Eherecht verankerten Scheidungsbestimmungen weiterhin angewendet werden. Der Gesetzgeber hat schließlich im Jahre 1935 hinsichtlich der Frage der Anwendbarkeit burgenländischer Eheschließungsbestimmungen auf Konkordatsehen eine Entscheidung getroffen, die zwar für damals eine Lösung des anstehenden Fragenkomplexes bedeutete, jedoch in bezug auf das uns heute interessierende Problem ergebnislos bleibt. Mit den durch 11 K. Satter, Die Trennbarkeit kirchlicher Ehen, AnwZ 12/1935, 318. Vgl. dazu neuestens P. Blecha, EI divorcio en el Concordato de Austria de 1933 (Maschinenschr. Diss.), Pamplona 1973, bes. S. 140 ff. n 2 Ob 99/35 j Rsp 1935, 64 ff.

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BG vom 17.4. 1935 (BGBl134/1935) - offensichtlich als Reaktion auf die zitierte Entscheidung des OGH - dem Konkordats-Durchführungsgesetz beigefügten Bestimmungen der §§ 7 a und 7 b wurde festgelegt, daß eine Lösung der Ehe durch die staatlichen Gerichte gemäß den §§ 75 bis 103 des Ungarischen Gesetzesartikels XXXI vom Jahre 1894 oder die Änderung des von Tisch und Bett trennenden Urteils in ein Scheidungsurteil gemäß § 107 des bezogenen Gesetzesartikels nicht stattfinden könne. Wenn auch der OGH in einer späteren Entscheidung vom 19.5.1935 13 die Ansicht vertrat, die §§ 7 a und 7 b des Konkordats-Durchführungsgesetzes seien eine authentische Interpretation des Konkordats und es ergebe sich die darin enthaltene Ausschließung des Scheidungsrechts schon unmittelbar aus dem Konkordat selbst, so ist diese Ansicht des OGH doch keineswegs zwingend. Man könnte ebensogut die Auffassung vertreten, das Konkordat (und nur auf dieses und nicht auf das Konkordats-Durchführungsgesetz kommt es hier an) enthalte eben keine Bestimmungen über das Scheidungsrecht und daher habe es der Gesetzgeber für notwendig gehalten, die Nichtanwendbarkeit bestehenden staatlichen Scheidungsrechts eigens zu verfügen. Zu dieser Lösung wird man schließlich noch durch andere überlegungen gedrängt. Zunächst fällt zweifellos auf, daß im Konkordat selbst keine Silbe darüber enthalten ist, daß die staatlichen (burgenländischen) Scheidungsbestimmungen auf die kirchlichen Ehen mit bürgerlichen Rechtswirkungen nicht angewendet werden dürften. Wenn behauptet wird, des Einbaues einer solchen Klausel hätte es nicht bedurft, da bereits durch die Art. I und XXII des Konkordats das kirchliche Eherecht seinem vollen Umfange nach anerkannt sei1 4 , so ist dem entgegenzuhalten, daß derart weitreichende Wirkungen aus den ganz allgemein gehaltenen Formulierungen der angezogenen Gesetzesstelle schwerlich ableitbar sind. Wenn nämlich wirklich durch Art. XXII, 1 des Konkordats das kanonische Eherecht seinem vollen Umfang nach übernommen worden wäre, so müßte dies ja auch in bezug auf die Eheschließungsform gelten. Nach can. 1094 des eIe kann sich ein Katholik - abgesehen von den unter cann. 1098 und 1099 behandelten Ausnahmen - nur unter Beobachtung einer bestimmten Eheschließungsform verehelichen. Es ist aber völlig unbestritten, daß das Konkordat in diesem Punkt das kanonische Eherecht nicht seinem vollen Umfang nach übernommen hatte. Denn auch nach Konkordatsabschluß konnten zwei Katholiken eine staatlich gültige Ehe unter Außerachtlassung der Formvorschrift des can. 1094 des kirchlichen Gesetzbuches eingehen: Im Burgenland wurde durch das Konkordat das System der Wahlzivilehe eingeführt und im übrigen österreichischen Bundesgebiet blieb nach Konkordatsabschluß das Gesetz vom 13 14

2 Ob 236/35 JB164/1935, 499. Lenhoff, RSp, 1935, 64 ff.

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25.5.1868 (RGBI 47/1868) bestehen, demzufolge es den Katholiken möglich war, eine Zivilehe in Form der sog. Notzivilehe einzugehen l5 • Wenn also wirklich der allgemein gehaltenen Klausel des Art. XXII,1 bzw. des Art. I des Konkordats eine so umfangreiche Wirkung auf die Ehegerichtsbarkeit zugeschrieben wird, warum sollte dies dann nicht auch und erst recht hinsichtlich der Eheschließungsform der Fall sein? Auch ein rechtsvergleichender Blick in andere Konkordate beweist, daß solchen Klauseln, wie sie im Art. XXII,1 des österreichischen Konkordats enthalten sind, durchaus nicht die ihnen hier zugeschriebene Wirkung beizumessen ist. So enthalten beispielsweise die Konkordate mit Jugoslawien vom 25. 7. 1935 16 bzw. mit der Dominikanischen Republik vom 16. 6. 195417 in Art. XXXVII,1 bzw. XXVII,1 eine dem Art. XXII,1 des österreichischen Konkordats ähnliche Bestimmungl8 • Trotzdem ist aber in beiden Konkordaten in den das Eherecht betreffenden Artikeln (Art. XXXII,3 des Konkordats mit Jugoslawien; Art. XV,2 des Konkordats mit der Dominikanischen Republik) noch eine klare und eindeutige Bestimmung enthalten, wodurch die Anwendung der jeweiligen staatlichen Scheidungsbestimmungen auf die Ehen der Katholiken ausgeschlossen wird. Daraus folgt aber, daß die vertragsschließenden Parteien offensichtlich den Generalklauseln des Art. XXXVII,1 bzw. XXVII,1 nicht jene Wirkung beimaßen, die angeblich in der gleichlautenden Bestimmung des Art. XXII,1 des österreichischen Konkordats enthalten sein soll. Denn wenn sich schon aus den erwähnten Generalklauseln eine die staatlichen Ehescheidungsbestimmungen hinsichtlich der Katholikenehen ausschließende Wirkung ergeben hätte, wozu hätte es dann noch einer gesonderten Bestimmung über die Nichtanwendbarkeit des staatlichen Ehescheidungsrechts auf diese Ehen bedurft? Es kann also festgehalten werden, daß das derzeitige staatliche Ehescheidungsrecht nicht gegen die im österreichischen Konkordat getroffene Vereinbarung verstößt. Was nun die des weiteren in Art. VII des Konkordats vereinbarte Anerkennung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit für den staatlichen Bereich Vgl. Primetshofer, 53 fi. A. Mercati, Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede eIe autorita civili, II, Rom 1954, 214. 17 Mercati, II, 301 f. 18 Art XXII, 1 des Österreichischen Konkordats ist z. B. mit Art XXXVII, 1 des Konkordats mit Jugoslawien völlig identisch ("Toutes les autres matieres relatives ades personnes et des choses ecclesiastiques comme teIles, non traitees dans les articles precedents, seront reglees suivant le Droit canon en vigeur"}. - In diesem Zusammenhang muß bemerkt werden, daß es unverständlich scheint, wenn den Bestimmungen des Art XXII, 1 des österreichischen Konkordats unmittelbar derogatorische Wirkungen in bezug auf bestehendes staatliches Recht beigemessen wird. Denn die Formulierung des angezogenen Art. weist darauf hin, daß er nicht self-executing sein kann. 15

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betrifft, so ist dies heute insofern fast gegenstandslos, da in aller Regel kirchliche Ehen erst dann vor dem kirchlichen Gericht auf ihre Ungültigkeit eingeklagt werden, wenn sie bereits staatlich geschieden sind. Einer "Vollstreckbarkeitserklärung" eines kirchlichen Eheungültigkeitsurteils für den staatlichen Bereich im Sinne von Art. VII § 4 des Konkordats fehlen daher heute fast immer die Voraussetzungen. Mit der Anerkennung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit hatte der staatliche Gesetzgeber übrigens damals - angesichts des durch die sog. Dispens- bzw. Severehen entstandenen Wirrwarrs - auf dem Gebiet des Eherechts gerade eine Beseitigung dieses sowohl juristischen wie gesellschaftlichen Dilemmas vor Augen 19 • Dieses damals für den Gesetzgeber bestimmende Motiv ist aber heute vollständig weggefallen. Es bleibt somit überhaupt nur ein Punkt in der umfassenden konkordatären Regelung des Art. VII, wo heute noch ein echtes Anliegen der Kirche an den staatlichen Gesetzgeber besteht: das Gebiet des Eheschließungsrechts. Der Widerspruch zum Konkordat besteht in dem im österreichischen Recht verankerten Grundsatz der obligatorischen Zivilehe. Mit der Einführung der fakultativen Zivilehe (Wahlzivilehe) wäre Art. VII des Konkordats Genüge getan. Denn das Konkordat fordert nicht mehr, als daß den gemäß dem kanonischen Recht geschlossenen Ehen bürgerliche Rechtswirkungen zukommen; es schließt keineswegs aus, daß es daneben auch für den Katholiken wie für jeden anderen Staatsbürger auch eine ausschließlich staatlich gültige Ehe geben kann. Das System der Wahlzivilehe hatte zur Zeit der Geltung des Konkordats im Burgenland bestanden 20 , es könnte wohl ohne große Schwierigkeiten im gesamten Bundesgebiet eingeführt werden. 11. Vermögensrecht

Ein weiterer Bereich, wo nicht unerhebliche Gegensätze zwischen Bestimmungen des kanonischen und denen des österreichischen (bürgerlichen) Rechts bestehen, bildet das Vermögensrecht, insbesondere das Erbrecht. Hier sind wiederum zwei Teilaspekte zu unterscheiden: Die Erb- und Testierfähigkeit des Professen mit feierlichen Gelübden sowie die Intestaterbfolge nach Weltgeistlichen. Das kanonische Recht sieht hinsichtlich des Professen mit feierlichen Gelübden folgende Regelung vor: Er verliert mit der Ablegung der feierlichen Profeß seine Vermögensfähigkeit; was ihm auf welche Weise immer zukommt, fällt in das Eigentum seines Verbandes (can. 582 eIC). Es gilt der Grundsatz: "Quidquid acquirit monachus acquirit monasterio". 19 Zur Frage der Dispens-Ehen vgl. A. Dienstleder, Das neue großdeutsche Eherecht samt Durchführungsverordnung und Personenstandsgesetz für das Land Österreich, Wien 1939, 112. F. Schwind, Eherecht, 271, Primetshofer, 18 ff.

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Primetshofer, 54.

12 Kirche und Staat

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Demgegenüber legt das ABGB zwar die Erbunfähigkeit des Professen mit feierlichen Gelübden fest 21 , ebenso wie auch seine Testierunfähigkeit22, doch deckt sich diese Lösung nur teilweise mit dem kanonischen Recht. Denn nach dem ABGB erbt im Falle der Erbeinsetzung eines Professen mit feierlichen Gelübden weder er persönlich noch sein Ordensverband 23 • Diese Bestimmungen des ABGB stellen sich zweifellos noch als Relikt aus der Zeit der Amortisationsgesetzgebung 24 dar. Der Gesetzgeber hatte zunächst im Auge, die Erwerbsfähigkeit der Toten Hand 25 einzuschränken, und dies geschah zunächst durch eine Reihe von Einzelgesetzen. Offensichtlich um eine Umgehung dieser auch für Klöster geltenden Bestimmungen zu verhindern, hielt es der Gesetzgeber des ABGB auch für notwendig, die Erbfähigkeit des Einzelprofessen eigens auszuschließen, wobei er den Vermögenserwerb durch Erbschaft als den wohl hauptsächlich auftretenden Fall ins Auge gefaßt hatte. Mit dem Wegfall der Amortisationsgesetze durch Art. XXIX und XXXV des Konkordats aus 1855 bzw. durch § 5 der Verordnung aus 1858 (RGBl 95/1858) haben auch die im ABGB bzw. in einer Reihe von Hofdekreten enthaltenen Maßnahmen ZUr Sicherung der seinerzeit bestehenden Amortisationsgesetze ihren Sinn verloren. Denn wenn auch Art. 6 des StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (RGBl 142/1867) einen eingeschränkten Gesetzesvorbehalt für den einfachen Gesetzgeber hinsichtlich der Schaffung von Amortisationsgesetzen enthält, so hat der (einfache) Gesetzgeber von dieser Möglichkeit derzeit keinen Gebrauch gemacht, was ja unbestritten darin zum Ausdruck kommt, daß Klöster sowie andere juristische Personen kirchlichen oder staatlichen Rechts unbeschränkt erbfähig sind. Es ergibt sich somit der paradoxe Fall, daß die bestehenden Einschränkungen der Erbfähigkeit des Professen mit feierlichen Gelübden, die seinerzeit zur Sicherung des Gesamtanliegens des Gesetzgebers (nämlich der Amortisationsgesetzgebung) erlassen wurden, heute noch weiterbestehen, obwohl das, was sie einst sichern sollten, weggefallen ist. Der in Rede stehende Ausschluß der Erbfähigkeit des Professen mit feierlichen Gelübden stellt sich heute freilich als dilettantischer Versuch dar, auf einem Umweg eine Erbunfähigkeit 21 § 356 ABGB unter Bezugnahme auf HkD 28.2.1772, 21. 5.1774,24.5.1774 bei P. Jaksch, Gesetzeslexikon !I, 202. Vgl. dazu H. Kapfer, ABGB28, Wien 1967, Anm!I zu §§ 356 und 539 ABGB. 22 § 573 ABGB. 23 E. Weiß, in Klang 2 I!I, 83. HD 23. 3. 1809, JGS 887. 24 H. Pree, Die Hintergründe der vermögens rechtlichen Sonderbehandlung von Klerikern und Ordensleuten im österreichischen bürgerlichen Recht, ÖAKR 26/1975, 290 - 323.

%5 Unter der Toten Hand versteht man Körperschaften und Anstalten, insbesondere solche kirchlichen Charakters, als Besitzer unbeweglicher Güter. Vgl. H. Klecatsky - H. Weiler, österreichisches Staatskirchenrecht, Wien

1958,13.

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für Klöster zu konstruieren, die als solche überhaupt nicht mehr gegeben ist. Auch in diesem Bereich wurden in der Vergangenheit wiederholt Schritte unternommen, um diese in mehrfacher Hinsicht unbefriedigende Rechtslage zu bereinigen. Insbesondere hat die Superiorenkonferenz der männlichen Ordensgemeinschaften Österreichs in mehreren Eingaben an die zuständigen staatlichen Stellen auf die Dringlichkeit dieses Anliegens hingewiesen. Da indes die entsprechenden Schritte des österreichischen Gesetzgebers trotz mehrfacher Urgenzen nicht erfolgt sind, hat die kirchliche Verwaltung schließlich eine Möglichkeit ausfindig gemacht, die Mißlichkeiten der derzeitigen Lage zu umgehen. Bereits während des zweiten Weltkrieges wurde den (damals) deutschen Zisterzienserklöstern ein Reskript der Religiosenkongregation erteilt, demzufolge die Oberen der männlichen und weiblichen Zisterzienserklöster ihre Untergebenen von der Feierlichkeit des Armutsgelübdes dispensieren konnten, so daß diese vor den staatlichen Behörden sich als Eigentümer der von ihnen verwendeten Güter deklarieren konnten 26 • Dieses Reskript vom 9.11. 1940 wurde formell bis zum heutigen Tag nicht zurückgenommen. - Am 8.7.1974 hat nun die Kongregation für die Religiosen und Säkularinstitute eine ähnliche Vollmacht für sämtliche Obere österreichischer Orden gegeben. Diese können nun ihre Untergebenen von den Bestimmungen der cann. 579 und 581 des eIe dispensieren, so daß die Professen mit feierlichen Gelübden dann in bezug auf das Armutsgelübde den Professen mit einfachen Gelübden angeglichen sind27 • Da nach staatlichem Recht die Beschränkungen der Erb- und Testierfähigkeit nur für den Professen mit feierlichen Gelübden bestehen, hebt die nach kirchlichem Recht vorgenommene Dispens von der Feierlichkeit des Gelübdes die Voraussetzungen auf, an die das staatliche Recht anknüpft. Dies bedeutet im Ergebnis, daß in Zukunft nach dem bürgerlichen Recht der Professe mit feierlichen Gelübden genauso erb- und testierfähig ist, wie dies derzeit der Professe mit einfachen Gelübden ist 28 • Man mag diese Regelung derzeit als gangbaren Ausweg betrachten; sie läßt indes die prinzipielle Ungelöstheit des Problems nur um so deutlicher zutage treten. Einen Ausweg könnte man sich, zum al im Hinblick auf die im Konkordat (Art. XXII,1) eingegangene Verpflichtung, alle nicht im Konkordat enthaltenen, auf kirchliche Personen oder Dinge bezugnehmenden Materien dem geltenden kanonischen Recht gemäß zu Den Wortlaut des Reskripts vom 9.11.1940 siehe ÖAKR 25/1974, 278. Reskript der Kongregation für die Religiosen und Säkularinstitute vom 8. 7. 1974, ÖAKR 25/1974, 279. - Die Professen mit einfachen Gelübden sind unbestrittenermaßen nach staatlichem Recht erb- und testierfähig. Vgl. E. Melichar, Ordens eintritt und vermögensrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit nach kanonischem und österreichischem Recht, NZ 87/1955,41. 28 Vgl. dazu Primetshojer, Feierliches Armutsgelübde und staatliche Erbfähigkeit, ÖAKR 25/1974, 274 ff. 26 27

12·

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regeln, in der Richtung denken, daß die staatliche Gesetzgebung in diesem Bereich den Grundsatz des kanonischen Rechts "Quidquid acquirit monachus, acquirit monasterio" übernimmt. Freilich könnte sich eine derartige übernahme kirchlicher Bestimmungen nicht allein auf das Erbrecht beschränken, sondern es müßten dann wohl noch eine Reihe anderer Fragen, insbesondere auch des Steuerrechts, einer Revision unterzogen werden. Denn der Religiose mit feierlichen oder einfachen Gelübden wird, wenn er etwa in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis tritt, in steuerrechtlicher Hinsicht so behandelt, als ob er überhaupt keine Profeß abgelegt hätte. Einer Angleichung des staatlichen Rechts an das kanonische dürften sich indes erhebliche Schwierigkeiten in den Weg stellen. Vor allem wären dann bei Erbschaftsangelegenheiten die staatlichen Organe zu einer gen auen Kenntnis einzelner Details des Ordensrechts verpflichtet, da sie ja darüber zu entscheiden hätten, ob einfache oder feierliche Profeß vorliegt. Und je nach Verschiedenheit der Rechtslage hätten sie die entsprechenden Schritte vorzunehmen. Da sich nunmehr die durch das genannte Reskript der Kongregation für die Religiosen und Säkularinstitute vom 8. 7. 1974 geschaffene Rechtslage in der Weise auswirkt, daß damit die Anwendbarkeit der die Erb- und Testierfähigkeit einschränkenden Bestimmungen des bürgerlichen Rechts nicht mehr gegeben ist, und somit von seiten des staatlichen Rechts de facto keine Beschränkungen der Erb- und Testierfähigkeit für Ordenspersonen bestehen, wäre wohl grundsätzlich auch zu überlegen, ob nicht die entsprechenden Bestimmungen des ABGB ersatzlos gestrichen werden könnten. Damit würde sich im Ergebnis gen au das herausstellen, was nach dem genannten Reskript nunmehr der Fall ist: Für das staatliche Recht existieren nur mehr Professen mit einfachem Armutsgelübde, die allesamt erb- und testierfähig sind 2sa. Der zweite Teilbereich vermögens rechtlicher Fragen betrifft das Intestaterbrecht der Weltpriester. § 761 ABGB verweist hinsichtlich der Verlassenschaft geistlicher Personen auf die "politischen Gesetze", d. h. auf einige Hofdekrete aus dem 19. Jahrhundert, die heute noch in Geltung stehen und folgende Regelung enthalten: .. Für katholische Weltpriester und alle in der Seelsorge angestellte Ordenspriester tritt die Verteilung ihrer Verlassenschaft in drei gleiche Teile ein, jedoch mit dem Unterschiede, daß von der Intestat-Verlassenschaft derjenigen, welche auf einem Benefizium ... bleibend angestellt sind ... ein Drittel der Kirche, ein Drittel den Armen und ein Drittel den Verwandten zuzufallen habe. Von den Intestat-Verlassenschaften derjenigen aber, welche bei !Ba Vgl.dazu die Kundmachung des BM für Justiz vom 8. 1. 1976 über die Auswirkungen des feierlichen Armutsgelübdes von Angehörigen der Ordensgemeinschaften österreichs, BGBl. Nr. 50/1976.

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keiner Kirche jemals bleibend angestellt waren ... ist nur ein Drittel den Armen und zwei Drittel den Verwandten zuzuwenden 29 ." Auch diese Regelung, deren nähere Details hier nicht zu untersuchen sind 30, stellt noch ein Relikt aus jener Zeit dar, als es das (josephinische) Staatskirchenrecht für notwendig hielt, in kleinste Details kirchlicher Ordnung einzugreifen. Daß hierbei der mit dem Religionsfonds und der weitgehend durch staatliche Gesetze geregelten Dotierung der Geistlichen in Zusammenhang stehende Fragenkomplex einen gewissen Anhaltspunkt für diese Regelung bot, sei nicht in Abrede gestellt. Seit den zitierten Hofdekreten hat sich aber die Rechtslage in mehrfacher Hinsicht gründlich gewandelt. Einerseits ist die gesamte, den ehemaligen Religionsfonds betreffende Frage im Vermögensvertrag31 bereinigt worden, und die Frage der Besoldung von in kirchlichen Diensten stehenden Geistlichen ist Gegenstand intern-kirchlicher Regelungen. Ferner ist durch § 5 des Kirchenbeitragsgesetzes vom 1. 5. 1939 (GBIO 543/1939) u. a. die Verpflichtung des Staates und der Gemeinden erloschen, zur Bedeckung des kirchlichen Sach- und Personalaufwandes Beiträge zu leisten. Somit ergibt sich überhaupt keine Notwendigkeit mehr, daß staatliches Recht in der Frage der Intestaterbfolge der "auf einem Benefizium bleibend angestellten" Weltpriester32 regelnd eingreift. Es ist nicht einzusehen, warum der Weltpriester, dessen Testierfähigkeit außer Frage steht, auf einmal im Zusammenhang mit der Intestaterbfolge einschränkenden Bestimmungen unterworfen sein sollte. Auch von kirchenrechtlichen Erwägungen her liegt es nahe, die genannten Bestimmungen des staatlichen Rechts ersatzlos zu streichen. Denn das Benefizium als dem geistlichen Amt beigegebene Sustentationsgrundlage33 tritt heute in seiner Bedeutung allenthalben zurück. Die Schwierigkeiten der Betreuung der vorwiegend in Grund und Boden bestehenden Benefizialgüter hat vielfach zum Abverkauf von Grundbesitz geführt. Weitestgehend ist an Stelle der Versorgung des Geistlichen durch die vielfach ungenügenden Benefizialeinkünfte die Besoldung durch die bischöflichen Finanzkammern getreten. Somit erweist sich auch von diesem Gesichtspunkt aus die in den genannten Hofdekreten anzutreffende Regelung als obsolet. HD aus 1807, JGS 828. Vgl. dazu Weiß. in Klang!, III, 822 f. 31 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen vom 23. 6. 1960. BGBl 195/ 1960 bzw. 107/1970. 32 HD aus 1807, JGS 828. 33 Vgl. W. M. Plöchl, Benefizium, kirchliches LThK!, 1958; G. Stocchiero. Il beneficio ecclesiastico2 , Vincenza 1946; V. de Reina, Propiedad eclesiastica, bienes dotales y reditos beneficiales, Ius Can. II11962, 499 ff. 20

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Die rechte Ordnung zwischen Kirche und Staat fordert in jeder Epoche den Gesetzgeber heraus, die bestehende Rechtsordnung auf ihre Angemessenheit zu überprüfen. Das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils basiert auf der Selbständigkeit beider Gewalten, der Kirche und des Staates34 • Dies bedeutet u. a. auch, daß historisch entstandene und einmal hinreichend begründete Verflechtungen dahingehend zu überprüfen sind, ob sie heute noch glaubwürdig und eine tragfähige Basis für ein friedliches Nebeneinander und Miteinander sind. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, sollten kirchlicher und staatlicher Gesetzgeber nicht zögern, in gegenseitigem Einvernehmen eine angemessene Lösung zu finden.

34 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, 76; dazu O. v. Nell-Breuning, Kommentar, LThK, Das Zweite Vat. Konz., UI, 528 ff.

STAAT UND KIRCHE IN ÖSTERREICH AUS EVANGELISCHER SICHT Von Ernst C. Hellbling

I. Geschichtlicher überblickl 1. Reformation und Gegenreformation Bald nach Luthers2 Auftreten begann sich dessen Lehre in den österreichischen Ländern auszubreiten. Ferdinand J.3 verfügte, die Ketzer zum Tode zu verurteilen oder des Landes zu verweisen. Indessen wurde von diesen Maßnahmen fast nur gegen die Täufer (Wiedertäufer)4 Gebrauch gemacht, da die Lutheraner zumeist von den Adeligen und auch von den Beamten geschützt wurden. Der Augsburger Religionsfriede (1555) gestand den Landes- und den Grundherren das Recht zur Bestimmung der Religion ihrer Untertanen zu5 , und der Adel, der in bedeutendem Maße die neue Lehre angenommen hatte, begann deren Grundsätze zu verbreiten und evangelische Prediger in das Land zu berufen. Nach dem Augsburger Religionsfrieden hatten jene Untertanen, die sich der Religionsbestimmung des Landes- oder des Grundherrn nicht fügen wollten, nur das Recht der Auswanderung. Der den Anhängern Luthers nicht unfreundlich gesinnte Maximilian 11. 6 erteilte ihnen 1568 die Religionskonzession, derzufolge den Herren und Rittern des Erzherzogtums Österreich das Recht eingeräumt wurde, ihre Augsburger Konfession in ihren Schlössern, Häusern und Gebieten sowie Patronats kirchen frei zu üben. Die Assekuration (1571) dehnte diese Befugnis für Österreich unter der 1 Hiezu Otto Fischer, Das Protestantengesetz 1961 mit erläuternden Bemerkungen. Kirche und Recht Band 3. Beihefte zum österr. Archiv für Kirchenrecht. Hrsg. von Franz Arnold und Willibald M. Plöchl (Wien 1962), S. 1 bis 4; Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungs geschichte 2 (Wien - New York 1974), S. 259 bis 261, 304 bis 305, 341, 372. 2 Martin Luther, 1483 bis 1546. 3 Regierungszeit in Österreich 1522 bis 1564. 4 Von ihrem Standpunkt aus sahen sie sich als die Täufer an, weil sie die erste Taufe mit Rücksicht darauf, daß sie an den Kindern vorgenommen wurde, die dabei kein Mitspracherecht hatten, als ungültig betrachteten (hiezu Grete Mecensejjy, Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte. XXXI. Quellen zur Geschichte der Täufer. XI, Österreich I, 1964). ~ Offenbar Auswirkung der noch immer maßgebenden patrimonialen Staatsauffassung. e Regierungszeit 1564 bis 1576.

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Enns auf das Gesinde, auf den adeligen Herrschaften und in den dem adeligen Patronat unterstehenden Kirchen auch auf die Untertanen der Adeligen, aus. Den landesfürstlichen Städten und Herrschaften aber wurde dieses Recht vorenthalten. 1575 erhielten die evangelischen Ständemitglieder Böhmens von Maximilian II. die lediglich mündliche Zusage, er werde ihnen in ihrem Glauben und ihrer Religion nicht Abbruch tun und auch anderen solches nicht gestatten. 1572 gab Erzherzog Karl von Innerösterreich7 in der Grazer Religionspazifikation den Herren und Rittern samt ihren Angehörigen und Untertanen volle Glaubens- und Kultusfreiheit, nahm indessen mit stärkerem Nachdruck als Maximilian II. die landes fürstlichen Städte und Märkte, die sich nach der Religion ihrer Herren zu richten hätten, von der Vergünstigung aus. Auf dem Generallandtag der innerösterreichischen Länder (1578) wurde die Religionspazifikation bestätigt und auf einen Teil der Städte erweitert. Die Pazifikation, die Verhandlungs schriften von 1572 und 1578, die Kirchenordnung und das Aktenstück über den Vergleichsabschluß der drei Landschaften Steiermark, Kärnten und Krain bildeten zusammen die Große steirische Religionspazifikation (Brucker Libell), die wichtigste Urkunde für den innerösterreichischen Protestantismus. Unter Maximilian II. verfaßte David Chyträus (= Krüger) aus Rostock für die drei Länder und die gefürstete Grafschaft Görz die evangelische Kirchenordnung (Agende). Matthias (1.)8 machte in der Resolutionskapitulation (1609) das Zugeständnis, die Bürger der landesfürstlichen Städte und Märkte in Religionsfragen zufrieden- und klagloszustellen. Rudolf II.D stellte 1609 für Böhmen den Majestätsbrief aus, der allen Einwohnern dieses Landes die Gewissensfreiheit einräumte, und mußte den Ständen (Herren, Rittern und königlichen Städten) die freie Religionsausübung und das Recht der Erbauung von Kirchen und Schulen auf ihren Besitzungen zugestehen, nachdem er etliche Zeit zuvor eine Reformationskommission eingesetzt hatte. Alle diese Freiheiten fielen der im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts einsetzenden Gegenreformation zum Opfer, die nur mit Ausnahme von einzelnen Teilen Schlesiens 10 und von Ungarn ll , wo die neue Lehre Regierungszeit 1564 bis 1590. Da es im Hause Habsburg nur einem einzigen Herrscher dieses Namens gab, kann man auf die Zählung auch verzichten. Regierungszeit 1612 bis 1619. e Regierungszeit 1576 bis 1612. Matthias war eine Zeitlang Mitregent Rudolfs H. 10 Eine weitgehende religiöse Toleranz in Schlesien bedeutet die 1707 zwischen Kaiser Josef I. und König Karl XII. von Schweden geschlossene Kon7

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vention von AItranstädt.

11 Grund für den mäßigen Erfolg der Reformation in Ungarn war offenbar der Umstand, daß die Habsburger erst Ende des 17. Jahrhunderts in diesem Territorium zur Gänze Fuß fassen konnten (hiezu HeHbting, a.a.O., S. 214 bis 220).

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in Ungarn auch in der Form des Kalvinismus 12 - schon sehr festen Boden gewonnen hatte, von vollem Erfolg begleitet war. In den folgenden zwei Jahrhunderten konnte sich der Protestantismus nur im Untergrund, insbesondere in Österreich ob der Enns und in Kärnten, vollkommen unorganisiert und bloß mündlich fortgepflanzt, halten13 •

2. Vom Toleranzpatent bis zum Protestantenpatent Erst das Toleranzpatent Josefs II.1 4 von 1781 erlaubte den Protestanten beider Bekenntnisse und den nichtunierten Griechen unter der Voraussetzung, daß an einem Orte oder in dessen Umgebung (mindestens) hundert diesem Glauben zugetane Familien wohnten, die Errichtung von Bethäusern und Schulen, allerdings ohne Türme, Geläute und öffentlichen Eingang von der Straße, sowie die Bestellung von Geistlichen und Schullehrern auf ihre eigenen Kosten. Weiter wurden die Anhänger des Protestantismus durch Dispens seitens der Kreisämter zu akademischen Würden und Zivildiensten, zum Bürger- und Meisterrecht sowie zum Ankauf von Häusern und Gütern zugelassen. Bei gemischten Ehen wurden die von Maria Theresia - immerhin gab es damals insgeheim, in Schlesien und Ungarn sogar offen, Protestanten - eingeführten Reverse über die Erziehung der Kinder aus solchen Ehen im katholischen Glauben 15 abgeschafft. Auch wurde die Religionszugehörigkeit solcher Kinder geregelt. Der übertritt von der katholischen zu einer anderen christlichen Religion wurde nur als Einzelübertritt, jedoch nicht als Gesamtübertritt ganzer Gemeinden, zugelassen. Das als staatliche Kirchenbehörde mit dem Sitz in Teschen eingerichtete Konsistorium der augsburgischen Konfession 16 wurde nach Wien 17 verlegt und zur übergeordneten Behörde über den Superintendenten in den deutschen Erbländern gemacht, in Wien wurde ein Konsistorium der Helvetischen Konfession neu geschaffen. Trotz aller dieser erleichternden Maßnahmen zugunsten des Protestantismus blieb aber die katholische Kirche die in Österreich dominierende Religionsgesellschaft. Unter Franz J.1B wurde bei gemischten Ehen die Ausstellung von Reversen über die Erziehung der aus einer solchen Ehe stammenden Kin12 Benannt nach Jean CaLvin, 1509 bis 1564. Auch der Schweizer Reformator ULrich ZwingH, 1484 bis 1531, hat sich um diese Form des Protestantismus

(helvetische Konfession) sehr verdient gemacht. 13 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 2. 14 Regierungszeit in Österreich 1780 bis 1790. 15 Hiezu HeUbHng, a.a.O., S. 294 bis 295. 18 Teschen wurde deshalb zuerst als Sitz gewählt, weil in Schlesien, wie zuvor erwähnt, angesichts des in diesem Gebiete nicht sehr großen Erfolges der Gegenreformation die Lage des Protestantismus verhältnismäßig günstig war. 17 Im Hinblick auf das Toleranzpatent war die Stellung der Protestanten auch in Wien günstiger geworden, und so konnte das Konsistorium nach Wien, verlegt werden, wo die staatlichen Zentralstellen ihren Soitz hatten. 18 Regierungszeit 1792 bis 1835.

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der wieder gebräuchlich, offenbar deshalb, weil der Staat seit dem Abschluß der Heiligen Allianz die katholische Kirche als einen bedeutenden staatserhaltenden Faktor ansah und sie demnach in jeder Richtung staatlicher Förderung teilhaftig werden ließ. Die Errichtung einer theologischen Lehranstalt mit dem Sitze in Wien für die Protestanten (1819) erfolgte nicht etwa, weil man diese fördern, sondern weil man verhindern wollte, daß das Studium der protestantischen Theologie in Gegenden mit überwiegend protestantischer Bevölkerung, vor allem in zahlreichen Mitgliedsstaaten des Deutschen (Staaten-)Bundes, einen nicht überprüfbaren unerwünschten Einfluß auf künftige protestantische Seelsorger ausübe 19 • Dieser Rechtszustand dauerte bis zur ersten konstitutionellen Verfassung, der Pillersdorfschen Verfassung vom 25. 4. 18482 °, die allen Staatsbürgern die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistete und allen in der Monarchie durch die Gesetze anerkannten christlichen Glaubensbekenntnissen die freie Ausübung des Gottesdienstes sicherstellte. Die Oktroyierte Märzverfassung vom 4. 3. 1849 21 gewährte jeder gesetzlich anerkannten Kirche und Religionsgesellschaft das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, der selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer (inneren) Angelegenheiten sowie den Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds, unterwarf sie jedoch den allgemeinen Staatsgesetzen22 • Die Protestanten hatten von diesen Regelungen, im Grunde genommen, nicht viel, da ihre Kirche gesetzlich nicht förmlich anerkannt war. Das kaiserliche Patent vom 31. 12. 1851 23 bestätigte diese Rechtslage.

3. Das Protestantenpatent Erst das Protestantenpatent vom 8. 4. 1861 24 verlieh den Evangelischen die Gleichberechtigung. Dieses für die Evangelischen in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern geltende Patent erklärte die Evangelischen des augsburgischen und des helvetischen Bekenntnisses 1a Man hielt die Kirche vor allem für einen mächtigen Schutzwall gegen Umsturzversuche, die Franz I. seit der französischen Revolution sehr fürchtete (hiezu HeUbUng, a.a.O., S. 324 bis 326 und 34I). 20 Politische Gesetzessammlung (PGS) 76 Nr. 49. Diese Verfassung wurde unter Kaiser Ferdinand (Regierungszeit 1835 bis 1848) erlassen. 21 Reichsgesetzblatt (RGBl.) Nr. 150 und 151. Unter Nr. 151 wurden die für die Frage der Religion maßgebenden "durch die konstitutionelle Staatsform gewährleisteten politischen Rechte" vedautbart. Diese Verfassungsnormen wurden unter Kaiser Franz Josef I. (Regierungszeit 1848 bis 1916) erl'assen. 22 Damit behielt sich der Staat vor, jeweils die Grenzen der Religionsübung festzulegen. 23 RGBl. Nr. 3/1852. 24 RGBl. Nr. 41. Erlassen unter Kaiser Franz Josef I. Hiezu Hans KlecatskyHans Weiler, österreichisches Staatskirchenrecht (Wien 1958), S. 416 ff.

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für berechtigt, ihre kirchlichen Angelegenheiten selbständig zu ordnen, zu verwalten und zu leiten (§ 1) und sicherte ihnen die volle Freiheit des evangelischen Glaubensbekenntnisses sowie das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung für immerwährende Zeiten ZU25 . Alle früheren Beschränkungen in der Errichtung von Kirchen mit oder ohne Turm und Glocken, der Begehung aller ihrer Glaubenslehre entsprechenden religiösen Feierlichkeiten und der Ausübung der Seelsorge wurden daher außer Kraft gesetzt und für null und nichtig erklärt26 • Evangelische, die keine eigene (Mutter- oder Tochter)gemeinde bildeten, hatten der ihnen am nächsten liegenden Gemeinde ihres Bekenntnisses zuzugehören. Der Bezug und Gebrauch evangelisch-religiöser und theologischer Bücher, insbesondere der Heiligen Schrift oder der Bekenntnisschriften, war unverwehrt (§ 2). Die Vertretung und Verwaltung der evangelischen Kirche A. B. und H. B. hatte sich in die vier Stufen der Pfarrgemeinde (Ortsgemeinde), des Seniorates (Bezirksgemeinde), der Superintendenz (Landesgemeinde) und der Gesamtgemeinde der evangelischen Christen des einen oder des anderen Bekenntnisses zu gliedern (§ 3)27. Organe des Kirchenregiments waren für die Pfarrgemeinde, deren räumlicher Umfang den Pfarrsprengel bildete, das Presbyterium und die größere Gemeindevertretung, für die Bezirksgemeinde, deren räumlicher Umfang den Senioratssprengel bildete, der Senior und die Senioratsvertretung (Bezirksversammlung), für die Superintendenz, deren räumlichen Umfang die einem Superintendenten zugewiesenen Seniorats- und Pfarrsprengel bildeten, der Superintendent und die Vertreter der Superintendenz (Superintendentialversammlung, Superintendentialkonvent) und für die Gesamtheit sämtlicher Superintendenzen der k. k. evangelische Oberkirchenrat (die Konsistorien des augsburgischen und des helvetischen Bekenntnisses) und die Generalsynode (§ 4). Jede kirchliche Gemeinde war berechtigt, ihre besonderen Kirchen-, Unterrichts- und Wohltätigkeits angelegenheiten und die dazu bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds durch ihre gesetzmäßigen Vertreter zu ordnen und zu verwalten, insofern dadurch nicht den allgemeinen Vorschriften oder den gesetzmäßigen Anordnungen der ihr vorgesetzten 25 Die Wendung "für immerwährende Zeiten" hatte nur problematischen Wert, weil ein künftiges Gesetz gegenteiligen Inhaltes dadurch nicht unwirksam gemacht wurde. 26 Auch die Worte "für null und nichtig erklärt" waren rechtlich bedeutungslos, da dadurch gewiß nicht eine in die Vergangenheit reichende Rechtswirkung hervorgerufen werden sollte. 27 Dieser Verwaltungsaufbau hatte offensichtlich den Aufbau der staatlichen Verwaltung zum Vorbild, wie er in dem kaiserlichen Kabinettschreiben vom 31. 12. 1851, RGBl. Nr. 4/1852, über die "Grundsätze für organische Einrichtungen in den Kronländern des österreichischen Kaiserstaates" angeordnet worden war, an denen weder das Oktoberdiplom von 1860, RGBl. Nr. 225 und 226/1960, noch das Februarpatent von 1861, RGBl. Nr. 20/1861, etwas geändert hatten.

