Lesen als Deutung: Moderne Romane Großbritanniens und ihre Lektüre im dritten Lebensalter 9783839445808

Hans-Christoph Ramm explores the question of how readers of the third age reflect on discrepancies of modernity in dialo

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German Pages 188 [186] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
0. Vorbemerkung
1. Einleitung
2. Problemaufriss
3. Kultursemiotik und Psychoanalyse als Kulturwissenschaft
4. Psychoanalytische Kulturtheorie. Sigmund Freuds Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«
5. Die Problematik des Sinnverlusts in moderner Literatur im Wechselbezug zwischen Werk und Rezipientinnen des dritten Lebensalters
6. Die Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten
7. Ist die Kunst heiter?
8. Die Romane Thomas Hardys, D.H. Lawrences und Virginia Woolfs in Rahmen einer kultursemiotisch psychoanalytischen Kulturwissenschaft
9. Zusammenfassung
10. Literaturverzeichnis
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Lesen als Deutung: Moderne Romane Großbritanniens und ihre Lektüre im dritten Lebensalter
 9783839445808

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Hans-Christoph Ramm Lesen als Deutung

Edition Kulturwissenschaft  | Band 187

Für Rudi Helena van der Ploeg

Hans-Christoph Ramm (Dr. phil.), geb. 1949, lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Anglistik an der Universität des 3. Lebensalters der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Hans-Christoph Ramm

Lesen als Deutung Moderne Romane Großbritanniens und ihre Lektüre im dritten Lebensalter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4580-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4580-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

0. Vorbemerkung  | 9 1. Einleitung  | 13 2. Problemaufriss  | 17 3. Kultursemiotik und Psychoanalyse als Kulturwissenschaft  | 23 4. Psychoanalytische Kulturtheorie Sigmund Freuds Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«  | 31 5. Die Problematik des Sinnverlusts in moderner Literatur im Wechselbezug zwischen Werk und Rezipientinnen des dritten Lebensalters  | 35 6. Die Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten  | 47 7. Ist die Kunst heiter?  | 55 8. Die Romane Thomas Hardys, D.H. Lawrences und Virginia Woolfs in Rahmen einer kultursemiotisch psychoanalytischen Kulturwissenschaft  | 59 8.1 Thomas Hardys Roman Tess of the D’Urbervilles. A Pure Woman Faithfully Presented By Thomas Hardy (1891). Im Wirklichen das Mögliche entdecken | 59

8.2 David Herbert Lawrences Roman Sons and Lovers (1913) | 105 8.3 Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse (1927) | 145

9. Zusammenfassung  | 171 10. Literaturverzeichnis  | 175

»Künstler ist nur einer, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann.« Karl Kraus »Bedingung des Rätselcharakters der Werke ist weniger ihre Irrationalität als ihre Rationalität; je planvoller sie beherrscht werden, desto mehr gewinnt er Relief.« Theodor W. Adorno »Ich habe zum Beispiel versucht, ein Kapitel aus der Ich-Perspektive von Tyll zu schreiben, recht lange sogar. Aber das ging letztlich gar nicht. Er hat keine Innenperspektive, die ›ich‹ sagen kann – alles Rätselhafte wäre verschwunden.« Daniel Kehlmann über seinen Roman Tyll

0. Vorbemerkung

»How do literature and psychoanalysis relate? The first produces the second; the second interprets the first, the first interrogates the second.«1 Die folgende Studie ist wie ihr Vorläuferband 2 interdisziplinär angelegt. Sie verbindet kultursemiotische Erkenntnisse mit psychoanalytischen Kulturwissenschaften. Im ersten theoretischen Teil geht es um die Integration psychoanalytischer Kulturwissenschaften in ein dreidimensionales Kulturmodell. In den beiden folgenden Abschnitten wird die Passförmigkeit des Konzepts der Gerotranszendenz in diesem interdisziplinären Beziehungsgefüge erörtert. In den abschließenden Abschnitten werden Theorie und Konzept am Beispiel von drei Romanen Großbritanniens erprobt, die in der klassischen und hohen Moderne publiziert wurden und heftig umstritten waren. Die Erprobungen fanden statt mit Rezipientinnen des dritten Lebensalters in gelenkten Seminaren der Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M.3 Die abschließenden Abschnitte enthalten vom Verfasser kommentierte Deutungen dieser Romane durch Rezipientinnen des dritten Lebensalters. Die drei Romane gestalten das Leiden an 1 | J. Tambling: Literature and Psychoanalysis. Manchester: Manchester University Press 2012, S. 147. 2 | H.-C. Ramm: Lesen im dritten Lebensalter. Erfahrungen transitorischer Identität bei der Lektüre britischer Romane. Tübingen: Narr 2017. 3 | Siehe zu den Teilnahmemotiven von Studierenden an der Universität des 3. Lebensalters/Frankfurt/M. und entsprechenden Auswirkungen: E. Wagner: Zufriedenheit, Teilnahmemotive und Auswirkungen – Zur Sichtweise der Studierenden an der U3L. Ergebnisse der Studierendenbefragung an der Universität des 3. Lebensalters vom Wintersemester 2016/17. Frankfurt/M.: Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt/M.2018; zur Struktur gelenkter Seminare: H.-C. Ramm: Lesen ebd., S. 111–125.

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der Moderne in den unterschiedlichen Schattierungen von Vertreibung, dezentrierter Subjektivität und sinnentleerter Zeiterfahrung. Gegenperspektivisch bereichern visionäre Momente die verrätselten Kompositionen der drei Romane.4 Die Romane sind Werke ohne sichere Ordnungsmuster, die fixierte Identifikationen aufgrund ihrer ästhetischen Distanz verweigern. Das Unbehagen in der Kultur wird zum ästhetischen Strukturprinzip dieser Romane, die Momente visionärer Entrückung gestalten: Die Anti-Heldin Tess vermag in Hardys gleichnamigem Roman Körper und Seele, Welt und Universum als getrennt miteinander in Beziehung zu setzen (Chapter XVIII, S. 120); Mrs Morel entwickelt in Lawrences Roman Sons and Lovers in natürlichen Umgebungen außerhalb und in der Nähe der Welt der Bergarbeiter einen transitorischen Blick, ein inneres beyond, das Epiphanien zum Ausdruck bringt (Chapter I, S. 14); die Hauptfigur Paul Morel ist in die Ambivalenz von Sexualität und Sublimierung verstrickt. Virginia Woolfs Roman To The Lighthouse gestaltet in seinem Mittelteil im Zerfall des Hauses der Ramsays ein sich selbst entgleitendes Leben mit der Möglichkeit, Neues entstehen zu lassen. Die Romane bieten Rezipientinnen des dritten Lebensalters faszinierende Deutungsräume, die nahe am Puls der Gegenwart sind und tiefenhermeneutische Plausibilitätsfragen evozieren. Letztere beanspruchen dann Geltung, wenn man akzeptiert, dass Kultur kein externer Faktor, sondern »integraler Bestandteil menschlichen Handelns« ist. Wenn Kultur und Psyche als einander bedingende Variablen konzipiert werden, muss die »Dimension des Unbewußten […] als unverzichtbarer Bestandteil aller kulturpsychologischen Untersuchungen anerkannt und integriert werden«5. Das heißt, dass beispielsweise kultursemiotisch physiognomische Zeichen durch Traumerzählungen »ins kollektive Geheimarchiv der Seele vor […] stoßen«6, mithin in imaginativer Evokation deutbar werden. Da Freud als »Erfinder der modernen Zeichenkunst der Psychoanalyse« gilt,7 rückt seine Kulturtheorie in den Blickpunkt der folgenden kultursemiotischen Studie. Die zu besprechenden Romane ersetzen übersichtlich erscheinen4 | A. Assmann: Im Dickicht der Zeichen. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 199–204. 5 | J. Kramer: »Kulturpsychologie und Psychoanalyse als Kulturtheorie«, in: A. Nünning und V. Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler 2003, S. 225–247, hier: S. 231, S. 232, S. 244. 6 | A. Assmann ebd., S. 39. 7 | A. Assmann ebd., S. 67.

0. Vorbemerkung

de Welten durch nicht-vertraute, unheimlich komplexe Weltverhältnisse, die keine Lösungen für Rezipientinnen des dritten Lebensalters, sondern Rätsel anbieten. Die Subtexte der Romane enthalten Kryptogramme, zu entziffernde nicht zu entziffernde Zeichen, die deutlich werden lassen, dass »die Welt als Text zu lesen [bedeutet, die] Erscheinungen der Welt nicht nur wahr- und hinzunehmen, sondern auch als zeichenhaft zu erkennen und auf sie mit Deutungsversuchen zu reagieren« 8. Mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch immer auch die männliche Form gemeint.

8 | A. Assmann ebd., S. 31.

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1. Einleitung

Der Titel der folgenden Studie insinuiert Transzendenzerfahrungen im Übergang zwischen der Lektüre britischer Romane der frühen und der klassischen Moderne und heutigen Leserinnen des dritten Lebensalters, die etwa zwischen 65 und 75 Jahre alt sind, Transzendenzerfahrungen zwischen deren aktuellem Beziehungsalltag und einem Jenseits der Literatur, das gerotranszendente Erfahrungen kultursemiotisch und metapsychologisch virulent werden lässt. Im Folgenden wird es um eine um die psychoanalytische Kulturwissenschaft ergänzte kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft gehen. Sigmund Freud hat Dichtung und Kunst in Bezug auf »das gesellschaftliche Ganze« reflektiert.1 Kunstwerke sind nicht Ausdruck von Narzissmus und Tagträumen der Künstler, sondern bewirken, dass sich die Arbeit des Künstlers im »Opus« manifestiert, Opus verstanden als Transformation, nicht von individuellen Tagträumen, sondern als Transformation »von konkretem, historisch definierbare[m] Material«2, auf der Grundlage des Unbewussten als diagnostischem Kulturmodell. Da sich das Unbewusste direkten Zugriffen entzieht, griff Freud auf wissenschaftliche Verfahren der Modellbildung zurück, wie sie beispielsweise in der modernen Atom- oder Quantenphysik üblich sind: »Beide, das Freud’sche Unbewußte und das Objekt der modernen Atomphysik, haben wissenschaftstypologisch mindestens das gemeinsam, daß die Forschungsarbeit abstrakte Modellkonstruktionen voraussetzt.« (v. Matt 2013: 12) Peter von Matts Befund, dass Freud auf das wissenschaftliche Verfahren der Modellbildung zurückgriff, um das Unbewusste im psychischen Apparat des Menschen zu verorten, wird von philosophischer Seite bestätigt. In ihrer Studie Philosophy, 1 | P. v. Matt ebd., S. 30. 2 | P. v. Matt ebd., S. 125.

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Psychoanalysis, and the A-rational Mind geht Linda A. W. Brakel weiteren epistemologischen Überlegungen nach, auf das Unbewusste durch Modellbildung zu schließen. Beispielsweise anhand der euklidischen Geometrie oder der Kategorienlehre Kants, die sie als Vorläufer der von Freud erforschten Sekundärprozesse sieht, die ohne die Primärprozesse in Freuds Theorie undenkbar sind.3 Erkenntnistheoretisch ist das Unbewusste eine psychische und kulturelle Dynamik mit einer anderen Logik, Kehrseite der Vernunft. Nach der von Freud erkannten zweiten kopernikanischen Wende ist der Mensch nicht durch Selbstbewusstsein bestimmt, also »nicht durch das, was er sich selbst bewusst macht«, sondern »gerade durch das Gegenteil, nämlich durch das, was ihm selbst aus prinzipiellen Gründen nicht bewusst werden kann, weil es […] ins Unbewusste abgeschoben wurde.«4 Psychoanalyse wird als Theorie des Unbewussten »in Form einer Kulturtheorie aktuell«.5 Darum wird es im Folgenden gehen: In der werkbezogenen Analyse narrativer Strategien ist »jedes Opus ganz und gar geschichtsgesättigt«, so dass durch die ästhetische Form das individualpathologische Element der Dichter sekundär wird. Rezeptionsästhetisch bedeutet dies, dass das Erschließen literarischer Werke in Analogie zu Träumen zur »objektivierten Wunscherfüllung«6 wird, wobei der Rätselcharakter der Werke unauflösbar bleibt.7 Damit ist die Rezeptionsarbeit als Erkenntnisinteresse selbst den Modifikationen kultureller Bedingungen unterworfen: Das Kunstwerk wird in Momenten der Erkenntnisarbeit umgeschaffen »zu einem integrierenden Teil des jetzigen geschichtlichen Moments«8. Im Rahmen einer psychoanalytischen Kulturwissenschaft handelt es sich

3 | L.A.W. Brakel: Philosophy, Psychoanalysis, and the A-rational Mind. Oxford: Oxford University Press 2009, S. 15–37. 4 | O. Jahraus: »Nachwort« in: Sigmund Freud: »›Der Dichter und das Phantasieren‹. Schriften zur Kunst und Kultur«. Herausgegeben von O. Jahraus. Stuttgart: Reclam 2010, S. 307–347, hier: S. 320–321. 5 | O. Jahraus: ebd., S. 318. 6 | P. v. Matt ebd., S. 127. 7 | T.W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 182. 8 | P. v. Matt ebd., S. 127.

1. Einleitung

bei Kunstwerken um materiale Formen, »an denen mentale Aspekte [einer] Kultur beobachtbar werden«9.

9 | A. Nünning & R. Sommer: »Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transzdisziplinäre Perspektiven«, in: A. Nünning/R. Sommer (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Tübingen: Narr 2004, S. 9–29, hier: S. 20.

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2. Problemaufriss

Alltag als erlebte Geschichte und Alltag als in ästhetischer Distanz fiktionalisierte Möglichkeit wird von Rezipientinnen des dritten Lebensalters als uneinheitlicher, gespaltener und konflikthafter Sozialisationsprozess erfahren und in der Lektüre moderner Kunst, Musik und Literatur als mehrdeutige transitorische Identitätserfahrung im Diskurs rekonstruierbar. Die Lektüreerfahrung der Rezipientinnen des dritten Lebensalters und der Diskurs dieser Erfahrungen bringen zentrale Erfahrungen der Moderne, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Ausdruck, nämlich dass moderne Subjekte von Strömungen bestimmt sind, die sie nicht durchschauen und die ihre Autonomiebildungsmöglichkeiten durchkreuzen. Rezipientinnen des dritten Lebensalters finden in der ästhetischen Problematisierung der Subjektfindung in modernen Romanen Möglichkeiten einer kreativen Auseinandersetzung, die bedeutungslose Zufälle in den literarischen Texten im erschließenden Blick der Alternden, in reflektierter Naivität, aufgrund langjähriger Lebenserfahrungen als vorbewusste Vorstellungen entlarven. Da alltägliche Erfahrungen mächtige Normierungsinstanzen sind und durch Leiberfahrungen und die sie begleitenden Gefühle Austausch mit der Welt leisten, können Werke der Kunst, Musik und Literatur Möglichkeiten bieten, fixierte Struktur- und Autoritätsverhältnisse kognitiv und emotiv in Frage zu stellen.1 Kunst, Musik und Literatur decken in ihrer »strukturalen Analogie […] zwischen Traumarbeit und Kunstarbeit«2 Überraschendes und Ungewöhnliches auf. Fiktionen lassen mit ihren Textstrategien, ihrer semio1 | E. List: Psychoanalytische Kulturwissenschaften. Wien: Facultas 2013, S. 116– 118. 2 | P. Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 174, S. 175.

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tischen Komplexität und Dichte sowie ihrer Mehrdeutigkeit und Unabschließbarkeit vermuten, dass das moderne Subjekt nicht eigentlich weiß, wie und warum es lebt. In den folgenden Ausführungen wird es um Thomas Hardys Roman Tess of the D’Urbervilles (1891), David Herbert Lawrences Roman Sons and Lovers (1913) und Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse (1927) gehen sowie um die Frage, wie Rezipientinnen des dritten Lebensalters mit diesen Werken umgehen und was diese Werke bei ihnen und im Diskurs miteinander über diese Werke in gelenkten Seminaren bewirken. Im Zentrum der kultursemiotischen Studie steht der rezeptionsästhetische Wechselbezug von Romanen, ihren kulturellen Hintergründen und Leserinnen. Es geht also nicht darum, die Komplexität und Unabschließbarkeit dieser Romane auf Konzepte der Psychoanalyse, wie den Ödipuskomplex, die Urszene, Sublimierung, Narzissmus, zu reduzieren, sondern den autoreferenziellen Werkcharakter des jeweiligen Romans als autonom und als »ens sociale«3 auf der Basis einer psychosemiotisch ergänzten kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft herauszuarbeiten.4 Es geht um eine kritische Reflexion verwertbaren Wissens. Vor dem Beziehungshintergrund, auf dem sich die Rezipientinnen des dritten Lebensalters als erwachsen gewordene, lebenserfahrene Kinder, die im oder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, spiegeln, lassen sich bei Lektüre und Diskussion der genannten Romane, in der Responsestruktur des Lesens elementare Bedingungen menschlicher Existenz in der Moderne erschließen: Das Entsetzen über eine entzweite Welt, das sich als Identitätsbedrohung, Angst- und Schulderfahrung des modernen Subjekts in den Romanen verbunden mit kontraphobischen Visionen zum Ausdruck bringt, evoziert bei den Rezipientinnen kreative Imaginationspotenziale.5 Im Erschließen der Konflikte und Dilemmata, in denen die Erzählfiguren der Romane stecken, lassen sich die Rezipien3 | P. v. Matt ebd., S. 34. 4 | P.-A. Alt: »Einführung«, in: P.-A. Alt, T. Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin. De Gruyter 2008, S. 1–13; D. Kremer: »Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes«, in: P.-A. Alt, T. Anz ebd., S. 59–72, hier: S. 67, S. 71. 5 | Siehe dazu Herfried Münklers Studie Der Dreissigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, Deutsches Trauma 1618–1648. Berlin: Rowohlt 2017. Münkler untersucht die Zerstörungen und Verwüstungen des Dreissig jährigen Krieges in

2. Problemaufriss

tinnen auf Diskrepanzen der Moderne ein. Diese können in ästhetischer Distanz angenommen oder abgelehnt, in jedem Falle reflektiert werden. Die drei zu besprechenden Romane gestalten das Sinnvakuum der Moderne in je unterschiedlicher Form. In Thomas Hardys Roman Tess of the D’Urbervilles sieht Angel Clare an einer zentralen Stelle die Landarbeiterin Tess als eine besondere Persönlichkeit, deren Gefühle das Leiden an der Moderne zum Ausdruck bringen (Chapter XIX). Tess’ Tod durch den Strang am Ende des Romans wird jedoch durch die narrative Ästhetik der »pure woman«, so der Untertitel des Romans, durchgängig konterkariert. In David Herbert Lawrences Roman Sons and Lovers spricht der graduell schwächer werdende Übervater Walter Morel von einer zugig kalten Welt (Kapitel VIII), in der sich die Figuren – so der gesamte Roman – ausweglos verfangen. Das offene Romanende jedoch lässt die Möglichkeit einer künstlerischen Selbstverwirklichung der Hauptfigur Paul aufscheinen. Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse gestaltet Perspektivendiskrepanzen in einer vom Leben als innere Selbsterfahrung und Auf bruchsstimmung, vom Tod als Gegenwart im Leben, als Unbegreiflichkeit, von der Kunst geprägten Welt. Woolfs Roman hebt die Trias der Transzendentalien von Leben, Tod und Kunst, die besonders in der zerfallenden Welt des zweiten Teils aufscheinen, in eine elegische Erzählweise und im Schlusstableau des Romans im Kunstwerk Lily Briscoes autoreferenziell auf. Die Textstrukturen, und damit die Leserlenkung, unterscheiden sich in den drei Romanen dadurch, wobei in Hardys Roman Tess individuelle Erfahrungen und individuelles Leid von der Gesellschaft her gestaltet werden und damit die individuelle Problematik von Angst und Schuld kulturell verallgemeinert wird. In Lawrences Roman Sons and Lovers werden umgekehrt gesellschaftliche Erfahrungen vom individuellen Leid her perspektiviert und die individuelle Erfahrung der Angst und Fragen der Schuld in den Figuren Gertrud und Walter Morel, Baxter Dawes und den angedeuteten Vertretern der modernen Industrialisierung kulturell verallgemeinert. In Woolfs Roman To the Lighthouse werden individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen über den Verlust einer Mitte, die durch den Tod Mrs Ramsays verursacht wird, aufeinander bezogen. Die kulturelle Angstproblematik und Schuldfrage entstehen durch ihren Verlust im elegischen Ton des Romans. In allen drei Romanen werden die Text»nichtantiquarische[m] Interesse als »Blaupause für die Kriege des 21. Jahrhunderts« ebd., S. 22.

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strukturen über die Imaginationsarbeit der Leserinnen in ihren altersentsprechenden Erfahrungshaushalt transformiert, der sich durch unkonventionelles Loslassen im Vermögen der Gerotranszendenz auszeichnet.6 Der kultursemiotisch rezeptionsästhetische Zugang sucht die Bedeutung der Werke und ihrer kulturellen Hintergründe in ihrem bisherigen Entfaltungsprozess zu verstehen, weil sie in der Epoche, in der sie entstanden, nicht festgeschrieben sind. Dabei liegt der Schwerpunkt der Betrachtung darauf, dass Lesen und Verstehen sich als Prozesse einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Text und Leserinnen entfalten. Im Rahmen des semiotischen Kulturbegriffs bedeutet dies, dass die Romane bei der Lektüre die Imagination ihrer Leserinnen so anregen, dass die Sprachbilder ins Bewusstsein der Leserinnen übersetzt werden können. Da sich die Übersetzbarkeit des literarischen Textes einer rationalen Steuerbarkeit entzieht, entsteht eine Distanz zwischen Text und Leserinnen, die »die Kreativität der Rezeption« 7 und die Ergänzung der kultursemiotischen Theorie durch eine psychoanalytische Kulturwissenschaft begründet. Das heißt, dass sich die rezeptionsästhetische Kulturtheorie nicht der Psychoanalyse verschließen darf, sie vielmehr in eine kritische Perspektive rücken muss, die weiter unten genauer dargelegt wird. Hier zunächst so viel: Einmal rückt die rezeptionsästhetische Kulturtheorie die Psychoanalyse in eine kritische Perspektive, weil die individuelle Lektüre eine Übersetzungsleistung ist, die Leserinnen und Text nicht in ein psychologisch spiegelbildliches Verhältnis setzt, sondern die Erfahrung einer »graduelle[n] Andersheit« 8 bzw. einer ästhetischen Distanz ermöglicht. Zweitens, weil die Bedeutung der jeweiligen literarischen Texte, nicht wie in der therapeutischen Kur individuell wirkt, sondern intersubjektiv überprüft und im Diskurs erörtert werden kann. In Anlehnung an Kant befindet Sartre: »Kunst gibt es nur für und durch den anderen.« 9 Drittens kann in der Responsestruktur zwischen Werk und Leserinnen die vom Autor intendierte Bedeutung zwar als einmalig und historisch situiert verstanden werden. Da sich Leserschaften aber historisch fortwährend verändern, werden die Sinnhorizonte der literarischen Texte zu heterogenen Größen, die sich in ihrer Erschließung nicht auf eine Bedeu6 | W. Iser: Der Akt des Lesens. München: Fink 1976, S. 67. 7 | W. Iser ebd., S. 176. 8 | W. Iser ebd., S. 76. 9 | J.-P. Sartre: Was ist Literatur? Hamburg: Rowohlt 1958, S. 35.

2. Problemaufriss

tung festlegen lassen: »Zu viele sprachliche, kulturelle, ideologische und ästhetische Interessen kollidieren im Bereich der Rezeption, als daß sich eine Textbedeutung auf Dauer durchsetzen könnte.« (Zima 2001: 216) Damit geraten viertens kontrovers besprochene Plausibilitätsfragen wie diese in den Blick: Inwieweit erhalten bzw. verstärken literarische Werke kulturdiagnostisch das symbolische Wertsystem ihrer Zeit? Distanzieren sie sich durch ihre formale Komposition von diesem Wertsystem? Inwieweit antworten ältere fiktionale Texte auf zeitgenössische Situationen, »indem sie etwas hervortreiben, das von den geltenden Normen zwar bedingt ist, zugleich aber von ihnen nicht erfasst werden kann«?10 Beachtet man die weiter unten zu differenzierende kultursemiotisch kritische Perspektive auf die Psychoanalyse, die als Kulturwissenschaft11 der Kultursemiotik metapsychologisch inhäriert, entstehen hermeneutische Diskursräume, in denen kulturelle Erfahrungen als ästhetische Grenzerfahrungen von Rezipientinnen des dritten Lebensalters performativ reflektiert werden. In der Auseinandersetzung der Rezipientinnen mit Werken der Moderne und ihrer Tradition seit der frühen Neuzeit und insbesondere in der Hochmoderne (Shakespeare, Beethoven, Verdi, Picasso, beispielsweise) entsteht eine kulturhistorische Tiefendimension, die der Auseinandersetzung mit diesen Werken visionäre Perspektiven verleiht. Ins Spiel kommt die Notwendigkeit persönlicher und kultureller Erinnerungen und Erinnerungsmöglichkeiten, die einhergehen mit reifizierenden Gegenwartserfahrungen, die sich kultursemiotisch mit der Verantwortung von Kunst und Literatur in Krisenzeiten der Moderne und ihrer Digitalisierung überschneiden. In der Auseinandersetzung der Rezipientinnen des dritten Lebensalters mit Kunstwerken und Werken der Literatur der Moderne wird deutlich, dass die Verantwortung von Kunst und Literatur in ihren Darstellungen von Grenzüberschreitungen liegt, die sich den Reifizierungen, die sie darstellen, ästhetisch widersetzen. Da Grenzüberschreitungen der Kunst und Literatur genreübergreifend immanent sind, eröffnen sie transzendierende Imaginationsräume, die Kon-

10 | W. Iser ebd., S. 12; H. Grabes: »Literaturgeschichte/Kulturgeschichte: Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Perspektiven«, in: A. Nünning/R. Sommer Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, S. 129–146, S. 140. 11 | E. List ebd., S. 9, S. 15–21.

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ventionen durch ästhetische Konventionsbrüche nicht als letzte Maßstäbe gelten lassen. Kunst, Musik und Literatur verführen in ein Jenseits.12 In den Werken der frühneuzeitlichen, frühen und klassischen Moderne stehen Irrwege der Protagonisten, die Suche nach Identität in der Moderne, das Scheitern von Autonomieansprüchen, Eskapismus, die Entzweiung von Kultur und Natur, der Wechsel von Tradition und Moderne, der Wechsel von Suche nach transzendentalem Halt und Erfahrungen transzendentaler Orientierungslosigkeit im Zentrum einer multiperspektivischen Narrativität, die in ihrer Verwirrungsästhetik Leserinnen zur reflektierenden Puzzlearbeit episodisch gebrochener Erzählzusammenhänge anregt. Literatur, Kunst und Musik werden zu hermeneutischen Räumen von Grenzerfahrungen, die in Diskursen von Rezipientinnen des dritten Lebensalters als Faszinosum reflektiert werden, weil sie in den Aktivitäten ihrer Lese- und Verstehensprozesse auf ihre gebrochenen Biografien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reflektieren und Modernitätspotenziale von Werken der klassischen Moderne diskursiv auf Konfliktzonen moderner Subjektivität in gerotranszendenten Perspektiven gegen verwertbares Wissen untersuchen. In diesem kreativ forschenden Verstehensprozess lenken Werke der bildenden Kunst und Literatur mittels ästhetischer Distanz die Perspektiven der Rezipientinnen. Im Wechselbezug zwischen den Werken und ihren Rezipientinnen lernen letztere sich und die Welt, in der sie leben, besser verstehen. Über die Darstellungsebene der Werke hinaus motivieren Werke der Moderne einen ästhetischen Betrachterstandpunkt, der sich in Analogie zu den existenziellen Grunderfahrungen der Moderne als transitorisch flexibel deuten lässt, weil er nicht auf einer traditionellen, reifizierenden Betrachtungsweise beharrt. Transitorische Identität wird in dieser Perspektive zu einer kultursemiotischen Rezeptionskategorie, die die Aufnahme der Werke der Moderne in kreativer Auseinandersetzung, in Bezug auf Rezipientinnen des dritten Lebensalters, gerotranszendent prägt. Die folgende Studie geht diesem Problemaufriss nach und damit über Fachgrenzen, in Einbeziehung einer psychoanalytischen Kulturwissenschaft, hinaus.

12 | »Die Verführung in ein Jenseits [menschlicher] Realität ist ein wesentlicher Eintrittsschlüssel zum Kunstgenuss […]«, E. List ebd., S. 252.

3. Kultursemiotik und Psychoanalyse als Kulturwissenschaft

Psychoanalyse kann als Kulturtheorie verstanden werden, wenn man mit Freuds kulturtheoretischen Schriften akzeptiert, dass »der Mensch in seiner individuellen Entwicklung nur als Kulturwesen existiert und daher ohne Auseinandersetzung mit Kultur eben nicht verstanden werden kann.«1 Im Folgenden geht es um die Frage, warum die Psychoanalyse als Kulturwissenschaft ein integraler Bestandteil der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft ist und wie sie sich in das von Nünning und Sommer erarbeitete kultursemiotische Model einfügen lässt?2 Wir beginnen mit der Darlegung dieses kultursemiotischen Modells.

1 | E. List ebd. S. 15. 2 | A. Nünning & R. Sommer: »Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transzdisziplinäre Perspektiven« ebd., S. 17–18; siehe auch in Auswahl: P. Ricœur ebd.; W. Iser ebd., S. 67–86; J. Cremerius/W. Mauser/C. Pietzker/F. Wyatt (Hg.): Freiburger Literaturpsychologische Gespräche. Band 1ff. Würzburg: Königshausen & Neumann 1981ff; A. Lorenzer (Hg.): Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur. Frankfurt/M.: Fischer 1988; W. Schönau/J. Pfeiffer: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2003; H. de Berg: Freud’s Theory and Its Use in Literary and Cultural Studies. An Introduction. New York: Camden House 2003; W. Müller-Funk: Kulturtheorie. Tübingen/Basel: Francke 2006; J. Whitebook: Der gefesselte Odysseus. Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Campus 2009; M. Kettner: »Psychoanalyse als Kulturwissenschaft«, in: F. Jaeger und J. Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2. Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart: Metzler 2011, S. 592–601; J. Starobinski: Psychoanalyse und Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990; P.-A. Alt: Der Schlaf der

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Nünning und Sommer gehen von einem »bedeutungsorientierten und konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff« aus.3 In dieser Perspektive tritt ein holistischer Kulturbegriff in den Blick, der »Kultur als de[n] von Menschen erzeugte[n] Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen« auffasst.4 Mit dieser Kulturauffassung wenden sich Nünning und Sommer gegen idealisierende und ästhetisierende Kulturbegriffe. In Anlehnung an Roland Posners semiotische Kulturtheorie entwerfen sie ein dreidimensionales Modell, das der Einsicht entspricht, dass Kulturen außer den Kulturgütern einer Nation, also außer einer materialen Dimension, auch eine soziale und mentale Dimension haben. Zur mentalen Kulturdimension zählen Nünning und Sommer Mentalitäten, Selbstbilder, Normen und Werte; zur sozialen Dimension zählen sie Individuen, Institutionen und Gesellschaft; zur materialen Dimension Gemälde, Architektur, Gesetzestexte und literarische Texte. Da die mentalen Dispositionen einer Kultur künstlerische Ausdrucksformen erst möglich werden lassen, können Analysen literarischer Formen, die als Texte in der materialen Kulturdimension angesiedelt sind, Aufschluss über die mentalen Dispositionen einer Epoche im Zusammenspiel mit ihren sozialen und materialen Phänomenen geben.5 Diesem Modell entsprechend bestehen zwischen den drei Dimensionen »vielfältige Überschneidungen und Wechselwirkungen«6. Die Konsequenzen aus diesem Modell für eine kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft sind (a) die Untersuchung der Verfahren, nach denen kulturelle Einheiten gebildet werden, die keine Objekte, sondern menschliche Konstrukte sind, (b) ein weiter Literaturbegriff, der Literatur als Teil der Medienkultur versteht, und (c) die Berücksichtigung aller drei Kulturdimensionen, da literarische Texte in verdichteter Form Auskunft geben über mentale Dispositionen einer Epoche und im Feld der sozialen Dimension gesellschaftlichen und institutionellen Verteilungsmechanismen unterliegen: »Die mentale Kultur einer Gesellschaft mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen heißt somit, das Gesamtsystem kulturell geVernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München: Beck 2002; P. v. Matt ebd. 3 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 18. 4 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 18. 5 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 18–19. 6 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 19.

3. Kultursemiotik und Psychoanalyse als Kultur wissenschaf t

prägter Werte, Normen, Weltanschauungen und Kollektivvorstellungen zu rekonstruieren.« 7 Dabei geht es um die Fragen, in welchem Verhältnis literarische Texte zu den Vorstellungen, Wissensformen und Diskursen einer Gesellschaft stehen, wie sie soziokulturelle Deutungsschemata ihrer Zeit verarbeiten und welche gesellschaftliche Funktionen sie jeweils erfüllen. Es ergibt sich die Forderung, dass literarische Texte als Ausdrucksformen der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung einer Epoche einer genauen Analyse unterzogen werden müssen. Weitere Forderungen schließen sich an: (1.) die Beziehung literarischer Texte zur Gesamtkultur in den Blick zu nehmen; (2.) der Frage nachzugehen, woraus die dynamisierenden Elemente bestehen, die die Überschneidungen und Wechselbeziehungen zwischen den drei Kulturdimensionen bewirken. Auf die erste Forderung geben Nünning und Sommer mit Jürgen Link die Antwort, dass literarische Texte die kulturellen Ausdrucksformen der drei Kulturdimensionen interdiskursiv miteinander verzahnen, weil sie, verdichtet und hochselektiv, »interdiskursive Sprachspiele« sind, die die Diskurse einer Kultur konnotativ reintegrieren.8 Diese Perspektive impliziert die Frage nach den dynamisierenden Elementen zwischen den drei Kulturdimensionen. Diesen Fragen geht auch Posner nach: »›Wie wird das Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft durch ihre Kultur bestimmt?‹« Und: »›Wie bestimmt eine Gesellschaft ihre Kultur?‹«9 Aus der Perspektive psychoanalytischer Kulturwissenschaften lassen sich diese Fragen ergänzen durch die Fragen, worin in Bezug auf die kulturelle Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung einer Epoche, also in Bezug auf die mentale Dimension einer Kultur, »die komplementäre Verschränkung psychischer und gesellschaftlicher Strukturen« bestehe und warum »die dialektischen Verhältnisse zwischen psychischen und sozialen Faktoren und deren symbolischer Niederschlag« kulturwissenschaftlich von besonderem Interesse seien.10 Wenn man die Frage nach den dynamisierenden Elementen zwischen den drei Kulturdimensionen stellt, kann man mit 7 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 19. 8 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 21. 9 | R. Posner: »Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe«, in: A. Assmann, D. Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 37–74, hier: S. 55 (im Original in Anführungszeichen). 10 | E. List ebd., S. 16, S. 23.

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Posner und List von Kultur »als umfassende[m] Ganze[n]«11 ausgehen, in dem alles Kultur außer der Natur ist, und mit Nünning/Sommer hinzufügen, dass Kultur in Wirklichkeitssegmente untergliedert ist, die durch Codes das Überleben der Menschen sichern bzw. die durch Triebverzicht und Verzicht auf Glücksmaximierung individuell (soziale Dimension), durch Recht und Gesetz (materiale Dimension), durch Normen und Werte (mentale Dimension) einen Zugewinn an Lebenssicherheit bedeuten. Dabei erhält das Unbewusste im Sinne Freuds, das zwar zeitlos, über die »Verneinung«12 aber mit Vorbewusstsein und Bewusstsein verschränkt ist, den Charakter eines diagnostischen Kulturmodells;13 Verneinung wird in der therapeutischen Kur als Prinzip verwendet, mithin ist von der Negation der Patienten abzusehen und der reine Inhalt des Gemeinten zu ergreifen. Für eine psychoanalytische Sprach- und Literaturtheorie folgt daraus, dass die narrative Verneinung versucht, »auf der Oberfläche etwas zurückzunehmen, was auf der Tiefenebene sich schon längst Bahn gebrochen hat.«14 Jeremy Tambling formuliert die kulturkritische Sicht der Psychoanalyse in Bezug auf Blakes Gedicht ›Infant Sorrow‹ aus den Songs of Experience (1794) diesbezüglich so: »Literature’s essence, on the basis of what has been said in the analysis of Blake’s poem, is that it has no essence […] because language condenses and displaces. If so, things are hidden inside other things, and mean something slightly different from what they seem to mean. Psychoanalysis shows that. Literature, when read for that sense of repressed meaning being always a potential in the text […] helps to see psychoanalysis […] as drawing together allusive images and concepts that can only overly be provisionally interpreted.« (Tambling 2012: 13)

11 | W. Müller-Funk ebd., S. 8, S. 38. 12 | S. Freud: »Die Verneinung« (1925), in: Sigmund Freud: »›Der Dichter und das Phantasieren‹ ebd., S. 234–238. 13 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« (1930), in: S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von A. Lorenzer und B. Görlich. Frankfurt/M.: Fischer 2015, S. 29–108; W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016, S. 504–515; P. Ricœur ebd., S. 440; P. v. Matt ebd., S. 10–14. 14 | O. Jahraus ebd., S. 334.

3. Kultursemiotik und Psychoanalyse als Kultur wissenschaf t

Hier öffnet sich ein enormes »kulturanalytisches Potenzial«15, das Aufschluss geben kann über die in der mentalen Kulturdimension eingelagerten psychodynamischen Energien. Da Literatur in Freuds kulturtheoretischen Schriften als »kulturelles Dokument der Psyche gelesen und analysiert werden kann«16 und künstlerische Ausdrucksformen dem mentalen Programm einer Kultur Gestalt geben, mithin den »Tiefenebenen« einer Kultur, auf denen normativitätsöffnende Prozesse ablaufen, mehrdimensional Ausdruck verleihen, wird bei der Erschließung von Kunstwerken auf Seite der Rezipientinnen ein ästhetisches Imaginationsspiel in Gang gesetzt, das die Fähigkeit zur aktiven Imagination evoziert. Verena Kast versteht darunter, »daß das Ich aktiv in die Imagination eintritt, daß es ›kontrollierend‹ und verändernd-verwandelnd ins imaginative Geschehen eintreten kann. Dadurch wird das Unbewußte dem Bewußtsein verbunden.«17 In Bezug auf eine psychoanalytisch ergänzte kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft werden produktions- und rezeptionsästhetisch dynamische Verschränkungen zwischen den drei Kulturdimensionen sichtbar, die von der mentalen Seite der Kultur her literarische Texte, also mediale Ausdrucksformen, mit der Gesamtkultur interdiskursiv verzahnen. Einmal, weil literarische Texte als Teil der Medienkultur über die »verführerische Macht« von Sprachbildern in einer »aesthetics of astonishment« (Brooks 1995, 24–55) Einfluss auf das Konsumverhalten nehmen können:18 In Hardys Roman Tess wird das Klischee der sinnlich attraktiven Landarbeiterin als verführerische Imago evoziert und gegenperspektivisch in der Imago der »pure woman« konterkariert. In Lawrences Roman Sons and Lovers wird ein Klischeebild des Künstlers und der ihm ergebenen Frauen gestaltet und zugleich destruiert. In Woolfs Roman To the Lighthouse wird Mrs Ramsay als Klischee weiblichen Rollenverhaltens im Viktorianismus angelegt und zugleich radikal zersetzt. Diese für Rezipientinnen des dritten Lebensalters erkannten Ambivalenzen führen zu erregten Diskursbeiträgen.19 Weiterhin denke man an die Naturschil15 | O. Jahraus ebd., S. 335. 16 | O. Jahraus ebd., S. 315. 17 | V. Kast: Imagination als Raum der Freiheit. Dialog zwischen Ich und Unbewußtem. München: dtv 1995, S. 159. 18 | E. List ebd., S. 255. 19 | Siehe dazu unten die Ausführungen zur melodramatischen Imagination, beispielsweise in Hardys Roman Tess.

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derungen in Hardys und Lawrences Romanen, aber auch an Potenziale von Bildern in der bildenden Kunst, an musikalische Motive in der klassischen Musik, an Klänge als »immaterielle[s] Kulturgut«20. Darüber hinaus denke man an weibliche und männliche Bilder in bildender Kunst und Literatur, die als Rollenklischees, befragt werden können, aber auch bis in Modeboutiquen hinein wirken. In Bezug auf eine Ästhetik der Werbung spielen im Feld der materialen Kulturdimension Markt- und Meinungsforschungsstrategien eine wesentliche Rolle. Diese konzentrieren sich auf Wünsche, Erwartungen, Lebensstile von Konsumenten und ihre Bereitschaft, Werbung an sich heranzulassen, in Bezug auf die soziale und mentale Kulturdimension. Zu den Markt- und Meinungsforschungsstrategien gehört auch eine Marktforschung, die mit der Imago-Vorstellung der Gestaltpsychologie mit dem Ziel arbeitet, bei potenziellen Käufern archaische Vorstellungen zu evozieren. Dieser Zweig der Marktforschung im Feld der materialen Dimension sieht Konsumgüter »als Projektionsfläche menschlicher Wunschvorstellungen«21 in Bezug auf die soziale und mentale Kulturdimension. Immer geht es um das Verhältnis von Kunst und Werbung, das nicht nur als komplex, sondern als reziprok in den Feldern der mentalen, materialen sowie sozialen Kulturdimension aufzufassen ist. Viele der modernen bildenden Künstler waren und sind für die Werbung tätig.22 Zudem denke man an Wirkungen des Unbewussten in der Kultur durch eine metaphysische Erhöhung bzw. durch die soziale Erniedrigung des Weiblichen23 im Feld der mentalen Kulturdimension. Metapsychologisch und kultursemiotisch geht es um Prozesse der Ästhetisierung, die sich im Feld der mentalen Kulturdimension als die »wirkungsmächtigste Antwort auf die zweckorientierten und normativen Rationalisierungsprozesse der Moderne sowie auf deren Affekt- und Motivationsmangel her-

20 | N. MacGregor: »Es gibt nicht die eine Geschichte. Sondern es sind viele Geschichten, die zählen. Eine Antwort an die Kritiker des Berliner Humboldt Forums«, in: Die Zeit, Nr. 14, 28. März 2018, S. 45. 21 | T. Baumgärtel (Hg.): Texte zur Theorie der Werbung. Stuttgart: Reclam 2018, S. 164. 22 | T. Baumgärtel ebd., S. 246. 23 | F. Voßkühler: Begehren – Lieben – Denken. Ein philosophisch–literarischer Näherungsversuch an das Weibliche anhand von Bildern. Mit einer Kritik an Judith Butler zum Schluss. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015.

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ausstellen […].«24 Es geht um eine Ästhetisierung der Ökonomie. Kunst durchbricht Grenzlinien. Im Zeichen digitalisierter Medien wird sie disponibel für freizusetzende kreative Kompetenzen,25 die sehr spezifische Versionen der »disparaten Ästhetisierungsprozesse« der Moderne sind.26 Diese Ästhetisierungsprozesse wirken kultursemiotisch und metapsychologisch vom Feld der mentalen Kulturdimension aus interdiskursiv auf die Dimensionen der Gesamtkultur. Diese Wechselwirkung belegt auch Neil MacGregor. MacGregor ist Leiter der Gründungsintendanz des Berliner Humboldt Forums. In seiner Replik auf Hanno Rauterbergs Kritik am Programm des Berliner Humboldt Forums (Die Zeit Nr. 11/2018) hebt MacGregor, von der materialen Kulturdimension ausgehend, die Verzahnung von Kulturgütern und sozialem Verantwortungsbewusstsein in Bezug auf die Enteignungspolitik im Kolonialzeitalter mit den entsprechenden institutionellen und ökonomischen Folgen hervor sowie die Aufgaben des Humboldt Forums, nicht Eindimensionalität, sondern »Multiperspektivität« zum organisatorischen Prinzip des Forums zu machen. Damit ließen sich Grenzen des Denkens, akademische und institutionelle Grenzen überwinden. Als einen entscheidenden Aspekt betont MacGregor, dass das Humboldt Forum »mehr als jeder andere Museumskomplex der Welt zum Haus der Klänge wird – des Gesangs, der Sprachen, der Poesie und Musik, der Tänze, Feste und Traditionen«, mit dem Ziel, nicht eine hegelsche Geschichte, sondern viele Geschichten simultan zu erzählen. Diese Geschichten, Klänge, Tänze, also materialen Formen und Medien »spielen für jede Gesellschaft eine so zentrale Rolle, weil sie ihre Identität formen, verändern und weil sie von Generation zu Generation weitergereicht werden«27, also mentale Aspekte von Kulturen beobachtbar werden lassen. Daraus ergibt sich zweitens, dass Kunst und literarische Texte deshalb interdiskursiv mit der Gesamtkultur verzahnt sind, weil Kultur, im Sinne individueller, institutioneller, ökonomisierter und in Werten und Normen sich zum Ausdruck bringender Lebensentwürfe (Freud nannte seelische 24 | A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp: Berlin 2012, S. 319. 25 | S. Gößl: »Kunst und Wirtschaft: Gibt es eine Ästhetisierung der Wirtschaft?«, in: M. Fick und S. Goessel (Hg.): Der Schein der Dinge Einführung in die Aesthetik. Tübingen: Attempo 2002, S. 259–260. 26 | A. Reckwitz ebd., S. 357. 27 | N. MacGregor ebd., S. 45.