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Behörden entgegengehandelt wurde (§ 5). Die Evangelischen beider Bekenntnisse waren zur freien Wahl ihrer Seelsorger, Senioren und Superintendenten und ihrer Kirchenkuratoren jeder Kategorie unter Beachtung der näher festzustellenden Modalitäten berechtigt (§ 6). Der zum Superintendenten Erwählte bedurfte vor der Amtseinführung der landesfürstlichen Bestätigung (§ 7). Die bis dahin bestandenen Konsistorien beider Bekenntnisse in Wien, deren Vorsitz gemäß kaiserlicher Entschließung vom 1. 9. 1859 nur von einem Manne zu führen war, der einem dieser beiden Bekenntnisse angehörte, hatten fortan die Bezeichnung "k. k. evangelischer Oberkirchenrat" zu führen und ihren Amtssitz auch für die Zukunft in Wien zu haben. Der Vorsitzende und die Räte des Oberkirchenrates waren vom Kaiser zu ernennen (§ 8). Die von der Generalsynode beschlossenen Kirchengesetze bedurften zu ihrer Gesetzeskraft der im Wege des zuständigen Ministeriums einzuholenden landesfürstlichen Bestätigung (§ 9). Zum Vollzuge der in gesetzlicher Weise von evangelischen Gemeinden und kirchlichen Behörden getroffenen Verfügungen und ordnungsmäßig gefällten Erkenntnisse sowie zur Einbringung der den Dienern und Beamten der Kirche und Schule gebühJ'enden Einkünfte und der zur Erhaltung evangelischer Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeits anstalten mit Genehmigung der Landesstelle auferlegten Umlagen konnten Schutz und Beistand der weltlichen Behörden in Anspruch genommen werden 28 • Diese Behörden hatten bei Verweigerung dieses Beistandes ihre Gründe hiefür dem Anspruchswerber ohne Verzug schriftlich bekanntzugeben, und dagegen stand ihm das Recht der Beschwerdeführung bei der höheren politischen Behörde im Wege der vorgesetzten Kirchenbehörde (Seniorat, Superintendenz, Oberkirchenrat) zu (§ 10). Den Evangelischen beider Bekenntnisse stand frei, auf gesetzlich zulässige Weise an jedem Orte nach eigenem Ermessen Schulen zu errichten, an diese unter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften Lehrer und Professoren zu berufen sowie Umfang und Methode des Religionsunterrichtes selbst zu bestimmen. Der Unterricht in weltlichen Gegenständen war an den evangelischen Schulen in gleicher Weise wie an den katholischen Schulen gemäß der allgemeinen Unterrichtsgesetzgebung zu erteilen, jedoch unter vollständiger Wahrung des konfessionellen Charakters. Für den Schul- und Kirchendienst konnten mit Genehmigung des zuständigen Ministeriums Ausländer, insbesondere Angehörige der deutschen Bundesstaaten, berufen werden (§ 11)29. Die nähere Regelung des evangelischen Volksschulwesens vom kirchlichen Standpunkte aus blieb der kirchlichen Gesetzgebung vorbehalten (§ 12). Die evangelischen Glaubensgenossen konnten nicht verhalten werden, zu Kultus- und Unterrichtszwecken oder WohltätigkeitsanstalDas sogenannte bracchium saeculare. Diese Vorschrift läßt erkennen, daß der Gedanke an ein Großdeutschland unter österreichischer Führung damals noch lebendig war. 28

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ten einer anderen Kirche Beiträge zu leisten. Stolgebühren und ähnliche Leistungen an Geld, Naturalien und Arbeit von seiten der Evangelischen an katholische Geistliche, Mesner und Schullehrer oder für Zwecke des katholischen Kultus waren und blieben aufgehoben. Ausnahmen von dieser Befreiung traten nur ein, wenn Evangelischen die Pflichten des dinglichen Patronates oblagen oder kraft einer besonderen Gemeindeverbindlichkeit auf dem Realbesitz hafteten, wenn die Evangelischen freiwillig die Funktionen eines nicht evangelischen Seelsorgers oder die Dienste eines nicht evangelischen Mesners in Anspruch nahmen oder den Unterricht an einer nicht evangelischen Lehranstalt genossen, für welche Leistungen eine durch Vorschrift oder übung bestimmte Entlohnung zu entrichten war (§ 13)30. Für die Evangelischen beider Bekenntnisse waren bei der Regelung und Handhabung ihrer kirchlichen Angelegenheiten ohne Ausnahme lediglich und ausschließlich die Grundsätze ihrer eigenen Kirche maßgebend. In Ehesachen hatten vorläufig die Bestimmungen des ABGB über Ehehindernisse und Eheverbote in Wirksamkeit zu bleiben31 • Nach Feststellung des materiellen und formellen protestantischen Eherechtes und nach Kundmachung der übergangsbestimmungen, deren Erlassung sich der Kaiser vorbehielt, sollte die Gerichtsbarkeit über evangelische Eheangelegenheiten ausschließlich von evangelisch-kirchlichen Gerichtsbehörden ausgeübt werden (§ 14). Derartige Bestimmungen sind indessen niemals erlassen worden. Geistliche unterstanden in Disziplinarangelegenheiten den kirchlichen Gerichtsbehörden. über weltliche Rechtssachen der Geistlichen, wie Verträge, Schulden, Erbschaften, hatte das weltliche Gericht zu entscheiden. Wurden Geistliche wegen Verbrechen, Vergehen oder übertretungen von einem weltlichen Gericht in Untersuchung gezogen, so oblag es diesem Gericht, hievon ohne Verzug die zuständige Superintendenz in Kenntnis zu setzen. Vom gefällten Urteil und dessen Gründen war der Superintendenz ungesäumt Mitteilung zu machen. Bei Verhaftung und Festhaltung eines Geistlichen waren jene Rücksichten zu beachten, die die seinem Berufe gebührende Achtung erforderte (§ 15). Das landesfürstliche Oberaufsichts- und Verwahrungsrecht32 über die evangelische Kirche war in höchster Instanz - ausgenommen die der kaiserlichen Entschließung vorbehaltenen Fälle - vom zuständigen Ministerium auszuüben. Bei diesem hatte für die evangelischen Unterrichts- und Kultusangelegenheiten eine eigene, aus evangelischen Glaubensgenossen gebildete Abteilung fortzubestehen. Die Leitung der evangelischen Schu30 Hier spielte offenbar d~r im Rechtsleben so grundlegende Gedanke von Leistung und Gegenleistung die entscheidende Rolle. 31 Dieser als Provisorium gedachte Zustand hat sich während des Bestandes der Monarchi~ nicht geändert und hat auch in der Ersten Republik Österreichs weiter bestanden. n Verwahrungsrecht bedeutet das Recht zur Einlegung einer Verwahrung, d. h. zur Erhebung eines Protestes.

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len und die Ausübung der obersten staatlichen Aufsicht über diese war nur Männern anzuvertrauen, die einem der beiden evangelischen Glaubensbekenntnisse angehörten (§ 16). Die Verschiedenheit des christlichen Glaubensbekenntnisses begründete keinen Unterschied im Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte. Die früher in dieser Hinsicht bestehenden Beschränkungen und notwendigen Dispenserteilungen hatten daher zu entfallen (§ 17). Die evangelischen Kirchengemeinden (Pfarren, Seniorate und Superintendenzen) wurden für berechtigt erklärt, Eigentum auf jede gesetzliche Weise zu erwerben (§ 18). Besitz und Genuß der ihnen für ihre Kirchen-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds wurden ihnen gewährleistet. Stiftungen für evangelische Kirchen-, Schul- und Wohltätigkeitsanstalten durften nur ihrer Bestimmung gemäß verwendet werden. Streitigkeiten über diese Bestimmung und Verwendung waren von den kirchlichen Gerichtsbehörden zu entscheiden (§ 19)33. An aus Staatsmitteln errichteten evangelischen Lehranstalten konnten nur Angehörige eines der beiden evangelischen Bekenntnisse angestellt werden (§ 21). Evangelischen war es gestattet, Lehranstalten des evangelischen Auslandes unter Beachtung der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften frei und ungehindert zu besuchen (§ 22)34. Zur Förderung ihrer kirchlichen Zwecke und Unterrichtszwecke konnten die Evangelischen unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen im Inlande Vereine bilden und mit gleichartigen evangelischen Vereinen des Auslandes in Verbindung treten (§ 23). Alle im ProtP. nicht ausdrücklich hervorgehobenen, die staatsrechtliche Stellung der Evangelischen eines der beiden Bekenntnisse berührenden Angelegenheiten waren nach dem Grundsatz der allen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zugesicherten Selbständigkeit in Ordnung und Verwaltung ihrer konfessionellen Angelegenheiten zu beurteilen und zu behandeln. Alle widersprechenden Normen waren als aufgehoben zu betrachten (§ 24)35. Weder den Majestätsrechten noch den gesetzlich anerkannten Rechten einer anderen Kirche oder Konfession durfte bei Vollzug des ProtP. Abbruch geschehen (§ 25). 33 Der durch die nationalsozialistische Kirchenbeitragsgesetzgebung aufgehobene § 20 ProtP. betraf die entgeltlichen Verpflichtungen des Staates, der ,in staatlicher Verwaltung stehenden Fonds, der Gemeinden, der Kultusverbände (Pfarr- und Kultusgemeinden) und der öffentlichen Patrone, zur Deckung des kirchlichen Bedarfes beizutragen. 34 Die Auffassung des Staates hatte sich also gegenüber jener, die (1819) unter Kaiser Franz 1. zur Errichtung der theologischen Lehranstalt in Wien für Studenten der protestantischen Theologie geführt hatte, weil man verhindern wollte, daß sie durch deren Studium in Gegenden mit überwiegend protestantischer Bevölkerung ungünstig beeinflußt würden, grundlegend geändert. S5 § 24 ProtP. umschrieb auf diese Weise den Grundsatz der Gleichberechtigung aller gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften.

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11. Geltendes Recht 1. Das P1·otestantengesetz36 • Das ProtP. wurde durch das am 20.7.1961 wirksam gewordene ProtG (Bundesgesetz vom 6.7.19613 7 über äußere Rechtsverhältnisse 38 der Evangelischen39 Kirche) abgelöst. Ein Vergleich der beiden Rechtsvorschriften läßt erkennen, daß viele Fragen, die in ProtP. behandelt waren, im ProtG. nicht berührt werden und - umgekehrt - das ProtG. vieles regelt, was im ProtP. nicht erwähnt war. Im folgenden sollen nun die Bestimmungen des ProtG. besprochen und erläutert werden. Auf Grund der Verfassungs bestimmung des § 1 Abs. 1 ProtG. sind die evangelische Kirche augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses in Österreich sowie die in dieser zusammengeschlossene evangelische Kirche augsburgischen Bekenntnisses in Österreich und die evangelische Kirche helvetischen Bekenntnisses in Österreich - im folgenden sämtliche "evangelische Kirche" genannt - gesetzlich anerkannte Kirchen im Sinne des Art. 15 des Staatsgrundgesetzes vom 21. 12. 186740 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. Im Gegensatz dazu sprach das ProtP. in seiner überschrift von der evangelischen Kirche augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses, und der Kaiser sprach in der Präambel von den evangelischen Untertanen des augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses; in § 16 war von der evangelischen Kirche schlechthin die Rede, ihre Angehörigen wurden (§§ 1 und 24) als die Evangelischen des augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses, dann (§§ 6, 11 und 14) als die Evangelischen beider Bekenntnisse, ferner (§§ 22 und 23) als die Evangelischen ohne nähere Bezeichnung und schließlich (§ 13) als die evangelischen Glaubensgenossen angesprochen. Aus den Worten "evangelische Kirche sowohl augsburgischen wie helvetischen Bekenntnisses" (§ 3) könnte man schließen, daß man bei der Erlassung des ProtP. an zwei Kirchen gedacht hat; allerdings hätte dann von den Kirchen und nicht von der Kirche gesprochen werden müssen. Das alles deutet auf eine Unklarheit in der Vorstellung des Gesetzgebers über die rechtliche Gliederung der evangelischen Kirche hin. Ohne Zweifel sollte durch das ProtP. nur eine einzige Kirche augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses gesetzlich anerkannt werden 41 • Bei streng förmHiezu Fischer, a.a.O., S. 5 bis 13. BGBL Nr. 182, novelliert durch Bundesgesetz BGBL Nr. 5/1970. 3B Während das Gesetz vom 7.5. 1874, RGBL Nr. 50, von den äußeren Rechtsverhältnissen der katholischen Kirche sprach, ist im ProtG. nur von äußeren Rechtsverhältnissen der evangelischen Kirche die Rede. Daraus könnte immerhin der Schluß gezogen werden, daß nicht ane Verhältnisse dieser Art geregelt werden sollen und die evangelische Kirche daher innerhalb der bestehenden Gesetze frei ist. 39 Im ProtG. wird das Wort evangelisch stets mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Dieser Schreibweise will sich jedoch die vorliegende Abhandlung nicht bedienen. 40 RGBL Nr. 142. 41 Hiezu Fischer. a.a.O .. S. 5 und 6. 30

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licher Auslegung müßte man zu dem Ergebnis kommen, daß die evangelische Kirche A. B. und die evangelische Kirche H. B. - jede für sich - gesetzlich nicht anerkannt worden waren. Das ProtG. hat nun diese Schwierigkeit in der Weise beseitigt, daß es die Gesamtkirche A. und H. B. sowie die Kirchen A. B. und H. B. - jede gesondert - als gesetzlich anerkannt behandelt. Die betreffende Bestimmung mußte, sollte sie mit der Verfassung nicht in Widerspruch stehen, deshalb als Verfassungsbestimmung erlassen werden, weil nach dem durch Art. 149 B-VG als Verfassungsvorschrift rezipierten Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger bloß physische Personen Mitglieder einer Religionsgesellschaft sein können, die evangelische Kirche A. und H. B. als Gesamtkirche dagegen nicht physische Personen, sondern die evangelischen Kirchen A. B. und H. B. als Zugehörige hat. Die Stufe des Verfassungsgesetzes hat indessen darüber hinaus für die evangelische Kirche Österreichs noch die besondere Bedeutung, daß ein einfaches Bundesgesetz die Anerkennung nicht zurücknehmen könnte. Durch die Neuregelung wurde ferner auch klargestellt, daß der übertritt eines Evangelischen A. B. zur evangelischen Kirche H. B. oder umgekehrt eines Evangelischen H. B. zur evangelischen Kirche A. B. durchaus nicht als interne gleichsam Familienangelegenheit der evangelischen Kirche angesehen werden kann und aus diesem Grunde, soll er auch für den staatlichen Bereich rechtswirksam sein, des gemäß Art. 6 des Gesetzes vom 25. 5. 1868 42 über die interkonfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger vor der örtlich zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde zu erklärenden Austrittes aus der bisherigen Religionsgesellschaft bedarf. Das konnte auf Grund der durch das ProtP. getroffenen Regelung immerhin einem Zweifel begegnen, wiewohl man einem solchen in der praktischen Handhabung des ProtP. keine ernstliche Bedeutung beigelegt hat. Die verfassungsgesetzlich gewährleistete Stellung der evangelischen Kirche - unter diesem Ausdruck versteht das ProtG. stets alle drei Kirchen - umfaßt auf Grund der einfachgesetzlichen Bestimmung des § 1 Abs. 2 ProtG. die Eigenschaft einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes (Abschnitt I), die Befugnis zur selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten, die Freiheit und Unabhängigkeit in Bekenntnis und Lehre, in deren Verkündigung und in der Seelsorge sowie das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, insbesondere die Befugnis, selbständig für alle oder für einzelne ihrer Angehörigen allgemein oder im Einzelfall verbindliche Anordnungen zu treffen43 , die innere Angelegenheiten zum Gegenstand haben (Abschnitt II), die bei allen Akten der Gesetzgebung und Vollziehung zu beachtende Gleichheit der evangelischen Kirche vor dem Gesetz im Verhältnis zur 4!

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RGBl. Nr. 49.

Demnach generelle und individuelle Anordnungen.

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rechtlichen und tatsächlichen Stellung der anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften44 (Abschnitt III), das Recht auf Besitz und Genuß ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds (Abschnitt IV), das Recht, zur Deckung des kirchlichen Personal- und Sachaufwandes von ihren Angehörigen Beiträge einzuheben 45 und über die Erträgnisse aus diesen Beiträgen im Rahmen der Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten frei zu verfügen sowie das Recht der Gemeinden der evangelischen Kirche, zur Deckung ihrer örtlichen Bedürfnisse Zuschläge (Gemeindeumlagen) einzuheben (Abschnitt V). Obwohl § 1 Abs. 2 ProtG. keine Verfassungsbestimmung ist, behandelt er die verfassungsgesetzlich gewährleistete Stellung der evangelischen Kirche. Dieser Umstand läßt sich nur so erklären, daß § 1 Abs. 2 kein anderes Ziel verfolgt, als die sich aus der Verfassungsbestimmung des Art. 15 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ergebenden Rechte der evangelischen, als gesetzlich anerkannten Kirche zu bestätigen, ohne selbst normative Bedeutung zu haben. Seine Bestimmungen sind daher nicht konstitutiver, sondern lediglich deklarativer Art, was insbesondere daraus hervorgeht, daß nicht bestimmt wird, die evangelische Kirche habe die Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes, sondern sie genieße diese Stellung46 • Sofern man die Rechtsansicht vertreten wollte - was indessen kaum zutreffend sein dürfte -, daß sich nicht der gesamte Inhalt des § 1 Abs. 2 ProtG. aus Art. 15 des früher bezogenen Staatsgrundgesetzes ergebe, hätten die über dieses Gesetz hinausgehenden Bestimmungen des § 1 Abs. 2 ungeachtet der von ihm gebrauchten Wendung "verfassungsrechtlich gewährleistete Stellung" nur die Wirkung von einfachgesetzlichen Vorschriften. 2. Über die auf der verfassungsrechtlichen Stellung beruhenden Befugnisse hinaus hat nach dem ProtG. die evangelische Kirche noch nachstehende Rechte47 : a) auf ökonomischen Verkehr (§ 2), b) auf Rechtspersönlichkeit ihrer Gemeinden (§§ 3 bis 6), c) auf Festlegung der Kirchenleitung und Bestimmung ihrer Zusammensetzung (§§ 7 und 8), 44 Da der Heilige Stuhl Völkerrechtssubjekt ist, ergeben sich für die katholische Kirche gegenüber den anderen Religionsgesellschaften Unterschiede, die indessen sachlich begründet sind und somit nicht gegen den Gleichheitssatz verstoßen. 45 über die Art der Einhebung vgl. HellbZing, Religionsverbände und Staat, Österr. Archiv f. Kirchenrecht, Jg. 1966, Heft 2, S. 153 ff. 48 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 8 und 9. 47 Die Pflichten der evangelischen Kirche erschöpfen sich in der Bindung an die bestehenden Gesetze sowie in bestimmten Anzeige-, Auskunfts- und Mitwirkungsverpflichtungen nach dem ProtG. dIe in der folgenden Betrachtung jeweils erwähnt werden sollen.

13 Kirche und Staat

194 d) e) f) g)

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auf den Schutz kirchlicher Amtsträger (§ 9), auf den Schutz geistlicher Amtskleider und Insignien (§ 10), auf den Schutz kirchlicher Amtsverschwiegenheit (§ 11), auf Mitteilung der Strafbehörden von der Einleitung und der rechtskräftigen Beendigung eines gerichtlichen Strafverfahrens gegen geistliche Amtsträger, von der Verhängung der Verwahrungs- und Untersuchungshaft über einen Amtsträger und von dessen Enthaftung, auf Zustellung einer Ausfertigung der rechtskräftigen Anklageschrift, wenn der Amtsträger zustimmt, und einer Ausfertigung der Urteile erster und höherer Instanz, auf Verständigung durch die Staatsanwaltschaft von der Einleitung gerichtlicher Vorerhebungen und von der Zurücklegung einer Strafanzeige gegen geistliche Amtsträger, auf Verständigung durch die Verwaltungsstraf-, einschließlich der Finanzstrafbehörden, von der Festnehmung eines geistlichen Amtsträgers, von der Verhängung der Verwahrungs- und Untersuchungshaft über einen solchen und von dessen Enthaftung, auf Zustellung einer Ausfertigung von Bescheiden erster und höherer Instanz, soweit sie auf eine Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe von mehr als 1 000 S lauten, schließlich auf übung der dem Ansehen der Kirche und des Kultus gebührenden Rücksichten in jedem gegen geistliche Amtsträger von staatlichen Behörden durchgeführten Strafverfahren (§ 12)48,

h) auf behördliche Rechtshilfe (§ 13), i) auf kirchliche Begutachtung (§ 14), j) auf eine evangelisch-theologische Fakultät (§ 15), k) auf Religionsunterricht und Jugenderziehung (§ 16), 1) auf evangelische Militärseelsorge (§ 17), m) auf evangelische Krankenseelsorge (§ 18), n) auf evangelische Gefangenenseelsorge (§ 19), 0) auf wiederkehrende Zuschüsse aus Mitteln des Bundes (§ 20), p) auf die Vornahme kirchlicher Sammlungen (§ 21). Die beiden letzten Rechte beziehen sich auf wirtschaftliche, die anderen vorwiegend auf religiöse Belange. Wiewohl das ProtG. auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen Österreich und der evangelischen Kirche zustandegekommen ist, könnte sich die Kirche gegen eine zu ihrem Nachteil vorgenommene Änderung von Bestimmungen dieses Bundesgesetzes durch spätere Bundesgesetze nicht wirksam zur Wehr setzen, weil die vorherige Mitwirkung der 48 Durch die mit dem 1. 1. 197,6 auf Grund der Finanzstrafgesetznovelle (BGBl. Nr. 335/1975) eingetretene weitgehende Entkriminalisierung des Finanzstrafrechtes dürfte diese Bestimmung an Bedeutung verloren haben.

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Kirche nirgends verfassungsgesetzlich festgelegt ist. Eine einfachgesetzliche Festlegung solcher Art, die im übrigen nicht besteht, wäre von vornherein nicht ausreichend, da jedes einfache Gesetz durch ein nachfolgendes Gesetz dieser Stufe in verfassungsgesetzlich unanfechtbarer Weise geändert werden kann; eine verfassungsgesetzliche Festlegung böte der Kirche zwar einen besseren Schutz gegen spätere sie belastende Änderungen, wäre jedoch ebensowenig vollkommen, weil auch ein Verfassungsgesetz gegen künftige (verfassungsgesetzliche) Änderungen nicht gefeit ist49 •

Zu a) (§ 2)50: Das Recht auf ökumenischen Verkehr besteht in der Freiheit, mit Kirchen und Religionsgesellschaften 51 des In- und Auslandes zusammenzuarbeiten, mit ihnen Gemeinschaften zu bilden sowie ökumenischen Organisationen, wie insbesondere dem Ökumenischen Rat der Kirchen, dem Lutherischen und dem Reformierten Weltbund, anzugehören. Dieses Recht besteht unabhängig davon, ob diese Kirchen und Religionsgemeinschaften Rechtspersönlichkeit besitzen, ob es sich um christliche Vereinigungen handelt und ob die durch Zusammenschluß gebildeten Gemeinschaften mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind oder nicht. Österreich wird durch diese Bestimmung jedenfalls nicht verpflichtet, diesen Gemeinschaften für seinen Bereich die Stellung juristischer Personen einzuräumen. In diesem ökumenischen Verkehr könnte ein wertvoller Ansatz für eine künftige völkerrechtliche Stellung der Ökumene liegen. Derzeit jedoch handelt es sich dabei angesichts des Umstandes, daß die Ökumene noch nicht als Völkerrechtssubjekt anerkannt ist, um öffentlich-rechtliche zwischenstaatliche Verwaltung 52 • Zu b) (§§ 3 bis 6)53: Die Gemeinden aller Stufen, die bei Inkrafttreten des ProtG. schon bestanden haben, genießen die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechtes, und das Bundesministerium für Unterricht (jetzt: für Unterricht und Kunst) wurde verpflichtet, diese Gemeinden nach Anhörung der evangelischen Kirchenleitung binnen drei Monaten nach dem Wirksamkeitsbeginn des ProtG. im Bundesgesetzblatt durch Kundmachung zu verlautbaren, der rein deklarativer Charakter zukommt 54 • Künftig errichtete Gemeinden und nach kirchlichem 49 Nur die Anerkennung eines gleichsam präpositiven Rechtssatzes in dieser Richtung könnte allenfalls die Schutzwirkung erhöhen. 50 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 13 und 14. 51 Es wäre gewiß besser, von Kirchen und anderen Religionsgesellschaften zu sprechen, da ja die Kirchen auch ReIigionsgesellschaften, und zwar solche christlichen Bekenntnisses, sind. 52 Hier privatrechtliche Beziehungen annehmen zu wollen, wäre angesichts der weltumspannenden Bedeutung der Ökumene wohl abwegig. 53 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 14 bis 18. 54 Die Verlautbarung ohne Anhörung der Kirchenleitung und die Nichtverlautbarung hätten, da es sich bei der Verlautbarung um einen generellen

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Recht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Einrichtungen der evangelischen Kirche erlangen mit dem Tage des Einlangens55 der von der evangelischen Kirchenleitung ausgefertigten Anzeige beim Bundesministerium für Unterricht und Kunst, das dieses Einlangen schriftlich zu bestätigen hat, auch für den staatlichen Bereich Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechtes. Die Anzeige muß die Bezeichnung und den Wirkungsbereich der Rechtsperson enthalten und die zur Vertretung der Gemeinden oder Einrichtungen nach außen berufenen Personen anführen. Änderungen in der Person des Vertretungsberechtigten bedürfen ebenfalls einer schriftlichen Anzeige an das Bundesministerium. Alle diese Anzeigen haben für den staatlichen Bereich konstitutive Wirkung. Der schriftlichen Bestätigung des Bundesministeriums über das Einlangen der Anzeige kommt bloß deklarative Wirkung zu. Gegen die Unterlassung dieser Bestätigung kämen eine Vorstellung beim Bundesministerium und - im Schadensfalle - die Amtshaftung in Betracht. Unvollständigkeiten in den Anzeigen der Kirchenleitung sind als Formmängel im Sinne des § 13 Abs. 3 A VG56 zu behandeln. Die Erstattung der Anzeigen kann nicht erzwungen werden, die Sanktion auf die Nichterstattung ist die Unwirksamkeit des anzuzeigenden, aber nicht angezeigten rechtlichen Umstandes für den staatlichen Bere~ch. Die Richtigkeit dieser Rechtsansicht ergibt sich aus der überlegung, daß diese Anzeigen im ausschließlichen Interesse der Kirche liegen57 . Die evangelische Kirchenleitung ist verpflichtet, jedem, der ein berechtigtes Interesse daran glaubhaft macht, die zur Vertretung der Gemeinden und Einrichtungen nach außen berufenen Personen bekanntzugeben. Die Verletzung dieser Verpflichtung, die im Interesse Dritter besteht, kann in der Weise durchgesetzt werden, daß das Bundesministerium für Unterricht und Kunst 58 der Kirchenleitung bescheidmäßig einen entsprechenden Auftrag erteilt, der - als auf eine nichtvertretbare Leistung gerichtet - von der Bezirksverwaltungsbehörde gemäß § 1 Abs. 1 Z 2 lit. a VVG, durch Beugemittel im Sinne der §§ 5 und 6 VVG (= Verwaltungsvollstreckungsgesetz) erzwungen werden kann 59 • Auch Vollzugsakt handelt, als mögliche Rechtsfolgen nur die Vorstellung der Kirche beim Bundesministerium und - im Schadensfalle - die Amtshaftung. Die Anrufung des VwGH. kommt ja nur in Frage, wenn es um individuelle Verwaltungsakte geht. 55 Die Aufgabe zur Post genügt nicht. Hiezu die Kundmachung des Bundesministeriums in Sammlung "Das Osterr. Recht" IV b 21/1. 58 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz. 57 Sofern es sich jedoch um die Organe der drei Zentralkirchen handelt, besteht ein weitgehendes staatliches Interesse an der Kenntnis dieser, wie später noch gezeigt werden soll. 58 Dessen Zuständigkeit ergibt sich aus dem später noch zu besprechenden §22ProtG.

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die Umwandlung, Vereinigung oder Auflösung der mit Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechtes ausgestatteten Gemeinden und Einrichtungen der evangelischen Kirche erlangt - unbeschadet ihrer vermögensrechtlichen Wirkungen - auch für den staatlichen Bereich ex nuncRechtswirksamkeit mit dem Tage des Einlangens der bezüglichen Anzeige - diese hat den Inhalt der getroffenen Maßnahme zu enthalten der evangelischen Kirchenleitung beim Bundesministerium. Was die Sanktion auf die Unterlassung einer solchen Anzeige betrifft, gilt das früher Ausgeführte sinngemäß. Das Bundesministerium für Unterricht und Kunst hat im Bundesgesetzblatt jeweils kundzumachen, welchen Gemeinden und Einrichtungen der evangelischen Kirche Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechtes zukommt. Diese Kundmachung wirkt lediglich deklarativ6o • Da es sich dabei um einen generellen und nicht individuellen Verwaltungsakt handelt, läge die Sanktion für eine Säumnis des Bundesministeriums in einer Vorstellung der Kirche bei dieser Behörde oder in der Geltendmachung der Amtshaftung61 im Schadensfall. Zu c) (§§ 7 und 8)62: Die evangelische Kirchenleitung, d. i. jenes kirchliche Organ, das von der Verfassung der Kirche als mit der Leitung ihrer äußeren Angelegenheiten betraut festgelegt wird 63 , hat jeweils ihre Betrauung ohne Verzug dem Bundesministerium schriftlich mitzuteilen. Für den staatlichen Bereich wird sie als evangelische Kirchenleitung im Sinne der staatlichen Rechtsvorschriften angesehen. Die Kirchenleitung hat dem Bundesministerium jeweils ohne Verzug die Bestellung ihrer Mitglieder schriftlich anzuzeigen.

Auf Grund der Fassung dieser Gesetzesstellen "das ... kirchliche Organ hat . .. ", "die evangelische Kirchenleitung hat . .. " ist zu schließen, daß es sich um regelrechte Verpflichtungen handelt, die durch Beugemittel gemäß §§ 5 uund 6 VVG erzwungen werden könnens.!. An der unS8 Auch ein Amtshaftungsanspruch des Interessenten wird bei Schadenseintritt nicht von der Hand zu weisen sein, wenn das Vollstreckungsverfahren nicht oder nicht ganz zum Ziele führt. 80 Kundmachungen sind ihrem Wesen nach anders als Verordnungen generelle Anordnungen deklarativer Natur. 81 Auch Verwaltungs akte genereller Natur werden in Vollziehung der Gesetze vorgenommen, weshalb hiefür die Amtshaftung besteht. 62 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 18 und 19. 63 Das sind auf Grund der evangelischen Kirchenverfassung 1949 für die Gesamtkirche der Oberkirchenrat A. und H. B., für die evangelische ~irche A. B. der Oberkirchenrat A. B. und für die evangelische Kirche H. B. der Oberkirchenrat H. B. (die Kirchenverfassung ist in der Sammlung. "Das Österr. Recht" unter IV b 22 abgedruckt). M Den Titelbescheid hat das Bundesministerium zu erlassen, die Vollstrekkung ist von der Bezirksverwaltungsbehörde durchzuführen (vgl.auch den zu b erwähnten Fall).

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verzüglichen Kenntnis dieser Umstände besteht deshalb ein überwiegendes Interesse des Staates, weil er nur auf diesem Wege Kenntnis davon erlangen kann, welche Organe als Kirchenleitung der Zentralkirchen anzusehen und damit zur Vertretung dieser nach außen berufen sind. Zu d) (§ 9)65: Die Amtsträger der evangelischen Kirche genießen bei Erfüllung geistlicher Aufgaben nach Maßgabe der einschlägigen bundesgesetzlichen Vorschriften den Schutz des Staates. Der Staat ist zur Erlassung bundesgesetzlicher Vorschriften verpflichtet, die den Amtsträgern der evangelischen Kirche bei Erfüllung geistlicher Aufgaben den staatlichen Schutz gewähren. Unterläßt jedoch der Staat die Erlassung solcher Gesetze, so hat die Kirche die Möglichkeit einer Vorstellung beim Bundesministerium und der Veranlassung eines entsprechenden Volksbegehrens. Beide Wege sind nicht sehr zielführend. Denn die Einbringung eines Gesetzentwurfes durch die Bundesregierung bei der Volksvertretung ist nicht ein erzwingbarer Akt der Voll ziehung, sondern ein nicht erzwingbarer Teilakt der Gesetzgebung. Käme das Volksbegehren zustande, was von vornherein nicht gewiß ist, weil bei Einleitung des Verfahrens nicht feststeht, ob die erforderliche Stimmenzahl gemäß Art. 41 B-VG erreicht wird, so hätte der Vertretungskörper bloß die Verpflichtung, dieses Begehren der geschäftsordnungsgemäßen Behandlung zu unterziehen, nicht aber, ein Gesetz des vorgeschlagenen Inhaltes zu erlassen. Der geltende bundesgesetzliche Schutz ist zunächst durch jene Bestimmungen gegeben, die auch allen anderen, den österreichischen Gesetzen unterworfenen Rechtsträgern Schutz zuteil werden lassen. Dem besonderen Schutz der Geistlichen, an den in § 9 ProtG. zumindest in erster Linie gedacht ist, dient vor allem § 117 Abs. 2 StG66, demzufolge eine strafbare Handlung gegen die Ehre, die gemäß § 117 Abs. 1 sonst nur auf Verlangen des in seiner Ehre Verletzten zu verfolgen ist, dann vom öffentlichen Ankläger mit Ermächtigung des Verletzten und der diesem vorgesetzten Stelle innerhalb der sonst dem Verletzten für das Verlangen nach Verfolgung offenstehenden Frist verfolgt werden muß, wenn sie sich gegen die Ehre eines Beamten oder eines Seelsorgers einer im Inland bestehenden Kirche oder Religionsgesellschaft während der Ausübung seines Amtes oder Dienstes richtet. Ferner sind die Vergehen der Störung einer Religionsübung (§ 189 StG), der Störung der Totenruhe (§ 190 StG) und der Störung einer Bestattungsfeier (§ 191 StG) anzuführen. Auch die als schwer qualifizierte Beschädigung einer dem Gottesdienst oder der Verehrung durch eine im Inland bestehende Kirche oder Religionsgesellschaft gewidmeten Sache (§ 126 Abs. 1 Z. 1 StG), die Beschädigung an einem Grab, einer anderen Beisetzungsstätte, einem Grabmal oder an einer Totengedenkstätte, die

es Hiezu Fischer, a.a.O., S. 19 und 20. G8 Strafgesetz BGBl. Nr. 60/1974, mit dem 1. 1. 1975 wirksam geworden.

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sich in einem Friedhof oder einem der Religionsübung dienenden Raum befindet (§ 126 Abs. 1 Z. 2 StG) und der schwere Diebstahl in einem der Religionsübung dienenden Raum oder an einer dem Gottesdienst oder der Verehrung durch eine im Inland bestehende Kirche oder Religionsgesellschaft gewidmeten Sache (§ 128 Abs. 1 Z. 2 StG) seien als den Geistlichen mittelbar betreffende Schutzbestimmungen in diesem Zusammenhange erwähnt. Zu e) (§ 10)67; Der unbefugte Gebrauch sowie die öffentliche Herabwürdigung von Amtskleidern und Insignien der evangelischen Kirche sind nach denselben Vorschriften wie der Mißbrauch sowie die öffentliche Herabwürdigung der militärischen Uniformen strafbar, sofern die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist. In gleicher Weise wie beim Schutz kirchlicher Amtsträger muß auch hier angenommen werden, daß der Staat die Verpflichtung hat, bundesgesetzlich für den Schutz der Amtskleider und Insignien der evangelischen Kirche Sorge zu tragen; für die Unterlassung der Erfüllung dieser Verpflichtung gelten ebenfalls die zu d) angestellten Erwägungen. Gegenwärtig kommt für den Schutz der Uniformen noch immer das Bundesgesetz vom 28. 9. 1934, BGBL II Nr. 268, gegen das unbefugte Tragen von Uniformen und Ehrenzeichen in Betracht68 • Zu f) (§ 11)69; Geistliche Amtsträger der evangelischen Kirche dürfen als Zeugen - unbeschadet der sonst hiefür geltenden Vorschriften nicht über das ihnen in der Beichte oder sonst unter dem Siegel geistlicher Amtsverschwiegenheit Anvertraute vernommen werden. Das gilt auch für die Vernehmung dieser Amtsträger als Auskunftspersonen oder Parteien im zivilgerichtlichen Verfahren. Anders als beim Schutz der kirchlichen Amtsträger sowie der geistlichen Amtskleider und Insignien beruft sich das ProtG. hier nicht auf andere Vorschriften, sondern stellt selbst eine gesetzliche Regel auf, die einer unmittelbaren Anwendung fähig ist. Unter dem zivilgerichtlichen Verfahren sind sowohl das Verfahren in streitigen bürgerlichen Rechtsangelegenheiten nach der ZP070 wie auch das Verfahren außer Streitsachen nach dem Außerstreitpatent71 zu verstehen. Der Ausdruck Auskunftspersonen ist insofern weiter als der Ausdruck Zeugen, als darunter auch Personen zu verstehen sind, die nicht unter Wahrheitspflicht aussagen. Klargestellt wurde auch, daß die kirchliche Amtsverschwiegenheit auch in dem sonst

Hiezu Fischer, a.a.O., S. 20 und 21. Dieses Gesetz wurde erlassen, nachdem am 25. 7. 1934 illegale Nationalsozialisten in Uniform des österreichischen Bundesheeres in das B'llndekanzleramt eingedrungen waren, wobei Bundeskanzler Dr. Engelbert DoHfuß den Tod gefunden hatte. 60 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 21 und 22. 70 Zivilprozeßordnung von 1895 mit zahlreichen Novellen. 71 Patent von 1854 mit zahlreichen Novellen. 87

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auf dem Boden der Amtswegigkeit und der materiellen Wahrheit stehenden Verfahren außer Streitsachen zu beachten ist. Dem Schutz unterliegen auch weltliche Amtsträger der evangelischen Kirche, wenn sie geistliche Aufgaben erfüllen, wie es für Diakone, Gemeindeschwestern, Gemeindehelfer, Religionslehrer, Organisten, Lektoren für Lesegottesdienste und Laienhelfer für Kindergottesdienste zutrifft. Die kirchliche Amtsverschwiegenheit ist nach dem Gesagten durch das ProtG. weit wirksamer als die Amtsträger, die Amtskleider und Insignien geschützt. Zu g) (§ 12)12: Die Erfüllung der Mitteilungspflicht der Strafbehörden und der Pflicht zum Schutze des Ansehens des geistlichen Standes kann bloß durch Vorstellungen und Aussichtsbeschwerden und, bei Entstehung eines Schadens, durch Geltendmachung der Amtshaftung73 veranlaßt werden. Zu h) (§ 13)14: Alle Organe der Gebietskörperschaften (Bund, Länder und Gemeinden) einschließlich der durch die Bundes- oder Landesgesetzgebung geschaffenen Körperschaften des öffentlichen Rechtes haben innerhalb ihres durch Bundesgesetz festgesetzten gesetzmäßigen Wirkungsbereiches der evangelischen Kirche auf Verlangen der Kirchenleitung Rechts- und Amtshilfe zu leisten, sofern diese zur Vollziehung der dieser Kirche bundesgesetzlich übertragenen Aufgaben und zum Schutze von Kulthandlungen erforderlich ist. Die Mittel der Kirche zur Durchsetzung der behördlichen Rechts- und Amtshilfe sind - wie im zuvor erwähnten Fall- die Vorstellung und Aufsichtsbeschwerde75 und - bei Schadens eintritt - die Geltendmachung der Amtshaftung. Darüber hinaus käme hier noch die Möglichkeit in Betracht, die im Zuge eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens nicht oder nicht entsprechend gewährte Rechts- und Amtshilfe mit den jeweils in Betracht kommenden ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsmitteln im weitesten Wortsinne76 zu rügen. Zu i) (§ 14)77: Der evangelischen Kirchenleitung steht das Recht zu, den Organen der Gesetzgebung sowie den Behörden des Bundes oder der Länder kirchliche Gutachten, Vorschläge und Berichte über die die Kirchen und Religionsgesellschaften im allgemeinen oder den Wirkungsbereich der evangelischen Kirche im besonderen berührenden Angelegenheiten zu erstatten. Ferner haben die Bundesbehörden GesetzHiezu Fischer, a.a.O., S. 22 bis 25. Für den OGH., den VwGH. und den VfGH. gilt die Amtshaftung nicht. 74 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 25 und 26. 75 Vorstellung ist nicht devolutiv, Aufsichtsbeschwerde dagegen devolutiv. Beide Rechtsbehelfe sind allerdings in ihren Wirkungen im allgemeinen nicht sehr durchschlagend. 78 Im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden einschließlich der Anrufung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes. 77 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 26 und 27. 7Z

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entwürfe, die äußere Rechtsverhältnisse der evangelischen Kirche berühren, vor deren Vorlage und Verordnungen solcher Art vor der Erlassung der evangelischen Kirchenleitung unter Gewährung einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu übermitteln. Die Hinderung der Kirche an der Ausübung des Vorschlagsrechtes wäre als gesetzwidrige Ausübung der behördlichen Befehls- und Zwangsgewalt anzusehen. Die Mißachtung des kirchlichen Rechtes auf Stellungnahme zu einem einschlägigen Gesetzentwurf macht das Gesetz nicht anfechtbar, weil diese Bestimmung des ProtG. nur einfachgesetzlich ist; eine einschlägige Verordnung jedoch, zu der die Kirche nicht Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten hat, ist gesetzwidrig. Zu j) (§ 15)18: Zum Zwecke der wissenschaftlichen Ausbildung des geistlichen Nachwuchses sowie der theologischen Forschung und Lehre hat der Bund der evangelischen Kirche den Bestand der evangelischtheologischen Fakultät an der Universität Wien mit mindestens sechs ordentlichen Lehrkanzeln, darunter je einer für die systematische Theologie des augsburgischen und des helvetischen Bekenntnisses, zu erhalten, wobei dem mehrheitlich lutherischen Charakter der evangelischen Kirche Rechnung zu tragen ist. Die Mitglieder des Lehrkörpers der evangelisch-theologischen Fakultät, und zwar ordentliche und außerordentliche Universitätsprofessoren, Honorarprofessoren, Universitäts dozenten und Lehrbeauftragte, müssen der evangelischen Kirche angehören. Gastprofessoren, Gastdozenten und Gastvortragende sowie das wissenschaftliche und das nichtwissenschaftliche Personal können anderen Kirchen oder Religionsgesellschaften, insbesondere Mitgliedkirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen 79 , angehören. Bei der Neubesetzung einer Lehrkanzel hat das Professorenkollegium der evangelisch-theologischen Fakultät, bevor es seinen Antrag an das Bundesministerium (für Wissenschaft und Forschung) stellt, mit der evangelischen Kirchenleitung in Fühlungnahme über die in Aussicht genommenen Personen zu treten.

Da die Erhaltung der evangelisch-theologischen Fakultät an der Universität Wien als vermögensrechtliche Leistung des österreichischen Staates an die evangelische Kirche angesehen werden muß, steht zur Austragung dieses kirchlichen Anspruches gemäß Art. 137 B-VG der Ders., a.a.O., S. 27 bis 30. Auch gesetzlich anerkannten nichtchristlichen Religionsgemeinschaften. Gemäß § 70 UOG (Universitäts-Organisationsgesetz) vom 11. 4. 1975, BGBl. Nr. 258, müssen ordentliche und außerordentliche Universitätsprofessoren emeritierte Universitätsprofessoren, Honorarprofessoren, Universitätsdozenten, Universitätslektoren und -instruktoren der evangelischen Kirchen angehören, während Gastprofessoren, Gastdozenten, Universitäts- und Vertragsassistenten, Mitarbeiter im Lehrbetrieb, sonstige Mitarbeiter im wissenschaftlichen Betrieb sowie sonstige Bedienstete anderen Kirchen oder Religionsgesellschaften, insbesondere Mitgliedkirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen, angehören können. 78

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Weg der Klage an den VfGH als Kausal(Anspruchs)gerichtshof offen. Wäre es zweifelhaft, ob ein Anwärter auf eine Lehrkanzel an der evangelisch-theologischen Fakultät der evangelischen Kirche angehört, so hätte die örtlich zuständige Bezirksverwaltungsbehörde ein Religionsbestimmungsverfahren nach Art. 1 des Gesetzes vom 25. 5. 1868 (RGBl. Nr. 49) über die interkonfessionellen Verhältnsise durchzuführen, oder das Bundesministerium hätte, im Zuge des Besetzungsverfahrens, gemäß § 38 A VG die Frage nach der Religionszugehörigkeit des Anwärters als Vorfrage zu beurteilen80 • Wollte der Inhaber einer Lehrkanzel, ein Emeritus, Honorarprofessor, Universitätsdozent oder Lehrbeauftragter an dieser Fakultät80a aus der evangelischen Kirche austreten, so könnte ihm die Entgegennahme der Antrittserklärung durch die örtlich berufene Bezirksverwaltungsbehörde zwar nicht verweigert werden, auch hätte das nicht die Beendigung seiner öffentlich-rechtlichen Anstellung zur Folge, aber er hätte angesichts der in seinem Verhalten liegenden Zuwiderhandlung gegen § 15 Abs. 2 ProtG. die Einleitung eines Disziplinarverfahrens durch den Dienstgeber wegen Gesetzesverletzung ( § 21 DP = Dienstpragmatik) zu gewärtigen 81 • Dabei wäre es ohne Belang, ob er konfessionslos bliebe oder in eine andere Religionsgesellschaft einträte. Diese Erwägungen gelten sinngemäß, wenn ein Gastprofessor, Gastdozent, Gastvortragender, Angehöriger des wissenschaftlichen oder des nichtwissenschaftlichen Personales konfessionslos wird 82 • Wenn anläßlich der Besetzung einer Lehrkanzel entgegen § 15 Abs. 4 ProtG. das Professorenkollegium der evangelisch-theologischen Fakultät vor Stellung seines Besetzungsvorschlages an das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung nicht mit der evangelischen Kirchenleitung Fühlung nimmt 83 und das Bundesministerium trotz Fehlens dieser Fühlungnahme die Besetzung vornimmt, ist die Besetzung gleichwohl gültig, und die Kirche hat - abgesehen von der Möglichkeit eines Protestes gegen die Gesetzesverletzung - mangels Parteistellung keine Berechtigung, die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechtes in Anspruch zu nehmen. Die Geltendmachung der Amtshaftung im Schadensfall dürfte immerhin offenstehen84 • Zu k) (§ 16)85: Der evangelischen Kirche ist nach Maßgabe der einschlägigen staatlichen Rechtsvorschriften die Erteilung des Religions80 Zweckmäßiger und sicherer ist wohl der erste Weg, da sich sonst nachträglich Schwierigkeiten ergeben können. 80a Nach § 110 Abs. 5 UOG werden die Lehrbeauftragten Lektoren. 81 Eine Versetzung in den Ruhestand oder - unter erschwerenden Umständen - eine Entlassung wären als Disziplinarmaßnahmen immerhin denkbar. 82 Die Annahme einer anderen Religion ist ja in diesen Fällen gestattet. 83 In diesem Falle hätte das Bundesministerium den Besetzungsvorschlag zur entsprechenden Verbesserung an das Professol'enkollegium zurückzuleiten. 84 Diese ist von der Stellung als Verfahrenspartei unabhängig. 85 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 30 und 31.

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unterrichtes an evangelische Schüler der öffentlichen und der mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten privaten Schulen sowie die Errichtung und Erhaltung privater Schulen gewährleistet. Ferner hat sie das Recht, Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Schule entsprechend der kirchlichen Glaubenslehre zu erziehen und zu diesem Zwecke die evangelische Jugend zu sammeln und organisatorisch zusammenzufassen. Der Staat ist zur Erlassung der in § 16 Abs. 1 und 2 ProtG. bezogenen Vorschriften verpflichtet. Gegen deren Nichterlassung gibt es, wie schon zu d) ausgeführt worden ist, keinen anderen Weg als die nicht sehr zielführenden Mittel einer Vorstellung an das Bundesministerium und eines Volksbegehrens. Die Behinderung der Kirche in ihren in § 16 angeführten Rechten wäre eine gesetzwidrige Ausübung der Befehls- und Zwangsgewalt86 • Zu l) (§ 17)87: Der Bund hat der evangelischen Kirche die Ausübung der Seelsorge an den evangelischen Angehörigen des Bundesheeres zu gewährleisten (evangelische Militärseelsorge) und den für diese erforderlichen Personal- und Sachaufwand in ausreichendem Maße bereitzustellen. Diese Seelsorge untersteht in geistlichen Belangen der evangelischen Kirchenleitung, in allen anderen Angelegenheiten den zuständigen militärischen KommandosteIlen. Als evangelische Militärseelsorger sind nur von der evangelischen Kirchenleitung hiezu schriftlich ermächtigte geistliche Amtsträger zu bestellen. Wird ihnen die Ermächtigung von der Kirchenleitung entzogen, so sind sie unverzüglich ihrer Funktion als Militärseelsorger zu entheben. Die näheren Vorschriften über die evangelische Militärseelsorge sind in das Wehrrecht aufzunehmen.

Die Beistellung des für die evangelische Militärseelsorge erforderlichen Personal- und Sachaufwandes ist eine vermögensrechtliche Leistung des Bundes und daher im Streitfall gemäß Art. 137 B-VG vor dem VfGH als Kausalgerichtshof auszutragen. Für den Fall der Behinderung der Kirche in den angeführten Rechten gilt das im früheren Abschnitt Ausgeführte. Eine Behinderung liegt auch in der Verwendung eines von der Kirche nk.ht schriftlich ermächtigten oder in der Nichtabberufung eines Seelsorgers, dem diese Ermächtigung entzogen worden ist. In diesen beiden Fällen steht der Kirche überdies die Möglichkeit offen, einen förmlichen Antrag auf Abberufung bei der Militärbehörde zu 88

Derzeit gibt es dagegen nur die Geltendmachung der Amtshaftung, vom

1. 7.1976 an wird infolge Inkrafttretens der BV-Novelle BGBL Nr. 302/1975 die

Erhebung einer Beschwerde an den VwGH. zulässig sein. 87 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 31 und 32. Derzeit kommt als einschlägige Vorschrift die Anlage zu Abschnitt IVa des GÜG. (Gehaltsüberleitungsgesetzes) Dienstzweig 4 (Offizier des Militärseelsorgedienstes) in der Fassung des BGBL 1972/167 in Betracht.

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stellen und bei Nichterledigung innerhalb einer sechsmonatigen Frist (§ 73 A VG) die gegen behördliche Säumnis zustehenden Rechtsbehelfe anzuwenden. Zur Erlassung der Vorschriften über die evangelische Militärseelsorge im Wehrrecht ist der Bund verpflichtet, ohne daß jedoch auch hier die Kirche gegen die Nichterlassung dieser gesetzlichen Bestimmungen einen anderen Weg als die Vorstellung und das Volksbegehren zur Verfügung hätte. Zu m) (§ 18)88: Der evangelischen Kirche ist die Ausübung der Seelsorge an in öffentlichen Kranken-, Versorgungs- und ähnlichen Anstalten untergebrachten Personen evangelischen Glaubensbekenntnisses durch die von ihr beauftragten und ausgewiesenen geistlichen Amtsträger jederzeit gewährleistet. Soweit an Anstalten solcher Art eine anstaltseigene Seelsorge eingerichtet wird, können als evangelische Krankenseelsorger nur die von der evangelischen Kirchenleitung hiezu schriftlich ermächtigten geistlichen Amtsträger bestellt werden. Bei Entziehung dieser Ermächtigung durch die Kirchenleitung endet die Funktion des betreffenden geistlichen Amtsträgers als Krankenseelsorger. Ist an den Anstalten keine eigene Krankenseelsorge eingerichtet, so ist dem von der evangelischen Kirche beauftragten und ausgewiesenen Amtsträger der freie Zutritt zu den Anstaltsinsassen evangelischen Glaubensbekenntnisses zur freien Ausübung der Krankenseelsorge zu ermöglichen. Die Anstaltsordnungen müssen vorsehen, daß die Aufnahme evangelischer Anstaltsinsassen in regelmäßigen Zeitabständen dem nachfragenden Amtsträger der evangelischen Kirche zur Kenntnis gelangt. Bei Gefahr im Verzuge ist der Krankenseelsorger unverzüglich zu verständigen. Die Krankenseelsorger sind verpflichtet, bei Ausübung ihrer Funktion die Vorschriften der Anstaltsordnungen zu beachten und in den - geistliche Belange nicht betreffenden - Angelegenheiten die Anordnungen der zuständigen Anstaltsorgane zu befolgen. Unzukömmlichkeiten bei der Ausübung der Krankenseelsorge sind der evangelischen Kirchenleitung mitzuteilen und, soweit sie durch ein Verhalten des evangelischen Krankenseelsorgers verursacht worden sind, von ihr abzustellen.

Die Behinderung der evangelischen Kirche in der Ausübung der Krankenseelsorge ist ein gesetzwidriger Akt der Befehls- und Zwangsgewalt, der, soweit er nicht durch Vorstellung an die Anstaltsleitung oder Aufsichtsbeschwerde an die Landesregierung abgestellt werden kann, die Rechtsfolgen eines solchen gesetzwidrigen Verwaltungsaktes nach sich zieht. Eine Behinderung wäre auch die Verwendung eines von der Kirche nicht schriftlich ermächtigten Seelsorgers oder die Nichtabberufung eines Seelsorgers, dem sie die schriftliche Ermächtigung entzogen hat. Die Kirche könnte auch hier, wie im vorhergehenden Fall, einen 88

Ders., a.a.O., S. 33 und 34.

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förmlichen Antrag auf Abberufung stellen und bei Nichterledigung die Säumnisfolgen geltend machen. Zu n) (§ 19)89: Der Bund hat der evangelischen Kirche die Ausübung der Seelsorge an Personen evangelischen Glaubensbekenntnisses zu gewährleisten, die sich in gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Haft befinden. Für den Fall der Einrichtung einer eigenen evangelischen Gefangenenseelsorge können als Gefangenenseelsorger nur von der evangelischen Kirche hiezu schriftlich ermächtigte geistliche Amtsträger bestellt werden. Gefangenenseelsorger, denen diese Ermächtigung entzogen worden ist, sind unverzüglich ihres Amtes zu entheben. Bei Behinderung in der Ausübung der Gefangenenseelsorge steht der Kirche, wenn es sich um gerichtliche Haft handelt, Vorstellung und Aufsichtsbeschwerde, allenfalls bei Eintritt eines Schadens die Geltendmachung der Amtshaftung zu; geht es aber um verwaltungsbehördliche Haft, so liegt eine gesetzwidrige Ausübung der Befehls- und Zwangsgewalt vor. Eine Behinderung liegt auch hier in der Verwendung eines nicht mit der schriftlichen Ermächtigung ausgestatteten oder in der Nichtabberufung eines Seelsorgers, dem die schriftliche Ermächtigung entzogen worden ist. Als Abhilfe kämen bei gerichtlicher Haft Vorstellung, Aufsichtsbeschwerde und Amtshaftung, bei verwaltungsbehördlicher Haft noch das Recht in Betracht, einen förmlichen Antrag auf Abhilfe zu stellen, mit der Sanktion von Säumnisfolgen bei Nichterledigung. Zu 0) (§ 20)90: Angesichts des Wegfalles der der evangelischen Kirche nach dem ProtP. zugestandenen Leistungen hat sich der Bund vom Jahre 1961 an zu folgenden jährlichen Leistungen an sie verpflichtet: Eines Betrages von 6,240.000 S90a und des Gegenwertes der jeweiligen Bezüge von 81 Kirchenbediensteten unter Zugrundelegung eines Durchschnittsbezuges, als welcher der jeweilige Gehalt eines Bundesbeamten der Verwendungsgruppe A, Dienstklase IV, 4. Gehaltsstufe, zuzüglic.~ Sonderzulagen und Teuerungszuschlägen, angenommen wird. Die Zahlung hat jeweils in vier gleichen Teilbeträgen bis längstens zum 31. Mai, 31. Juli, 30. September und 30. November eines jeden Jahres zuhanden der evangelischen Kirchenleitung zu erfolgen. Der Gesamtbetrag ist von der evangelischen Kirche aufzuteilen (die für 1961 fälligen Teilbeträge waren innerhalb eines Monates nach dem Inkrafttreten des ProtG. zu entrichten). Für die Austragung allfälliger Streitigkeiten aus dieser Bestimmung steht der Weg einer Klage an den VfGH als Kausalgerichtshof gemäß Art. 137 B-VG offen. 89 90

Ders., a.a.O., S. 34 und 35. Ders., a.a.O., S. 35 bis 37.

90a Zufolge Bundesgesetzes vom 31. 3. 1976, BGBl. Nr. 159, über eine neuerliche Änderung des Bundesgesetzes über äußere Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche.

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Zu p) (§ 21)91: Der evangelischen Kirche steht das Recht zu, auch außerhalb ihrer Gebäude und Liegenschaften unmittelbar vor und nach kirchlichen Veranstaltungen oder jederzeit durch persönliche Aufforderung an ihre Angehörigen Sach- und Geldspenden für kirchliche Zwecke zu sammeln.

Unter Zugrundelegung der vom VfGH vertretenen, jedoch in den letzten Jahren erheblich eingeschränkten Wesenstheorie 92 könnten kirchliche Sammlungen nicht als Angelegenheiten des Kultus aufgefaßt, sondern müßten unter den Begriff der, weil in den Kompetenzbestimmungen des B-VG nicht ausdrücklich genannt, zufolge der Generalkalusel des Art. 15 Abs. 1 B-VG den Ländern vorbehaltenen Sammlungen gestellt werden, da Art. 10 Abs. 1 Z. 13 B-VG nicht vom Kultuswesen, sondern von den Angelegenheiten des Kultus spricht93 • Unter diesen Umständen wäre § 21 ProtG. als einfachgesetzliche Bestimmung verfassungswidrig. Angesichts der vom VfGH jedoch vorgenommenen Einschränkung der Wesenstheorie in dem Sinne, aus dem Gebrauche des Wortes "Wesen" allein könne nicht der Schluß gezogen werden, der Verfassungsgesetzgeber habe mit dem die Materie bezeichnenden Wort mehr umschreiben wollen, als nach der - durch die Rechtsordnung im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Kompetenzregelung gegebenen - Auslegung des Begriffes damals darunter fie1 94 , muß gefolgert werden, daß kirchliche Sammlungen dem Begriff Kultus wohl unterstellt werden können, ohne daß darin eine Verfassungswidrigkeit liegt, zumal die Kirchen schon von jeher Sammlungen durchgeführt haben. § 21 ProtG. kann somit ohne weiteres als verfassungsmäßig angesehen werden. Die Behinderung der Kirche durch den Staat in ihrer Sammlungstätigkeit wäre ein Akt gesetzwidriger Befehls- und Zwangsgewalt mit den schon früher an anderen Stellen angeführten Rechtsfolgen. 3. In den die evangelische Kirche betreffenden Kultusangelegenheiten ist gemäß Art. 22 ProtG.95, soweit sie nicht in den Wirkungsbereich einer anderen Behörde fallen, das Bundesministerium für Unterricht (und Kunst) zuständig. Dieses ist, sofern in diesen Angelegenheiten andere Bundesministerien zuständig sind, zu hören. Die Sachbearbeitung für die Angelegenheiten der evangelischen Kirche im Bundesministerium für Unterricht und Kunst ist mit Angehörigen dieser Kirche zu besetzen. Ders., a.a.O., S. 37 und 38. Hiezu Friedrich Koja, Entwicklungstendenzen des österreichischen Föderalismus, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 2 (St. Pölten - Wien 1975), S. 17 und zugehörige Anm. 36. 93 Hiezu HeHbling, Die fünfte Generalsynode und die sich daraus ergebenden Rechtsfragen, Archiv f. Kirchenrecht, Jg. 1956, S. 193 und 194. 94 Hiezu Ludwig Adamovich, Handbuch des österreich ischen Verfassungsrechtse (Wien - New York 1971), s. 157. 95 Hiezu Fischer, a.a.O., S. 38 und 39. 91 92

Staat und Kirche in Österreich aus evangelischer Sicht

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Diese Vorschrift ist wohl auch auf das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung anzuwenden, insoweit dieses mit Angelegenheiten der evangelischen Kirche befaßt ist. Die entgegen § 22 Abs. 1 ProtG. unterbliebene Anhörung des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst begründet einen Verfahrensmangel mit allen rechtlichen Folgen. Handelt es sich um die Erlassung eines Gesetzes, so wäre dieses gleichwohl nicht gesetzwidrig, da diese Bestimmung des ProtG. nur einfachgesetzlich ist. Eine unter Mißachtung der angeordneten Anhörung erlassene Verordnung dagegen wäre gesetzwidrig. Ein Bescheid, der ohne diese Anhörung erlassen worden wäre, litte an einem Verfahrensmangel. Besetzt das Bundesministerium entgegen § 22 Abs. 2 ProtG. das erwähnte Referat nicht mit Angehörigen der evangelischen Kirche, so liegt darin ein gesetzwidriger Akt der Befehls- und Zwangsgewalt mit den an anderen Stellen angeführten rechtlichen Wirkungen 96 . Im Zweifel über die Religionszugehörigkeit der Anwärter müßte dasselbe gelten, was früher über Zweifel betreffend die Religionszugehörigkeit von Anwärtern für ein Lehramt an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien ausgeführt worden ist. 4. Zufolge § 23 ProtG.97 hatten mit dessen Wirksamwerden die Rechtsvorschriften, die sich auf äußere Rechtsverhältnisse der evangelischen Kirche bezogen, insofern außer Kraft zu treten, als ihr Gegenstand nunmehr durch das ProtG. geregelt wird. Insbesondere98 wurden als außer Kraft gesetzt angeführt: Das ProtP. und das Gesetz über die Rechtsstellung des evangelischen Oberkirchenrates in Wien, GBL f. d. Land Österreich Nr. 562/1939 99 . 5. § 24 ProtG. betraute mit der Vollziehung das Bundesministerium für Unterricht100 sowie die sonst nach dem Gegenstand zuständigen Bundesministerien je nach ihrem Wirkungsbereich101 •

Die Besetzung wäre gleichwohl nicht ungültig. Hiezu FischeT, a.a.O., S. 39 und 40. 98 Also bloß demonstrative Anführung. gg Durch diese Vorschrift des nationalsozialistischen Reiches wurde ausdrücklich festgestellt, daß der Oberkirchenrat keine Staatsbehörde - was bis dahin angenommen werden konnte -, sondern eine Dienststelle der evangelischen Kirche sei. Dadurch sollte die Verflechtung zwischen Staat und evangelischer Kirche gelöst werden (FischeT, a.a.O., S. 18). 100 Jetzt Bundesministerium für Unterricht und Kunst. 101 Hiezu Bundesministeriengesetz BGBl. Nr. 389/1973. gO

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WESEN UND FUNKTION DER KONKORDATE AM BEISPIEL DES OSTERREICHISCHEN KONKORDATS Von Willibald M. Plöchl Nüchtern juristisch betrachtet, ist ein Konkordat ein in völkerrechtlicher Form geschlossener internationaler Vertrag zwischen dem Apostolischen Stuhl und den verfassungsmäßig zuständigen Organen eines Staates. Dem Inhalte nach umfaßt das Konkordat kirchenpolitische Fragen, die in rechtlichen Normen ihren Niederschlag finden und entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten gemeinrechtliche oder partikularrechtliche Vorschriften des kanonischen Rechtes enthalten. Durch die Ratifikation wird das Konkordat, wie jeder andere Staatsvertrag, Teil der Rechtsordnung eines Staates. Bis hierher ist also das Problem Konkordat sachlich und einfach zu beantworten. Der Übergang des Inhalts des Konkordats in eine staatliche Rechtsordnung bedeutet jedoch zugleich, daß das Konkordatsrecht in Hinkunft nicht nur Katholiken, sondern gegebenenfalls auch nichtkatholische Staatsbürger bindet, soferne derartige Normen eben auch von nichtkatholischen Staatsbürgern respektiert werden müssen. Auch das trifft ohne konfessionelle Qualifikation auf jeden anderen Staatsvertrag zu. Man kann daher die Frage stellen, welchen Zweck es überhaupt haben kann, Konkordate zu schließen, und es gibt zur Genüge politische und staatsrechtliche Argumente, die überhaupt die Notwendigkeit von Konkordaten verneinen. Als ich noch an einer amerikanischen Universität tätig war, war es geradezu die Standardantwort auch katholischer Gelehrter: "Ein Konkordat bedeutet einen Friedensvertrag, die Kirche liegt jedoch mit den Vereinigten Staaten nicht im Streite. Jedes Konkordat würde für die Katholiken auch Einschränkungen mit sich bringen." Man hatte sich eben in Amerika daran gewöhnt, daß zwei Rechtsordnungen, eine staatliche und eine kirchliche, nebeneinander bestehen und hatte zur Kenntnis genommen, daß manche Teile der kirchlichen Rechtsordnung zwar im staatlichen Recht keine Anhaltspunkte finden, dennoch aber anscheinend bestehen blieben, auch wenn sich dies teilweise nur als Fiktion entpuppte. Wer Konkordate rechtsgeschichtlich betrachtet, wird immer wieder finden, daß Perioden großer Konkordatsfreudigkeit mit Zeiten abwechseln, in denen weder die katholische Kirche noch einzelne Staaten ein Interesse am Abschluß solcher Verträge haben. Die Zeit nach dem I. 14 Kirche und Staat

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Weltkrieg, während der Regierung des Papstes Pius XI. (1922 -1939), war eine ausgesprochene Konkordatszeit, so daß wir heute noch von der Ära der Pianischen Konkordate sprechen. Es seien hier beispielsweise nur das Österreichische Konkordat vom 5. Juni 1933, das Deutsche Reichskonkordat, das Italienische und das Französische Konkordat erwähnt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Konkordate der Zwischenkriegszeit zum damaligen Zeitpunkt ganz wesentlich zur Konsolidierung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat beigetragen haben und Verhältnisse schufen, die jedenfalls bis zum Ausbruch des H. Weltkrieges einen wichtigen Beitrag zur ruhigen Entwicklung der innenpolitischen Lage dieser Staaten geleistet haben. Grenzfälle waren ohne Zweifel das Deutsche Reichskonkordat und das Österreichische Konkordat, die beide schon am Ende des europäischen Friedens geschlossen worden sind. Die Ratifikation des Österreichischen Konkordats geschah erst am 1. Mai 1934 schon auf dem Boden des autoritären Staates. Es wurde daher zu Beginn der H. Republik als "DollfußKonkordat" apostrophiert, obwohl Dollfuß, historisch gesehen, nichts mit dessen Zustandekommen zu tun hatte. Die Verhandlungen für das Österreichische Konkordat reichen in den Anfang der I. Republik, und es wäre nach den hauptsächlichsten Initiatoren (vorzüglich Schober und später Seipel) eigentlich bestimmt gewesen, Fragen des Eherechts zu regeln und für die Republik eine Neuordnung verschiedener anderer Probleme, insbesondere die Frage der Bestellung von Bischöfen, in die Wege zu leiten. Daß es erst unter Dollfuß zur Ratifikation kam und vor allem im Anhang Anklänge an den christlichen Ständestaat brachte, ist hier eher als episodenhaft zu vermerken!. Bevor wir jedoch weiter auf dieses Konkordat eingehen, sei noch eine Zwischenbemerkung gemacht. Gelegentlich eines internationalen Kirchenrechtskongresses in Rom im Jänner 1970 kam es im Zuge einer Diskussion über das Spanische und das Italienische Konkordat zu Einwendungen spanischer und italienischer Kirchenrechtler, die diese Konkordate als überlebt ablehnten. Bei den Spaniern handelte es sich vor allem um den überragenden Einfluß des Staates auf die Bischofsernennungen und bei den Italienern um die Verankerung des kanonischen Eherechts im italienischen Rechtssystem. Ich habe damals in der Diskussion eingewandt, daß man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten dürfe. Jedes Konkordat unterliegt wie jedes Rechtssystem der zeitgeschichtlichen Entwicklung. Normen werden obsolet und neue müssen geschaffen werden. Genauso aber wie man nicht einfach einzelne Rechtssysteme über Bord werfen könne, und einzelne Gesetze oft nur der Novellierung bedürfen, gelte dies auch für Konkordate. Insbesondere, so meinte ich, gäbe hier gerade der vielfach mißver1

Literatur s. Klecatsky- Weiler, Osterr. Staatskirchenrecht 1958, S. 231 ff.

Wesen und Funktion der Konkordate

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standene Ausspruch des Papstes Johannes XXIII. vom Aggiornamento die richtige Haltung an. Nicht die Zerstörung, sondern die Anpassung müsse das Ziel sein. Im Zusammenhang damit wies ich darauf hin, daß seit der Wiedererrichtung der H. Österreichischen Republik im Jahre 1945 das Österreichische Konkordat vom 5. Juni 1933 bis dahin insgesamt fünf (und seither drei weitere) Novellierungen2 erfahren habe. Gerade das österreichische Beispiel zeige, wie eine verständnisvolle Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat davor bewahrt, daß überaltete Bestimmungen weiterhin mitgeschleppt werden. Auf diese Weise konnte das kirchlichstaatliche Vermögensrecht neu geregelt werden (1960,1970 und neuestens 1976), die Diözesen Eisenstadt (1960), Innsbruck-Feldkirch (1964) und Feldkirch (1968) wurden errichtet, und das Verhältnis von Kirche und Schule wurde in den Teilkonkordaten (1962 und 1972) den tatsächlichen Gegebenheiten der H. Republik angepaßt. Das waren ganz gewaltige Korrekturen, die zugleich außerordentlich wertvoll waren, weil sie eine reibungslose Weiterentwicklung darstellen. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Teilkonkordate im einzelnen zu analysieren. In Kürze sei jedoch auf verschiedene Fragen eingegangen, die hier einer Regelung unterlagen. Das vermögensrechtliche Konkordat von 1960 liquidierte die sogenannte ,Religionsfondsfrage'. Die Kirche erhielt die in kirchlicher Nutzung stehenden Religionsfondsgebäude (Kirchen, Pfarrkirchen, Klöster usw.) ins Eigentum zuzüglich 5600 ha landwirtschaftlich nutzbare Fläche, während an den Staat insgesamt rund 56 000 ha ReligionsfondsLiegenschaften übergingen. Außerdem wurde die Salzburger Vermögensrechtsfrage endgültig geregelt 3 • Der Staat verpflichtete sich, den Gegenwert der jeweiligen Bezüge von 1250 Kirchenbediensteten unter Zugrundelegung des jeweiligen Gehaltes eines Bundesbeamten der Verwendungsgruppe A, Dienstklasse IV., Gehaltsstufe 4, sowie einen valorisierbaren jährlichen Betrag von ursprünglich 50 Mil!. Schilling zu erbringen. Dieser Betrag wurde durch zwei weitere Teilkonkordate von 1970 und 1976 auf 67 bzw. 97 Mill. Schilling erhöht. Diese Erhöhungen zeigen zugleich auch die rasch fortschreitende Inflation in Österreich. Entgegen den ursprünglichen Bestimmungen des Konkordats vom 5. Juni 1933, wonach im Burgenland eine praelatura nullius in Aussicht genommen war4, wurde 1960 eine Diözese in Eisenstadt errichtet. 1964 wur2 Vermögensvertrag BGBl. Nr. 195/1960, i. d. F. BGBl. Nr. 107/1970. Vertrag Eisenstadt BGBl. Nr. 196/1960. Schulvertrag BGBl. Nr. 273/1962, i. d. F. BGBl. Nr. 289/1972. Vertrag Innsbruck-Feldkirch BGBl. Nr. 227i1964. Vertrag FeIGkirch BGBl. Nr. 417/1968. Die neueste Fassung des Vermögensvertrages von 1976 wurde erst am 9. 1. paraphiert und war bei Abfassung dieses Beitrages noch nicht im BGBl. promulgiert. 3 W. M. Plöchl, Die Regelung der Salzburger Vermögensrechtsfrage, Wien 1803 - 1961, Reihe "Kirche u. Recht" BeL. 11 1962.

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de die Diözese Innsbruck-Feldkirch errichtet, von der 1968, einem jahrzehntelangen Wunsch der Vorarlberger entsprechend, eine eigene Diözese Feldkirch abgetrennt wurde. Die Schul-Konkordate von 1962 und 1972 regelten die staatlichen Zuschüsse zu den Kosten der katholischen Schulen. Es zeigt sich, daß hier immer wieder Anpassungen an die tatsächlichen Gegebenheiten vorgenommen wurden. Das Konkordat wurde daher nicht zu veraltertem Recht. Dazu kommt noch, daß die begünstigenden Bestimmungen vor allem in der Schul-Frage auch den anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zugekommen sind. In einer entscheidenden Frage allerdings tritt zwischen der österreichischen Rechtsordnung und dem Konkordat eine sehr bedeutende Diskrepanz zutage, die bisher nicht überwunden werden konnte: Auch nach dem Österreichischen Konkordat gilt grundsätzlich für Katholiken das kanonische Eherecht als staatlich anerkanntes EherechtS. Als Folge der Besetzung Österreichs im März 1938 durch die Invasion des Deutschen Reiches wurde das Deutsche Eherecht in Österreich eingeführt und dementsprechend das Konkordatseherecht eliminiert. Hier lag also echter Konkordatsbruch vor. Mein persönlicher Freund, der verstorbene Bundeskanzler LeopoZd FigZ, hat mir einmal erklärt, daß die Wiedereinführung des kanonischen Eherechts und damit die Wiederherstellung des Konkordats in dieser Hinsicht unterblieben ist, da in den ersten Monaten der Erneuerung des österreichischen Staatswesens die österreichische Bischofskonferenz zum Ausdruck brachte, daß diese Fragen erst zu einem ruhigeren Zeitpunkt geregelt werden sollten. Es gab damals zwar vorübergehend eine ziemliche Rechtsunsicherheit, die erst nachträglich saniert werden mußte, aber für eine echte Bereinigung dieser Frage wurde damals der Zeitpunkt versäumt.

Es ist sehr bemerkenswert, daß zunächst nach 1945 seitens der Sozialistischen Partei gegen das "Dollfuß-Konkordat" Sturm gelaufen und vorübergehend die Gültigkeit des Konkordats in Zweifel gezogen wurde. Insbesondere der spätere Bundespräsident Dr. Schärf trat in dieser Hinsicht in den Vordergrund6 • Die Wendung in dieser Auffassung war jedoch auch ein politisches Ereignis. Durch den Staatsvertrag vom 15. Mai 1955, mit dem Österreich seine volle Unabhängigkeit und Souveränität erhielt, wurde der Republik auch aufgetragen, die durch die deutsche Besetzung Österreichs verursachten Schäden der Kirchen- und Religionsgesellschaften wiedergutzumachen und kirchliches Vermögen zurückzugeben. Da, Art. III Konkordat / Klecatsky-Weiler 1958. S Art. VII. Konkordat / Klecatsky-Weiler 1958. 8 A. Schärf. "Gilt das Konkordat?" War der Anschluß Annexion oder Okkupation?, in: "Die Zukunft", Wien, Jg. 1950, S. 34 ff. A. Schärf. "Gilt das Konkordat?" Ein Nachwort zur Debatte, in: "Die Zukunft", Wien, Jg. 1950, S. 117 ff.

Wesen und Funktion der Konkordate

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durch wurde es notwendig, auf das Konkordat zurückzugreifen und eine Neuordnung zu finden, wie dies dann auch im Vermögensvertrag von 1960 geschehen ist. Seither ist anscheinend der Bestand des Konkordats vom 5. Juni 1933 nicht mehr in Zweifel gezogen worden, und mit Ausnahme der eherechtlichen Bestimmungen wurde das Konkordat durch die novellierenden Zusatzverträge am laufenden gehalten. Hier trat echtes Aggiornamento ein. Wenn ich gesagt habe "anscheinend", so geben jüngste Ereignisse Anlaß, ernstlich die Frage aufzuwerfen, ob die hier dargestellte Entwicklung in Österreich in gleicher Form weitergehen wird. In jüngster Zeit wurden nämlich seitens radikaler Gruppen, die der sozialistischen Partei angehören oder ihr nahestehen, erhebliche kultur-kämpferische Parolen ausgegeben und Aktionen unternommen7 • So kam es in Graz zu einer Austrittsbewegung mit dem Ziel, ein Volksbegehren zur Abschaffung des Konkordats durchzuführen, und Staatsanwalt Dr. Heinrich Keller, Sekretär des Justizministers Dr. Broda, tritt offen für die Abschaffung des Religionsunterrichtes ein, ja es gibt sogar Stimmen, die auf eine Behinderung der Kindertaufe hinauslaufen, wenn auch führende sozialistische Politiker immer wieder diesen Radikalismus zu entkräften trachten. So kam Bundeskanzler Dr. Kreisky in der jüngsten Budgetdebatte zum Kapitel Bundeskanzleramt auf seine Regierungserklärung zurück, worin er erklärt hat: "Deshalb legt die Bundesregierung Wert auf die Feststellung, daß alle Vereinbarungen, die zwischen ihr und dem Heiligen Stuhl, zu welchem Zeitpunkt immer in der Zweiten Republik, geschlossen wurden, mit absoluter Vertragstreue eingehalten werden." Der Abgeordnete zum Nationalrat Univ. Prof. Dr. Felix Ermacora hat damals sehr eindeutig den Bundeskanzler gefragt, ob er die Bestimmungen des Konkordats vom 5. Juni 1933, die aus der Zeit vor 1938 stammen, nicht anerkennen wolle. Der Bundeskanzler schwieg auf diese Frage. Das ist sehr bemerkenswert8 • Wenn nämlich auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß das Konkordat vom 5. Juni 1933 keine Geltung mehr habe, sondern nur die Novellen seit 1960, dann würde auf diese Weise das bisher zwischen Staat und röm.-kath. Kirche auf Grundlage des Konkordates bestehende Rechtsverhältnis vollends zusammenbrechen und die katholische Kirche wäre in mancher Hinsicht schlechter gestellt als jede andere gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft. Das hat man noch besonders ins Auge zu fassen, da die gegenwärtige Regierung gesellschaftspolitisch in sehr eindeutiger Weise Eherecht und Familienrecht zu reformieren beabsichtigt. Hier aber könnte gerade die gegenwärtige Regierung ein Beispiel guten Willens geben, wenn sie dem Profil 112 v. 7. 1. 1976, S. 22 ff. s. Leserzuschrift Professor Ermacora, "Vertragstreue", in: "Die Presse" vom 19. 12. 1975. 7

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wiederholt geäußerten Verlangen entspräche, die fakultative Zivilehe zu statuieren und auf diese Weise einen Beitrag zu leisten, die offene Frage des Konkordatseherechtes einer Lösung zuzuführen. Der Apostolische Nuntius in Österreich, Erzbischof Dr. Opilio Rossi, hat am 9. Jänner 1976 bei der Paraphierung des vermögens rechtlichen Teilkonkordates 1976 auf das bisherige gute Einvernehmen zwischen Kirche und Staat hingewiesen, zugleich aber sehr deutlich auf die noch offene Eherechtsfrage angespielt: "Das Konkordat vom 5. Juni 1933, welches seit seinem Zustandekommen bis heute eine ununterbrochene Geltung von nun mehr als vier Jahrzehnten besitzt, ist in den bereits genannten Bereichen der heutigen Rechtsordnung angepaßt worden: der noch nicht dem konkordat ären Anspruch entsprechende Teil der österreichischen Rechtsordnung ist das Eherecht. Die Ehe ist eine wesentliche Voraussetzung der Familie, damit ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und so eine Grundlage des Staates; ihre gesetzliche Neuregelung steht in Österreich bevor und ist auch heute deshalb erwähnenswert, weil das aus der NS-Zeit stammende Ehegesetz mit seiner obligatorischen Ziviltrauung dem Konkordat nicht entspricht. Die künftig zu findende Form der Eingehung der Ehe sollte daher sowohl dem Anspruch auf Rechtssicherheit des Staates wie auf Glaubensund Gewissensfreiheit des einzelnen entsprechen. Möge der bisher eingeschlagene Weg des einvernehmlichen Bemühens um die Regelung der Beziehungen von Staat und Kirche, auch diesbezüglich der eben genannten Aufgaben, fortgesetzt werden, damit jener Friede erhalten bleibe, von dem einmal der hl. Augustinus schrieb, er ist die Ruhe der Ordnung." Wenn einleitend gesagt wurde, daß Wesen und Funktion der Konkordate am österreichischen Beispiel skizziert werden sollen, dann liegt hier die Antwort eindeutig vor: Das Konkordat ist kein versteinertes Recht, sondern ein Mittel, die Beziehungen von Kirche und Staat im Sinn echter Religionsfreiheit lebendig zu erhalten.

ANERKENNUNG DER RECHTSGüLTIGKEIT DES ÖSTERREICHISCHEN KONKORDATES VOM 5. JUNI 1933 DURCH DIE ZUSATZVERTRÄGE MIT DEM HL. STUHL IN DEN JAHREN 1960 BIS 1976 Von Alfred Kostelecky Zum Abschluß des Konkordates 1933 führten nicht nur kirchliches und staatliches Interesse. Für den Staat bestand vor allem eine rechtspolitische Notwendigkeit, das sog. "Wirrwarr" in der Ehegesetzgebung zu beseitigen. Bundeskanzler Dr. Johann Schober, aber auch Presse und Öffentlichkeit waren der überzeugung, eine Einigung über die Ehereform nur durch ein Konkordat zu erreichen. Ebenso führte nach 1955 eine rechtspolitische, wenn nicht staatspolitische Notwendigkeit zur Anerkennung dieses Konkordates. "Der Weg zum kirchlichen Vermögensvertrag stellt eine Resultante der Durchführung des Art. 26 des Staatsvertrages 1955 hinsichtlich der katholischen Kirche einerseits und der Restaurierung konkordatärer Rechtsbeziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich andererseits dar 1."

I. Abschluß und Durchführung des Konkordates Die Vorverhandlungen2 zu diesem Konkordat, das im Jahre 1933 abgeschlossen wurde, reichen bis in das Jahr 1929. Von kirchlicher Seite 1 Josef Rieger, Die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat auf Grund der Konvention vom Jahre 1960, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht, 15. Jahrgang (HI64), S. 45. 2 Bezüglich der Vorverhandlungen vgl. meinen Artikel: Alfred Kostelecky, Kirche und Staat, in: Kirche in Österreich 1918 - 1965; hrsg. von Ferdinand Klostermann, Hans Kriegl, Otto Mauer, Erika Weinzierl, Verlag Herold Wien München. 1966. Weiters: Jakob Fried, Nationalsozialismus u. kath. Kirche in Österreich, Wiener Dom-Verlag 1947. - Walter Goldinger, Der geschichtliche Ablauf der Ereignisse in Österreich von 1918 bis 1945 in der von Heinrich Benedikt herausgegebenen Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, S. 15 - 288. Siegmund Guggenberger, Kirche und Staat in Österreich, Volksbundverlag Wien 1922. - Miko Norbert, Kirche und Staat im alten Österreich, in: Theologisch praktische Quartalsschrift 104. Jahrgang (1956, S. 42 - 60). - WiHibald Plächl, Abschluß und Auflösung von Konkordaten in: Österreichisches Archiv

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ist an erster Stelle Bischof Waitz zu nennen, der sich mit dem Gedanken an ein neues Konkordat vertraut zu machen begann. Sein besonderes Anliegen, die Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch zu einer Diözese zu erheben, glaubte er mit Recht am ehesten im Rahmen einer konkordatären Vereinbarung zu erreichen. Waitz gab den Anstoß zu dem von seiten des österreichischen Episkopats im November 1929 an die Kurie gerichteten Ansuchen, in dem der Papst gebeten wurde, die nötigen Vorbereitungen zur Schaffung eines Konkordats anzuordnen. Aber auch Bundeskanzler Schober, der im Februar 1930 zu einem Staatsbesuch in Rom eintraf, war mit der festen Absicht gekommen, den "Wirrwarr" in der Ehegesetzgebung Österreichs zur Sprache zu bringen. Im Burgenland blieb nach dem Ersten Weltkrieg die nach ungarischem Recht vorgesehene Einrichtung der obligatorischen Zivilehe bestehen. Seit Jahrzehnten war der § 111 ABGB, der das sogenannte Ehehindernis des Katholizismus enthielt, Gegenstand heftiger Kontroversen. War wenigstens ein Teil zur Zeit der Eingehung der Ehe katholisch, so konnte eine solche Ehe dem Bande nach - also unbeschadet der im ABGB nach kirchlichem Vorbild vorgesehenen Trennung von Tisch und Bett - nur durch den Tod gelöst werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Ehe auch kirchlich gültig zustandegekommen war oder nicht. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erteilte der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich Sever im Anschluß an ganz selten vorgekommene Einzelfälle in der Monarchie im großen Stile Dispensen vom Ehehindernis des bestehenden Ehebandes unter Berufung auf die allgemeine Bestimmung des § 82 ABGB, wonach der politischen Landesstelle das Recht zukam, von Ehehindernissen zu dispensieren. Diese Dispensen wurden allerdings in der Ersten Republik von den Zivil- und Strafgerichten in der Regel nicht anerkannt. Eine große Rechtsunsicherheit und zahlreiche menschliche Tragödien waren die Folge ("Es gibt nur eine glückliche Sever-Ehe, nämlich seine eigene, und das ist keine Sever-Ehe"). Die berühmt gewordene Frage, ob zwischen Gerichten und dispensierender politischer Landesbehörde im technischen Sinne ein positiver Kompetenzkonflikt vorlag, verneinte schließlich der VerfGH im Sinne der Thesen Petscheks über den sogenannten Bindungskonflikt in seinem grundlegenden Erk., Slg. Nr. 1341/19303 ." für Kirchenrecht 8. Jahrgang 1957, Seite 3 - 24. - Karl Rudolf, Aufbau im Widerstand, Otto Müller Verlag in Salzburg 1947. - Johann Schmidt, Entwicklung der Katholischen Schule in Österreich, Herder-Wien 1958. - Erika Weinzierl-Fischer, österreich ische Konkordate von 1855 und 1933, Verlag für Geschichte und Politik Wien 1960. - Josef Wodka, Kirche in Österreich, Herder-Wien 1959. S Rectttsiexikon, Handbuch des österreichischen Rechts für die Praxis, herausgegeben von MaultaschI - Schuppich - Stangl, Kirche und Staat (21).