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Vorgänge des Menschen Lebensentwürfe)28, weil Kultur als »ein beständiger Kampf um das Realitätsprinzip und die Sublimierungsfähigkeit […], wie […] auch die Zivilisierung der einzelnen Menschen ein nie abgeschlossenes Unterfangen ist«29. Da Literatur und künstlerische Formen Objektivationen »des mentalen Programms ›Kultur‹« sind, kann man durch die Analyse künstlerischer und literarischer Ausdrucksformen »das kulturelle Wissen, die Werte sowie die unausgesprochenen Grundannahmen und Wirklichkeitsvorstellungen einer Epoche« erschließen.30 Mit Adorno lässt sich diagnostizieren: »Die Grundschichten der Erfahrung, welche die Kunst motivieren, sind der gegenständlichen Welt, vor der sie zurückzucken, verwandt. Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft.« (Adorno 1973: 16) Kultur als Gesamtkultur hat krisenbesetzte Unsicherheitsbedingungen bzw. Extremsituationen in interaktiven Wechselbezügen ihrer Dimensionen zu bewältigen: Auf individueller Seite wie durch Gruppen können alltägliche Vorurteile zu Irrtümern und Konflikten führen, die sich politisch in Kulturkämpfen, Sozialkämpfen, Bürgerkriegen auswirken (soziale Dimension); Konflikte können durch Interessenkonflikte ökonomische bzw. kriegerische Dimensionen annehmen (mentale Dimension).31 Konflikte kommen als zugespitzte Antagonismen in Bezug auf die soziale und mentale Kulturdimension verdichtet in modernen Museen, in literarischen Texten und in diesen Verdichtungen potenziell auch kontraphobisch in romantisierenden Schlüssen oder Epiphanien zum Ausdruck (mentale Dimension). Als opera, die auf ihren Tiefenebenen eine unbewusste Dynamik in Gang setzen, der man sich schwer entziehen oder der man sich widersetzen kann, verknüpfen literarische Texte in der Perspektive einer psychoanalytisch ergänzten kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, in Plädoyers für eine emanzipierte Subjektivität interdiskursiv die materiale und soziale Kulturdimension aus der Perspektive der normativitätsöffnenden mentalen Dimension einer Kultur. 28 | A. Lorenzer: »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«, in: A. Lorenzer, KulturAnalysen, S. 7–98, hier: S. 91. 29 | E. List ebd., S. 45. 30 | A. Nünning & R. Sommer ebd., S. 21. 31 | E. List ebd., S. 215, S. 186.

4. Psychoanalytische Kulturtheorie

Sigmund Freuds Schrift »Das Unbehagen in der Kultur«

Da im Zusammenspiel von literarischen Texten und Leserinnen die jeweils kulturell bestimmten und persönlich ausgebildeten »kognitiven, affektiven, imaginativen und evaluativen Kompetenzen«1 evoziert werden, können bei der Lektüre moderner Romane, in der Übersetzungsleistung durch ästhetische Distanz fundamentale Bedingungen menschlicher Existenz in der Moderne erschließbar werden. In Bezug auf Rezipientinnen des dritten Lebensalters werden hier in gerotranszendenter Perspektive Fragen konfliktualer Beziehungen mit den Eltern in der Nachkriegszeit (kulturelle Gefühlsambivalenzen mit äußeren Autoritäten), individuelle und kulturelle Fragen der Schuld (Vertrauensverlust, familiär und politisch, Helfersyndrom), das Entsetzen über eine entzweite Welt (Fragen der Sozialpathologie und des individuellen Leidens, Künstlertypus) virulent. Die Textstrukturen bieten jedoch in ihren emotiven Sprachbildern kontraphobische Erschließungspotenziale. In seiner kulturkritischen Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) fragt Freud nach den subjektiven, auch in künstlerischen Werken zum Ausdruck kommenden Seiten der kulturellen Lebenswelt, und er geht der Frage nach, wie sich kulturelle Normen und individueller Lebensentwurf zueinander verhalten. In Beantwortung dieser beiden miteinander verschränkten Fragerichtungen stößt er auf die ontogenetisch hergeleitete Problematik der Kultur im Sub-

1 | L. Bredella: Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen: Narr 2010, S. 18.

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jekt,2 die er im zweiten Teil seiner Schrift 3 phylogenetisch bzw. anthropologisch zur Problematik des Subjekts in der Kultur ausweitet.4 Damit ist die Perspektive auf Struktur, Bildungsprozesse und freiheitliche Potenziale der Subjektivität in der Kultur sowie das Unbehagen, das Kulturen in Subjekten mit Möglichkeiten der Kulturfeindlichkeit5 auslösen, geöffnet. In Bezug auf die diskursive Einkreisung des Unbewussten, das noch immer unter dem Verdacht des Widervernünftigen steht – oben wurde bereits auf Peter von Matts Gegenvorschlag eingegangen, dass das Unbewusste im Kontext der Kultur den Charakter eines diagnostischen Kulturmodells erhält6 – heißt dies, wie Freud in seinen kulturtheoretischen Schriften hervorhebt, dass das »Unbewußte […] nicht das Wider-Vernünftige, sondern eine psychische und kulturelle Dynamik mit anderer Logik als die der rationalen Ausdifferenzierung [ist] – eine Kraft aber, die dann, wenn sie nicht in zivile Formen eingebettet wird, selbst hochentwickelte Kulturen barbarisieren kann. Das ist im 20. Jahrhundert blutig bestätigt worden«. (Böhme, Matussek 2000: 82–83) Gegenstand der kulturtheoretischen Schriften Freuds ist die Gesamtheit kultureller Beziehungen in der durch phylogenetische bzw. anthropologische Bezüge komplementierten ontogenetischen Perspektive einer kulturellen Lebenspraxis. Es entsteht ein »Gesamtbild der Kultur« 7, dessen Dynamik in der Konfliktspannung zwischen Lustprinzip und feindlicher Umwelt in der materialen Kulturdimension literarisch verdichtet zum Ausdruck kommt und sich interdiskursiv produktions- und rezeptionsästhetisch auf die soziale und mentale Dimension einer Kultur bzw. Epoche bezieht. Eine psychoanalytisch ergänzte kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft arbeitet interdisziplinär heraus, dass Kultur kein Luxus, sondern ein

2 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) in: S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von A. Lorenzer und B. Görlich. Frankfurt/M.: Fischer 2015, S. 56 (Abschnitt III). 3 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 72–108 (Abschnitte V–VIII). 4 | A. Lorenzer und B. Görlich: »Einleitung«, in S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur ebd., S. 7–28, hier: S. 21–22. 5 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 62 (Abschnitt III). 6 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 29–108; W. Iser: Das Fiktive ebd., S. 504–515; P. Ricœur ebd., S. 440; P. v. Matt ebd., S. 10–14. 7 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 62 (Abschnitt III).

4. Psychoanalytische Kultur theorie

»dramatische[s], todgefährliche[s] Unternehmen« ist.8 Ihr geht es in Bezug auf nicht-therapeutische Anwendungen um »das politisch-praktische Ziel einer psychoanalytisch aufgeklärten Gesellschaftskritik«,9 wie sie beispielsweise Horst-Eberhard Richter, Alexander und Margarete Mitscherlich, Erich Fromm entwickelten. Während Erich Fromm die Ergänzung von Historischem Materialismus und Psychoanalyse herausarbeitete – ihm ging es um die ökonomischen Bedingungen individueller Lebensäußerungen und kultureller Leistungen –10, entwickelt Alfred Lorenzer die Maxime Freuds, die Traumdeutung sei der Königsweg zur Erschließung des Unbewussten weiter zum »Methodengedanken einer psychoanalytischen Kulturanalyse«.11 Diese solle nicht die Persönlichkeit eines Patienten verändern, sondern dessen Sensibilität für kulturelle Machtverhältnisse und entsprechende Triebversagungen vergrößern. Dem Unbewussten kommt hierbei das »Wirkungspotenzial [eines] eigenständige[n] und eigenständig wirksame[n] System[s]« zu, das an die Leiblichkeit des Menschen und damit an seine »Verankerung in soziokulturellen Prozessen« gebunden ist.12 Den Leidensdarstellungen der Patienten kommt in diesem Zusammenhang weniger die Funktion einer Selbstdarstellung zu, vielmehr erkennt Lorenzer mit Freud »den zutiefst sozialen Gehalt der Leidensdarstellungen« der Patienten und damit wiederum deren kulturgeschichtlichen Sinn.13 In Bezug auf eine tiefenhermeneutische Kulturanalyse geht es Lorenzer daher auch um die erschließende und reflektierende Auseinandersetzung von Leserinnen mit Werken der Literatur und der Kunst: »Es gilt, die Wirkung, die sich im ›Leser‹ einstellt, zu verstehen und im ›Leser/Interpreten‹ einsichtig zu machen, um so die Grenze zu den noch-nicht-bewußtseinsfähigen Lebensentwürfen zu verändern.« (Lorenzer 1988: 86) Im Rahmen einer psy8 | W. Müller-Funk ebd., S. 34. 9 | M. Kettner ebd., S. 593. 10 | E. List ebd., S. 187. 11 | M. Kettner ebd. S. 595. 12 | A. Lorenzer: »Die Entdeckung der unbewußten Sinnstruktur«, in: A. Lorenzer: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften. Herausgegeben von U. Prokop. Mit einer Einleitung von B. Görlich und einer Einführung von M. Leuzinger-Bohleber. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 45–61, hier: S. 58, S. 61 (Herv. i.O.); B. Görlich: »Einleitung«, in: A. Lorenzer: Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte ebd., S. 7–20, hier: S. 15. 13 | A. Lorenzer: »Die Entdeckung der unbewußten Sinnstruktur« ebd., S. 60–61.

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choanalytischen Kulturtheorie symbolisiert das Werk mehrdimensional »als ein ursprünglicher Akt, als eine Bruchstelle«14 einen zentralen Aspekt der mentalen Kulturdimension, durch die Aspekte der sozialen und materialen Kulturdimension erkennbar und reflektiert werden können. Daraus folgt, dass sich menschliche Phänomene nur in Bezug auf soziale Strukturen, politische Institutionen, Mentalitäten, Werte und Normen, Gebäude, künstlerische Produktionen, also in der Interrelation zwischen den Mikround Makrobereichen der sozialen, materialen und mentalen Kulturdimension »entlang materieller Gegebenheiten« erfassen lassen.15 Das todgefährliche Unternehmen Kultur, das sich als dramatischer Konflikt zwischen Glücksanspruch und Glücksversagen in den Subjekten aufspannt und sich anonymisiert in gesellschaftlichen Institutionen und Ökonomie als fremde Macht gegen sie richtet, findet in Werken der bildenden Kunst, der Literatur und Musik seit der frühen Neuzeit in verdichteter Form ihren ästhetischen Ausdruck als Konfliktstruktur zwischen Forderungen nach autonomer Entfaltung und ihrer Durchkreuzung durch eine feindliche Umwelt. In der durch ästhetische Distanz vermittelten Wechselbeziehung zwischen Werken und Leserinnen können Leserinnen im Rahmen einer psychoanalytischen Kulturtheorie, wenn sie das zulassen, zu »der Grenze zu den noch-nicht-bewußtseinsfähigen Lebensentwürfen«16 in Bezug auf ihre Selbst- und Weltentwürfe vordringen und diese in Bezug auf die Gesamtkultur, in der sie leben, und auf eine frühere Epoche reflektieren. Dadurch, dass die Psychoanalyse der menschlichen Psyche eine anthropologische und kulturelle Bedeutung zuschreibt, wird die »Psychoanalyse selbst […] zu einer umfassenden anthropologischen und kulturellen Theorie«.17 Kultur und Literatur nehmen in der Psychoanalyse, so Jahraus weiter, eine prominente Stelle ein, weil Kultur in psychischen Verhältnissen wirkt und Literatur »als kulturelles Dokument der Psyche gelesen und analysiert werden kann.« In den Schriften Freuds wird Kultur »als eigenständiger Gegenstand unter psychoanalytischen Voraussetzungen interessant«18.

14 | J. Starobinski ebd., S. 107. 15 | E. List ebd., S. 190. 16 | A. Lorenzer: »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse« ebd., S. 86. 17 | O. Jahraus ebd., S. 315. 18 | O. Jahraus ebd., S. 315.

5. Die Problematik des Sinnverlusts in moderner Literatur im Wechselbezug zwischen Werk und Rezipientinnen des dritten Lebensalters

In der Theorie einer psychoanalytischen Kultursemiotik sind Kunstwerke, ist Literatur den kulturellen Gedächtnismedien zuzurechnen.1 Indem sie kulturgeschichtliche Erfahrungen künstlerisch und narrativ verdichten, transzendieren sie diese. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Epoche werden narrativ radikalisiert zusammen mit Fragen transitorischer Identitätsdispositionen in das Sinnvakuum der Moderne aufgehoben – bereits bei Shakespeare sowie in Romanen der Moderne, beispielweise bei Charles Dickens, Thomas Mann, Franz Kafka, Dostojewski.2 In diesen Zeitbezügen sind Kunst und Literatur als kulturelle Bruchstellen zeitübergreifend.3 Zugleich laden sie verwirrungsästhetisch und metapsychologisch heutige Rezipientinnen des dritten Lebensalters zu ihrer Erschließung ein und provozieren die von Alfred Lorenzer hervorgehobenen Grenzerfahrungen, die nicht allein subjektiv, sondern, wie Lorenzer, Fromm und Link in unterschiedlichen Weiterführungen von Freud darlegen, kulturgeschichtlich vermittelt sind. In Bezug auf Rezipientinnen des dritten Lebenalters öffnet sich hier eine Doppelperspektive: Einmal sind sie als zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg Nachkriegskinder, zum anderen und zugleich sind sie Alternde mit gerotranszendenten Erfahrungen. Beide Perspektiven sind in Bezug auf die mentale 1 | R. Posner ebd., S. 64–67; A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 2005; H.-C. Ramm: Lesen ebd. 2 | H.-C. Ramm: Lesen ebd. 3 | J. Starobinski ebd., S. 107.

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und soziale Instabilität und Resilienz Alternder im Wechselbezug zwischen literarischen Werken erkenntnisleitend, wie am Beispiel der unten besprochenen Romane Thomas Hardys, David Herbert Lawrences und Virginia Woolfs dargelegt werden soll. Wie aber lassen sich in der Wechselbeziehung zwischen literarischen Texten und Leserinnen ästhetische Erfahrungen der Identifizierung, der Distanzierung und kathartische Erfahrungen auf der Grundlage einer psychoanalytischen Kultursemiotik von Seiten der Rezipientinnen verstehen? Literarische Werke entwerfen Möglichkeitsuniversen, in denen das kollektive Unbewusste den Charakter eines diagnostischen Kulturmodells erhält.4 Dieses führt über das Imaginationsvermögen der Rezipientinnen in selbsttranszendierende Tiefendimensionen, die sie kulturell unterschiedlich miteinander teilen. Als Beleg für diese »allgemeine Wirksamkeit« des Unbewussten, die durch »eine ähnliche Allgemeingültigkeit« in der Kinderpsychologie« erschließbar ist,5 führt Freud in seinen Kulturschriften u.  a. in der Traumdeutung, in seinem Essay Das Unbehagen in der Kultur das Drama König Ödipus von Sophokles und [in der Traumdeutung] Shakespeares Hamlet als Belege an. Da bei der Lektüre literarischer Texte oder im Zuschauerraum die kognitiven, imaginativen und affektiven Fähigkeiten der Rezipientinnen angesprochen werden und literarische Werke sie einladen, »die Gefühle und Gedanken anderer zu erschließen«6, können Rezipientinnen, wenn sie das zulassen, in den inneren Bereich der von Alfred Lorenzer dargelegten tiefenhermeneutischen Grenze zu noch-nicht-bewußtseinsfähigen Lebensentwürfen vordringen. Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf die imaginäre Dynamik des Erschließungs- und Verstehensprozesses. Was geht in Zuschauerinnen bzw. Leserinnen vor, wenn sie beispielsweise Shakespeares Drama Romeo und Julia sehen und mit der Opferung des jungen Liebespaares konfrontiert werden? Was geht in Rezipientinnen vor, wenn sie Romane von Dickens oder den Schwestern Brontë lesen und sich mit den Außen-

4 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 29–108 (Abschnitte I–VIII); W. Iser: Das Fiktive ebd., S. 504–515; P. Ricœur ebd., S. 440; P. v. Matt ebd., S. 10–14. 5 | P. v. Matt ebd., S. 19. 6 | L. Bredella: Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr 2002, S. 46.

5. Die Problematik des Sinnverlusts in moderner Literatur

seiterfiguren dieser Romane auseinandersetzen? 7 Wie ertragen Rezipientinnen die Erzählwelten Franz Kafkas, in denen Protagonisten unschuldig zu Ausgestoßenen einer egomanischen Konkurrenzgesellschaft werden? Was geschieht, wenn wir über die Trampfigur Chaplins lachen?8 Geht man produktionsästhetisch der Frage nach, wie Literatur seit der frühen Neuzeit mit der »unversöhnliche[n] Konflikthaftigkeit« und »den notwendigen Einschränkungen« in der abendländischen Kultur aus der Notwendigkeit des Überlebens umgeht,9 dann treten Erzählfiguren als Außenseiter, Ausgeschlossene und Opfer in die Zentren der Deutung. Dreh- und Angelpunkt dieser Zentren, und das gilt auch für die weiter unten dargestellte Wechselbeziehung zwischen Rezipientinnen des dritten Lebensalters und den Romanen Hardys, Lawrences und Woolfs, ist die Dezentrierung des modernen Subjekts im Zusammenhang mit der Durchkreuzung seiner Autonomieansprüche und möglichkeiten. Rezeptionsästhetisch bedeutsam wird in der Wechselbeziehung zwischen den Werken und ihren Leserinnen, dass die Rezipientinnen an die von Lorenzer dargelegten Grenzerfahrungen herangeführt werden. Das heißt, sie werden aus der Perspektive der Erwachsenen des dritten Lebensalters als Kinder der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg affiziert. Sie können, wenn sie das zulassen, über die narrativen Strategien der Erzählwelten zu einer Art erkenntnisleitender Katharsis gelangen.10 In den Abschnitten VII und VIII seines Essays »Das Unbehagen in der Kultur« stellt Freud »das Schuldgefühl als das wichtigste Problem der Kulturentwicklung« dar.11 In Bezug auf jemanden, dem ein Unglück zugestoßen ist – und dieses Widerfahrnis kann rezeptionsästhetisch anhand der literarischen Figuren, die Opfer sind, von Rezipientinnen in ästhetischer Distanz wiedererkannt werden – führt er aus, dass derjenige, dem ein Unglück widerfahren ist, »Einkehr in sich halte« und »seine Gewis7 | H.-C. Ramm: Lesen ebd., S. 127–280. 8 | H.-C. Ramm: »›…Kälte atmend der Ofen…‹. Edvard Munch, Franz Kafka, Charlie Chaplin – Deuter der Moderne«, in: I. Karg/B. Jessen (Hg.): Kanon und Literaturgeschichte. Facetten einer Diskussion. Frankfurt/M.: Lang 2014, S. 53–71. 9 | E. List ebd., S. 87. 10 | E.T. Haas: … und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 321. 11 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 97 (Abschnitt VIII).

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sensansprüche« erkenne.12 Freud fährt in der Verschränkung von ontogenetischer und phylogenetischer Argumentation fort, dass ganze »Völker […] sich ebenso benommen [haben,] und [sie] benehmen sich noch immer so«.13 Er begründet im Folgenden, dass sich die Einkehr in sich »aus der ursprünglich infantilen Stufe des Gewissens [erklärt], die […] nach der Introjektion ins Über-Ich nicht verlassen wird, sondern neben und hinter ihr fortbesteht«.14 Entsprechend wird das »Schicksal […] als Ersatz der Elterninstanz angesehen […]«,15 wie man beispielsweise in Shakespeares Drama Romeo und Julia, in Umkehrungen in Shakespeares Hamlet und King Lear sowie in Kafkas Erzählwelten reflektiert erschließen kann. Freud fährt fort, dass derjenige, dem ein Unglück geschehen sei, empfinde, er sei von der Elterninstanz, dem Schicksal nicht mehr geliebt. Er fühle sich deshalb von diesem Liebesverlust bedroht und kapituliere »von neuem vor der Elternvertretung im Über-Ich«, die man in Zeiten, in denen es einem gut ging, vernachlässigen wollte.16 Diese Kapitulation, die eine vor der übermächtigen Vater-Imago bzw. vor gesellschaftlich institutionalisierten Machtinstanzen ist, die dem Subjekt undurchschaut und schicksalsähnlich entgegenwirken, diese Kapitulation bedeutet, dass das Individuum, hier also die Rezipientinnen, sich in einem doppelten Konflikt mit inneren und äußeren Leiderfahrungen, Erfahrungen kultureller Pathologie befindet und dass ein Triebverzicht keine voll befreiende Wirkung mehr hat, die jedoch Kunst, Musik und Literatur kontraphobisch imaginär ermöglichen. Das Unbehagen in der Moderne entsteht für das moderne Individuum dadurch, dass es die Strafangst vor der äußeren Autorität eingetauscht hat gegen ein Schuldgefühl, das eine permanente Unglückssensibilität verursacht17 und damit die Reflexion auf befreiende Autonomiebildungsmöglichkeiten blockiert – wie die unten erläuterten Romane Hardys, Lawrences und Woolfs brennscharf erzählerisch zum Ausdruck bringen. Aus diesem Befund folgert Freud: »Die Aggression des Gewissens konserviert die Aggression der Autorität.«18 Durch die Int12 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 89 (Anschnitt VII). 13 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 89 (Abschnitt VII). 14 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 89–90 (Abschnitt VII). 15 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 90 (Abschnitt VII). 16 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 90 (Abschnitt VII). 17 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 91 (Abschnitt VII). 18 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 91 (Abschnitt VII).

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rojektion von Aggression wendet sich das Über-Ich über nicht ausgelebte Aggressionen gegen das eigene Ich, so dass unterdrückte Aggressionen das unbewusste Agressionspotenzial verstärken. Aus dieser autoaggressiven Tendenz, die beispielsweise in Kafkas Erzählwelten, aber auch bei Shakespeare und Romanen der Moderne ästhetisch distanziert in den Fokus gerückt wird, die zudem auf eine »Vernichtung des Subjekts«19 zielt, entstehen Selbstvorwürfe, die dem Individuum tadelnswert erscheinen, wie Scham, Selbstanklagen, Selbstentwertung und Selbstbestrafung, die zum Suizid führen kann [Shakespeares Hamlet und King Lear, Charlotte Brontës Jane Eyre, Virginia Woolfs To the Lighthouse, Teil III, beispielweise], entsteht zudem delinquentes Verhalten. Abschnitt VII seines Essays »Das Unbehagen in der Kultur« mündet in kulturanthropologische Überlegungen, die an Freuds Buch Totem und Tabu (1912–1913) anknüpfen, das er in Auseinandersetzung mit Forschungen Tylers (1871), Frazers (1890, 1910) und in Auseinandersetzung mit Darwins Darlegungen zur Urhorde verfasste.20 Freud führt hier »das menschliche Schuldgefühl auf die Tötung des Urvaters zurück […]«.21 Schuldgefühle und Reue seien als Reaktionen auf die Vatertötung durch die archaische Brüderhorde entstanden. Diese habe, infolge ihrer Reue über den Vatermord, das Inzesttabu an die Stelle der Gewalt des Urvaters und das Gewissen an die Stelle der äußeren Autorität gesetzt. Damit kam eine ursprüngliche Ambivalenz ins Spiel, die »in der Reue über die Tat die Liebe zum Vorschein« brachte.22 In der Errichtung des Über-Ichs machten sich durch Autoaggressionen Schuldgefühle bemerkbar. In der Identifikation mit der äußeren Autorität manifestierten sich gleichzeitige Gefühle von Liebe und Hass.23 In dieser Ambivalenz liegt die Destabilisierungs- und Dezentrierungsenergie des Über-Ich, die bis zum Suizid reichen kann und ästhetisch gebrochen zum Faszinosum der Literatur und der bildenden Kunst seit der frühen Neuzeit wird, beispielsweise auch in Edvard Munchs 19 | J. Laplanche, J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 459, S. 458; siehe dazu im Liebighaus Frankfurt/M.: W. Kentridge: »O Sentimental Machine«, 22. 03.-26. 08. 2018, eine Ausstellung, die das Verschwinden des Individuums in der Postmoderne zum Thema hat. 20 | E. List ebd., S. 176–178. 21 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 95 (Abschnitt VII). 22 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 95 (Abschnitt VII). 23 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 95 (Abschnitt VII).

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in unterschiedlichen Versionen gestaltetem Gemälde Der Schrei (um 1893). Die Ambivalenz der simultanen Gefühle von Hass und Liebe äußert sich im Zuge der Sozialisation des Individuums in einer krisenhaften Phase, etwa ab dem fünften Lebensjahr, in der es zu komplexen Beziehungskonflikten mit den Eltern und damit zu Repräsentanten kultureller Beziehungen für das Menschenkind kommt, ästhetisch gebrochen beispielsweise im Hamlet, im King Lear, in Erzählungen Kafkas. Freud bezeichnet diese Beziehungskonflikte als Ödipuskonflikt, den er im Todeswunsch gegen den gleichgeschlechtlichen Rivalen und im sexuellen Begehren der andersgeschlechtlichen Person von der Ödipussage herleitet.24 In dieser Sozialisationskrise muss das Kleinkind »gleichermaßen um die Befriedigung elementarer Wünsche und um die überlebensnotwendige Liebe der Eltern fürchten […].« Im Verlauf dieser Krise geht es um die »unumgängliche Einpassung in die Kultur«25, weil die Konflikte zwischen Eltern und Kind Schauplätze individueller und sozialer Kämpfe um kulturelle Anpassung und zugleich Grenzziehungen sind, die in einer kulturellen Ordnung lebensnotwendige Beziehungen aufrechterhalten – ein Anliegen moderner literarischer Werke seit der frühen Neuzeit: »Erregungs- und Verzweiflungsstürme von Hass, Wut und Angst werden gemeinsam mit verpönten Wünschen in der Regel nachhaltig verdrängt.« Sie werden in der Literatur ästhetisch gebrochen nachdrücklich wie auch erschließbar für Rezipientinnen des dritten Lebensalters zum Ausdruck gebracht. Diese Anpassungskämpfe nehmen in unterschiedlichen Kulturen verschiedene Gestalten an, haben aber »grundlegende Kulturschranken wie Tötungsverbote und Inzesttabus[, jeweils geltende Normen und] Geschlechts- und Altersdifferenzen«26 gemeinsam, die von literarischen Texten kulturkritisch problematisiert werden [Shakespeare, Dickens, Kafka beispielsweise]. Die Anpassungskämpfe, die das Kleinkind zutiefst verunsichern und elementare Erfahrungen von Liebe und Hass, Lebensenergie und Todeswünschen, Libido und Todestrieb in ihrem ambivalenten In- und Gegeneinander zum Teil der Selbst- und Welterfahrung des modernen Subjekts machen, sie äußern sich in elementaren Grundmustern wie Nähe und Distanz, »Hass, 24 | Siehe dazu die unten auf Lawrences Roman Sons and Lovers bezogene Kritik E. Fromms an Freuds Deutung des Ödipusdramas. 25 | E. List ebd., S. 36. 26 | E. List ebd., S. 37.

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Gier, Neid, Frustration und im destruktiven Über-Ich«27; diese Kämpfe fördern bzw. zerstören soziale Beziehungen. Ist die Angstbindung an das Über-Ich bzw. an äußere Autoritäten oder Glaubenssysteme [z.  B. Religion] zu groß, so werden fördernde soziale Beziehungen bzw. Kreativität und Veränderungen blockiert. Da Menschen aber nur über Beziehungen überleben können und familiäre und soziale Anerkennung auch Frustration [Unlust] mit sich bringen kann, wird das dadurch blockierte Luststreben des Individuums dann in Kreativität umgelenkt, wenn die Befriedigung aus den Beziehungen groß genug ist, um Anerkennung zu erringen – beim Kleinkind durch Unterwerfung unter den Willen der Eltern, um deren Liebe zu erhalten. Wird Anerkennung verweigert, kann es zu instrumentalisierendem bzw. zu deliquentem Beziehungsverhalten kommen, wie die unten besprochenen Romane zum Ausdruck bringen. Kultur erzwingt »Unlusttoleranz«, die immer konflikthaft oder ein kreatives Anpassungsvermögen ist,28 das Identifizierungen, Ich-Grenzen, Autonomiebildungsmöglichkeiten erweitern oder zurücknehmen kann und damit fixierende Rollenmuster transitorisch überwindet. Nach Melanie Klein kommen Moral und Kreativität konfliktentschärfende Bedingungen des angeborenen Todestriebes des Menschen zu. Sie tragen zum Überwiegen der Energie der Liebe über den Hass bei. Gleichwohl hebt Klein »das destruktive Potenzial [als] wesentliche[n] Aspekt ihrer Konzeption des Menschen und seiner Kultur hervor«.29 Lacan siedelt den Todestrieb als Tendenz zu maßlosem Genießen und Weg zum Tod im Bereich der Kultur als elementare Wiederholungstendenz an.30 Das Menschen- und Weltbild einer kulturkritischen Psychoanalyse besteht darin, dass Menschen libidinös und destruktiv bestimmte Triebwesen, zugleich aber auch symbolbildende und kulturschaffende soziale und kreative Geschöpfe sind. Bis zum Lebensende ist Sozialisation ein unabgeschlossener Prozess, der innere und äußere Realität durch »konfliktbeladene […] Ausdrucksfor-

27 | E. List ebd., S. 97. 28 | E. List ebd., S. 29. 29 | E. List ebd., S. 97; E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Hamburg: Rowohlt 2015. 30 | H. Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Jaques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 246–266; G. Pagel: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Junius 2002, S. 55–73.

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men des psychischen Apparats«31 mit wechselnden Entwicklungsaufgaben kreativ zu bewältigen hat. Im metapsychologischen Kreativitätsverständnis, Metapsychologie verstanden als Theorie, die psychoanalytische Konzepte formuliert und psychosoziale Prozesse onto- und phylogenetisch kulturell reflektierbar macht,32 geht es um die Erhaltung der Anerkennung der Eltern seitens des Kleinkindes, also »hauptsächlich um frühe Beziehungs-, Trennungs- und Verlusterfahrungen und deren symbolische Bewältigung«.33 Freud hatte im Fort-da-Spiel eines eineinhalbjährigen Kindes eine erste Symbolbildung entdeckt, mit dem das Kind seine Angst, die von der gerade fortgegangenen Mutter ausgelöst wurde, in symbolischer Affektbearbeitung zu bewältigen suchte. Das Kind warf eine mit einem Bindfaden umwickelte Holzspule von außerhalb seines verhängten Bettchens in dieses hinein, begleitete diesen Wurf mit einem mehrfachen »o-o-o«, das Freud als »fort« deutete, zog dann die Spule wieder zu sich heran und kommentierte diese Handlung mit einem lustbesetzten »Da«. Freud deutete die Handlung des Kindes als »große […] kulturelle Leistung«, mit dem es durch Triebverzicht spielerisch das Fortgehen der Mutter zuließ und deren Verschwinden und Wiederkommen selbst in Szene setzte. Dabei ging das Kind, so Freud, »aus der Passivität des Erlebens in die Aktivität des Spielens über […].«34 Für das »künstlerische Spielen« der Erwachsenen bedeutet dies, dass diese spielerische Aktivität »auf die Person des Zuschauers zielt«, so dass sie »diesem die schmerzlichsten Eindrücke zum Beispiel in der Tragödie nicht erspart und doch von ihm als hoher Genuß empfunden werden kann«.35 Während das Kinderspiel von dem Wunsch geleitet wird, »groß zu sein und so tun zu können wie die Großen«,36 zeichnet sich das künstlerische Spielen der Erwachsenen durch einen Gestaltungswillen aus [»Mittel und Wege«, »Tragödien«], der schmerzhafte Erfahrungen »zum Gegenstand der Erinnerung und seelischen Bearbeitung« macht und ästhetisch distanziert 31 | O. Jahraus ebd., S. 314. 32 | E. List ebd., S. 231–233, S. 259. 33 | E. List ebd., S. 249. 34 | S. Freud: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: S. Freud: Das Ich und das Es. Metapsychiologische Schriften. Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 193–249, hier: S. 199–203; S. 201; S. 202. 35 | S. Freud: »Jenseits des Lustprinzips« ebd., S. 203. 36 | S. Freud: »Jenseits des Lustprinzips« ebd., S. 202.

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in Form bringen kann.37 Der »hohe […] Genuß«, den die Rezipientinnen bei Tragödien im Zuschauerraum oder bei der Lektüre von Romanen, in denen Erzählfiguren vor der Wirklichkeit kapitulieren und zu Opfern werden, empfinden, entsteht in Analogie zum Traum, der alte bzw. infantile Wünsch erfüllt. Peter von Matt arbeitet diesen Befund heraus: »Im Stück des Sophokles [Ödipus] […] wird der Urwunsch des Menschen, der in der zeitlosen Gegenwart des Unbewußten gespeichert liegt, objektiviert, er wird für den Zuschauer auf der Szene erfüllt. Freud sagt: ›wie im Traum‹, und er meint das wörtlich; denn auch der Traum tut nichts anderes, als daß er uns alte Wünsche, die […] durchaus nicht mehr in dieser Gestalt aktuell sein müssen, als erfüllt vor Augen stellt.« (v. Matt 2013: 27–28)

Weil der Urwunsch des Menschen vom Tod der Eltern in Form der Tragödie objektiviert ist, können wir uns individuell und im Kollektiv je unterschiedlich mit der Hauptfigur »spontan identifizieren«.38 Versteht man Kreativität als ausdruckssuchenden, sinnlich gestaltenden Umgang mit der Welt, dann trifft das auf jeden Menschen zu, also auf menschliche Fähigkeiten, die gesellschaftlich und kulturell gefördert oder behindert werden können. So teilen auch Künstler, Dichter und Komponisten den kulturell geforderten Lustverzicht und somit das Unbehagen in der Kultur mit ihren Zeitgenossen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht jedoch in der Formgebung der ästhetischen Vermittlung von Wunschwelten und Realität. In seinem 1908 publizierten Vortrag »Der Dichter und das Phantasieren« sieht Freud die »ersten Spuren dichterischer Betätigung« im Kinderspiel: »Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.« Freud fährt fort, dass das Kind große Affektbeträge auf den Ernst seines Spieles verwendet und seine Spielwelt deshalb sehr genau von der Wirklichkeit unterscheidet, weil es die imaginierten Objekte und Situationen »gerne an greif bare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an[lehnt].« Daraus zieht er die Konsequenz, der »Gegensatz zu Spiel ist

37 | S. Freud: »Jenseits des Lustprinzips« ebd., S. 202–203. 38 | P. v. Matt ebd., S. 28, S. 27.

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nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit«.39 In Bezug auf Wirklichkeit kommt der Phantasie ein transitorischer Sinn zu: Die »phantasierende Tätigkeit, die einzelnen Phantasien, Luftschlösser oder Tagträume« sind nicht unveränderlich und starr, vielmehr »schmiegen [sie sich] den wechselnden Lebenseindrücken an, verändern sich mit jeder Schwankung der Lebenslage, empfangen von jedem wirksamen neuen Eindruck eine sogenannte ›Zeitmarke‹.«40 Unter einer Zeitmarke versteht Freud das imaginäre Ineinanderspielen dreier Zeitdimensionen, nämlich, dass »eine Phantasie […] gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens [schwebt]. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, indem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht.« (Freud 2013: 142–143)

Das Besondere des künstlerischen Ausdrucks, der die Beliebigkeit individueller Phantasien übersteigt, liegt darin, dass das Phantasieren, das dem Lustprinzip folgt, in eine bewusst organisierte Gestalt übersetzt wird, wodurch Inhalte, die dem Bewusstsein unzugänglich blieben, diesem zugänglich gemacht werden. Freud sieht die Ars poetica darin, dass der Dichter durch »Abänderungen und Verhüllungen« den egoistischen Charakter des Tagtraums mildert und »uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn [besticht].« Freud nennt diesen Lustgewinn »Verlockungsprämie« oder »Vorlust«, weil durch die ästhetische Form größere Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen entbunden wird und dadurch Rezipientinnen über die sekundäre Bearbeitung Zugänge zu ansonsten

39 | S. Freud: »Der Dichter und das Phantasieren« (1908), in: C. Schmidt – Hellerau (Hg.): Sigmund Freud: Das große Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten. Frankfurt/M.: Fischer 2013, S. 138–148, hier: S. 139. 40 | S. Freud: »Der Dichter« ebd., S. 142.

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unzugänglichen Primärprozessen ermöglicht werden.41 Die ästhetische Form übersetzt »spezifisch historisch und subjektivierte […] unbewusste Inhalte [in] Bewußtseinsfähigkeit«.42 Sie transzendiert im Werk das individuelle Unbehagen in der Kultur,43 das Werk, das im Falle von Literatur als »literarische[s] Opus« 44 bzw. als ästhetischer Mikrokosmos im Besonderen das Allgemeine, im Sichtbaren Noch-nicht-Gesehenes aufscheinen lässt und zwischen Künstler und Rezipientinnen kulturell vermittelt. Damit erhalten literarische Werke nach Ricœur einen Doppelsinn, der im Zeigen der Bedeutung diese zugleich verbirgt.45 Gerade diese zweite, verbergende Bedeutung führt die Notwendigkeit der Interpretationsarbeit herbei. Damit wird das Werk zu einem »ens sociale«46, das, nach Freud, Teil des gesellschaftlichen Ganzen, des kulturellen Zusammenhanges und in seinem Bezug auf seine Produktion, Distribution, Rezeption sowie seinen auf Wunscherfüllung auf bauenden Sinnentwurf, der auch das Konsumverhalten bestimmen kann, Teil der mentalen Kulturdimension ist, sich von dort auf die materiale und soziale Kulturdimensionen bezieht bzw. von der sozialen Kulturdimension durch Distributionsmechanismen abhängig ist. In produktionsästhetischer Perspektive verdichten Kunst, Literatur und Musik kulturelle Beziehungskonflikte, die in den Werken ästhetisch transformiert als In- und Gegeneinander von destruktiven und antiphobischen Energien wirken: Mit dem Verlust von Liebe und Vertrauen tendieren Erzählfiguren und dramatische Bühnenfiguren dazu, sich gegenseitig zu instrumentalisieren [Shakespeare, moderne Romane], wobei die narrativen und dramatischen Strukturen in Kontrastkopplungen kathartische Elemente – auch bei Beckett und Kafka, bei Hardy, Lawrence und Woolf – zum Ausdruck bringen: Weil Erzählfiguren auf der Darstellungsebene kapitulieren, entstehen in der ästhetischen Form spielerisch-kreativ kathartische Momente. Diese bieten keine Lösung des Unbehagens 41 | S. Freud: »Der Dichter« ebd., S. 148 (Herv. i.O.); E. List: »Trieb und Form«, in: E. List, M. Strauss (Hg.): Form in der Gegenwartskunst.Wien: Turia + Kant 1999, S. 14–36, hier: S. 20–21. 42 | E. List: »Trieb und Form« ebd., S. 21. 43 | P. Ricœur ebd., S. 174–176. 44 | P. v. Matt ebd., S. 23. 45 | O. Jahraus ebd., S. 328. 46 | P. v. Matt ebd., S. 34, S. 30.

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in der Kultur, sondern bleiben deren Teil als Möglichkeitsentwürfe. Mit ihrer hochselektiven Verdichtung beziehen Werke der Literatur ästhetisch, im Sinne Ricœurs doppelsinnig, zu den drei Kulturdimensionen als literarische opera bzw. als »Objektivation des mentalen Programms ›Kultur‹«47 Stellung. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird in Kunst und Literatur die Ambivalenz der Erfahrung von Liebe und Hass, Eros und Thanatos von ihren kulturellen Bedingungen her und mit ihren kulturellen Folgen im Bereich der mentalen Kulturdimension einer jeweiligen Epoche und damit in Bezug auf die weiteren Kulturdimensionen in verdichtet doppelsinniger Form als ens sociale virulent. Das heißt, dass das von Kant herausgearbeitete interesselose Wohlgefallen an Kunstwerken bereits kulturell vermittelt war und in der postmodernen Zeit elektronischer Medien hochgradig kulturell vermittelt ist.48

47 | A. Nünning/R. Sommer (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft ebd., S. 21. 48 | D. Jähnig: Der Weltbezug der Künste. Schelling, Nietzsche, Kant. Freiburg/ München: Alber 2011; dort insbesondere Jähnings Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft.

6. Die Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten

Bisher zeigte sich, dass »die historische und methodische Affinität zwischen Psychoanalyse, Literatur- und Kunstkritik und Kulturwissenschaften« ihren »Bezug [in] ihre[m] gemeinsamen Gegenstand, der Interpretation symbolischer Lebensäußerungen der Menschen« in ihrer Kultur hat1 und dem Unbewussten das Wirkungspotenzial eines »eigenständig wirksame[n] System[s]« zukommt.2 Dieses ist an die Leiblichkeit des Menschen und damit an seine Verankerung in soziokulturellen Prozessen gebunden. Es stellte sich heraus, dass ein literarisches Werk als Teil der materialen Formen einer Kultur metapsychologisch als ens sociale »das Gesamtsystem kulturell geprägter Werte, Normen, Weltanschauungen und Kollektivvorstellungen«3 sowie deren gesellschaftlichen und institutionellen Stellenwert (mentale und soziale Kulturdimension) deutungsherausfordernd in den Blick nimmt und interdiskursiv in einer komplementären Verschränkung psychischer und gesellschaftlicher Strukturen korreliert. Rezeptionsästhetisch werden die materialen Formen einer Kultur mit der sozialen und mentalen Kulturdimension verknüpft. Rezipientinnen des dritten Lebensalters, mithin die Jahrgänge 1946 bis 1960, gehören zu der heterogensten Gruppe »unserer Gesellschaft überhaupt«.4 1 | E. List ebd., S. 250. 2 | A. Lorenzer: »Die Entdeckung der unbewußten Sinnstruktur« ebd., S. 58 (Herv. i.O.). 3 | A. Nünning/R. Sommer (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft ebd., S. 19. 4 | H.-W. Wahl: Die neue Psychologie des Alterns. Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase. München: Kösel 2017, S. 194; E. Wagner: Zufriedenheit ebd.

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Sie zeichnet sich kulturgeschichtlich dadurch aus, das ihr das Katastrophenbewusstsein ihrer durch den Zweiten Weltkrieg geprägten Eltern psychosozial übertragen wurde und sie, die heute etwa 65 bis 70 Jahre alt sind, dieses Katastrophenbewusstsein in eine alterstypische Gerotranszendenz aufheben kann. In ihrem Buch Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter beschreibt Sabine Bode bereits zu Anfang das gestörte Eltern-Kind-Verhältnis für die Nachkriegsgeneration: »[D]er Zugang in die Gefühlswelt eines Kindes [war] nur selten gelungen: Seelischer Schmerz war keine Kategorie. Probleme wurden häufig nicht ernst genommen […]. Kinder wurden nicht getröstet, sondern beschwichtigt. Auffällig auch das auf den Kopf gestellte Eltern-Kind-Verhältnis: dass man sich für das Glück der Mutter oder des Vaters verantwortlich fühlte, und zwar von früher Kindheit an.« (Bode 2015: 21–22)

Es handelt sich um eine Generation von Eltern, die im Zweiten Weltkrieg ihr Selbst- und Weltvertrauen verloren hatte. In einem der 1947 herausgekommenen Prosatexte bezeichnet Wolfgang Borchert sie als »Generation ohne Abschied«, eine Generation ohne Vergangenhheit, ohne Bindung, ohne Gott, die in der Hoffnung auf eine mögliche Ankunft Kriegsschauplätze und private, sicherheitsverbürgende Orte in die Dimension einer unheimlichen Heimatlichkeit überführt.5 Borcherts Prosastück bringt Erfahrungen des Sinnverlusts zum Ausdruck, die in verdichteter Form auch in den drei zu besprechenden Romanen gestaltet werden und Rezipientinnen des dritten Lebensalters affizieren. Wolfgang Schmidbauer, der ein Psychogramm der Deutschen nach 1945 zeichnet, bestätigt Bodes und Borcherts Befunde, indem er den Strukturverlust der Deutschen vor 1945 in der »begeisterten Preisgabe« des Rechtsstaates ab 1933 ansiedelt.6 In Übernahme des von Freud entworfenen Strukturmodells des psychischen Apparates sieht er die 5 | W. Borchert: »Generation ohne Abschied« (1947), in: A. Dunker (Hg.): Wolfgang Borchert: »Draußen vor der Tür« und andere Werke. Stuttgart: Reclam 2018, S. 89–91. 6 | W. Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind. Psychogramm der Deutschen nach 1945. Freiburg: Herder 2014, S. 33; L. Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS – Zeit und des Zweiten Weltkrieges erkennen und bearbeiten – Eine Annäherung. Stuttgart: Klett-Cotta 2015.