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 217 Die Drohung der Christlichsozialen, es möglicherweise auf einen Bruch der bürgerlichen Koalition ankommen zu lassen, führten in Österreich nicht nur Schober und die Großdeutschen, sondern auch Presse und Öffentlichkeit zur überzeugung, daß eine Einigung über die Ehereform nur durch ein Konkordat zu erreichen sei. Im November 1930 richtete der österreichische Episkopat eine neuerliche Bitte nach Rom, die Arbeiten für die Schaffung eines Konkordats in die Wege leiten zu wollen. Inzwischen hatte auch Bischof Waitz unermüdlich im Päpstlichen Staatssekretariat interveniert und für die Lage Österreichs Verständnis gefunden. Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli erklärte, daß eine Lösung des Eheproblems nur im Rahmen einer Gesamtbereinigung aller kirchen-politischen Fragen ... , also durch ein Konkordat möglich sei. Der neue christlichsoziale Regierungschef Dr. Ender erörterte eingehend mit Waitz und Seipel die Aussichten und Möglichkeiten einer vertraglichen Bindung mit dem Heiligen Stuhl. Selbst im Parlament begann man über den Modus zu verhandeln, unter dem die Voraussetzung für eine konkordatäre Verhandlung geschaffen werden sollte. Da auch im Ministerrat die Ansicht vertreten wurde, es sei der rechte Zeitpunkt gekommen, um mit Rom Fühlung zu nehmen, wurde Ender am 20. Februar 1931 ermächtigt, beim Vatikan anzufragen, ob die grundsätzliche Bereitwilligkeit zu Vorverhandlungen über ein Konkordat bestünden. Schon am 17. März traf die Antwortnote ein, die neben der Zustimmung auch die Voraussetzungen bekanntgab, unter denen der Vatikan bereit sei zu verhandeln, wobei an oberster Stelle Ehe und Schule standen. Seipel, der die meisten Besprechungen führte und die größte Arbeit leistete, sandte seinerseits ein Memorandum an den Nuntius, das den Vatikan über alle gegebenen Schwierigkeiten offen informierte. Unter anderm gab Seipel zu bedenken, daß Österreich keinem Konkordat zustimmen werde, das nicht durch staatliche Gesetze solchen Katholiken, die keine untrennbare Ehe einzugehen wünschen, die Möglichkeit offen läßt, eine staatliche Ehe zu schließen. Bundeskanzler Ender führte fortlaufende Verhandlungen, vor allem mit dem Nuntius Sibilla, Prälat Seipel, Kardinal Piffl und den übrigen Bischöfen. Er unterrichtete auch die Öffentlichkeit über den Stand der Konkordatsfrage und wies hierbei besonders auf die Schwierigkeiten bezüglich der Ehegesetzgebung hin. Das Schul problem hingegen werde seiner Ansicht "keine unüberwindlichen Hindernisse in den Weg legen". Gerade die Schulfrage aber hatte zu heftigen Angriffen von seiten der Sozialdemokraten gegen die eingeleiteten Konkordatsverhandlun-

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gen Anlaß gegeben. Besonders ablehnend verhielt sich atto Glöckel: "Wir haben es abgelehnt, uns von einem Souverän regieren zu lassen. Wir werden es noch viel weniger dulden, von einem auswärtigen Souverän, auch wenn er in der Stadt des Vatikans lebt, regiert zu werden 4 ." Am 14. und 15. April 1931 tagte die Bischofskonferenz in Salzburg. Sie behandelte in erster Linie die Fragen um Schule und Ehe und vertrat den Standpunkt - entgegen der Meinung des Präsidenten des katholischen Schulvereines Resseguit~rs -, daß in der Konkordatsfrage zwischen Ehe und Schule kein Junktim geschaffen werden soll und darf5• Die Antwort der Österreichischen Bundesregierung auf die Note des Päpstlichen Staatssekretariates vom 17. März erfolgte am 23. Mai 1931; damit wurden die Fühlungen mit dem Vatikan offiziell aufgenommen. Dem Wunsche der Regierung entsprechend, einen Konkordatsentwurf auszuarbeiten, der als Grundlage für die bevorstehenden Verhandlungen dienen sollte, entsprach der Vatikan am 10. August 1931. Dieser Entwurf hatte offensichtlich das italienische Konkordat zum Vorbild. Die ständigen Regierungskrisen (Juni 1931 auch Rücktritt der Regierung Ender), die schweren innerpolitischen Belastungen, ebenso der Tod des Kardinals Piffl, des Präl. Seipel und Schobers brachten in den Jahren 1931/32 die Verhandlungen mit Rom beträchtlich ins Stocken, wenn sie auch nicht endgültig abrissen. Im Hinblick auf die Dringlichkeit der Ehefrage verlangten die Eherechtsreformer die Beschleunigung der Verhandlungen mit dem Vatikan. Aber auch der österreichische Episkopat hatte die Entwicklung in Österreich mit Sorge verfolgt. Das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung und die im Frühjahr bevorstehenden Wahlen veranlaßten die österreichischen Bischöfe zu einer neuerlichen Eingabe nach Rom, mit der Bitte, in Anbetracht der Lage wenigstens die vordringlichsten Punkte einer Erledigung zuzuführen. Seit dem 20. Mai 1932 stand Dollfuß an der Spitze der österreichischen Regierung. Er brachte die konkordatären Verhandlungen mit Rom wieder in Fluß. Ende des gleichen Jahres waren sie bereits soweit gediehen, daß man sie durch Spezialbevollmächtigte mündlich fortzusetzen gedachte. Noch einmal sollte im Parlament die Eherechtsfrage zur Sprache gebracht werden mit der Forderung, das österreichische Eherecht an das deutsche anzugleichen. Den Anlaß dazu gab die Machtergreifung Hitlers in Deutschland am 30. Jänner 1933. Diesmal waren es die Groß deut4 5

Arbeiter-Zeitung vom 8. April 1931. Reichspost vom 14. April 1931.

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 219 schen, die ihren Antrag einbrachten und gleichzeitig die Regierung aufforderten, das Parlament über den Stand der Konkordatsverhandlungen zu unterrichten, "um hier Klarheit zu schaffen und möglichst bald zum Ziele zu kommen, denn wir werden zu dieser Frage (Konkordat) naturgemäß erst dann Stellung nehmen können, wenn wir wissen, in welcher Form solche Verhandlungen, in die auch die Ehegesetzgebung eingekleidet ist, laufen und in welcher Richtung sie führen"6. Am 17. Februar 1930 nahm der Nationalrat den Antrag der Großdeutschen mit 78 gegen 75 Stimmen an. Jedoch am 4. März 1933 kam es durch den verhängnisvollen Rücktritt aller drei Präsidenten des Nationalrates zur Lahmlegung des Parlamentarischen Lebens in Österreich. Die Selbstausschaltung des Parlaments führte nun dazu, daß Bundeskanzler Dollfuß unter Berufung auf das noch nicht aufgehobene kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom 24. Juli 1917 ohne Parlament regierte. Die nun einander überstürzenden Ereignisse, die die Konkordatsverhandlungen wider Erwarten zu einem erstaunlich raschen Abschluß führten, lagen jedoch nicht allein im Bereiche der Innenpolitik. Am 9. April 1933 reiste Papen nach Rom. Obwohl sein Besuch offiziell als "privat" galt, war Ziel und Zweck der Reise kein geringerer, als beim Vatikan den Abschluß eines Konkordats mit dem deutschen Reich anzuregen. Zwei Tage später flog Dollfuß überraschend nach Rom. Schon am 1. Mai 1933 konnte der Konkordatsvertrag mit Österreich paraphiert werden. Am Pfingstmontag, den 5. Juni, erfolgte die Unterzeichnung des Vertrages durch den Kardinalstaatssekretär Pacelli, Bundeskanzler Dollfuß und Justizminister Schuschnigg. Während das am 20. Juli 1933 unterzeichnete deutsche Konkordat bereits am 10. September ratifiziert wurde, war man in Österreich infolge innerpolitischer Schwierigkeiten noch weit von der Ratifikation entfernt. Die tragischen Ereignisse des 12. Februar 1934 hatten die Auflösung der sozialdemokratischen Partei und deren Ausschaltung aus der österreichischen Innenpolitik zur Folge. Die Regierung Dollfuß ging nun ernstlich an den seit März 1933 geplanten Umbau der Verfassung. Dennoch war man peinlich bemüht, bei der Ratifizierung des Konkordats auf das verfassungsmäßige Zustandekommen besonderen Wert zu legen. Das Konkordat wurde verhandelt und abgeschlossen unter den Voraussetzungen der damals geltenden Bundesverfassung von 1920 in der 6

Stenographische Protokolle der Sitzungen des Nationalrates IV/3, 1933,

S.3117.

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Fassung von 1929. Die beim Abschluß beteiligten Personen waren rechtmäßig nach den Bestimmungen dieser Verfassung als Organe der Republik Österreich dazu bestellt. Auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes wurde zunächst am 24. April 1934 im Wege einer Verordnung und am 30. April 1934 durch ein Bundesverfassungsgesetz über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung der Artikel 50 der Bundesverfassung 1920/29 außer Kraft gesetzt. Demnach war die Zustimmung des Nationalrates zur Ratifizierung gesetzändernder und politischer Staatsverträge nicht mehr notwendig. So konnte am 24. April 1934 kirchlicherseits durch Papst Pius XI. das Konkordat ratifiziert werden, österreichischerseits erfolgte die Ratifizierung durch den Bundespräsidenten in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1934. Erst am Vormittag des 1. Mai wurde die neue Verfassung von 1934 verkündet, deren Wirksamkeitsbeginn mit 15. Juli festgesetzt war. Die Außerkraftsetzung des Art. 50 der Bundesverfassung von 1920/29 trat jedoch schon am 30. April in Kraft. Das Konkordat von 1933/34, das die Beziehungen von Kirche und Staat in 23 Artikeln regelt, behandelt im wesentlichen die Rechtsstellung der Kirche im Staat, den Vorgang bei der Besetzung von Bischofsstühlen u. a. kirchlichen Ämtern, die Heranbildung des Klerus, den Religionsunterricht, das Recht der Kirche auf eigene Schulen, die kirchliche Eheschließung, die Militärseelsorge, die Feiertage sowie die vermögensrechtlichen Belange der Kirche. Das größte Problem auf dem kulturpolitischen Sektor, die Ehegesetzgebung, ist in dem kurzgefaßten Artikel VII zusammengefaßt. Im § 1 wird bestimmt: "Die Republik Österreich erkennt den gemäß dem kanonischen Recht geschlossenen Ehen die bürgerlichen Rechtswirkungen zu." Infolgedessen blieb dem Staat das unausgesprochene Recht überlassen, die fakultative Zivilehe jederzeit einführen zu können. Die Republik behielt sich ferner vor, ein staatliches Aufgebot anzuordnen, während die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte zum Verfahren bezüglich der Ungültigkeit der Ehe und der Dispens von einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe anerkannt wurde. Im Schulartikel (Art. VI) wurden die bestehenden Rechte der Kirche festgehalten. Darüber hinaus wurden den katholischen Schulhaltern nach Maßgabe der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse staatliche Zuschüsse in Aussicht gestellt. Besondere Rücksicht genommen wurde auf die staatsfinanziellen Verhältnisse Österreichs, was die Wiener Zeitung vom 1. Mai 1934 nicht zu Unrecht mit besonderer Genugtuung vermerkte; denn der Entwurf des Jahres 1931 zeigte diesbezüglich bei weitem kein so großes Entgegenkommen.

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 221 Die angebahnte neue Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat wurde jedoch im März 1938 jäh unterbrochen mit der Besetzung Österreichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich. Die Hoffnung, daß es durch Verhandlungen wenigstens zu einem Modus vivendi käme, war im September 1938 bereits endgültig gescheitert. Die Aufhebung der katholischen Schulen und Organisationen, schließlich vieler Klöster, die Beschlagnahmung des Kirchenvermögens, die Einführung der Kirchenbeiträge und des deutschen Eherechtes mit der obligatorischen Zivilehe ließen keinen Zweifel mehr, daß die neuen Machthaber an einem Einvernehmen mit der Kirche nicht interessiert waren. Schließlich begann der offene Kampf gegen die Kirche, in dessen Folge 300 000 aus der Kirche austraten. Vom österreichischen Konkordat sagte der NS-Landesinspektor Habicht schon bei seinem Abschluß über den Münchner Rundfunk, "daß dieser Vertrag das kommende Dritte Reich an der Donau nicht binde7 ." Das Reichskonkordat wurde aber auf Österreich niemals ausgedehnt. Nach Art. II des Gesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13. März 19388 waren für die Einführung von Reichsgesetzen in Österreich eigene Verordnungen des Reichskanzlers oder der dazu ermächtigten Reichsminister erforderlich. Solche Maßnahmen wurden im Hinblick auf das Reichskonkordat niemals getroffen. Die Kirche in Österreich war daher in vielen Punkten schlechter gestellt als die Kirche im sogenannten "Altreich". 11. Der Weg zur Anerkennung durch die Bundesregierung und den Bundesgesetzgeber Nach siebenjähriger Herrschaft in Österreich kam es zum Zusammenbruch des Dritten Reiches. Mutig ging man unter den Trümmern des Jahres 1945 an die Wideraufrichtung eines freien Gemeinwesens und an den Wiederaufbau der Wirtschaft. Die Provisorische Staatsregierung stellte am 27. April 1945 in ihrer Proklamation fest, "daß der Anschluß des Jahres 1938 ... endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist ... daß die so vollzogene Annexion des Landes sofort mißbraucht worden ist, alle zentralen staatlichen Einrichtungen der ehemaligen Bundesrepublik Österreich, seine Ministerien und sonstigen Regierungseinrichtungen zu beseitigen und deren Bestände nach Berlin wegzuführen, so den historisch gewordenen einheitlichen Bestand Österreichs aufzulösen und vollkommen zu zer7 Vgl. Erika Weinzierl-Fischer, Die Österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, S. 243, Verlag für Geschichte und Politik, Wien, 1960. 8 Reichsgesetz, RGBl. I, S. 237, 1938.

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stören", und erklärte angesichts dieser Tatsache: "Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volke aufgezwungene Anschluß ist null und nichtig D." Durch das Verfassungsüberleitungsgesetz wurde das Bundesverfassungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929 wieder in Wirksamkeit gesetzt. Um ein Rechtschaos zu vermeiden, mußte man aber die meisten nach dem 13. März 1938 eingeführten Gesetze in Geltung lassen. Aufgehoben wurden hingegen: "Alle nach dem 13. März 1938 erlassenen Gesetze und Verordnungen sowie alle einzelnen Bestimmungen in solchen Rechtsvorschriften, die mit dem Bestand eines freien und unabhängigen Staates Österreich oder mit den Grundsätzen einer echten Demokratie unvereinbar sind, die dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes widersprechen oder typisches Gedankengut des Nationalsozialismus enthalten1o." Daher wurden auch fast alle deutschen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Ehe und des Schulwesens in die österreichische Rechtsordnung übernommen. Daß der Anschlußvertrag des Jahres 1938 (die sogenannte Annexion) von Anfang an null und nichtig war, proklamierte nicht nur die provisorische Staatsregierung, sondern war auch die einmütige Auffassung der ersten Regierung, die auf Grund der freien Wahlen vom 25. November 1945 bestellt war. Namens der Bundesregierung erklärte der Bundeskanzler am 12. August 1946 vor dem Nationalrat: "Wenn im Alltag von Österreich gesprochen wird, müssen wir uns die Frage vorlegen: Ist das Staatsgebilde, das vor aller Welt den Namen ,Österreich' wieder trägt, derselbe Staat, der unter dem gleichen Namen am 13. März 1938 von der Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschen Reiches gewaltsam besetzt und in das Deutsche Reich eingegliedert worden ist, oder ist es ein neues Staatsgebilde, das mit dem am 13. März 1938 bestandenen Staatswesen nichts gemeinsam hat? ... Österreich wurde damals ohne Legitimation durch einen Rechtstitel, also völkerrechtswidrig besetzt und seiner Handlungsfreiheit beraubt. Österreich war also an der Ausübung der Staatsgewalt behindert, ohne daß dadurch seine Staatsgewalt untergegangen wäre und das Staatsgebilde als solches zu bestehen aufgehört hätte. Mit der Beseitigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewann das österreichische Volk seine Handlungsfähigkeit, das österreichische Staatswesen seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit wieder l l ." Österreich ist also nach Ansicht der Bundesregierung als Völkerrechtssubjekt nicht untergegangen. Das österreichische Volk war nur seiner staatsgesetzblatt Nr. 1/1945. Rechtsüberleitungsgesetz vom 1. Mai 1945, § 1, StGBl. Nr. 6/1945. 11 Stenographisches Protokoll über die Sitzungen des Nationalrates 1945/46, I. Band, Seite 166 f. 9

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Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 223 Handlungsfähigkeit beraubt. Österreich war also völkerrechtswidrig besetzt, okkupiert, und die sogenannte Annexion war eine gewaltsame und, weil gewaltsam, rechtlich niemals wirksame Annexion. Diese Auffassung stand allerdings im Widerspruch zum Entwurf des Staatsvertrages, wo es in der Präambel heißt, daß Österreich eine "gewisse Verantwortlichkeit" habe wegen seiner Teilnahme am 2. Weltkrieg. Eine solche Verantwortlichkeit kann logischerweise aber nur bestehen, wenn man eine rechtlich wirksame Annexion durch das Deutsche Reich annimmt. Der 3. Absatz der Präambel im Entwurf des Staatsvertrages wurde am Vortag der Unterzeichnung, am 14. Mai 1955, jedoch gestrichen. Österreich ist daher auch in diesem völkerrechtlichen Dokument als derselbe Staat in der Völkergemeinschaft anerkannt wie vor dem "Anschluß", es ist ihm seine Handlungsfähigkeit wiedergegeben, es ist in seinen Rechten wiederhergestellt und daher auch an früher eingegangene Verträge gebunden. Diese Rechtstatsache, daß Österreich derselbe Staat wie vor 1938 ist, die sogenannte Rechtskontinuität, ist auch die Rechtsgrundlage für die Regelung des "Deutschen Eigentums" gemäß Artikel 22 des Staatsvertrages geworden. Wenn nun in der politischen Diskussion des Jahres 1950 der Vizekanzler Dr. Schärf sagte: "Die Propagierung der Okkupationstheorie führt dazu, daß das Konkordat gültig zu erklären wäre, ohne daß uns diese Theorie sonst etwas nützt 12 ", so kann man feststellen, daß gerade die Okkupationstheorie, die durch den Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 als richtig bestätigt wurde, nicht nur die Grundlagen dafür schafft, das Konkordat von 1933 als gültig anzuerkennen, sondern auch die wesentliche Grundlage für die Behandlung des Deutschen Eigentums nach dem Staatsvertrag ist, das eine der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen des heutigen Österreichs bildet. Bestand nun nach dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 kein Zweifel mehr an der Rechtsgültigkeit des Konkordates, so war der Kirche jetzt eine günstige Gelegenheit geboten, mit ihren berechtigten Forderungen nach Wiedergutmachung durch die Herausgabe eines Weißbuches vor die Öffentlichkeit zu treten. In einer Pressekonferenz wurde es am 1. Juni 1955 unter dem Titel "Kirche und Staat in Österreich" durch den Sekretär der Bischofskonferenz, Erzbischof-Koadjutor Dr. Franz Jachym, vorgelegt1 3 • Vor allem wurde auf die offenen Fragen hinsichtlich der Ehe, der Schule und des Kirchenvermögens hingewiesen, die einer Lösung bedürfen, weil die noch in Geltung stehenden deutschen Gesetze auf diesem Gebiet, der Beobachtung der Konkordatsbestimmungen entgegenstehen. Die Zukunft, 1950, S. 37. Weißbuch, Kirche und Staat in Österreich, herausgegeben im Auftrage der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 1955. 12

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Zunächst reagierte die Presse durchaus wohlwollend auf die "berechtigten Forderungen der Kirche"14. Dann trat ein großes Schweigen ein. Bei einem Treffen des BSA (= Bund sozialistischer Akademiker) im September 1955 in Linz wandte man auf die Forderungen des Weißbuches das geflügelte Wort an: "Nicht einmal ignorieren 15." Am 18. November 1955 jedoch beschloß der Nationalrat, das Feiertagsruhegesetz (Nr. 116) aus 1945 zu ergänzen und mit Wirkung vom 7. Dezember 1955 den 8. Dezember wieder als gesetzlichen Feiertag zu erklären 16. Am 19. Dezember 1955 erklärte der Verfassungsgerichtshof, das höchste Gericht in Österreich: ,,§ 67 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1937, DRGBl. I, S. 1146, in der Fassung des § 6 des Staatsgesetzes vom 26. Juni 1945, StGBl. Nr. 31, wird als verfassungswidrig aufgehoben. Der Bundeskanzler ist verpflichtet, die Aufhebung unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen17."

Damit fiel jener Paragraph, der es ermöglichte, einen Priester sogar einzusperren, wenn er die religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung vornimmt, ohne daß die standesamtliche Trauung vorausgegangen ist, und von dem das Weißbuch der österreichischen Bischöfe sagt, daß er die in der "österreichischen Verfassung garantierten Grundrechte und Grundfreiheiten beschneidet". Gerade das hat der Verfassungsgerichtshof in seinen wesentlichen Entscheidungsgründen ausdrücklich bestätigt: "Es sind vor allem die Grundgedanken der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Religionsgesellschaften in der Religionsausübung und in der selbständigen Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten. Staatliche Bestimmungen über den Zeitpunkt der kirchlichen Eheschließung, die im Interesse der staatlichen Einrichtung der Zivilehe die kirchliche Eheschließung unmöglich machen, finden daher nicht ihre Deckung in der Ermächtigung des Staates, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten18." Am darauffolgenden Tag, am 20. Dezember 1955, beschloß der Nationalrat ein Gesetz, womit Bestimmungen zur Durchführung des Artikels 14 Vgl. die Berichte der Tageszeitungen vom 2. Juni 1955 über die Pressekonferenz, bei der das Weißbuch der Öffentlichkeit übergeben wurde; ferner Rene Marcic, Verstöße gegen die Rechtsordnung, in: "Der Staatsbürger", 8 (1955), 12. Folge. 15 Salzburger Nachrichten vom 12. September 1955. 18 BGBL Nr. 227/1955. 17 BGBL Nr. 46/1956; vgl. dazu auch meinen Artikel, Alfred Kostelecky, Die Situation Kirche - Staat seit dem Abschluß des Staatsvertrages von 1955, in: Religion, Wissenschaft, Kultur, 9. Jahrgang (1958), S. 145 ff. 18 Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19. Dezember 1955, G 9/55,

G 17/55.

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 225 26 des Staatsvertrages von 1955 hinsichtlich kirchlicher Vermögensrechte getroffen werden 19 • "Durch dieses Gesetz soll", wie wir im Ausschußbericht wörtlich lesen können, "der im Artikel 26, § 1, des Staatsvertrages begründete Anspruch der geschädigten Kirchen auf Wiedergutmachung ihrer Verluste, die durch nationalsozialistische Maßnahmen, insbesondere durch § 5 des Kirchenbeitragsgesetzes, eingetreten sind, gesetzlich festgehalten werden." Ist in beiden Fällen zwar die Wiedereinsetzung in die alten Rechte noch nicht gegeben, so wurde dadurch doch die grundsätzliche Anerkennung dieser Rechte ausgesprochen, die man bisher der Kirche gegenüber nicht zugeben wollte. Es war nun Sache des Staates, die entsprechenden Maßnahmen für eine endgültige Regelung zu treffen. Die überzeugung, daß dabei auch der Apostolische Stuhl bereit sein würde, über Wünsche, einzelne Bestimmungen der heutigen Lage besser anzupassen, zu sprechen und zu verhandeln, wurde kirchlicherseits im Weißbuch schon ausgesprochen 20. Die Worte, die bei Verabschiedung dieses Gesetzes vom Abgeordneten Dr. Withalm im Parlament gesprochen wurden, sollen nicht vorenthalten werden, weil sie jedem rechtlich denkenden Österreicher aus dem Herzen gesprochen sind: "Wenn wir daher heute das Bundesgesetz, womit Bestimmungen zur Durchführung des Art. 26 des Staatsvertrages hinsichtlich kirchlicher Vermögensrechte getroffen werden, beschließen, können wir dies in dem ehrlichen Gefühl tun, daß wir damit schreiendes Unrecht, das an unseren kirchlichen Religionsgesellschaften begangen wurde, beseitigen helfen.

Es erscheint mir ungemein beziehungsvoll, daß dieser Gesetzesbeschluß gerade mit der Veröffentlichung des Spruches des Verfassungsgerichtshofes zusammenfällt, der den berüchtigten § 67 des Personenstandsgesetzes als verfassungswidrig erklärt. Ich darf der großen Befriedigung der christlichen Bevölkerung Ausdruck verleihen, daß dieser Paragraph endlich gefallen ist. Es ist nur schade, daß nicht wir, die gewählten Vertreter des Volkes, uns dazu aufraffen konnten, das in Form eines Gesetzesbeschlusses zu erreichen, was nunmehr der Verfassungsgerichtshof als oberster Hüter von Recht und Ordnung auszusprechen gezwungen war 21 ." Soweit die gesetzlichen Maßnahmen. Die Vorbereitung der Nationalratswahlen vom Mai 1956 und der Wahl des Bundespräsidenten im Mai 1957 verlangsamte die Arbeit der gesetzBGBl. 296/1955. a.a.O., S. 30. 21 Stenographisches Protokoll, 91. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VII. Gesetzgebungsperiode, 20. Dezember 1955, S. 4056 ff. t8

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15 Kirche und Staat

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gebenden Körperschaften. Mit kirchlichen Belangen hatte sich das Parlament daher längere Zeit nicht beschäftigt. Erst am 10. Juli 1957 beschloß der Nationalrat die gesetzlichen Bestimmungen über die Pragmatisierung der Religionslehrer. Die gerichtliche Spruchpraxis setzt weiterhin mit Selbstverständlichkeit das Konkordat als geltendes Recht voraus. Die innerstaatliche Gültigkeit bestätigt neuerlich einen Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 12. Jänner 1956 (Z?24;/56), der eine Beschwerde der Finanzkammer der Diözese Seckau gegen den Bescheid des Bundesministeriums für Finanzen vom 21. Juli 1952, Zl. 170.301 - 34/52, mit Berufung auf Artikel XIII, § 2, des österreichischen Konkordates 1934 zurückweist. Der Oberste Gerichtshof (3 Ob 377/56) führt in der Begründung seines Beschlusses vom 19. September 1956 in der Rechtssache des Bistums Györ folgendes aus: "Es muß untersucht werden, nach welchen Normen sich die Verwaltung des katholischen Kirchenvermögens regelt. Diese Normen finden sich nach österreichischem Staatskirchenrecht in Art. XIII, § 2, des Konkordates 1934. Unabhängig von der Frage, ob infolge der staatlichen Umwälzungen seit 1934 das Konkordat noch völkerrechtlich verbindlich ist, muß die innerstaatliche Wirksamkeit als österreichische Rechtsnorm jedenfalls hinsichtlich jener Bestimmungen des Konkordates anerkannt werden, die nicht durch eine seit 1934 erlassene Rechtsnorm wieder aufgehoben oder abgeändert worden sind. Hinsichtlich der Bestimmungen über die Verwaltung und Vertretung des Kirchenvermögens nach Art. XIII, § 2, trifft dies aber nicht zu, sodaß diese Bestimmungen als österreichische Rechtsnormen Anwendung zu finden haben." In einem anderen Entscheid führt der Oberste Gerichtshof den Abs. 3 des Art. XIV des Konkordates vom 5. Juni 1933 (BGBL 1934/II/Nr. 2) als geltendes Recht an 22 • Aber auch die Bundesregierung und einzelne Ministerien vollziehen in der Zeit nach 1955 Handlungen, die inhaltlich eine Wiederherstellung des Konkordatsrechtes oder doch eine Angleichung an dieses sind. Die Bundesregierung beschließt am 4. Oktober 1956 die Errichtung einer katholischen Militärseelsorge. Ein Erlaß des Innenministeriums aber verdient besondere Erwähnung. Im Frühjahr 1956 beschlossen die österreichischen Bischöfe, infolge der Aufhebung des § 67 PStG, die Seelsorger anzuweisen, daß die kirchliche Trauung dann vorausgehen darf, wenn kirchliche und standesamtliche 22

Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 14. Mai 1958

(2

Ob 143/58).

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 227 Trauung an einem Tag festgesetzt sind. Doch wird der Trauschein vom Pfarramt erst ausgefolgt, wenn der Nachweis der standesamtlichen Trauung erbracht werden kann. Gleichzeitig ersuchten die Bischöfe den Herrn Innenminister, eine Weisung an die Standesbeamten zu erlassen, wonach bei der standesamtlichen Trauung Ringwechsel, Ansprache und andere Feierlichkeiten nur dann vorzunehmen sind, wenn diese ausdrücklich verlangt werden; denn auch § 444 und § 449 der bisherigen Dienstanweisung schreiben dies nicht als verpflichtend vor und die im Fachorgan der Standesbeamten in letzter Zeit vertretenen Auffassungen gehen ohne Zweifel über die §§ 444 bis 449 ihrer Dienstanweisung hinaus 23 • Daraufhin erging vom Bundesministerium für Inneres am 28. Juni 1956 unter der Zahl 64.469-9/56 ein Erlaß, der allen Brautleuten bekannt sein sollte und deshalb im Wortlaut hier wiedergegeben wird: "Aus gegebenem Anlaß wird darauf aufmerksam gemacht, daß durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19. Dezember 1955, mit dem der § 67 des Personenstandsgesetzes als verfassungwidrig aufgehoben wurde (vgl. die Kundmachung des Bundeskanzleramtes vom 29. Februar 1956, BGBL Nr. 46), die Vorschriften des Ehegesetzes 1938, des Personenstandsgesetzes und der hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen im übrigen nicht berührt worden sind. Das zitierte Erkenntnis hat lediglich zur Folge, daß die religiösen Feierlichkeiten der Eheschließung auch schon vor der standesamtlichen Trauung vorgenommen werden dürfen. Hingegen ist die Ehe auch in Zukunft für den staatlichen Bereich nur dann gültig und kann nur dann rechtliche Wirkungen herbeiführen, wenn sie vor dem zuständigen Standesbeamten geschlossen wird. Auch die Vorschriften über die Form der Eheschließung haben keine Änderungen erfahren. Insbesondere steht die Bestimmung des § 8 des PStG, derzufolge die standesamtliche Eheschließung in einer der Bedeutung der Ehe entsprechenden würdigen und feierlichen Weise vorgenommen werden soll, nach wie vor in Kraft. Die Durchführungsbestimmungen der §§ 444 und 449 der Dienstanweisung enthalten zum Teil bindende Anweisungen; zum anderen Teil erklären sie eine weitergehende Ausgestaltung der Trauung für zulässig. Als verpflichtend ist die Anordnung anzusehen, daß die Feierlichkeiten bei der Eheschließung eine würdige Gestalt von besonderer Eigenart erfahren sollen, daß die Trauung nach Möglichkeit in einem würdigen Raum stattfinden soll, daß der Standesbeamte, wenn die Gemeinde dies anordnet, eine Amtstracht zu tragen hat und daß der Standesbeamte nach Entgegennahme der Konsenserklärung den Eheleuten seine Glückwünsche aussprechen soll. Hingegen sind die Ausschmückung des für die Eheschließung verwendeten 23

15·

Österreichisches Standesamt, 9 (1955), S. 64 f., und 10 (1956), S. 10 ff.

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Raumes mit Blumen, die Trauungsansprache des Standesbeamten sowie die Erfüllung der noch darüber hinausgehenden Wünsche der Brautleute, unter denen vor allem der Ringwechsel zu erwähnen wäre, lediglich als zulässig erklärt. Wenngleich der Standesbeamte so hin verpflichtet ist, im Rahmen der vorstehenden Ausführungen von sich aus für einen würdigen Verlauf der Trauung zu sorgen, die im Sinne des Gesetzes nicht bloß eine nüchterne Amtshandlung darstellen soll, wird er dennoch den Wünschen der Brautleute, soweit sie nicht zwingenden Vorschriften zuwiderlaufen, auch dann Folge zu leisten haben, wenn diese etwa eine Beschränkung der Feierlichkeiten, wie z. B. das Unterbleiben einer Trauungsansprache oder eines Ringwechsels, verlangen. Ebenso wäre der Standesbeamte nur dann berechtigt, auf die Kleidung der Brautleute einen Einfluß zu nehmen, wenn diese etwa geeignet wäre, die Wünsche oder den Anstand des Amtes zu verletzen. Er wird also die Vornahme der Trauung nicht etwa aus dem Grunde ablehnen können, weil die Brautleute in Straßenoder Sommerkleidung erscheinen24 ." Die in den Jahren 1938 bis 1945 aufgehobene Bestimmung des Artikels XX des Konkordates, die vorsieht, daß im Falle der strafgerichtlichen Belangung eines Geistlichen das staatliche Gericht den zuständigen Ordinarius zu verständigen und die Ergebnisse der Voruntersuchung wie des Urteiles mitzuteilen hat, wird durch einen Erlaß des Bundesministeriums für Justiz unter Zl. 12.476-9 b vom 31. Juli 1956 vollinhaltlich, aber ohne ausdrückliche Erwähnung des Konkordates, wiederhergestellt. Wir können also feststellen, daß seit dem Staatsvertrag auf dem kultusrechtlichen Sektor mehr Fortschritte gemacht worden sind wie in den zehn Jahren vorher. Wie erfreulich diese Feststellung auch ist, so ändert sie aber nichts an der Tatsache, daß eine dem Konkordat entsprechende Regelung in der Schul- und Ehefrage ebenso noch ausstand wie die Wiedergutmachung für die der Kirche entzogenen Vermögen 25 • Auf der politischen Ebene zeigte sich seit dem Staatsvertrag ein wachsendes Verständnis dafür, daß man das Verhältnis von Kirche und Staat auf eine befriedigende Grundlage stellen muß. Hatte man 1945 im Koalitionspakt vereinbart, über kulturpolitische Fragen überhaupt nicht zu reden, so war man 1949 zwar grundsätzlich zum Gespräch bereit, zum Handeln aber kam es mit Ausnahme der Religionsunterichtsnovelle 1949 nicht. In entscheidenden Punkten war eine einheitliche Meinung in der Koalition nicht erzielbar, sie scheiterte meist an der Junktimierung mit einer anderen nicht auf dem Kultussektor liegenden Forderung. Die Abgedruckt in: Linzer Diözesanblatt, 102 (1956), S. 156 f. Vgl. das Kommunique der Bischofskonferenz vom 16.117. Oktober 1956 und der Bischofskonferenz vom 9./10. Apri11957. !4 25

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 229 Regierungserklärung vom 4. Juli 1956 ließ ernste Hoffnung auf eine Änderung schöpfen. Der Bundeskanzler Dr. Julius Raab erklärte namens der Regierung: "Auf manchen Gebieten muß noch die deutsche Gesetzgebung durch eine moderne österreichische ersetzt werden. Das ist auch auf dem Gebiete der Schul- und Kulturgesetzgebung der Fall. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß es möglich sein wird, die ungeklärten Fragen einer einvernehmlichen Lösung zuzuführen und das Verhältnis zwischen Österreich und der katholischen Kirche sowie das Verhältnis zur evangelischen Kirche auf neue, dauerhafte Grundlagen zu stellen26 ." In den Herbst des Jahres 1956 fällt auch die Veröffentlichung des Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe vom 16. Oktober, von dem gesagt wird, er wäre eine Etappe auf dem Weg der Verständigung gewesen27 • Besondere Bedeutung auf diesem Weg kommt den Worten des neugewählten Bundespräsidenten, Dr. Adolf Schärf, am Tage seiner Angelobung am 22. Mai 1957 zu: "Ich bin froh darüber, daß in unserem Lande in Kulturfragen ein anderes Klima hergestellt ist, als es früher herrschte. Ich will alles daransetzen, daß in diesem Klima eine Regelung des Verhältnisses zwischen dem Staat und der römisch-katholischen Kirche erfolgt, ohne daß dabei Sentimentalitäten von einst geweckt werden2B ." Die Zeit schien reif geworden zu sein für eine einvernehmliche Regelung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, um ein Zusammenwirken zum Wohle beider zu garantieren.

III. Die Anerkennung durch die Bundesregierung Wenige Tage später, am 28. Mai 1957, beschloß der Ministerrat, die Lösung der Konkordatsfrage in Angriff zu nehmen. Es wurde ein Ministerkomitee eingesetzt, das sich am 17. Juli 1957 konstituierte. Am 19. Dezember 1957 billigte dieses Komitee den Entwurf einer Note an den Heiligen Stuhl, die am 21. Dezember 1957 durch den österreichischen Botschafter beim Heiligen Stuhl dem Staatssekretariat Sr. Heiligkeit überreicht wurde. In dieser Note teilt die österreichische Bundesregierung mit, sie habe "den einstimmigen Beschluß gefaßt, anzuerkennen, daß das Konkordat vom 5. Juni 1933 gültig sei". Die Note stellt die Antwort auf eine Reihe diplomatischer Noten des Vatikans an die österreichische Regierung dar. Schon im Jahr 1950 hatte der Hl. Stuhl die Ein28

27 28

Wiener Zeitung, Nr. 154, vom 5. Juli 1956, S. 3. Die Presse, vom 2. Juni 1962. Wiener Zeitung, Nr. 120, vom 23. Mai 1957, S. 2.

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haltung des Konkordates urgiert. Da zu dieser Zeit aber die Auswärtigen Angelegenheiten und die Fragen der Gesetzgebung und der Verwaltung der Republik Österreich der Kontrolle der Besatzungsmacht unterworfen waren, enthielt sich der Hl. Stuhl jeder öffentlichen Handlung, die dem Ansehen der österreichischen Republik hätte schaden können. Am 15. Mai 1955 erlangte Österreich seine Unabhängigkeit wieder. Damit hörten jene Schwierigkeiten gegenüber der Anerkennung des Konkordates auf, die das Bundeskanzleramt in seiner Note vom 8. März 1950 der Kontrolle der Besatzungsmächte über die öffentlichen Angelegenheiten der Republik zugeschrieben hatte. Von da an hat der Hl. Stuhl bei jeder günstigen Gelegenheit seine eindringlichen Forderungen gegenüber der östrereichischen Regierung erneuert, um endlich die geschuldete Anerkennung und die daraus folgende Erfüllung der Konkordatsverpflichtungen zu erlangen. Aber die Lage erfuhr zunächst keine Änderung. Nach so vielen Mahnungen und nach geduldigem, durch zehn Jahre fortgesetztem Warten hielt der Hl. Stuhl den Augenblick für gekommen, um von der österreichischen Regierung eine endgültige Antwort zu verlangen. Zu diesem Zweck richtete das Staatssekretariat an die österreichische Botschaft unter dem 29. Juni 1956 eine ausführliche Note; da es darauf keine entsprechende Antwort erhielt, bestand es mit einer weiteren Note vom 22. September 1956 auf seinem Begehren, indem es die österreichische Regierung einlud, zu erklären, ,,1. ob sie die Gültigkeit des Konkordates anerkenne, das im Jahre 1933 rechtsgültig abgeschlossen und im Jahre darauf in den erforderlichen Formen ratifiziert wurde, 2. ob sie die Bestimmungen desselben einzuhalten beabsichtige." Auch auf diese zwei klaren Fragen wurde keine befriedigende Antwort erteilt. Deshalb hat das Staatssekretariat am 20. Nov. 1956 neuerdings die "anormale Situation bedauert, die in Österreich eingetreten ist, wo, während der Hl. Stuhl sich gewissenhaft an die Konkordatsbestimmungen hält, die Regierung nicht wenige und sehr wichtige ihrer Verpflichtungen verletzt". Der Hl. Stuhl erklärte daher, während er die Gültigkeit und das Inkraftbleiben des Konkordates neuerdings bekräftigte, er betrachte sich frei von der praktischen Erfüllung der Konkordatsbestimmungen, solange von der österreichischen Regierung die Gültigkeit und das Inkrafttreten des Konkordates nicht offen anerkannt werde. über ein Jahr verging, ohne daß diese Noten beantwortet wurden. In der oben erwähnten Antwortnote vom 21. Dez. 1957, mit der das Kon-

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 231 kordat zwar anerkannt wurde, ersuchte die Bundesregierung aber gleichzeitig, mit Rücksicht auf die inzwischen eingetretenen Änderungen der Verhältnisse mit dem Hl. Stuhl in Verhandlungen über ein neues Konkordat, das alle wichtigen Materien, wie insbesondere die Ehe- und Schulfrage, enthält, einzutreten. Sie erklärte ferner, sie werde bemüht sein, innerhalb des nächsten Jahres die in ihrem Wirkungsbereich gelegenen Voraussetzungen zu schaffen, damit die Verhandlungen zu einem beiderseitig befriedigenden Ergebnis führen können. Der Heilige Stuhl bestätigt schon in der Note vom 30. Jänner 1958 den Empfang der Note der österreichischen Bundesregierung. Ausführlich wird darin der bisherige Notenwechsel zwischen der österreichischen Bundesregierung und dem Staatssekretariat Seiner Heiligkeit wiedergegeben. "Ferner nimmt das Staatssekretariat mit Vergnügen vom einstimmigen Beschluß der österreichischen Bundesregierung zur Kenntnis, die Gültigkeit des Konkordates vom 5. Juni 1933 anzuerkennen. Es kann jedoch nicht umhin, zu betonen, daß Anerkennen des Konkordats nach den fundamentalen Regeln der Logik und des Rechts bedeutet: Anerkennen der übernommenen Verpflichtungen und Pflicht, dieselben einzuhalten. Es ist außerdem klar, daß ein internationaler Vertrag, der als gültig anerkannt wurde, die hohen vertragsschließenden Teile verpflichtet, alle jene rechtlichen Mittel oder Handlungen in die Tat umzusetzen, die notwendig sind, um die Einhaltung der Konkordatsverpflichtungen zu sichern." Im Schlußteil der Note erklärt das Staatssekretariat ausdrücklich: "daß es bereit ist, mit der österreichischen Regierung zu verhandeln, um beim Konkordat jene Retouschen, das heißt kleine Abänderungen, anzubringen, die für notwendig erachtet werden könnten, immer unter der Voraussetzung, daß seitens der österreich ische Bundesregierung volle Vertragstreue gegenüber den feierlich übernommenen Verpflichtungen an den Tag gelegt wird, eine Vertragstreue, die die unerläßliche Grundlage in der Rechtsordnung und in der zwischenstaatlichen Ordnung ist"29. Österreichische Politiker zeigten sich über die Antwortnote des Heiligen Stuhls überrascht und enttäuscht. Andere waren überrascht, daß man überrascht war. Denn die Haltung des Heiligen Stuhls war klar und deutlich bestimmt durch die Enzyklika "Summi Pontificatus", in der Papst Pius XII. zu Beginn seines Pontifikats am 20. Oktober 1939 die Grundsätze über den Abschluß und die Auflösung von Konkordaten festlegte: "Es kann wohl geschehen, daß im Laufe der Zeit und unter 28 Die beiden Noten wurden im vollen Wortlaut in der Wiener Zeitung Nr. 54 am 6. März 1958 veröffentlicht. Aljred Kostelecky: Die Anerkennung des österr. Konkordats vom 5. Juni 1933 und die Verträge der Republik Österreich mit dem Hl. Stuhl von 1960 und 1962, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien

1965, S. 431 ff.