6. Die Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten

Traumatisierung der Nachkriegskinder in der Vorenthaltung kindlicher Anerkennung durch die Eltern. Über-Ich und Ich-Ideal als innere Strukturen »entwickeln sich angemessen, wenn sich ein Kind mit Eltern identifizieren kann, die es als gut genug erlebt – und sie können zerstört werden, wenn Menschen von den Personen traumatisiert werden, an die sie als Retter glaubten«. (Schmidbauer 2014: 33) Die Traumatisierung traf nicht nur einzelne Kinder, sie betraf die gesamte Kultur der Deutschen, wie sie beispielsweise in Gestalt der Trümmerliteratur, der Heimkehrerliteratur und in der Literatur der Stunde Null7 zum Ausdruck gebracht wurde: »Die Wertstrukturen im menschlichen Unbewussten gewinnen ihre volle Bedeutung für die Einzelnen in einer individualisierten, nach Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit funktionierenden Gesellschaft. Wenn sich diese Gesellschaft hinter die eigene Rechtsauffassung zurückentwickelt und primitive Vorurteile, bornierten Hass und heimtückische Bereicherung wie Recht aussehen lässt, verlieren diese Strukturen ihre Stabilität. Dieser Strukturverlust greift relativ schnell«. (Schmidbauer 2014: 33)

Der Strukturverlust fand nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien und Spanien statt und hatte seelische Folgen für die erwachsen werdenden Nachkriegskinder, die sich in »Grundgefühlen«, wie »Angst, Einsamkeit, Rückzugsneigungen, extrem enge[n] Bindungen an [Mütter]« äußerten und »eine ausgeprägte zeitgeschichtliche Qualität hatten.« In der Entfremdung zwischen Eltern und Kindern führten diese Grundgefühle zu Traumatisierungen: »Wenn die Kinder der Kriegsgeneration ihren traumatisierten Eltern nahe bleiben wollten, mussten sie deren Depression teilen.« Väter und Mütter, so Schmidbauer weiter, erzählten ihren Kindern nie, welchen Sinn ihre Anpassung an die beginnende Wohlstandsgesellschaft und ihre Leistungsorientierung an deren Normen hatten, Leistungen, die sie auch von ihren Kindern forderten.8 Die Durchkreuzung des kindlichen Vertrauens und die Verweigerung der Sinnfrage erfuhren die meisten Nachkriegskinder nicht nur individuell, sondern auch in gesellschaftlichen Institutionen, in Bezug auf Normen, Werte und Selbstbilder der Nachkriegsgesellschaft, in der sie aufwuch7 | A. Dunker (Hg.): »Nachwort: Nun singen sie wieder«, in: Wolfgang Borchert: »Draußen vor der Tür« ebd., S. 210–226. 8 | W. Schmidbauer ebd., S. 43, S. 44–46, S. 50.

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sen, sowie in der Architektur als schützende und als machtschützende Gebäude, die als kulturelle Texte mit ihren Geheimnissen, Schriften und psychosozialen Konflikten nach dem Wiederauf bau zu Symbolen der Werte ihrer Kultur wurden,9 Monumente instrumenteller Vernunft [neue Schulen, Universitäten, Kirchen] und ihrer Kehrseiten. Die kulturelle Pathologie der Nachkriegsgeneration führte in der Zeit der Adoleszenz der Nachkriegskinder hinsichtlich ihrer Selbstfindungsmöglichkeiten zu erbitterten Kämpfen mit den traumatisierten Eltern, die nach Schmidbauer vier »Persönlichkeitstypen« hervorbrachten: »Künstler, Helfer, Aussteiger und Opfer.«10 Erst durch die Protestbewegung mit ihrer Risikofreude und ihrem formalen Einfallsreichtum erneuerte sich bei der erwachsen gewordenen Nachkriegsgeneration »eine politische Leidenschaft, die den Eltern unter dem Druck von Krieg, Beschämung und Vertreibung abhanden« gekommen war.11 Mit den Versuchen, Einschränkungen auszugleichen und Veränderungen zu wagen, entstanden Möglichkeiten, seelische Zerstörungen zu bearbeiten, so dass »Widersprüche im inneren seelischen Raum wahrgenommen und verarbeitet« werden konnten und Eltern und Kinder die Möglichkeit hatten, sich anzunähern, »ohne dass ein Teil als schlecht verurteilt« wurde.12 Nimmt man diesen kulturellen Hintergrund individueller Biografien der Nachkriegsgeneration aus heutiger Sicht als das eine Strukturelement des heutigen dritten Lebensalters in den Blick, so kommt zu der kulturellen Pathologie der Nachkriegszeit und ihren Bearbeitungsmöglichkeiten die Erfahrungsdimension der Gerotranszendenz, in die Alternde hineinwachsen, hinzu. Dieses zweite Strukturelement betrifft die älter gewordene Nachkriegsgeneration, die heutigen Rezipientinnen des dritten Lebensalters: »Die späte Lebensphase ist naturgemäß durch das vielfältige Ineinandergreifen von Chancen und Risiken gekennzeichnet. Die lange Lebenserwartung hat das späte Leben ›weit‹ und ›aussichtsreich‹ gemacht«. (Wahl 2017: 24) In der neueren Altersforschung unterscheidet man zwischen den Begriffen des chronologischen und des subjektiven Alters. Während das chronologische Alter in der Regel von gesellschaftlichen, medial vermittelten Stereotypen – wie Altersschwäche, einem 9 | W. Schmidbauer ebd., S. 53–55. 10 | W. Schmidbauer ebd., S. 81 (Herv. i.O.); H.-C. Ramm: Lesen ebd., S. 74–88. 11 | W. Schmidbauer ebd., S. 95. 12 | W. Schmidbauer ebd., S. 95. S. 63.

6. Die Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten

nachlassenden Gedächtnis, einer schwächer werdenden Gesundheit, mangelnder Beweglichkeit, Hilfsbedürftigkeit, Alterseinsamkeit und Altersdepression, die autostereotyp übernommen werden können – besetzt ist, werden diese Sichtweisen im subjektiv erfahrenem Altern »vielfach individuell gebrochen, interpretiert und umgedeutet«.13 Bedeutsam werden in dieser Alternserfahrung Neugier, Lebensfreude, gesellschaftliche Mitverantwortung, ein Verantwortungsgefühl für nachfolgende Generationen, also »selbst zugeschriebene eigene Fähigkeiten, Kompetenzen und Erlebnisweisen«.14 In der empirischen Alternsforschung wird subjektives Altern als Indikator einer wertvollen »Zeitmetrik« verwendet, um jenseits des chronologischen Alters »das Verhalten, das Erleben und die Leistungen älterer Menschen besser verstehen zu können.«15 Menschen im dritten Lebensalter werden im Bereich dieser Alternsforschung einer Lebensphase mit eigenen Merkmalen zugeordnet: »[T]he Third Age has its own characteristics as a phase of life where life priorities are radically different from those in earlier phases of life.« (Westerhof 2009: 57) Als charakteristisch für das dritte Lebensalter sieht Westerhof: • eine veränderte Haltung und veränderte Werte dem Leben gegenüber, • den Kontrast zwischen erster und zweiter Adoleszenz; in der ersten Adoleszenz durchlaufen Individuen Identitätskrisen mit Aussicht auf eine offene, scheinbar unbegrenzte Zukunft, in der zweiten Adoleszenz, dem dritten Lebensalter, werden autobiografisch verschiedene Lebensalternativen ausprobiert und Entscheidungen getroffen; die Erfahrungen konzentrieren und bündeln sich in Bezug auf den näher heranrückenden Tod, • die Unterschiede in veränderten Lebens- und Werthaltungen und in autobiografischen Sichtweisen ziehen Konsequenzen für die Einfügung des dritten Lebensalters in gesellschaftliche und kulturelle Beziehungen nach sich: Frühere Identitätserfahrungen am Arbeitsplatz und in der Familie müssen aufgegeben und neue Aufgaben und Identitätserfahrungen übernommen und gemacht werden: »These conditions ask for a relative openness to new identity commitments

13 | H.-W. Wahl ebd., S. 58. 14 | H.-W. Wahl ebd., S. 58. 15 | H.-W. Wahl ebd., S. 68.

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in a process of accommodation«.16 Wie Westerhof ordnet auch Wahl Menschen des dritten Lebensalters einem jungen Alter zu. Dieses steht für die »Erfolgsgeschichte des gegenwärtigen Alterns«.17 Zu dieser Erfolgsgeschichte gehört das Vermögen Alternder, insbesondere derjenigen, die dem dritten Lebensalter angehören, zur Gerotranszendenz, die in der Komplementarität der »Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive« Alternder18 eher der Potenzialperspektive zuneigen. Kruse versteht unter Verletzlichkeitsperspektive eine Perspektive, die vor allem in sehr hohem Alter »abnehmende körperliche Leistungen sowie das wachsende Risiko körperlicher, cerebrovaskulärer und neurodegenerativer Erkrankungen« in den Blick bekommt. Unter der Potenzialperspektive versteht Kruse »die potenziellen Stärken und Kräfte des Alters«, zu denen neben »differenzierten Wissenssystemen, reflektierte […] Erfahrungen« zu zählen sind, zu denen »erprobte Handlungsstrategien« und die Fähigkeit kommen, »selbst im Falle von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung aufrechtzuerhalten.«19 Diese Perspektive zeigt die Möglichkeit Alternder, die sich im dritten Lebensalter befinden, individuell, gesellschaftlich, also in der Gesamtkultur und ihren drei Dimensionen, produktiv zu sein. Antizipierende Offenheit und kreatives Denken sind nach Kruse Kernelemente der Gerotranszendenz.20 Zur Gerotranszendenz gehört die Fähigkeit zur Selbstdistanz, Gelassenheit, ein selbst organisiertes, kreatives Leben, zusammen mit der Fähigkeit zu Spiritualität und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektiven.21 Kruse entwirft fünf Erfahrungen gelingenden Lebens: Selbständigkeit, Selbstverantwortung, bewusst angenommene Abhängigkeit, private

16 | G.J. Westerhof ebd., S. 58. 17 | H.-W. Wahl ebd., S. 40. 18 | A. Kruse: Alternde Gesellschaft – eine Bedrohung?. Ein Gegenentwurf. Berlin: Lambertus 2013, S. 9. 19 | A. Kruse ebd., S. 9. 20 | A. Kruse und E. Schmitt: »Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Potenziale im Alter im Kontext individueller und gesellschaftlicher Entwicklung«, in: A. Kruse (Hg.): Kreativität im Alter. Heidelberg: Winter 2011, S. 15–46, hier: S. 30. 21 | A. Kruse und E. Schmitt: »Die Ausbildung« ebd., S. 30.

6. Die Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten

und gesellschaftliche Mitverantwortung, Selbstaktualisierung.22 Erfahrungen der Gerotranszendenz transzendieren gesellschaftliche Stereotypien des Alter[n]s hin zu einem selbstorganisierten, kreativen Leben, das auch zum fruchtbaren Moment kultureller Erfahrungsintensitäten werden kann. Da die narrativen Strukturen der unten besprochenen Romane »Traumaassoziierte Gefühle«, zu denen »Ohnmacht, Todesangst, Panik, Ekel und Scham« gehören, affizieren und im Individuum auf Gefühle treffen, die »der Verarbeitung« traumatischer Erfahrungen durch »Empörung, Wut und Trauer« dienen,23 kann die Fähigkeit der Gruppe von Rezipientinnen zur Gerotranszendenz aktiviert werden, eine Fähigkeit, die vorbewusst und bewusst zu »kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive[n]« befähigt.24 Rezipientinnen des dritten Lebensalters werden in ihren imaginativen Identitätsmöglichkeiten von modernen Romanen affiziert. Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, des Selbstentzuges, der Autonomiebildungsmöglichkeiten, der Selbsttranszendierung werden anhand der Fähigkeit zur Gerotranszendenz an Konflikt- und Dilemmasituationen, in die die Erzählfiguren verstrickt sind, virulent. Immer geht es den Romanen um eine verdichtete Vergegenwärtigung von Vergangenheit, um eine an scheiternden Lebenserfüllungen orientierte Ganzheit, die im Schweben der narrativen Imagination zwischen den drei Zeitmomenten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 25 transitorisch gestaltet ist. Die Romane transzendieren, gerotranszendent erschließbar, dass die moderne Kultur ein »dramatische[s], todgefährliche[s] Unternehmen«,26 ein mehrsinniges Rätsel ist.

22 | A. Kruse: »Menschenbild und Menschenwürde als grundlegende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker Menschen«, in: T. Rentsch und M. Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 233–251, hier: S. 244. 23 | L. Reddemann: Imagination als heilsame Kraft: Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Klett-Cotta 2014, S. 114. 24 | A. Kruse und E. Schmitt: » Die Ausbildung« ebd., S. 30. 25 | S. Freud: »Der Dichter« ebd., S. 142. 26 | W. Müller-Funk ebd., S. 34.

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Die durch Kunst und Literatur ermöglichte Regression zu Urerfahrungen, die Erfüllung des Todeswunsches von Rezipientinnen gegenüber ihren Eltern, ein Urwunsch, der im Ödipusmythos phylogenetisch seinen Ursprung hat, die psychosoziale und kulturgeschichtliche Verstärkung dieses Wunsches in der traumatisierten Eltern-Kind-Beziehung für Kinder der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg [die heutigen Rezipientinnen des dritten Lebensalters], schließlich die Möglichkeit der Überschreitung dieser kulturellen Erfahrungen im je individuellen Vermögen der Gerotranszendenz, diese transitorischen Selbst- und Welterfahrungen sensibilisieren Rezipientinnen des dritten Lebensalters für die in ästhetischer Distanz im künstlerischen Opus dargestellten Selbst- und Welterfahrungen von Protagonisten, die angesichts gesellschaftlicher Verhärtungen kapitulieren, die in Gewalt, Hass, Gier, Neid und in der Durchkreuzung von Autonomiebildungsmöglichkeiten künstlerischen oder literarischen Ausdruck finden. Peter von Matt bringt den Begriff der Kapitulation in Zusammenhang mit der Urerfahrung des Menschen, der sich aus der »agonalen Grundsituation zwischen dem Übervater und der Horde«,1 mit anderen Worten: aus dem literarisch transformiert erfüllten Todeswunsch gegenüber den Eltern, ergibt. Im Freud’schen Modell, so Peter von Matt, erzeugt der von der Urhorde durchgeführte Vatermord bei den Hordenbrüdern Schuldgefühle, die genauso groß sind »wie die durch die Aggression verdeckte Liebe zur Vaterfigur.«2 Phylogenetisch entsteht in der Urhorde die Erfahrung der Ambivalenz als gleichzeitiges Vorhandensein von Hass und Liebe. In der Psychoanalyse bezeichnet Ambivalenz »die gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, 1 | P. v. Matt ebd., S. 87. 2 | P. v. Matt ebd., S. 90.

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Haltungen und Gefühle, z. B. Liebe und Hass, in der Beziehung zu ein und demselben Objekt.«3 Angesichts dieser phylogenetischen und psychosozialen Grunderfahrung bedeutet Kapitulation als narrative Denkfigur nicht einen totalen Zusammenbruch. Im Gegenteil, so Peter von Matt, Kapitulation als literarische Denkfigur bedeutet »ein[en] Durchbruch der durch die Aggression überdeckten, jedoch stets vorhandenen Zärtlichkeit, der großen, bewundernden Liebe dem Vater gegenüber.«4 Peter von Matt fährt fort, dass der Erkenntnisprozess dieser Denkfigur seitens der Rezipientinnen davon abhängig ist, wie jede Leserin und jeder Leser selbst mit der Erfahrung der Ambivalenz »von Aggression und Liebe, von Haß und Schuld« in ihrer/seiner Kindheit zu Rande gekommen ist.5 In Bezug auf die Kapitulation der Protagonisten sieht Peter von Matt drei narrative Möglichkeiten, den Überhang von Hass und Feindschaft abzuleiten. Dieser Überhang • kann sich gegen den Protagonisten selber richten, im Suizid oder einer Aktion, die den Suizid stellvertretend abbildet, • kann sich gegen einen äußeren Feind wenden, der zur sehr gelegenen Stunde naht, • zielt gegen einen ausgewählten Sündenbock.6 Weiter unten wird an den drei zu besprechenden Romanen deutlich werden, dass es in Thomas Hardys Tess, in D.H. Lawrences Sons and Lovers und in Virginia Woolfs To the Lighthouse schwache bzw. geschwächte Vaterfiguren gibt, die nicht getötet werden [können]. Seitens der jüngeren Romanfiguren kommt es zur Kapitulation, wobei der Überschuss an Hass auf stellvertretende Suizide abgeleitet wird: Tess’ gezielt durchgeführte Ermordung Alecs, die sie an den Strang bringt, in Hardys Roman Tess; Mrs Ramsays plötzlicher Tod bzw. die Mehrdeutigkeit des in Teil III an das Ufer und/oder ins All springenden Vaters, in Woolfs Roman To the Lighthouse. In Lawrences Roman Sons and Lovers wird der Überschuss an Hass auf den Vater auf ausgewählte Sündenböcke, Miriam, Clara, Baxter, abgeleitet, wobei Baxter, wie unten zu zeigen ist, hybrid als Sündenbock, 3 | E. List ebd., S. 46. 4 | P. v. Matt ebd. S. 90. 5 | P. v. Matt ebd., S. 90. 6 | P. v. Matt ebd., S. 90–91.

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Rivale Pauls, Symbol einer gewalttätigen Vaterfigur und als Freund Pauls angelegt ist. Diese von Rezipientinnen des dritten Lebensalters erschlossenen Interpretationsmöglichkeiten der literarischen Grundstruktur der Ambivalenz lassen auch deutlich werden, wie sehr im Erfahrungsbereich dieser erwachsen und älter gewordenen Kinder der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg persönliche Integrität von kulturellen Strukturverlusten gefährdet ist. Sie verstehen und reflektieren deshalb die kalte Verzweiflung der abschließenden Tableaus der drei Romane.7 In dieser hermeneutischen Reflexion transzendiert das Besondere des ästhetischen Ausdrucks die Beliebigkeit individuell pathologisch geprägter Phantasien. Diese folgen dem Lustprinzip. Die Form des Kunstwerks übersetzt dieses Phantasieren in die Organisation von Inhalten, die dem Bewusstsein unzugänglich blieben, diesem aber durch die ästhetische Form doppelsinnig zugänglich gemacht und zugleich wieder entzogen werden. Im Kunstwerk wird die kalte Verzweiflung auf der Darstellungsebene in ihre ästhetische Gestaltung aufgehoben. Freud nannte diese Transformation beim Rezipieren von Tragödien Vorlustprämie. In seinem Essay »Ist die Kunst heiter?« nimmt Adorno Freuds Erkenntnis auf. Der Heiterkeit der Kunst komme »ihr Maß an Wahrheit zu. Wäre sie nicht, wie immer auch vermittelt, für die Menschen eine Quelle von Lust, so hätte sie in dem bloßen Dasein, dem sie widerspricht und widersteht, nicht sich erhalten können. Das aber ist ihr nichts Äußerliches, sondern ein Stück ihrer eigenen Bestimmung«. (Adorno 1974: 148) Zur Bestimmung der Kunst gehört, so Adorno weiter, dass Kunst ihr Material und ihre Formen von der gesellschaftlichen Realität empfängt, »um sie zu verwandeln«, wodurch sie »in ihre unversöhnlichen Widersprüche [verstrickt ist]«, Widersprüche, die im Formgesetz der Kunst als Versöhnung angelegt sind, jedoch »deren reale Unversöhntheit erst recht« deutlich werden lassen.8 Heiterkeit, die in archaischen Werken undenkbar ist, setzt kulturgeschichtlich die Entwicklung des Bürgertums, der städtischen Freiheit und Subjektivität voraus: »Im Heiteren der Kunst wird Subjektivität ihrer selbst inne und bewußt.«9 Wenn das Heitere aber ein Echo bürgerlicher Freizügigkeit ist, 7 | Der Ausdruck »kalte Verzweiflung« stammt von P. v. Matt. Er bezieht ihn auf das Ende von M. Frischs Theaterstück Graf Öderland. Dieser Ausdruck kann aber auch für die Schlusstableaus der drei genannten Romane Geltung beanspruchen. 8 | T.W. Adorno: »Ist die Kunst heiter?« ebd., S. 149–150. 9 | T.W. Adorno: »Ist die Kunst heiter?« ebd., S. 152.

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dann gerät es auch »in die geschichtliche Fatalität des Bürgertums.«10 Diese sieht Adorno in den unlösbaren Diskrepanzen einer ökonomisch bestimmten Gesellschaftsstruktur, die im 20. Jahrhundert das Grauen hervorbrachte.11 Wenn Kunst heiter ist, dann durch die Verwandlung des unausweichlich Negativen in ein Jenseits, das gleichwohl sein Negatives erhält: »Das ist Mozarts Trauer.«12 Diese zeitdiagnostische Deutung bürgerlicher Kunst reiht Kunst zugleich in ein kulturgeschichtlich dynamisches Kulturmodell ein, das sie weder als Luxus noch als zeitlose Wahrheit erkennt. Nach Adorno konfrontieren Kunstwerke die Dimensionen der Kultur, der sie entstammen, mit Konstellationen und Widersprüchen, die Veränderungspotenziale kultureller Beziehungen und Institutionen aufscheinen lassen. In ihrem Doppelcharakter als »autonom und als fait social« ist Kunst auf kulturelle Rezeptionsprozesse angewiesen, die »ihrerseits von Fragen der Distribution, des Kunstmarkts und von Kunstinstitutionen nicht getrennt werden können […]«.13

10 | T.W. Adorno: »Ist die Kunst heiter?« ebd., S. 152. 11 | T.W. Adorno: »Ist die Kunst heiter?« ebd., S. 154. 12 | T.W. Adorno: »Ist die Kunst heiter?« ebd., S. 150. 13 | T.W. Adorno: Ästhetische Theorie ebd., S. 16; R. Sonderegger: »Ästhetische Theorie«, in: R. Klein/J. Kreuzer/S. Müller-Doohm (Hg.): Adorno Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2011, S. 414–427, hier: S. 423–424.

8. Die Romane Thomas Hardys, D.H. Lawrences und Virginia Woolfs in Rahmen einer kultursemiotisch psychoanalytischen Kulturwissenschaft

8.1 Thomas H ardys R oman Tess of the D’U rbervilles . A P ure Woman Faithfully P resented B y Thomas H ardy (1891). I m W irklichen das M ögliche entdecken Vorbemerkung Erschließt man Thomas Hardys 1891 nach Publikationswirren erschienenen Roman Tess1 mit Rezipientinnen des dritten Lebensalters in gelenkten universitären Literaturseminaren, dann kommen rezeptionsästhetisch zwei Bedingungen ins Spiel: zum einen, narrativ, eine ironisch wirkende Gegenperspektivik in Bezug auf die Hauptfigur Tess als Subjekt bzw. Anti-Heldin, die unter erdrückenden Machtverhältnissen leidet,2 zum anderen auf Tess als Vision bzw. Kunstfigur, die der Autor Hardy – »a pure woman faithfully presented by Thomas Hardy« – im Untertitel des Romans zwischen Rezipientinnen und Erzähler setzt. Hardy bietet heutigen Rezipientinnen seinen Roman Tess als imaginatives Experiment 1 | T. Dolin: »A History Of The Text«, in: T. Hardy: Tess of the D’Urbervilles. Edited with Notes by T. Dolin, with an Introduction by M. R. Higonnet. London: Penguin 2003, S. xliv-lxviii. 2 | M. Bradbury: The Modern British Novel. London: Penguin 1994, 34: »Hardy felt experience as the omnious weight of life itself […] making his characters not so much discover experience as suffer it.«

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mit der Heterogenität der Protagonistin zwischen ihrer Anwesenheit als Anti-Heldin und ihrer Abwesenheit als Kunstfigur an. In den teils distanzierten, teils involvierten Perspektiven des Erzählers wird die Kunstfigur Tess die erzählte Wirklichkeit durchgängig transzendieren. Als zweite Bedingung kommt die Fähigkeit der Rezipientinnen zur Gerotranszendenz ins Spiel, die sich elementar von der Rezeptionshaltung jüngerer Leserinnen unterscheidet und affiziert wird von der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz der Anti-Heldin. Der Roman verknüpft in seinem episodischen Handlungsverlauf die Subjektivität der Anti-Heldin mit der visionären Kunstfigur auf zwei korrespondierenden Ebenen. Auf der Wirklichkeitsebene wird der Anti-Heldin Tess eine folgenreiche Fähigkeit zugeschrieben, die sie – mit Ausnahme ihres jüngeren Bruders Abraham – von allen anderen Figuren des Romans unterscheidet: Ihre Imaginationsfähigkeit befähigt sie nicht nur zur Perspektivenübernahme, zu empathischem Handeln und dazu, Leid zu ertragen, sie befähigt sie auch, ihre menschliche Würde zu bewahren, und zu Entwürfen universaler Horizonte (die Apfelbaumepisode in Chapter IV, ihre Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, Chapters XVIII, XXXI, ihre überirdische Liebe zu Angel, Chapter XXXI). Mit dieser selbsttranszendierenden Imaginationsfähigkeit der Anti-Heldin korrespondiert autoreferenziell die Ebene der visionären Kunstfigur, deren moralische Integrität als »pure woman faithfully presented« in ihrer erotischen Schönheit (Chapters X, XIII, XXIV, XXXI), ihrer Naturverbundenheit (Chapters XVI, XX, XLI, L), ihrer königlichen und göttlichen Unberührtheit (Chapters VIII, XV, XVI, XXVII, XXIX, XXXIII, XLIX) in Bezug auf die Anti-Heldin, die ihren Weg nicht selbst bestimmen kann, inklusive mehrfacher Schuldfreisprüche [ab Chapter XIII], hervorgehoben wird. Zugespitzt formuliert geht es um den narrativen Impuls dieses Romans, um die Darstellung einer durch Ausbeutungsverhältnisse unkorrumpierbaren subjektiven Integrität, die im unmöglich Wirklichen die Vision einer möglichen, einer überpersönlichen Würde evoziert. Diese Paradoxie einer im Wirklichen verstrickten, tiefendimensionierten Überpersönlichkeit macht die Erzähldynamik des Romans Tess aus. Malcolm Bradbury sieht mit D.H. Lawrence Hardys Modernität in seiner »vision of social, sexual and vitalist aspiration, of the new self struggling toward birth out of the historical culture […]« (Bradbury 1994: 43). Rezeptionsästhetisch affiziert der narrative Impuls des Romans die Paradoxie der für die Altersgruppe typischen Haltung der Protest-Identifikation gegen-

8. Die Romane Thomas Hardys, D.H. Lawrences und Virginia Woolfs

über Eltern und Autoritäten, wobei sich das Protestpotenzial auf die Seite der Anti-Heldin, der ausgebeuteten Landarbeiterin Tess schlägt und das Identifikationspotenzial auf die Seite der Kunstfigur, also die Seite der humanitären Vision, Tess als »a pure woman«. Kultursemiotisch bringt Hardys Roman Tess in der Gegenperspektivik seiner Erzählung ein Unbehagen in der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Ausdruck: Existenziell bedroht und bedrängt ist die Anti-Heldin Tess in einem solch extremen Ausmaß, dass ihre Virtualität als Kunstfigur unterzugehen droht und gegen narrativ evozierte Plausibilitätsfragen aufrechterhalten werden muss. Ins Spiel kommt die ästhetische Gestaltungsdimension eines auf Irreales und Geheimnisvolles ausgerichteten Anti-Realismus, der kultursemiotisch zugleich auch die nicht lösbare erkenntniskritische und metapsychologische Frage aufwirft, was unter subjektiver Identität zu verstehen sei und ob es eine vom Betrachter unabhängige Wirklichkeit gebe. Es geht um die gerotranszendente Problematik der Selbsttranszendierung und subjektiven Ganzheit; und es geht anthropologisch um die Frage des Lebens oder des Todes des Subjekts in der Moderne. Dieser von Hardys Roman Tess evozierte Problemhorizont berührt und provoziert durch die ihn dynamisierende Paradoxie Rezipientinnen des dritten Lebensalters affektiv, kognitiv und diskursiv tiefenhermeneutisch. Es ist die Unsichtbarkeit der Kunstfigur in der Verkörperung der sichtbaren Anti-Heldin, deren visionäre Erscheinung in Genremischungen, Melodramatik und unterschiedlichen Elementen wie Songs, Balladen, Predigten entfaltet wird, die die Phantasie der Rezipientinnen im Modus des Anti-Realismus anregt. Die Anti-Heldin bringt die Kunstfigur, die sie bezeichnet, hervor. Zwischen dieser und der Anti-Heldin, zwischen Idee und erzähltem Subjekt finden den gesamten Roman hindurch sinnbildende Verschiebungen statt, so dass weder die Idee noch die Anti-Heldin als fixierte Entitäten verstanden werden können und der Erzählprozess selbst als nie zur Deckung mit sich gelangende Sinnbewegung3 zu einem Ausdruck kommt, der konsequenterweise das sieben3 | E. Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik. Weilerswist: Velbrück 2004, S. 248–250; Angehrn, dem es in diesem Buch um das Interesse des Verstehens geht, das Hermeneutik, Interpretationsphilosophie und Dekonstruktion teilen, bezieht sich an dieser Stelle auf J. Derrida und H.-G. Gadamer.

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phasige Erzählgerüst unterläuft. Diese Ausdrucksgestalt öffnet im imaginativen Wechselbezug von visionären Lebensmöglichkeiten [Kunstfigur] und depravierenden Lebenswirklichkeiten [Anti-Heldin], von Idee und Anti-Realismus den Rezipientinnen einen hermeneutischen Raum, der Bekanntes ins Un-Heimliche, Mögliches ins Wirkliche, Fragmentiertes in Ganzheit verschiebt. In diesem Raum des Nicht-Identischen4 finden Rezipientinnen des dritten Lebensalters aufgrund ihrer krisenbesetzten gerotranszendenten Lebenserfahrungen narrative Anknüpfungspunkte an die Fähigkeit des frühmodernen und modernen Menschen zur Selbsttranszendenz bzw. zur Gerotranszendenz mit ihrem Ganzheitsanspruch [dieser hermeneutische Zugang findet sich beispielsweise auch in Shakespeares Komödien und Tragödien, bei Charles Dickens und den Brontës5]. Das herausfordernd Interessante an Hardys Roman Tess ist, dass er sich im episodisch gestalteten Wechselbezug zwischen Anti-Heldin und Kunstfigur nirgends auf ein eindeutiges Deutungsschema festlegen lässt, Normativität transzendiert, folglich die vom Roman selbst vorgegebene siebenphasige Deutungsstruktur auflöst. Wir folgen dieser ästhetischen Erfahrung der gestalteten Unbestimmtheit, die den Roman Tess am Ende des 19. Jahrhunderts in »a distinguishable English brand of Modernism« einreiht; hierzu zählen Autoren, die kritisch mit der Vergangenheit umgehen und ästhetisch innovative Wege suchen, wie Samuel Butler, George Gissing, D.H. Lawrence, Virginia Woolf.6 In der vom Erzähler und vom Autor aufgebauten Gegenperspektivik integriert der Roman Tess melodramatische Elemente und löst autoreferenziell Genregrenzen durch ›inserted genres‹ auf. Er spricht mit diesem anti-realistischen Verfahren, diesem poetischen Realismus, einem Realismus, der keine Form der Abbildung ist, sondern eine eigene narrative Wirklichkeit schafft,7 Rezipientinnen autoreferenziell, epistemologisch und metapsychologisch mit den Fragen an, was als Wirklichkeit gelten könne [die der Anti-Heldin, die der Kunstfigur im Wechselbezug mit der Anti-Heldin?] und ob es eine Wirklichkeit 4 | E. Angehrn ebd., S. 249. 5 | H.-C. Ramm: Lesen ebd. 6 | M. Bradbury: »London 1890–1920«, in: M. Bradbury and J. McFarlane (Hg.): Modernism. A Guide To European Literature 1890–1930. London: Penguin 1991, S. 172–190, hier: S. 178. 7 | C. Begemann: »Einleitung«, in: C. Begemann (Hg.): Realismus. Das große Lesebuch. Frankfurt/M.: Fischer 2011, S. 13–22, S. 25–32.

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gebe, die vom Betrachter – hier gerotranszendent gesehen – unabhängig sei? Der Roman beantwortet diese Fragen am Ende des 19. Jahrhunderts kulturkritisch und rezeptionsästhetisch herausfordernd: Die Anti-Heldin Tess erhält über alle Zufälle und Unwahrscheinlichkeiten hinweg ihre Plausibilität durch die visionäre Kunstfigur Tess. Das Erzählen dieser Wechselimplikation ruft die Gefühlsintensität hervor, die von der AntiHeldin und ihren Verstrickungen für die Rezipientinnen ausgeht, und sie evoziert die Klarheit der Vision seitens der Kunstfigur. Im Erzählen dieser distanzierten Nähe erhält die Anti-Figur Tess ihre Plausibilität, weil das Erzählen die visionäre Kunstfigur Tess autoreferenziell und mythopoetisch plausibilisiert – allein im Zerschmetternden liegt das Gelingende.8 Aus diesen einleitenden Überlegungen ergibt sich methodisch, dass man in einem gelenkten Seminar Hardys Roman Tess mit Rezipientinnen des dritten Lebensalters nicht kapitelweise oder durch Kapitelbündelungen, auch nicht in der chronologischen Anordnung der sieben Phasen des Romans erschließt, sondern, wie im Folgenden dargelegt, nach thematischen Schwerpunkten. Geht man chronologisch nach Kapiteln oder Phasen vor, besteht die Gefahr der Inhaltswiederholung. Geht man hingegen thematisch vor, kommen bei den Rezipientinnen die komplexe Durchdringung von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Anti-Heldin und Kunstfigur [»pure women«] sowie die erzählerischen Mittel der Melodramatik und Genremischung und die kompositorische Verschiebung von episodisch aufgebauter Thematik und ordnender Phasengliederung problemorientiert und kulturkritisch in den Blick.

Die melodramatische Imagination als kultursemiotische Irritationserfahrung – Thomas Hardys Kulturkritik Thomas Hardys Romane entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in einer Epoche, in der England aufgrund schwacher Feudalstrukturen und, ähnlich wie die Niederlande, als Marktgesellschaft mit internationalen Beziehungen eine Vorreiterrolle in Europa einnahm.9 Kul8 | T.W. Adorno: Ästhetische Theorie ebd., S. 80–81. 9 | J. Kocka: Geschichte des Kapitalismus. München: Beck 2013; J. Appleby: Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus. Hamburg: Murmann 2011; C. Eisenberg: Englands Weg in die Marktgesellschaft. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2009.

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turell kam es zu epochalen Widersprüchen, in denen sich das Bewusstsein entwickelte, in einer Epoche beschleunigter Zeiterfahrung zu leben. Zu diesen Erfahrungen gehörte eine ausdifferenzierte industrialisierte Gesellschaft, die zur Urbanisierung, zu einem Anwachsen pauperisierter, sich politisch formierender Schichten und zu einer neuen Unübersichtlichkeit führte. Zu der Umbruchssituation, die tradierte Ordnungen und religiöse Gewissheiten in Frage stellte und das Unbehagen in der Kultur im Gefühl zum Ausdruck brachte, von sich und dem Leben entfremdet zu sein, kamen kulturelle Spezialisierungen, also eine Vervielfältigung kulturellen Wissens hinzu, was, nicht zuletzt durch Darwins Entdeckung einer sich selbst organisierenden Natur, Schockerfahrungen bei Intellektuellen auslöste. Hardy schrieb in »an age caught between God and science, continuity and unbidden change, new troubled speculations about individuality and process […]« (Bradbury 1994: 36). Um 1880 begann ein Jahrzehnt, das einen merklichen Einschnitt in der englischen Sozial- und Kulturgeschichte markierte. Der bislang dominierende Fortschrittsoptimismus schlug in Verunsicherung und in einen von Zweifeln geplagten Kulturpessimismus um. Es entstanden literarische und ästhetische Richtungen, die im Ästhetizismus, in der Hinwendung zu Natur und Leben die Krise des liberalen Bürgertums aufgriffen und normative Ordnungen in Frage stellten. Durch die ästhetische Hinwendung zu primitiven Lebensformen, zu einer mythischen Vergangenheit, zum kulturell Anderen, durch Ironie, Fragmentarisierung, Diskontinuität, alogische Bildhaftigkeit und Traumszenarien wurden jeweils unterschiedlich krisenbesetzte Sinnfragen ästhetisch konfrontiert und innovativ gestaltet.10 In den kulturellen Turbulenzen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und bis ins 20. Jahrhundert hinein die ästhetische Moderne prägten, teilten sich, so Peter Gay, Künstler, Musiker und Literaten bei aller Unterschiedlichkeit zwei Eigenschaften, die als Antworten auf die Kulturkrise der Moderne zu verstehen sind: Sie provozierten durch ästhetische Schocks und verknüpften diese mit einer transitorischen Identitätsproblematik, die in der Romantik als Suche nach und Erforschung des Selbst ihren Ursprung hatte. Diese beiden kreativen Energien setzten sich gegen Ende des 19.

10 | H. U. Seeber: »Vormoderne und Moderne«, in: H. U. Seeber (Hg.): Englische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 327–388, hier: S. 327– 330.

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Jahrhunderts vornehmlich mit überkommenen ästhetischen Formen auseinander.11 Das kulturelle und ästhetische Krisenbewusstsein der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzieht auch Thomas Hardys Roman Tess of the D’Urbervilles (1891). Dieser Roman kann keinen selbstverständlichen Zugang zu seiner kulturellen Wirklichkeit und ihrer normativen Ordnung mehr finden. Aus dieser Orientierungslosigkeit, die bis in die verschobene Romankonstruktion hineinwirkt, folgt ein ästhetisches Programm, das realistisches Erzählen hinter sich lässt. Der Roman riskiert, in Opposition zu einer als verpflichtend aufgefassten Wirklichkeit, einer »wahre[n] Wirklichkeit als Totalität, Zusammenhang und Sinn« narrativ Gestalt zu verleihen.12 Thomas Hardy stand dem Realismus des viktorianischen Romans, der seiner Ansicht nach Wirklichkeit eher kopierte als transzendierte, skeptisch gegenüber. An William Turners Gemälden bewunderte er die irritierend befremdlichen Überblendungen von Licht und Objekten, durch die Turner »the effect of the real«13 erzielte. Um diesen »effect« ging es Hardy. Seine Romane erkunden eine »spiritual reality«14 und bringen, wie im Melodrama, »a desire to push through surface to a ›drama‹ in the realm of emotional and spiritual reality« zum Ausdruck.15 Um dieses ästhetische Konzept plausibel werden zu lassen, musste Hardy im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche, im Alltäglichen das Heilige, im Wirklichen visionär das Mögliche und Überpersönliche aufdecken und durch Verfremdung in ein komplexes Zusammenspiel bringen. 1890 formulierte er: »Art is a disproportioning […] of realities, to show more clearly the features that matter in those realities, which, if merely copied or reported inventorially, might possibly be observed, but would more probably be overlooked. Hence ›realism‹ is not Art.« (Hardy, Higonnet 2003: xxix) Dieses Konzept, das durch Verfremdung eine unifizierende, formalisierte Ästhetik verweigert, 11 | P. Gay: Modernism. The Lure of Heresy from Baudelaire to Beckett and Beyond. London: Vintage 2009, S. 1–30, S. 181–229. 12 | C. Begemann: »Einleitung« ebd., S. 18. 13 | M.R. Higonnet: »Introduction«, in: T. Hardy: Tess of the D’Urbervilles. Edited with Notes by T. Dolin ebd., S. xix-xliii, hier: S. xxix. 14 | P. Brooks: The Melodramatic Imagination. New Haven/London: Yale University Press 1995, S. 2. 15 | P. Brooks ebd., S. 4.

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ist modern. Hardy entwickelte eine Ästhetik der Irritation – Peter Brooks nennt sie in Bezug auf die melodramatische Imagination eine »aesthetics of astonishment«16 – eine Ästhetik, die sowohl in der Populärkultur des 19. Jahrhunderts zu finden ist als auch in Kinotechniken [z. B. dem Stummfilm oder Filmmusiken]17 intensiviert und ausgeweitet wurde. In seinen Romanen, insbesondere auch in Tess, gestaltet Hardy sein erzählerisches Material in einer impressionistischen Optik, die eine »›visualised world‹« entstehen lässt, »›that is both recognisably real and yet more vivid, intense and dramatically charged than our ordinary perception of the real world.‹«18 Wie Balzac, James, Dickens, Gogol, Dostojevsky, Lawrence und Proust lehnt Hardy es ab »to allow that the world has been completely drained of transcendence«.19 Folgt man den Ausführungen Brooks zur modernen Problematik der »melodramatic imagination«, dann wird deutlich, dass Hardys Roman Tess melodramatische Elemente integriert, um in deren Zusammenspiel die subjektive und zugleich überpersönliche Weltsicht der Anti-Heldin zu dramatisieren. In dieser Hyperbolik ist der Roman kulturkritisch. Das Zusammenspiel melodramatischer Elemente lässt eine Textur von »melodrama, visuality, and modernity«20 entstehen, die der viktorianischen Doppelmoral, der Justiz, der ökonomischen Rationalität, einer marktwirtschaftlich strukturierten Moderne kritisch begegnet. Diese »aesthetics of astonishment« setzt sich, konsequent der paradoxen Verquickung von Subjektivität und Überpersönlichem folgend, aus Genremischungen von realistischen, tragischen, pastoralen, melodramatischen und schauerromantischen Elementen zusammen. Hinzu kommen in das primäre Sprachmaterial des Romantextes eingelassene sekundäre Sprachmaterialien wie Songs, Balladen, Predigten, volkstümliche Erzählungen und ländliche Dialekte. Diese Genremischungen und sekundären Sprachma16 | P. Brooks ebd., S. 24–55. 17 | P. Brooks ebd., S. 64. 18 | D. Lodge: Working with Structuralism: Essays and Reviews on Nineteenthand Twentieth-Century Literature, London: Routledge & Kegan Paul 1981, S. 96, zit. in T. Dolin: »Melodrama, Vision, and Modernity: Tess of the d’Urbervilles«, in: K. Wilson (Hg): A Companion To Thomas Hardy. Oxford: Wiley-Blackwell 2013, S. 328–344, hier: S. 329. 19 | P. Brooks ebd., S. 22. 20 | T. Dolin: »Melodrama« ebd., S. 333.

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terialien beziehen sich in ihrer Vielsprachigkeit dialogisch aufeinander und werden zur Grundlage einer oszillierenden narrativen Form: »These heterogeneous stylistic unities, upon entering the novel, combine to form a structured artistic system […]. The novel can be defined as a diversity of social speech types […] and a diversity of individual voices, artistically organized.« (Baktin 2011: 262) In Thomas Hardys Roman Tess wird diese Vielsprachigkeit zum handlungsretardierenden narrativen Gattungsgedächtnis. Sie wirkt impressionistisch und optisch-cineastisch sowie in Bezug auf den Pakt mit den Leserinnen destabilisierend, weil sie einen sicheren Interpretationsraum nicht zulässt 21 bzw. den hermeneutischen Raum des Unheimlichen entstehen lässt – Unheimlichkeit verstanden als Entwurzelung der Anti-Heldin und ihrer Familie im eigenen Heimatgebiet Wessex, als irritierender Ausdruck des Erzählens, in dem sich Realität und Imagination durchdringen, fixierte Identitätserfahrungen aufgehoben werden, Unerwartetes ans Licht kommt, Unterscheidungen aufgelöst und das Realitätsprinzip perforiert wird. Es zeigt sich, dass nicht nur die Inhalte des Romans Tess, sondern auch die erzählerische Form, die ihre eigene Struktur in der Redevielfalt dialogisch unterläuft, eine entscheidende Rolle spielt, um den Unheimlichkeitseffekt dieses Romans hervorzurufen.22 Es entsteht eine »anti-realist nature of [Hardy’s] fiction«23, die es insbesondere in der Mischung von Realismus und Melodrama erlaubt, extreme Situationen und Reaktionen interessant und glaubwürdig zu gestalten. Diese werden zugleich kritisch gegen eine sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts konsolidierende Marktgesellschaft und die Normalisierung abstrakter bürgerlicher Wertvorstellungen in Großbritannien in Stellung gebracht. In Bezug auf den Roman Tess heißt dies, dass Hardys hybride Narrativität hyperbolisch und kulturkritisch die Wirklichkeitsebene, auf der sich die Anti-Heldin gegen ihren Willen bewegt, transzendiert. Die hybride Textur löst durch die Mischung einer Vielzahl unterschiedlicher kultureller sekundärer Sprachmaterialien und Genres die Selbstzensur viktorianischer Romane und

21 | R. Nemesvari: »›Genres are not to be mixed… I will not mix them‹: Discourse, Ideology, and Generic Hybridity in Hardy’s Fiction«, in: K. Wilson (Hg.): A Companion To Thomas Hardy ebd., S. 102–116, hier: S. 102, S. 106. 22 | N. Royle: The uncanny. Manchester: Manchester University Press 2003. 23 | R. Nemesvari: »›Genres« ebd., S. 103.

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eine das Realitätsprinzip repräsentierende Repression auf24 – Repression verstanden als bewusster Mechanismus der Unterdrückung im Sinne eines Ausschlusses unlustvoller oder unangebrachter Affekte aus dem aktuellen Bewusstseinsfeld, die u. U. gehemmt oder ausgelöscht werden können.25 Im Gemisch der sekundären Sprachmaterialien und Genres und durch den vermehrten Einsatz melodramatischer Elemente konfrontiert Hardys Roman Tess Phänomene der ökonomischen und instrumentellen Vernunft [»repression«] mit handlungsretardierenden, die Affekte der Leserinnen ansprechenden erzählerischen Mitteln [»touching the heart and drawing tears« 26]. Die hybride Textur spielt das Lustprinzip gegen das Realitätsprinzip aus – zum Ärger der damaligen Kritiker des Romans – und sie bleibt im Gemisch der Genres und sekundärer Sprachmaterialien romanhaft, weil die Anti-Heldin Tess mit allen Situationen, Ereignissen und melodramatischen Elementen verwoben wird und in dieser Verdichtung als besondere und depravierte Erzählfigur in ihrer »nobility of soul, self-knowledge« sowie als Ganzheitsanspruch in der Gegenspiegelung mit der Kunstfigur Tess in ihrem »self-fulfillment«27 hervorgehoben wird. Der für den modernen Roman typische Bruch zwischen Ich und Welt wird durch diese hybride Verdichtung, die zugleich retardiert und expandiert, hervorgehoben und melodramatisch durchsetzt. Er wird im letzten Romandrittel, bis zum Ende des Romans, in eine Bruchlinie überführt, in der sich Hyperbolik und der Bruch zwischen Ich und Welt durchdringen: Tess’ Vater stirbt, die Mutter erkrankt, die Familie muss, wie andere Familien in Marlott, ihr Haus verlassen und zieht heimatlos umher. Tess wird von Alec zum Ehebruch gezwungen, sie wird zur Mörderin und durch den Strang hingerichtet. In dieser hyperbolischen Bruchlinie besiegelt der Roman Tess’ Schicksal, da sie keine ihrer Situationen trotz tentativer Ansätze [ihre Ablehnung Alecs, ihre Kritik an ihrer Mutter, ihr Brief an Angel] selbst bestimmen kann. Durch diese Brüche jedoch erhält sich gegenperspektivisch, verstärkt durch Tess als Opfer auf dem Altar von Stonehenge, in der narrativen 24 | P. Brooks ebd., S. 41; T. Dolin: »Melodrama« ebd., S. 235–236; R. Nemesvari: »›Genres« ebd., S. 102–104. 25 | J. Laplanche/J.-B. Pontalis: »Unterdrückung«, in: J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular ebd., S. 570–571. 26 | R. Nemesvari: »›Genres« ebd., S. 107. 27 | P. Brooks ebd., S. 26.

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Haltung eines j’accuse, die Vision einer Tess als »pure woman«, die Vision integrer Humanität: »[Hardy’s] compassionate presentation of Tess makes it impossible to make attribution of responsibility co-extensive with assignment of blame, especially since the avoidance of analysis in favour of dramatic and expressionistic techniques forces the reader to an extraordinary degree of participation in Tess’s career.« (Millgate 1994: 280) Diese in Hardys »aesthetics of astonishment«28 evozierte Partizipation der Leserinnen des dritten Lebensalters an Tess’ depravierenden Erfahrungen als Anti-Heldin, die zugleich die Reflexion auf ihre Humanität als »pure woman« in der Haltung eines distanzierten Verstehens provoziert, strukturiert die ästhetische Erfahrung bei der Erschließung und Reflexion von Hardys Roman Tess.

Das erste Romankapitel Bereits das erste Romankapitel entfaltet die Urszene der Romanhandlung, »the moment that holds the key to all the [novel’s] conflicts and motives«29. Der Häusler Jack Durbeyfield, Vater der 16-jährigen Protagonistin des Romans, wird auf seinem abendlichen Heimweg, der ihn aufgrund seiner existenziellen Notlage, seiner Herzkrankheit und seines Alkoholkonsums einen wackelig-schiefen Gang, »which inclined him somewhat to the left of a straight line« (Chapter I, S. 7)30 einnehmen lässt, von Pastor Tringham hoch zu Ross auf seine Abstammung aus dem alten Adelsgeschlecht der d’Urbervilles angesprochen und, in zynischer Anspielung auf Shakespeares und Verdis Sir John Falstaff, als »Sir John« betitelt (Chapter I, S. 7). Bei Jack Durbeyfield handelt es sich um eine Figur aus dem Arsenal des Melodramas, zu dem Verstummte, Invalide, Blinde und Gelähmte gehören, deren dramaturgische Bedeutung darin besteht, »the extremism and hyperbole of ethical conflict and manichaeistic struggle«31 zu evozieren und zugleich die tiefere Sinndimension des Melodramas zu entwerfen. Jack Durbeyfields physisch unsicherer Gang symbolisiert sei28 | P. Brooks ebd., S. 24–55. 29 | P. Brooks ebd., S. 59. 30 | Kapitel und Seitenangaben des Romans werden im laufenden Text angegeben. Sie beziehen sich auf: T. Hardy: Tess of the D’Urbervilles. Edited with Notes by T. Dolin, with an Introduction by M.R. Higonnet ebd. 31 | P. Brooks ebd., S. 56.

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ne Ziel- und Orientierungslosigkeit und – wie der Erzähler durchweg in der Handlung des Romans hervorhebt – die der anderen Figuren. Pastor Tringhams historischen Ausführungen gegenüber »Sir John« werden als böse Satire des falschen Idealismus und der Selbsttäuschung von Hobbyhistorikern, »antiquar[ies]« (Chapter I, S. 7),32 die in rückblickender Geschichtsüberhöhung den Blick für historische Prozesse und gegenwärtige Veränderungen verloren haben, gestaltet. Dabei bezieht Tringham sich auf Jacks Physiognomie und die Ähnlichkeit seines Nachnamens Durbeyfield mit d’Urberville. Die Geschichte Englands und die lebensweltliche natürliche Umgebung des bäuerlichen Häuslers Jack Durbeyfield, mit ihren Traditionen und abergläubischen Elementen, werden zum zynisch eingesetzten Spielball eines Vertreters der Theologie. Das Auseinandertreten von Geschichte, Religion, Natur und impressionistischer Fantasie in einer gottlos gewordenen, von Indifferenz geprägten Welt kommt in den ersten Romansätzen zur Sprache. Pastor Tringhams abstraktes Geschichtsbild, seine Indifferenz gegenüber der ländlichen Bevölkerung und ihrer Armut, gegenüber der Umbruchssituation vom Agrar- zum Handelskapitalismus,33 in der sie sich befand, gegenüber der damit gegebenen bedrohten existenziellen Lage der Häusler und Kleinbauern und der freigesetzten abergläubischen, angstbesetzten Existenzfantasien stimmen den agnostisch kulturkritischen Grundton des Romans an, der in seiner Mitte in Tess’ Verstoßung durch die Selbsttäuschung des Sohnes eines engstirnigen anglikanischen Pastors, Angel Clare, gespiegelt wird. Pastor Tringham täuscht im ersten Kapitel des Romans, gegen besseres Wissen (Chapter V), Jack Durbeyfield über die nicht mehr gegebene Aktualität der seit Jahrhunderten ausgestorbenen Adelstradition der d’Urbervilles. Er weckt in dem Häusler, seiner abergläubischen Frau Joan und ihren naiven Kindern – nicht aber in der skeptischen, 16-jährigen Tess – falsche Erwartungen einer adelsbedingten Verbesserung ihrer finanziellen Not, und zwar mit katastrophalen Folgen. Daran ändern auch die Beweisstücke, ein altes Siegel und ein Silberlöffel, nichts, die sich im Besitz der Häuslerfamilie befinden und die Abstammung der Durbeyfields von den d’Urbervilles belegen sollen. Jack Durbeyfield glaubt Pastor Tringhams Behauptungen unbesehen. Tringham, der im ersten Kapitel vor 32 | T. Hardy: Tess of the D’Urbervilles. Edited with Notes by T. Dolin, with an Introduction by M.R. Higonnet ebd., S. 401 (Notes). 33 | J. Kocka: Kapitalismus ebd., S. 63, S. 78–84.

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sich selbst, nicht aber vor Jack, bedauert, dass er den Häusler aus launiger Geltungssucht zum Phantasma eines Sir John d’Urberville geadelt hat, hier wird die Theologie als Witzfigur der Geschichte symbolisiert, stürzt die Häuslerfamilie in die Katastrophe einer Heimatlosigkeit und ihres Identitätsverlustes, die kulturell gesehen, so stellt es das letzte Drittel des Romans dar, die gesamte ländliche Bevölkerung Englands und ihre traditionelle Kultur betreffen. In dieser Urszene des Romans, die eine Figur aus dem Arsenal des Melodramas in ihr Zentrum stellt, den körperlich und mental invaliden Jack Durbeyfield, alias »Sir John«, liegt der Schlüssel zu allen Motiven und Konflikten des Romans. Er liegt in den Täuschungsmanövern der Bourgeoisie gegenüber einer pauperisierten ländlichen Bevölkerung mit katastrophalen Folgen für die Pauperisierten bzw. in einem sich durch Selbst- und Fremdtäuschung stabilisierenden ökonomischen und subjektiven Machtgefälle, aus dem es für Pauperisierte, am Beispiel der jugendlichen Figur Tess, kein Entrinnen gibt. Der satirische Grundton des ersten Romankapitels, der Tringhams Täuschungsmanöver mit der transzendentalen Obdachlosigkeit des modernen Subjekts korreliert,34 setzt, gerade durch die in seinem unsicheren Gang hervorgehobene Schieflage Jacks, Gefühlsdispositionen bei den Rezipientinnen frei, die sich gegen den Verlust einer transzendenten Sinndimension auf die Seite Jack Durbeyfields schlagen. Damit lassen sich die Rezipientinnen auf die Grundperspektive des Romans ein, nämlich auf das Erzählen geschichtlicher Ereignisse aus kulturpathologisch subjektiver Sicht von unten. Sie lassen sich auch darauf ein, dass das erste Romankapitel autoreferenziell fiktionales Erzählen konfrontiert mit verfälschendem, fragmentiert fiktionalem Erzählen durch einen Vertreter der Kirche. In diesem Spiel mit Fiktionen entsteht als Initialzündung des Romans ein hermeneutischer Raum des Unheimlichen, der die Leserinnen in scheinbar angenehmer Lektüre durch Angstlust miteinbezieht. Hier verschwistern sich Satire und Unheimlichkeit auf der Ebene des Beginns einer dynamischen Erzählstruktur, die vermittels eines distanzierten und teils involvierten Erzählers deutlich werden lässt, dass in einer modernen Welt ohne göttliche Planung jede existenzielle Sicherheit fragwürdig geworden ist – das trifft auf den Priester ebenso zu wie auf den Häusler – und dass der moderne Mensch seinen Weg selbst zu verantwor34 | T. Eagleton: Der Tod Gottes und die Krise der Kultur. München: Pattloch 2014, S. 131.

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ten hat, auch in den Unsicherheiten einer Armutssituation, die die Betroffenen ins Proletariat abrutschen lässt [Vertreibung der Familien aus Marlott]. Immer wieder weist der Roman auf den Fatalismus der Familie Durbeyfield und Jacks Trägheit, verstärkt durch den Größenwahn, Sir John zu sein, hin. Die 16-jährige Tess misstraut diesem Wahn und wird, verstärkt durch ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre aktive Unterstützung, die die materielle Not ihrer Familie lindern will, auf der Inhaltsund Sinnebene zur Gegenfigur gegen Wahn, Aberglaube, Fatalismus und verfälschende Möglichkeiten eines nicht gegebenen besseren Lebens sowie gegen den falschen Schein eines richtigen Lebens inmitten von Egoismen und Lügengeweben. Die Rezipientinnen lassen sich damit drittens auf die Gegenperspektive des Romans ein, die in seinem Untertitel, »a pure woman faithfully presented by Thomas Hardy«, entworfen wird und die Fragwürdigkeit des Normativen in der Moderne metanarrativ aufwirft. Narrativ subversiv folgen diesem ersten Kapitel melodramatische Elemente: Das erotisch attraktive Landmädchen Tess wird in ihrer Unerfahrenheit beim Maitagstanz gezeigt, einem Paradiesgarten,35 in den Angel Clare als Verführer eindringt. Es folgt die Vergewaltigung der jungen Tess durch den als Bösewicht angelegten Alec d’Urberville, der als inverse Spiegelfigur Angels gestaltet wird. Durchgängig geht es dem Roman – und hierin liegt ein weiteres melodramatisches Element – um die Verteidigung der moralischen Integrität der Protagonistin: durch den Erzähler, durch Tess selbst, durch Tess in Solidarität mit den anderen Melkmädchen, durch Tess gegenüber ihrer Mutter, gegenüber Alec und Angel, gegenüber patriarchalen Machtgefügen. Tess wird als Opfer patriarchalischer Herrschaftsgefälle, als Anti-Heldin dargestellt, ein Motiv, in dem sich Melodramatik und Schauerroman überblenden.36 Dafür stehen gegenperspektivisch die Szenen ein, in denen Tess von dem schlafwandelnden Angel in einen leeren steinernen und offenen Sarg in einer Kirchenruine gelegt wird (Chapter XXXVII), Tess von der beängstigenden Kutsche der D’Urbervilles erfährt (Chapter XXXIII), Tess von Angel auf ihrer Hochzeitsreise zu einem »ancestral mansion« (Chapter XXXIV) gebracht wird und dort auf zwei Portraits ihrer weiblichen Vorfahren trifft, deren boshafte Gesichtszüge sie erschauern lassen. Im Unterschied zum Schauerroman jedoch, der sich um die Darstellung des Numinosen dreht, 35 | P. Brooks ebd., S. 29–30. 36 | P. Brooks ebd., S. 19.

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geht es den melodramatischen Passagen um die Ästhetik ethischer Folgen aus numinosen Erfahrungen: »Melodrama starts from and expresses the anxiety brought about by a frightening new world in which the traditional patterns of moral order no longer provide the necessary social glue. It demonstrates over and over that the signs of ethical forces can be discovered and can be made legible. It tends to diverge from the Gothic novel in its optimism, its claim that the moral imagination can open up the angelic spheres as well as the demonic depths and can ally the threat of moral chaos.« (Brooks 1995: 20)

Für die Erzählstruktur des Romans Tess bedeutet die Integration der modernen subjektiven Erfahrung transzendentaler Obdachlosigkeit in die Handlung, dass – im Gegenzug zur Anti-Heldin Tess – Tess als »pure woman«, als archaische Kunstfigur bereits im Untertitel des Romans eingeführt wird, die als Aspektfigur für die Leserinnen den Platz »of operative spiritual values« einnimmt, »which is both indicated within and masked by the surface of reality.«37 Damit entfaltet der Roman die Kontrastkopplung einer korrumpierten Wirklichkeit, in der Tess als Anti-Heldin agiert [»the surface of reality«], mit einem Bereich emotionaler und spiritueller Werte, in dem Tess als Kunstfigur die Horizontlinie des Romans visionär auszieht [»pure woman«], eine Kontrastkopplung, in der der Konflikt elementarer moralischer Kräfte in Beziehung zu Möglichkeiten einer elementaren Humanität gesetzt wird. Im Melodrama, wie in Hardys Roman Tess, wird das verdeckt Heilige im Bereich der Wirklichkeit als ethischer Anspruch eines deus absconditus gesucht und metapsychologisch aufgedeckt.38 Die Verschiebung der melodramatischen Imagination zum Romanhaften in Hardys Roman Tess, wie sie Peter Brooks darlegt, besteht darin, dass dieser Roman die melodramatische Transzendierung manichäischer Kräfte in einem interplay von Natur- und Figurenbeziehungen relativiert, die den als Bösewicht angelegten Alec trotz Beibehaltung seiner zynischen Aspekte auch als komplexe Figur zeigen, den als Idealisten angelegten Angel in seinen dämonisch unbewussten Energien bloßstellen und die Naturenergien als teils arkadische, teils dämonische Spiegelungen der aus dem Geschehen herausgehobenen Anti-Heldin Tess in der 37 | P. Brooks ebd., S. 5. 38 | P. Brooks ebd., S. 11.

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oben dargelegten Vielstimmigkeit gestalten. Diese Relativierung, die »the full range of horrors resulting from ethical perversion«39 hinter sich lässt, trifft vor allem für die Anti-Heldin Tess zu, deren Expansion in einer Rollenvielfalt hervorgehoben und deren erotische Schönheit und Tugend zugleich in einer humanen Vision verdichtet werden. Diese Polarisierung und Verdichtung der Protagonistin lässt in Hardys Roman den Optimismus der melodramatischen Struktur, obgleich sie energetisch den Roman gestaltet, hyperbolisch hinter sich: Die Anti-Heldin wird zur Mörderin, auf dem archaischen Altar von Stonhenge wird sie zur Apotheose des Opfers und am Ende wird sie mit dem Strang hingerichtet. Der dem Melodrama inhärente Optimismus kippt um in einen Kulturpessimismus, der die Vision der Aufhebung einer korrupten Welt in Werte der Humanität radikal in Frage und das Unbehagen des modernen Subjekts in der Kultur zur Disposition stellt. Die kosmische Versicherung, die das Melodrama seinem Auditorium garantierte, kann Hardys Roman Tess seinen Leserinnen nicht mehr geben.

Rezeptionsästhetische Reflexion Reflexionsästhetisch bedeutet die Kontrastkopplung von Kunstfigur und Anti-Heldin, von Subjektivität und Überpersönlichem, in der sich das Unbehagen der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, eine mentale, intellektuelle und emotionale Verunsicherung der Leserinnen. Diese macht zugleich tiefenhermeneutisch die negative Lektüreerfahrung der Unbestimmtheit und eine offene, kreative Lektüreerfahrung und somit Erfahrung des Unheimlichen40 durch Hardys Inversion des Melodramatischen ins Romanhafte aus. In der narrativen Verwebung von visionärer Kunstfigur und subjektiver Anti-Heldin wird die Grenze von Imagination und Realität [der Leserinnen] narrativ und epistemologisch in die Fragen aufgelöst, wo die Grenzen zwischen Einbildung, Illusion und Erkenntnis verlaufen und ob es eine vom Betrachter unabhängige Wirklichkeit gebe.41 Die Übergänge zwischen Über-Ich und Es werden in der Heteroglossie des Romans autoreferenziell gespiegelt. Es entsteht ein hermeneutischer Raum des melodramatisch Unheimlichen, 39 | P. Brooks ebd., S. 52. 40 | N. Royle: The uncanny ebd., S. 52. 41 | N. Royle: The uncanny ebd., S. 69.

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in dem die Kunstfigur Tess kulturelle Transformationsmöglichkeiten evoziert, die in narrativer Paradoxie die depravierende Lebenswirklichkeit der Anti-Heldin Tess blockieren. In dieser Paradoxie wird der fragmentarisierte Ganzheitsanspruch des Romans Tess angesprochen und zum Anknüpfungspunkt an die Ganzheitsimaginationen der für die Rezipientinnen typischen Lebenserfahrung der Gerotranszendenz. In der narrativen Durchdringung von humanen Lebensmöglichkeiten und depravierender Lebenswirklichkeit wirft die aus dem Romangeschehen herausgehobene Kunstfigur Tess Fragen nach einer gerechten Gesellschaft auf, nach Freiheit von sozialen Zwängen, nach Möglichkeiten der inneren Emigration, eine Erfahrungsdimension der Großeltern und Eltern der Rezipientinnen des dritten Lebensalters,42 und nach Möglichkeiten eines menschenwürdigen Lebens. Sie transzendiert visionär die depravierenden Lebensbedingungen der Anti-Heldin und affiziert damit die Fähigkeiten der Leserinnen des dritten Lebensalters zur Gerotranszendenz als Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Das Leiden der Romanfiguren an ihrer Kultur, ihre Lebensmöglichkeiten und Lebenswirklichkeiten lässt sich durch das gegenperspektivisch melodramatisch unheimliche Erzählen als nicht hinzunehmender Fatalismus bzw. als transformierbare Machtkonstellation erschließen. Diese Umkehrvision, die der Roman bis zu seinem Ende hin ambivalent in der Schwebe der melodramatischen Imagination hält – in der Kunstfigur Tess plädiert er für gesellschaftliche Veränderungen und nimmt sie in der Anti-Heldin retardierend zurück –, diese Inversion des Vertrauten ins Unheimliche affiziert Lebenserfahrungen der Rezipientinnen des dritten Lebensalters. Erschließbar wird und reflexionsanregend wirkt für Rezipientinnen des dritten Lebensalters, dass die Problematik einer veränderbaren Wirklichkeit von Hardys Roman Tess melodramatisch in kulturkritischer Perspektive in der Vielstimmigkeit des Erzählten extrapoliert wird. In den die Rezipientinnen des dritten Lebensalters faszinierenden Verknüpfungen von historischen [19. und 20. Jahrhundert] sozialökonomischen, politischen, frauenrechtlichen, moralischen und theologischen 42 | I. Pfeiffer: »Glanz und Elend in der Weimarer Republik. Bilder vom Unbehagen einer Epoche«, in: I. Pfeiffer (Hg.): Glanz und Elend in der Weimarer Republik. Katalog. Schirn Kunsthalle Frankfurt/M., 27. Oktober 2017–25. Februar 2018, S. 23–80, hier: S. 38–39; S. Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart: Klett-Cotta 2014.

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Infragestellungen im Zusammenhang mit handlungsverzögernden melodramatisch expressiven Impressionen, die in ihrer Komplexität die episodische Handlungsstruktur des Romans Tess vielstimmig stabilisieren, in diesen Verknüpfungen geraten Gewalt, Zerstörung und eine poetische Bildkraft in ein faszinierendes Widerspiel: In Tess’ Gestaltung wird der durch Ausbeutung und Vertreibung bestimmte Alltag der ländlichen Bevölkerung Großbritanniens am Ende des 19. Jahrhunderts mit mythischen und magischen Elementen beleuchtet und überhöht. Die Verknüpfung von Gewalt und Schönheit, Gesellschaftskritik und identifikatorischen Momenten macht das paradox Erhabene des Romans aus, dessen Ironie darin besteht, dass sich eine erodierende Mittelklasse nach einer Erlösung durch Mythen sehnt, die sie in einer durchrationalisierten entzauberten Welt nicht mehr finden kann und die es allein im Bereich der narrativen Fiktion Hardys noch gibt. In der Verknüpfung von gesellschaftlicher Rationalität und Magie, Thanatos und Eros, sind Hardys Romane moderne Varianten der Melodramatik. Mit ihrer emotionalen Wahrheit, die Festlegungen auf konventionelle Moralvorstellungen verweigert und, wie D.H. Lawrences Roman Sons and Lovers und Virgina Woolfs Roman To the Lighthouse, ohne Sinnmitte ist, ist der Roman Tess Teil der nicht mehr schönen Künste und deshalb ein Faszinosum für Rezipientinnen des dritten Lebensalters. An Hardys Roman können Fragen erarbeitet werden, inwiefern und mit welcher kulturellen Bedeutsamkeit die Verknüpfung von Archaik, Erhabenheit und Aktualität romanhaftmelodramatisch ist und was diese Verknüpfung für uns heute bedeutet. Ferner: Inwieweit entwickelt Thomas Hardy mit der Erzählfigur Tess als Anti-Heldin und »pure woman« ein neues Frauenbild, in dessen Zentrum eine starke weibliche Persönlichkeit steht? Und metapsychologisch: Inwiefern bringt die Erzählfigur Tess in der Unfreiwilligkeit ihres Lebensweges moderne Subjekterfahrungen als Leiden in und an der Kultur zum Ausdruck?

Die ersten vier Kapitel In Hardys Roman Tess wird die menschliche Fähigkeit zur Selbsttranszendenz durch Naturbilder und gesteigerte Figurenspiegelungen ambivalent in der Schwebe gehalten: zwischen weltverbundener Wirklichkeit und übersinnlicher Möglichkeit. Dazu zwei Beispiele aus dem vierten Kapitel: (a) Das frühmorgendliche Gespräch zwischen dem kindlichen Ab-

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raham und seiner 16-jährigen Schwester Tess wird durch die Umkehrung der elterlichen Verantwortung eingeleitet – Tess hat diese Verantwortung als 16-Jährige für ihren Vater übernommen – und sie wird eingeleitet von Abrahams Blick auf den Sternenhimmel (Chapter IV, S. 31). Die Inversion elterlicher Verantwortung ermöglicht im frühmorgendlichen natürlichen Raum eine von innerer Zensur freie, überpersönliche Imaginationsfähigkeit des Kindes Abraham und der jugendlichen Tess. Aufgrund dieser Fähigkeit, die bei Tess durchgängig im Roman als ihre imaginative Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und als empathische Handlungsfähigkeit gestaltet wird, können sich Abraham und Tess die Natur, im Umschlagen von innerer in eine äußere Realität, in universellen Dimensionen vorstellen. Sie nehmen bereits hier zu Romanbeginn eine Gegenperspektive gegen die kleinlichen, lächerlichen, jedoch für Tess und ihre Familie existenzgefährdenden Phantasmen Pastor Tringhams, Jacks, Joans, Alecs und Angels ein. Aus Abrahams Sicht, Tess’ empathischer Energie und der Sicht des übergeordneten Erzählers sind die Sterne kalt pulsierende schwarze Hohlräume, die heiter und unbehelligt, weit entfernt »from these two wisps of human life« funkeln (Chapter IV, S. 31). Das ist die Erzählerperspektive innerhalb der Perspektive des kindlichen Abrahams, die sich hybrid in Tess’ Antworten spiegelt. Abraham fragt, »how far away those twinklers were, and whether God was on the other side of them« (Chapter IV, S. 31). Er erhält aber weder von Tess noch erhalten wir Leserinnen vom Erzähler eine Antwort [wir spiegeln uns in diesem kindlichen Dialog, sind imaginativ anwesend]. Verknüpft wird Abrahams und Tess’ folgendes Gespräch mit der Notsituation der Häuslerfamilie sowie mit der von Jack, Joan und Abraham erwarteten Liaison zwischen Tess und einem Gentleman, Abrahams Anspielung verärgert Tess, und dem Verantwortungsbewusstsein einer völlig erschöpften Tess, aus deren frühmorgendlicher Übermüdung das Unglück folgt, das den Tod des Häuslerpferdes Prince, der einzigen Unterhaltsgarantie der Familie, verursacht. Zeitlich kurz vor diesem aus Tess’ Erschöpfung durch einen modernen schnellen Postwagen, also aus Zufall, entstehenden Unfall vergleicht Abraham die harte Wirklichkeit der ländlichen Bevölkerung mit Sternen, die man mit einem Fernglas als Welten sehen kann, »[which] sometimes seem to be like the apples on our stubbard-tree« (Chapter IV, S. 31). Tess [und wir] geht/gehen auf Abrahams kindlich staunende Verkleinerung des Erhabenen [die Sterne und Welten als Äpfel] ein und sie erwidert Abraham, uns irritierend, dass die

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meisten davon prächtig und gesund, ein paar verdorben seien. Abraham fragt, auf welchem der Welten sie lebten? Tess antwortet ihm: »A blighted one«. (Chapter IV, S. 31) Abraham, durchdrungen von dieser außergewöhnlichen Kunde [»this rare information«, Chapter IV, S. 32], fragt Tess nicht, woher sie das wisse, sondern wie es gewesen wäre, wenn sie sich einen gesunden Apfel ausgesucht hätten? Auf die Frage des Kindes, Gottes [Amor?] Abraham [»if we had pitched on a sound one?«, Chapter IV, S. 32] antwortet ihm Tess [ihrerseits als jugendliche Göttin oder Prophetin]: Dann wäre es der Familie besser gegangen, sie hätte ohne materielle Not leben können (Chapter IV, S. 32). In Abrahams Beobachtungen, die er angelehnt an die Bienenkörbe formuliert und auf die Tess trotz ihrer Verärgerung über das sich ankündigende Dilemma ihres Lebens positiv eingeht – sie wird in einen Schuldzusammenhang verstrickt werden, den sie nicht gewählt hat –, in Abrahams Beobachtungen also deutet sich die Korrelation zwischen Kultur und Natur an, die das Dilemma, aus dem Tess als Anti-Heldin nicht herauskommen kann, zur Sinndimension des Romans werden lässt. Abraham und die jugendliche Tess sind durch ihre Schichtenzugehörigkeit und durch die diese affirmierenden Naturkräfte auf die Unumkehrbarkeit ihres Schicksals festgelegt. Stilistisch werden Subjektivität [Inneres] und Überpersönliches [Äußeres im Inneren] hybrid miteinander verknüpft. (b) Dem den Leserinnen fremd-vertrauten Dialog zweier Jugendlicher, der im Übergangsbereich des Morgengrauens Sinnfragen in Bezug auf Ewigkeit, Unendlichkeit und Vergänglichkeit im Irdischen sowie die Durchlässigkeit von Natur und Kultur verankert, folgt der Unfall, bei dem Prince zu Tode kommt und verblutet: »The huge pool of blood in front of [Tess] was already assuming the iridescence of coagulation; and when the sun rose a million prismatic hues were reflected from it.« (Chapter IV, S.  33) Beide Szenen heben aus Sicht des Erzählers und aus unserer irritiert distanzierten Sicht das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen, das Außerordentliche im chaotischen, von materieller Not und vom Tode bedrohten Wirklichen, das Erhabene im Kleinen [Welten – Äpfel/Sonne – Blutgerinnung], das Ewige im Vergänglichen, die Wiederverzauberung der Natur gegen eine destruktive Moderne als Energien einer immanenten, innerweltlichen Transzendenz hervor, die in der Moderne, im Um-

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schlagen von Äußerem in Inneres an die Stelle Gottes tritt.43 Diese die Reflexion der Leserinnen evozierende Verwebung und Konfrontation von immanenten Transzendierungsmöglichkeiten und destruktiver Wirklichkeit stimmt den hybriden bzw. ambivalent schwebenden Grundton bzw. die Grauzone des Unheimlichen in Hardys Roman an: Vertrautes ist zugleich unvertraut, Heimisches ist un-heimlich, Außergewöhnliches treibt um im Gewöhnlichen, und dies vom ersten Kapitel an, durch Pastor Tringhams Auftritt. Für diese ästhetische Ambivalenz, die sich der Fähigkeit des Menschen zur immanenten Transzendenz verschrieben hat, gibt es literarische und politische Vorbilder und Beispiele, beispielsweise Georg Büchners Drama Woyzeck, Heinrich Heines satirisches Poem Deutschland. Ein Wintermärchen, Martin Luther Kings Rede »I have a dream« und sein »Letter from Birmingham Jail«, Alexander Solschenizyns Roman Der Archipel Gulag, die alle Humanität als politischen Widerstand zum Ausdruck bringen.44 In Thomas Hardys Roman Tess sind Widerstandsmomente eingeflochten, die den verfälschenden bzw. als falsch angebotenen Lebensmöglichkeiten der ländlichen Bevölkerung Paroli bieten. Ausdruck dieser falschen Lebensmöglichkeiten sind Machtgefälle, die über narrativ gesteigerte Figurenspiegelungen angelegt sind [Joan/Tess; Jack/Alec/ Angel; Erzähler/Tess]: Das Machtgefälle, das Pastor Tringham in Gang setzt [Tringham/Jack], das Jack durch materielle Not, Größenwahn und Aberglaube über den Jungen des Ortes an Joan, an Tess und ihre Geschwister und an die Dorfgemeinschaft weitergibt, das Machtgefälle zwischen Aberglaube [Joan] und instrumentalisierter Verantwortung [Tess], das durch den Blender Alec in Bewegung gehalten wird [Alec als falscher Adeliger, als Tess’ »Cousin«, als ihr falscher Arbeitgeber, als ihr angeblicher Liebhaber, als fanatischer Prediger, als Wanderarbeiter, der Tess angeblich helfen will, als finanzieller Unterstützer, der Tess zu seiner Maitresse degradiert], das Machtgefälle zwischen Angel und Tess [Angel als romantischer Liebhaber, als Idealist und radikaler Moralist, lange vor seiner plötzlichen Wandlung], das Machtgefälle zwischen den älteren Brüdern Angels, die eine Universität besuchen, gesellschaftlich also anerkannt werden, seiner künftiger Verlobten und Angel selbst, zwischen 43 | E. Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik. München: Beck 2010, S. 13– 33. 44 | Hier handelt es sich um Hinweise von Seminarteilnehmerinnen.

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den ländlichen Arbeitgebern und den »freien« Landarbeitern, zwischen Christentum und Archaik [der Maitagstanz im zweiten Kapitel wird von den Landmädchen als christliches Ritual verkannt], zwischen irdischer Justiz und nicht anerkannter Humanität [Tess wird zum Tode verurteilt] – diese Machtgefälle zwischen den Erzählfiguren sind als narrative Strukturelemente pointiert gegen gesellschaftliche Normierungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesetzt.

Wie gestaltet der Roman die Integrität seiner Hauptfigur? Thomas Hardys Roman Tess beginnt mit einer Irritation. Der Untertitel »a pure woman faithfully presented by Thomas Hardy« provoziert Fragen, die sich auf den Sinn moralischer Integrität in der säkularisierten Moderne richten. Mit diesem Untertitel schließt der Autor Hardy, noch vor der Lektüre, einen selbstwidersprüchlichen Pakt mit seinen Leserinnen, der (1.) die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit auflöst und (2.) auf Wahrhaftigkeit und Plausibilität der Fiktion setzt: Der Erzähler wird die Wahrheit der moralischen Integrität der Protagonistin gegen ihre Korrumpierung in einer kontingenten und bedrohlichen Welt als überpersönliches Anliegen narrativ verteidigen müssen. Bereits die ersten Romankapitel (Chapters I–VII) lassen deutlich werden, dass der Erzähler die Nachweise der Würde und Humanität seiner Protagonistin aus der Gegenperspektive einer zufallsbedingten, unheimlichen und korrupten Welt erzählt und in späteren Kapiteln hinzu nimmt, dass Tess ihren Vergewaltiger Alec und ihren gefühlsblockierten Ehemann mit ihrer moralischen Integrität konfrontiert: In den Kapiteln XII, XLV, XLVII verteidigt Tess ihre Integrität gegen Alec; in den Kapiteln XXXV, XXXVI LV gegen Angel, im Kapitel XLVIII in verdichteter Folge gegen Alec und Angel. Tess wird als Anti-Heldin aufgebaut, die im Spiel des Erzählers mit dem Klischee des naiven Landmädchens unerfahren erscheint, jedoch durch ihre empathischen Fähigkeiten, ihr reifes Verantwortungsbewusstsein und ihre erotische Schönheit in Situationen gerät, die sich für sie durch die Reihung von Zufällen zu schicksalhaften Ereignissen verstricken. Es sind diese Zufälle, die die unheimliche Atmosphäre und die Angstszenarien des Romans ausmachen, weil sie Wirklichkeitserfahrungen unvorhergesehen durch eine sich dem Subjekt entziehende Wirklichkeit in traumähnlicher A-Logik bestimmen. Von dieser Gegenperspektive her, die die Demütigung und den Orientierungsverlust der Anti-Heldin in

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einer entzauberten Welt durch ihre Vergewaltigung (Chapter XI) gegenperspektivisch und durch ihre Selbstrechtfertigung als moralische Integrität hervorhebt, sprengt die Anti-Heldin Tess patriarchalische Grenzen zwischen den Klassen auf und wird, mit demokratischem Anspruch, als »pure woman« zum Konstrukt einer archetypisch-visionären Kunstfigur, die, »at once so ancient, so skilful, so suggestive of natural fecundity« 45, zunächst in den ersten zehn Kapiteln mit der Anti-Heldin Tess im engen Tal von Blackmoor oszilliert, und dann ab Kapitel XI in eine Kontrastkopplung mit der Anti-Heldin vom engen Tal von Blackmoor ins weite Vale of Froom (Chapter XVI) metonymisch verschoben wird. Diese leserlenkende Gegenperspektivierung von Anti-Heldin und Kunstfigur, von Subjekt und Vision transzendiert die narrativen Zusammenhänge des Romans und dezentriert auch den teils distanzierten, teils involvierten Erzähler. Eine der wichtigen Romanstellen, in der die Anti-Heldin Tess Körper und Seele, Welt und Universum als getrennte miteinander in Beziehung setzt, öffnet, wie der Roman insgesamt, hier aber hervorgehoben, den Erzählhorizont auf den der Rezipientinnen. Im Gespräch mit ihrem Arbeitgeber Mr Crick sagt Tess: »›I don’t know about ghosts,‹ [Tess] was saying; ›but I know that our souls can be made to go outside our bodies when we are alive‹ […]. ›What – really now? And is it so maidy?‹ he said. ›A very easy way to feel ’em go,‹ continued Tess, ›is to lie on the grass at night and look straight up at some bright star; and by fixing your mind upon it, you will soon find that you are hundreds and hundreds o’ miles away from your body, which you don’t seem to want at all‹«. (Chapter XVIII, S. 120)

Die Anti-Heldin Tess weiß um ihre Wirklichkeitsverbundenheit und um ihre Transzendenzenergie, die sie von Zeit und Raum trennt. Diese überpersönliche Vision macht die innere Dimension der Horizontlinie des Romans aus. Die übergeordnete Horizontlinie ermöglicht, dass die Wirklichkeitsebene im Roman mit ihrer Transzendierung im Rezeptionsprozess ebenso oszilliert bzw. gegenperspektivisch ausgeweitet wird, wie die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit der Leserinnen tiefenhermeneutisch aufgebrochen wird. In der Perspektive der komplexen Verknüpfung von Kunstfigur und Anti-Heldin, die in der Fähigkeit der Anti-Heldin zur Perspektivenübernahme und zum empathischen Han45 | M. Millgate: Thomas Hardy ebd., S. 269.

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deln ihre Ursache hat, erscheinen die Vertreter der narrativen korrupten Wirklichkeit, insbesondere die männlichen Erzählfiguren, wie oben erläutert, als machtbesessene, lächerliche, wenngleich auch bedrohliche Figuren. Dies betrifft Pastor Tringham und Tess’ Vater, Jack, den Vater Angels, Mr Clare, es betrifft die Angel Clare angesonnene Verlobte, Mercy Chant mit ihren ans Patriarchat angepassten Verhaltensweisen, den abergläubischen Mr Crick, den Manchester-Kapitalisten Groby und die beiden männlichen Protagonisten Angel und Alec, allesamt Figuren, die initiativ und je unterschiedlich Machtgefälle verursachen, die narrativ zufallsverknüpft die Entwurzelung der Anti-Heldin Tess [zwischen Chapter XI und IXX], ihre Selbst-Fremdheit (Chapter XIV), ihre Selbstvorwürfe, ihr Scheitern herbeiführen. Gerade die Kunstfigur, die Hardy im Untertitel seines Romans als »a pure woman« bezeichnet, rief nach Erscheinen des Romans eine Kontroverse hervor, die sich moralisch entrüstet daran festmachte, dass eine junge Landarbeiterin, die ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, von Hardy als »pure« bezeichnet wurde.46 Vor dem Hintergrund seines zentralen Interesses am Widerspruch zwischen menschlichem Körper und menschlicher Seele, der den Menschen als bedürftiges und zugleich intelligentes Wesen existenziell definiert,47 metapsychologisch gewendet, seines lebenslangen Interesses am Widerspruch zwischen Innerem und Äußerem, erwiderte Hardy seinen Kritikern, dass das Attribut »pure« im Sinne von Integrität nicht wörtlich zu verstehen sei: »I still maintain that her innate purity remained intact to the very last; though I frankly own that a certain outward purity left her on her last fall. I regarded her then as being in the hands of circumstances, not morally responsible, a mere corpse drifting with the current«. (Williams 1978: 20) Die Kunstfigur Tess bleibt integer, weil die Anti-Heldin Tess in Machtgefälle und damit in eine Verkettung schicksalhafter Situationen verstrickt ist, die ihre Autonomie46 | M. Williams: Thomas Hardy and Rural England. London: Macmillan 1978, S. 91. Williams bezieht sich auf The Quarterly Review und The Independent, zitiert in: L. Lerner and J. Holmstom: Thomas Hardy and his Readers. London 1968, S. 81, S. 85. 47 | M. Millgate: »Some Originals of, and Models for, Tess Durbeyfield«, in: S. Elledge (Hg.): Thomas Hardy: Tess Of The D’Urbervilles. A Norton Critical Edition. New York/London: Norton 1991, S. 358; E. Fromm: Die Seele des Menschen. München: dtv, 2016, S. 149.

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bildungsmöglichkeiten durchkreuzen. Sie gerät in Situationen, die sie nicht selbst bestimmen kann, unglückliche Ereignisse, die Hardy in der Aufhebung der Bipolarität von Kultur und Natur als Schicksal bezeichnet und die in des Erzählers »scarcely disguised advocacy of the heroin’s case« die Umkehrvision einer »pure woman«, einer Kunstfigur, rechtfertigen.48 Nicht selbst bestimmen kann die Anti-Heldin Tess ihre Demütigung durch Alec, der sie vergewaltigte, die von der Kirche nicht sanktionierte Taufe und das nicht christliche Begräbnis ihres Babys, ihre Verstoßung durch Angel und, nach einer langen Phase des Leidens, ihre Selbstanklage und Selbstverachtung, die Ermordung Alecs, bei dem zudem die Gefahr bestand, dass er die neu gefundene Liebe zwischen Tess und Angel hätte zerstören können (Chapter LVII, S.  384–385). Mit der Verwebung von Kunstfigur und Anti-Heldin gestaltet Hardys Roman das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen, das im Kunstgriff gegenperspektivischen Erzählens ambivalent in der Schwebe zum Unheimlichen bleibt: »[Hardy] was […] haunted by the sheer irrevocability of moments of decision and choice – the opportunity lost, the word unuttered, the road not taken, the beloved recognized or reclaimed too late. It is upon such moments, explored in irony and despair that so many of his novels and stories turn […].« (Millgate 1991: 358) Im erzählerischen Ton, der im Raum zwischen »irony and despair« angesiedelt ist, werden auf der Gestaltungsebene des Romans in der Kontrastkopplung von Kunstfigur und Anti-Heldin visionäre Lebensmöglichkeiten und depravierende Lebenswirklichkeiten ironisch entgegengesetzt und im Modus des Unheimlichen [»Hardy was haunted by…«] miteinander verknüpft. Aus diesem narrativen Schweben werden die Ambivalenzen der beiden anderen Protagonisten Alec und Angel entwickelt. Immer geht es modernen Romanen als Gedächtnismedien, so erinnern wir uns, um eine verdichtete Vergegenwärtigung von Vergangenheit, um eine an scheiternden Lebenserfüllungen orientierte Ganzheit, die im Schweben der narrativen Imagination zwischen den drei Zeitmomenten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft49 transitorisch gestaltet ist. Angel und Alec sind in negativer Analogie gestaltet. Angel erscheint als urbaner Intellektueller, entpuppt sich aber als provinzieller Moralist. Alec ist ein provinzieller Utilitarist, entpuppt sich aber als urbaner Betrüger, der Tess vergewaltigt und demütigt. Da der übergeordnete Stand48 | M. Millgate: »Some Originals« ebd., S. 358. 49 | S. Freud: »Der Dichter« ebd., S. 142.

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punkt der Kunstfigur Tess im Sinnhorizont der Leserinnen mit der AntiHeldin verknüpft ist, entsteht ein Spiel der Wirklichkeit menschlicher Entwürdigung und der Möglichkeit menschlicher Würde, das eine Wiederverzauberung der narrativ entzauberten Wirklichkeit schwebend aufscheinen lässt. Diese durch die Kunstfigur Tess bewirkte Wiederverzauberung der narrativen Wirklichkeit lässt die in den Leserinnen evozierte übergeordnete Perspektive der Kunstfigur Tess auf der Grenze zum Erhabenen als majestätisch, im Sinne einer ästhetisch »veredelte[n] Würde« erscheinen, die »jenseits aller Interessen steht, [die] aus sich heraus nicht nur überzeugt, sondern überwältigt«.50 Das Überwältigungsmoment dieser majestätischen Energie, das bis zum Ende des Romans irritierend wirkt, ist der die Leserimaginationen anregende Roman Tess selbst, der aus der Gegenperspektive der Anti-Heldin den Nachweis der moralischen Integrität der »pure woman« Tess erbringt und diese Kunstfigur als visionäres Möglichkeitspotenzial im fiktionalen wie im metapsychologischkultursemiotischen Sinne verteidigt.

Tess’ Entwurzelung und Tess als »pure woman« Die Anti-Heldin Tess leidet, weil ihre Selbstrechtfertigung als integre Persönlichkeit nicht oder zu spät anerkannt wird, unter dem Druck gesellschaftlicher Machtverhältnisse an der Zivilisationskrise der Moderne [»the ache of modernism«, Chapter IXX, S. 124]. In der Vielfalt ihrer Rollenzuweisungen löst sich das Gefühl ihrer ländlichen Identitätszugehörigkeit auf; sie verliert ihren Halt. Deutlich wird ihre Entwurzelung und gesellschaftliche Statusunsicherheit im Vergleich mit ihrer Mutter, bereits zu Beginn des Romans: »Mrs Durbeyfield still habitually spoke the dialect; her daughter, who had passed the Sixth Standard in the National School under a London-trained mistress, used it only when excited by joy, surprise, or grief«. (Chapter III, S. 21). Und: »Between the mother, with her fast perishing lumber of superstitions, folk-lore, dialect, and orally transmitted ballads, and the daughter, with her trained National teachings and Standard knowledge under an infinitely Revised Code, there was a gap of two hundred years as ordinarily understood. When they were together the Jacobean and the Victorian ages were juxtaposed.« (Chapter III, S. 23) 50 | K.P. Liessmann: Ästhetische Empfindungen. Wien: Facultas 2009, S. 80.