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wesentlich veränderten Umständen, die beim Vertrags abschluß nicht vorgesehen waren und vielleicht nicht vorgesehen werden konnten, ein Vertrag oder einzelne Bestimmungen desselben wirklich oder scheinbar ungerecht, unausführbar, allzu drückend für einen Vertragspartner werden. Wenn ein solcher Fall eintreten sollte, müßte zeitlich durch ehrliche Verhandlungen der Vertrag geändert oder durch einen neuen ersetzt werden. Aber von vornherein Verträge als etwas Vorübergehendes ansehen, sich stillschweigend das Recht zu einer einseitigen Lösung vorbehalten, sobald es nützlich dünkt, hieße jedes gegensetiige Vertrauen von Staat zu Staat zerstören. Das wäre das Ende der naturgewollten Ordnung und es bleiben nur noch unüberbrückbare Trennungsgräben zwischen den Völkern und Nationen." Die eingetretene Stockung konnte durch die österreichische Bundesregierung am 17. März 1959 überwunden werden. Sie beschloß nun, unter Zitierung der betreffenden Konkordatsbestimmungen den Heiligen Stuhl zu ersuchen, die bisherige Apostolische Administratur Burgenland zum Rang einer Diözese zu erheben. Rom reagierte rasch und freundlich und schlug vor, gleichzeitig mit dieser Frage auch die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu ordnen. Daraufhin faßte die Bundesregierung am 21. April 1959 den Beschluß, in solche Verhandlungen einzutreten und regte die Entsendung einer Delegation nach Rom an. Am 9. Mai 1959 antwortete Rom, daß es zweckmäßiger wäre, diese Verhandlungen vorerst zwischen der österreichischen Regierung und der Apostolischen Nuntiatur in Wien zu führen. Die äußerst schwierige Regierungsbildung nach den Wahlen vom 10. Mai 1959 ließ die Verhandlungen zwischen Außenministerium und Nuntiatur erst im November richtig anlaufen. Um die Jahreswende waren die Vorverhandlungen abgeschlossen und nach Zustimmung Roms die Vertragstexte im Frühjahr 1960 fertiggestellt. Nach Überwindung letzter Hindernisse genehmigte der Ministerrat die Verträge und ersuchte den Bundespräsidenten, er möge den Außenminister und den Unterrichtsminister zur Unterzeichnung ermächtigen. IV. Die Anerkennung durch den Bundesgesetzgeber

Am 23. Juni 1960 unterzeichneten der Apostolische Nuntius Erzbischof Dellepiane, die Minister Dr. Kreisky und Dr. Drimmel die Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen30 und betreffend die Erhebung der Apostolischen Administratur Burgenland zu einer Diözese31 • Der Nationalrat gab am 12. Juli 1960 die verfassungsmäßige Zustimmung. Die Bedeutung dieses historischen Ereignisses würdigte im Parao BGBl. 195/1960. 31

BGBl. 196/1960.

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 233

lament der Abgeordnete Dr. Ludwig Weiss von der Österreichischen Volkspartei mit folgenden Worten: "Meine Damen und Herren! Wir müssen uns aber doch bewußt sein, daß der heutige Tag für Österreich ein historischer Tag ist, und zwar aus zwei Gründen. Unter Konkordat versteht man ein völkerrechtliches, im gegenseitigen Einvernehmen erstelltes Vertragswerk zwischen einem Staat und dem Heiligen Stuhl. Es sind also zwei, heute allerdings nur Teilgebiete umfassende Konkordate, denen wir die verfassungsmäßige Zustimmung auf Grund des Artikels 50 des Bundes-Verfassungsgesetzes geben. Meine Damen und Herren! Es ist das erste Mal in Österreich, daß ein frei gewähltes Parlament ein Konkordat ratifiziert. Auch in der österreichischen Monarchie ist das nicht vorgekommen. Das österreichische Konkordat vom Jahre 1855 wurde nur als Kaiserliches Patent erlassen und von keiner Volksvertretung gutgeheißen. An der Rechtsgültigkeit der beiden heute zu genehmigenden Verträge wird also hoffentlich in der Zukunft kein Zweifel bestehen. Aber noch in einem anderen Sinn ist der heutige Tag bedeutungsvoll. Ich bin doch der Meinung, daß mit dem heutigen Tage das josephinische Staatskirchenturn oder, sagen wir, die letzten Reste des josephinischen Staatskirchenturns überwunden sind. Die Kirche ist nun nicht mehr Dienerin des Staates, sie ist nicht mehr die sogenannte "schwarze Gendarmerie", die für die Moral des Volkes sorgt, wie es sich der Absolutismus vorgestellt hat. Sie besitzt nunmehr ihre innere und äußere Freiheit. Die österreichische Gesetzgebung ist nun mit dem Rechtsstatus in Einklang gebracht worden, den die katholische Kirche überall in der freien Welt genießt. Es stehen sich nun eben eine souveräne Kirche und ein souveräner Staat gegenüber, die die gemischten Gebiete einvernehmlich und übereinstimmend in einem Konkordat regeln. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den Beziehungen, wie sie bisher zwischen Staat und Kirche bestanden haben. " Auch der Sprecher der Sozialistischen Partei, Dr. Neugebauer, erörterte an diesem Tag ausführlich das Verhältnis von Kirche und Staat in Österreich und machte dabei die bemerkenswerte Feststellung: "Die Vereinigten Staaten haben Staat und Kirche voneinander getrennt. Unsere Tradition ist eine andere, für uns existiert das Prinzip des Zusammenwirkens32 ." Das Parlament war sich, wie die Worte der beiden Hauptredner der Koalitionsparteien zeigen, der prinzipiellen Bedeutung dieser Verträge für das Verhältnis von Kirche und Staat wohl bewußt, wenn auch der 3!

Stenographische Protokolle, IX. GP. 37. Sitzung, S. 1481 f.

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Inhalt der Abmachungen vornehmlich materieller Natur ist. So wird der Kirche als Entschädigung für die in der NS-Zeit entzogenen Vermögen und Rechte jährlich ein Betrag von 100 Millionen Schilling zur Verfügung gestellt. Ferner geht der Religionsfonds, der unter Josef H. aus eingezogenen Kirchengütern für die Besoldung des Klerus geschaffen wurde und der bis 1938 vom Staat für die Kirche verwaltet worden war, nunmehr zu 90 Prozent in den Besitz des Staates über. Es handelt sich beim Religionsfonds um einen Grundbesitz von 56 000 ha Wald und 4 500 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche. 10 Prozent davon, das sind 5600 ha Wald, werden der Kirche zur Erhaltung jener Gebäude überlassen, die bisher dem Religionsfonds unterstanden und nunmehr in kirchlichen Besitz übergehen, da sie in kirchlicher Verwendung stehen. Es sind dies 36 Kirchen, 7 Klöster und 29 Pfarrhöfe. Gleichzeitig wird dem Erzbischof von Salzburg, der durch den Reichsdeputationshauptschluß vom Jahre 1803 seinen gesamten Besitz verloren hatte, die von ihm in Nutzung stehenden Gebäude übertragen und ein Mensalgut von 560 ha Wald aus dem Religionsfonds übergeben. Für das Konkordat vom 5. Juni 1933 aber von prinzipieller Bedeutung ist, daß der Vermögensvertrag ausdrücklich in Abänderung verschiedener Bestimmungen des Konkordates vom 5. Juni 1933 abgeschlossen wurde. In den ersten Entwürfen war diese Absichtserklärung für die Präambel des Vertrages vorgesehen. Im Vertrags text selbst, dem der Nationalrat am 12. Juli 1960 zustimmte, ist sie in Artikel I des Vertrages formuliert und somit unmittelbar Gegenstand des Vertrages. Das Rechtslexikon kommentiert diese Tatsache wie folgt: "Dem kirchlichen Vermögensvertrag vom Jahre 1960 kommt über seinen Vertragsinhalt hinaus besondere Bedeutung deshalb zu, weil mit ihm die völkerrechtliche und auch die prinzipielle innerstaatliche Gültigkeit des Konkordates 1933 vom staatlichen Vertragspartner anerkannt worden ist und weil jener Vertrag darüber hinaus auf dem Weg der Teillösungen in der Konkordatsfrage die erste Stufe dargestellt hat, auf die im Jahre 1962 die zweite Stufe, nämlich die Schul konvent ion gefolgt ist33 •" Der 12. Juli 1960 stellt daher einen entscheidenden Wendepunkt in der österreichischen Konkordatspolitik dar. Jetzt erst war das Klima geschaffen, ein gedeihliches Gespräch über andere kulturpolitische Fragen zuführen. Der Abschluß der beiden Verträge hat - wie bereits zitiert - auch das Tor geöffnet für die seit 1920 ausstehende Schulreform. Am 9. Juli 1962 konnte der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik 33 Rechtslexikon, a.a.O., unter dem Abschnitt "Katholische Kirche (42)"; vgl. auch Ludwig Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, Wien 1971, S. 548 f., Anm. 81.

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 235 Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen34 abgeschlossen werden. Der Vertrag nimmt im wesentlichen die durch das Religionsunterrichtsgesetz aus 1949 geschaffene rechtliche Situation zur Kenntnis, ohne jedoch den Artikel VI des Konkordats außer Kraft zu setzen. Der Schulartikel des Konkordats hat daher weiterhin volle Geltung, sofern nicht ausdrücklich im neuen Vertrag Änderungen vermerkt sind. Diese Änderungen betreffen lediglich die Zur kenntnisnahme einer Möglichkeit der Abmeldung vom Religionsunterricht. Hinsichtlich der religiösen übungen wird bestimmt, daß sie im bisherigen Umfang gewährleistet werden. Neu und von prinzipieller Bedeutung ist die Subventionierung der katholischen Schulen. Dies insofern, weil der im Konkordat angeführte Grundsatz erstmalig verwirklicht wird, nämlich, daß der Staat von dem, was er sich durch die Existenz katholischer Schulen als Schulerhalter erspart, angemessene Zuschüsse an die katholischen Schulen leisten soll. Es wird also nicht nur grundsätzlich die übernommene Verpflichtung zu einer Leistung anerkannt, sondern diese auch tatsächlich im Ausmaß von 60 Prozent der Personalkosten erbracht. Am 25. Juli 1962 wurde dem Vertrag durch den Nationalrat die verfassungsgemäße Zustimmung erteilt, am selben Tag also, an dem die Volksvertretung die die österreichische Schulreform begründenden Gesetze angenommen hat. Das seit 42 Jahren in Aussicht gestellte Bundesverfassungsgesetz hinsichtlich des Schulwesens35 war bereits am 18. Juli 1962 beschlossen worden. Zwei Jahre später, am 7. Juli 1964, wurde ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich, betreffend die Erhebung der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch zu einer Diözese36 unterzeichnet. Dadurch wurde auch das Versprechen des Art. IU, § 2 des Konkordates vom 5. Juni 1933, insoweit es sich auf die Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch bezieht, erfüllt. Durch den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich37 betreffend die Errichtung einer Diözese Feldkirch vom 7. Oktober 1968 erhielt auch das Land Vorarlberg eine eigene Diözese. Am 29. September 1969 erhält der Vermögensvertrag einen Zusatzvertrag. Gemäß Artikel I dieses Vertrages wird der in Artikel U, Absatz 1, lit. a des Vertrages vom 23. Juni 1960 genannte Betrag von 34

35 35 37

BGBI. 273/1962. BGBl. Nr. 215/1962. BGBI. 227/1964. BGBI. 417/1968.

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50 Millionen auf 67 Millionen Schilling mit 1. Jänner 1970 erhöht. Bei den 100 Millionen, die der Kath. Kirche nach dem Vermögensvertrag Artikel II zu leisten sind, kam es "zu einer Zweiteilung der jährlichen staatlichen Leistungen: einmal wurde der Gegenwert der jeweiligen Bezüge von 1250 Kirchenbediensteten unter Zugrundelegung eines Durchschnittsbezuges als staatliche Leistung vereinbart, ohne daß hiedurch die alte Kongruagesetzgebung wiederum aufleben sollte, zum anderen wurde die Zahlung eines jährlichen Fixbetrages von 50 Millionen Schilling vorgesehen. Hiedurch wurde dem Gedanken Rechnung getragen, daß sowohl Leistungen für den kirchlichen Personal aufwand erbracht werden, wobei jedoch die Aufteilung des Gesamtbetrages innere Angelegenheit der katholischen Kirche blieb. Diese ständigen Leistungen des Bundes haben im Laufe der Jahre den typischen Charakter der anspruchsmäßigen Wiederherstellung verlorengegangener Rechte und den einer Entschädigung verloren. Dies kommt schon dadurch zum Ausdruck, daß die erforderlichen Budgetmittel im jeweiligen Bundesfinanzgesetz seit dem Jahre 1967 nicht mehr in Kapitel 26 Staatsvertrag, sondern in Kapitel 14 Kultus veranschlagt und somit für Kultuszwecke geleistet werden. Im Hinblick auf den Sachaufwand der katholischen Kirche wird sohin derzeit ein jährlicher Betrag von 50 Millionen Schilling geleistet. Dieser Sach- und Bauaufwand der katholischen Kirche ist seit dem Jahre 1960 bzw. 1958 ganz erheblich gestiegen. Abgesehen von den erhöhten Baupreisen ist dies auch auf den Baunachholbedarf zurückzuführen, der durch die jahrzehntelange Stagnation der Bautätigkeit und durch die Bevölkerungsumschichtungen usw. bedingt ist. Diese der Befriedigung religiöser Bedürfnisse der österreichischen Katholiken dienende Bautätigkeit muß als im öffentlichen Interesse gelegen angesehen werden, weil auch die katholische Kirche in Österreich gemäß Artikel II des Konkordates BGBL Nr. II Nr. 2/1934, öffentlich-rechtliche Stellung genießt. Der Heilige Stuhl hat daher im April 1969 die österreichische Bundesregierung um die Aufnahme von Verhandlungen zur Herbeiführung einer Erhöhung des gemäß Artikel II Abs. 1lit. a des kirchlichen Vermögensvertrages, BGBL Nr. 195/1960, geleisteten Fixbetrages von 50 Millionen Schilling ersucht. Diese Verhandlungen führten zum Ergebnis, daß im Hinblick auf die geltend gemachten Umstände und Erwägungen die Steigerung des Fixbetrages um ein Drittel gerechtfertigt und tragbar angesehen werden kann. Der vorliegende Zusatzvertrag, der am 29. September 1969 in Wien unterzeichnet worden ist, bedarf wegen seines gesetzvertretenden Charakters der Genehmigung des Nationalrates38 ." 38 Soweit die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage vom 22. 10. 1969 (1412 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates XI. GP.).

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 237 Daß es sich dabei um eine Anpassung an den seit 1960 geänderten Geldwert handelt, stellt jedoch Staatssekretär Dr. Heinrich Neisser schlicht und klar gemäß der amtlichen "Wiener Zeitung" vom 17. September 1969 fest: "Staatssekretär Dr. Neisser erklärte nach der Ministerratssitzung, daß sich das Kabinett auch mit einem Zusatzvertrag zu dem seit 1960 bestehenden Vermögensvertrag zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl befaßte. Die jährlichen staatlichen Zuwendungen an die katholische Kirche in Österreich sollen, so sagte er, dem seit 1960 geänderten Geldwert angepaßt werden. Sie würden sich daher von derzeit 50 Millionen S auf 67 Millionen S erhöhen39 ." Diese von einem Regierungsmitglied getroffene Feststellung entspricht auch der Meinung des seinerzeitigen Leiters des Kultusamtes, Sektionschef Dr. Josef Rieger, die er in seinem Artikel im Österr. Archiv für Kirchenrecht 1964 vertrat, nämlich, "daß der kirchliche Vermögensvertrag einen solchen Aufwertungsanspruch nicht ausschließt"40. Dem Zusatzvertrag vom 29. September 1969 gab der Nationalrat am 12. Dezember 1969 die verfassungsmäßige Genehmigung. Die Ratifikationsurkunden wurden am 23. Februar 1970 ausgetauscht41 • Ein weiterer Zusatzvertrag folgt schon am 8. März 1971 zum Schulvertrag vom 9. Juli 1962. In diesem Vertrag wird die übernahme des 100 Ofoigen Personalaufwandes der Kath. Schulen mit Öffentlichkeitsrecht statt bisher 60 Ofo und die Bemessung nach den Lehrerdienstposten des Schuljahres 1971/72 wird fallengelassen, so daß jeweils alle Lehrerdienstposten zur Verfügung gestellt werden, die zur Erfüllung des Lehrplanes erforderlich sind. Das Inkrafttreten wurde mit 1. September 1971 vereinbart. Durch Neuwahlen im Herbst 1971 wurde die parlamentarische Behandlung des Vertrages verzögert. In einem Protokoll zum Zusatzvertrag wurde daher am 25. April 1972 festgestellt, daß die Bezahlung des Betrages, der über die im Artikel II, § 2, des Vertrages vom 9. Juli 1962 vorgesehenen Leistung hinausgeht, für das Schuljahr 1971/72 am 1. Juli 1972 an die Kath. Kirche erfolgen wird. Nach der verfassungsmäßigen Genehmigung durch den Nationalrat am 30. Mai 1972 erfolgte der Austausch der Ratifikationsurkunden am 10. Juli 1972. Zum sechstenmal unterzeichnet der Apostolische Nuntius Erzbischof Dr. Opilio Rossi am 9. Jänner 1976 einen Vertrag des Hl. Stuhls mit der Republik Österreich. Es ist der 2. Zusatzvertrag zum kirchlichen Ver39 40 41

Wiener Zeitung, Nr. 215, vom 17. September 1969, S. 2.

Rieger, a.a.O., Seite 54. BGBl. 107/1970.

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mögensvertrag vom 23. Juni 1960, den noch sein Vorgänger Erzbischof Giovanni Dellepiane zusammen mit dem Vertrag betreffend die Erhebung der Apostolischen Administratur Burgenland zu einer Diözese42 unterfertigt hat. Die amtliche "Wiener Zeitung" vom 10. Jänner 1976 berichtet über den Inhalt dieses Vertrages und die Ansprache des Apostolischen Nuntius anläßlich der Unterzeichnung folgendes: "Durch den Vertrag soll der auf Grund des kirchlichen Vermögensvertrages 1960 jährlich zu leistende Fixbetrag auf 97 Millionen S erhöht werden. Dadurch soll der seit dem ersten Zusatzvertrag eingetretenen Geltwertänderung wie auch der auf Grund der Judikatur zur Frage der privaten Patronate in öffentlicher Hand erfolgten Leistungsminderung Rechnung getragen werden. Für letzteren Zweck ist in der Erhöhungssumme ein Betrag von 1 Million S enthalten, wie in einem anläßlich der Unterzeichnung zwischen Außenminister Dr. Bielka und dem Apostolischen Nuntius Dr. Rossi vorgenommenen Briefwechsel festgehalten wurde ... In einer kurzen Ansprache anläßlich der Unterzeichnung des Zusatzvertrages beschäftigte sich Nuntius Dr. Rossi mit dem Stand der Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich. Er freue sich, betonte der Nuntius, bereits zum sechstenmal seit seiner Berufung nach Wien ein Zusatzabkommen zum Konkordat vom 5. Juni 1933 unterzeichnen zu können. Geregelte Verhältnisse zwischen Kirche und Staat - so der Apostolische Nuntius - entsprächen dem Völkerrecht, sie dienten aber gleichzeitig auch dem Gemeinwohl, "das für Staat und Kirche ein Maßstab für den Dienst am Menschen ist". Ausdrücklich betonte Erzbischof Rossi, daß das Konkordat in verschiedenen Bereichen der heutigen Rechtsordnung angepaßt worden sei, dies gelte allerdings nicht für das Eherecht. Wörtlich erklärte Rossi in diesem Zusammenhang: "Die Ehe ist eine wesentliche Voraussetzung der Familie, damit ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und so eine Grundlage des Staates. Ihre gesetzliche Neuregelung steht in Österreich bevor und ist auch heute deshalb erwähnenswert, weil das aus der NSZeit stammende Ehegesetz mit seiner obligatorischen Ziviltrauung dem Konkordat nicht entspricht. Die künftig zu findende Form der Eingehung der Ehe sollte daher sowohl dem Anspruch auf Rechtssicherheit wie auf Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen entsprechen43 ." Der Vertrag erhielt die parlamentarische Genehmigung am 31. März 1976. 42

43

BGBl. 196/1960.

Wiener Zeitung, vom 10. Jänner 1976, S. 3.

Anerkennung der Rechtsgültigkeit des österreichischen Konkordates 239 Es war ein weiter und oft schwieriger Weg, der zu der Unterzeichnung dieser acht Verträge geführt hat. In manchem war es auch ein neuer Weg, der den Mut verlangte, die Geduld und die Bereitschaft, ein rechtliches Problem mit Verhandlungen und wieder Verhandlungen zu lösen. Der besonderen Situation Österreichs entsprechend, waren dabei Verhandlungen auf zwei Ebenen notwendig. Bevor zwischen den beiden vertragsschließenden Partnern der Republik Österreich und dem Heiligen Stuhl, Verhandlungen mit Aussicht auf Erfolg überhaupt erst in Angriff genommen werden konnten, mußte die Position des einen Verhandlungspartners, nämlich der österreichischen Regierung, durch sehr langwierige und mitunter sehr schwierige Gespräche geklärt werden und die Koalition auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Auch auf der Ebene der völkerrechtlichen Verhandlungen zwischen Wien und Rom konnte die Lösung nicht dadurch gefunden werden, daß man staatlicherseits einseitig und unter Bruch der bestehenden Konkordatsbestimmungen die Materien neu ordnet und dann auf Grund feststehender Tatsachen den Abschluß eines neuen Konkordats begehrt. Diese acht Verträge sind der Beweis für die Möglichkeit eines einträchtigen Zusammenwirkens von Kirche und Staat auf der einen und von den politischen Kräften Österreichs auf der anderen Ebene. Sie sind ein entscheidender Beitrag zu einem kulturpolitischen Frieden, ein Beitrag, der auch geeignet ist, diesen Frieden in Zukunft zu erhalten und zu verstärken.

KIRCHE UND STAAT IN ÖSTERREICHISCHER DICHTUNG Von Eugen Thurnher

I. Zur Problemstellung Von Jakob Burckhardt wird uns das Diktum überliefert, daß die erste Frage bei jedem Kunstwerk für den Historiker die Frage nach dem Auftraggeber sein müsse. Wenn der Wortlaut, der nicht ganz genau feststeht, aber mit der geübten Methode Burckhardts völlig zusammenstimmt, nicht einfach so verstanden wird, daß wir Auftraggeber und Besteller gleichsetzen, sondern auch den inneren Auftrag unter der Äußerung begreifen, so hat der Ausspruch des großen Schweizer Kulturhistorikers bis auf den heutigen Tag nichts von seiner Gültigkeit verloren. Es ist eine Anmaßung, die Dichtung aus sich selbst begreifen zu wollen, die am allerwenigsten ihrem künstlerischen Charakter gerecht wird. Wirkliche Kunst entsteht nie um ihrer selbst willen, sondern aus den gestellten Aufgaben der Zeit, die der Künstler löst, indem er sie gestaltend bewältigt. Es ist allerdings eine Fehldeutung, aus dieser subjektiven Bewältigung einen objektiv gültigen Anspruch ableiten zu wollen, so als gelte es nur, die Lösungen einer bestimmten Zeit auf unsere Gegenwart zu übertragen. So einfach ist historische Kontinuität nicht zu gewinnen. Alle echte Kunst lehrt nicht durch das, was sie schafft, sondern setzt ein Vorbild, durch das Wie der Formung einer aufgeworfenen Frage. Sie will uns die Auseinandersetzung mit unserer Zeit nicht abnehmen, wohl aber tiefer in die Problemstellung hineinführen, auf die wir eine eigene Antwort zu finden haben. Das ist der höhere Auftrag, der in jeder wahren Kunst ausgesprochen ist. Dieser Bezug von subjektiver Verantwortung und objektiver Ordnung spielt zunächst im schöpferischen Akt selbst, aber er bestimmt nicht weniger die Wirkung, die von jedem Kunstwerk ausgeht. Wenn der Künstler auch nur im Hinblick auf sein Selbst die Wahrheit verwirklichen kann, so tritt er mit seiner Persönlichkeit doch ein in die Wertwelt, der, wenn auch nicht ein objektiver Anspruch, so doch eine intersubjektive Bedeutung zukommt. Diese Stellung, die aus der dialogischen Struktur jeder künstlerischen Äußerung entspringt, belastet den Dichter mit einer Verantwortung, die sich nur in der Anerkennung Gottes ausweisen kann. Mögen die Formen sich wandeln, so bleibt ihr letzter Wertmaßstab doch in der Tatsache begründet, daß sie das Absolute 16 Kirche und Staat

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in der Zeit zur Darstellung zu bringen suchen. Wo dieser Bezug fehlt, wo er nicht mehr gesehen oder gar bewußt mißachtet wird, ist die Kunst zutiefst in Frage gestellt. Sie wird zu einem Spiel, das jede Verbindlichkeit einbüßt, denn mit der Beziehung zur Transzendenz verliert sie auch die Möglichkeit der Mitgestaltung des Augenblicks. Zeit und Ewigkeit bleiben aufeinander angewiesen, wenn sie nicht zu reinen Kategorien abstrakten Denkens werden sollen. Der Kunst, die an beiden Anteil besitzt, fällt die Aufgabe der Vermittlung zu, wobei sie das Ewige um so gültiger begreift, je ernster sie sich mit der Zeit einläßt. Es versteht sich von selbst, daß dieser dialektische Prozeß sich nicht in einem Bereich völliger Abstraktion vollzieht, sondern sich den konkreten Mächten zu stellen hat, welche diese Wertvorstellungen in der Zeit verkörpern. Wir nennen sie in bewußter Vereinfachung Staat und Kirche, wobei wir der einen Institution die Verantwortung des irdischen Rechts, der anderen Einrichtung die Verwaltung der ewigen Güter zuschreiben. Die Geschichte zeigt, daß sich die beiden Bereiche nicht einfach trennen lassen, aber unsere Scheidung zielt auf Unterscheidung, die nicht die Erscheinung, sondern das Wesen meint. Was dabei für unsere Untersuchung gewonnen wird, ist ein Bezugssystem, das uns den historischen Vorgang nicht als eine bloße Abfolge von Fakten begreifen läßt, sondern uns die Möglichkeit erschließt, die Frage zu beantworten, was in der Zeit an Zeitlosem offenbar wird. Man kann es mit Leopold von Ranke die "Mär der Weltgeschichte" nennen oder mit Jakob Burckhardt in die Erkenntnis fassen: "Der Geist hat Wandelbarkeit, aber nicht Vergänglichkeit." In beiden Fällen wird uns die Gewißheit, daß das Vergängliche nur ein Gleichnis ist, in dessen Abglanz uns das Unvergängliche erscheint.

11. Kirchliche Mission und staatliche Ordnung Wir sprechen von Österreich. Und wir meinen den Staat. Wir sagen Kirche, die diesen Staat zu dem machte, was er ist. Das ist das eigenartige Paradox, das sich nicht auflösen läßt. Denn so eng sind beide miteinander verbunden. Das zeigen die Ursprünge, in denen wir den staatlichen und kirchlichen Bereich gar nicht genau zu trennen vermögen. Die deutsche Literatur in Österreich ist, so weit unser Blick zurückreicht, kirchliches Schrifttum. Am Anfang stehen Glossare, übersetzungen von lateinischen Wörtern und Begriffen in das schriftlose Deutsch, die zur Mission in den Donauländern und Alpentälern dienten. Aber der rein geistliche Vorgang führte bald zu einer bewußten Organisation des Raumes, welche den Grundriß der späteren staatlichen Bildungen vorzeichnete. Mittelpunkte dieser missionarischen Tätigkeit waren die Bischofssitze, Lauriacum, Salzburg und Passau, von denen aus die Besiedlung gelenkt wurde, die dem Land zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert

Kirche und Staat in österreichischer Dichtung

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sein Gesicht gab; die innere Ausgestaltung, Rodung und Gesittung, war das Werk der Klöster, die durch Tat und Vorbild die Aufgaben stellten; der ganze Prozeß vollzog sich mit der Bildung des Reiches, das Kontinuität und Neuansatz zugleich war, indem es die aus der römischen Vergangenheit ererbten und von der christlichen Kirche übernommenen Formen einer neuen politischen Zielsetzung zurüstete, die den ganzen Bereich des Abendlandes umgriff. Es ist ein Vorgang von atemloser Spannung, in dem die Kirche eine doppelseitige Aufgabe erfüllte. Sie ist die ordnende Trägerin der geistigen überlieferung und die bewegende Macht der staatlichen Neubildung. In unserem Raum kommt diese Entwicklung zu einem gewissen Abschluß, als im Jahre 996 der Name Ostarrichi-Österreich zum ersten Mal in einer Urkunde erscheint. Das bedeutet Abgrenzung, die das Land als feste Einheit umriß. Jetzt erfolgt der übergang der Literatur von reinem Zweckschrifttum zu bewußter Dichtung. Noch besitzen diese literarischen Zeugnisse einen streng geistlichen Inhalt, aber das Glaubensgut ist bereits fester Besitz geworden, über den der Dichter in einer persönlichen Weise verfügt. Der Wiener Codex aus dem 12. und die Millstätter und Vorauer Handschriften aus dem 13. Jahrhundert bewahren uns diese Dichtungen, die in ihrer Entstehung ins 11. und 12. Jahrhundert zurückgehen. Alle drei Handschriften berichten, wenn auch in abgewandeltem Wortlaut, von der ,Genesis', während uns der alttestamentliche ,Exodus' als Ganzes nur in der Millstätter und das ,Anegenge' als Gesamtdarstellung der Heilsgeschichte allein in der Vorauer Handschrift überliefert ist. Die persönliche Interpretation tritt zurück, in der Mitte steht die kirchliche überlieferung, die von Geistlichen einer gläubigen Gemeinde eindrücklich vorgestellt werden soll. Das ändert sich dort, wo der Dichter von einer heiligen Gestalt unmittelbar angesprochen wird. Wir meinen diesen eigenen Tonfall zuerst im Melker ,Marienlied' und in der ,Mariensequenz' aus St. Lambrecht zu hören, wo nicht mehr eine klösterliche Gemeinschaft spricht, sondern ein einzelner Dichter persönlich zur Gottesmutter redet. Das setzt ein neues Selbstbewußtsein voraus, das im staatlichen Bereich dadurch seine Entsprechung findet, daß die Babenbergische Mark 1156 zu einem selbständigen Herzogtum im Lehensverbande des alten deutschen Reiches erhoben wurde. Neue Aufgaben verlangen neue Menschen, sie bedingen aber auch eine Umgestaltung der alten Erbgüter zu neuen Werkformen. So wird in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vom neu emporgekommenen Stand der Dienstmannen die religiöse Beziehung von Mutter und Sohn im klösterlichen Bezirk auf das Verhältnis von Ritter und Dame im weltlichen Raum übertragen, ohne daß der dichterische Stil eine entscheidende Wandlung erfuhr. Die frouwe bleibt im donauländischen Minnesang bei Dietmar von Eist und dem Kürenberger ein unantastbares Ideal, von dem eine sittigende Kraft auf den Mann übergeht, ja von 16·

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Reinmar von Hagenau wird sie am Wien er Hof geradezu mit religiösen Attributen ausgestattet, die sie jedem irdischen Begehren entrücken. Erst bei Walther von der Vogelweide treten religiöse und weltliche Liebe in Widerstreit. Wir können diese Entwicklung aber nicht verstehen, ohne sie in Zusammenhang zu bringen mit dem Gegensatz der kirchlichen und der staatlichen Macht, der damals einem Höhepunkt zutrieb. Walthers Abwendung von der strengen Form des Minnesangs fällt zeitlich genau zusammen mit der Doppelwahl Philipps von Schwaben und Ottos des Welfen im Jahr 1198, in der das Papsttum seine Macht gegen das Reich einsetzte. Der Bruch erscheint unheilbar, dennoch aber bleibt es in den politischen Sprüchen das große Anliegen des Dichters, "ere" und "guot" und "gates hulde", Welt und Gott, zur übereinstimmung zu bringen. Und als der Kaiser sich 1215 an die Spitze der Kreuzzugsbewegung stellt und 1228 ins Heilige Land aufbricht, da singt Walther von der Vogelweide seine berühmte ,Elegie', die ein Aufruf an die österreichische Ritterschaft ist, die weltlichen Dinge fahren zu lassen und durch das Kreuz das ewige Heil zu erwerben. Inniger sind politisches Handeln und religiöser Auftrag nie miteinander verbunden worden. Aber der Bruch zwischen Staat und Kirche, der einmal offenbar geworden war, vermochte nie mehr ganz zu verheilen. Das verrät nicht nur die politische Lyrik der Folgezeit, sondern zeigt auch die Entwicklung, welche der Minnedienst von Neidhart von ReuenthaI und Ulrich von Lichtenstein bis zu Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein erfahren hat. Er verliert nicht nur seinen sakralen Charakter, sondern büßt auch seine erzieherische Aufgabe ein. In steigendem Maße wird er zum reinen Preis der sinnlichen Freuden zwischen Mann und Frau, die mit den sittlichen Forderungen der Kirche in einem unübersehbaren Widerspruch stehen. Eine neue weltliche Kultur hat sich entfaltet, bestimmt von den Trägern der staatlichen Macht, die keiner religiösen Begründung mehr zu bedürfen scheint. Nirgends zeigt sich das deutlicher als beim Herrschaftsantritt der Habsburger in Österreich im Jahre 1282. Es ist ein Belehnungsakt, der zwischen dem Vater und seinen Söhnen spielt, die Kirche bleibt dabei völlig ausgeschlossen. Das neue Herrschaftszentrum und die alte kirchliche Organisation kommen erst nach Jahrhunderten zur Deckung. Zunächst ist der Gegensatz die Signatur der Zeit. Das bedeutet freilich nicht, daß die kirchliche Kulturleistung völlig ausblieb, aber sie beschränkte sich auf Körperschaften, die sich ein gewisses Eigendasein im neuen Herrschaftsbereich sicherten. Es sind die Klöster und es sind die Städte. Von ihnen ging nicht nur eine große bildende Tätigkeit im späten Mittelalter aus, teils als Schulen der erstarrten Scholastik, teils als Bildungsstätten des beginnenden Humanismus, sondern sie entwickelten auch eine besondere Kunstform, die in den mittelalterlichen Spielen ihren Ausdruck fand. Es ist eine dialogische Kunst, die sich zur

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monologischen Dichtung der höfischen und ritterlichen Kreise in einen bewußten Gegensatz stellte, da sie von ganz anderen soziologischen Verhältnissen ausging. Ihren Anstoß erhielt sie von einer Gemeinschaft, deren glaubensmäßige überzeugungen und geschäftliche Interessen nach einem stetigen Ausgleich verlangten. In der Darstellung des Heilsvorgangs, in den sich jeder einzelne, ob Spieler, ob Zuschauer, selbst einbezogen fühlte, erlebte er eine Befreiung, die sein weltliches Tun vor den Hintergrund einer übergeschichtlichen Wahrheit stellte. Dieses Spiel hat so gut wie nichts mit dem antiken Drama gemein, denn es sucht die Klärung der menschlichen Problematik nicht im Bereich der innerweltlichen Kausalität, sondern gerade in der Aufhebung von Ursache und Folge durch die Wirkung der göttlichen Gnade. Von der Osterfeier, die im streng liturgischen Rahmen blieb, über das Osterspiel, das Welt und Gott in eine neue Korrelation brachte, bis zum Passionsdrama, das die ganze irdische Szene in den Erlösungsvorgang einbezog, spannt sich der Bogen der Entfaltung, den man nicht einfach als eine steigende Verweltlichung des biblischen Geschehens sehen darf, sondern als die fortschreitende Heiligung der Welt durch die Hinordnung auf Gott. So fallen auch die weltlichen Stücke nicht aus dieser Entwicklung heraus, denn sie bleiben, trotz ihrem mitunter zotenhaften Charakter, als Gegenbilder auf das Heilsgeschehen bezogen. Dennoch kann die Spannung nicht übersehen werden, die Welt und Gott, Staat und Kirche zerriß. Im Spiel ließ sich dieser Gegensatz für den einzelnen bewältigen, aber im Ganzen nicht auflösen. Die Versuche der Reform, die von den Kaisern ausgingen, wurden von den Päpsten verhindert. Die Lösung erfolgte in der Reformation, die jedoch nicht nur die abendländische Einheit zerbrach, sondern auch die künstlerischen Formen des Mittelalters in Abrede stellte. III. Gott und Mensch im Widerstreit

Schon das 15. Jahrhundert hatte nicht nur den Widerspruch zwischen Staat und Kirche, sondern auch die Antinomie von Hof und Stadt, Kanzel und Schule, Geistlichen und Laien in einem unerträglichen Maße verschärft. Der Humanismus, der an den Höfen von Wien, Graz und Innsbruck bedeutende Förderung erfuhr, berührte nur einen kleinen Kreis von Gebildeten, ließ aber breite Schichten des Volkes ohne jede Antwort. Die Berufung auf die Antike als menschlichem Vorbild brachte die Kirche in einen tiefen Zwiespalt. Die Bewahrung der Tradition des Altertums war im Mittelalter eine vordringliche Aufgabe der Kirche gewesen, jetzt aber erfuhr diese überlieferung eine neue Bewertung, die den zeitlosen Auftrag der Kirche in Zweifel zog. Die Antike ließ sich nicht mehr als entlegene Vergangenheit isolieren, sondern sie mußte in die gegenwärtige Kirche integriert werden, wenn die Kirche ihren Anspruch in Staat und Bildung weiter vertreten wollte. In umgekehrter

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Richtung verlangte auch die staatliche Macht nach einer neuen religiösen Grundlegung, sollte sie nach dem Auseinanderstreben von Kirche und Staat vor dem reinen Mißbrauch der Gewalt bewahrt werden. Leben und Werk Kaiser Maximilians lassen sich gerade unter dem Streben begreifen, Welt und Gott sowie Staat und Kirche zu einer neuen Einheit zu führen. Dabei ist sein Bemühen, die päpstliche Würde zu erlangen, nicht ein phantastischer Traum, sondern ein realpolitischer Plan auf dem Wege zu diesem Ziel. Auch seine Dichtung darf durchaus nicht als ein bloßes Spiel mißverstanden werden, sondern sie war Teil des Bestrebens, den Bruch der Zeiten zu überbrücken. Im ,Theuerdank', 1505/12, 1517 gedruckt, erzählt er seine Brautfahrt zu Maria von Burgund im Stil des mittelalterlichen Ritterepos und im ,Weißkunig', 1514, nach dem Tode des Kaisers ungedruckt, bedient er sich zur Darstellung seines Lebens der Form der antiken Biographie. In beiden Werken aber geht es darum, die Würde des Herrschers sakral zu begründen, wobei Genealogie und Exegese ein oft seltsames Bündnis eingehen. Die Phantasie, die oft skurril anmutet, steht dabei in einem genau überlegten Bemühen, den mittelalterlichen Ordo neu zu beleben. Mit der Reformation war diese Entwicklung an ein Ende gekommen. Welt und Gott wurden streng geschieden, Staat und Kirche treten in einen inneren Gegensatz, da die sakrale und die irdische Sphäre genau getrennt werden. Zu dieser Scheidung bildet die Gründung der Landeskirchen in den protestantischen Staaten keinen Widerspruch, sondern bedeutet vielmehr eine Bestätigung. Aber auch im katholischen Bereich gab es kein einfaches Zurück zum Gestern, keine bloße Erneuerung des mittelalterlichen Zustandes. Auch im Herrschaftsbezirk der Habsburger, die zur Stütze der alten Kirche in Europa geworden waren, bedurfte das Verhältnis einer neuen Begründung. Wie schwierig die Beziehung von Staat und Kirche geworden war, zeigt sich schon darin, daß sich die Päpste in den religiös bedingten Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts oft mit den protestantischen, ja sogar mit den außerchristlichen Mächten verbündeten. In Österreich standen die Kaiser vor der Aufgabe, das Land, dessen Stände sich zu großen Teilen der neuen evangelischen Lehre angeschlossen hatten, in die alte Kirche zurückzuführen. Dabei war die Verbindung der Habsburger mit Spanien nicht nur ein Vorteil, sondern oft eine Belastung, da die katholische Restauration sich nicht einfach nach den Gesetzen vollziehen konnte, die in einem Lande galten, das von der Reformation fast unberührt geblieben war. In der Literatur jedoch stiftete die Beziehung mannigfache Anregungen. So stand die Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts in Österreich in beträchtlichem Maße im Zeichen der konfessionellen Auseinandersetzung, wobei man aber die Treue zu Staat und Herrscher keineswegs mit dem katholischen Bekenntnis gleichsetzen darf. Auf der Seite der alten Kirche werden die neuen Orden, Jesuiten, Kapuziner und Barfüßer, die Führer

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der literarischen Bewegung. Dabei entwickeln sie einen Stil, der die Errungenschaften des Humanismus bewußt in sein Erbe aufnahm. Das zeigt sich gerade im Jesuitentheater, das keine Fortsetzung des mittelalterlichen Spiels darstellt, sondern viel eher an das antike Drama anknüpft. Seneca ist das große Vorbild, wobei Staatstreue und Sittenstrenge zu synonymen Begriffen werden. Zunächst pflegen die Jesuiten in ihren Schulen das humanistische Schuldrama, ohne Veränderung der Themen und des Stils, dann wird das Bühnenspiel zu einem Instrument der Apologetik, in der die Verteidigung und die Festigung des Glaubens durch anschauliche Beispiele gesucht wird, schließlich aber stellt der Orden sein Theater in den Dienst des Hofes, da er erkennen muß, daß der Staat allein die Freiheit und Ordnung der Kirche zu sichern vermag. Die Ludi Caesarei, deren großer Meister Nikolaus Avancinus in Wien geworden ist, stellen in symbolischen Handlungen die wiedergewonnene Einheit von Staat und Kirche dar, die aber nicht mehr in einer gleichlaufenden Verantwortung für den Menschen fußte, sondern auf der nüchternen Einsicht in den verwandten Zweck irdischer Macht beruhte. Im Bereich der Predigt vertrat der Augustiner-Barfüßer Abraham a Santa Clara ähnliche Vorstellungen, ein Volksredner großen Stils, der gerade in der Notzeit der Türkenbelagerung die sittlichen Kräfte des Widerstandes aufrief, da er Staat und Kirche von der gleichen Gefahr bedroht sah. Als Akt der inneren Einkehr verstanden die Kapuziner Laurentius von Schnifis und Procopius von Templin ihren Auftrag, die in lyrischen Gesängen die Erhebung der Seele zu Gott und die Herabkunft des Himmels auf die Erde feierten. Es wäre jedoch völlig ungerecht, wollte man den Beitrag des protestantischen Österreich an der Erneuerung von Staat und Kirche im 16. und 17. Jahrhundert übersehen. Aus der Ablehnung der alten Ordnung im 16. Jahrhundert ist schließlich eine positive Bewertung des Herrschers geworden, die freilich in der Fortdauer der religiösen Verfolgung zwischen Anerkennung der Legitimität und Verurteilung der Person schwankte. Die Vertreter dieser Haltung gehören meist zu den Kreisen des Landadels. In der Mitte steht der steirische Erbschenk Johann Wilhelm von Stubenberg, dichterisch nicht der Größte, aber von starker ausstrahlender Kraft, der durch seine Verbindung mit der Fruchtbringenden Gesellschaft in Weimar und durch seine Übersetzungen aus den romanischen Sprachen dem neuen Geist Eingang verschaffte. Als Künstler viel bedeutender sind das niederösterreichische Edelfräulein Katharina Regina von Greiffenberg, die, obwohl aus der Heimat vertrieben, in ihrem Reimgedicht ,Sieges-Säule der Buße und des Glaubens', 1675, zum Kampf gegen die Türken aufrief, und der oberösterreichische Landedelmann Wolf Helmhard von Hohberg, der, trotz religiöser Verfolgung, in seinem großen Epos ,Der Habsburgische Ottobert', 1663/64, das angestammte Herrscherhaus in einem mythischen Ahnherrn verherrlichte. Was für die beiden barocken Dichter sich noch

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VereInIgen ließ, das führte in der Aufklärung zur unausweichlichen Frage nach dem vernünftigen Bezug von Staat und Kirche. Diese Frage wird zuerst aufgeworfen auf den Brettern des Theaters. Für die barocke Bühne ist jede Handlung metaphysisch begründet, was sie von den Kategorien von Raum und Zeit unabhängig macht, in der Aufklärung wird sie motiviert aus der Wechselwirkung der berechenbaren Kräfte, so daß sie als kausale Kette im Reiche der Vernunft erscheint. An die Stelle der Religion tritt die Psychologie. Das führt auch im Bereich der poetischen Formen zur Ablösung des barocken Welttheaters, das sich ohne Grenzen über Diesseits und Jenseits erstreckt, durch die regelmäßige Tragödie, die einen geschlossenen innerweltlichen Vorgang zur Darstellung bringt. Der entscheidende Anstoß geht vom protestantischen Deutschland aus, wo Johann Christoph Gottsched dieser irdisch-vernünftigen Weltanschauung einen poetischen Regelkanon schafft. Die Vermittlung läuft über Josef von Sonnenfels, wobei aber nicht übersehen werden darf, daß Angehörige von kirchlichen Orden, Benediktiner und Jesuiten, an der Durchsetzung dieser Grundsätze stark beteiligt sind. Das wird uns nur verständlich, wenn wir diesen Vorgang in Zusammenhang bringen mit den Reformen in Schule und Bildung, die Kaiserin Maria Theresia zur gleichen Zeit in die Wege leitete. Bei aller persönlichen Frömmigkeit der Herrscherin zielen sie doch darauf ab, eine von den religiösen Ansprüchen gelöste, nur von den Postulaten der freien Vernunft gesteuerte Politik zu treiben, Kirche und Staat in ihren Wirkungsbereichen völlig zu trennen. Josef H. stetzt in seinen Neuerungen nur fort, was seine Mutter klar ins Auge gefaßt hatte. Die Kirche wird zur moralischen Anstalt, die den Bürgern jene Tugenden vermitteln soll, welche der Staat zur Entfaltung seiner Macht benötigt. Diese Grundsätze muß die Dichtung lehren, ihre Aufgabe besteht in der Erziehung sittsamer Untertanen, die das göttliche Gebot mit dem staatlichen Befehl gleichsetzen. Jede metaphysische Begründung des Staates wird verspottet, wofür Alois Blumauers ,Vergils Aeneis travestiert', 1784, ein sprechendes Beispiel ist. Die Verherrlichung von Kaiser J osef am Schluß, die scheinbar Vergils Feier des Cäsar Augustus folgt, darf nicht über den tiefgründigen Gegensatz hinwegtäuschen. Bei Vergil geht es um eine Begründung des Staates aus dem Mythos, dessen Verkörperung der Kaiser ist, für Blumauer ist der Preis des Herrschers eine Apotheose der Vernunft, nach deren Gesetzen er die Regierung führt. übersehen wir nicht, wie sehr dieser Geist das Beamtenturn des späten 18. Jahrhunderts durchdrungen hat, ja daß er auch auf der Wiener Bühne von Philipp Hafner, Cornelius Hermann von Ayrenhoff und Paul Weidmann bis zu Wolfgang Amadeus Mozart seine Triumphe feiert.

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IV. Von der Realität zum Symbol

Aber bei aller Vernunftgläubigkeit vermag der Österreicher die Welt doch nie als ein reines Produkt der menschlichen Freiheit zu begreifen, sondern versteht sie trotz ihrer offenkundigen Unvollkommenheit als Reich Gottes. Gerade neueste Untersuchungen haben gezeigt, daß sich der deutsche Idealismus gegenüber diesem naiven Seinsvertrauen in Österreich nie voll durchzusetzen vermag. Friedrich Schreyvogel wird zu einer Schlüsselfigur, da er in bewußtem Rückgriff auf das spanische Theater eines Calder6n die Realität als eine Erscheinung Gottes versteht, ohne aber die moralischen Errungenschaften seiner Vorgänger preiszugeben. Das führt in den Zauberspielen Ferdinand Raimunds zu einer unaufhebbaren Dualität von realistischem Vordergrund und metaphysischem Hintergrund, die auch noch das Los der Kleinen an ein Weltgesetz bindet, während Johann Nestroy in seinen Gesellschaftsstücken alle Moral als bloße Maske enthüllt, hinter der sich die Bestie Mensch verbirgt. Nur Franz Grillparzer vermag in seinen Dramen die ganze Spannung dieses Vorgangs aufzufangen, am schönsten in seinem Trauerspiel ,Ein Bruderzwist in Habsburg', das sich in seinem Nachlaß gefunden hat. Nichtzufällig hat der Dichter die Handlung am Beginn des Dreißigjährigen Krieges angesiedelt, die Auseinandersetzung der feindlichen Brüder Rudolf und Matthias zum Vorwurf des Dramas gewählt. Es ist jene historische Nahtstelle, an der die Rechtfertigung des Staates als metaphysischer Ordnung brüchig wird, die Selbstgesetzlichkeit der menschlichen Tat mit Notwendigkeit aber ins Verderben führt. Als denkerisches Problem hat Grillparzer die Frage niemals lösen können, aber er gibt Antwort durch die Figur Kaiser Rudolfs, der als brüchiger Mensch zur Verkörperung eines zeit überdauernden Mythos wird: Was sterblich war, ich hab es ausgezogen, Ich bin der Kaiser nur, der niemals stirbt. In dieser Deutung hat Grillparzer dem selbstzwecklichen Staat wieder ein religiöses Fundament zurückgegeben, das trotz seiner säkularisierten Form die Existenz des Ganzen sichern soll.

Es war ein Traum, keine Wirklichkeit. Der einmal verlorene Glaube kann nicht durch noch so scharfe Vernunftschlüsse zurückgewonnen werden. Das läßt die österreichische Dichtung des 19. Jahrhunderts von Generation zu Generation klarer erkennen. Wieviel fassungsstarke Leiderfahrung in den Erzählungen der Marie von Ebner-Eschenbach und wieviel tapfere Resignation in den Novellen von Ferdinand von Saar, aber beiden fehlt der Glaube, der über die subjektive Bewältigung hinausweist in ein unvergängliches Reich der Werte. Die Kirche ist für sie eine unsichtbare Gemeinschaft derer, die ein auswegloses Schicksal ergeben tragen, keine Institution, die mächtig wäre, dieses Verhängnis

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zu wenden oder ihm nur einen höheren Sinn zu geben. Als daseinsformende Organisation sucht sie Richard von Kralik zu erwecken, indem er die mittelalterliche Kirche in seine Gegenwart übertragen will. Aber sein Einsatz erfährt das Schicksal aller Restaurationen. Was da geboren wird, ist kein lebenzeugender Organismus, sondern ein toter Petrefakt. Das bezeugen nicht nur Kraliks eigene poetische Erneuerungen der Heldensagen und Mysteriendramen, sondern die ganzen Dichtungen des Gralbundes, die alle als Erzeugnisse aus zweiter Hand anmuten. Nur die Erzählerin Enrica von Handel-Mazzetti vermochte religiöses Erleben in ihren Romanen aus der Gegenreformation zu erwecken, aber sie gehörte nicht zum Kreis um Richard von Kralik, sondern stand im Lager seines Gegners Karl Muth, der in der Auseinandersetzung mit den Zeitfragen die religiöse Wahrheit neu zu erfahren suchte. Das war ein scheinbarer, aber notwendiger Umweg, wenn es zu einer neuen Begegnung von Staat und Kirche kommen sollte. Alle Großen der Jahrhundertwende sind ihn gegangen- mit verschiedenen Ergebnissen, aber doch mit einer dauernden metaphysischen Vertiefung ihrer dichterischen Fragestellungen. Hermann Bahr sucht, nachdem sich ihm der Liberalismus als Irrlehre entschleiert, die Antwort in der Rückwendung zur alten Kirche; für Hugo von Hofmannsthai führt der Weg in die französische Moderne, jenseits von allen aparten Reizen und Stimmungen, zur einfachen Allegorie des ,Jedermann', 1911, in der sich ihm das menschliche Leben als ein Kampf der guten und bösen Mächte um die Seele zeigt; Rainer Maria Rilke begegnet Gott in der Weite Rußlands, aber es ist ein "kapellenloser Glaube", der in ihm aufbricht, der in den ,Duineser Elegien', 1912/22, zu einem Schrei nach der Transzendenz wird, in den ,Sonetten an Orpheus', 1922, aber in den Preis der reinen Immanenz des Daseins zurückfällt; aus einem verfeinerten Ästhetizismus bahnt sich Leopold von Andrian den Weg zur Einsicht des Buches ,Österreich im Prisma der Idee', 1937, das die Staatsidee religiös begründet, die Religion staatlich rechtfertigt; für Georg Trakl werden gerade in Verfall und Verwesung die Züge des leidenden Christus sichtbar, der den Tod in jedem Bruder stirbt. Schon die Vielfalt der Erscheinungen zeigt, daß die Kirche nicht mehr als Realität, sondern als Symbol betrachtet wird. Zur selben Zeit verliert auch der Staat seine Wirklichkeit. Österreich, wie es in den Dichtungen der zwanziger und dreißiger Jahre erscheint, ist nicht mehr Realität, sondern Sinnbild. So haben es Josef Roth, Robert Musil und Heimito von Doderer gesehen. Aber sie stehen dabei, wenn auch nicht in einer formalen, so doch in einer langen geistigen Tradition. Schon Grillparzer sprach in einem Gleichnis des Dreißigjährigen Krieges von den letzten österreichischen Dingen. Sein Drama ist nicht kausale Erklärung, sondern säkularisierte christliche Eschatologie. Und nicht anders bei Hugo von Hofmannsthal. Auch er übersetzt das Ende der Monarchie im Trauerspiel ,Der Turm', 1925 und 1927, in die

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Sprache einer altpolnischen Geschichtslegende, in der aus dem Zusammenbruch aller menschlichen Ordnungen das Reich des Kinderkönigs aufsteigt. Das ist Märchen, nicht Wirklichkeit. Oder eine Wirklichkeit, für die alles vordergründige Handeln nur Schein und Spiel ist. In dieser Auffassung gründet HofmannsthaIs ,Großes Welttheater', das er 1922 für die Salzburger Festspiele geschrieben hat. Es entwirft die Welt als Bühne, die Menschen sind bloße Träger von Rollen, durch die Gott sein Spiel treibt. Das irdische Leben entfaltet sich vor dem Auge der Dreieinigkeit. Unter diesem Aspekt sind Kirche und Staat wieder eins geworden, vergängliche Anstalten des menschlichen Heils, bloße Durchgangsstufen auf dem Weg zur Ewigkeit.

v. Rechtfertigung und Ausblick Es bleibt die Frage, welche Aufgabe Staat und Kirche in der Dichtung unserer Zeit wahrnehmen können. Eine Auffassung, die sie bloß in der Rolle großzügiger Mäzene sähe, würde weder ihrem Wesen, noch ihrem Auftrag gerecht. Sicher, Förderung soll es geben, muß es geben und wird es geben. Aber das ist, selbst wenn die Mittel großzügig wachsen, immer zu wenig. Beide Institutionen müssen wirken, aber nicht nur durch das, was sie tun, sondern durch das, was sie sind. Dazu gehört, daß sie die Frage nach dem Selbstverständnis in jeder geschichtlichen Stunde neu stellen. Dazu kann ihnen nicht nur die Dichtung förderlich sein, sondern darin kann die Dichtung selbst eine neue Aufgabe finden, für die zu schreiben sich lohnt. Die Motive von Mondscheinduft, Liebesnacht und Schaffens glück sind schön, aber sie geben nur noch einen geringen Spielraum der Entfaltung. Ein härteres Leben hat begonnen, nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kunst. Die großen Fragen der Menschheit sind in die persönliche Verantwortung jedes einzelnen getreten. Und so lange es die geben wird, gibt es das Problem von Kirche und Staat. Da liegt also eine Aufgabe der Zukunft. Wie weit uns bei ihrer Lösung die Vergangenheit behilflich sein kann, ist eine der großen Fragen der geschichtlichen Forschung. Sicher aber ist, daß die Dichtung dieser Problemstellung nicht ausweichen kann. Je ernster sie diese Auseinandersetzung mit dem Gestern nimmt, desto weiter wird sie in das Morgen vorstoßen. Große Ziele liegen vor uns. Treten wir an, ihnen mutig entgegenzuschreiten!

VATIKANISCHE WARNUNGEN AN ÖSTERREICH 1934 - 1938 Von Ludwig J edlicka

I. Einleitung Prof. Friedrich Engel-Janosi hat im Jahre 1971 in seinem Werk "Vom Chaos zur Katastrophe" die Einstellung des Vatikans zu Österreich seit der Entstehung der Ersten Republik bis zu ihrem Ende in profunder Weise behandelt und sich dabei hauptsächlich auf die Berichte der österreichischen Gesandten beim Heiligen Stuhl gestützt. Die bescheidene Arbeit, welche ich dem Jubilar, der sich so sehr um das gute Einvernehmen zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl sein ganzes Leben hindurch bemüht hat, unterbreiten will, soll einerseits manche wichtige Berichte im vollen Wortlaut bringen, um damit zu zeigen, wie der Vatikan versuchte, Österreich zu warnen, und in Erweiterung der ausgezeichneten Untersuchungen von Engel-Janosi Parallelen zu anderen "Warnungen" aufzeigen. Gemeint ist damit vor allem di.e Berichterstattung jenes Mannes, der wohl am besten über die machtpolitischen Schwankungen in Rom unterrichtet war, nämlich der Oberst des Generalstabes Dr. Emil Liebitzky, der österreichische Militärattache t • Es ist nicht uninteressant, die verschiedenen Hinweise, welche der österreichische Gesandte beim Heiligen Stuhl, Dr. Rudolf Kohlruss, durch seine vatikanischen Gesprächspartner erhielt, in Vergleich zu setzen mit jenen, die Oberst Dr. Liebitzky sich durch seine glänzenden Verbindungen zu den höchsten italienischen Regierungskreisen - natürlich einschließlich der Militärs -, zu beschaffen wußte.

11. Usterreich im Kräftespiel der Mächte Die Ausgangsposition ist zweifellos das Jahr 1933, da die italienische Politik bereit war, seit der ersten Reise von Bundeskanzler Dr. Dollfuß nach Rom die militärische und politische Hilfe für Österreich nicht nur zu verstärken, sondern gleichzeitig im Kampf um Leben und Tod der 1 Ludwig Jedlicka, Ein österreichischer Militärdiplomat in Rom 1933 - 1938. Oberst des Generalstabes Dr. Emil Liebitzky. In: Römische historische Mitteilungen, hrsg. vom Österreichischen Kulturinstitut in Rom und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, geleitet von Leo Santifaller und Heinrich Schmidinger, 15. Heft. Rom - Wien 1973.

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Regierung Dollfuß gegen eine eventuelle Invasion aus Deutschland auch militärische Maßnahmen zu ergreifen 2 • Die jüngsten Arbeiten, auch von deutschen Historikern, zeigen, daß der Kampf um die Position in Rom gegen Österreich mit allen Mitteln geführt wurde, wobei man sich sehr gerne auch verschiedener Zubringerdienste, oft anonymer Personen und Gruppen, auf dem Umweg über den Vatikan bediente. Die jüngsten Veröffentlichungen 3 , basierend auf deutschen und italienischen Akten, ergeben ganz genau, wie sehr Mussolini in der Österreich politik sehr früh zwischen einer absoluten Verteidigung der österreichischen Unabhängigkeit und der Möglichkeit eines Arrangements mit Deutschland schwankte - eine Befürchtung, die übrigens der Heilige Stuhl und seine Sprecher immer hegten und in entsprechender Weise dem österreichischen Gesandten mehr oder minder dezent zum Ausdruck brachten. In einem privaten Brief, den am 19. Juni 1934 - also gerade während der Besprechungen zwischen Hitler und Mussolini in der Villa Stra in Venedig - Gesandter Kohlruss an den wichtigsten Funktionär des Ballhausplatzes, nämlich Gesandten Hornbostel, richtete, kommt die Besorgnis über die Quellen und den Quellenwert mancher Informationen des Vatikans deutlich zum Ausdruck: "Ich kam letzthin neuerlich auf das Thema der tendenziösen Falschmeldungen über Österreich zu sprechen und entnahm bei dieser Gelegenheit Reimungen, die mich überraschten. Angeblich stammten gedruckte Mitteilungen über Umfang der staatsfeindlichen Bewegung auch von Stellen, deren unbedingte verläßliche Gefolgschaft hinter der Regierung ganz außer Zweifel stehe und es sei auch gerade von solcher Stelle die Bitte um eine neuerliche Enunziation zur Förderung und Unterstützung der Regierung gestellt worden, woraufhin auch prompt die im obzitierten Erlaß behandelten Inszenierungen erfolgt sind. Es war ausgeschlossen, irgendwelche weitere Anhaltspunkte über diese Persönlichkeiten zu gewinnen; ,questo lasciamo stare' war die Antwort auf meine diesbezüglichen Bohrversuche. Wenn sich bei Dir oben im Laufe der Zeit Anhaltspunkte über die Person ergeben sollten, die der Inspirator der Kundgebung des Heiligen Stuhles ist - bei der Reserve meines Mitredners in diesem Punkt glaube ich aber nicht, daß Dein bisheriger Mitredner es von hier aus wissen 2 Der Verf. in: Innsbruck - Venedig. österreichisch-italdenisches Historikertreffen 1971 und 1972. Hrsg. von Adam Wandruszka und Ludwig Jedlicka, Wien 1975. Vgl. dazu das Parallelreferat in demseLben Werk von Prof. Ennio Di Nol/o, Die österreichisch-italienischen Beziehungen von der faschistischen Machtergreifung bis zum Anschluß 1922 - 1938. 3 Jens Petersen, Hitler - Mussolini. Die Entstehung der Achse BerUn - Rom, 1933 - 1936. Tübingen 1973. Ferner: Man/red Funke, Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt. Düsseldorf 1970.

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könnte -, so wäre damit gleichzeitig auch eine der informatorischen Quellen (allerdings gut gesinnter Natur) erfaßt; es ist aber auch nicht unmöglich, daß die hierortige Verquickung einer dieser informatorischen Quellen mit der Unterstützungsbitte das Schwergewicht etwas verschieben will im Hinblick auf meine dezidierte und schärfere Stellungnahme gegen den Inhalt der Information und den Wert der Informatoren; ich meine damit, daß es gewiß stimmen wird, daß diese wohl sicherlich gutgesinnte, verläßliche Persönlichkeit ihre Bitte gestützt haben wird, damit die von ihr nur zu schwarz empfundene Notwendigkeit des Augenblicks, daß es aber trotzdem noch andere Informatoren nicht durchschauter anderer Einstellung geben könnte, von denen durch diese Darstellung meines Mitredners die Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Auch dieses Gespräch wurde rein persönlich und streng vertraulich geführt und durfte daher nach keiner Außenseite hin irgendwie durchsickern. Mit den herzlichsten Grüßen verbleibe ich in alter Freundschaft Dein ganz ergebener Kohlruss4 ." Die Ermordung des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß und die sehr rasche Änderung der Weltlage im Herbst 1934 bis zu dem für Hitler so wichtigen und erfolgreichen Ergebnis der Saar-Abstimmung hat der Bericht zum Inhalt, den der österreichische Gesandte beim Heiligen Stuhl am 28. Jänner 1935 unter der sehr bezeichnenden Titulatur "zeitweilige Besorgnisse betreffend Österreich" nach Wien übermittelte. Schon in der Einleitung wird darauf hingewiesen, daß der Vatikan "vor einer gewissen Zeit die Lage in Österreich in innen- und außenpolitischer Hinsicht pessimistisch beurteilte," und Gesandter Dr. Kohlruss führte nun an, daß er in einem Gespräch mit vatikanischen Funktionären auf die außerordentlich gespannte militärische Lage hingewiesen hätte, wobei er unterstrich, "daß darüber hinaus etwaige bewaffnete überfälle von jenseits der Grenze unausweichlich den Krieg zur Folge haben würden". Die zweifelnde Bemerkung seines Mitredners: "wer weiß, ob dies wirklich den Krieg zur Folge haben würde" veranlaßte den österreichischen Gesandten, der Wien er Zentrale noch folgende Erörterungen im selben Bericht anzufügen, die vor allem mit dem gleichzeitigen Besuch des französischen Ministers Laval - bereits im Vorfeld von Mussolinis AbessinienAktion erfolgend -, in Zusammenhang stand: "Weitere Anhaltspunkte waren damals nicht zu gewinnen und ich behielt mir vor, bei einer günstigeren Gelegenheit auf dieses Thema zurückzukommen." Inzwischen war auch der Besuch Herrn Lavals in Rom erfolgt und ich habe aus meinen späteren Besprechungen mit meinem Mitredner den 4 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Neues politisches Archiv (weiterhin zitiert als: NPA) 709.

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Eindruck, daß er seither unsere Lage ganz wesentlich gebessert sieht, trotz mancher angeblicher Ansichten in Berlin, daß die schließliche frühere oder spätere Wendung der österreichischen Frage schicksalhaft unabwendbar ist, man möge inzwischen Pakte schließen, so viele man wolle. Erst bei dieser Gelegenheit konnte ich entnehmen, daß "vor" dem Rombesuch Herrn Lavals Ansichten geäußert worden sein müssen, daß die Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs" um den Preis wirklichen Blutvergießens" zweifelhaft sei. Auf meinen Einwurf, das seien eventuell höchstens Ansichten von klein-ententistischer oder großbritannischer Seite gewesen, meinte mein Mitredner zweimal mit stärkerer Unterstreichung: "non solo"; nähere Angaben waren natürlich nicht erfahrbar. Seit dem Abschluß der römischen Pakte sei die Lage jedoch ganz entschieden gebessert, mag auch Herr Laval Deutschland gegenüber nicht die gleiche starrstrenge Linie beobachten wie sein Vorgänger. Da es sich um ein Gespräch absolut persönlichen und streng vertraulichen Charakters gehandelt hat, würde jedwede Verwertung seines Inhaltes nach dritter Seite hin als ausgesprochener Vertrauensbruch aufgenommen werden5." Zur gleichen Zeit versuchte der Chef des österreichischen Generalstabes, Fmlt. Alfred Jansa, gemeinsam mit dem Leiter der politischen Abteilung am Ballhausplatz, Gesandter Dr. Hornbostel, und Oberst Dr. Emil Liebitzky, dem Militärattache in Rom, einen Grundplan der militärischen und politischen Verteidigung Österreichs zu entwerfen, um für den Ernstfall eines deutschen Überfalls gewappnet zu sein8 • In einer umfangreichen Besprechung, die Mussolini mit dem österreichischen Gesandten in Rom am 29. März 1935 hatte, wies der italienische Ministerpräsident auf die österreichische Aufrüstung hin, ließ aber gleichzeitig bereits durchklingen, daß von Berlin ein österreichisch-deutsches Abkommen zwecks Beilegung des Konfliktes zwischen Berlin und Wien vorgeschlagen worden wäre 7 • Noch konnte man von österreichischer Seite hoffen, daß trotz der anlaufenden Aktionen gegen Abessinien die italienischen Hilfeversprechungen durch überlassung von Rüstungsmaterial effektuiert werden würden. Der österreichische Militärattaehe in Rom berichtete am 23. September 1935 in einer Lageanalyse über die eventuellen Folgen einer Auseinandersetzung Italiens und Englands anNPA 709. Fmlt. Aljred Jansa, maschinengeschriebenes Manuskript, Kriegsarchiv Wien (weiterhin zitiert: KA, Wien), dem Verfasser zur Verfügung gestellt durch Brief vom 7. Februar 1955. 7 NP A, Bericht der österreichischen Gesandtschaft in Rom vom 29. März 1935. 5

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läßlich des Kolonialkrieges in Afrika: "Kommt es zu dieser scharfen Auseinandersetzung Italiens und Englands, dann würde die RoHe Deutschlands bedeutsam sein. Hält dieses in der eben gewonnenen Annäherung an England fest, so wird sich sein Verhältnis zu Italien (trotz allen wirtschaftlichen Vorteilen, die Deutschland z. B. durch Kohlenlieferungen an Italien von diesem hat) sich eher verschärfen. Deutschland würde dann aus der europäischen Schwäche Italiens Nutzen zu ziehen trachten, seine Tendenz zum Brenner und nach Südosten, also in der österreichischen Frage, nur schärfer werden. Die zweite Möglichkeit für Deutschland wäre, die italienische Freundschaft zu suchen (ein aus dem Völkerbund ausgeschiedenes Italien hätte an dem in gleicher Lage befindlichen Deutschland eine natürliche Anlehnung). Bei einer Niederlage oder Schwächung Englands könnte Deutschland Aussicht auf Kolonien winken. In diesem 2. Falle könnte Deutschland auch reichliche wirtschaftliche Vorteile als Waffenlieferant und Kohlenlieferant gewinnen. Ob eine solche evtl. italienisch-deutsche Wiederannäherung, vorläufig nur ganz hypothetisch gesprochen, nicht auf Kosten Österreichs zustande käme (besonders im Falle großer Bedrängnis Italiens), läßt sich nicht absolut verneinen. In beiden Fällen, nimmt Deutschland für England oder Italien Partei, entstehen für Österreich schwere Lagen. (Eine indifferente Haltung Deutschlands, um es sich mit keinem von beiden zu verderben, würde gewiß nicht dauernd sein, schon die wirtschaftlichen Interessen würden Deutschland zu einer Entscheidung zwingen, wenn schon nicht die verlockenden politischen.) Die Schlußfolgerung für Österreich, die meiner Meinung nach in jedem Falle zu ziehen ist, lautete: Für die nächsten Jahre gerüstet sein, die vielleicht nur mehr kurze Zeit nützen, damit alle, die es sehen sollen, sehen, daß man über Österreich nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen kann. Bei der gestrigen Kriegsgräbereinweihung auf dem Monte Grappa sagte ein hoher italienischer General zu mir: "Schon übermorgen kann die ganze europäische Gruppierung auf dem Kopfe stehen. Bestehen wird auf der dann neuen Karte von Europa nur der, der sich vorgesehen hat und sich wehren kann 8." Am 4. Oktober 1935, also wenige Tage nach der sehr deutlichen Warnung des hohen italienischen Offiziers an Oberst Dr. Liebitzky, kam der 8 KA, Wien, Bericht des österreichischen Militärattaches in Rom vom 23. September 1935.

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Heilige Vater bei einer Audienz des österreichischen Gesandten beim Heiligen Stuhl darauf zu sprechen, daß er Angst um Österreich haben, und begründete dies damit, daß drei Kategorien mit dem Anschlußgedanken sympathisierten: "a) die Intelligenz, b) die obere Bourgeoisie und c) verschiedene leitende Kreise (,reggitori'). Die Triebfeder dieser Einstellung vor allem der sogenannten Intelligenz sei die Beengtheit der Berufsaussichten in dem klein gewordenen Österreich und die Einbildung, daß in einem großen Staatswesen sich wieder analoge Möglichkeiten bieten würden wie im alten Österreich. Wenn auch natürlich in ehrfurchtsvollster Form, so hielt ich dem entgegengesetzte Anschauungen gegenüber und verwies nicht zuletzt darauf, daß im Deutschen Reich selbst für die Flüchtlinge bzw. überläufer aus Österreich nicht eine gemäße Obsorge entfaltet werde und daß vielmehr die düstere Lage und die Reue vieler von ihnen auch in der österreichischen Öffentlichkeit immer bekannter werde und so abwegige Einstellungen und Erwartungen immer ausgiebiger herab drücken 10. " Wenn auch das Jahr 1935 mit dem großen Erfolg Hitlers bei der SaarAbstimmung, der Aufstellung einer mächtigen Luftwaffe und der Einführung der allgemeinen Wehrpfiicht - beide Maßnahmen waren als die wesentliche Basis der deutschen Aufrüstung proklamiert worden -, günstig abschloß, so ging der Kampf um Österreich auch auf der Ebene der vatikanischen Diplomatie weiter. Der Angriffskrieg Mussolinis in Abessinien brachte eine allmähliche Annäherung zwischen Berlin und Rom zustande, wenn auch nicht in einem sehr stürmischen Tempo, wie man dies bisher annahm l1 . Dazu kam noch, daß die auch von Manfred Funke zitierten Geheimberichte des italienischen Polizeichefs, Bocchini, über die zunehmende Bedeutung der nationalsozialistischen Untergrundbewegung in Österreich, über die sich Mussolini laufend informieren ließ, eine nicht unwesentliche Rolle im Kampf um die Meinungsbildung in Rom bezüglich des Österreich-Problems spielte. Daher ist es nicht verwunderlich, daß am 12. Juni 1936, fast einen Monat vor dem berühmten österreichisch-deutschen Abkommen, ein streng vertraulicher Erlaß an den österreichischen Gesandten beim Heiligen Stuhl erging, der wie folgt lautete:

9 Friedrich Engel-Janosi, Vom Chaos zur Katastrophe. Vatikanische Gespräche, 1918 - 1938. Wien - München 1971, S. 155.

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NPA 90. Funke, a.a.O., S. 168 u. 172.

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"Herr Gesandter, Der H. BK. konnte in letzter Zeit wiederholt die Wahrnehmung machen, daß verschiedene Mitglieder des österr. Episkopats, die dem Hl. Stuhle ihre Aufwartung gemacht hatten, von ihrem Besuche im Vatikan den Eindruck mitbrachten, daß man dort in den maßgebenden Kreisen die österr. inneren Verhältnisse mit einer merklichen Resignation beurteile. Dies scheint darauf zurückzuführen zu sein, daß die in Betracht kommenden Persönlichkeiten des Vatikans über die wahre Lage in Österreich nicht genügend oder nicht richtig informiert sind und sich bei BelJ:teilung unserer Verhältnisse von den zahllosen falschen und ungenauen Nachrichten, die über die inneren Verhältnisse Österreichs im Ausland, namentlich in Deutschland, in die Welt gesetzt werden, mehr oder weniger beeinflussen lassen. Dieser Zustand kann selbstverständlich schon mit Rücksicht auf die Bedeutung, die der Hl. Stuhl als ein wichtiger Faktor der Weltmeinung darstellt, nicht stillschweigend hingenommen werden. Es wird daher Ihre Aufgabe sein, S. Ern. den H. Kardinalstaatssekretär Pacelli und die übrigen maßgebenden Persönlichkeiten des Vatikans fortlaufend in ganz offener und dezidierter Form über die wahren Zustände in Österreich zu informieren, um auf diese Weise den ausländischen, insbes. reichsdeutschen Falschmeldungen wirksam entgegenzutreten. Bereits jetzt steht Ihnen ja reichliches Material, das Ihnen der BPD und das BKoat f. HD zukommen läßt, zur Verfügung; nebst der aufmerksamen Lektüre der österr. Tagespresse käme ferner ein entsprechend enger Kontakt mit dem H. Pres,seattache der österr. Gesandtschaft beim kgl. italien. Hofe in Betracht, dem wie allen Presseattache's - allwöchentlich rückhaltlose Darstellungen der innerpolitischen Vorgänge seitens des BPD zugehen. übrigens wurde hierseits Vorsorge getroffen, daß die eben erwähntenSituationsberichte von nun ab auch den österr. Gesandten im Auslande persönlich zugestellt werden. Wenn ich mir auch nicht verhehle, daß der Einfluß der auf gewaltigen Mitteln gestützten und überaus raffiniert geführten österreichfeindlichen Propaganda im Ausland kaum durch eine entsprechende mündliche Propaganda Ihrerseits gänzlich aufgehoben werden kann, so erscheint es doch unerläßlich und mit Rücksicht auf das Ihnen im Vatikan seit jeher entgegengebrachte große Vertrauen auch aussichtsreich, durch eine konsequente und möglichst intensive Informierung der maßgebenden Faktoren Ihrerseits der resignierten und zum Teil defaitistischen Einstellung der vatikanischen Kreise gegenüber Österreich erfolgreich entgegenzuarbeiten. über Ihre einschlägigen Wahrnehmungen wollen Sie jeweils unverzüglich berichten, um Sie gegebenenfalls in die Lage zu versetzen, auf Ihnen gestellte Fragen oder angedeutete Zweifel konkrete Antworten erteilen zu können. Empfangen ...12." Die unzureichenden Informationen des Vatikans über österreichische Verhältnisse, wie man dies in der Sprache des Ballhausplatzes nannte, verursachten einen Briefwechsel, der am 20. Juni 1936 vom österreichischen Gesandten beim Heiligen Stuhl mit einem streng vertraulichen Brief begonnen wurde und die Nervosität des Berichterstatters auch stilistisch deutlich zeigt: 12

17·

NPA 709.

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"In Ergänzung meines Berichtes von heute Zahl 21/pol. möchte ich auf diesem Wege noch berichten, daß ich im Verlaufe meines Gespräches mit dem Herrn Kardinalstaatssekretär zur Demonstrierung der absoluten innerpolitischen Sicherheit bei uns darauf verwiesen habe, daß es ja gerade der Herr Bundeskanzler Dr. Schuschnigg gewesen ist, der den nationalsozialistischen Aufstand im Jahre 1934 niedergeschlagen hat und daß es so hin von selbst einleuchten muß, daß er jetzt nach der seither eingetretenen enormen Kräftigung nach allen Seiten hin nicht weniger prompt und erfolgreich reagieren würde; solche Eventualitäten kämen aber überhaupt nicht in Frage. Des weitern habe ich eindringlich darauf verwiesen, daß die meisten uns abträglichen Kolportierungen auf einer materiell stark dotierten und planvollen Organisation nationalsozialistischer Propaganda aus dem Reiche beruhen. Ein nicht zu übersehendes Moment bei der Verbreitung unrichtiger Darstellungen über österreichische Verhältnisse bilde aber auch der Umstand, daß auch ganz einwandfreie und überaus ehrenwerte österreichische Kreise, die eine besondere Richtung verfolgen, bei der Verfolgung dieser ihrer Ziele zu nicht zutreffenden Darstellungen gelangen: zum Beispiel können monarchistisch regsame, ausgezeichnete Österreicher, wie andererseits beispielsweise faschistisch eingestellte Kreise usw. usw. den gleichen übertreibungsfehler begehen, indem sie bei der Begründung der Notwendigkeit der baldigen Errichtung der Monarchie bzw. eines faschistischen Regimes usw. usw. die Gefahren nationalsozialistischer Entwicklungen bei uns überschätzen. Von meinem Gesprächsinhalt (Bericht und Vorstehendes) machte der Herr Karinalstaatssekretär sich Aufzeichnungen, um Seiner Heiligkeit entsprechend zu berichten13. " Das künftige Abkommen vom 11. Juli 1936 kündigte sich schon deutlich an, indem man durch einen streng vertraulichen Erlaß wie folgt versuchte, den Vatikan zu beruhigen: Herr Gesandter,

Strg. vertr.

Bezugnehmend auf Ihren Ber. Zl. 21/pol. v. 20. v. M. beehre ich mich, Ihnen auftragsgemäß folgendes zur ungesäumten Verwertung gegenüber S. Ern. dem H. Kardinal-Staatssekretär mitzuteilen: Dem H. BK. liegt es ganz besonders am Herzen, daß der Hlg. Stuhl über die jeweiligen Verhältnisse in Österreich und über die Absichten möglichst genau informiert sei, die der H. BK. in seiner Innen- und Außenpolitik verfolgt. Da der H. BK. sowohl aus Ihrer Berichterstattung wie auch aus anderen Anzeichen entnommen hat, daß in höchsten vatikanischen Kreisen eine gewisse Beunruhigung hinsichtlich der Sicherheit österreichs ... , insbesondere was die 13

NPA 709.

Vatikanische Warnungen an Österreich 1934 - 1938

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Einstellung Italiens und Deutschlands betrifft, wollen Sie ehestens, ... , S. Ern. im Sinne nachstehender Feststellungen unsere gegenwärtige außenpolitische Lage. .. entwickeln. Was zunächst die Haltung Italiens zu Österreich betrifft, so ist diesbezügl,ich keinerlei Änderung eingetreten. H. Mussolini hat dem H. BK. vielmehr im Verlaufe der Unterredung in Rocca delle Caminate die bündigsten Versicherungen gegeben, daß Italiens Haltung gegenüber Österreich unter allen Umständen, d. h. wie immer auch sich die Beziehungen Italiens zu Deutschland oder Österreichs zu seinem deutschen Nachbar gestalten sollten, unverändert die gleiche freundschaftliche und nötigenfalls wirksam hilfsbereite sein wird. Es ist daher nach unserer festen überzeugung als ausgeschlossen zu betrachten, daß eine engere Gestaltung des itaHenisch-deutschen Verhältnisses irgendwie auf Kosten Österreichs bzw. der absolut positiven Freundschaft Italiens zu Österreich ginge. Wir sind uns auch, auf Grund der verschiedenen Versicherungen H. Mussolini's dessen vollkommen bewußt, daß hier vornehmlich realpolitische Erwägungen von größtem politischen Gewichte für Italien maßgebend sind. Wir sind somit davon ehrlich durchdrungen, daß österreich eine Gefahr von dieser Seite keineswegs droht. Was nun das Verhältnis österreichs zu Deutschland betrifft, so steht für den H. BK. ebenso unverrückbar fest, daß ein Abgehen oder auch nur Abweichen von den der Erneuerung Österreichs zu Grunde liegenden fundamentalen Grundsätzen, in einem Worte von der "Dollfuß-Linie", nicht in Frage kommen kann. Für eine Entspannung und Normalisierung des österr.-deutschen Verhältnisses bestehen nach wie vor die gleichen Voraussetzungen zu Recht, u. zw.: Anerkennung der vollen österr. Souveränität und rückhaltlose Zusicherung Deutschlands, sich in Hinkunft jeder Einmischung in innere österreichische Angelegenheiten u. Verhältnisse ZI\l enthalten. Diese Voraussetzungen enthalten implicite die Tatsache, daß Österreich unter keinen Umständen zum früheren Parteien-System zurückkehrt, daß eine Wiederherstellung der ehern. nato soz. Partei oder Wiederzulassung der Betätigung dieser Bewegung in Östereich überhaupt nicht in Frage kommen kann und jede Ingerenz Deutschlands auf die innenpolitische Gestaltung Österreichs in Hinkunft zu unterbleiben hätte. Wenn somit kein Zweifel darüber obwalten kann, daß eine Normalisierung der österr.-deutschen Beziehungen unbedingt von der Erfüllung obiger Voraussetzungen durch Deutschland abhängt, so ist es ebenso selbstverständlich, daß die Bundesregierung unter den gegebenen politischen Verhältnissen in Europa (innere Lage Frankreichs, Desinteressement Englands an der mitteleuropäischen Frage, zunehmende Abhängigkeit zumindest zweier Staaten der Kleinen Entente von Sowjetrußland, hysterische Nervosität mehrerer Nachbarn Österreichs U. der Linkskreise Europas wegen der vermeintlichen "Habsburger-Gefahr") eine Anregung Deutschlands, der Frage der Normalisierung des österr.-deutschen Verhältnisses nunmehr näherzutreten, nicht zurückweisen kann, ohne sich sowohl Deutschland gegenüber als auch den "nationalgesinnten" Kreisen des Inlandes gegenüber ins Unrecht zu setzen und damit auch den seit der Machtergreifung des II!. Reiches von Österreich eingenommenen und durchgehaltenen Standpunkt zu kompromittieren, daß Österreich der angegriffene Teil ist und sich in legitimer Defensive befindet. Ohne hier näher untersuchen ZI\l wollen, ob der dem H. BK. vor einigen Wochen durch den hiesigen deutschen Gesandten gemachten Anregung von höchster reichsdeutscher Stelle neben einem loyalen Bedürfnis nach einer Beilegung des Streites zwischen den beiden deutschen Staaten auch taktische,

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aus der heutigen internationalen Situation des Reiches entspringende Motive zu Grunde liegen, kann festgestellt werden, daß H. v. Papen im Auftrage des Reichskanzlers kürzlich Konversationen mit dem H. BK. eingeleitet hat, die auf eine Entspannung des Verhältnisses unter Zugrundelegung der obenerwähnten Voraussetzungen abzielen und eine Reihe von Einzelfragen (Presse-, Funk-, Film- u. Theaterwesen, die Emigrantenfrage, die Frage der Hoheitszeichen u. s. f.) bereinigen sollen. Diesen Gesprächen liegt ein vor einem Jahre von H. v. Papen dem damaligen Bm. f. d. A. A. Berger-Waldenegg, überreichter Entwurf eines Gentleman-Agreement's zu Grunde, über dessen Textierung in bisher aussichtsreicher Weise verhandelt wird. Der H. BK. läßt sich in diesen Gesprächen, abgesehen von den bereits oben entwickelten Gesichtspunkten, vornehmlich von dem Gedanken leiten, daß durch die Besprechungen selbst wie auch durch das allfälLige Zustandekommen des erwähnten Gentleman-Agreements oder Modus vivendi oder auch das Scheitern der Verhandlungen die innere wie die äußere Lage Österreichs in keiner Weise abträglich beeinflußt werden darf. In positiver Hinsicht, glaubt der H. BK. sich von der Perfektionierung eines solchen Arrangements zumindest für eine gewisse Dauer eine Entspannung der Situation im Innern und eine Erleichterung unserer Lage nach außen erhoffen zu können, ohne - es sei dies nochmals mit allem Nachdruck wiederholt - irgendeinen der Grundsätze aufzugeben oder auch nur zu schwächen, auf denen die gesamte Politik des verewigten Bundeskanzlers Dr. Dollfuß wie auch seine eigene Politik unverrückbar aufgebaut ist14 •

Trotzdem konnte der österreichische Gesandte beim Heiligen Stuhl am 20. Juni 1936 in einem Bericht zum selben Themenkreis darauf hinweisen, daß ihm von vatikanischer Seite mitgeteilt wurde: "Was inzwischen wieder Anlaß zu besonderer Beunruhigung gegeben hat, war vor allem die von meinem hohen Mitredner als Tatsache verzeichnete Orientierung einflußreicher italienischer Kreise, die für eine volle Verständigung mit Deutschland eigenommen seien, und die Sorge, daß wir ohne einen restlosen Rückhalt an Italien den uns dann drohenden Gefahren sicher nicht begegnen könnten. Aus solcher Besorgnis dürfte die resigniert und defaitistisch aufgefaßte, in Wirklichkeit aber väterlich überaus beängstigten Äußerungen gegenüber den betreffenden Mitgliedern des österreichischen Episkopates entsprungen sein, zum al gerade zu jener Zeit unmittelbar vor der erfolgten Konzentration auch die inneren Verhältnisse in Österreich in der Tat ungeklärt erscheinen konnten I5 ." Und in derselben Berichterstattung bemerkte der österreichische Gesandte beim Vatikan: "daß es eine nicht in Abrede zu stellende Tatsache ist, daß ,gewisse' einflußreiche italienische Kreise für die Herstellung eines innigen Einvernehmens mit Deutschland um jeden Preis seien, und daß sohin die geäußerte Besorgnis voll verständlich gewesen sei"16. Dr. Kohlruss bemerkte zum Ab14 15 ID

NPA 709. NPA 709, a.a.O. NP A 709, a.a.O.