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Selbstverachtung und Existenzangst, die Grundgefühle der Anti-Heldin Tess, die nach dem vollständigen Bruch mit ihren volkstümlichen Traditionen durch ihre Vergewaltigung zum Vorschein kommen, sind nach Freud wichtige Gefühle der Kulturentwicklung.51 Sie werden narrativ mit der Kunstfigur Tess ab Chapter XII verknüpft. Mit dieser Verknüpfung setzt in dichterischer Phantasie der Freispruch der Anti-Heldin Tess von jeglicher Schuld ein: Sie ist eine moralisch integrere Frau, »a pure woman faithfully presented«: »Almost at a leap Tess thus changed from simple girl to complex woman. Symbols of reflectiveness passed into her face, and a note of tragedy at times into her voice. Her eyes grew larger and more eloquent. She became what would have been called a fine creature; her aspect was fair and arresting; her soul that of a woman whom the turbulent experiences of the last year or two had quite failed to demoralize. But for the world’s opinion those experiences would have been simply a liberal education.« (Chapter XV, S. 98)

Dass der Erzähler »a liberal education« als bittere Ironie gedeutet haben möchte, wird an anderen Romanstellen deutlich. Nach ihrer Vergewaltigung trifft Tess auf einen jungen Mann, der an Wände und Zaunpfähle Bibelsentenzen so aufmalt, dass sie zerstückelt – wie Tess’ Leben – erscheinen. In Bezug auf die Sentenz, die die Verdammnis des Menschen thematisiert, fragt Tess: »›But,‹ said she tremulously, suppose your sin was not of your own seeking‹«? (Chapter XII, S. 80) Mit dieser Frage bringt sie die Durchkreuzung ihrer Autonomiebildungsmöglichkeiten und die vom Erzähler am Ende des folgenden XIII. Kapitels durchgeführte Unterscheidung zwischen laws of man und laws of nature,52 zwischen Konventionen und subjektiver Intuition ins Spiel, eine Unterscheidung, die die Anti-Heldin Tess bis zum Ende der Handlung in ihrer Naturverbundenheit als archaische Denkfigur der Kulturentwicklung zeigt und sie von jeder Schuld visionär, metapsychologisch und kathartisch freispricht: »On these lonely hills and dales her quiescent glide was of a piece with the element she moved in. Her flexuous and stealthy figure became an integral part of the scene. At times her whimsical fancy 51 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 97 (Abschnitt VIII). 52 | M. Williams: »Hardy and the Law«, in: P. Mallett (Hg.): Thomas Hardy in Context. Cambridge: Cambridge University Press 2015, S. 306–315, hier: S. 312.

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would intensify natural processes around her till they seemed a part of her own story. Rather they became a part of it […].« (Chapter XIII, S. 85) Der Erzähler fährt an gleicher Stelle fort, dass Tess in einer gottlosen Welt sich selbst fremd wird, sich vor den moralischen Schreckgespenstern, von denen sie sich verfolgt fühlt, abgrundtief ängstigt [»terrified without reason«, Chapter XIII, S.  85] und sich narrativ in kultureller Tiefenschärfe ihrer Integrität wegen schämt. Darauf folgen die Unterscheidung zwischen Konventionen und Intuition sowie der Freispruch der Anti-Heldin Tess: »It was they [the moral hobgoblins] that were out of harmony with the actual world, not she. Walking among the sleeping birds in the hedges […], she looked upon herself as a figure of Guilt intruding into the haunts of Innocence. But all the while she was making a distinction there was no difference. Feeling herself in antagonism she was quite in accord. She had been made to break a necessary social law, but no law known to the environment in which she fancied herself such an anomaly.« (Chapter XIII, S. 85–86)

Die natürliche Umgebung, in der sich die Anti-Heldin an dieser Stelle befindet, kennt die Inhumanität sozialer und juristischer Gesetze in archaischer Tiefendimension nicht. Im darauf folgenden Kapitel hebt der Erzähler hervor: »Most of the misery had been generated by her conventional aspect, and not by her innate sensations.« (Chapter XIV, S. 91) Der Erzähler bringt an dieser wie an ähnlichen Stellen die »privations of peasant life and the pretences of the bourgeoisie«53 ins Spiel, verallgemeinert damit das Schicksal seiner Anti-Heldin und leitet über zur Kontrastkopplung zwischen der Anti-Heldin und der Kunstfigur, immer die Verknüpfung von Demütigung und moralischer Integrität im Blick behaltend.54 Wie die poetisch gestalteten Naturszenen wird die Anti-Heldin aus dem Erzählgeschehen herausgehoben.55 Sie ist eine Figur, die in unterschiedliche Rollenanforderungen und Referenzrahmen expandiert: Tess ist historisch entferntes Mitglied einer ausgestorbenen Adelsfamilie, die jetzt verarmt ist, sie ist die Tochter eines Häuslers, der auf dem 53 | M. Williams: »Hardy and the Law« ebd., S. 308. 54 | Zahlreiche Romanstellen belegen diese Verknüpfung, beispielsweise Chapter XXXV, S. 229–230; Chapter XLV, S. 308, S. 309; Chapter XLVI, S. 315; Chapter LIII, S. 368; Chapter LVII, S. 384–385 u. ö. 55 | T. Dolin: »Melodrama« ebd., S. 337.

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Lande kärglich seine Familie unterhält, sie spricht zwei Sprachen: die der ländlichen Bevölkerung und die der Gebildeten, sie ist eng befreundet mit solidarischen Landmädchen, sie wird erniedrigt zur Maitresse durch Alec, einem angeblichen Landadeligen, dessen Vater sich den Adelstitel d’Urberville kaufte, sie wird die Geliebte eines lebensfeindlichen Intellektuellen, sie wird zur Bauernmagd [Landproletariat] erniedrigt, die mit ihrer Hände Arbeit ihre Familie ernähren muss, sie wird zu einer verzweifelt Liebenden in einer zunächst ausweglosen Liebesbeziehung, sie wird zur Mörderin, sie wird zum Opfer einer Justiz, die zwar der viktorianischen Gesetzgebung folgt, narrativ jedoch in der Gegenperspektive der »pure woman« kritisiert wird: »As a Magistrate, Hardy must have occasion to deliver a ›fair‹ judgement and sentence; as a human being and novelist however, he was alive to the injustices of class, education and chance frequently creating terrible inequalities endorsed by the law.« (Williams 2015: 306) Gegenpolig zu der episodisch erzählten Rollendiffusion kommt es zu einer Verdichtung des Ausdruckspotenzials der Erzählfigur Tess. Ihr wird eine Übermacht des Leidens, der Liebesfähigkeit und einer erotischen Schönheit zugesprochen, die sie in ihrer Verstrickung mit den arkadischen und dämonisch-archaischen Landschaften des Romans zu einer »complex woman«, einer visionär erhabenen Möglichkeitsfigur reifen lässt. Die narrative Verdichtung entsteht durch ihre Fähigkeit, zu sich selbst Distanz zu beziehen, vermittels ihres Eigenwillens, ihrer Empathie, ihres Verantwortungsbewusstseins, ihres reflektierten Selbstbewusstseins, das unter dem Druck der Machtverhältnisse nicht zum Zuge kommt, und vermittels ihrer erotischen Ausstrahlung – dies alles im Gegensatz zu ihren Eltern, Geschwistern, den Mitgliedern ihrer Dorfgemeinschaft, ihren ländlichen Arbeitgebern, den mit ihr solidarisch befreundeten Landmädchen und, vor allem, gegenüber ihren Liebhabern Alec und Angel. Tess’ ästhetisch transitorisches Identitätspotenzial, das durchgängig fixierende Charaktereigenschaften in die widersprüchlichen Referenzrahmen und in ihre Einbettung in natürlich-archaische Szenarien, in der gegensätzlichen Dynamik von Expansion und Verdichtung aufhebt, entzieht dieser Figur eine verdinglichende Charakterisierung. Sie wird in der Kontrastkopplung von Anti-Heldin und Kunstfigur durchsichtig auf eine Verknüpfung von Archaischem und Gegenwärtigem, ein narratives Merkmal, das auch auf den Protagonisten Paul in Lawrences

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Roman Sons and Lovers zutrifft.56 Anti-Heldin und Kunstfigur erzählen von heutigem Leid, einem Unbehagen in der Kultur, das den Roman umtreibt und zu einer poetischen Ausdrucksgestalt werden lässt, mit der Vision auf Existenzmöglichkeiten, die anders hätten sein können. Rezipientinnen des dritten Lebensalters spricht diese Einladung des Romans, das transzendent transitorische Identitätspotenzial der Tess-Figur zu erschließen, in kontroverser Auseinandersetzung an; zum Beispiel in der Auseinandersetzung, ob es sich um einen radikal proletarischen oder um einen romantisierenden Roman handle. Tess wird zur mythologisch anmutenden Figur. Sie ist als Anti-Heldin eine Figur ohne Sinnmitte, wurzellos, ortlos. Auf der Handlungsebene bewegt sie sich in einer subjektiv empfundenen und objektiv sie umschließenden gespenstischen Welt, der sie ausgeliefert ist, zwischen Dulden und Handeln. Metanarrativ versucht der Roman in Tess als Kunstfigur, durch Tess’ Integrität hindurch diese gespenstische Welt metapsychologisch zu entziffern. Die Romanfigur oszilliert gegenperspektivisch zwischen Tess als romanhafter Identifikationsfigur und Tess als mythopoetischer Fiktion, die die Leserinnen nahe an sich herankommen lässt und sie von sich fern hält. Diese Figur mit transzendent-transitorischer Identität kann überall Wurzeln schlagen, weil sie zugleich majestätisch und nirgendwo beheimatet, also eine Wunschfigur, eine traumanaloge Wunscherfüllung ist. In Tess’ Gestaltung schlagen Inhalt und Form, Wunscherfüllung und Zerschmetterung ineinander um. Mit dieser Figur entsteht auf der Gestaltungsebene die Ambivalenz von narrativ gestaltetem Untergang und poetischer Verzauberung, entzauberter Realität und wiederverzaubernder Imagination durch magische Momente. George Levine, der die wiederverzaubernden Elemente der Romane Hardys gegenüber den dunklen Energien seiner Werke stark macht, betont, dass die Naturimpressionen der Romane die Leser tief berühren.57 Momente magischer Wiederverzauberung bündeln sich in der Figur Tess und werden zu ästhetischen Erfahrungen, in denen das Außergewöhnliche im Alltäglichen, das Mögliche im Wirklichen so aufleuchtet, dass es bei Leserinnen tiefenhermeneutisch zu jäh einschießenden Erkenntnissen kommt: »She might have 56 | T. Hardy zählte zu D.H. Lawrences schriftstellerischen Vorbildern. 57 | G. Levine: »Hardy and Darwin: An Enchanting Hardy?« in: K. Wilson (Hg.): A Companion To Thomas Hardy ebd., S. 36–53, hier: S. 38.

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seen that what had bowed her head so profoundly – the thought of the world’s concern at her situation – was founded on an illusion. She was not an existence, an experience, a passion, a structure of sensations, to anybody but herself.« (Chapter XIV, S. 91) Tess passt nicht in das Klischee des naiven, ausbeutungsfähigen Landmädchens. Sie ist Anti-Heldin und visionäre Möglichkeitsfigur. Während sie ihrem verstorbenen Kind, Sorrow, in der Nacht die Nottaufe gibt, sehen sie ihre jüngeren Geschwister zugleich als ihre ältere Schwester und in der Pose einer gottähnlichen Majestät: »Her figure looked singularly tall and imposing as she stood in her white nightgown, a thick cable of twisted dark hair hanging straight down her back to her waist. The kindly dimness of the weak candle abstracted from her form and features the little blemishes which sunlight might have revealed […] her high enthusiasm having a transfiguring effect upon the face which had been her undoing, showing it as a thing of immaculate beauty, with an impress of dignity which was almost regal […]. The children gazed up at her with more and more reference […]. She did not look like Sissy to them now, but as a being large, towering, and awful – a divine personage with whom they had nothing in common.« (Chapter XIV, S. 94–95)

Nach ihrem Geständnis (Chapter XXXIV) erläutert sie Angel, der kein Verständnis für ihre ausweglose Situation zeigen kann, weil er einer Selbsttäuschung erliegt: »›[…] I have not told of anything that interfere with or belies my love for you. You don’t think I planned it, do you? It is in your own mind what you are angry at, Angel; it is not in me. O, it is not in me, and I am not that deceitful woman you think me‹!« (Chapter XXXV, S. 231) In einer weiteren Auseinandersetzung mit Angel wird Tess als eine Frau dargestellt, die, obwohl vom Leiden geschwächt, pulsierendes Leben in sich hat [»Throbbingly alive«, Chapter XXXVI, S. 237]. In dieser Szene erscheint sie aus Angels Sicht als natürlich und »absolutely pure« (Chapter XXXVI, S. 237). In der Kontrastkopplung von Anti-Heldin und visionärer Möglichkeitsfigur ist Tess kultursemiotisch-psychoanalytisch subversiv. Während die Anti-Heldin Tess in Angstszenarien verstrickt ist [die materielle Not der Familie, sie ist Alec ausgeliefert, sie bangt um Angels Liebe, sie wird als Mörderin verfolgt], symbolisiert die Kunstfigur Tess ein majestätisch Erhabenes, das invers das Sinnvakuum der Moderne als Verlust der Humanität gestaltet und zum Ausdruck erzählter Unheimlichkeit verfremdet. Das Gebiet Wessex, das die Anti-Heldin durchwandert,

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wird, auch wegen der Ausweitung des Vale of Froom, in dem sich Tess nur saisonbedingt aufhalten kann, als transitorisches Gebiet zwischen sozialer Realität, Traum und Transzendenz, als gesellschaftlich Unbewusstes, als diagnostisches Kulturmodell gestaltet 58 und in den Naturbildern vom Vertrauten ins nicht-mehr-vertraut Unheimliche verfremdet. Diesem Terrain unheimlicher Lebensverhältnisse kann die Anti-Heldin Tess, können Leserinnen des dritten Lebensalters nicht entkommen. Die Kunstfigur hingegen wirft ihr Licht auf diese Befangenheit und gibt den Leserinnen dieses Romans die Perspektive, im Wirklichen das Mögliche, im Korrupten das Humane zu erschließen. Raymond Williams charakterisiert Hardys Wessex in dieser transitorischen Gegenperspektive als »border country«, »between custom and education, between work and ideas, between love of place and an experience of change«.59 Rezeptionsästhetisch bedeutet dies, dass die durch die Verwebung von Kunstfigur und Anti-Heldin gebrochenen Angstszenarien den Leserinnen eine Lektürehaltung ermöglichen, die die Distanz zwischen ihren Erwartungen und dem Wissen um die bedrohte Anti-Heldin aufrechterhält, also anders als im Schauerroman oder in Katastrophenfilmen nicht schwinden lässt. Es bilden sich Erfahrungen ästhetischer Irritation, die normative Festlegungen fragwürdig erscheinen und latente Alternativen aufscheinen lassen. In dieser metapsychologisch-kultursemiotischen Perspektive entstehen rezeptionsästhetische Sinnbildungsprozesse, die die ambivalenten Schlusstableaus des Romans vom Verdacht, instrumentelle Rationalität in Gestalt eines Kitschprodukts zu affirmieren, freisprechen. Das Todesurteil, das über Tess verhängt wird, lässt die Vergeblichkeit deutlich werden, eine gespenstische Moderne zu deuten und zu verstehen. Tess findet ihre eigentliche Heimat, in strukturaler Analogie zur Traumarbeit in diesem Roman. Indem der Roman die Problematik der Anti-Heldin Tess erzählt, transzendiert er sie zugleich. Narrativ verstrickt der Erzähler Tess’ Unschuld mit dem an ihr vergangenen Verbrechen. Wirklichkeit, Selbsttranszendenz der Tess-Figur und Wirklichkeitstranszendenz verweben sich zum Unschuldsbeweis eines Landmädchens, das im Leiden an der Moderne (Chapter XIX) die Sinnkrise des modernen Subjekts metapsychologisch symbolisiert. Rezeptionsästhetisch entstehen mit die58 | M. Bradbury: The Modern British Novel ebd., S. 35; P. v. Matt ebd., S. 10–14. 59 | R Williams: The English Novel From Dickens To Lawrence. Frogmore, St. Albans: Paladine 1970, S. 81.

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ser Erzählfigur Fragen danach, was in Bezug auf die drei Kulturdimensionen möglich ist an kulturellen Strukturveränderungen und was möglich ist für eine emanzipierte Weiblichkeit. Gibt diese Figur überhaupt Hoffnung, dass Veränderungen wünsch- und denkbar sind?

Angel und Alec als negativ korrespondierende Analogien Aus der Perspektive der Horizontlinie, die die Kunstfigur Tess aufwirft, können die beiden etwa Mitte 20-jährigen männlichen Protagonisten Angel und Alec als Analogie- oder Spiegelfiguren verstanden werden, die Ähnlichkeiten aufweisen und sich, zeitversetzt voneinander in ihrem Auftreten, unterscheiden. Man kann deshalb davon sprechen, dass diese beiden Figuren in ein negatives Korrespondenzverhältnis zueinander gesetzt werden. Somit wird das melodramatisch binäre Verhältnis zwischen dem bösen Verführer [Alec] und dem romantischen Liebhaber [Angel], zwischen Böse und Gut in sein jeweiliges Gegenteil aufgehoben – eine moderne Konzeption des Bösen und des Bösewichts, wie Frederic Jameson in Bezug auf George Eliots Romanwerk zeigt.60 Ähnlich wie bei Eliot geht es in Thomas Hardys Roman Tess um die Verschiebung zwischen dem Plot, der Fabel einer durch Ausbeutungsverhältnisse unkorrumpierbaren subjektiven Integrität, und der ›story‹, Tess’ unumkehrbarem sozialen Abstieg, wobei Alec als dynamisierende Energie des Plots und Angel im letzten Romandrittel wie durch ein Wunder als Gegenkraft gegen Tess’ sozialen Abstieg [›story‹] wirkt. Angel und Alec treffen auf der Handlungsebene nicht aufeinander, sind aber kompositorisch mit der Anti-Heldin Tess und, wie dargelegt, gegenperspektivisch mit der Kunstfigur Tess in der Grauzone einer erotischen Dreiecksbeziehung miteinander verknüpft.61 Michael Millgate liest Angel und Alec, deren Namensähnlichkeit er hervorhebt, als zwei Seiten einer zwischen Sublimierung und sexuellen Ansprüchen gespaltenen Persönlichkeit.62 An anderer Stelle spricht Millgate von einer »double inversion« in Bezug auf Alec und Angel. Dabei bezieht er sich 60 | F. Jameson: The Antinomies Of Realism. London/New York: Verso 2015, S. 114–137. 61 | Eine ähnliche Konstruktion findet sich in V. Woolfs Roman Mrs Dalloway. Dazu: H.-C. Ramm: Lesen ebd. S. 256–280. 62 | M. Millgate: »Some Originals« ebd., S. 357.

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auf die Kontrastkopplung dieser beiden Figuren, die Tess’ Leben dominieren: »If Alec now and then suggests the unchastened Rochester, Angel sometimes echoes the principled inhumanity of St John Rivers – though it is Alec, ironically enough, during the period of his conversion, who begs Tess to become his partner in a missionary enterprise, while Angel permits himself to make a brutally frank proposal to Izz Huett.« (Millgate 1994: 275)

Merryn Williams betont, dass beide, wenn auch Angel verhaltener als Alec, auf die Landarbeiterinnen wie sexuelle Magneten wirken [siehe für Angel als romantischen Liebhaber: Chapters II, XVII, IXX, XX, XXIII; für Alec als besitzergreifenden Gewaltmensch: Chapters V, X, XI, XII]. Während Angel durch sein Verhalten, seine zunächst körperlos erscheinende Stimme und naive Musikalität in Tess Begehren auslöst (Chapters II, XVII), bewirkt Alec Tess’ Abwehr, die bis zu seiner Ermordung reicht (Chapters V, VIII, IX, XI. XII, XLVII, XLVIII, LV, LVI). Die inverse Spiegelung der beiden männlichen Protagonisten besteht darin, dass Angel viktorianischen Trugbildern folgt und Alec als betrügerischer Hochstapler verstanden werden kann, dass beide ihre eigenen Gefühlswelten nicht verstehen und deshalb zu Repräsentanten der »pretences of the bourgeoisie« werden.63 Deutlich wird dies in der Vergewaltigungsszene (Chapter XI) und in der Szene, in der Tess Angel ihre Vergangenheit offenbart (Chapters XXXIV, XXXV). Während Tess Angel aufgrund ihrer Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Empathie um seiner selbst willen liebt, sieht Angel in Tess ein Idealbild, das dem des viktorianischen Patriarchates entspricht: »he is only in love with a dream-image of her« [siehe dazu Chapters XXXIV, XXXV].64 Wie Alec kultiviert Angel lediglich seine eigene Gefühlswelt, die in Bezug auf Tess einseitig, patriarchalisch und asymmetrisch das viktorianische Machtgefälle zwischen Männern und Frauen stabilisiert. Alec sieht in Tess ein Landmädchen »[who] works in the fields« (Chapter XII, S. 77); Angel erkennt plötzlich den normativen Wert der historischen Bedeutung der Adelsfamilie, aus der Tess stammt, »her hereditary link« (Chapter XLIX, S.  342), nachdem er diesen Wert verachtet hat. Die »bourgeois arrogance«, die beide Protagonisten zum 63 | M. Williams: »Hardy and the Law« ebd., S. 308. 64 | M. Williams: Thomas Hardy and Rural England ebd., S. 95.

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Ausdruck bringen und die narrativ entlarvt wird,65 stürzt die Anti-Heldin Tess in ihre Lebens- und Identitätskrise und stärkt spiegelverkehrt die Kunstfigur Tess als »pure women«. An mehreren Stellen wird die männliche Disposition beider Protagonisten besonders deutlich: Nachdem Alec Tess vergewaltigt hat, begegnet er ihr mit kaltem Zynismus (Chapter XII, S. 75–78). So verhält er sich in Varianten ihr gegenüber bis zu seiner Ermordung. Angels Gefühlsblockade wird besonders an zwei Stellen hervorgehoben: Einmal zeigt sich seine Arroganz gegenüber Tess darin, dass er sie auf ihrer Hochzeitsreise zum verfallenen Besitz der untergegangenen d’Urbervilles führt, wo Tess auf zwei Portraits ihrer weiblichen Vorfahren trifft, die in ihren boshaften Gesichtszügen erschreckend auf Tess wirken (Chapter XXXIV). In einer weiteren Szene wird Angels Abweisung von Tess’ Bitte um Anerkennung ihrer schuldfreien Situation, die sie in ihr Dilemma getrieben hat, deutlich: »She broke into sobs, and turned her back to him. It would almost have won round any man but Angel Clare. Within the remote depths of his constitution, so gentle and affectionate as he was in general, there lay hidden a hard logical deposit, like a vein of metal in a soft loam, which turned the edge of everything that attempted to traverse it. It had blocked his way with the Church; it blocked his way with Tess.« (Chapter XXXVI, S. 241)

Weil Angel und Alec ihren Gefühlswelten entfremdet sind, fällt es ihnen leicht, mit den Gefühlen anderer zu spielen, sie zu instrumentalisieren, ohne selbst verletzt zu werden.66 Weitere Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Angel und Alec bestätigen diese narrative Disposition: Angels schwierige Beziehung zu seinen Eltern und Alecs problematische Beziehung zu seiner Mutter (Chapters IX und XII, XVIII); Alecs und Angels riskantes und lebensgefährliches Verhalten gegenüber Tess [Alecs rasende Talfahrt, Chapter VIII; Angels Schlafwandeln, Chapter XXXVII]; Alec als pathetischer Wanderprediger (Chapter XLIV) und Angel als radikaler Moralist (Chapter XXXVI); Alec als vermeintlicher Erntehelfer (Chapters XLVII, XLVIII) und Angel als Argrarökonom in Brasilien (Chapters XXXIX, XLI). Zudem haben Angel und Alec beruflich nicht Fuß gefasst: Angel weder als Melker noch als Agrarökonom in Brasilien (Chapters II, 65 | R. Nemesvari: »›Genres« ebd., S. 109. 66 | M. Williams: Thomas Hardy and Rural England ebd., S. 95.

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XLIX), Alec überhaupt nicht (Chapter V). Angel ist nach seiner Wandlung ein Schatten seiner selbst, Alec ein ermordeter Gewaltmensch. Aus der Perspektive der Horizontlinie, die die Kunstfigur Tess aufwirft, ergibt sich in Umkehrspiegelung ein hermeneutischer Unheimlichkeitsraum: Angel und Alec – der eine ein urbaner Idealist und provinzieller Moralist, der andere ein provinzieller Utilitarist und urbaner Betrüger – sind als Spiegelfiguren angelegte Repräsentanten eines korrupten Patriarchates,67 eines machtdurchdrungenen gesellschaftlichen Unbewussten, in dem Frauen die Chance der Gleichberechtigung und Autonomie durch ihre Idealisierung als »angel in the house« verweigert wird.68 In der Grauzone des Widerspruchs einer herrschaftsstabilisierenden Toleranz entsteht für Leserinnen des dritten Lebensalters ein radikal irritierender narrativer Erfahrungsraum, in dem sich Bekanntes und Unheimliches in der mental und sexuell ausgebeuteten Tess als Repräsentantin einer integren »pure woman« tiefenhermeneutisch vermischen und Fragen laut werden, ob Hardys Roman Tess einer marxistischen oder romantisierenden Lektüre standhalten kann.

Naturbilder als Spiegel innerer Erfahrungen Die Unumkehrbarkeit des Schicksals der Figuren wird in Hardys Roman durch eine doppelte Energie bestimmt: einmal durch ihre Schichtenzugehörigkeit und die mit ihr gegebene existenzielle Notlage, zum anderen durch Naturkräfte, die die soziale Ausweglosigkeit der Figuren kommentieren und handlungsretardierend verstärken. Ian Gregor deutet: »at every stage of the tale interior states are visualized in terms of landscape«69. In diese die Wirklichkeit der Figuren bestimmende doppelte Determinationsdynamik sind Visionen von Vitalität und Mortalität eingelassen, die 67 | L. Volkmann: Homo oeconomicus. Studien zur Modellierung eines neuen Menschenbildes in der englischen Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2003, S. 530–531, S. 542–543, S. 611, S. 672; F. Moretti: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2014. 68 | M. Williams: Thomas Hardy and Rural England ebd., S. 94–95. 69 | I. Gregor: »The Novel as Protest: Tess of the d’Urbervilles (1891)«, in: I. Gregor and B. Nicholas: The Moral and the Story. London 1962, S. 137, zitiert in: M. Millgate: Thomas Hardy ebd., S. 272.

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die korrumpierte Wirklichkeit der Figuren ins Überpersönliche transzendieren und Naturphänomene zu inneren Erfahrungen werden lassen, die die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Figuren und damit der Handlungsebene schwebend ineinander blenden.70 Vitalität, Eros, äußert sich in den arkadischen Passagen zu Beginn des Romans (Chapter III) und in den Passagen, die soziale Aspekte wie Gemeinschaftserfahrungen, Solidarität, Empathie, eine gesellige Individualität sowie die Liebesfähigkeit und erotische Schönheit der Anti-Heldin Tess, deren Naturverbundenheit immer wieder betont wird, hervorheben. Mortalität, Thanatos, äußert sich in einer vom Tode heimgesuchten Natur, der Tess in einer Nacht auf ihrem Weg nach Flintcomb-Ash begegnet (Chapter XLI, S. 276–279) – ihre den Roman durchziehende Naturverbundenheit (Chapters XVI, XX, XLI, L) schlägt hier in die Heimatlosigkeit und Menschenfurcht eines »wild animal« um, das die sterbenden Fasane von ihren Leiden in der Dimension menschlicher Destruktivität erlöst. Mortalität äußert sich auch in Tess’ folgenden Erschöpfungszuständen. Verstärkt durch die erotische Attraktivität und die Würde seiner AntiHeldin, hebt der Roman die binäre Opposition zwischen Kultur und Natur, zwischen Eros und Thanatos, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit im transitorischen Duktus der Tess-Figur und der Natur in Hardys narrrativem Wessex auf: »The dividing line between the natural and the cultural, the instinctual and the acquired, which [John Stuart] Mill was anxious to see firmly drawn, is in Hardy’s work more often an uncertain one.« (Mallett 2013: 29) Damit öffnet sich im hermeneutischen Raum des Romans die Dialektik, »that culture in its older and newer senses remains in conflict but also in dialogue with nature, [so] that [the] porous boundaries between the two [become evident].« 71 Von dieser Dialektik des Unbehagens in der Kultur erhält die Grundkonstellation, der durch widrige soziale und natürliche Umstände durchkreuzte Kampf von Tess um Anerkennung individueller Autonomie, ihren Sinn. Die Aufhebung der binären Opposition von Kultur und Natur bzw. die Durchdringung von Wirklichkeit und Möglichkeit, Vitalität und Mortalität lässt, in Bezug auf die Horizontlinie der »pure woman«, visionäre Potenziale aufscheinen, die eher eine naturverbundene Seelen70 | S.o. Freuds Analyse der Zeitmarke dichterischer Phantasie. 71 | M. Rimmer: »Culture«, in: P. Mallett (Hg.): Thomas Hardy ebd., S. 253–263, hier: S. 261.

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verwandtschaft und Solidarität zwischen modernen Individuen sichtbar werden lassen und doch einen ökonomisch bestimmten Wettbewerb narrativ nicht negieren.72 Deutlich wird diese Seelenverwandtschaft als diagnostisches Kulturmodell des Unbewussten in der Mitte des Romans. Im Übergangskapitel XVI, das Tess auf ihrem Weg nach Talbothays darstellt, kommt der Einklang von weiblich moderner Subjektivität und Natur mit archaischem Grundton, der den gesamten Roman in der Durchwirkung von Landarbeiterin und »pure woman« in einer pastoralen Natur durchzieht, zum Ausdruck: »The bird’s eye perspective before her […] lacked the intensely blue atmosphere of the rival vale, and its heavy soils and scents; the new air was clear, bracing ethereal. The river itself, which nourished the grass and cows of these renowned dairies, flowed not like the streams of Blackmoor […]. The irresistible, universal, automatic tendency to find sweet pleasure somewhere, which pervades all life, from the meanest to the highest, had at length mastered Tess […]; women whose chief companions are the forms and forces of outdoor Nature retain in their souls far more of the Pagan fantasy of their remote forefathers than of the systematized religion taught their race at later date […] Tess really wished to walk uprightly, while her father did nothing of the kind […].« (Chapter XVI, S. 103–104) 72 | A. Richardson: »Heredity«, in: Phillip Mallett (Hg.): Thomas Hardy ebd., S. 328–338, hier: S. 336; P. Mallett: »Hardy, Darwin, and The Origin of Species, in: P. Mallett (Hg.): Thomas Hardy ebd., S. 316–327, hier: S. 327, Fn 2, Mallett bezieht sich auf S. 317 seiner Ausführungen, mit Verweis auf Fn 2, auf zwei Kommentare Hardys aus The Life and Work of Thomas Hardy, by Thomas Hardy, hg. M. Millgate, London 1984 (LW) und auf The Literary Notebooks of Thomas Hardy, hg. L.A. Björk, 2 vols (London 1985 (Ln), in denen Hardy das genealogische Evolutionsgesetz Darwins zusammenfasst: Alle organischen Lebewesen stammten aus einer Familie (LW; S. 373), wobei es sich um eine Familie handele, in der der Mensch nicht über anderen Tieren stehe (LN II, S. 225). Mallett kommentiert Hardys Einstellung zu Darwins bahnbrechenden Erkenntnissen in Fn 2: »Both Darwin and Hardy grasped the ethical implications of this. For Darwin it constituted an argument against slavery; for Hardy, more radically, it ›shifted the centre of altruism from humanity to the whole conscious world collectively‹ (LW, S. 373)«. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt A. Richardson: »When Hardy came to assess the impact of Darwin, it is significant that he saw the implications as ethical, emphasizing kinship between species rather than competition« (ebd., S. 336).

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Diese Romanstelle, die Tess in der Vision des aufrechten Ganges mit ihrem verblendeten Vater konfrontiert, lässt die Utopie einer weiblich emanzipierten, zugleich demokratischen Humanität aufscheinen, die Hardy in der Vision der »pure woman« gegen die Korruptionen des Patriarchats und die Diskrepanzen des hochindustrialisierten Zeitalters am Ende des 19. Jahrhunderts pointiert inszeniert, eine Vision, die Lessing visionär bereits in seinem Trauerspiel Emilia Galotti (1772) dramaturgisch aufregend durchdacht in Szene setzt.73 In dieser Perspektive [»The bird’s eye perspective«] ist der gesamte Roman Tess entworfen und in der Verwebung zwischen dem Leid der Landarbeiterin Tess und ihren durchkreuzten Autonomiebildungsmöglichkeiten gestaltet. In dieser gebrochenen Utopie erhält die Natur in Hardys Roman Tess die Bedeutung, Fragen nach Gegenperspektiven zur korrumpierten Welt aufkommen und Tess, in der Verwebung mit der Anti-Heldin, als »pure woman«, zum narrativen Ausdruck des Unbehagens in der Kultur werden zu lassen: »Tess’s career, so Hardy seems to insist, can be made to fit many stereotypes, from ballad maiden-no-more and melodrama victim-heroine to ›the woman‹ in a sordid domestic ›tragedy‹; yet she evades all such restricted social classifications to emerge at the end of the novel as a figure at once representative and individual whose evident sexuality in no way compromises that triumphant purity which Hardy’s sub-title so properly, if polemically, asserts.« (Millgate 1994: 280)

Kompositorische Verschiebungen Hardys »aesthetics of astonishement«, die die hybride Textur seines Romans Tess metapsychologisch bestimmt, löst durch die Auf hebung der binären Opposition zwischen Natur und Kultur, durch die Verquickung von Subjektivität und Überpersönlichem, durch die Auf hebung des binären Verhältnisse von Gut und Böse und durch die Mischung einer Vielzahl unterschiedlicher Genres und sekundärer Sprachmaterialien die Selbstzensur viktorianischer Romane und eine das Realitätsprinzip verkörpernde instrumentelle Vernunft, von Peter Brooks als »repression« bezeichnet, auf.74 Es entsteht eine anti-realistisch transitorische, 73 | G.E. Lessing: Emilia Galotti Ein Trauerspiel (1772). Stuttgart: Reclam 2014. 74 | P. Brooks ebd., S. 41; T. Dolin: »Melodrama« ebd., S. 235–236; R. Nemesvari: »›Genres« ebd., S. 102–104.

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moderne Erzählweise, die Werte und Normen der Rezipientinnen des dritten Lebensalters tiefenhermeneutisch im Sinne Alfred Lorenzers destabilisiert und ihnen keinen sicheren Interpretationsraum ermöglicht bzw. den hermeneutischen Raum des Unheimlichen entstehen lässt. Der unumkehrbare soziale Abstieg der Anti-Heldin Tess wird durch die Auf hebung binärer Oppositionen, durch Genremischungen, in der Vielsprachigkeit sekundärer Sprachmaterialien und in der Verschiebung zwischen Plot und ›story‹ zum Ausdruck gebracht. Diese Hybridität ermöglicht, extreme Situationen, in denen das Erzählsubjekt Tess sich befindet, episodisch rezeptionsästhetisch interessant werden zu lassen. Die Glaubwürdigkeit der hybriden Gestaltung des Weges, den Tess durch Wessex gezwungenermaßen einschlagen muss, wird in der episodischen Gestaltung des Romans entfaltet. Die hybride Textur bleibt zugleich romanhaft, weil die Anti-Heldin Tess mit allen Situationen, Ereignissen und melodramatischen Elementen verwoben wird und in dieser Verdichtung als besondere und depravierte Erzählfigur in ihrer moralischen Integrität und Würde als Ganzheitsanspruch in der Gegenspiegelung mit der Kunstfigur Tess in ihrer Ganzheit 75 hervorgehoben wird. Diese in den Episoden gestaltete Wechselimplikation von Anti-Heldin und Kunstfigur, von Erzählsubjekt und Idee/Vision überantwortet den einzelnen Episoden den Sinn- und Totalitätsanspruch des gesamten Romans. Da zwischen der Anti-Heldin und der Kunstfigur sinnbildende und strukturelle Verschiebungen stattfinden, so dass weder die Kunstfigur als Vision noch die Anti-Heldin als fixierte Entitäten verstanden werden kann, kommt der Erzählprozess selbst nie mit sich zur Deckung.76 Das Verhältnis zwischen den episodischen Verschiebungen des Erzählten (Plot/›story‹) und der Erzählstruktur in sieben Phasen verschiebt sich metafiktional, traumanalog gegeneinander: Der episodische Zusammenhang überschreitet, sprengt die siebenphasige Erzählstruktur. Diese autoreferenzielle Transzendierung zwingt die Rezipientinnen, Charaktere, Plot und Romanstruktur gegen ihre Lesegewohnheiten in der Art eines Puzzles neu zu interpretieren: Die erste Phase des Romans umfasst Kapitel I–XI, die zweite Phase Kapitel XII–XV. Während in Kapitel I–X die Anti-Heldin und die Kunstfigur Tess oszillieren, tritt diese Verwebung zwischen den Kapiteln XI–XV durch die Katastrophe der Vergewaltigung 75 | P. Brooks ebd., S. 26. 76 | E. Angehrn ebd., S. 248–250.

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Tess’ in einer Kontrastkopplung auseinander. Die thematische episodische Struktur der Kapitel I–X und XI–XV wird gegen die Struktur der Phasen eins und zwei (Chapters I–XI; XII–XV) verschoben. Die dritte Phase umfasst die Kapitel XVI–XXIV: Kapitel XVI kann als Übergangskapitel bezeichnet werden. Kapitel XVI ist um zwei bis drei Jahre später in Tess’ Entwicklung angesetzt und weitet das enge Tal von Blackmoor, aus dem sie stammt, in das weite Vale of Froom aus. Tess ist in Kapitel XVI auf dem Weg in ein eigenes Leben und nimmt die Katastrophe ihrer jungen Vergangenheit (Chapter XI) mit. Kapitel XVII–IXX spielen im pastoralen Talbothays. Hier lernt Tess Angel kennen und verliebt sich in ihn. Die vierte Phase umfasst die Kapitel XXV–XXXIV. Demgegenüber gestalten die Kapitel XX–XXXIV die Liebesbeziehung zwischen Tess und Angel. Diese episodische Teilstruktur endet mit Tess’ Geständnis (Chapter XXXIV). In den Phasen drei und vier gibt es die meisten Hinweise auf Tess’ moralische Integrität. Man kann hier von einer Verdichtung der Thematik der »pure woman« in der Gegenperspektive zur Anti-Heldin Tess sprechen. Zugleich wird auch hier eine Verschiebung zwischen der dritten und vierten Phase durch episodisches Erzählen deutlich. Entsprechend verschieben sich die episodischen Teilstrukturen der Kapitel XXXV–XXXVII [Entfremdung zwischen Tess und Angel], XXXVIII–XL [Tess’ Verzweiflung und vertanes Leben], XLI–XLIV [Tess’ Tendenz zur Unabhängigkeit], XLV–XLIX [Tess zwischen Alec und Angel], L–LII [Vertreibung der Familien aus Marlott], LIII–LIX [Ermordung Alecs, Versöhnung zwischen Tess und Angel, Tess’ Hinrichtung], in Bezug auf die Struktur der Phasen fünf bis sieben.

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Kompositorische Verschiebungen am Beispiel von Tess’ Weg durch Wessex 77 Phasen 1 The Maiden

Kapitel Orte, an denen Tess arbeitet bzw. sich aufhält 1–4

Marlott

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The Slopes/Tantridge

6

Marlott

7

Übergang von Marlott nach Tantridge

7–11 12 2 Maiden no More

13–15 16

3 The Rally 4 The Consequence

17–24 25–34

Tantridge Übergang von Tantridge nach Marlott Marlott Übergang von Marlott nach Talbothays Talbothays

35–37 ___________ 5 The Woman Pays

38

Marlott

39–40

Emminster – Angel bei seinen Eltern

41–42

Übergang von Marlott nach Flintcomb-Ash Flintcomb-Ash

43–44 45–48 6 The Convert

7 Fulfillment

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Vergleich: Tess in Flintcomb-Ash und Angel in Brasilien

50–52

Marlott: Tess und Familie müssen mit anderen Familien Marlott verlassen; Ankunft in Kingsbere

53–54

Clare zurück in Emminster, sucht Tess in Flintcomb-Ash

55–56

Tess mit Alec in Sandbourne, vornehme Pension

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Angel findet Tess in Sandbourne, verlässt die Pension; Tess folgt ihm; beider Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus außerhalb Sandbournes.

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Tess und Angel in Stonehenge

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Tess’ Tod durch Exekution im Gefängnis in Wintoncester

Der kompositorische Sinn dieser Verdichtung in Phase drei und vier und der Verschiebungen zwischen den Phasen und episodischen Clus77 | Die unterstrichenen Kapitel bezeichnen die jeweils ersten Kapitel der unterschiedlichen Phasen.

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tern liegt in der von Hardy intendierten Destruktion unifizierender Plotstrukturen und Sinnfestlegungen, die Tess metapsychologisch, verwirrungsästhetisch zu einem »sign of displacement« 78 als Anti-Heldin und Kunstfigur, als Erzählsubjekt und Vision werden lässt. In dieser kompositorischen Verschiebungs- bzw. Verfremdungstechnik, einem »Hinausschieben jedes Identischseins-mit-sich« 79, zeigt sich, dass die sieben Erzählphasen nicht den Entwicklungsphasen der Anti-Heldin Tess entsprechen. Vielmehr bilden sie ein den Leserinnen scheinbar bekanntes Erzählgerüst, das der Roman durch Genremischung, Stilmischungen und Zufälle, die die erzählerische Ordnung unvorhersehbar unterlaufen, auflöst. Diese Auflösung der erzählerischen Stabilität, die in der cineastisch-impressionistischen Erzählweise gestaltet wird, erinnert zudem an unvermittelte Verschiebungen [Rückungen] bzw. an Tonartwechsel durch Fortschreitungen [Modulationen] in der musikanalytischen Harmonielehre, die einzelnen Motiven, Themen oder Themengruppen den Vorrang einräumt. Sie findet sich beispielsweise in Mozarts und Beethovens Werken, die Hardy kannte. Sie findet sich bei Richard Wagner und in Ravels Boléro. Frederic Jameson sieht in der Auflösung ästhetisch rationaler Strukturen ein entscheidendes Element moderner Kunst. In Bezug auf die Musik Richard Wagners, Johannes Brahms’ und Gustav Mahlers sowie in Bezug auf die Romane Flauberts und Baudelaires und den Impressionisten Manet spricht er von »the matter of affect’s chromaticism, its waxing and waning not only in intensity but across the very scale and gamut of such nuances« (Jameson 2015: 38–39). Damit spricht Jameson die von Freud erforschten a-logischen Primärprozesse an, die aus Assoziationsfolgen bestehen, keine Negation kennen und zu Sekundärprozessen werden, die Ordnungen durch Relationen erstellen und intelligible Zusammenhänge ermöglichen. Freud zufolge ist individuelles Denken auf die Entwicklungsfähigkeit dieses Zusammenspiels angewiesen. Da intellektuelle Leistungen und künstlerische Werke ohne den Primärprozess nicht denkbar sind, kommt es für Freud in Werken der Kunst zu eigentümlichen Versöhnungen der beiden Prinzipien. Die Gleichsinnigkeit beider Prozesse bringt nach Freud Kunstwerke von Rang hervor, in denen Wunschwelt und Realität durch die Besonderheit der Formgebung 78 | T. Eagleton: The English Novel. An Introduction. Oxford: Blackwell 2008, S. 189. 79 | E. Angehrn ebd., S. 248.