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schluß dieses Berichtes: "In diesem Zusammenhang darf ich mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß für den Fall der Herstellung eines deutsch-italienischen Einvernehmens über die Form und über den Charakter unserer Einordnung in eine solche Linie eine rechtzeitige authentische Kenntnis erforderlich sein dürfte, um Beeinflussungen durch dann voraussichtlich alarmierende Gerüchte begegnen zu können I7 ." Nicht uninteressant ist, daß die den Bericht empfangenden österreichischen Spitzenfunktionäre, Diplomaten und Politiker, die Warnungen mit einem Fragezeichen versahen und damit den Informationswert herabsetzten. Der immer gut informierte österreichische Militärattache in Rom, Oberst Dr. Liebitzky, spürte die Veränderungen im österreichisch-italienischen Verhältnis um so mehr, als das Abkommen vom 11. Juli 1936 die Situation blitzartig umgestaltete und zu einem Stimmungsbericht Anlaß gab, den Liebitzky auch teilweise mit Stimmen aus dem Volk von Italien versah: "Aber gut acht geben wird Österreich schon müssen I8 !"

III. Dem Ende entgegen Die österreichischen Diplomaten, sei es beim Vatikan, oder bei der königlichen Regierung, selbst der so wohlinformierte österreichische Militärattache, ahnten davon nichts, daß sich ein Wechsel in der italienischen Außenpolitik anbahnte. Am 7. Jänner 1936 bot Mussolini Deutschland förmlich eine Vereinbarung über Österreich an, um das zukünftige Verhältnis der beiden Achsenmächte von der Belastung durch das Problem Österreich zu befreien. Dabei war vorgesehen, Österreich zunächst als selbständigen Staat zu belassen, aber allmählich durch eine "penetration pacifique" zu einem Satelliten Deutschlands werden zu lassen l9 . Damit hing aber auch zusammen, daß sich in der italienischen Spitzengarnitur eine völlige Umschichtung vollzog: an die Stelle des Altfaschisten Unterstaatssekretär Fulvio Suvich, der einstmals österreichischer Staatsbürger, später Deserteur im italienischen Heer und 1933/34 wieder aus Erkenntnis seiner Grazer Studienzeit ein Verteidiger der österreichischen Unabhängigkeit war, trat nun der Schwiegersohn des Duce, Graf Galeazzo Ciano, der am 9. Juni 1936 das Außenministerium übernahm und Österreich nicht schätzte - sehr zum Unterschied von Suvich. Auch der bisherige Verbindungsmann Mussolinis zu der österreichischen Regierung, namentlich zu den Heimwehren, Dr. Eugenio Moreale, dessen Aufzeichnungen eine unschätzbare Quelle für den fraglichen Zeitraum NPA 709, a.a.O. KA, Wien, Bericht des österreichischen Militärattaches in Rom vom 14. Juli 1936. 19 Petersen, a.a.O., S. 467. 17

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darstellen, wurde unter höchst merkwürdigen Umständen aus Wien abberufen, weil der deutsche Gesandte Franz von Papen gegen ihn intervenierte und Graf Ciano ebenfalls gegen ihn Stellung nahm 20. Mussolini begann nun eine Schaukelpolitik in der Österreich-Frage: in einer dramatischen Unterredung vom 12. August 1936 warnte er Oberst Dr. Liebitzky unter Berücksichtigung der militärischen Situation Österreichs mit folgenden Kernsätzen: "Aber im Frühjahr 1938 kommt die europäische Krise zum Ausbruch. In den dann ausbrechenden Konflikten wird Deutschland, und es kann ,keinen Tag dann länger mehr warten', die Tschechoslowakei erledigen und die Ostfrage regeln. Österreich muß daher im Frühjahr 1938 250000 Mann mobilisieren können und mit seinem Heer bereit sein. Können Sie dies - es sind 20 Divisionen - dann wird sich Österreich in dem dann entstehenden Konflikt halten und ,Politik machen' können; sind Sie nicht bereit, dann ... (eine charakteristische Handbewegung). Sie haben also 20 Monate Zeit. (Ich habe es Ihnen übrigen sschon im vergangenen Frühjahr gesagt.)21." Wenn auch das Jahr 1936 noch verhältnismäßig ruhig verlief, so waren aus den Berichterstattungen der österreichischen Gesandtschaft beim Vatikan die Unruhe und die Besorgnis des Heiligen Stuhles, was Österreich betraf, deutlich erkennbar. Die Gründung nationalsozialistischer oder großdeutscher Sammelorganisationen des sogenannten "nationalen Lagers" - Vorstufen des späteren "Volkspolitischen Referates der Vaterländischen Front" interessierten den Vatikan besonders 22 . Einen Monat später gab es eine weitgehende Aussprache zwischen dem Unterstaatssekretär Monsignore Pizzardo und Dr. Kohlruss bezüglich der wirtschaftlichen Lage, wobei die Frage der Arbeitslosen, aber auch der möglichen Wiederherstellung der Monarchie zur Sprache kam und Pizzardo darauf hinwies, daß die Wirtschaftslage in Österreich es sei, "die es bewirke, daß vor allem die notleidenden Kreise ein für verheißungsvolle Schlagworte einer gewissen Propaganda leicht zugängliches Kontingent stellen"23. Am 6. Februar 1937 bemühte sich der österreichische Gesandte beim Vatikan, die Quellen und Kanäle für gelegentliche ungünstige Nachrichten über Österreich beim Vatikan seiner vorgesetzten Behörde darzulegen:

20 Eugenio Moreale, Mussolini gegen Hitler, maschinengeschriebenes Manuskript, Archiv Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, III/26. 21 Der Verf., Ein österreichischer Militärdiplomat in Rom, S. 197. 22 NPA 709. 23 Engel-Janosi, S. 159.

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Rom, am 6. Februar 1937. OESTERREICHISCHE GESANDTSCHAFT BEIM HEIL. STUHLE, An den Herrn Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten

Dr. Guido Schmidt Wien.

Zahl 29/pol. Quellen gelegentlicher ungünstiger Nachrichten über Österreich im Vatikan. Geheim Herr Staatssekretär!

Ich habe mich bemüht, einen Einblick in die Quellen, beziehungsweise in die Kanäle zu bekommen, aus denen, beziehungsweise über welche die gelegentlichen ungünstigen Nachrichten über Österreich dem Vatikan zufließen. Daß diese sowohl ausländischer Herkunft wie auch österreichischer Provenienz selbst sind, unterliegt keinem Zweifel, die ausländischen Hinterbringungen stammen dabei in der Hauptsache von deutscher und italienischer

Seite. Daß weiter solche gelegentliche ungünstige Informationen nicht nur von mißgünstiger - nationalsozialistischer - Seite, sondern auch von absolut österreichfreundlicher Seite herrühren, steht ebenso fest. So habe ich gehört, daß z. B. Herr Kardinal Faulhaber sich schon nach dem 11. Juli in Deutschland in einem streng vertraulichen Gespräch dahin geäußert hätte, daß er die Selbstbehauptung Österreichs gegenüber dem Reich d la longue für unhaltbar halte, so daß kaum angenommen werden kann, daß er sich an hiesigen Stellen in diesen Belangen absolut zuversichtlich gezeigt haben könnte. Ich habe andererseits auch Kenntnis von Laienemigranten, welche die nach dem 11. Juli eingetretene Beschränkung der publizistischen Möglichkeiten (gegenüber dem dritten Reich) über Österreich nicht verwinden können, die sich eine Wiederherstellung des status quo ante von einem "kleinen Revolutiönchen" erhoffen, das für die Dauer sich zu versagen, die Nationalsozialisten vermeintlich doch nicht über sich bringen würden können; so absolut einflußlos solche Personen auch sind, so gelingt er ihnen gelegentlich doch, aus Angst um Österreich - zu durchsichtigen Zwecken - mitunter auch ungünstige Hinterbringungen in den Vatikan gelangen zu lassen.

Was die italienischen Quellen anbelangt, so habe ich zunächst bestimmte Indizien, daß da manchmal wenig günstige Mitteilungen auch von offizieller Seite stammten. Die größere Frequenz in solchen Hinterbringungen dürften aber nicht-offizielle hiesige Persönlichkeiten (des Geistlichen- oder Laienstandes) aufweisen, die ihrerseits wieder direkt oder indirekt Kontakte nach Österreich pflegen müssen und dann ihre auf diesen Wegen gewonnenen Wahrnehmungen und Eindrucke dem Vatikan mitteilen.

Daß hiesige Persönlichkeiten dieser Kategorie als gelegentliche Informatoren wirklich existieren, das erhellt auch aus einer direkten diesbezüglichen Äußerung eines der Herrn Unterstaatssekretäre.

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Als ich mich einmal für die Quelle seiner um Österreich besorgten Informationen interessierte, über die ich in meinem Berichte Zahl 25/pol. v. 3. 1. Meldung erstattet habe, versicherte mich mein Mitredner vor allem, daß sein Informator kein Österreicher war, um dann weiter zu erklären, daß es sich um einen Italiener handle, der die österreichischen Verhältnisse entsprechend verfolge, dabei minderte er die Bedeutung dieser italienischen Persönlichkeit durch die Bemerkung herab, daß ihre Mitteilungen nur dhre aus der Verfolgung der österreichischen Verhältnisse "in der Presse" ete., gewonnenen Eindrücke widerspiegle; daß hier mündliche Hinterbringungen durch eine hiesige Persönldchkeit in Frage stehen, die nicht Österreicher ist, erscheint durchaus wahrscheinlich, hingegen wirkt die Zurückführung von dem "Vatikan" weiter vermittelten Mitteilungen lediglich auf Pressequellen ete. nicht glaubhaft.

Solche Mittelspersonen aber und vor allem ihre verdeckten Hintermänner festzustellen, ist außerordentlich schwer. Bezüglich ausländischer Informationsquellen möchte ich noch melden, daß ich während der ganzen Zeit, wo Kardinal Sibilia Nunzius in Wien war, keinen Anhaltspunkt dafür gewinnen konnte, daß - von Differenzen mit geistlichen Würdenträger und in geistlichen Sachen abgesehen - uns unsympathische Berichte von der Nunziatw' hier eingelaufen wären; erst die Zukunft kann

zeigen, wie dies sein wohl weniger bequemer Nachfolger halten wird.

Zum Schlusse möchte ich mich jetzt noch mit den "österreichischen" Infor-

matoren selbst beschäftigen.

Zunächst möchte ich da vorausschicken, daß mir seit meiner Rückkehr vom Urlaub keine nach Rom gekommenen österreichischen Persönlichkeiten aufgefallen sind, bezüglich deren ich vermuten könnte, daß sie als Malkontenten den Herrn Kardinalstaatssekretär persönlich aufgesucht hätten, um ihm dhr Herz zu unsern Ungunsten auszuschütten; vielleicht könnte da eventuell der Geheimkämmerer Baron Einner-Eisenhof, der auch von Seiner Eminenz empfangen wurde, dazu gekommen sein, die eine oder andere überflüssige Bemerkung zu machen, denn aus lauter Begeisterung für Österreich - er ist eigentlich Italiener und Jude - fürchtet er, wenn man "sehr vertraulich" mit ihm spricht, hier und dort Verrat, indem er die Ministerien voller Nazis sieht etc. Wenn ungünstige Mitteilungen von österreichischer Seite einlangen, so gelangen sie somit in der größten Mehrzahl der Fälle wohl entweder, wie früher gemeldet, durch hiesige Mittelspersonen oder als schriftliche Informationen in den Vatikan. Was die Kategorien solcher österreichischer Information und ihre Beweggründe betrifft, so erlaube ich mir diesbezüglich - von den prinzipiellen Gegnern abgesehen - auf die gegenständlichen Erörterungen meines Berichtes Zahl 26/pol. vom 3. 1. ergebenst hinzuweisen, die diese Fragen beleuchtet haben. Abschrift dieses Berichtes übermittle ich gleichzeitig dem Herrn österreichischen Gesandten beim Königlich Italienischen Hofe. Genehmigen, Herr Staatssekretär, den Ausdruck meiner vollkommenen Ergebenheit24 • Kohlruss

24

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Von österreichischer Seite versuchte man verzweifelt, eine Form der Gegenpropaganda auf römischem Boden, namentlich auf dem vatikanischen Sektor, aufzubauen, wobei über Anregung des Chefredakteurs der "Reichspost", Staatsrat Dr. Friedrich Funder, die Beeinflussung des "Osservatore Romano" eine besondere Rolle spielte25 • Am 23. Jänner 1937 gelang es Oberst Dr. Liebitzky endlich, eine lang verschobene Vorsprache beim Ministerpräsidenten Mussolini zu erreichen, wobei als Vorwand die Lieferung italienischer Waffen an Österreich benützt wurde. Es entwickelte sich jedoch eine hochpolitische Audienz und Dr. Liebitzky schrieb sofort seinem ihm freundschaftlich verbundenen Vertrauten am Ballhausplatz, Gesandten Hornbostel, einen Bericht, der auch an den Chef des Generalstabes, Fmlt. Alfred Jansa, den Staatssekretär General der Infanterie Zehner und den österreichischen Gesandten in Rom weitergegeben wurde. In diesem Gespräch kam Mussolini zu einer fast als Demaskierung zu bezeichnenden Klärung des österreichisch-italienischen Verhältnisses: "Wir beobachten die innere Lage in Österreich sehr aufmerksam; und wir haben in den letzten Monaten keine für uns besonders erfreulichen Eindrücke, besonders seit der Reise des Grafen Ciano glauben wir eine gegen Italien sehr unfreundliche Stimmung feststellen zu können. Die österreichisch-italienische Freundschaft greift nicht tiefer ins Volk und ist nur eine ,protokollarische', ein Werk der Diplomaten. Das österreichische Volk betrachtet uns noch immer als den ,Erbfeind', obwohl doch so viel Wasser in Donau und Tiber zu Tal geronnen ist. Da müssen wir uns fragen, ob wir königlicher als der König und österreichischer als die Österreicher sein sollen und dort helfen sollen, wo man unsere Hilfe gar nicht zu wollen scheint. Die ,Berliner Faktoren' sagen uns immer: ,Eure Politik in Österreich ist verfehlt', die Österreicher wollen Euch gar nicht! Die Mehrheit der Bevölkerung ist nationalsozialistisch und will zu Deutschland, will den ,Zusammenschluß' (was - wie M. lächelnd beifügte - natürlich dieselbe Sache, wie der ,Anschluß', die ,Gleichschaltung' usw. ist); dann ist dasagen die Berliner Faktoren - eine starke Gruppe der Sozialdemokraten, die wollen Euch Italiener nicht, weil Ihr Faschisten, ,Reaktionäre' seid. Die Freundschaft wollen nur die ,derzeit Regierenden'. Was ihr Italiener also in Österreich tut, ist ,a fonds perdus'. Es gibt da durch Kunst, Religion usw. gewisse Gemeinsamkeiten, aber die sind ohne Bedeutung. Bedeutungsvoll ist der Wirtschaftsverkehr, der hilft wohl der österreichischen Wirtschaft, aber die deutsche Wirtschaft wird dagegen, so sagen die Berliner Faktoren, der österreichischen Wirtschaft noch weit mehr helfen. Also was wollt Ihr Italiener in Österreich? 25

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Die Achse Rom - Berlin braucht ja gar nicht, sagen die Berliner, über Wien zu gehen. Bei den Ungarn ist es, sagen weiter die Berliner Faktoren, gerade umgekehrt; da hat die Volksrnasse Sympathie für Euch Italiener und die regierende Schicht liebt Euch gar nicht." "Ich weiß wohl," fuhr M. fort, "daß dies alles nicht so stimmt, aber wir sehen die Stimmung in Österreich, ohne daß die Regierung etwas tut oder zu tun wagt, ewas - Berechtigtes - dagegen zu tun, um diese Stimmung gegen Italien zu ändern. Und wir wollen doch Österreich helfen, unser Interesse ist das alte, gleiche 26 ." Nicht uninteressant war es, daß Mussolini ausdrücklich auf die unterirdische Propaganda des Nationalsozialismus gegen Italien in Österreich Stellung nahm und darüber hinaus eine Klärung versprach: Mit Deutschland aber müssen wir zu wirklicher Klärung kommen. Die Berliner müssen den Bestand Österreichs und seine innere Unabhängigkeit klar und deutlich anerkennen und eine aufrichtige Politik machen 27 ." Die Begegnung auf dem Obersalzberg am 12. Februar 1938 konnte im Vatikan nur zu größten Besorgnissen Anlaß geben. Der österreichische Gesandte versuchte, seine Eindrücke nach einer Audienz beim Unterstaatssekretär wie folgt zu vermitteln: ÖSTERREICHISCHE GESANDTSCHAFT BEIM HEIL. STUHLE Zahl 17/pol. Zur Begegnung auf dem Obersalzberg An den Herrn Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten Dr. Guido Schmidt

Rom, am 15. Februar 1938 StTeng veTtraulich

Wien

HeTT StaatssekTetäT!

Ich hatte heute Gelegenheit, mit dem Herrn Unterstaatssekretär Mgre. Tardini, dem nunmehrigen politischen Sprachrohr des Vatikans seit dem Ausscheiden des Herrn Kardinals Pizzardo, über die Begegnung des Herrn Bundeskanzlers mit dem Herrn Reichskanzler auf dem Obersalzberg zu sprechen; es war dies noch vor der Kenntnis jedweden offiziellen Communique's und von beabsichtigten Veränderungen des Kabinettes der Fall. Ich machte meinem Mitredner daher Eröffnungen nur aus dem Inhalte der mir vom Herrn Gesandten beim Königlich Italdenischen Hofe mitgeteilten hohen Weisung vom 11. d. M. und zwar in jener etwas beschränkteren Auswahl aus dem Gesamttext, die ich für den Vatikan angezeigt hielt. 28

27

Der Verf., Ein österreichischer Militärdiplomat in Rom, S. 200. Der Verf., ebenda S. 201; ferner NPA 476.

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Mgre. Tardini äußerte sich zunächst dahin, daß die Kunde von der Entrevue fürs erste recht beeindruckt habe, da man ja für Österreich, den katholischen Staat, begreiflicherweise besondere Obsorge empfinde, zumal Versionen von einem Eintritt von Nationalsozialisten ins Kabinett umgingen. Ich baute nun meine folgende Unterhaltung - von den eingangs gemeldeten authentischen Eröffnungen natürlich abgesehen - auf einem Austausch "ausschließlich persönlicher Auffassungen" auf, auf welchen Umstand ich wiederholt verwies. Unter dieser ausdrücklichen Reserve machte ich es meinem Mitredner zunächst plausibel, daß es für Österreich eine absolute, unausweichl-iche Notwendigkeit ist, seine Haltung dem Reich gegenüber so einzurichten, daß jeder Vorwand für einen aus angeblichen Verletzungen der Abkommen hergeleiteten Bruch und damit jede Möglichkeit von unliebsamen überraschungen tunlichst unbedingt ausgeschlossen werde; die jetzt bestehende allgemeine politische Konstellation in Europa gebiete eben Österreich, unbedingt zu trachten, alles in dieser Richtung Bedenkliche peinlichst zu vermeiden und andrerseits seine positive Haltung so einzurichten, daß es durch alle die vielfachen Klippen hindurch zuvörderst seine Selbständigkeit unversehrt hindurchsteuere. Dabei betonte ich aber, daß unter allen Verhältnissen für Österreich nach wie vor nicht nur die Behütung seiner vollen Selbständigkeit und Souveränität nach außen und innen ein unabänderlicher fundamentaler Grundsatz bleibe, sondern daß auch eine Anerkennung der nationalsozialistischen Parteibewegung in österreich ausgeschlossen sei. Ich konnte nach meinen Ausführungen schließlich an meinen Mitredner die Frage wagen, was er denn selbst an unsrer Stelle unter den bestehenden Verhältnissen getan haben würde, und ich hatte die Befriedigung, aus seinem Munde die, wenn auch zaghafte, so doch ausgesprochene Äußerung ru vernehmen, daß er unter gleichen Voraussetzungen wahrscheinlich eben auch nur das gleiche tun könnte, zumal nach seiner Ansicht die Stellung Osterreichs im Verfolge der allgemeinen Konstellation, wie sie sich in Europa herausgebildet habe, eine Abschwächung erfahren habe. Ich muß bei alle dem aber neuerdings auf den Umstand hinweisen, daß bei dieser Konversation von meinem Mitredner eine eventuelle Aufnahme nationalsozialistisch eingestellter Persönlichkeiten in die Regierung nicht ins Kalkül gezogen worden war; ein solches Faktum dürfte, eintretendenfalls, schon noch einige Bestürzung auslösen. Nicht unerwähnt möchte ich schließlich auch eine Herrn von Papen betreffende Bemerkung Mgre. Tardinis lassen; er äußerte nämlich unter anderm auch seine Befürchtung, daß sich die Gerüchte von der bevorstehenden Beglaubigung des genannten Botschafters in Salamanca bewahrheiten könnten, denn es greife auch dort die nationalsoz.ialistische Propaganda stärker um sich. Abschrift dieses Berichtes übermHtle ich gleichzeitig dem Herrn österreichischen Gesandten beim Königlich Italienischen Hofe. Genehmigen, Herrn Staatssekretär, den Ausdruck meiner vollkommenen Ergebenheit28• Kohlruss

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NPA 90; ferner Engel-Janosi, S.180.

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Am 26. Februar 1938 berichtet der österreichische Gesandte beim Vatikan auch über die Nervosität des italienischen Botschafters beim Heiligen Stuhl über die Österreich-Frage. Man war es noch durch die Rede des österreichischen Bundeskanzlers Dr. Kurt von Schuschnigg tief beeindruckt: "An immerhin guter vatikanischer Stelle hörte ich andererseits mit einem Hinweis auf das von der Gesamtheit der Vokale getragene Motto: ,A.E.I.O.U.' die Versicherung, daß niemals allenthalben die uneingeschränkten Sympathien so sehr Österreich zugewendet waren wie gerade jetzt, wenn auch bezüglich der Auswirkungen insbesonders von zweien der von uns neu getroffenen Verfügungen zuwartende Reserve beobachtet werden müsse; unter diesem Vorbehalte begegnete an gleicher Stelle die große und hochbedeutsame Rede des Herrn Bundeskanzlers vor dem Bundestag einer in den proklamierten Grundsätzen nichts weniger als magistralen Wertung. Dem gegenüber erzählte mir ein Mitglied des Kardinalskollegiums (nicht Sibilia), das Seine Heiligkeit in Audienz empfangen hatte, daß der Heilige Vater damals nach der Rede des Herrn deutschen Reichskanzlers vom 20. d. M. sich in stark deprimierter (molto avvilito) Verfassung befunden habe2 g." Die italienische Politik bewegte sich aber bereits längst nach der dra·matischen Berchtesgadener Unterredung am 12. Februar 1938 zwischen Hitler und Schuschnigg auf eine Konfrontation zu. Für Mussolini war Österreich, wie es in den Aufzeichnungen seines Schwiegersohnes Graf Ciano - der einer der vehementesten Vertreter der Annäherung Berlin - Rom war und später als Opfer der Politik seines Schwiegervaters auf einem ehemaligen österreichischen Fort in Verona erschossen werden sollte -, "eine Zweideutigkeit, die aus der Landkarte Europas gestrichen wurde3°".

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NPA90.

Galeazzo Ciano, Tagebücher 1937/38. Hamburg 1949.

KAPLAN HEINRICH MAlER - EIN OPFER DES NATIONALSOZIALISTISCHEN GEWALTSYSTEMS Von Franz Loidl Kaplan Dr. phil. und Dr. theol. Heinrich Maier war der erste, der mir aus meinem Jahrgang beim Eintritt ins Wiener Alumnat in Wien IX, Boltzmanngasse 9, Anfang Oktober 1926 begegnete, der mein AlphabetsNachbar sein sollte, mit dem ich ein Jahr lang Fuchs der CV-Verbindung Nibelungia war, bis ich im Oktober 1927 ins Collegium GermanicumHungaricum und an die Päpstliche Universität Gregoriana zu Rom übersiedelte und daher "freundschaftlich" aus der Verbindung ausschied. Mit Maier pflegte ich eine interessante Freundschaft und Kameradschaft, so gegensätzlich wir dem Charakter nach waren und aufgrund unterschiedlicher Auffassungen und Verhaltungsweisen sein mußten, kam er doch aus einem weltlichen Gymnasium und ich aus einem Knabenseminar. Nach meiner Erkrankung 1928 im Germanikum besetzte er meinen Platz, nach seiner Rückkunft aus Rom waren wir wieder für ein Jahr im Alumnat beisammen, er freilich jetzt einen Jahrgang hinter mir. 1938/1939 zu den Prüfungsterminen für das Religionslehramt an Mittelschulen angetreten, waren wir am gemeinsamen Tisch im erzbischöflichen Ordinariat plaziert - wir saßen im Oktober 1938 in dem vom nationalsozialistischen Sturm auf das erzbischöfliche Palais demolierten Raum und tauschten Gedanken aus über die mit dem unglückseligen März d. J. über uns hereingebrochene politisch-weltanschauliche Katastrophe. Dann gingen, abgesehen von gelegentlichen Begegnungen, unsere Wege auseinander, bis ich durch meine Tätigkeit als Standortpfarrer i. N. für Groß-Wien seit 1941, dann ab 1943 ins Wiener Landesgericht (Wien IX) zur seelischen Vorbereitung abgeurteilter Wehrmachtangehöriger kommandiert war. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, daß ich mit dem Oberpfarrer des Gefangenenhauses, Monsignor Eduard Köck (t 10. 10. 1952), an Maiers Zelle vorbeiging, um das Viaticum aus der Kapelle im Wiener Landesgericht zu holen. Als ich dann von Maiers Verurteilung zum Tode durch Enthauptung erfuhr, erregte mich jedesmal zutiefst der Gedanke - und verstohlen suchte ich immer in die Liste auf dem Zettel der Todeskandidaten im nahen Kanzleiraum Einblick zu gewinnen und so wenigstens etwas gefaßt zu sein -, mit Freund Maier vor der berüchtigten eisernen Tür zusammentreffen zu sollen. Das wäre für uns beide ein aufregendes und betrübliches Wiedersehen gewesen. Was er, der so

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begabte, vitale, weltgewandte und wagemutige Widerstandskämpfer wohl dabei gedacht hätte? Dieses letzte Wiedersehen blieb uns glücklicherweise erspart, da ich an jenem schwarzen Tag nicht zum Dienst eingeteilt war. Ihm, dem so oft nach 1945 genannten und gewürdigten nationalsozialistischen Opfer, sei diese kurze Lebensskizze gewidmet, die zugleich als Richtigstellung mancher Berichte über ihn sogar notwendig erscheint. Und wer wäre mehr berufen, ja verpflichtet hierzu als der Verfasser!? I. Wegen mancher Unterstellungen und Unklarheiten sei mit seiner Abstammung begonnen. Maier wurde am 16. Februar 1908 in Großweikersdorf (N. Ö.) Nr. 152 geboren 1 und am 27. d. M. von Kooperator Friedrich Dominik2 getauft, war der Sohn des k. k. Beamten der Österreichischen Staatseisenbahn Heinrich M. (geb. am 8. 3. 1881 zu Schütt-Sommerein, Komitat Preßburg, damals Ungarn), zuständig nach Großweikersdorf (damals Bezirk Tulln, N. Ö.)3, und der Katharina Giugno (geb. am 28. 1. 1883 zu Krems)', beide katholisch und seit 7. Oktober 1907 katholisch verheiratet5 • Wegen der Dienstversetzungen seines Vaters besuchte er das humanistische Gymnasium in St. Pölten und Leoben6 , wo er maturierte, trat am 9. Oktober 1926 ins Wiener Priesterseminar ein7, studierte erfolgreich 1926/28 und wiederum 1930/32 Theologie an der Wiener Katholischtheologischen Fakultät8 und dazwischen scholastische Philosophie als Germaniker an der Gregoriana in Rom (1928/30) und erwarb daselbst den Dr. phil. (scholast.) rom. 9 • Nach dem Empfang der niederen10 und höheren Weihen ll wurde er mit 22 Diakonen am 24. Juli 1932 vom damaligen Kapitelvikar Weihbischof 1 Geburts- und Taufbuch der Pfarre Großweikersdorf XVIII (1899 - 1908), fol. 228, RZ. 12. 2 Geb. zu Rabensburg 1881, Pr. 1906, Koop. in Großweikersdorf und dann in Wien-Neu-Ottakring; scheint ab den 20er Jahren im Personalstand der Wr. Erzdiözese nicht mehr auf. S Sohn des Heinrich Maier, Restaurateur (aus Göding in Mähren), und der Katharina, geb. Schleinitz, bd. katholisch. 4 Tochter des Ludwig Guigno, Beamter, und der Josefa, geb. Gruber, bd. katholisch. 5 Trauungsbuch der Pfarre Großweikersdorf, XIII, fol. 76, RZ. 15. ft Hauptkatalog des Eb. Klerikal-Seminars von 1923 bis 1952, BI. 32. 7 Ebd. 8 Nationale der theol. Fakultät 1926/27. - Abstammung arisch. 9 Ebd.; Katalog der ehemaligen und jetzigen Alumnen des Collegium Germanicum et Hungaricum de Urbe nach dem Stand V.1. 10. 1930,57. 10 Mußte erst gefirmt werden. Tonsur am 11. 1.1927, Ostariat, Lektorat am 15. 1. 1928 (Weihbischof Pfluger), Exorzistat, Akolythat am 17. 1. 1932 (Weihbischof Kamprath).

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Dr. Franz Kamprath (Kardinal Piffl war am 21. April d. J. gestorben) in St. Stephan zum Priester geweiht12• Erster Seelsorgsposten des Neomysten war mit 1. Oktober 1932 die Pfarre Schwarz au am Steinfeld13 , dem folgte mit 1. September 1934 die Versetzung nach Mödling14, wo Maier nach dem Ableben des Pfarrers und Dechants Leopold Rögner am 18. März 1935 15 kurz die verwaiste Pfarre providierte18, und mit 1. September d. J. die Berufung an die Pfarre Gersthof (Wien XVIII)17, was sein letzter Posten werden sollte. Seiner Begabung und Neigung nach zog es ihn zur studierenden Jugend und zu einflußreichen Akademikern und Künstlern hin, so wollte er sich dem Religionslehramt widmen. Ob seiner Jovialität, Redegewandtheit und Belesenheit kam er auch "gut an". Er begann als zweiter Religionslehrer und Seelsorger an der Technisch-gewerblichen Bundeslehranstalt in Mödling18 und dann als dritter Religionsprofessor am Realgymnasium des "Albertus-Magnus-Schulwerkes der Marienbrüder" in Wien XVIII, Semperstraße19, wurde aber nach der gewaltsamen Unterdrükkung dieser konfessionellen Schule durch den religionsfeindlichen Nationalsozialismus wie alle provisorischen Religionslehrer an der Ausübung des Religionsunterrichtes verhindert. Er benützte jedoch diese erzwungene Muße für die Erwerbung des theologischen Doktorates an der Wiener Fakultät und promovierte am 25. Juli 19422 °. Nachstehende Ausführungen, besser Kurzfassungen stützen sich in der Hauptsache auf Jakob Fried2 t, Lois WeinbergerU, Otto Molden23 , Herbert 11 Subdiakonat am 14. 2. und Diakonat am 13. 3. 1932 (Kamprath). Hauptkatalog. 12 Wiener Diözesanblatt 1932, ohne Angaben. Seine Primiz feierte er in St. Anton v. Padua (Wien X). Prediger war Studienpräfekt Dr. Alexander Poch, später verdienter Pfarrer von St. Leopold (Wien II). Wr. Kirchenblatt 1932, Nr. 28,4 und, 5 mit Porträt. 13 Ebd. 1932, 92. 14 Ebd. 1934, 116. 15 Ebd, 1935, 38. u Ebd. 1935, 103. 17 WDBl.1935, 103. 18 Personalstand d. Wr. Erzdiözese 1936, 232. IV Ebd. 1938, 147. Auch am Mariahilfer Gymnasium, Wien VI. 20 WDBl. 1942, 50. Dissertation: Der Kampf um den richtigen Kirchenbegriff im Spätmittelalter, dargestellt an Hand von Marsilius v. Paduas "Defensor pacis" und Johannes v. Torquemadas "Summade ecclesia" (1939) VI, 102 Seiten. 21 Nationalsozialismus und kath. Kirche in Österreich, Wien 1947,90. 22 Tatsachen, Begegnungen und Gespräche. Ein Buch um Österreich, Wien 1948. 23 Der Ruf des Gewissens. Der österreichische Freiheitskampf 1938 -1945, Wien 1958.

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Steiner24 , Benedicta Maria Kempner 25 , Hans Rieger 26 und andere Bezeugungen bzw. Nennungen27 •

TI. Während des Studiums fiel mir bei Maier seine ungemein weite liberale Weltaufgeschlossenheit, aber auch sein bis ins Militante hineinreichender Radikalismus beim Vorgehen gegen Widersacher seiner Weltanschauung auf, wobei ihm mittelalterliche Vorgangsweisen wie Zwangsbekehrung, Kreuzzüge, Türkenbekämpfung, ja ein politisches Christentum bzw. politischer Katholizismus als ideal erschienen. In seinem fast beängstigenden Ehrgeiz war er hellsichtigst auf vorteilhafte Beziehungen aus, und zwar gleicherweise in der Kirche wie in der Welt. So zeigte er sich nicht bloß interessiert, sondern nahm auch an beiden, unter der Theologenschaft im Alumnat einander gegenüberstehenden und streitbaren Richtungen teil, beim CV (Kartellverband farbentragender kath. Studenten) und bei Neulands bündischer Jugend. Und er verstand es, sich im CV die Ausnahmestellung eines mit Neuland Sympathisierenden zu verschaffen. Noch erinnere ich mich an die Verhandlung in seiner Verbindung, da er sich wie der gewiegteste Advokat zu rechtfertigen und zu behaupten wußte; es war im Frühjahr 1927. Aus dieser Veranlagung und Einstellung heraus erschien mir auch seine spätere militante Auffassung dem Nationalsozialismus gegenüber fast selbstverständlich, wie er sie mir und unserem Jahrgangskollegen, Dr. theol. et iur. can. Josef Streidt, damals Leiter der III. (Ordinariats-) Abteilung für kirchliche Rechtswahrung 28, gegenüber mehrmals äußerte: Das auf Brutalität und Militärrnacht aufgebaute nationalsozialistische System könne nur gewaltsam und militärisch überwunden werden, daher müsse aktiv mit dem militärischen Ausland zusammengearbeitet werden, also seien unerläßlich: Schwächung der deutschen Okkupationsmacht, Begünstigung der Sabotage, Spionage und Angabe von Militär- und Rüstungsindustrieanlagen für alliierte Bombenangriffe. Streidt, nach dem Krieg Weihbischof und Generalvikar geworden, erklärte mir ein paarmal wörtlich, als ich von Frau Kempner, der Autorin des Buches: Priester vor Hitlers Tribunalen, und vom Archivbetreuer des Collegium Germanicum-Hungaricum in Rom (Via San Nicolö da Tolentino) um Angaben über den "christlichen Martyrer" Maier 24 Zum Tode verurteilt. Österreicher gegen Hitler. Eine Dokumentation, Wien 1964. 25 Priester vor Hitlers Tribunalen, München 1966. 28 Verurteilt zum Tod. Dokumentamonsbericht. Seelsorge im Gefängnis des Wiener Landgerichts 1942 - 1944. Wuppertal-Barmen 1967. 27 z. B. Missong Alfred. Heiliges Wien. Ein Führer durch Wiens Kirchen und Kapellen. Wien 1948, 302, Porträt S. XLIV; 21970, 242. - Auch aus Befragungen von Prälat Johannes Kosnetter, der in Gersthof seelsorglich und und am Kirchenchor mitwirkte und daher mit Maier zusammentraf. 28 Personalstand 1940, 11 und 27.

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angegangen wurde, daß er - nämlich Streidt - Maier mehrmals ernsthaft vor den Konsequenzen seiner so gefährlichen und ihm als Hochverrat auszulegenden Handlungsweise gewarnt habe und Maier daher nicht im kirchlichen Sinn, sondern nur im weltanschaulichen und richtiger politischen Sinn als Martyrer zu bezeichnen sei. Ähnliche Bedenken und Warnungen wurden auch von anderen Maier gegenüber geäußert, der jedoch keineswegs darauf hörte und sich nicht davon abbringen ließ. Maier geriet dadurch auch etwas in eine Isolierung, als ab 19402sa vonKardinalInnitzer und überhaupt von der kirchlichen Obrigkeit der Klerus gebeten wurde, sich rein seelsorglich zu betätigen und sich vor allem nicht politisch zu exponieren, da die Reihen des Klerus ohnehin durch die vielen Einberufungen sehr gelichtet seien und der noch siegestrunkene, nichts verschonende nationalsozialistische Gegner unnötigerweise nur noch mehr gereizt werde und auch Unschuldige ins Verderben hineingezogen würden. Nur wer damals den harten Alltag durchstehen mußte, wird diesen Rat heute zu verstehen vermögen. Dem bleibenden Verdienst und bewundernswerten Heldentum dieses Österreichers und Klerikers sei damit aber keineswegs eine abträgliche Beurteilung oder gar Abwertung angelastet. Die Aufgabe des Priesters und Seelsorgers liegt nicht auf dem Gebiet der Politik und schon gar nicht auf dem militärischer Unternehmungen. Doch subjektiv und von sich aus war Maier sicherlich gerechtfertigt und gehört an die Spitze der österreichischen Widerstandskämpfer. Auch das muß noch vermerkt werden, daß er sich seit seinem Studium in Rom mehr oder minder zu radikalprogressiven, sozialistisch-revolutionären Auffassungen und entsprechenden Äußerungen verleiten ließ.

111. Die Nationalsozialisten spürten und erkannten Einfluß und FührersteIlung dieses hochintelligenten und mutvollen Streiters wider sie und ihre globalen Untaten. Darum mußte er unbedingt fallen. Verdiente seine Einsatzbereitschaft hohe Anerkennung, so wuchs Maier über sich hinaus, als er, der Angeklagte, zum Ankläger wurde, sich geistvoll verteidigte, und mehr noch, als er alles auf sich nahm, um seine Freunde zu decken, als er mit zäher Verbissenheit furchtbarste Quälereien und Leiden über sich ergehen ließ und immer mehr in das Unvermeidliche seines Todes hineinwuchs und wie ein echt christlicher Martyrer "voll Reue und inniger Hingebung an Gott" dann auch starb, wie noch zu berichten sein wird. Was zu erwarten war, trat ein: Maier wurde eines Tages verhaftet. Das Gedenkbuch der Pfarre St. Leopold, Wien-Gersthof, vermeldet darüber: 28a Im selben Jahr traute er am 30. März in der Churhauskapelle zu St. Stephan in Wien Fritz und Rosa Eckert.

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"Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf die Pfarrgemeinde am 22. März 1944 (Schmerzensfreitag) die Tatsache: Heute früh nach der hl. Messe wurde unser Kaplan Dr. Heinrich Maier in der Sakristei von drei Beamten der Gestapo (Geheime Staatspolizei) verhaftet und im Auto abgeführt. Begreiflicherweise entstanden die verschiedensten Gerüchte über den Grund dieses in jener Zeit leider häufig eintretenden Ereignisses. Einige Tage später teilte mir29 Kanzler Kanonikus Prälat Josef Wagner3° mit, der bei der Gestapo Erkundigungen eingeholt hatte, daß die Sache für Dr. Maier sehr schlecht stehe31 ." Das Gedenkbuch fährt fort: "Genaueres wußte er (sowie die Bewohner des Pfarrhofes) nicht! Zuerst war strenges Verhör bei der Gestapo auf dem Morzinplatz (Wien I). Die Verpflegung war entsetzlich, doch war es erlaubt, jeden Samstag mit der Wäsche Lebensmittel hineinzubringen. Maier bat um das Brevier und um eine Decke. Zur Ehre der Gersthofer Pfarrkinder sei bemerkt, daß Samstag eine erfreuliche Liebesgabensammlung abgeliefert werden konnte, die Dr. Maier mit seinen Leidensgenossen teilte. Im August kam er in das Landesgericht zur Voruntersuchung. Dort war die Kost etwas besser, Zubußen jedoch streng untersagt. Was sich dort und da hinter den Kerkermauern abspielte, drang nur ungenau und heimlich in die Öffentlichkeit, jeder Freigelassene fürch tete neuerliche Verhaftung32 • " Nun die Vorladung: Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof Geschäftszeichen: 6 J 158/44. (Bitte in der Antwort anzugeben)

Bellevuestraße 15 Berlin W. 9, den 16. Oktober 1944 Fernsprecher:

In der Strafsache gegen Dr. Heinrich Maier und 8 andere wegen Vorbereitung zum Hochverrat u. a. werden Sie auf Freitag, den 27. Oktober 1944, um 10.00 Uhr

vor den 5. Senat des Volksgerichtshofs zu der im Sitzungssaal IX des Landesgerichtsgebäudes in Wien stattfindenden Hauptverhandlung geladen. Zugleich werden Sie aufgefordert, zu erklären, ob und welche Anträge Sie in bezug auf Ihre Verteidigung in der Hauptverhandlung zu stellen haben. Zur Hauptverhandlung sind geladen: a.a.O., 108 - 113. a.a.O., 263 - 266. 31 a.a.O., 190. 3% Pfarrer und Chronist war seit 1. 9. 1934 G. R. Ferdinand Haas, bei dem Maier und ich anläßlich unserer Teilnahme an Johannes Lanners Primiz (Juli 1927) in Reichenau gastliche Aufnahme gefunden hatten. Lanner war Maiers Leibbursch. Haas war Pfarrer im benachbarten Payerbach a. d. Rax. Personalstand 1927. Nächster Chronist war Heinrich Fessel, Pfarrer seit 15. 10. 1951. 2U

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Kaplan Heinrich Maier a) als PjlichtveTtTeteT:

RA. Dr. Baumann in Wien I, Tuchlauben 14 für die Angeklagten Walter Caldonazzi und Wilhelm Ritsch, b) als WahlveTteidigeT:

1. RA. Dr. Heinelt in Wien I, Annagasse 18 für die Angeklagten Dr. Heinrich Maier und Andreas Hofer, 2. RA. Dr. Führer in Wien I, Seilerstätte 16 für die Angeklagten Dr. Theodor Legradi, Dr. Karl Fulterer und Dr. Franz Messner, 3. RA. Dr. Johann WendUng in Wien I, Tuchlauben 14 für den Angeklagten Josef Wyhnal, 4. RA. Dr. Fitzthum in Wien I, Opern ring 3 für den Angeklagten Hermann KIepelI;

c) die unter Beweismittel II benannten Zeugen der Anklageschrift. Auf Anordnung Lüdtke An den Fabrikdirektor Herrn Dr. Theodor Leg rad i , zur Zeit in der Untersuchungshaftanstalt in Wien I.