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der Werke metapsychologisch vermittelt werden.80 In Hardys Roman Tess lösen die strukturellen Verschiebungen nicht nur realistische Erzählformen auf, sie richten sich kathartisch gegen reifizierende Lebenserfahrungen und Rationalität, die bereits im 18. Jahrhundert in der Wiener Klassik und im modernen englischen Roman kulturkritisch konfrontiert wurden und im 19. Jahrhundert unter dem Dirigat der instrumentellen Vernunft zur Norm zu werden drohten. In seiner Verwirrungsästhetik grenzt sich Hardys Roman Tess mit Zerstörungslust und seiner archaisch demokratischen Demokratie-Imagination, die in den auch dystopischen Naturbildern des Romans zum Ausdruck kommen (Chapters V, XVI, XX, XLI, LVIII), gegen viktorianische Normativität ab, erfindet, erweitert, sprengt Grenzen, die mit Wirklichkeit gemeint sind, um im ästhetischen Modus der Unbestimmtheit zu einer wahren archaischen [»pure«] Lebendigkeit vorzudringen; ein Anliegen, das auch den frühen, dritten Roman D.H. Lawrences Sons and Lovers (1913) auszeichnet. Diese Struktur ästhetischer Unbestimmtheit reiht den Roman Tess am Ende des 19. Jahrhunderts in »a distinguishable English brand of Modernism« ein.81 In seinen kompositorischen Verschiebungen geht er ästhetisch innovative Wege, die die Krise modernen Erzählens zum Ausdruck bringen. Das narrativ transformierte Unbehagen in der Kultur, das die kompositorischen Verschiebungen evoziert, bringt zum Ausdruck, dass die Ganzheit eines Romans nur in der autoreferenziellen Konstruktion von Kontingenzerfahrungen, Orientierungs- und Sinnverlust in der Moderne gelingen kann, wenn überhaupt die Geschichte einer subjektiven Lebenskrise erzählt werden soll. Diese ästhetische Kulturkritik lenkt den Blick der Rezipientinnen auf die sprachlichen Mittel [Genremischungen, sekundäre Sprachmaterialien], die das Literarische der erzählten Geschichte hervorheben. Der moderne Roman, und so auch Hardys Tess, kopiert die Welt nicht, er erschafft sie. Damit bewirkt er bei den Rezipientinnen »to pass beyond the reported content of the novel, and enter into its form.« 82 Wenn aber die 80 | M. Feurer: Psychoanalytische Theorien des Denkens. S. Freud – D. W. Winnicott – P. Aulagnier – W. R. Bion – A. Green. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 19–30. 81 | M. Bradbury: »London 1890–1920«, in: M. Bradbury and J. McFarlane (Hg.): Modernism« ebd. S. 172–190, hier: S. 178. 82 | J. Fletcher and M. Bradbury: »The introverted Novel«, in: M. Bradbury and J. McFarlane (Hg.): Modernism ebd., S. 394–415, hier: S. 396.

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erzählerische Form – hier die kompositorischen Verschiebungen – selbst zum Inhalt werden und kulturelle Erfahrungen erzählerische Formen hervorrufen, die ihrerseits ästhetische Erfahrungen bewirken, dann entsteht eine Überblendung von Realität und Imagination, die zu den zentralen Anliegen modernistischen Erzählens gehören und von D.H. Lawrence und Virginia Woolf auf ganz unterschiedliche Weise gestaltet wurden: »it is in the delicate intersections between the claims of formal wholeness and human contingency that we find some of the central aesthetics and tactics of Modernist fiction.« (Fletcher 1991: 398)

8.2 D avid H erbert L awrences R oman S ons and L overs (1913) Einleitung und erster Teil: Familiäre Hintergründe der Familie Morel D.H. Lawrences dritter Roman Sons and Lovers entstand in dem Zeitraum, in dem sich die modernen Avantgarden und D.H. Lawrence als »archetypal modern exile« entwickelten: »Lawrence’s achievement was to bring to bear, on the disintegrating order of his time, the rich values of a working class experience.« 83 Lawrences dritter Roman, der seit 1992 ungekürzt vorliegt [der Roman wurde im Mai 1913 in der vierten Version veröffentlicht, von Edward Garnett um 80 Passagen gekürzt] 84 entstand in einer Zeit, in der sich ab 1905 der Jazz entwickelt hatte und sich der Expressionismus (1905–1920) in der Malerei im Bruch mit der Vergangenheit zu einer ästhetischen Auf bruchsbewegung, mit Energien der Rückkehr zu primitiveren Lebensformen entfaltete. Im gleichen Zeitraum befand sich der Film filmgeschichtlich in Phasen der Ausbildung verschiedener Genres zur etablierten Filmindustrie sowie in der Entwicklung vom Stummfilm zum Tonfilm (1900–1914, 1914–1933). Dem Expressionismus 83 | T. Eagleton: Exiles and Émigrés. New York: Schocken 1972, S. 191, S. 17; E. Hobsbawn: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München: dtv 2012, S. 235. 84 | Zur Publikationsgeschichte siehe: A. Harrison: »Introduction«, in: A. Harrison (Hg.): D.H. Lawrence’s Sons and Lovers. A Casebook. Oxford: Oxford University Press 2005, S. 3–26.

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und dem Film in seinen Anfängen waren Verwirrungsästhetiken immanent, die durch immer komplexere Bilder [Film] und durch das synästhetische Zusammenspiel von Licht und Farbe [Expressionismus] eine Intensivierung des künstlerischen Ausdrucks bewirkten und wie der Jazz die Erregung emotionaler Energien bei den Rezipientinnen evozierten.85 Die stilistische Stärke von Sons and Lovers besteht darin, dass dieser Roman die Ausdrucksenergie hat, »to link sensation and emotion with underlying forces« 86. In seiner sprachlichen Ausdrucksform rückt Lawrences Roman nicht nur in die Nähe von Techniken der frühen Filmgeschichte und des Expressionismus, sondern auch in den Fokus der Forschungen Freuds zur Problematik des Unbehagens in der Kultur. In seiner narrativen Gestalt steht Lawrences Roman im Bann des Expressionismus und des Jazz, deren Anliegen es war, durch die Priorität subjektiver Erfahrungen vor Konventionen und Rationalität zu neuen Visionen, die bis in den Bereich des Unbewussten reichen können, mithin zu neuen Humanitätsvisionen [Blues und Jazz als musikalische Ausdrucksformen schwarzamerikanischer [ehemaliger] Sklaven] vorzustoßen. Die Gemälde früher Expressionisten, wie die Vincent Van Goghs, Edvard Munchs, Egon Schieles und anderer konnten Lawrence als ästhetische Vorbilder für seinen dritten Roman gelten.87 Der Staccato-Stil dieses Romans, der filmische Techniken des Close-up, der Montage und von Stills kontrastiv zu pastoralen Szenen einsetzt, verknüpft in visuell photographischer Genauigkeit, mit expressiven Passagen, die nicht dichotomisch gegeneinander gesetzt sind, sondern sich als »isolating and totalizing functions« ergänzen,88 in der Dialektik von individuellen Erfahrungen und sozialen Bedingungen das Allgemeine im Besonderen so, dass Diskrepanzen der Moderne aufscheinen. Es entsteht ein subjektiver Realismus, der, im Sinne Merle85 | T. Anz: »Die Seele zum Vibrieren bringen! Konzepte des Gesamtkunstwerks in der Zeit des Expressionismus«, in: R. Beil, C. Dillmann (Hg.): Gesamtkunstwerk Expressionismus. Katalog der Ausstellung. Darmstadt: Hatje Cantz 2010, S. 50–67; W. Faulstich: Filmgeschichte Paderborn: Fink 2005, S. 7–88; J. Monaco: How to Read a Film. Movies, Media, Multimedia. Oxford: Oxford University Press 2000, S. 228–385. 86 | J. Stewart: »Forms of Expression in Sons and Lovers«, in: A. Harrison (Hg.): D.H. Lawrence’s Sons and Lovers ebd., S. 155 – 188, hier: S. 180. 87 | J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 186 (Fn. 25). 88 | J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 158.

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au-Pontys, in der Darstellung individueller Perspektiven zugleich deren Begrenztheit und ihre Öffnung auf die Komplexität der Welt, das »Subjekt als Weltentwurf«, ermöglicht.89 Der Bruch mit Realismuskonzepten des 19. Jahrhunderts kommt in der erzählerischen Form dieses Romans als Extension eines in Mischperspektiven entstehenden subjektiven Bewusstseins zum Ausdruck. Dieses wird zum Subjekt, nicht zum Objekt moderner Diskrepanzen. Der Grenzgänger Paul Morel wird, sekundiert von den Perspektiven Gertrud Morels und der Erzählstimme, zu einer Figur, in der sich die Schicksale moderner junger Männer und moderner Individuen wiederfinden.90 In Bezug auf Sons and Lovers schreibt Lawrence am 14. November 1912 an seinen Herausgeber Garnett: »It is a great tragedy […]. It’s the tragedy of thousands of young men in England […].«91 Eine genauere Erklärung für dieses Phänomen gibt nicht Lawrence, sondern Freud in seiner Schrift »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens«, die ebenfalls 1912 erschienen ist, 1930 dann in seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« als Buch. In beiden Schriften hebt Freud hervor, dass sich die psychische Impotenz männlicher Patienten aus der Geschichte der Triebentwicklung in der abendländischen Kultur und der damit verknüpften Erziehung der Geschlechter erklären lasse.92 In seiner Schrift »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens« legt Freud dar, dass die große Zahl männlicher Patienten »zärtliche und sinnliche Strömungen im Liebesleben« durch starke Kindheitsfixierungen und durch »Dazwischenkunft der Inzestschranke« nicht integrieren können, also voneinander trennen und dass sich dadurch das traditionelle männliche Rollenverhalten entwickelt, das zwischen der idealisierten 89 | M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter 1966, S. 460–465; J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 160. 90 | J. Goode: »Individuality and Society in Sons and Lovers«, in: R. Rylance (Hg.): Sons and Lovers. New Casebooks. Houndsmill: Macmillan 1996, S. 125–132, hier: S. 125; J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 157. 91 | D.H. Lawrence: Selected Letters. Selected by R. Aldington with an introduction by A. Huxley. Harmondsworth: Pelican 1971, S. 48. 92 | S. Freud: »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens« (1912), in: S. Freud: Sexualleben. Studienausgabe Band V. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 197–209, hier: S. 203–209; S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 64–80 (Abschnitt IV).

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Frau und der erniedrigten Geliebten oder Prostituierten unterscheidet.93 Eine ähnliche Stelle wie die Briefstelle Lawrences an Garnett findet sich in Sons and Lovers, die sich durch ein je individuelles Misslingen, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit, Begehren und Aggression miteinander zu integrieren, auch auf die Erzählfiguren Miriam, Clara, Baxter Dewes, Gertrud und Walter Morel beziehen lässt: »[Paul] was like so many young men of his age. Sex had become so complicated in him that he would have denied that he ever could want Clara or Miriam or any woman he knew […].« (Chapter X, S. 319)94 Wie Paul gelingt es keiner der Romanfiguren ihre Sinnmitte zu finden und ein ganzheitliches Lebensgefühl zu entwickeln; ein Faszinosum für Leserinnen des dritten Lebensalters. Die von Lawrence in seinem Brief an Garnett bezeichnete Tragödie bezieht sich aber nicht nur auf Sexualität, sie bezieht sich kulturell auf die Funktionalisierung des Subjekts durch Industrialisierung, Ökonomie und Arbeitsteilung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine Funktionalisierung, die der Roman Sons and Lovers in die Inkommensurabilität der Figurenperspektiven transformiert. Walter Morel, beispielsweise, ist eine Erzählfigur, an der die Funktionalisierung des modernen Subjekts durch die Entgegensetzung von körperlicher Arbeit und Selbstbewusstsein deutlich wird. Trotz seiner handwerklichen Fähigkeiten, bei denen er auf blüht, ist er kein Handwerker, sondern ein bergmännischer Industriearbeiter, der sich körperlich und seelisch kaputt arbeitet. Die organisatorisch intelligente Arbeit wird von den Bergwerkseignern und Managern, die weder Walter Morel noch die Leserinnen zu Gesicht bekommen, durchgeführt. Wie Mrs Morel gehören diese der Bildungsschicht bzw. der gesellschaftlichen Intelligenz an, die Arbeiter wie Walter Morel funktionalisierte Arbeitsaufträge durchführen lassen. Was für Walter Morel gilt, gilt ebenso für die Arbeiter und Grubenarbeiter in Bestwood. Die Funktionalisierung der Subjektivität gilt aber auch für Mrs Morel und ihre Aufstiegswünsche in den Mittelstand, für Miriam, die als außergewöhnliche junge Frau sich anzupassen versucht, für Clara, die in der Jordanfabrik 93 | S. Freud: »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens ebd., S. 199–203; F. Voßkühler: Begehren ebd., 2015. 94 | D.H. Lawrence: Sons and Lovers. Edited with an introduction and notes by H. Baron and C. Baron. London: Penguin 1994; alle weiteren Kapitel- und Seitenangaben beziehen sich im laufenden Text auf diese Ausgabe; siehe dazu oben die Ausführungen zu Freuds Kulturtheorie.

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arbeitet, für Baxter Dawes, der Funktionalität verweigert, sich dann aber erneut mit Clara nach getrennter Lebensweise ehelich verbündet, obwohl sie ihn nicht liebt. Sons and Lovers bringt durchgängig zum Ausdruck, dass die »working-class environment had its share of a violence and domination which tied it to the entire society«,95 So wird Sons and Lovers, ähnlich wie Hardys Roman Tess, zum Ausdruck des gesellschaftlichen Unbehagens in der Kultur. Bevor im zweiten Teil des Romans, der Pauls Gefühlsturbulenzen und sensitives Bewusstsein intersubjektiv verortet, diese industrialisierte Fremdbestimmung der Arbeiterklasse und damit die kulturelle Fremdbestimmung moderner Subjektivität in der von Paul internalisierten Fremdbestimmung durch seine Mutter zur komplexen Ausweglosigkeit ausgeweitet werden, gibt es im ersten Teil bereits Hinweise auf diese Erfahrung, die als Erzählmuster des gesamten Romans anzusehen ist. Das Erzählmuster besteht darin, dass die gesellschaftlich und kulturell etablierten bzw. reifizierten Lebensbedingungen der kulturell Abhängigen [der Bergarbeiter] Möglichkeiten ihrer Transzendierung zu selbstbestimmten Lebensformen aufgrund ökonomischer Abhängigkeit und Armut durchkreuzen. Bereits im Erzähleingang ist dieses Muster angelegt. Mrs Morel, die aus dem Mittelstand kommt und den Bergmann Walter Morel geheiratet hat, »was not anxious to move into the Bottom […]. But it was the best she could do«. (Chapter I, S. 10) In Bezug auf den Ehekrieg zwischen den Morels heißt es, aus Mrs Morels Sicht, wenige Seiten weiter: »She despised him, and was tied to him.« (Chapter I, S. 13) Die Durchkreuzung von Autonomiebildungsmöglichkeiten wird am Ende des ersten Kapitels in der Szene ausgeweitet, in der Walter Morel nachts betrunken und hasserfüllt die schwangere Gertrud Morel aus dem Haus wirft und sie ihn, in der monderleuchteten Nacht im Vorgarten aus ihrem Entsetzen und aus Angst um ihr noch ungeborenes Kind, nicht etwa verlässt, sondern sich ihren Weg in das Haus zurückkämpft: »At last, after about an hour, she rapped long and low at the window. Gradually the sound penetrated him […]. She rapped imperatively at the window. He started to awake.« (Chapter I, S. 33–36, hier, S. 36) Das Erzählmuster der Ausweglosigkeit, das im zweiten Teil Pauls Entwicklung kulturell bestimmt, bindet ihn im Gespräch mit seiner Mutter, die ihm eine Heirat in den Mittelstand vorschlägt, an die Arbeiterschicht, die er romantisiert (Chapter X, S. 298– 95 | T. Eagleton: Exiles ebd., S. 192.

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299). Aus dieser unauflösbaren Ambivalenz bzw. Dialektik entsteht Pauls Grenzgängertum: »Paul, as his mother’s child, moves beyond the boundaries of the family into a wider world; yet the force which impels him there – his mother’s influence – is also the force which draws him irresistibly back home.« (Eagleton 1972: 197) Auf Marktmechanismen, Regierungsentscheidungen, Bildungspolitik, Entwicklungen der industriellen Nutzung von Kohle, Grubenunglücke, Strikes haben diese Erzählfiguren kaum oder keinen Einfluss. Als gesellschaftliche Schicht sind sie politischen und ökonomischen Entscheidungen ausgeliefert. Reifiziert haben sie, so auch Paul, die Kontrolle über ihr subjektives Leben verloren.96 Die kulturelle Selbstfremdheit, die bei funktionalisierter Arbeit keine Kreativität zulässt, die Anerkennung des kulturellen Über-Ich ist suspendiert, wird in Lawrences Roman Sons and Lovers zur Bedingung von Konflikten in der Morelfamilie, zudem von Konflikten zwischen Paul und Miriam, Clara bzw. Baxter. Diese intersubjektiven, persönlichen Konflikte, nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie beispielsweise bei Dickens und Gaskel dargestellt werden, stehen im Vordergrund des Romans. Die Hintergründigkeit oder gar Abwesenheit von bürgerlichen Machteliten in Sons and Lovers ermöglicht eine narrative Kritik der industrialisierten Gesellschaft aus der familiären, individuellen und intersubjektiven Sicht einer Bergarbeiterfamilie und aus den interpersonellen Sichtweisen der anderen Erzählfiguren,97 und sie bestimmt den mit pastoralen Szenen verknüpften filmischen Staccato-Stil sowie die episodische Form dieses Romans als Ausdruck eines Liebes- und Anerkennungsverlusts gesellschaftlich entfremdeter Subjekte. Während die ältere Forschung Sons and Lovers als kohärentes Erzählgebilde des Realismus deutet, als autobiografische Fiktion, als Illustration des Ödipuskomplexes, als Bildungs- oder Künstleroman, sehen neuere Forschungen diesen Roman, wie oben dargelegt, in kulturkritischer Perspektive als episodisch angelegtes, in der Ausdrucksgestalt des subjektiven Realismus verfasstes Romanexperiment,98 dessen Zentralfigur ein Grenzgänger zwischen Leben und Tod ist, an dem die existenzielle, bereits vor96 | S. Sanders: »Society and Ideology in Sons and Lovers«, in: R. Rylance (Hg.): New Casebooks. Sons and Lovers ebd., S. 155–170, hier: S. 164–165. 97 | G. Holderness: »Language and Social Context in Sons and Lovers«, in: R. Rylance (Hg.): New Casebooks. Sons and Lovers ebd., S. 133–154, hier: S. 143. 98 | R. Rylance (Hg.): New Casebooks. Sons and Lovers ebd.

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geburtlich angelegte Halt- und Orientierungslosigkeit moderner Subjektivität zum Ausdruck kommt. Gespiegelt wird diese Figur von weiteren, ebenfalls orientierungs- und haltlosen Figuren. Gertrud Coppard Morel hat ihren Halt in der Mittelschicht verloren. Sie heiratet nicht den jungen Geschäftsmann John Field, dessen Vater ihm verbot Theologe zu werden, sondern den Bergarbeiter Walter Morel. Walter Morel verliert durch seine harte Arbeit und das ihn zerrüttende Ehe- und Familienleben seinen inneren Halt, den Gott in ihm. Miriams Spiritualität lässt sie zu einer Fremden in der bäuerlichen Welt werden. Claras Sinnlichkeit steht im Kontrast zu ihrer weiblichen Emanzipation, die wiederum kontrastiert mit ihrer Unterwürfigkeit gegenüber Paul und dem von ihr getrennt lebenden Ehemann. Dieser, Baxter Dewes, zeichnet sich durch eine atavistische Vitalität aus, die ihn zum Außenseiter, zum Bruder der Urhorde nach Freud werden lässt. Auch der Fabrikdirektor, der Paul Morel als Bürokraft einstellt, verliert zeitweise seine institutionalisierte Sicherheit. Er wird von Baxter zu Boden geschlagen – der Prozess gegen Baxter wird eingestellt. Dieses Gewebe voneinander isolierter und orientierungsloser Erzählfiguren wird, inklusive des versuchten Vatermordes an dem Fabrikdirektor und dem des schwächer werdenden Übervaters Walter Morel, von einem unzuverlässigen Erzähler entworfen, der die Erzählfiguren in wechselseitigen Mischperspektiven als Figuren mit transitorischen Identitäten erscheinen lässt. Miriam wird in den differierenden Perspektiven Pauls, seiner eifersüchtigen Mutter und des Erzählers als Scapegoat gestaltet; das gilt ebenso für Clara, Walter Morel und für Baxter Dewes als unbestimmbare Erzählfigur. Und doch sind diese Figuren Teil des Gemeinwesens von Bestwood, das nicht nur aus Gemeinschaftlichkeit besteht, sondern, über seine Arbeitswelt und Armut vermittelt, durch »conflict, loss, frustration and despair«99, im Sinne einer brüderlichen Urhorde gegen das gewalttätige Über-Ich der oberen Industriellen zusammengehalten wird. Da diese Spannungen bis in die Familie Morel vordringen, ist die Beziehung zwischen Gertrud Morel und ihren Söhnen William und Paul als kulturkritische Gestaltung dieses Spannungsfeldes und nicht als psychopathologisch selbstbezügliche Beziehung zwischen einer Mutter und ihren Söhnen zu verstehen: »[The] process of individuation arises out of the character of that particular family context, and out of the character of the wider community itself […]. That passion is itself seen as secon99 | R. Williams: The English Novel ebd., S. 141.

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dary to the primary root cause, which is the conflict in the family. And that conflict is not purely individual or purely family matter.« (Holderness 1996: 138) Der Perspektivwechsel zwischen familiärer Nähe und sozialer Distanz, zwischen Persönlichem und Überpersönlichem schlägt sich in den Konflikten zwischen Gertrud und Walter Morel, zwischen Paul und Miriam, Clara bzw. Baxter nieder, weil der Roman Sons and Lovers soziale Konflikte in familiäre und individuelle Konflikte transformiert.

Methodische Zwischenbemerkung Im gelenkten Seminar der Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M. hat sich als vorteilhaft erwiesen, den ersten Teil des Romans Sons and Lovers in Themen aufzufächern und zu besprechen: Familiäre Hintergründe der Morels, Wertunterschiede und Erwartungen von Gertrud und Walter Morel, finanzielle Spielräume, die Beziehungen zwischen Gertrud und Walter zu ihren Kindern, Gertruds Ansprüche an William und Paul, die Beziehung zwischen Gertrud Morel und Paul, gesellschaftliche und familiäre Freiräume, Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für William sowie für Paul, Umfang gesellschaftlicher Einflüsse auf individuelle Entscheidungsmöglichkeiten in der Familie Morel, Stil und Form des ersten Teils des Romans. Für die Besprechung des zweiten Teils des Romans hat sich aufgrund der geänderten Erzählstruktur als vorteilhaft erwiesen, der Dilemmastruktur nachzugehen, die sich aus den beiden miteinander verknüpften erotischen Dreiecksbeziehungen ergibt. Da die Themen des ersten Teils des Romans in der Struktur des zweiten Teils aufgehen, ergibt sich eine überraschende Deutung des Schlusstableaus des Romans Sons and Lovers in seiner vollständig rekonstruierten Fassung von 1992.

Der erste Teil: Gesellschaftliche Einflüsse aus den Perspektiven der Familie Morel Das erste Kapitel des Romans schlägt in seiner anarchisch grenzüberschreitenden Erzählweise den erzählerischen Ton des gesamten Romans an. Das Kapitel ist geprägt von Perspektivenwechseln zwischen Innen und Außen, Nähe und Distanz, von Chronologie auflösenden Zeitverschiebungen, die zwischen gegenwärtigen, vergangenen, künftigen und augenblicklichen Zeiterfahrungen durch epische Vor- und Rückgriffe

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sowie Zustandsbeschreibungen hin und her changieren, und es ist geprägt von abrupten Ortswechseln. Diese schwebend hybride, jazzähnliche Erzählweise öffnet den Leserinnen den Blick auf die Spannungen in der Bergarbeiterfamilie Morel, die in eine von Widersprüchen getragene Gemeinschaft von Bergleuten und Nachbarschaften eingelassen ist. In diesem Wirbel überblenden sich die Erzählstimme und die Perspektiven der Mrs Morel und sie treten getrennt auf. Im Wechsel zwischen den narrativ imitierten filmischen Einstellungen, zwischen Totale und Close-up entstehen Überblendungen von sensorischen Details und distanzierten Beschreibungen, von Konkretem und Abstraktem, die Spontaneität und Lebendigkeit der Lebenswelt von Bergarbeiterfamilien vermitteln: »The close attention to detail and the faithful rendering of the texture of everyday existence give us a vividly accurate picture of working-class life.« (Simpson 1996: 112) Mit dieser Lebendigkeit, die durch den Übergang von der Totale zum Close-up entsteht, wird zu Anfang des Romans die Welt der Grubenarbeiter und ihren Familien dargestellt: »›The Bottoms‹ succeeded to ›Hell Row.‹ Hell Row was a block of thatched, bulging cottages that stood by brook-side Greenhill Lane. There lived the colliers who worked in the little gin-pits two fields away. The brook ran under the alder trees, scarcely soiled by the small mines, whose coal was drawn to the surface by donkeys that plodded wearily in a circle, round a gin. And all over the countryside were the same pits, some of which had been worked in the times of Charles II, the few colliers and the donkeys burrowing down like ants in the earth, making queer mounds and little black places among the corn-fields and the meadows […]. Then, some sixty years ago, a sudden change took place. The gin-pits were elbowed aside by the large mines of the financiers. The coal and iron field of Nottinghamshire and Derbyshire was discovered. Carston, Wait and Co. appeared […]. About this time the notorious Hell Row, which through growing old had required an evil reputation, was burned down, and much dirt wads cleansed away.« (Chapter I, S. 9)

Dieser im chronistischen Stil verfasste Erzähleingang kontrastiert die industrielle Vergangenheit des Dorfes Bestwood mit seiner industriegeschichtlichen Gegenwart. Hier tritt die im Roman in den Hintergrund verschobene kulturelle historische Entwicklung vom frühneuzeitlichen zum industrialisierten Bergbau mit den auf ökonomischer Rationalität fußenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Vordergrund. In diese per Zoom an die Leserinnen herangeführte Szenerie ist bereits eine zivili-

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sationskritische Seite eingelassen, die durch Kontrastkopplung im Detail, später in Vergrößerungen als Gegenüberstellung von industrialisierter Moderne und Natur den gesamten Roman durchzieht. Zunächst geht es um die ökonomisch rationalisierte Anordnung der nunmehr modernen Häuser der Bergarbeiter. In Bezug auf die neue Lebenswelt der Bergarbeiter berichtet der gut informierte, Distanz beziehende Erzähler: »The Bottoms consisted of six blocks of miners’ dwellings, two rows of three, like the dots on a blank – six domino, and twelve houses in a block. This double row of dwellings sat at the foot of the rather sharp slope from Bestwood, and looked out, from the attic windows at least, on the slow climb of the valley towards Selby.« (Chapter I, S. 10)

Noch immer distanziert, aber perspektivisch schon näher herangerückt heißt es im Anschluss an die eben zitierte Stelle: »The houses themselves were substantial and very decent. One could walk all round, seeing little front gardens with auriculars and saxifrage in the shadow of the bottom block, sweet williams and pinks, in the sunny top-block; seeing neat front windows, little porches, little privet hedges and dormer windows for the attics.« (Chapter I, S. 10)

Der an diese Stelle anschließende Satz vollzieht einen unerwarteten Perspektivenwechsel von außen nach innen, von der Totalen zum Close-up: »But that was outside; that was the view onto the uninhabited parlours of all the colliers’ wives. The dwelling room, the kitchen, was at the back of the house, facing inward between the blocks, looking at a scrubby back-garden, and then at the ash-pits […]. Mrs Morel was not anxious to move into the Bottoms, which was already twelve years old and on the downward path, when she descended to it from Bestwood. But it was the best she could do.« (Chapter I, S. 10)

Die Perspektive, die bisher die Lebenswelt der Bergarbeiter von außen beobachtend dargestellt hat, wechselt nun in eine Innensicht, die sich teilnehmend zunächst auf Mrs Morel und dann auf die familiäre Lebenswelt des Ehepaares Morel, ihres siebenjährigen Sohnes William und ihrer fünfjährigen Tochter Annie, die beide zur Kirmes wollen, konzentriert. In einem epischen Vorgriff wird Mrs Morels familiäre Situation als von

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Armut und von nachbarschaftlicher Distanz geprägte Lage vorgestellt. Daran schließt sich der oben angedeutete Kontrast zwischen der ökonomisierten Lebenswelt und der subjektiven Naturerfahrung an, die diese Lebenswelt transzendiert. Gegen Abend, nachdem William von der Kirmes nach Hause gekommen ist, betritt Mrs Morel, die mit ihrem dritten Kind (Paul) ungewollt schwanger ist, den Vorgarten ihres noch nicht abgezahlten Hauses: »If it were not for William and Annie, she was sick of [her family life], the struggle with poverty and ugliness and meanness. She went into the front garden, feeling too heavy to take herself out, yet unable to stay indoors. The heat suffocated her […]. The front garden was a small square with a privet hedge. There she stood, trying to soothe herself with the scent of flowers, and the fading, beautiful evening. Opposite her small gate was the stile that led uphill, under the tall hedge, between the burning glow of the cut pastures. The sky overhead throbbed and pulsed with light. The glow sank quickly off the field, the earth and the hedges smoked dusk. As it grew dark, a ruddy glare came out on the hill top, and out of the glare, the diminished commotion of the fair.« (Chapter I, S. 14)

Die teilnehmende Perspektive des Erzählers wandelt sich an dieser Stelle metonymisch in die Innenwelt Gertrud Morels, die in unmittelbarer Nähe ihres von Existenznot geprägten Haushaltes diesen naturbezogen transzendiert. Ihr transitorischer Innenblick, der sich nun nach außen, nach oben und in die Weite richtet, reicht über die Lebenswelt der Bergarbeiter und über ihre eigene depressive Stimmung [»The world seemed a dreary place, where nothing else would happen for her […]«, Chapter I, S. 13] hinaus in ihr inneres beyond, das in der Glut der Abenddämmerung und im abklingenden Lärm des Jahrmarktes eine synästhetisch expressive pastorale Entsprechung sprachlicher Intensität findet, eine Intensität, die gegen den Staccato-Stil Walter Morels und die Welt der Bergwerke gesetzt, auf die Leserinnen aufgrund der teilnehmenden Innensicht wie eine Epiphanie augenblickhaft erlösend wirkt. Diese und die anderen sprachlich ähnlich gestalteten pastoralen Szenen des Romans bilden zivilisationskritische Gegenbilder gegen die industrialisierte Lebenswelt und die aus ihr folgenden Existenznöte, die der Roman aus den subjektiven Sichten der Betroffenen darstellt. Die Szenarien, die der Roman Sons and Lovers im Wechsel und in der Überblendung von Distanz und Nähe autoreferenziell generiert, bilden

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den narrativen Ausgangspunkt für die im Fokus stehenden Diskrepanzen in der Morelfamilie im ersten Teil des Romans. In dieser Familie wiederholt sich die metonymische Ausdrucksgestalt von Distanz und Nähe, Abstraktion und Konkretem, Totale und Close-up. Nicht als Kontrastbildungen, sondern als narrativ präsente und für die Figuren zermürbende Überblendungen und expressive Kontrastspannungen zwischen Gertrud und Walter Morel, William und Paul sowie zwischen Gertrud Morel, Paul, Miriam, Clara und Baxter im zweiten Teil dieses Romans. In der narrativen Zurücknahme des epischen Vorgriffs auf Gertrud Morels hoffnungslose Lage in ihrer Mutterrolle als Ehefrau des Grubenarbeiters Walter Morel blendet die narrative Stimme einen epischen Rückgriff auf die zur Ehe führende erblühende und dann sich selbst auflösende Liebesgeschichte zwischen Gertrud Coppard/Morel und Walter Morel ein. In diese durch epische Vor- und Rückgriffe eingeschobene Ehebeziehung [»She was thirty-one years old, and had been married eight years«, Chapter I, S. 10] wird die Vorgeschichte zweier Liebender eingeschoben und in filmischer Überblendung in ihrer katastrophalen Auflösung dargestellt: »There began a battle between the husband and wife, a fearful, bloody battle that ended only with the death of one.« (Chapter I, S. 22) Dieser die soziokulturellen Konfliktfelder in sich hineinziehende Ehekrieg, der kulturkritisch die Diskrepanz zwischen zwei unversöhnlichen gesellschaftlichen Schichten von Kapital und Arbeit romanhaft ironisiert, ist ein epischer Vorgriff auf das Ende des zweiten Romanteils, dem Tod Mrs Morels, der Mutter der Hauptfigur Paul. Paul wird sie in ihrem langem Todeskampf durch eine Überdosis Morphin töten, ein expressionistischsurreales Vorgriffsszenarium, das den gesamten Roman in der Verquickung von Leben, Autonomiebildungsmöglichkeiten, deren Durchkreuzungen und dem Tod, dargestellt in den erotischen Beziehungsdreiecken des zweiten Teils, durchzieht und den Protagonisten Paul Morel als individualisierte Grenzfigur zwischen Leben und Tod heraushebt. In dieser Grenzfigur ist ein »fühlende[s] Bewusstsein […]«100 angelegt, das sich mit der Erzählstimme des Romans überschneidet und aus einem vorgeburtlichen, präsozialen Raum stammt. Das Baby Paul »had a peculiar pucker on the forehead, as if something had startled its tiny consciousness before birth […]. But the baby was good.« (Chapter II, S. 45) Pauls 100 | C. Caudwell: Studien zu einer sterbenden Kultur. Frankfurt/M.: Ullstein 1977, S. 55, S. 56.

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Stirnfalten treten im Verlauf seines Erwachsenwerdens immer dann auf, wenn er in Krisensituationen gerät, die er intersubjektiv und vorgeburtlich-schicksalhaft in sich angelegt sieht. Paul ist das dritte Kind der Morels. Er stammt aus einer Familie, die sich nach einer ersten Phase kurzen Eheglücks in der Krise und in einem Wandel befindet, die Diskontinuitäten und kommunikative Störungen bei den Beteiligten, insbesondere bei William und bei Paul hervorrufen. Die grundlegende kommunikative Störung stammt aus der Ehe zwischen Gertrud und Walter Morel. Gertrud Coppard verliebte sich in den Bergarbeiter Walter Morel, auch deshalb, weil sie sich erhoffte, durch diese Ehe dem engen Lebensraum ihrer Herkunftsfamilie zu entkommen bzw. ihren Lebensraum transzendieren zu können: »Walter Morel seemed melted away before her. She was to the miner that thing of mystery and fascination, a lady […]. She looked at him startled. This was a new tract of life suddenly opened before her.« (Chapter I, S. 17–18) Diese Szene der ersten Begegnung enthält ex negativo ein Merkmal Gertrud Coppards/Morels, das sie später in Bezug auf ihre Söhne William und Paul in soziale Aufstiegsforderungen im Sinne einer Transzendierung der Schranken des working-life, wendet: »[Walter’s] sensuous flame of life, that flowed from off his flesh like the flame from a candle, not baffled and gripped into incandescence by thought and spirit as her life was, seemed to her something wonderful beyond her.« (Chapter I, S. 18) Gertrud Coppards Transzendierungsfähigkeit in ein beyond wird ihr drittes Kind Paul zum Künstler und zum Grenzgänger werden lassen. Seine transitorische Identität, seine Haltung gegenüber Frauen stammen aus der marginalisierten Familie des Bergarbeiters Walter Morel, sie leitet sich von Mrs Morels puritanischer Einstellung eines individuierten Lebens her, sie ist eingebettet in das soziale Umfeld der Bergarbeiter, sie können also im Roman kulturell hergeleitet werden, nicht auf den Ödipuskonflikt reduziert werden und von den Leserinnen kulturell verallgemeinert werden. Bald nach kurzem Eheglück geraten Gertrud und Walter Morel, weil sie aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten kommen, arm sind, unterschiedliche Werte vertreten und differente Erwartungen in Bezug auf den anderen haben, in mehrere Krisen, die ihre Ehe in eine Sozialhölle verwandeln. Während Walter Morel bei seinen Bergarbeiterkollegen beliebt ist, Freundschaften mit ihnen pflegt, mit ihnen Bier trinkt, sonntägliche Wanderungen unternimmt und Autoritäten ablehnt – mithin mit der Welt der Bergarbeiter so verflochten ist, dass er als Erzählfigur ihre Stärken und ihre Schwächen repräsentiert,

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unbefragt akzeptiert er die männliche Tradition, die eigenen Ehefrauen finanziell kurz zu halten und von ihnen Anpassung zu fordern, damit er persönliche Freiräume gewinnen kann –, ist Mrs Morel ungewöhnlich. Sie fühlt sich in der Lebenswelt der Bergarbeiter und ihrer Frauen deplatziert: »›What have I to do with it?‹ she said to herself. ›What have I to do with all this? Even the child I am going to have! It doesn’t seem as if I were taken into account‹.« (Chapter I, S. 14) Das Kind, das Mrs Morel erwartet, ist Paul, dessen Identität sie bereits vor seiner Geburt antizipiert. Sie wird ihren künftigen Sohn als Exilierten ansehen, behandeln und emotional an sich binden. Während Walter Morel also den gesellschaftlich dominanten männlichen Egoismus und seine gesellschaftlichen Machtstrukturen repräsentiert, hat Gertrud Morel von ihrer puritanisch mittelständischen Erziehung, ihrer Transzendierungsfähigkeit und ihrem Willen, ihren Söhnen Aufstiegschancen in den Mittelstand zu ermöglichen, her einen sensiblen Außenseiterblick für interpersonelle Beziehungen in der Welt der Bergarbeiter. Die Ausschließlichkeit der gegenseitigen Entfremdung beider Erzählfiguren kann an zwei Szenen aufgezeigt werden. Im siebten Monat ihrer Ehe entdeckt Gertrud Morel, dass sie von Walter darüber getäuscht wurde, dass er das gemeinsame Haus abbezahlt habe. Sie stellt ihn zur Rede. Er weicht aus und antwortet nicht: »He had told her he had a good bit of money left over. But she realized it was no use asking questions. She sat rigid with bitterness and indignation.« (Chapter I, S. 20) In ihrer Empörung gegenüber Walters willkürlicher Macht bittet sie seine Mutter um Aufklärung, wird aber abweisend behandelt. Walters Mutter verteidigt ihren Sohn: »The young wife was silent. She said very little to her husband, but her manner had changed towards him. Something in her proud, honorable soul had crystallised out hard as a rock.« (Chapter I, S. 21) Die strukturelle Gewalt der Männerwelt wird in der unpersönlichen Sprache dieser Stelle deutlich [»The young wife … her husband …«]. Aus der durch Willkür und Verhärtung entstehenden Entfremdung der Eheleute wächst nach sieben Ehemonaten die Verachtung Mrs Morels gegenüber Walter. Es kommt zu »bloody battle[s]« (Chapter I, S. 22), die bewirken, dass Gertrud Morel sich ihrem Sohn William zuwendet (Chapter I, S. 22). Später, nach dessen Tod, bindet sie Paul emotional an sich. Eine weitere Szene, die Zeichen väterlicher Willkür aus der Mischperspektive zwischen narrativer Stimme und Mrs Morell zeigt, ist die, in der Walter seinem einjährigen Sohn die Locken abschneidet, auf die Mrs Morel so stolz ist,

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heben sie doch William aus der Gruppe der Bergarbeiterkinder heraus. Wütend fährt sie Walter an: »›I could kill you, I could!‹ she said. She choked with rage, her two fists uplifted.« (Chapter I, S. 24) Der lebensbedrohliche Konflikt zwischen Gertrud und Walter Morel kann nicht auf eine Deutung als psychologischer Konflikt reduziert werden. In Walter Morels Verständnis hat er das Recht, seinem Sohn die weiblich wirkenden Locken abzuschneiden. An dieser wie an den weiteren Konfliktszenen kommen asymmetrische Wertkonflikte zum Ausdruck, die traditionelle, konventionelle Herrschafts-, Rollen- und Identitätsverständnisse in einer Lebenswelt der Bergarbeiter zum Ausdruck bringen. Aus diesen heraus entwickeln sich Pauls Individualität und Identitätskrise. Für Mrs Morel gibt es zwei tröstende und kurzfristige Möglichkeiten, das Elend und die Armut ihrer Ehe mit Walter Morel zu transzendieren. Zum einen sind dies ihre Gespräche mit dem örtlichen Vikar, dem sie scharfsinnige Ratschläge für seine Predigten gibt. Und es ist ihre zeitweilige Mitgliedschaft in der Women’s Co-operative Guild, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Gegen die herabwürdigend höhnischen Kommentare der Männerwelt zeigt sie sich hier als geschickte Organisatorin und Rednerin. Zwei weitere langfristig wirkende Transzendierungsmöglichkeiten finden sich in ihrer Sensibilität gegenüber natürlichen Phänomenen und in der Bindung ihres Sohns Paul an sich, wodurch sie ihn emotional und sozial vom kollektiven Leben der Bergarbeiterwelt unterscheiden und davon abheben möchte. Ihre Natursensibilität wird in der oft zitierten Szene deutlich, in der der betrunkene Walter Morel seine Frau in einer Augustnacht aus dem Haus wirft und sie sich, ausgeschlossen, im Garten am Haus befindet: »The moon was high and magnificent in the August night. Mrs Morel, seared with passion, shivered to find herself out there in a great, white light that fell cold on her […]. At last, after an hour, she rapped long and low at the window […].« (Chapter I, S. 33–36) In dieser großen pastoralen Szene ist Mrs Morel mit Paul schwanger. Ausgestoßen aus der Normalität des Familienlebens und des Hauses, muss sie die entfremdete Realität ihres Lebens als Individuum transzendieren. Wegen ihrer visionären Fähigkeiten wird sie ihre Söhne William und Paul dazu erziehen, in den Mittelstand aufsteigen zu wollen. Entsprechend unterstützt sie sie gegen Walter Morel, der will, dass seine Söhne Grubenarbeiter werden. Da ihr ältester Sohn William diesem Druck, der dadurch gestützt wird, dass Mrs Morel seine Beziehung zu Lily ablehnt, nicht standhalten kann, erkrankt er schwer und stirbt. Pauls emotionale Bindung an sie hingegen verläuft

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ganz in ihrem Sinne: Pauls Identitätsentwicklung entsteht aus dem Willen und den Gefühlen seiner Mutter. In der synästhetisch gestalteten Naturszenerie außerhalb des Dorfes, in der sie ihm seinen Namen gibt, kommt sie mit ihrem Baby Paul an der Brust ganz zu sich selbst, ist individualisiert abgewandt von ihrem Mann: »The sun was going down. Every open evening, the hills of Derbyshire were blazed over with red sunset […] With Mrs Morel, it was one of those still moments when the small frets vanish, and the beauty of things stand out, and she had the peace and the strength to see herself.« (Chapter II, S. 50) In einem visionären Augenblick entsteht zwischen ihr und dem Baby eine Liebesbeziehung, die bis zu ihrem Tod anhält: »The baby was looking up at her. It had blue eyes like her own […]. Its deep blue eyes, always looking up at her unblinking, seemed to draw her innermost thoughts out of her.« (Chapter II, S. 50–51) Diese Symbiose, die in der Naturempfindung Mrs Morels synästhetisch eingebettet ist, wird durch die Perspektivenmischung zwischen Erzähler und Mrs Morel in eine emphatische Handlung aufgelöst: Gertrud Morel reißt das Kind hoch gegen die rote Sonne, die den Rand des gegenüberliegenden Hügels beleuchtet: »She thrust the infant forward to the crimson, throbbing sun, almost with relief. She saw him lift his little fist.« (Chapter II, S. 51) Mit dieser ganzheitlichen Erfahrung ist der Pakt zwischen Mutter und Sohn gegen die Welt der Männer, gegen die Welt der Bergarbeiter, gegen Walter Morel biblisch geschlossen. Gertrud Morel möchte ihr Baby in Gedanken an den alttestamentarischen Erzvater und Herrscher über Ägypten zunächst Joseph nennen. (Chapter II, S. 50; Genesis 37–41) Man kann das Bild des gegen die untergehende Sonne emporgerissenen und gehaltenen Babys als Opfergestus, als Transzendierungsgestus und als Protesgestus mehrdeutig verstehen. Gertrud Morel erscheint in dieser Naturszene als Exilierte, die in dieser Ganzheitserfahrung zu einem Glauben an sich selbst kommt, der sie bis zu ihrem Lebensende stärkt und Pauls Weg als Grenzgänger zwischen Tod und Leben, Abstraktem und Konkretem, alttestamentarischem Herrscher und modernem Sinnsucher, männlichem Chauvinismus und sensiblem Künstler kulturkritisch [»his little fist«] vorzeichnet. Diese brisant transzendierende, narrative Gemengelage spricht Rezipientinnen des dritten Lebensalters, zwischen Melancholie und Rebellion pendelnd,101 an. Vor 101 | H. Nutt: »›Die Ruinenkinder ließen sich von Adorno durch die Hölle führen‹. Der Soziologe Heinz Bude über Herkunft und Mentalitätshintergrund der 68er-Ge-

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dem Hintergrund, dass Walter Morel »brings into the home the callous individualism of a wider society«102, steht Gertrud Morel dafür ein, dass die innerfamiliären Konflikte »must be fought out within a shared area of living«103 innerhalb der Familie und im sozialen Kontext der Welt der Bergarbeiter, einer Welt, in der persönliche und soziale Kontexte »each act […] on and modif[y] the other«.104 Diese wechselimplikative Dynamik zwischen Familie, Individuen und Arbeitswelt bestimmt die episodisch ineinander greifenden und gegeneinander verschobenen narrativen Modi des Romans Sons and Lovers in spielerischer Umkreisung des Motivzusammenhanges von Not, sozialen und familiären Zwängen und deren transitorischen Überwindungsmöglichkeiten. Angesetzt werden diese in der Perspektivenüberblendung von narrativer Stimme, Paul Morel und Miriam Leiver im ersten Teil des Romans. Die enge Beziehung zwischen Mrs Morel und Paul weitet der Roman mit dem heranwachsenden Paul im zweiten Teil zu einer Beziehung zweier durch Paul und Mrs Morel miteinander verbundener erotischer Dreiecke aus: zwischen Paul Morel, seiner Mutter und Miriam mit ihrer mehrdeutigen Spiritualität sowie zwischen Paul, seiner Mutter und Clara mit ihrer mehrdeutigen Sinnnlichkeit. In diesen durch Paul und Mrs Morel miteinander verknüpften Dreiecken bildet Baxter in seiner elementaren Vitalität ein archaisches Gegengewicht gegen Miriams Gottesfurcht. Paul pendelt haltlos in beiden Beziehungsdreiecken, deren Teil er ist, hin und her. Die Ausweitung beginnt im ersten Teil des Romans damit, dass Mrs Morel den 14-jährigen Paul nach Nottingham zu einem Einstellungsgespräch in Jordans Fabrik, einem orthopädischen Produktionsbetrieb begleitet. Paul findet dort eine Anstellung in Jordans Büro, kann sich aber trotz der guten Kontakte zu den Arbeiterinnen innerlich nicht von seiner Mutter lösen. Wenn Paul abends nach Hause kommt, erzählt er seiner Mutter von seinen Arbeitstagen in der Fabrik. Diese Berichte kommen ihr vor wie die Erzählungen der »Arabian Nights« (Chapter V, S. 140; Herv. i. O.). Mrs Morel entdeckt ein anderes beyond in der modernen ökonomischen Struktur eines industriellen Zentrums. Die Intensivierung der Beziehung zwischen Paul und seiner neration«, in: Frankfurter Rundschau, 31. 01. 2018, 74. Jahrgang, Nr. 26, S. 30– 31, hier: S. 31. 102 | T. Eagleton: Exiles ebd., S. 194. 103 | T. Eagleton: Exiles ebd., S. 193. 104 | T. Eagleton, Exiles ebd., S. 194.

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Mutter setzt sich fort im ländlich-pastoralen Gebiet jenseits der Fabrik und des industriellen Kohleabbaus. Mrs Morel und Paul treffen auf der Willey Farm auf Miriam Leivers und ihre Familie. Mutter und Sohn gehen dorthin wie in der nicht nur äußeren Erscheinung eines Liebespaares (Chapter VI, S. 150–153). Sie reagieren beobachtend auf die von menschlicher Aktivität belebte industrielle Landschaft. Paul hält inne und zeichnet diese Landschaft, transformiert – wie der Roman Sons and Lovers – diese Landschaft in ein Kunstwerk, das von seiner Mutter nicht beachtet wird (Chapter VI, S. 152). Die lebendige Liebe Pauls zu seiner Mutter tötet seine Kunst: Leben ist in Pauls Mutterbeziehung wichtiger als Kunst. Beide verlassen die Industrielandschaft und gehen »over a little bridge into a wild meadow« (Chapter VI, S. 153). In einer pastoralen Welt treffen sie – durch den Übergang von der Industrielandschaft in die pastorale Landschaft – auf die Familie der Leivers und die etwa 14-jährige Miriam [»She was about fourteen years old«, Chapter VI, S. 154]. Die ungenaue Angabe ihres Alters lässt auf eine Mischperspektive Pauls und des Erzählers auf diese Figur schließen. Ihre Komplexität wird durch diese Perspektivenüberblendung hervorgehoben. Paul romantisiert und idealisiert Miriam, während sie zugleich in der bäuerlichen Lebenswelt, die von familiären Spannungen geprägt ist, arbeiten muss. Miriam ist in dieser Doppelperspektive schüchtern, sinnlich schön und herablassend, ähnlich wie später ihre Spiegelfigur Clara im erotischen Beziehungsdreieck zwischen Paul, Mrs Morel und Clara. Miriam hat eine wohlklingende Stimme (Chapter VI, S. 154–155). Sie regt Pauls männliche Überheblichkeit an; das zeigt die Szene, in der er Miriam ermutigt, die Hühner aus der Hand zu füttern (Chapter VI, S. 157). Und sie regt, zu Beginn des zweiten Teils des Romans, seine sinnliche Intellektualität als Künstler an. Miriam zeigt ein aktives Interesse an Pauls Kunst, das er bei seiner Mutter erst später findet (Chapter VII, S.  179–180), von der Erzählstimme inversiv gegen die Mutter gewendet: Kunst ist lebensrettend wichtigerer als Leben. Miriams Interesse beleuchtet für die Rezipientinnen des dritten Lebensalters Grenzsituationen Pauls, in denen er sich zwischen Tod und Leben befindet: »›Wasn’t it lovely, mother?‹ [Paul] said, quietly. A thin moon was coming out. His heart was full of happiness till it hurt. His mother had to chatter, because she too wanted to cry with happiness.« (Chapter VI, S. 158) Diese im epischen Vorgriff auf die Ablehnung Miriams durch Mrs Morel und ihre lange Sterbeszene am Ende des Romans gestaltete Liebeserklärung Pauls an seine Mutter wird sich im zweiten Teil des Romans invers gegen die durch die

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seine intensive Mutterbindung bewirkte Selbstblockade gegenüber sexuell attraktiven anderen Frauen wie Miriam und Clara richten. In Paul entsteht ein selbstzerstörerischer transitorischer Selbstwiderspruch zwischen künstlerischer Kreativität und männlicher Suprematie, Energien, die er seinem Übervater Walter abzieht. Unterstützt von seiner Mutter weigert sich Paul, wie Walter Morel Bergarbeiter zu werden. Diese verwickelte, selbstwidersprüchliche Komplexität schlägt auf Sprache, Stil und Ausdrucksenergie des Romans Sons and Lovers durch. Der Roman pendelt ambivalent hin und her, Rezipientinnen des dritten Lebensalters verwirrend und diskursanregend, zwischen beobachtendem Staccato und Überheblichkeit, lyrisch-pastoral sinnlichen Szenen und distanzierten Zustandsbildern, episodischen überraschenden Einschüben und situativ gedehnten Detailschilderungen.

Der zweite Teil des Romans: Dilemmastruktur, die sich aus den erotischen Dreiecksbeziehungen ergibt In den Kapiteln VII–XV, die den zweiten Teil des Romans Sons and Lovers ausmachen, entwickelt sich Paul »from childhood into manhood« (Chapter VII, S.  177) zum Künstler und Grenzgänger zwischen Leben und Tod, und zwar in variierenden chronologisch gegeneinander verschobenen Episoden, die sich zu einem sich wechselweise schließenden und potenziell öffnenden Teufelskreis als rekursive Denkfigur des Romans formieren. Narrativ wird diese Denkfigur in Pauls Dilemma dynamisiert und verdichtet: Er kann den Teufelskreis nicht auflösen, weil er unter der Bedingung der Liebe zu seiner Mutter und aufgrund der ausweglosen, durch Not und Armut geprägten sozialen Situation der Welt der Bergarbeiter gesellschaftlich fremdbestimmt und familiär orientierungslos ist und deshalb nicht zu der Ursache seiner dilemmatischen Situation vorstoßen kann. Familiär und gesellschaftsbezogen liegt diese dilemmatische Situation in der für Paul unlösbaren Ambivalenz, die Erwartungen seiner Mutter an ihn als Ersatzliebhaber erfüllen zu müssen und sich, in dieser Fremdsteuerung, von ihnen zugleich durch seine erwachende Sexualität und das damit einhergehende Begehren gegenüber anderen Frauen [Miriam, Clara, die Frauen in der Fabrik, die Mädchen im Wirtshaus] absetzen bzw. distanzieren zu wollen. In den Dreiecksbeziehungen zwischen Paul, Mrs Morel und Miriam sowie Paul, Clara und Mrs Morel entsteht eine durch Pauls unlösbaren Ambivalenzkonflikt treibende Dy-

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namik zwischen Herrschaft und Unterwürfigkeit, Begehren und Aggression, die Pauls Orientierungslosigkeit verstärkt und seine transitorische Identität als Künstler und Grenzgänger formt. Kapitel VII–XV stellen dar, »how identity is formed interpersonally […] and the way in which potentially protean selves are reduced to smaller, more defensive entities«.105 Entsprechend entwickelt sich der episodisch verknüpfte Erzählbogen des zweiten Teils von Pauls heranwachsender Männlichkeit über den sich entwickelnden Künstler in seinen Beziehungen zu Miriam, Claudia und seiner Mutter bis hin zum Tode der Mutter. Das offene Ende des Romans zeigt den zugleich verzweifelten und befreiten 25-jährigen Grenzgänger Paul, der zweifelnd, selbstbewusst erneut Kontakt zum gesellschaftlichen Leben im Dschungel einer größeren Stadt sucht. Der expressionistisch-subjektive Realismus des zweiten Romanteils hebt in der Verknüpfung von visuell photographischer Genauigkeit und Expressivität den Selbstwiderspruch Pauls hervor, der ihn zerreißt: Durchgängig variieren die Kapitel VII–XV Pauls verzerrte Weltsicht, dass Mrs Morel seine einzige Liebe und alleiniger Halt seines Lebens sei. Gerade dieser Halt entzieht ihm den Boden und stürzt ihn in einen krisenbesetzten Ambivalenzkonflikt. Stilistisch gesehen besteht Pauls verzerrte subjektive Weltsicht darin, dass er in einer filmischen Einstellung der Totalen fremdbestimmt und orientierungslos ist, sich aber in einem filmischen Close-up für selbstbestimmt hält und sich dennoch als orientierungslos empfindet. Diese narrative Überblendung von Totaler und Close-up, die den Erzählbogen des Romans und die Selbstwahrnehmung Pauls aufeinander durchsichtig werden lassen, bringt Handlungen und Verhaltensweisen in konkreten Situationen als spontane Gefühlsturbulenzen zum Ausdruck. Aus diesen Turbulenzen entstehen die Selbstverkennung Pauls und seine verzerrte Sicht auf Miriam, Clara, seine Mutter, Walter Morel, Baxter Dewes und sich selbst. Er nimmt weder Miriam noch Clara oder Baxter Dewes als Individuen wahr. Vielmehr perspektivieren der Erzähler und, diesen überblendend, Paul die jeweiligen Bezugspersonen in individualisierter, auf Paul rückbezogener Sichtweise. In dieser ambivalenten Perspektivverzerrung, die das Ich für ein Du hält und dem Du die Schuld an der Misere des Ichs zuschiebt, ein Sündenbockmechanismus, 105 | R. Rylance: »Ideas, histories, generations and beliefs: the early novels to Sons and Lovers«, in: A. Fernihough (Hg.): The Cambridge Companion To D.H. Lawrence. Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 15–31, hier: S. 27–28.

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der aus der oben beschriebenen Kapitulation Pauls folgt, sucht Paul nach einer orientierenden Weltsicht und bildet in sich die Charakterstruktur eines selbstwidersprüchlichen, sich selbst verkennenden Suchers aus: Er findet sich wieder und wieder an seine Mutter gebunden, die er wie Miriam vergöttert und hasst. In den Kapiteln VII–XIV bewegt Paul sich von seiner Charakterstruktur und verzerrten Weltsicht her in einem erzählerisch sich in Varianten öffnenden und schließenden Dilemma. Sons and Lovers ist expressionistisch in der gefühlsturbulenten Dynamik dieser Kreisbewegung. Der Roman »tends to extract essences from existence.«106 Der narrative Bruch mit Realismuskonzepten des 19. Jahrhunderts bringt in Analogie zu Hardys ästhetischer Romankonzeption ein modernes suchendes Bewusstsein zum Ausdruck, das in der Begrenzung seiner Weltsicht auf der Handlungsebene und in der Öffnung dieser Weltsicht auf der Gestaltungsebene in Bezug auf die Leserinnen zum subjektiven Ausdruck moderner Diskrepanzen wird, der im Besonderen das Allgemeine erkennt und metapsychologisch verkennt.

Chapter VII Das siebte Kapitel stellt das erwachende Begehren zwischen dem 23-jährigen Paul und der 21-jährigen – in Pauls Sicht romantisch und spirituell eingestellten – Miriam auf dem Hof der Leiversfamilie in einer pastoralen industriefernen Landschaft dar. In der Episode, in der Miriam und Paul abwechselnd schaukeln, eine zu ihrer Hühnerfütterung parallel gesetzte Episode, schaukelt Paul wild und hoch; Miriam schaukelt ängstlich verhalten. In dieser Episode beginnt eine Dynamik dominanten und unterwürfigen Verhaltens, das zwischen Begehren und Aggression wechselt und Miriam zum ersten Mal in ihrem Leben entdecken lässt, dass sie einem Mann sinnlich nahe sein möchte. Paul ist, ähnlich dem Französisch- und Algebraunterricht, den er Miriam erteilt, sexuell erregt, aber blockiert, verärgert über Miriams und seine eigene Gefühlsintensität. Paul fühlt sich von Miriam beängstigend vereinnahmt. Die Gefühlsintensität, die einer gegenüber ihr zwischen dominantem und unterwürfigem Verhalten, zwischen Begehren und Aggression spürt, wiederholt spiegelverkehrt das Dominanz- und Unterwürfigkeitsverhältnis, das zwischen Pauls Mutter und ihm besteht. Es ist eine Gefühlsintensität, die Paul nicht versteht, die ihn in der Dimension eines diagnostischen Kul106 | J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 164.

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turmodells des Unbewussten107 blockiert und orientierungslos sein lässt. Aber auch Miriam durchschaut ihre Gefühle in Bezug auf Paul nicht. So liefern sie sich beide, wie Paul und Mrs Morel, in gemeinschaftlicher Separatheit gegenseitig aus: »He was swinging through the air, every bit of him swinging […]. And he looked down at her […]. He swung negligently. She could feel him falling and lifting through the air, as if he were lying on some force […]. She felt the accuracy with which he caught her, exactly at the right moment […], and she was afraid […]. She was in his hands […]. She gripped the rope, almost swooning.« (Chapter VII, S. 181–182)

Diese in das Bild des Schaukelns gefasste Dynamik zwischen Begehren, Angst und Aggression, zwischen gefühlter und körperlicher Erfahrung transformiert das sexuelle Begehren der beiden jungen Menschen in die asymmetrische soziale Erfahrung dominanten und unterwürfigen Verhaltens. Diese Transformation verkehrt sich spiegelbildlich in Pauls Beziehung zu seiner Mutter. Er entwickelt sich zum Maler. Nachts sitzt er bei seiner Mutter und bestätigt ihr, dass er in ihrer nächtlichen Gegenwart kreativ arbeiten kann: »And he, with all his soul’s intensity directing his pencil, could feel her warmth inside him like strength. They were both very happy so, and both unconscious of it. These times, that meant so much, and which were real living, they almost ignored.« (Chapter VIII, S. 190) Unter der Bedingung der Liebe zu seiner Mutter sieht Paul nicht, dass seine Kreativität, die ein Ausweg aus seinem Ambivalenzkonflikt sein könnte, fremdbestimmt ist. Während in der Schaukelepisode die Perspektiven Miriams, des Erzählers und Pauls ineinander schwingen, mischt sich in der nächtlichen Episode die Perspektive Pauls mit der des Erzählers. Die Manipulation von Erzählperspektiven lässt deutlich werden, dass Pauls Verhalten gegenüber Miriam von der Internalisierung seiner Fremdbestimmung durch seine Mutter bestimmt ist: Er verängstigt Miriam und wiederholt das Muster, in dem er gefangen ist. Die geschickte Manipulation der Erzählperspektiven, dies gilt für den gesamten Roman, lässt die Internalisierung von Verhaltensweisen anderer und damit die Entwicklung von Identitätsmöglichkeiten durch andere – hier die Identitätsbildungsmöglichkeiten Miriams und Pauls durch ihre Mütter und deren Beziehungen zu ihren bäuerlichen bzw. bergmännischen Umge107 | P. v. Matt ebd., S. 10–14.

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bungen – in ihrem prekären Ungleichgewicht erkennbar werden: »The novel is consistently attentive to psychological conditioning through the interrelation of personalities, not least, of course, in the relationship between Mrs Morel and her sons.« (Rylance 2004: 27–28) Pauls Beziehungen zu Miriam und zu seiner Mutter fördern seine Kreativität. Sie fördern aber auch seine Selbstverblendung, die in dem identitätsbildenden Glauben besteht, beide Frauen seien die Lieben seines Lebens (Chapter VII, S. 216–217; Chapter VIII, S. 229–230). Weil Paul nicht zur Ursache seiner Fremdbestimmung und Orientierungslosigkeit vordringt, wird er – das zeigen die folgenden, insbesondere die beiden den Roman abschließenden Kapitel – in Dilemmata zwischen Miriam und seiner Mutter und sich selbst, dann zwischen Clara, seiner Mutter und sich selbst verstrickt und zum Grenzgänger zwischen Empirie und Metaphysik.

Chapters VIII–IX Ohne es zu bemerken, bewegt sich Paul in diesem dilemmatischen Teufelskreis. Er bildet sich ein, dass seine Leidenschaft für Miriam wegen ihrer Spiritualität blockiert ist (Chapter VIII, S. 226–227). Pauls Dilemma wird im zweiten Teil des Romans so gestaltet: Er liebt seine Mutter spirituell so wie sie ihn (Chapter VIII, S. 222). Seine Mutter ist eifersüchtig auf Miriam (Chapter VIII, S. 228–229, S. 230–231). Ihre Eifersucht äußert sich in Gefühlsturbulenzen, die die Empfindungen und Gefühle Mrs Morels, Pauls und Miriams wie in den Bildern Edvard Munchs apokalyptisch mit unsichtbaren Energien in drei Gefühls- und Bewusstseinszentren vermischen: »›She exults – she exults as she carries him off from me,‹ Mrs Morel cried in her heart, when Paul had gone. ›She’s not like an ordinary woman, who can leave my share in him. She wants to absorb him. She wants to draw him out and absorb him till there is nothing left of him, even for himself. He will never be a man on his own feet – she will suck him up.‹ So the mother sat and battled and brooded bitterly.« (Chapter VIII, S. 230)

Diese in Bezug auf Edvard Munchs Zyklus Eifersucht oder seine Gemälde Vampir, Madonna und Weinendes Mädchen anmutende Eifersucht der Mrs Morel, die die inkommensurablen Perspektivendifferenzen klaustrophobisch überblendet, findet in Pauls sich anschließenden Verzweiflungsszene ihre gefühlsenergetische Ausweitung:

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»And he, coming home from his walks from Miriam, was wild with torture. He walked biting his lips and with clenched fists, going at a great rate. Then, brought up against a stile, he stood for some minutes and did not move. There was a great hollow of darkness fronting him, and on the black upslopes, patches of tiny lights, and in the lowest trough of the night, a flare of pit. It was all weird and dreadful. Why was he torn so, almost bewildered and unable to move? Why did his mother sit at home and suffer? And why did he hate Miriam, and feel so cruel towards her, at the thought of his mother? If Miriam caused his mother suffering then he hated her. And he easily hated her. Why did she make him feel as if he were uncertain of himself, insecure, an indefinite thing, as if he had not sufficient sheating to prevent the night and the space breaking into him? How he hated her! And then, what a rush of tenderness and humility.« (Chapter VIII, S. 231)

In dieser expressionistischen Projektion seiner Gefühle in Nacht und Raum, die zudem an Munchs Gemälde Der Mörder in der Allee und Der Schrei gemahnen,108 vermischen sich Pauls Gefühle gegenüber seiner Mutter und Miriam albtraumartig. In dieser emotionalen Gemengelage, die Paul gelähmt an Nacht und Dunkelheit bindet, kommt er an die existenzielle Problemlage seines Lebens nahe heran – seine Mutterbindung –, verschiebt sein Begehren und seine Aggression gegenüber seiner Mutter aber auf Miriams Beziehung zu ihm: Miriam wird zum Sündenbock. Expressionistisch ist diese Stelle in ihrer gefühlsturbulenten nächtlichen Verzweiflung, die in entgrenzter Nacht und offenem Raum in kosmischen Dimensionen stattfindet;109 ein epischer Vorgriff auf das den Roman abschließende kathartische Tableau. Wegen seiner Mutterbeziehung lehnt Paul Miriams Begehren ab, das sie in ihren in französischer Sprache verfassten Liebesbriefen und körper108 | Zu den Gemälden Edvard Munchs siehe: A. Plaga: Sprachbilder als Kunst. Friedrich Nietzsche in den Bildwelten von Edvard Munch und Giorgio de Chirico. Berlin: Reimer 2008; Katalog. Edvard Munch. Der Moderne Blick. Frankfurt/M.: Schirn Kunsthall 2012; E. Schroll: »Hure oder Heilige? Das Frauenbild in den Werken Edvard Munchs«, in: Katalog: Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo. Frankfurt/M.: Städel Museum 2016/2017, S. 174–196; H.-C. Ramm: »Hellsichtig. Munch, Kafka, Chaplin. Versionen des Transzendenzverlusts«, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht XLIV, 1, 2011, S. 51–74; H.-C. Ramm: »›…Kälte atmend der Ofen…‹ ebd. 109 | J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 180–185.

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lich über ihre Hände äußert, die Paul streicheln (Chapter VIII, S. 228– 229; S. 246–247; S. 227; Chapter IX, S. 259, S. 263). Da Paul Miriam als eine seelenverwandte dream woman wahrnimmt, ist sein Begehren ihr gegenüber blockiert und aus der Blockierung heraus lehnt er Miriam ab. Da Paul sich dieser zirkulären Dynamik nicht bewusst ist – er lehnt Miriam auf der intersubjektiven Ebene ab, weil er sie psychisch ablehnt –, schiebt er, wie später auch Mrs Morel dies in Bezug auf Miriam und dann auf Clara unternimmt, Miriam die Ursache seiner Auseinandersetzung mit und der Trennung von ihr zu, nicht aber seiner Beziehung zur Mutter (Chapter VIII, S. 231–232; S. 250–251; S. 263) – eine von Peter von Matt als typisch titulierte Kapitulationskonfiguration, die sich aus der »agonalen Grundsituation zwischen dem Übervater und der Horde« ergibt.110 Im neunten Kapitel stabilisiert sich Pauls Dilemma, es zeigt aber auch Möglichkeiten zweier Auswege: Auf dem gemeinsamen Spaziergang mit Miriam und fühlt sich Paul physisch, später dann leidenschaftlich von Clara angezogen (Chapter IX, S. 289–290). Dies könnte ein erster Ausweg sein. Ein zweiter Ausweg deutet sich in der von Paul bemerkten beginnenden Krankheit seiner Mutter an (Chapter IX, S.  280; S.  281–282): Sollte sie sterben, könnte er frei werden. Jedoch stärkt der Krankheitsbeginn von Mrs Morel die Bindung zwischen ihr und Paul: »He had come back to his mother. Hers was the strongest tie in his life […]. It was as if the pivot and pole of his life, from which he could not escape, was his mother.« (Chapter IX, S.  261) Der Konjunktiv deutet an, dass Paul, ohne darauf zu reflektieren, aus der dilemmatischen Beziehung zwischen Miriam, sich selbst und seiner Mutter nicht herauskommen kann. Die Erfahrung durchkreuzter Befreiungsmöglichkeiten vertieft seinen Ambivalenzkonflikt zwischen seiner Mutterbindung und ihrer Einbettung in die Lebenswelt der Bergarbeiter und seinen Entscheidungsmöglichkeiten für ein freies Leben [Clara, Künstlertum], und sie fördert die Vertiefung seines inneren Konfliktes, sich zwischen Miriams Spiritualität, die Paul ihr ansinnt, und Claras Sinnlichkeit, die er ihr ebenfalls ansinnt, entscheiden zu müssen. Zunächst versucht Paul, seine Bindung an Miriam aufzulösen. In einem Brief bezeichnet er sie als Nonne: »See, you are a nun. I have given you what I would give a holy nun […]. In all our relations, no body enters. I do not talk to you through the senses – rather through the spirit. That is why we cannot love in the common sense.« (Chapter IX, S.  291–293, 110 | P. v. Matt ebd., S. 87.

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hier: S. 292) In der Direktheit der ersten Person Singular wird Pauls Verblendung hervorgehoben. Er übersieht, dass Miriam ihn körperlich begehrt und schiebt ihr die Schuld an beider unerfüllter Sexualität zu [»no body enters«]. In einem viel beachteten Aufsatz hebt Louis Martz hervor, dass die Erzählfigur Miriam hauptsächlich aus Pauls Perspektive entworfen ist. Zwar sei sie romantisierend angelegt, jedoch sehe Paul sie als übersprituell und damit destruktiv für eine erfüllende Liebesbeziehung an. So könne man auch nicht auf die Erzählerkommentare bauen, denn diese seien hauptsächlich als Verlängerung der Lebenshaltung und des Bewusstseins Pauls gestaltet. Daher, so Martz’ Schlussfolgerung, könne man dem Realismus des Romans nicht trauen. Niemand könne sagen, wo die Wahrheit dieses Romans liege.111

Chapters X–XIII Die Kapitel X–XIII stellen die Durchkreuzung weiterer Auswegsmöglichkeiten aus dem Teufelskreis dar, in dem Paul sich durch seine Mutterbindung befindet. In Kapitel X geht es zunächst um den sozialen Aufstieg der Familie Morel. Der 23-jährige Paul gewinnt als Maler einen ersten Preis auf einer Ausstellung in Nottingham und wird von der Ehefrau des Fabrikbesitzers, Mrs Jordan, zum Dinner eingeladen. Für Paul und seine Mutter bedeutet diese Geste einen gemeinsamen Triumph und für Mrs Morel den physischen Beweis ihrer stolzen Geisteshaltung als »lady« (Chapter X, S.  298). Mrs Morels Wunsch, dass Paul in den Mittelstand aufsteigen möge, wird in einem langen Gespräch zwischen den beiden erörtert. Dieses Gespräch dreht sich um die Bedeutung sozialer Klassen und des Lebens. Mrs Morel schlägt Paul vor, er solle sich nach einer Ehefrau aus dem Mittelstand umschauen, um aus seiner Krise der Haltlosigkeit herauszukommen (Chapter X, S. 298–299). Mit diesem Vorschlag, dessen Selbstwidersprüchlichkeit Mrs Morel nicht durchschaut – Pauls Haltlosigkeit hat ihre Ursache in der engen Bindung an seine Mutter –, instrumentalisiert sie ihren Sohn, um ihre eigenen Aufstiegschancen durchsetzen zu können. Paul verweigert diesen Vorschlag. Er fühlt sich den einfachen Menschen zugehörig, weil der Unterschied zwischen den Menschen in ihrer Subjektivität, ihrem Hass und ihrer Liebe liege, nicht im Klassenunterschied (Chapter X, S.  298). Mit diesem Einspruch be111 | L. Martz: »A Portrait of Miriam: A Study in the Design of Sons and Lovers«, in: R. Rylance (Hg.): New Casebooks. Sons and Lovers ebd., S. 49–73.

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stätigt Paul, ohne es zu bemerken, seine Mutterbindung, weil Mrs Morel als Zentrum der Familie Morel die Verbindungen zur Umwelt der Bergleute aufrechterhält und erhalten muss. Zudem romantisiert Paul in ihrem Schutz die Welt der Bergleute und bekundet damit, ohne es zu bemerken, Sympathie mit seinem verhassten Vater, ein, wie oben erläutert, von Freud diagnostizierter Ambivalenzkonflikt zwischen Hass und Liebe seitens der Brüderhorde gegenüber dem Urvater. Im weiteren Verlauf des zehnten Kapitels besucht Paul Clara bei ihrer Mutter. Mit diesem Besuch könnte sich ein weiterer Ausweg aus Pauls Krise öffnen. Paul ist fasziniert von Claras Gegensätzlichkeit. Ihm gegenüber erscheint sie distanziert, ihrer Mutter gegenüber unterwürfig. In der Fabrik, in der Paul und Clara arbeiten, erscheint sie ihm unnahbar und als verbitterte, einsame Frau. Sie werden Freunde. Paul versteht nicht, warum er sich von dieser sleeping woman so angezogen fühlt. Sexualität ist ihm fremd, ist für ihn ein mysteriös abgedunkelter Teil seiner selbst. Deshalb wirkt Claras erotische Ausstrahlung auf ihn betäubend. Da er keine sexuellen Erfahrungen mit Frauen hat, glaubt er, dass er seelisch doch Miriam angehören sollte (Chapter X, S. 318–319). Durch seine Freundschaft mit Clara vermeint Paul, seine Freundschaft mit Miriam verstehen zu können. Er bespricht mit Clara, dass Miriam seine Seele vereinnahmt. Clara bezweifelt diese Seelenverwandtschaft und betont, dass Paul seine Beziehung zu Miriam missversteht. Miriam wolle Paul nicht spirituell vereinnahmen, sie wolle ihn ganzheitlich absorbieren (Chapter X, S. 320–321). Kapitel X stellt zwei weitere Auflöungsmöglichkeiten der Krise Pauls dar, die sich gegenseitig durchkreuzen. Die beginnende Freundschaft mit Clara, die eine Ablösung von seiner Mutter nahelegt, ist die eine Möglichkeit. Die Chance des Aufstiegs in den Mittelstand die zweite. Beide Auswege sind jedoch ambivalenzbesetzt: Mit der Beziehung zu Clara geht Paul eine problematische Abhängigkeitsbeziehung ein; einmal, weil sie eine verheiratete Frau ist, und zweitens, weil Paul seine Mutterbindung nicht bewältigt hat. Mit der Aufstiegschance in den Mittelstand intensiviert sich Pauls Mutterbindung deswegen, weil er sich von seiner Mutter instrumentalisieren lässt, auch wenn er ihr widerspricht. Die Diskrepanz zwischen beiden Auswegen verschärft Pauls Krise. Sie vertieft seine Haltund Orientierungslosigkeit in der archaischen Ambivalenz gegenüber seinem in diesen Szenen abwesenden Vater. Im elften Kapitel scheitert eine weitere Möglichkeit, Pauls Dilemma zu durchbrechen. Paul und Miriam erwägen eine Eheschließung, die

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aber für ihn aus finanziellen Gründen nicht zustande kommen kann. Er unterstützt seine Familie mit einem Teil seines Lohnes, den er in der Fabrik verdient. Die Ehe kann auch nicht aus gegenseitigen emotionalen Erwägungen zustande kommen. Im Hause von Miriams Großmutter gestehen Miriam und Paul sich die Vergeblichkeit ihrer Beziehung ein. Sie beruht auf gegenseitiger innerer Distanzierung (Chapter XI S. 326–327, S.  330, S.  331–332, S.  334–335, S.  337, S.  338–339) trotz der physischen Befriedigung Pauls und wegen Miriams Unterwürfigkeit (Chapter XI, S. 327–328, S. 330, S. 334). Paul fühlt sich von Miriam verraten, weil er bisher geglaubt hat, dass sie ihn wie einen Helden liebte, während sie ihn für ein Kind hält: »He sat in silence. He was full of a feeling that she had deceived him. She had despised him when he thought she worshipped him […]. All these years, she had treated him as if he were a hero, and thought of him secretly as an infant, a foolish child. Then why had she left the foolish child to his folly? His heart was hard against her. She sat full of bitterness. She had known – oh, well she had known. All the time he was away from her […]. Even she had guarded her soul against him.« (Chapter XI, S. 342)

Im Perspektivensprung, der von Pauls free indirect speech zu Miriams free indirect speech wechselt, wird Pauls Fehleinschätzung seiner Beziehung zu Miriam deutlich, auf die ihn zuvor bereits Clara aufmerksam machte. Das Scheitern eines weiteren Ausweges für Paul besteht darin, dass aus der Spannung zwischen Begehren und Aggression eine unausgesprochene, wechselseitig aggressive Haltung entsteht, die trotz des sexuellen Kontakts zwischen Miriam und Paul keine ganzheitliche Erfüllung findet. Da die Seelenverwandtschaft zwischen ihnen, wie sich später herausstellt, noch nicht zerbrochen ist, fühlt sich Paul von Miriam hintergangen. Er schiebt ihr damit erneut die Schuld für das Zerbrechen ihrer Beziehung zu, weil er nicht auf seine problematische Mutterbeziehung reflektiert. Der Teufelskreis, der sich schrittweise hätte auflösen können, schließt und stabilisiert sich erneut durch Pauls Selbsttäuschung – er fühlt sich von Miriam verraten. Mrs Morel bestätigt Pauls Verhalten gegenüber Miriam. Weil sie ihm zuvor eine Ehefrau aus dem Mittelstand angesonnen hatte, hält sie den Bruch zwischen Paul und Miriam für das Beste, was Paul passieren konnte: »›I told her,‹ he said. ›I’m glad!‹ replied the mother with great relief […]. ›It’s hard for her now, but best in the long run.

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I know. You weren’t suited for her‹.« (Chapter XI, S.  344) Im zwölften Kapitel scheint sich Pauls Dilemma in drei Auswegsmöglichkeiten erneut zu öffnen: durch seinen Erfolg als Künstler; als 25-jähriger beginnt er mit seiner Kunst Geld zu verdienen. Weiterhin durch die körperlich erfüllende sexuelle Beziehung zu der 30-jährigen, mit Baxter Dewes verheirateten Clara sowie durch die deutlich werdende, dann tödlich verlaufende Krankheit seiner Mutter. Da Paul sich aber noch nicht von seiner Mutter gelöst hat und er sich Miriams Geist trotz seiner sexuellen Beziehung mit Clara verwandt fühlt (Chapter XII, S. 359–360, S. 369–371) – dies ist Pauls Reaktion auf die Kritik seiner Mutter an Miriam –, bleiben ihm diese drei Auswegsmöglichkeiten versperrt. Pauls Ambivalenzkonflikt zwischen seiner Mutterbindung und seiner sexuell kathartischen Beziehung zu Clara, vertieft, durch seine Seelenverwandtschaft mit Miriam, Pauls existenziell quälenden Grundkonflikt, auf den er nicht reflektiert. Seine Mutter und Paul selbst durchkreuzen zum wiederholten Male seine Autonomiebildungsmöglichkeiten. Im dreizehnten Kapitel wiederholt sich das episodisch durch Vor- und Rückgriffe verschränkte Muster zwischen Begehren und Aggression in der Parallelsetzung des archaischen Kampfes zwischen Baxter Dewes und Paul und der heftigen sexuellen Begegnung zwischen Paul und Clara. Der Kampf zwischen den beiden Männern findet am gleichen Ort statt, in der Dunkelheit auf einer Weide, an dem sich Clara und Paul zuvor heftig geliebt haben. In dieser Parallelsetzung treffen Aggression und Begehren als überpersönliche Erfahrungen der Wut und des sexuellen Instinkts aufeinander und durchkreuzen erneut Pauls Auswegsmöglichkeiten. Das streunende Bewusstsein des unzuverlässigen Erzählers [»disseminated consciousness«, Chapter VIII, S. 232] widmet Baxter Dewes, dem von Clara getrennt lebenden Ehemann, ein ganzes Kapitel. Welchen Stellenwert hat Baxter im Romanganzen? Baxter könnte nach seiner Entlassung aus der Jordan Fabrik Nottingham verlassen und beispielsweise nach London gehen. Damit wäre diese Figur aus dem Romankosmos verschwunden und im gesellschaftlichen Unbewussten, ins Proletariat eingetaucht worden. Das Gegenteil aber ist der Fall. Eine Antwort auf die Frage nach dem Stellenwert dieser Erzählfigur erhält man, wenn man sie im Romanganzen zu verstehen sucht. In den Gesprächen zwischen Paul und Clara ist Baxter eines der Hauptthemen. Vor seiner Entlassung arbeitete er als Kollege Pauls und als Schweißer in der orthopädischen Fabrik Jordans, in der Paul mittlerweile Aufseher in der Büroabteilung ist. Dort

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trifft er Baxter als Rivalen. Baxter spioniert Clara und Paul nach [Theaterbesuch] und ist als entlassener Arbeitsloser immer in gefährlicher Nähe des Paares. Damit ist eine erste Antwort auf die Frage nach dem Stellenwert der Figur im Romanganzen gefunden: Baxter verschärft dramatisch Pauls unlösbares Problem, das darin besteht, dass Paul sich zwischen Clara, Miriam und seiner Mutter in Selbstzweifeln und in Verstrickungen befindet, aus denen er nicht herauskommen kann. Hier schließt sich eine zweite Antwort an: Als gefährliche Vordergrundfigur für Paul und als Hintergrundfigur für Clara ergänzt Baxter Claras Vitalität auf elementare Weise – eine Vitalität, ohne die Clara ihre vitale, aber durch Arbeit und ihr Leben mit ihrer Mutter zivilisierte Beziehung zu Paul nicht aufrechterhalten könnte (Chapter XIII, S. 403–405). Drittens ist Baxter das sinnlich brutale Gegenbild zu Pauls zivilisatorischen Möglichkeiten, sich aus seiner problematischen Mutterbeziehung zu befreien (Chapter XIII, S. 393, S. 406). In einer narrativ dramaturgischen Steigerung repräsentiert Baxter, im Gegensatz zu Pauls intellektualisierter Sinnlichkeit, eine vorzivilisatorische Vitalität, die Sinn und Kommunikation verweigert – beide empfinden sich nach ihrer Schlägerei als Männer, die nackt aufeinander getroffen sind: »The eyes of the two men met. They exchanged a look. Having recognized the stress of passion each in the other, they both drank their whiskey […]. They shared the same bedroom.« (Chapter XIV, S. 447–448) Aus dieser archaischen Gemeinsamkeit zwischen Paul und Baxter, die ihre zivilisatorische Gegensätzlichkeit als Rivalen thematisiert, ergibt sich ein wichtiger Aspekt des Stellenwertes der Baxterfigur im Romanganzen: In den beiden erotischen Dreiecken, in die Paul verstrickt ist, bildet Baxter in seiner elementaren Vitalität ein archaisches Gegengewicht, das die beiden Dreiecke, zwischen denen Paul haltlos hin und her pendelt, im Gleichgewicht hält. In seiner mangelnden Sensibilität gegenüber Paul und seinem Chef in der Fabrik sowie gegenüber Clara, der er hinterherspioniert, steht Baxter für ein »herabgesetztes Bewusstsein«112, das unempfänglich für zivilisatorische Übereinkünfte ist. Erst nach Pauls und Claras Trennung kann Baxter in Verbindung mit Clara empfänglicher für die zivilisatorische Rationalität der Moderne werden. Baxter stabilisiert Pauls Haltlosigkeit zwischen den erotischen Dreiecken mit Clara und seiner Mutter sowie Miriam und seiner Pauls Mutter dadurch, dass er Clara zur Seite steht. Clara willigt am Schluss in eine er112 | C. Caudwell: Studien ebd., S. 55.

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neuerte Ehebeziehung mit Baxter ein (Chapter XIV, S. 453). Damit wird Baxter zum Gegengewicht zu der anderen Seite der beiden erotischen Dreiecke, an dessen Spitze Miriam einen sie stärkenden und stabilisierenden Gottesbezug zur Seite hat (Chapter XIV, S. 447, S. 458). Die Scapegoatfigur Baxter tritt aus Pauls Sicht in Gegensatz zur gottesgläubigen Sublimierungsenergie Miriams. Miriam wird durch ihren Glauben an Gott, Clara durch ihren Glauben an Baxter [sie liebt ihn nicht] stabilisiert. Aus Sicht des gesamten Romans Sons and Lovers verengt Miriam die Gefühlsund Bewusstseinsmöglichkeiten der Moderne, sie ist kurzsichtig. Demgegenüber erweitern Clara und Baxter, spätere Grundfiguren der Romane Lawrences antizipierend, Gefühle ins bewusst-bewusstlos Elementare. Paul aber pendelt erneut zwischen intellektualisierter Sinnlichkeit und Vitalität. Während Baxter auf der Darstellungsebene die Funktion von Pauls Rivalen und der Scapegoat für ihn zukommt, kommt ihm auf der Gestaltungsebene die Funktion zu, das Gleichgewicht in den beiden erotischen Dreiecken zu halten. Auf der Schnittlinie zwischen Darstellungsund Gestaltungsebene wird Baxter darüberhinaus zum symbolischen, gewalttätigen Übervater, der in sprachbildlicher Metonymie des Walter Morel auf beiden Ebenen angesiedelt ist. Ähnlich wie Walter Morel kommt Baxter aus dem Proletariat, er ist Schmied; wie Walter hasst er Autoritäten; wie Walter ist er unberechenbar, gewalttätig und archaisch; ferner gibt Baxter, wie Walter Morel, seiner Frau Clara Anlass, sich von ihm zu trennen, ohne die Ehe aufzugeben. Die Analogie mit Walter Morel wird zudem durch die Differenz hervorgehoben, dass Baxter nicht, wie Walter, mit einem beruflichen Milieu durch Solidarität und Konkurrenz verbunden ist, sondern, in Analogie zu Paul, der seit Romanbeginn ein vaterloser Geselle ist, als Individuum hervorgehoben wird. Diese agonale Überblendung von Baxter als Übervater, Rivale und Paul als vaterlosem Gesellen hat ihre Wurzeln in den Kämpfen zwischen Walter Morel und seinen Söhnen im ersten Teil des Romans. Die Kinder Paul und William fürchten sich vor ihrem Vater, sie hassen ihn: Paul fürchtet und hasst Walter Morel vom Kleinkindalter an. Dieser will ihn verprügeln, aber Gertrud Morel verbietet es ihm (Chapter III, S. 63–64). Walter Morel will William wegen eines unbedeutenden jugendlichen Vergehens brutal schlagen, »suddenly Morel clenched his fist and crouched«, Mrs Morel aber tritt mit erhobener Faust zwischen den animalisch wirkenden Vater und seinen kampf bereiten Sohn (Chapter III, S.  67–68). Paul kommt eines Abends nach Hause und sieht, dass Walter Morel seiner Frau ein

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blaues Auge geschlagen hat. Ein brutaler Kampf zwischen dem dazu kommenden William und seinem Vater entspinnt sich, wird aber von Mrs Morel unterbrochen und unterbunden. Walter Morel erhält erneut animalische Züge [»an ugly, almost beast-like fashion«, (Chapter IV, S. 83)]. In diesen parallel gestalteten Szenen wird Walter Morel in Anspielung auf den Mythos als gewalttätiger Übervater gestaltet, den die Brüderhorde tötete. Diese Assoziation entsteht durch die Erzähltechnik des Romans, die inhaltlich ähnliche oder unterschiedliche Episoden, die zudem zeitlich auseinander liegen, in Perspektivenmischungen überblendet.113 Freud führte »das menschliche Schuldgefühl auf die Tötung des Urvaters zurück […]«.114 Schuldgefühle und Reue sind nach Freud, wie oben erläutert, als Reaktionen auf die Vatertötung durch die archaische Brüderhorde entstanden. Infolge ihrer Reue über den Vatermord habe die Brüderhorde das Inzesttabu an die Stelle der Gewalt des Urvaters und das Gewissen an die Stelle der äußeren Autorität gesetzt. Lawrences Roman Sons and Lovers kehrt diese Perspektive in der agonalen Überblendung von Baxter als Übervater, Rivale und Paul als vaterlosem Gesellen um [Lawrence beschäftigte sich erst 1920 mit Freud, also sieben Jahre nach dem Erscheinen des Romans]. Nicht Schuld und Gewissen folgen aus dem in Sons and Lovers ausgefochtenen lebensbedrohlichen Kampf mit der metonymisch verschobenen Übervaterfigur Baxter (Chapter XIII), sondern Solidarität zwischen Paul und Baxter. Diese Inversion der Hassbeziehung eines Übervaters zu seinem Sohn zur späteren Freundschaft zwischen beiden, in der der Sohn [Paul] der Überlegene ist und Baxter der Unterlegene, deutet zeitdiagnostisch, angesichts des herannahenden Ersten Weltkrieges, auf ein mögliches Friedensangebot hin und damit auf einen anderen als den Ödipusmythos. Zunächst muss die Erzählfigur Paul den auf der Darstellungs- und Gestaltungsebene angesiedelten Übervater Baxter töten wollen, um seinen Autonomiewünschen den Weg bahnen zu können. Im nächtlichen Kampf mit Baxter, so die Perspektivenüberblendung zwischen Paul und dem Erzähler, geht es um Leben und Tod: »He [Paul] was quite unconscious, only his body had taken upon itself to kill this other man«. (Chapter XIII, S. 410) Die Verallgemeinerungen in dieser Passage, 113 | H. Baron and C. Baron: »Introduction«, in: D.H. Lawrence: Sons and Lovers. Edited with an introduction and notes by H. Baron and C. Baron ebd., S. xv-xli, hier: S. xxix. 114 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 95 (Abschnitt VII).