Wir folgen nun dem Bericht bei Benedicta Maria Kempner, Priester vor Hitlers Tribunalen, München 1966, 263 - 265 33 • "Es war Maiers überzeugung, ein Priester habe die Aufgabe, führend voranzugehen, auch auf politischem Gebiet. Seine Auffassung, ein Vorbild sein zu müssen und den für richtig erkannten Standpunkt ohne Rücksicht auf seine Person zu verteidigen, aktivierte seine überzeugung, nur ein politischer Umsturz in Österreich könne dem Volk eine Besserung seiner Lage bringen. Schon 1940 erwog er Möglichkeiten und nahm in den folgenden Jahren Verbindung mit gleichgesinnten Österreichern auf, bis am 22. März 1944 seine Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei den Plänen ein Ende machte. Nach endlosen Verhören kam er im August 1944 in das Wiener Landesgericht. Der Voruntersuchung folgte am 27./28. Oktober 1944 die Hauptverhandlung vor dem in Wien tagenden 5. Senat des Volksgerichtshofes unter dem Vorsitz von Dr. Albrecht mit Landesgerichtsrat Dr. Zmeck (5H 96/44-5 H 100/44 und 6 J 158/44g-6 J 165/44g). Wir kennen nur Teile der Akten. Das Urteil lautete: 33 Näheres vergleiche bei O. Molden, Der Ruf des Gewissens, Wien 1958, 108 -113, genommen aus dem "Rot-Weiß-Rotbuch - Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs", Wien 1946, 6. - Dazu Richtigstellung.

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Im Namen des Volkes "In der Strafsache gegen 1. den Kaplan Dr. phil. et Dr. theol. Heinrich Maier, aus Wien XVIII, geboren am 16. Februar 1908 in Groß-Weikersdorf, 2. den Fabrikdirektor Dr. Theodor Legradi aus Wien XXI, geboren am 1. April 1880, Wien, 3. den Revieroberwachtmeister der Schutzpolizei Andreas Hofer, aus Wien XIX, geboren am 24. August 1915 in Innsbruck, 4. den Forstingenieur Dipl.-Ing. Walter Caldonazzi aus Wien XVIII, geboren am 4. Juni 1916 in Malles, Tirol, 5. den Sanitätsgefreiten, früheren Mediziner, Josef Wyhnal aus Wien I, geboren am 22. Februar 1903, Wien, 6. den Oberschützen, früheren cand. phil., Dipl.-Ing. Hermann Klepell aus Wien XVIII, geboren am 19. Juni 1918, Wien, 7. den Obergefreiten, früheren Studenten, Dr. phil. Wilhelm Ritsch aus Wien VII,geboren am 15. Februar 1915 in Brez (Triest), 8. den Rechtsanwaltsanwärter Dr. Karl Fitzthum, aus Wien IV, geboren am 18. September 1912 in Dornbirn, 9. den Generaldirektor Dr. Franz Josef Messner aus Wien XVIII, geboren am 8. Dezember 1896 in Brixlegg, ungeklärter Staatsangehörigkeit, 10. den Gerichtsassessor, jetzt Unteroffizier, Dr. jur. Cl. von Pausinger aus Wien VII, geboren am 5. Juli 1908 in Esternogat, Bretagne, sämtliche Angeklagte in Schutzhaft wegen Vorbereitung zum Hochverrat, hat der Volksgerichtshof, 5. Senat, auf Grund der Hauptverhandlung vom 27. und 28. Oktober 1944, an welcher teilgenommen haben als Richter: Dr. Albrecht, Vorsitzender, Landesgerichtsrat Dr. Zmeck, Oberstudienrat Heiniein, Oberreichsleiter Mühlberger, Gauhauptstellenleiter Lettner, als Vertreter des Oberreichsanwaltes: Kammergerichtsrat Bischoff, für Recht erkannt: 1. Die Angeklagten haben in den Alpen- und Donaugauen, vornehml,ich in Wien, sowie teilweise im Auslande, in den Jahren 1942 - 1944 durch Beteiligung an einem separatistischen Zusammenschluß den Hochverrat vorbereitet und dadurch die Feinde unseres Reiches begünstigt. Dabei haben Ritsch und Pausinger auch staatsfeindliche Flugblätter hergestellt, Maier und Messner haben auch die Verbindungen zum feindlichen Ausland aufgenommen und dieses auf deutsche Rüstungswerke zum Zwecke des Luftbombardements hingewiesen. Der Angeklagte Wyhnal hat Angehörigen der Wehrmacht und der Schutzpolizei Mittel verschafft oder bei ihnen angewendet, um diese wenigstens zeitweise für den Kriegseinsatz untauglich zu machen. Hofer hat sich zu diesem Zwecke zwei Einspritzungen geben lassen und zusammen mit Caldonazzi fiebererzeugende Mittel an Soldaten, die vor ihrer militärischen Untersuchung standen, weitergegeben. Wyhnal, KIepell, Hofer und Ritsch haben versucht, französischen Kriegsgefangenen, beziehungsweise einem deutschen Soldaten zur Flucht über die Reichsgrenze ins Ausland zu verhelfen. Legradi hat dem Angeklagten Maier zu dessen hochverräterischen Umtrieben Hilfe geleistet. II. Daß Fitzthum in Kenntnis von den hochverräterischen Zielen des Mitangeklagten Ritsch diesem eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt hat, konnte nicht ausreichend nachgewiesen werden. Er wird deshalb freigesprochen.

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111. Es wurden verurteilt: Die Angeklagten Maier, Hofer, Caldonazzi, Wyhnal, Klepell, Ritsch, Messner und Pausinger zum Tode und zum Ehrenrechtsverlust auf Lebenszeit, der Angeklagte Legradi zu zehn Jahren Zuchthaus und Ehrenrechtsverlust auf die gleiche Zeitspanne. IV. Dem Angeklagten Legradi werden sechs Monate der Schutzhaft auf die gegen ihn erkannte Strafe angerechnet. V. Das Vermögen des Angeklagten Messner wird eingezogen. Ferner werden eingezogen die bei der Ausführung der Tat benutzten oder dazu bestimmten Injektionsspritzen und das Vervi.elfältigungsmaterial. VI. Sämtliche Angeklagten, bis auf den Angeklagten Fitzthum, haben die Kosten des Verfahrens zu tragen, bis auf diejenigen ausscheidenden Kosten, die durch das Verfahren gegen den freigesprochenen Angeklagten Fitzthum besonders entstanden sind. gez. Dr. Albrecht

gez. Dr. Zmeck."

IV. Es folgt ein Bericht von Dr. Franz Draxler, Wien, vom 5. Februar 194634 : "Wien Kaplan Dr. Heinrich Maier, Wien-Gersthof: Wegen Beteiligung an einer Freiheitsbewegung wurde er Jänner 1945 vom Volksgerichtshof in Wien unter dem Vorsitz eines gewissen Dr. Albrecht aus Berlin zum Tode verurteilt. Am letzten Hinrichtungstage vor dem Anmarsch der Russen, am 22. März 1945, mußte er noch sein junges Leben lassen. Wohlvorbereitet und gottergeben trat er den Weg zum Schafott an. Die Gerichtsverhandlung hatte unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden, weshalb nicht konkret angegeben werden kann, was ihm eigentlich zur Last gelegt wurde. Der von ihm gewählte Pg.-Verteidiger ist nicht in Wien, die Anklageschrift mußte er nach Beendigung der Hauptverhandlung abgeben. Es heißt, daß Kaplan Maier die Schuld aller seiner Mitglieder auf sich genommen hat und auf den Vorsitzenden bei seiner Einvernahme durch seine geistreiche Verteidigung einen solchen Eindruck gemacht, daß diesem aller Spott, mit dem er sonst freigiebig war, auf den Lippen erstarb ... " "Der Neue Mahnruf", Februar 1952, 7, berichtet nachträglich:

Sie starben, damit wir leben können. Die Gruppe Dr. Maier. 34

B. M. Kempner, Priester vor HitIers Tribunalen, München 1966, 265 f.

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Die Angeklagten Maier, Hofer, Caldonazzi, Wyhnal, Klepell, Ritsch, Meßner und Pausinger werden zum Tode verurteilt ... , so heißt es in einem Urteil des 5. Senats des Volksgerichtshofes vom 28. Oktober 1944 unter Vorsitz des Blutrichters Dr. Albrecht. Kaplan Dr. phil. und Dr. theol. Heinrich Maier, Andreas Hofer, Ing. Walter Caldonazzi, Josef Wyhnal, Ing. Hermann Klepell wurden hingerichtet, Dr. Ritsch und Dr. Pausinger entgingen der Guillotine. Zu dem mutigen Kampf von Kaplan Dr. Maier erhielten wir von Dr. Helene Legradi, vormals Sokal, die wie auch ihr Gatte Dr. Theodor Legradi zu den Mitkämpfern von Kaplan Dr. Maier gehörte, folgenden Bericht, den wir auszugsweise wiedergeben: Als ich rechnen konnte, daß mich die Verhaftungswelle, der mein Verbindungsmann Theodor Pawlin im Jänner 1941 zum Opfer gefallen war, nicht mehr erfassen würde, schloß ich mich mit dem Kaplan Dr. Heinrich Maier und Dr. Theodor Legradi, die jeder bereits eine Gruppe von Gegnern gesammelt hatten, zu neuer Widerstandstätigkeit zusammen. Auch ich hatte bereits eine Gruppe von Mitarbeitern gesammelt. Dr. Theodor Legradi war vorher Mitglied der Scholz-Gruppe bis zu ihrer Zerschlagung. Dr. Heinrich Maier, Dr. Theodor Legradi und ich machten einen gemeinsamen Plan für unsere Arbeit und beschlossen vor allem, daß keiner ohne zwingende Notwendigkeit die Namen der anderen Gruppenmitglieder nennen sollte. Die einzelnen Untergruppen befaßten sich damit, Sabotageakte durchzuführen, Personen wehrdienstuntauglich erscheinen zu lassen, Flugzettel zu verbreiten, gefährdete Personen über die Grenze zu schaffen, die erforderlichen Geldmittel bereitzustellen usw. Die wichtigste Aufgabe, die wir drei uns stellten, bestand darin, die Verbindung mit den Alliierten aufzunehmen und zu erhalten, Zusicherungen im Sinne der später erfolgten Moskauer Deklaration zu erhalten und Vorsorge für den Zeitpunkt des Einmarsches im Einvernehmen mit den Alliierten zu treffen, um letzte Kämpfe und Zerstörungen zu vermeiden. Laufend wurden die wirtschaftlichen Veränderungen sowie die stimmungsmäßigen Veränderungen innerhalb der Bevölkerung registriert und verarbeitet. Dr. Maier hatte einen Freund in der Schweiz, der Verbindung zu den alliierten Gesandschaften hatte. Dr. Legradi und ich brachten die ausgearbeiteten Informationen persönlich in die Schweiz. Wir erhielten von Dr. Maiers Mittelsmann die Zusicherung, daß unsere Nachrichten, so wie wir beschlossen hatten, in gleicher Weise nach Westen und Osten weitergeleitet würden. Der Mittelsmann bediente sich zu diesem Zwecke der englischen Gesandtschaft. Vom britischen Rundfunk gelangten auch wie-

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derholt Mitteilungen unter dem vereinbarten Kennwort ,,1. Mai 1942" an uns. Wie wir später erfuhren, gelangten unsere Nachrichten trotz der erhaltenen Zusicherung nicht nach Moskau,so daß wir VOn dort keine Radioantwort erhielten. Die Mitglieder Unserer drei Gruppen, die verschiedenen Richtungen angehörten, einigten sich ohne Schwierigkeiten auf gemeinsames Vorgehen für die erste Zeit nach Kriegsende. Diese Programmpunkte sind niedergelegt und 1942 ins Ausland verbracht worden (Stehen zur Einsicht zur Verfügung.) (Siehe den Anhang dieses Kapitels). Anfang 1944 wurde Ing. Walter Caldonazzi aus der Gruppe des Dr. Heinrich Maier verhaftet. In rascher Folge wurden Dr. Heinrich Maier, Dr. Josef Wyhnal, Andreas Hofer (Urenkel des Andreas Hofer), Dr. Klemens Pausinger, die Pianistin Dr. Barbara Issakides35, der Generaldirektor der Semperit-Werke Dr. Franz Messner, der Student Hermann Klepell,Dr. WilhelmRitsch, Dr. TheodorLegradi und ich ebenfalls verhaftet. Nach längerer Gestapohaft gelang mir die Flucht, die anderen Beteiligten kamen vor das Volksgericht, mit Ausnahme der Pianistin Issakides, die inzwischen über verschiedene Interventionen auf freien Fuß gesetzt wurde. In der rasch durchgepeitschten zweitägigen Verhandlung im Oktober 1944, bei welcher den Beteiligten Hochverrat und Landesverrat vorgeworfen wurde, kamen lediglich Teiltatbestände wie Flugblattverteilung, Besitz einer Sendestation, Geldsammlung sowie die Mitteilungen an die Alliierten zur Sprache. Die Verhandlung sollte vertagt werden, um weiteres, nicht zur Sprache gelangtes Material einzubeziehen. Berlin gab aber den Auftrag, das Verfahren gegen die "Akademiker" sofort durch Urteil zu beenden. Es erfolgten Todesurteile gegen alle, außer gegen Dr. Theodor Legradi, der durch hartnäckiges Schweigen kein Beweismaterial geliefert hatte. Dr. Maier bemühte sich in der Verhandlung, die Mitangeklagten, insbesondere Dr. Meßner, möglichst zu entlasten, ohne dabei auf sich selbst Rücksicht zu nehmen. Von der Gruppe des Dr. Theodor Legradi und von meiner Gruppe wurde niemand verhaftet. Außer Dr. Pausinger und Dr. Ritsch, deren Psychiatrierung stattfinden sollte, wurden alle zum Tode Verurteilten guillotiniert oder erschossen, Dr. Maier Ende März als letzter im Landesgericht Wien. Im Jahre 1945 erkundigten sich Dr. Theodor Legradi und ich persönlich bei der Berner englischen Gesandtschaft nach dem Schicksal unserer 35 Begreifliche Antwort auf das Ersuchen des Verfassers um einen Bericht über Maier: "Wien, 4. Dezember 1975: Verehrter Herr Professor! Danke für Ihre freundlichen Zeilen. Leider kann ich Ihre Bitte nicht erfüllen: Ich litt damals unter einem Schock und konnte mich nur mit Vergessen und Verdrängen wieder erfangen. Wollen Sie bitte versuchen, mich zu verstehen. Barbara Fellinger, geb. Issakides."

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damaligen Botschaften. Wir forderten, daß von dort diese Widerstandsarbeit, welche einem "Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung" laut Moskauer Deklaration) entsprach, von den Alliierten anerkannt und der österreichischen Regierung bekanntgegeben würde, damit er mitangerechnet werden könne. Daß dies geschehen wäre, wurde weder Dr. Theodor Legradi noch mir jemals mitgeteilt. Aus welchen Gründen, ist nicht bekannt."

v. Rückblendend der

Bericht des Mithäjtlings Lois Weinberger über die Fahrt nach dem KZ Mauthausen und über den Aufenthalt dortselbst38 : "Es war ein trüber, naßkalter Herbsttag. Schon wenige Minuten, nachdem mir das Fertigmachen befohlen worden war, stand ich mit meinen paar Sachen, die alle in einem Papiersack Platz hatten, unten im ,Empfangsraum' des Polizeigefangenenhauses. Generalmajor Kottek, den ich gar nicht mehr erkannte, saß auch schon dort, dann kamen der Reihe nach Otto Troidl, Hans Perntner, Felix Hurdes und zum Schluß auch noch Leopold Figl. Keiner von uns wußte, wohin es nun gehen und was nun werden würde. Schließlich wurden wir auf die Straße geführt und dort in einen sehr schäbigen, nur mit einer Plache zugedeckten und mit einigen Bänken versehenen motorisierten Karren geschupft. Einige andere, uns ähnliche Gestalten, waren schon drinnen. Erst später kamen wir darauf, daß die anderen sechs der Industrielle Dr. Franz Mayer-Gunthoff, der ehemalige Generaldirektor der Semperit A. G., Dr. Franz Josef Meßner, der Kaplan Dr. Heinrich Mayer richtig Maier) und noch drei (nennt ihre Namen) waren. Zusammen also zwölf Mann. Außerdem bemerkten wir leider auch noch die zwei Vogelscheuchen (Gestapo-Leute), Perger und Kaiser, und vorne und hinten je einen mit Maschinenpistole bewaffneten SS-Mann. Dann ging die Fahrt los. Wohin würde sie führen? Hurdes und ich, die zwei Schwerbelasteten, fürchteten nichts so sehr als das Landesgericht. Dort stand das Schafott und dort konnte nur allzu leicht unsere letzte Station sein. Alles andere, mochte es noch so schwer und hart sein, fürchteten wir weniger, weil es doch noch irgend eine Hoffnung war, wie ja jede Stunde, die wir gut überdauerten, ein Stück näher der Freiheit und dem Leben bedeutete. Die Zeit allein und die Gnade Gottes waren unsere Hoffnung. Anders stand es bei denen, die im bösesten Falle eine längere Kerkerstrafe zu erwarten hatten. Für sie war jeder Gerichtssaal weitaus sympathischer als irgendein KZ. 36 Lois Weinberger, Tatsachen, Begegnungen und Gespräche, Wien 1948; die Berichte wurden entnommen den Seiten 179 - 183, 191 f., 222 - 224.

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So fuhren wir denn mit recht gemischten Gefühlen einem unbekannten Ziel entgegen. Es war kalt draußen und naß und bald tropfte es auch durch die Löcher der Plache unseres Gefährtes, das mehr einem Hinrichtungskarren als einem Auto glich. Besonders gefroren hat Dr. Heinrich Maier, der ohne Mantel in den Sträflingskleidern still in einer Ecke saß. Später hat ihm einer mit Duldung der Gestapoleute, die vor diesem Manne eine sichtliche Hochachtung hatten, einen Mantel umgehängt. Ich selbst und sicher auch Hurdes war glücklich, als das Landesgericht I und auch das Landesgericht II passiert war. So wie wir das beurteilen konnten, ging es gegen Westen. Auch konnte es noch allerlei unangenehme überraschungen geben. Schließlich hatten wir uns aber dareingefunden und besahen durch die Löcher der Plache und die rückwärtige Öffnung des Wagens die selbst an diesem trüben und verregneten Herbsttag noch so schöne Heimat. Und weiter ging die Fahrt über Amstetten und Linz ... Nur einmal wurde eille ganz kurze Rast gemacht, und auch da standen die SS-Leute mit den Maschinenpistolen schußbereit, sogar bei jeder noch so menschlichen Verrichtung. Es fiel das erstemal ganz leise das Wort Mauthausen. Wir wußten, daß es das Todes-KZ war, eines der berüchtigsten aller deutschen KZs, mit dem schrecklichen Steinbruch und der Todesstiege, mit den Bluthunden und den modernsten Vergasungs- und sonstigen Hinrichtungseinrichtungen ... Als wir die vielen Kurven gegen das Lager zu hinaufgefahren waren und nach stundenlangem Anstehen in der Aufnahmebaracke wieder einmal unsere Nationale abgegeben hatten, führte man uns durch das große Tor in das Lager von Mauthausen. Es war inzwischen schon Abend geworden und immer noch regnete es. Da erschien dieses Tor wie der Eingang zu Dantes Hölle. ,Laßt alle Hoffnung fahren'. Jetzt wurde es auch uns unheimlich. Und dann standen wir rechts vom Tor an der großen Mauer. Im Lager selbst war noch ein lebhaftes Treiben, ein Hin- und Herlaufen, Schreien und Kommandieren. Um uns schien man sich nicht weiter zu kümmern. So konnten wir auch nach langer Zeit wieder einige kurze Worte zueinander sagen, einige unserer Aussagen kontrollieren und das eine und andere fragen. Fröhlich war keinem zu Mute und auch von "Durchhalten" und dergleichen schönen Sprüchen war damals mit keinem Wort die Rede. Es wäre auch völlig sinnlos und vergeblich gewesen. Keiner von uns wußte ja, was die nächste halbe Stunde bringen würde ... Auf einmal erschien ein offenbar ziemlich hochrangiger Offizier, später stellte sich heraus, daß es der berüchtigte Lagerkommandant Oberst Ziereis persönlich war, und "marsch, marsch" liefen wir, von ihm geführt, rechts ums Eck und dann geradeaus weiter bis in das Allerheiligste von Mauthausen, den Bunker. Ich konnte fast nicht nachkommen ... Schließlich standen wir dann in einem großen Halbkreis aufgestellt im Vorraum des Bunkers von Mauthausen. Jetzt erst konnten wir uns richtig ansehen. .. Ein schöner Anblick werden wir wohl alle

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nicht gewesen sein. Trotzdem wurden wir in dieser Vorhölle von Mauthausen vom Herrn Kommandanten, Oberst Ziereis, einem äußerlich und sprachlich ganz bieder aussehenden und wirkenden Bajuvaren, nahezu "begrüßt". Er stellte sich, umgeben von einer Schar SS-Leuten, in der Mitte unseres Halbkreises und rief einen nach dem anderen auf. Wir nannten stramm Namen und Beruf, dazu machte er dann irgend eine Bemerkung. Als der fast schon wie ein Geist wirkende D. H. Maier an die Reihe kam, sagte dieser laut und deutlich "Dr. H. Maier, katholischer Priester, schon zum Tode verurteilt". Uns allen lief es kalt über den Rükken, und wir alle fragten uns, was denn das zu bedeuten hätte, daß man mit uns zusammen zwei (Maier und Generaldirektor Meßner) zum Tode Verurteilte in dieses schreckliche Lager steckte. WoIlte man diese Menschen noch quälen, vermutete man Zusammenhänge mit uns oder was war sonst los? Der Lagerkommandant gab uns bald deutlich zu verstehen, daß wir auch hier keinesfalls Ruhe haben würden. Er ermahnte uns, ja recht schön brav auszusagen, wenn uns die mitgekommenen GestapoReferenten neuerlich befragen würden. Damit war es also gewiß geworden, daß wir diese beiden fürchterlichen Gesichter auch hier immer wieder vor uns haben und neuerlich Verhören und allem, was dazu gehörte, ausgesetzt sein würden. Diese Tatsache deprimierte uns mehr als alles andere. Herr Ziereis erklärte uns auch sehr deutlich, daß man in Mauthausen ,alle Möglichkeiten' besäße, uns zum Sprechen zu bringen." DeT AutOT schildeTt dann das gTauenvolle Dasein im BunkeT des TodeslageTs, die an Sadismus gTenzenden VeThöTe etc. und mannigfachen Schikanen und Leiden . .., und fähTt dann fOTt: "Zum Unterschied vom Polizeigefangenenhaus und noch mehr vom Wiener Landesgericht gab es im Bunker von Mauthausen keine Möglichkeit zum Wandtelegraphieren oder zum Telephonieren durch die Aborte. Dafür waren die Wände zu dünn und die Bewachung zu streng. Wir mußten uns daher darauf beschränken, mit dem jeweiligen Nachbarn durch wenige Klopfzeichen morgens und abends kurze Grüße zu tauschen und so anzuzeigen, daß wir noch lebten. Auf der einen Seite meiner späteren Zelle 20 hatte ich eine Zeitlang Dr. H. Maier ... zum Nachbarn. Mit ihm habe ich regelmäßig die kurzen Klopfzeichen gewechselt. Er klopfte immer zurück, und immer freuten wir uns, daß er noch da war. Wenn wir ihn manchmal flüchtig zu sehen bekam, erschien er uns nur noch wie ein Schatten ... Eines Tages klopfte es mir von Dr. Maiers Zelle nicht mehr zurück. Wir fürchteten das Ärgste, vorsichtig klopften wir noch einmal, wieder nichts, dann gaben wir es auf. Was war mit ihm geschehen? Lebte er vielleicht gar nicht mehr? Erst viele Wochen später härte ich dann, daß er vor uns schon wieder in das Landesgericht nach Wien zurückgekommen war. Er ließ mich von der Todeszelle aus grüßen. In Mauthausen hatte er uns

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sicher auch oft gesegnet. Da er damals schon kaum noch ein Mensch und viel mehr Geist als Körper war, wird seine priesterliche Segnung von besonderer Wirkung gewesen sein. Er ist dann als Märtyrer gestorben und nun schon lange bei den Heiligen Gottes ... "

Der Autor berichtet dann ausführlich über seine Angst vor dem Tode: "Seit ich im Landesgericht war und besonders, seit ich so genau wußte, wie das Schafott aussah und wie es funktionierte, verfolgte mich diese wohl schrecklichste aller Todesarten. Es kam mir entsetzlich vor, daß mein Kopf vom Körper getrennt werden sollte und daß ich abgeschlachtet werden sollte wie ein Schwein. Und alles in mir bäumte sich dagegen auf, daß das alles in so jungen Jahren und deshalb, weil ich die Freiheit und das Vaterland so sehr geliebt hatte, und auf diese gräßliche Weise geschehen sollte ... Ich könnte noch vieles darüber berichten, wie einem da zu Mute ist, ganz allein in einer Zelle und so nahe vor einem so schrecklichen Tode ... Ich möchte dieses Kapitel mit einer kurzen Wiedergabe des Todes von Dr. H. Maier abschließen. Auch war er wieder zurückgekommen und in einer der Todeszellen untergebracht worden. Von dort ließ er mich noch einmal grüßen. Knapp vor seiner Befreiung, ich weiß nur nicht mehr, ob es einer der üblichen Feiertage war, wurde er durch das Schafott hingerichtet. Er hat sich auch da, wie vorher schon nach seiner Verurteilung und die ganze Zeit seiner Haft, wie ein Held und Märtyrer gehalten und benommen. Als er zusammen mit seinen Schicksalsgefährten von der Todeszelle zum Schafott geführt wurde, gab er diesen noch seinen priesterlichen Segen und dann rief er laut, so laut, daß viele Mithäftlinge des Grauen Hauses es hörten: ,Es lebe Christus, der König! Es lebe die Freiheit! Es lebe Österreich!' Das war der Abschiedsgruß und der Segens·· wunsch eines österreichischen Helden und katholischen Märtyrers. Mich hat die Nachricht von seinem Tode beinahe niedergeworfen. Er war ja mein Nachbar im Bunker von Mauthausen gewesen. Ich wußte genau, daß er getan hatte, was auch ich und was wir alle verbrochen hatten. Auch er war für die Freiheit, für Österreich und für ein menschliches Leben eingestanden. Dafür mußte er sterben. Daß er so gestorben ist und daß er uns noch knapp vor dem Schafott ein solches Beispiel, eine solche Lehre und eine solche Ermahnung gegeben hat, könnte einen auch fast mit dem schrecklichsten aller Mordinstrumente, dem Schafott, versöhnen." Zu diesem Bericht sei noch ergänzend bemerkt, daß Maier nach Mauthausen gebracht wurde, um durch Folterungen - so wurde er unbekleidet am Fensterkreuz festgebunden - Geständnisse aus ihm herauszupressen, was den Henkern jedoch nie gelang. Und diese Willensstärke traue ich ihm ohne weiteres zu, da ich ihn zu gut kannte. Daher der Haß und die Wut der nationalsozialistischen Henker. Ein Zeuge erklärte mir, er habe als Mithäftling einmal eine mehr einem Fleischklumpen als

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einem menschlichen Körper gleichende Gestalt am Boden liegen gesehen: es war Dr. Maier.

VI. Da ich zu diesem Datum - so wurde mir und meinem Freund die makabre allerletzte Begegnung erspart - nicht fürs Landesgericht eingeteilt wurde, möge der Zeuge seines letzten bitteren Ganges, der evangelische Pfarrer Hans Rieger, die Schilderung beisteuern37 : "Den beiden Gefangenenhaus-Zivil-Seelsorgern wurde eines Tages die Begleitung der Häftlinge auf dem Weg von der Armensünderzelle bis zur Richtstätte verboten. Sie sollten sich künftig von ihren Beichtkindern sofort beim Verlassen der Zelle verabschieden. Der katholische Gefangenenhausseelsorger hielt (mußte es) sich an diesen Befehl, während ich es auf mich nahm, ihn zu ignorieren. Pfarrer Köck war damit einverstanden (er hatte auch mehr Todeskandidaten zu betreuen), zumal ich fast alle seine Seelsorgskinder von den monatelangen Zellen besuchen her gut kannte. Wie wichtig gerade diese letzte Begleitung war, geht aus dieser bezeichnenden Episode hervor. Eine Militärgerichtskommission hatte nach der Enthauptung eines Soldaten den Platz für den Gerichtshof geräumt. Ein Hauptmann blieb zurück und stellte sich auf dem Gang, knapp neben der berüchtigten Eisentür auf. Damals wurden bis zu vierzig Hinrichtungen hintereinander vollstreckt, und so mußten wir vor der Eisentür manchmal ein bis zwei Minuten warten. Der Hauptmann belauschte die letzten Gespräche zwischen den Todeskandidaten und mir. Als ich nun wieder einmal die Eisentüre hinter einem der Opfer geschlossen hatte, trat er plötzlich auf mich zu und fragte mich: ,Was sagen sie denn diesen Leuten, daß sie sich so herzlich bei ihnen bedanken?' Ich antwortete Ihm: ,Ich sehe diese Leute nicht das erste Mal, ich kenne sie schon seit Wochen und Monaten.' ... Als ich den Gersthofer Kaplan Meyer (richtig Maier) am 22. März 1945 zum Tode begleitete, las ich ihm Römer 8,35 - 39 vor. Schritt für Schritt näherten wir uns der berüchtigten schwarzen Eisentür, hinter der das Fallbeil auf seine blutige Dienstverrichtung wartete. Schweigend lauschte der Kaplan den biblischen Worten, und als ich zu der Stelle kam: ,Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert?', unterbrach er meine Rede, indem er die Schlußworte dieses Verses ,oder Schwert - oder Schwert?' nachdenklich wiederholte. Es fiel mir nicht leicht, mit fester Stimme weiterzulesen: ,Wie geschrieben stehet: Um 37 Hans Rieger, Verurteilt zum Tod, Dokumentarbericht: Seelsorge im Gefängnis des Wiener Landgerichts 1942 - 1944, Wuppertal 19,67, entnommen wurden die Seiten 25 f.

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deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, wir sind geächtet wie Schlachtschafe. Aber in dem allem überwinden wir weit um des willen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo J esu ist, unserem Herrn.' " Dazu noch eine andere Bezeugung. Maier soll sich noch vorher geäußert haben, seine letzte Reifung, Abkehr vom Weltlichen und Versenkung ins letztlich Religiöse verdanke er dem Gedankenaustausch mit P. Dr. Angelus Steinwender, Provinzial der Wiener Franziskaner-Provinz, mit dem er zuletzt zusammensein konnte, der ihn jedoch nur um etwa drei Wochen überleben sollte, da dieser ins Zuchthaus zu Stein a. d. Donau verschleppt und am 15. April 1945 mit zahlreichen Häftlingen von der wütenden SS grausam erschossen wurde.

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Laut Sterbebuch des Landesgerichts starb Maier am 22. März um 18.40 Uhr und wurde erst in einem Schachtgrab des Wiener Zentralfriedhofes beigesetzt. Zwei mit ihm befreundete Ärzte forschten die Grabstelle aus, unter großen Schwierigkeiten erfolgte seine endgültige Bestattung auf dem Neustifter Friedhof im XIX. Bezirk (Plötzleisdorfer Höhe), Gruppe E, Reihe 1. Es handelt sich dabei um ein für die drei am gleichen Tag Justifizierten gemeinsames Grab. Gemeinsam gilt ihnen die Inschrift: "Sie starben für Österreich". Links ist auf einem steinernen Buch der Name Ing. Hermann Klepell (geb. am 19. 6. 1918) zu lesen (desgleichen der Name des Vaters und der Mutter); in der Mitte der Grabstätte, wieder auf einem steinernen Buch, der Name Dr. Josef Wyhnal (geb. am 22.2.1903) und der Name seiner Mutter; auf dem rechten steinernen Buch steht: Dr. Heinrich Maier, 16.2. 1908 - 22. 3. 1945, dazu ein Priesterkelch. In Wien-Pötzleinsdorf gibt es eine Dr. Heinrich-Maier-Straße. ANHANG: MANIFEST38 Auf Grund der Atlantikdeklaration und des am 26. Mai 1942 zwischen Rußland und England abgeschlossenen Vertrages treten wir an Sie heran, von dem Wunsche erfüllt, zu Ihnen und Ihrem Lande eine Brücke ZlU schlagen. Zu diesem Zweck ist es vorerst erforderlich zu sagen, wer wir sind: Wir sind eine in Österreich lebende Gruppe von Leuten, welche als Verbindungsglieder zwischen Anhängern der Kommunistischen Partei, den Sozialrevolutionären (früheren Sozialdemokraten) und stark sozial orientierten christlichen Gruppen arbeiten. Wir sagen mit Absicht: Zwischen Anhängern dieser Richtungen arbeiten, denn die bestehenden Verhältnisse gestatten uns nicht zu behaupten, wir seien Exponenten von Organisationen früheren Stils. Die Unmöglichkeit, derzeit solche Organisationen einzurichten, bewirkt ein Fluk38 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1536 (Kopie).

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tuieren der Bindungen, einen Wechsel der Personen und das Fehlen von z.iffernmäßigen übersichten über den Mitgliederbestand. Mit dieser aus reinem Verantwortungsgefühl gemachten Einschränkung halten wir uns für berechtigt, Ihnen folgende Tatsachen bekannt zu geben und Vorschläge z.u machen. Als Hitler 1938 nach Österreich kam, gab es in Wien 11 000 eingeschriebene Parteigenossen. Die Zahl der Parteigenossen in ganz Österreich betrug im gleichen Zeitpunkt ca. 40 000 bis 50 000. Die Menge der Mitläufer, die durch Hitlers blendende und skrupellose Versprechungen, insbesondere durch die Aussicht auf Arbeit angelockt wurde, war groß, aber dennoch weit davon entfernt, an eine Majorität heranzureichen. Das Stimmungsbild besorgte eine Propaganda, die über ein monatliches Budget von eindreiviertel Millionen Schilling verfügte. Der Blick der Österreicher über die Grenze, jenseits welcher die Arbeitslosigkeit im Schwinden war - wobei die Ursache: Aufrüstung nicht erkannt wurde - weckte in vielen den Wunsch nach dem Anschluß und schuf soziale Anhänger. Das wohl mit Berechtigung geschaffene Schlagwort vom Unrecht der Friedensverträge, das dem Volk unaufhörlich eingehämmert wurde, schuf nationale Anhänger. Die 1938 noch vorhandene politische Unverdorbenheit der Österreicher ließ sie gar nicht auf den Gedanken kommen, den Nationalsozialismus als das zu erkennen, was er wirklich war und ist; ein überdimensionaler Volksbetrug. Hiezu kam noch das Gefühl, vom gesamten Ausland inmitten unserer politischen und wirtschaftlichen Nöte im Stich gelassen zu sein und die Tatsache, daß Deutschland alles dazu tat, um diese Nöte zu vergrößern. Inzwischen rückte es von draußen heran, mit Fahnen und Blumen, Jubel und Musik, so überwältigend und laut, daß davon das Rollen der Panzer und das Dröhnen der Flugzeuge übertönt wurde. 250 000 Menschen besorgten den Zauber, Anschluß genannt. überflüssig noch über die Aprilstimmung 1938 zu sprechen, sie war der erste groß angelegte Terrorakt in Österreich. Seither ist die Zahl der Parteigenossen in Österreich auf 210 000 gestiegen. Die Mehrheit davon sind Beamte und Angestellte, die teils unter Druck, teils um Karriere zu machen, in die Partei eingetreten sind. Die Zahl der Jugendlichen, die von der Hitlerjugend in die Partei assentiert wurde, beträgt 90 000 von 210000. Wir überlassen es Ihnen, Herr Minister, ·aus diesen Ziffern Schlüsse zu ziehen. Das Parteiabzeichen allein gibt aber noch keine richtige übersicht über die Stimmung, die gegenwärtig in der Bevölkerung herrscht. Es gibt eine Menge von Parteigenossen, die es bereits bitter bereut, sich Hitler und Hitler uns verschrieben zu haben. Auf der anderen Seite gibt es große Volksschichten, die aus dem Gefühl "Right or wrong my country" heraus stumpf ihre Pflicht tun und bis zum Letzten diszipliniert folgen. Nach den uns zur Verfügung stehenden Unterlagen und Schätzungen Sachkundiger glauben wir annehmen zu können, daß im zivilen Bereich 1. die industrielle Arbeiterschaft einschließlich der Reichsbahn-, städtischen Transport-, Elektrizitäts- und Gaswerkangestellten, welche wir, wiewohl sie öffentliche Angestellte sind, hinzurechnen, mit betriebsweisen Schwankungen zwischen 60 bis 90 Ofo der Kommunistischen Partei und den Sozialrevolutionären angehört. Der ideologische Untel'schied zwischen den beiden Gruppen hat sich weitgehend verwischt, beide Gruppen sind durchaus bereit, in einer Front zu kämpfen und ihre alten Zwistigkeiten zurückzustellen. Der Anteil der industriellen Arbeiterschaft einschließlich der oben genannten Gruppen an der Gesamtbevölkerung beträgt ca. 40 - 42 Ofo. 2. Die Bauem-

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schaft einschließlich der landwirtschaftlichen Arbeiter. Sie sind Gegner des

Nationalsozialismus schlechthin geworden. Der Kreis der Anhänger erstreckt sich kaum weiter als über die Parteifunktionäre, den Lehrer, den Wirt des Ortes, bei dem die Versammlungen stattfinden, deren Angehörige und sonstige direkte und indirekte Nutznießer des Systems, alles in allem vielleicht 10 bis 15 Ofo der Bauernschaft. Ein großer Teil der Bauernschaft ist sozial eingestellt und christlich gebunden. Der andere Teil begnügt sich aus seiner individualistischen Wirtschaftseinstellung heraus, den Nationalsozialismus samt seinem Krieg abzulehnen. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen an der Gesamtbevölkerung beträgt 39 - 40 Ufo. 3. Die Unternehmen im Handel, Gewerbe und Industrie machen ungefähr 4 - 5 Ofo der Bevölkerung aus. Soweit sie Nutznießer sind, d. i. vielleicht die Hälfte, stehen sie zum Nationalsozialismus, soweit sie dies nicht sind, z. B. wegen Betriebsstillegungen, Rohstoffmangel, übersteuerung und anderer kriegswirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen, sind die Gegner ohne besonderes Kolorit. Insbesondere das Kleingewerbe, das spürt, daß es systematisch abgewürgt wird, stellt das Hauptkontingent der Unzufriedenen dieser Schicht. 4. AngesteHte, Beamte und Freie Berufe: Aus dieser Bevölkerungsschicht rekrutiert sich der Hauptteil der intellektuellen Anhängerschaft des Nationalsozialismus. Infolge der bestehenden Terrorverhältnisse ist es uns 'gerade bei dieser Schicht unmöglich, ziffernmäßige Angaben zu machen. Der Prozentsatz der Anhängerschaft war ursprünglich hoch, er ist aber infolge der aus den Ereignissen gewonnenen Erkenntnisse im steten Absinken begriffen.

Soweit sich Angehörige dieser Berufsgruppen nicht dem Nationalsozialismus verschrieben haben, sind sie seine leidenschaftlichsten und aktivsten Wider-

sacher.

Allen diesen Schichten ist die Ablehnung des Krieges gemeinsam, von dem man füglich behaupten kann, daß er der unpopulärste Krieg ist, den wir kennen. Selbst die Nazi wünschen offen, den Krieg schon hinter sich zu haben und auch die heldischste Nazipropaganda wagt es nicht, diese Volksstimmung zu bekämpfen, sondern verschanzt sich hinter dem Schlagwort vom "Aufgezwungenen Krieg".

VII. Militärischer Bereich: Die Kampf truppe gehorcht, gleichgültig ob es sich um Soldaten aus der Arbeiter- oder der Bauernschaft handelt. Die große Zahl der nur mit innerem Widerstreben Gehorchenden tut ihre Pfiicht deshalb, weil jeder weiß, daß er vom Feinde bloß vielleicht, von rückwärts aber bestimmt erschossen wird, wenn er sich widersetzt. Es genügt sehr wenig, um an die Wand gestellt zu werden. Dazu kommt noch, daß die Verbände nicht einheitlich z.usammengesetzt, sondern aus den verschiedensten Gauen zusammengewürfelt sind, um die kameradschaftliche Vertrauensbildung zu behindern. (Das gilt auch für die so oft genannten österreichischen Gebirgsjäiger.) Spitzel und SB tun das übrige. Der Widerstandswille der Truppe könnte aktive Formen wohl erst im Falle einer größeren militärischen Niederlage 'annehmen. Ein Moment wollen wir in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen. Ebenso wie in der Ablehnung des Krieges sind sich alle Bevölkerungsschichten in der Ablehnung des Preußentums einig, das sie durch den Anschluß 19 Kirche und Staat

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erst richtig kennengelernt haben. Die österreichischen Nazi benützen sogar diese allgemeine und von ihnen geteilte Abneigung als Blitzableiter für alle nicht wegzuleugnenden Sünden des Regimes. Das Preußentum oder, wie man in Wien allgemein sagt, der "Piefke" ist ein Begriff geworden, mit dem der Österreicher eine Reihe von WiderwärUgkeiten des National