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»Morel«, »Dawes«, »the younger man«, »the other man«, die mit den Namen Paul und Baxter in narrativer Umkreisung des Unbewussten korreliert werden, sowie die spätere Freundschaft zwischen den beiden legen zunächst die Vermutung nahe, dass es sich um eine moderne Variante und Analogie zur Ambivalenz zwischen Hass und Liebe handelt, die in Freuds phylogenetischen Überlegungen nach der Tötung des Urvaters in der Urhorde entstand.115 So gedeutet evoziert die agonale Beziehung zwischen Paul und Baxter jedoch eher einen Konflikt zwischen Vater und Sohn, der weniger dem Ödipusmythos zuzurechnen ist, sondern, wie gleich zu zeigen ist, dem Mythos vom Matriarchat. Deutet man die Beziehung zwischen Paul und Baxter so, dann kann der Romanschluss, der Pauls Freiheitschancen andeutet, im Rahmen eines Theoriemodells, das Kultursemiotik durch eine psychonalytische, kulturwissenschaftliche Kritik erweitert, plausibel werden. Indem Paul Baxter Dawes als symbolischen Urvater besiegt, ihn nicht tötet, sondern ihn schwächt, können sie Freunde werden. Paul Morel kann seine Autonomiebildungschancen ins Auge fassen. Das bestätigen die Episoden, die die wilden sexuellen Beziehungen zwischen Clara und Paul schildern. Wie im Kampf mit Baxter nimmt Paul Clara als Person nicht wahr: Er ist, das zeigen viele Stellen dieses Kapitels, sexuell instinktiv mit ihr und nicht wegen ihr als ganzheitlichem Subjekt im sexuellen Kontakt (Chapter XIII, S.  390, S.  391, S. 395, S. 397, S. 402–403, S. 405, S. 408). Mit seinem überpersönlicharchaischen Zugang zu Clara entzieht Paul sich deren Vereinnahmung. Dies ist keine Metaphysik der Geschlechterliebe, wie sie Schopenhauer vertritt. Vielmehr wird hier ein wesentlicher romanhaft autoreferenzieller Bezug gestaltet. Indem sich Paul Clara entzieht, wiederholt sich invers seine Beziehung zu Miriam. Dort bezogen Miriam und Paul innere Distanz zueinander. Hier distanzieren Paul und Clara sich tagsüber voneinander. Wie in Pauls Beziehung zu Miriam werden er und Clara als isoliert sich begegnende Individuen dargestellt (Chapter XIII, S.  400, S.  403, S. 407, S. 408). Wie in seiner Beziehung zu Miriam kann Paul, so sein Gespräch mit seiner Mutter, Clara nicht heiraten. Sein Leben, so formuliert er, ohne auf die Ursache zu reflektieren, dreht sich im Kreis (Chapter XIII, S. 389, S. 395, S. 403, S. 404–405, S. 407): »The feeling that things were going in a circle made him mad.« (Chapter XIII, S. 395) An dieser Stelle ist der Roman autoreferenziell kulturkritisch bei sich selbst: In der 115 | S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« ebd., S. 95 (Abschnitt VII).

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Moderne begegnen sich Liebende und um Leben und Tod Kämpfende als voneinander isolierte Individuen mit antiphobischen Möglichkeiten. So bestätigt die tödlich verlaufende Erkrankung seiner Mutter, dass Paul sich wie ein Liebender ihr gegenüber verhalten möchte, ohne sie je erreichen zu können (Chapter XIII, S.  413–415, S.  416–417, S.  420; Chapter XIV, S. 442). So bestätigt die späte Freundschaft Pauls mit Baxter, dass Feinde sich miteinander verständigen können, ohne den anderen in seinen Möglichkeiten zu beeinträchtigen. In den Kapiteln VIII–XIII öffnet und schließt sich der Teufelskreis für Paul in spielerisch variierenden, chronologisch gegeneinander verschobenen Episoden. Aus dieser Dramaturgie entwickelt sich die Erzähldynamik des Romans Sons and Lovers, eine Dynamik, die nicht nur eine Geschichte mit erfundenen Charakteren erzählt. Diese Dramaturgie, die Lawrence in The Rainbow weiter entwickelt, »include[s] the mental components behind any action, [and] render[s] a complex web of causality and effect [to the reader].«116 Unter der Bedingung der Liebe zu seiner Mutter entwickelt sich Pauls Dilemma zur subjektiv emotionalen, daher variablen Struktur seiner Persönlichkeit. In dieser Komplexität, die in der Erzählweise der episodischen Verschiebungen und Perspektivenmischungen zum Ausdruck kommt, kann der Roman Sons and Lovers nicht einfach hin auf die Theorie des von Freud entworfenen Ödipuskomplexes simplifizierend und mechanisch reduziert werden. Vielmehr hält die komplexe Struktur dieses Romans unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten für seine Leserinnen bereit.117 Sons and Lovers lässt sich als autobiografischer Roman, als Bildungsroman, als Künstlerroman verstehen und wurde auch so gelesen.118 Diese Gattungen erfüllt der Roman dann, wenn man hauptsächlich von der Zentralität der Perspektive Pauls ausgeht, nicht aber davon, dass dieser Roman seinen Deutungshorizont in durchgängigen Perspektivenüberschneidungen und mit einem unzuverlässigen Erzähler entwirft.119 Der Roman lässt ein Universum multipler Weltdeutungen entstehen, die 116 | M. Torgovnick: »Narrating sexuality: The Rainbow«, in: A. Fernihough (Hg.): The Cambridge Companion To D.H. Lawrence ebd., S. 33–48, hier: S. 47. 117 | R. Rylance: »Ideas, histories« ebd., S. 28–29. 118 | R. Rylance: »Introduction«, in: R. Rylance (Hg.): New Casebooks. Sons and Lovers ebd., S. 1–18. 119 | A. Harrison: »Introduction«, in: A. Harrison (Hg.): D.H. Lawrence’s Sons and Lovers ebd., S. 3–26.

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die existenzielle Unsicherheit seiner Figuren, insbesondere Pauls, in die Scheinsicherheit einer Kreisbewegung dadurch rückbindet, dass die Erzählweise die Handlungen seiner Figuren als Hinweise auf eine nicht formulierbare, unausgesprochene Realität gestaltet. Es entstehen Konflikte, die darauf hinweisen, dass Paul sein Leben, hätte er seine Selbstverkennung durchschaut, auch anders hätte gestalten können. Die Auswegmöglichkeiten, die er entwirft, deuten in den Perspektivenüberkreuzungen an, dass seine Mutterbindung hätte auflösbar sein können. Sons and Lovers erzählt eine mögliche Welt, nicht eine psychoanalytische Kur. Fiona Becket hebt in ihrem Aufsatz »Lawrence and psychoanalysis« unter anderem hervor, dass der Unterschied zwischen Freuds Verständnis der Psychoanalyse und Lawrences Verständnis psychischer Prozesse in der Moderne darin bestehe, dass Freud versuche, seine erkrankten Patienten zu heilen, Lawrence aber die moderne Gesellschaft selbst als krank ansehe.120 Ähnlich argumentiert Erich Fromm, der gegen Freud und mit Bachofen hervorhebt, dass es sich beim Ödipuskomplex nicht um den Inzest zwischen Mutter und Sohn handelt – dies belege die Tragödientrilogie des Sophokles bei genauer Lektüre –, sondern um einen Autoritätskonflikt zwischen Vater und Sohn121 – in Sons and Lovers metonymisch zwischen Baxter und Paul. Mythengeschichtlich handelt es sich nach Bachofen um einen Konflikt zwischen Patriarchat und Matriarchat.122 Da Ödipus, so belegen es Bachofens Quellen, das Matriarchat repräsentiere,123 repräsentiere er Gleichheit und Demokratie gegen Gewalt und Herrschaft: »Beim matriarchalischen Prinzip gilt die Blutsverwandtschaft als das grundlegende und unzerstörbare Band; es ist das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, das Prinzip der Achtung vor dem menschlichen Leben und das Prinzip der Liebe. Beim patriarchalischen Prinzip hat die Bindung zwischen Mann und Frau, zwischen Herrscher und Beherrschten den Vorrang vor den Bindungen des Blutes. Es ist das

120 | F. Becket: »Lawrence and psychoanalysis«, in: A. Harrison (Hg.): D.H. Lawrence’s Sons and Lovers ebd., S. 217–233, hier: S. 230–232. 121 | E. Fromm: Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache. Hamburg: Rowohlt 1981/2004 (orig. New York: Rinehart 1951), S. 133, S. 135, S. 145. 122 | E. Fromm: Märchen ebd., S. 136–139. 123 | E. Fromm: Märchen ebd., S. 144, S. 152.

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Prinzip der Ordnung und Autorität, des Gehorsams und der Hierarchie.« (Fromm 1981: 144, 147)

Stimmt man Fromms Deutung des Ödipusmythos zu, dann lässt sich der offene Romanschluss von Sons and Lovers anders als bisher verstehen.124 Die beiden Kapitel, die den Roman abschließen, halten eine Konfliktlösung in Richtung matriarchaler Gleichheit und Demokratie offen.

Chapters XIV–X V In Kapitel XIV beginnt die Auflösung des Teufelskreises, in dem sich Paul befindet. Die emotionale Responsivität zwischen den Rivalen Baxter und Paul, die Trennung von Clara und Paul, der tödliche Krankheitsverlauf seiner Mutter, schließlich Pauls und Annies Entscheidung, der Mutter eine Überdosis Morphin zu geben, die ihren Tod herbeiführt (Chapter XIV, S. 437–443), diese Ereignisse lösen in ihrem Mit- und Gegeneinander in Paul Irritationen und Impulse von Selbstreflexion aus (Chapter XIV, S. 445). Ihm tritt vor Augen, dass Frauen ihn begehren, ihm aber nicht gehören wollen, ihre Freiheitsspielräume behalten und nicht ganzheitlich teilen wollen (Chapter XIV, S. 447, S. 450–451). Zugleich mit dieser emanzipatorischen Phantasievorstellung trifft Paul die ganze Verpflichtung der Liebe zu seiner Mutter (Chapter XIV, S. 443–444, S. 451). Mit diesem von Paul durchlebten, nicht reflektierten Dilemma schließt und öffnet sich dieses erneut, enthält aber auch eine weitere Öffnungsmöglichkeit. Mit Pauls Trennung von Clara, die zu ihrem Ehemann Baxter, den sie nicht liebt, zurückkehrt, sowie mit dem diese Erfahrung der Selbstfremdheit begleitenden Tod seiner Mutter, scheint Paul zwar von seinem Leidensdruck befreit. Er gerät aber erneut unter Leidensdruck, weil er mit dem Verlust Claras und dem Tod seiner Mutter jeden Halt seines 25-jährigen 124 | In dieser Sichtweise wird beispielsweise C. Caudwells Diktum, dass in Lawrences Werk der Künstler zwar Denker und Revolutionär werden müsse, er aber dennoch den überkommenen kleinbürgerlichen Verhaltensweisen und Normen der kleinlichen Selbstsucht, des Fleisches und des Blutes nicht entkommen könne, von der neueren Forschung neu gedeutet; dazu: C. Caudwell: Studien ebd., S. 56–59; dagegen: T. Eagleton: Exiles ebd.; die Aufsätze in: R. Rylance (Hg.): New Casebooks. Sons and Lovers ebd.; die Aufsätze in: A. Harrison (Hg.): D.H. Lawrence’s Sons and Lovers ebd.; die Aufsätze in: A. Fernihough (Hg.): The Cambridge Companion To D.H. Lawrence ebd.

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Lebens verliert. Auf einer transzendenten, überpersönlichen Ebene kehrt Pauls Grundkonflikt als moderne Signatur subjektivierter Entpersönlichung wieder. Aus diesem Dilemma baut das abschließende fünfzehnte Romankapitel autoreferenziell eine Chance der Konfliktlösung auf. Pauls Todessehnsucht stürzt ihn in eine Realitätsverzerrung, die, wie in früheren Szenarien, Realität und Wahn überblendet. Hier ist er, irreal und narrativ autoreferenziell, bei sich selbst. Die Nächte, mithin die Komplexität der Dunkelheit und seiner Halt- und Orientierungslosigkeit, spiegeln Pauls Individualität und Einsamkeit als seine von ihm subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit. Diese können in der Inspiration des unzuverlässigen Erzählers nicht plausibel sein, hätte Paul doch Chancen als Künstler oder als Aufsteiger in den Mittelstand bzw. als Geliebter Miriams oder Claras gehabt. Zwar gibt ihm ein zufälliges Treffen mit Miriam Lebenshoffnung. Beiden ist aber klar, dass ein gemeinsames Eheleben sie zerstören würde (Chapter XV, S. 461–463). Paul fühlt sich von Miriam völlig vereinnahmt und sie empfindet aus der Sicht des unzuverlässigen Erzählers: »No, he was hard. He wanted something else. She pleaded to him with all her love, not to make it her choice. She could not cope with it, with him, she knew not with what.« (Chapter XV, S. 462) Hier liegt ein autoreferenzieller Bezug zu Pauls verzerrtem Blick auf Miriam vor. Kurz nachdem sich Paul und Miriam kennen gelernt haben, steckt Paul Miriam rote Beeren ins Haar und vergleicht sie mit einer Hexe bzw. Priesterin: »›If you put red berries in your hair,‹ he said, ›why would you look like some witch or priestess, and never like a reveler.‹« (Chapter VIII, S. 226) Indem Paul in Miriam eine Hexe oder Priesterin sieht, erkennt er in ihr eine Märchen- oder heidnische Kunstfigur, die er begehren kann, ohne sie erreichen zu können. Noch am gleichen Abend bringt er seiner Mutter rote Beeren und Blätter mit (Chapter VIII, S. 228). Diese Metapher legt eine Parallelisierung von Miriam und Mrs Morel in Bezug auf Pauls unerfüllbares Begehren gegenüber beiden nahe. In der langen Sterbeszene von Mrs Morel, und dies könnte der Grund für ihre detailgenaue Ausführung sein, gleicht sie in Pauls Sicht einem Dämon und einem Engel, eine ambivalente Erscheinung, vor der Paul kniet, die er umarmt und küsst, die er aber mental nicht erreichen kann (Chapter XIV, S. 435–442). In beiden Fällen, in denen der Übervater Walter Morel nicht in Erscheinung tritt bzw. als extrem geschwächt gezeigt wird, sublimiert Paul sein sexuelles Begehren in den Bereich der Kunst. In Pauls Ausein-

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andersetzungen mit Miriam und mit seiner Mutter, die in der Spannung zwischen Begehren und Aggression ihren körpersprachlichen Ausdruck finden, liegen Beginn und Entwicklung des Künstlers Paul. Beide Frauen vereinnahmen und fördern ihn. Im fünfzehnten Kapitel kehrt Paul sich erneut von Miriam wie von einem Sündenbock ab, gerät in den Sog seiner Todessehnsucht (Chapter XIV, S. 463–464), stellt sich in einem letzten erzählerischen Schritt aber doch der Herausforderung eines pulsierenden Großstadtlebens. Paul kehrt der Dunkelheit und seinen Todeswünschen den Rücken und wendet sich dem ihm erscheinenden funkelnden Großstadtleben zu (Chapter XIV, S.  464). Ein nach allen Durchkreuzungen von Pauls Autonomiebildungsmöglichkeiten offener Erzählschluss, der sich in kafkaesk expressionistischer Tonlage, wie gleich zu zeigen ist, dem demokratisch gleichheitlich strukturierten Matriarchat zuwendet.

Zusammenfassung In den beiden Hauptteilen macht Sons und Lovers brennscharf deutlich, dass Pauls grundsätzliche Verweigerung von ehelichen Beziehungen, die Ehekriege und das Scheitern der Ehe der Morels sowie die gescheiterte Ehe von Clara und Baxter Dewes Durchkreuzungen ganzheitlicher Beziehungen von Mensch und Natur in der Moderne zum Ausdruck bringen und Durchkreuzungen subjektiver Autonomiebildungsmöglichkeiten moderner Subjekte, die in der Industriegesellschaft arbeiten und überleben müssen. Moderne Subjekte haben den ganzheitlichen Zugang zu sich und der Natur verloren. Dieser Zugang wurde ihnen durch die ökonomische Rationalität genommen. Die Moderne zerschneidet subjektive Beziehungen und Subjektivität selbst. Einzig Kunstwerke können diesen Verlust zivilisationskritisch aufdecken [erster Teil des Romans]. In Pauls selbstwidersprüchlicher Entwicklung als Künstler, in seiner Halt- und Orientierungslosigkeit, in der Halt- und Orientierungslosigkeit aller Romanfiguren in Sons and Lovers scheinen in narrativ unzuverlässiger Unbestimmtheit kulturgeschichtliche Diskrepanzen der Moderne detailgenau und expressiv auf: »In Sons and Lovers, Lawrence seeks to express psychological and spiritual meanings that lie beneath vividly realized material surfaces.« (Stewart 2005: 174) Rezipientinnen des dritten Lebensalters reflektieren bei der Erschließung dieses Romans auf die Begrenzung und Überschneidung individueller Perspektiven, in denen der von Pauls Mutter ausgehende reifizierende Mutterbezug in unauflös-

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licher Dialektik, die einen Teil von Pauls künstlerischer Autonomie bewahrt, ihm einen abgründigen Halt zu bieten scheint: Er liebt seine Mutter, die er als Organisatorin des Familienlebens und als Repräsentantin der Mittelschicht und ihrer Eliten hasst. Zugleich reflektieren die Rezipientinnen auf die Öffnung individueller Perspektiven auf eine komplexe moderne Welt, die in der Dialektik von individuellen Erfahrungen und sozialen Bedingungen Subjektivität »als Weltentwurf«125 ermöglicht und durchkreuzt [beide Romanteile]. Für Rezipientinnen des dritten Lebensalters ist das zentrale Gedankenbild dieses Romans ein Faszinosum: das Nicht-aus-der-Welt-Hinauskönnen vaterloser Individuen. Lawrences dritter Roman Sons and Lovers organisiert sein Erzählmaterial in spielerisch variierenden Episoden kreisförmig. Diese strukturelle Organisation ist nicht nur eine Erzähltechnik, vielmehr komplementiert sie mythopoetisch Weltperspektiven, die miteinander in Konflikt geraten sind, durch eine mythisch matriarchalische Struktur, die in der Inkommensurabilität der Perspektiven den Verlust des matriarchalen Mythos, d.  h., wie oben dargelegt, den Verlust von Gleichheit und Demokratie in der Moderne darstellen. Diese an die Moderne geknüpfte Verlusterfahrung lässt die Frage entstehen, inwieweit Kultur und Gesellschaft der Ganzheitlichkeit des Individuums entgegenkommen oder sie durchkreuzen. Für die Individuen, so stellt es Sons and Lovers dar, entsteht ein schmaler Grat der individuellen Eigenverantwortlichkeit, der sich im Großen und Ganzen der Kultur aufzulösen droht; daher der Balanceakt der spielerisch episodischen Erzählform. Aus dieser unlösbaren Dialektik, diesem Paradox der »simultaneous dissolution and responsibility of the self«126, das an Paul hervorgehoben wird und das die bildende Kunst und Literatur der klassischen Moderne, insbesondere im Expressionismus durchzieht, resultiert die transitorische Identität der Erzählfiguren in Sons and Lovers als kulturell bestimmte »question of balance between relatedness and autonomy, between acceptance and surmounting of a particular context«.127 Das abschließende Bild des Romans stellt dar, dass Paul sich in seiner Männlichkeit als Grenzgänger zwischen patriarcha125 | M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung ebd., S. 460–465; J. Stewart: »Forms of Expression« ebd., S. 160. 126 | M. Bell: »Lawrence and modernism«, in: A. Fernihough (Hg.): The Cambridge Companion To D.H. Lawrence ebd., S. 179–196, hier: S. 184 127 | T. Eagleton: Exiles ebd., S. 201.

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ler und matriarchaler Welt einer matriarchalen Stadt in einer lebendigen, kreativen Entscheidung [»quick«] zuwendet. Die dieser Stadt zugeordnete Attribution heißt »the city’s gold phosphorescence […] faintly humming, glowing town« (Chapter XV, S. 464). Diese Attribute können in der Perspektive Pauls auf Miriams Weiblichkeit, Innerlichkeit und Mütterlichkeit bezogen werden: »›[In her looks] there is scarcely any shadow […] it’s more shimmery – as if I’d painted the shimmering protoplasm in the leaves and everywhere, and not the stiffness of the shape. That seems dead to me. Only this shimmeriness is the real living. The shape is dead crust. The shimmer is inside, really‹.« (Chapter VII, S. 183) Die oszillierende transitorische Weiblichkeit kann durch die oben aufgezeigte Parallelisierung mit Pauls Mutter als »the real living« eines grundlegend unzerstörbaren Bandes der Gleichheit und Demokratie aufgrund der mütterlichen Verwandtschaftsbande verstanden werden. Miriam erweckt in Paul »a strange, roused sensation, as if his feelings were new« (Chapter VII, S.  183). Das grandiose Schlusstableau des Romans zeigt Paul als Künstler, der sich im Moment visionärer Entrückung in seiner existenziellen Kleinheit, »less than an ear of wheat lost in the field« (Chapter XV, S.  464), mit einem nächtlich riesigen Universum, einer mütterlichen Nacht, die ihn zu verschlingen droht, verbunden fühlt und ihr zugleich widersteht, »at the core a nothingness, and yet not nothing« (Chapter XV, S. 464). Das mythopoetisch grundierte Gefühl, seine kreativen Potenziale gegen seine inneren Zwänge und gegen äußere lebensweltliche Restriktionen gerettet zu haben, begleitet Paul am Ende von Sons and Lovers in sein neues Leben: »a deeply personal disorientation is objectified into a total version of contemporary society«.128 Rezipientinnen des dritten Lebensalters erkennen diese romanhaft gestaltete Erfahrung der Moderne wieder, weil sie in einer Zeit existenzieller Desorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg die Sehnsucht nach stabilisierenden Werten der Gleichheit, Freiheit, Demokratie sowie Transformationsmöglichkeiten von Lebenskrisen in kreative Potenziale kennen und gerontranszendent auf sie während ihrer Lektüre dieses Romans und im Diskurs reflektieren.

128 | T. Eagleton: Exiles ebd., S. 17–18.

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8.3 V irginia W oolfs R oman To the L ighthouse (1927) Vorbemerkung Virginia Woolfs fünfter Roman To the Lighthouse findet bei Rezipientinnen des dritten Lebensalters trotz anfänglicher Lektüreschwierigkeiten großes Interesse. Faszinierend ist für sie die ästhetisch reflektiert zurückgenommene Trauerarbeit,129 die Woolfs neue Romanästhetik 130 leistet und in einem romanästhetisch symmetrischen Verhältnis zwischen Fragmentierung und Elegie um eine verlorene Mitte (Teil II) gestaltet, mithin Fragmentierung und Ganzheitserfahrungen in der narrativen Verfahrensweise einer gebrochenen Elegie zusammenführt. Die in Variationen auftauchende Leitfrage des Romans – Was bedeutet dies alles?; »How then, did it work out, all this?«; »What does it mean, what can it all mean?«131 – evoziert die Neugier der Rezipientinnen des dritten Lebensalters und ihre Reflexion auf Deutungsmöglichkeiten der Simultankomplexität dieses Romans, dem es um ein androgynes Unterlaufen einer fixierenden männlichen Rationalität und um die Entwurzelung des modernen Menschen geht. Mit dieser Problematik verknüpft ist die Frage des Romans, inwiefern die Identität des modernen Subjekts festgefahren oder voller Widersprüche und Komplexitäten, also multifokal ist, und zwar vor dem Hintergrund des Darwinismus und der sich rasant entwickelnden Technisierung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie den Katastrophen des Ersten Weltkrieges. Der Roman setzt seine Akzente auf transitorische Identitätspotenziale der Moderne, indem er, ruhelos jede Verdinglichung von sich weisend, auf einen transzendenten Grund abhebt: Auf der Folie der Trias Tod, Leben und Kunst überführt er

129 | H. Lee: »To The Lighthouse. Introduction«, in: J. Briggs (Hg.): Virginia Woolf. Introduction To The Major Works. Gloucester: Virago 1994, S. 154–186, hier: S. 174–176. 130 | V. Nünning: Die Ästhetik Virginia Woolfs. Frankfurt/M.: Lang 1990. 131 | V. Woolf: To the Lighthouse. Introduction and Notes by N. Bradbury. Hertfordshire: Wordsworth Editions Limited (Wordworth Classics) 2002, Part I, Chap. 4, S. 18; Part III, Chap. 1, S. 109; weiterhin als TL im Text zitiert.

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als Roman des Modernism, in Anmutung romantischer Denkfiguren,132 die Figuren Mrs Ramsay, Lily Briscoe und Augustus Carmichael – eine göttliche Schönheit, eine Künstlerin [Malerin] und einen Poeten – in die Unbestimmtheit einer gebrochenen Ganzheitsvision.

Publikationsgeschichte – Virginia Woolf: To the Lighthouse (1927) Virginia Woolf begann ihren fünften Roman im Mai 1925. Der Stoff hatte sie schon länger beschäftigt. Nach einem Tagebucheintrag vom 14. Mai 1925 sollte es ein Roman werden, der die Eltern – den mächtigen Sir Leslie Stephen und die früh verstorbene Mutter – und die eigene Kindheit mit den drei Geschwistern während der Sommerferien zum Thema hat. Die Familie verbrachte den Sommer regelmäßig in Talland House, St. Ives in Cornwall. Im Roman wird der Ort auf Skye, eine der Hebriden, verlegt. Virginia Woolf dachte darüber nach, ihren Roman als Elegie zu bezeichnen.133 Sie war vor allem erzähltechnisch an ihrem Roman To the Lighthouse interessiert: Wie lassen sich alltäglichste Dinge darstellen, wenn sie nicht durch eine schwierige Thematik wie die des Wahnsinns in Mrs Dalloway ausbalanciert werden? Wie lässt sich Zeit darstellen? Nach längerer, auch durch Krankheit bedingter Unterbrechung im Herbst und Winter, kommt der Roman im Februar 1926 in Schwung. Er geht ihr leicht von der Hand. Der Schluss bereitet ihr besondere Schwierigkeiten. Im Januar 1927 ist der Roman beendet. Ihr Gatte Leonhard bezeichnet ihn als Meisterwerk.134 To the Lighthouse erscheint am 5. Mai 1927 bei der Hogarth Press, London, in einer Auflage von 3000 Exemplaren, im Juni werden 1000, im Mai 1928 noch einmal 1500 Exemplare nachgedruckt. Parallel zur englischen Ausgabe erscheint die amerikanische Ausgabe bei Harcourt, Brace & Company in einer Erstauflage von 4000 Exemplaren. Im Juni und August 1927 werden 3600 Exemplare nachgedruckt. Eine 132 | C. Bode: »Das Subjekt in der englischen Romantik«, in: R.L. Fetz, R. Hagenbüchle und P. Schulz (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Band 2, Berlin/New York: de Gruyter 1998, S. 872–900. 133 | Nach K. Reichert: »Nachbemerkung«, in: Virginia Woolf: Zum Leuchtturm. Roman. Herausgegeben und kommentiert von K. Reichert. Deutsch von K. Kersten. Frankfurt/M.: Fischer 1998, S. 231–232. 134 | R. Wiggershaus: Virginia Woolf. München: dtv 2006, S. 98.

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erste deutsche Ausgabe, in der Übersetzung von Karl Lerbs, erscheint 1931 unter dem Titel Die Fahrt zum Leuchtturm. Ein Roman am Puls der Gegenwart der 1920er und 1930er Jahre.

Inhaltsübersicht Der Roman wird bestimmt von komplex verknüpften Bewusstseinsinhalten, denen die Handlung untergeordnet ist. Er kann als literarisches Portrait einer Familie, eines Elternpaares mit acht Kindern gelesen werden. Gleichzeitig werden aber auch »archetypische, in Jahrhunderten durch soziale Strukturen und historische Entwicklungen erzeugte Gepräge von Mann und Frau« gestaltet.135 Der Roman besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil, »The Window«, werden ein Nachmittag und ein Abend vorgestellt, die der Professor der Philosophie Mr Ramsay und seine Frau Mrs Ramsay zusammen mit ihren Kindern und einigen Gästen in ihrem Ferienhaus auf der Hebrideninsel Skye verbringen. Der zweite und kürzeste Teil des Romans, »Time Passes«, veranschaulicht anhand des Verfalls des Ferienhauses und durch den in Parenthesen erwähnten Tod Mrs Ramsays, Prues und Andrews, der im Ersten Weltkrieg fällt, das Verstreichen der Zeit und historischer Prozesse, die sich menschlichen Einflüssen entziehen. Der dritte Teil, »The Lighthouse«, der zehn Jahre später einige der Figuren wieder auf der Insel zusammenführt, zeigt, dass Mr Ramsay seinen im ersten Teil gefassten Vorsatz ausführt und mit seinen Kindern zum Leuchtturm fährt. Die drei Teile sind durch die Trias Tod, Leben und Kunst miteinander verflochten.

Virginia Woolfs Ästhetik einer neuen Erzählkunst Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse gestaltet eine menschenfeindliche Moderne in fragmentierten Perspektiven und Erzählbrüchen, die in ihren Diskrepanzen Not, Verzweiflung, Verluste, Tod, die Ratlosigkeit der Individuen, ihre Suche nach Bedeutung und Sinn zum Ausdruck bringt: Not [die Klassenunterschiede im I. Teil], Verzweiflung [James in Teil I und III, Cam in Teil III, Augustus Carmichael, Lily Briscoe im gesamten Roman, Mrs Ramsay in Teil I und – in Parenthese angedeutet – Teil II], 135 | R. Wiggershaus: Virginia Woolf ebd., S. 99; A. Nünning: Der englische Roman des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett 2007, S. 60–61.

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Verluste und Tod [Mrs Ramsay, Prue und Andrew in Teil II, Lily Briscoe in Teil III], die Suche nach Bedeutung und Sinn [der Figuren im gesamten Roman]. Die Gefahr einer Auslöschung von Kultur und Humanität gestaltet der Roman To the Lighthouse quasi-phänomenologisch in zwei voneinander getrennten und sich transzendierenden Bereichen: dem des individuellen gegenstands- bzw. problembezogenen Bewusstseins und dem weiteren Bereich einer vorsprachlichen Welt, ein Bereich, der die Tiefenschichten menschlichen Bewusstseins, metapsychologisch ein »Bei-sichselbst-sein« des Geistes, im Gestus der Unbestimmtheit136 als diagnostisches Kulturmodell137 auslotet. Während der erste Bereich Kontingenz und Fragmentarität im Spiel gebrochener individueller Perspektiven und in Bezug auf sozialhistorisch zurück- und vorgreifende Zeitabläufe, mithin Wirklichkeit und individuelles Leiden an der äußeren Wirklichkeit darstellt, lässt der zweite Bereich einen sinnhaften Auf bau der Welt in moments of being als immanente Transzendenz138, d. h. als Epiphanie erscheinen. Die narrative Simultaneität von in der Fiktion empirisch gestalteter Wirklichkeit und Realität als unbestimmter Tiefendimension zeichnet Woolfs Romane seit Jacob’s Room als Werke der Hochmoderne aus: »Woolf celebrated what she termed ›moments of being‹ […], moments whose intensity she felt in their full presentness, as meaningful, even ecstatic, moments that rose like mountain-peaks out of daily life. Against these might be set moments of unmaking, moments […] when a set of meaning was loosed or unhinged, dissolved or dashed itself to pieces […]. [S]uch moments […] brought sudden shocks, creating ruptures, gulfs or chasms that severed the past from the present.« (Briggs 2001: 5)

136 | E. Husserl: Gesammelte Werke Band VI, Dordrecht 1984ff (Hua), S. 345f. zitiert nach F. Fellmann: Phänomenologie zur Einführung. Hamburg: Junius 2006, S. 40; T. Rentsch: Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl bis Derrida. München: Beck 2014, S. 30–35. 137 | P. v. Matt: ebd., S. 10–14. 138 | E. Tugendhat: Anthropologie ebd., S. 13–33.

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In ihrem Essay »The Supernatural in Fiction«139 spricht Virginia Woolf in Bezug auf Henry James’ Erzählung The Turn of the Screw, davon, dass die Gouvernante in dieser Erzählung weniger Angst vor Gespenstern hat »as of the sudden extension of her own field of perception, which in this case widens to reveal to her the presence all about her of an unmentionable evil«140. Die Erscheinung gespenstischer Gestalten, so Virginia Woolf, ist keine angsteinflößende Bebilderung des individuellen Geisteszustandes der Gouvernante. Vielmehr handele es sich um einen mentalen Zustand, der das Grauen der gesamten Erzählung bestimmt. Woolf folgert: »The horror of the story comes from the force with which it makes us realize the power that our minds possess for such excursions into the darkness; when certain lights sink or certain barriers are lowered, the ghosts of the mind, untracked desires, indistinct intimations, are seen to be a large company.« (Woolf 2015: 64) Die Isomorphie zwischen Kontingenz, Fragmentarität, dem Dunkel unerfüllter Wünsche unserer modernen Subjektivität und ihren Erkenntnisvermögen, diese Dialektik hat das Potenzial, im Unterwerfen der Dingwelt die empirische Wirklichkeit zu transzendieren. Diese tiefenhermeneutische Denkfigur geht auch aus dem obigen Briggs-Zitat hervor.141 Die in diesem Prozess der Transzendierung entstehende Ästhetik prägt die neue Form des modernen Romans, für den Virginia Woolf noch keinen anderen Begriff als eben den des Romans hat. »That cannibal, the novel«142 ist fähig, viele Kunstformen in sich aufzunehmen. Der neue Roman, so Woolf, »will be written in prose but in a prose which has many of the characteristics of poetry. It will have something of the exaltation of poetry, but much of the ordinariness of prose«.143 Wichtig ist ihr, dass die Verknüpfung von Erhabenheit und Gewöhnlichem Gefühle zum Ausdruck bringt, denen sich gegenwärtig die reine Poesie verweigert und die dem Drama unangemessen sind.144 Aus dieser Abgrenzung und einer weiteren zum psychologischen Realismus ergibt 139 | V. Woolf: »The Supernatural in Fiction«, in: V. Woolf: Granite and Rainbow. Essays. New York: Harcourt 2015/1958, S. 61–64, weiterhin als GR zitiert. 140 | »The Supernatural«, GR, S. 63. 141 | »The Supernatural«, GR, S. 64. 142 | V. Woolf: »The Narrow Bridge of Art, in GR, S. 11–23, hier: S. 18. 143 | »Narrow Bridge«, GR, S. 18. 144 | »Narrow Bridge«, GR, S. 18.

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sich die neue Ästhetik des Romans: Seine Aufgabe ist, bislang unerforschte Gefühle, die einen großen und wichtigen Teil unseres Lebens ausmachen, »our emotions toward such things as roses and nightingales, the dawn, the sunset, life, death, and fate«, in überpersönlicher Weise erzählerisch Gestalt zu geben. Es geht dabei nicht um unaufhörliche Analysen eines dramatischen »falling into love and falling out of love«, sondern um die Darstellung von Träumen, Fantasievorstellungen, Ideen, die Beziehung des modernen Menschen zur Natur und zum Schicksal, zur Nähe und Vielschichtigkeit des Lebens. Der neue Roman »will take the mould of that queer conglomeration of incongruous things – the modern mind«.145 Diese Form einer demokratischen, flexiblen und furchtlosen Prosakunst findet Woolf in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy, der trotz des ständigen Stimmungswandels ein Buch unauffälliger Poesie sei. In der Gestaltung unvereinbarer und kurioser Objekte und Gefühlslagen verwandele sich Poesie leichthändig und natürlich in Prosa, wie Prosa sich in Poesie transformiere. Dieser flexible und furchtlose neue Roman, den Laurence Sterne schuf, gestaltet seine Nähe zum Leben durch ästhetische Distanz: »the novel will be written standing back from life«146. In »a simplicity so complex« entsteht eine neue Erzählkunst [»art of fiction«147], die das Leben, so Woolf über Turgenjews Romane, nicht in seinen Manifestationen erzählt, sondern die Gesetze des Lebens unparteiisch beobachtet und ihre vielschichtigen Kontraste interpretierend, erzählerisch gestaltet. Es entsteht eine narrative Symmetrie [»balance«148], die »of our time, undecayed, and complete in [itself]« ist.149 Diese Vollkommenheit wird durch die erzählerische Sensibilität Turgenjews für Gefühle garantiert, die nicht mit falschen Emotionen verwechselt werden dürfen: »It is for this reason that his novels are not merely symmetrical but make us feel intensively.«150 Die Figuren Turgenjews werden zum Teil eines Ganzen, durch das Turgenjews »birth, his race, the impressions of his childhood, 145 | »Narrow Bridge«, GR, S. 19–20. 146 | »Narrow Bridge«, GR, S. 20–22. 147 | V. Woolf: »The Novels of Turgenev«, in: V. Woolf: The Captain’s Deathbed and other Essays. London: Hogarth 1950, S. 53–60, hier: S. 54, S. 55, weiterhin zitiert als CDB. 148 | »Turgenev«, CDB, S. 56. 149 | »Turgenev«, CDB, S. 57. 150 | »Turgenev«, CDB, S. 58, S. 71.

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pervade everything that he wrote«151, und – quasi vorsprachlich – die Vielgestaltigkeit proteischer Ichs zum Ausdruck bringen.152 Diese Denkfigur variiert Virginia Woolf, in Abgrenzung von edwardianischen Autoren, in ihrem Essay »Mr Bennet und Mrs Brown«153, indem sie die Frage stellt, »who are the judges of reality«?154 Sie antwortet: Ein Richter mag für den edwardianischen Autor Bennett real sein, für sie, Virginia Woolf, aber »quite unreal«155. Wichtig sei, Menschen und literarische Figuren als einzigartige Individuen in ihrer Lebenswelt wahrzunehmen, zu beobachten und ernstzunehmen und dafür eine Unbestimmtheit der narrativen und essayistischen Sprache in Kauf zu nehmen.156 In Bezug auf Rezipientinnen führt Woolf aus: Real erscheinen Figuren in großen Romanen, wenn es Autoren gelingt, die Leser dazu zu bringen, »to see whatever they wish us to see through some character.«157 Real sind Erzählfiguren, weil sie die Macht haben, »to make you think not merely of itself, but of all sorts of things through its eyes – of religion, of love, of war, of peace, of family life, of balls in country towns, of sunsets, moonrises, the immortality of the soul«158. Ein zentrales Element von Woolfs an Freuds schwebende Aufmerksamkeit gemahnende Ästhetik ist also, dass sie den Rezipientinnen durch ihre Erzählkunst ermöglicht, im Akt des Lesens in moments of being bei sich selbst zu sein bzw. zu sich selbst zu werden, angesichts signifikant Anderer, die in Romanen durch Figuren repräsentiert werden, die – ganz unreal – die erzählte, empirische Realität der Fiktion transzendieren und die Grenze zwischen Fiktion und Leben durchlässig werden lassen.159 In narrativer Konsequenz gestalten neue Romane eine zertrümmerte Welt, die im »smashing and […] crashing«, d.  h. im Fragmentieren traditioneller Erzählformen, »the sound of breaking and falling, crashing 151 | »Turgenev«, CDB, S. 60, S. 58. 152 | »Turgenev«, CDB, S. 60. 153 | V. Woolf: »Mr Bennet und Mrs Brown«, in CDB, S. 90–111. 154 | »Mr Bennet«, CDB, S. 97. 155 | »Mr Bennet«, CDB, S. 97. 156 | »Mr Bennet«, CDB, S. 103–104. 157 | »Mr Bennet«, CDB, S. 98. 158 | »Mr Bennet«, CDB, S. 98. 159 | Dies ist eine hohe narrative Kunst, die beispielsweise D. Kehlmanns Roman Tyll, Hamburg. Rowohlt 2017, in komplexen Übeblendungen von Komödie, Satire, Tragödie und Elegie zum Ausdruck bringt.

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and destruction« als ein Grundgeräusch, »rather a melancholy one«, das zugleich kräftig und anregend sein kann, zum Ausdruck bringen.160 Die narrative Durchdringung der prosaischen äußeren Wirklichkeit mit einer poetisch transzendenten Realität gestaltet die Vielfältigkeit des Lebens, die die Komplexität der Individuen nach dem Kriterium der Wahrhaftigkeit, die »the spirit we live by, life itself«161 mithin als Poesis zum Ausdruck bringt. Dies vollzieht sich in »[s]ome marriage of opposites«,162 die den Rezipientinnen den Eindruck vermittelt, der Autor gestalte seine Erlebnisse »with perfect fullness«. Unter der Voraussetzung einer weitgeöffneten Sensibilität des Autors enthält diese Lebensfülle die Strömung des Lebens.163 Woolf kritisiert eine Narrativierung der Bitterkeit und des Zorns,164 eine Intellektualität, die in Kammern [»chambers«] denkt. Unter Kammern versteht sie normierte Vorstellungen, Vorurteile, »a miser’s heart«, Wissenschaftlichkeit, die in Begriffen erstarrt ist, einen Mangel an Kultur, vom Patriarchat hegemonial gestaltete Traditionen, die oft unbemerkt angstbesetzt sein können.165 In Anklang an Percy B. Shellys Poetik der Fragmente plädiert Woolf für eine Intuition, die sie gegen die Überdeckung durch eine kulturell vorherrschende dualistische Logik stark macht.166 In einer dualistischen Kammerstruktur kommunizieren Gefühle nicht mehr miteinander.167 Entsprechend bestimmen Bitterkeit, Zorn und vorurteilsbestimmtes Denken die narrativen Formen verunglückter Romane.168 Woolfs neue Romanästhetik bestreitet platonisches 160 | »Mr Bennet«, CDB, S. 107–108, S. 110. 161 | »Mr Bennet«, CDB, S. 111. 162 | V. Woolf: A Room of One’s Own. Annotated and with an introduction by S. Gubar. Orlando: Harvest 2005. S. 103, weiterhin zitiert als ROO. 163 | ROO, S. 103. 164 | ROO, S. 72. 165 | ROO, S. 4, S. 18, S. 28, S. 29–30, S. 38–39, S. 50–56. 166 | C. Bode: »Das Subjekt in der englischen Romantik« ebd.; A. Howe: »Shelley and Philosophy. On a Future State, Speculations on Metaphysics and Morals, On Life«, in: M. O’Neill (Hg.): The Oxford Handboolk of Percy Buysshe Shelley. Oxford: Oxford University Press 2013, S. 101–106, hier: S. 112; F. Schmitt: Method in the Fragments. Fragmentarische Strategien in der englischen und deutschen Romantik. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2005, S. 171–193. 167 | ROO, S. 100. 168 | ROO, S. 38–39, S. 72.

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Substanzdenken: »The human frame being what it is, heart, body and brain all mixed together, and not contained in separate compartments as they will be no doubt in another million years […].«169 Sie macht den Weg frei für rekursive Denkfiguren, die seit Jacob’s Room (1922) den platonischen Ideenrealismus in multiperspektivischer Simultaneität dynamisieren, und, ähnlich wie William James in seinem Werk Prinzipien der Psychologie, den individuellen Bewusstseinsstrom als periodischen Wechsel von Bewegung und Ruhe gestalten. Die neue ästhetische Form der Romane Woolfs, die sie in Jacob’s Room (1922) und Mrs Dalloway (1925) entfaltet, transzendiert in den sprachlichen Intentionen der Figuren sowie in ihren flirrenden Naturphänomenen Wirklichkeit zur Realität einer unbestimmten Ausdrucksgestalt, die in ihrer Fluidität malerisch am Impressionismus [Cézanne] und musikalisch vorprädikativ orientiert ist.170 Phänomenologisch, im Geist der 1920er Jahre formuliert, gestalten Woolfs Romane seit Jacob’s Room »noch in der trivialsten Alltäglichkeit […] etwas von der Rückgewinnung eines Geheimnisses der Wirklichkeit nach dem Schwund aller metaphysischen und weltanschaulichen Systemkonstruktionen«171. In diesen und Woolfs späteren Romanen wird das Geheimnis des Bedürfnisses nach Ganzheit gestaltet, das Teile und Ganzes als visionäre Zirkelfigur aufscheinen lässt: Im narrativierten Bezug aufs Ganze bestimmen sich Fragmente und Ganzes als »Koexistenz«: »[D]as Fragment [steht] als Teil eines Ganzen [ein], dem es in zeitlicher Hinsicht nicht mehr oder noch nicht angehört.« Es repräsentiert die Abwesenheit des Ganzen »in stückhafter Präsenz […]«172 . Seit Jacob’s Room wird in Woolfs Romanen, und das ist typisch für einen Großteil der Werke des Modernism, das Ganze als verloren und nicht erreicht imaginiert. Die in der europäischen Romantik reflektierte »Wehmut des Unwiederbringlichen«173 nimmt bereits in Jacob’s Room Gestalt an. 169 | ROO, S. 18. 170 | W. Erzgräber: Virginia Woolf. Tübingen: Francke 1993, S. 85–90. 171 | T. Rentsch: Philosophie ebd., S. 33. 172 | L. Dällenbach/C.L. Hart Nibbrig: »Fragmentarisches Vorwort«, in: L. Dällenbach und C.L. Hart Nibbrig (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 7–17, hier: S. 15. 173 | M. Frank: »Das ›fragmentarische Universum‹ der Romantik«, in: L. Dällenbach und C.L. Hart Nibbrig (Hg.): Fragment ebd., S. 212–224, hier: S. 212.

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To the Lighthouse Woolfs Roman To the Lighthouse gestaltet die von ihr entwickelte Ästhetik eines neuen Romans als Ästhetik der Diskontinuität,174 aus der die Abwesenheit des Ganzen elliptisch, elegisch, als Epiphanie, immer wieder aufscheint. To the Lighthouse weist dualistisches Denken dem Wirklichkeitsbereich zu, das Transzendieren dieses Denkens in die Komplexität möglicher Perspektiven und Atmosphären, die in den Wendungen der Erzählungen simultan vollzogen werden, einem transzendenten Realitätsbereich zu, mit der Wirkung, »that the narrative simply flows easily into another. This produces a peculiar feeling of simultaneous peace and restlessness.«175 Der erste Bereich, Wirklichkeit, wird an Figuren wie Mr Ramsay, seinem Assistenten Tensley, den Kindern der Ramsays, den beiden in Teil II auftretenden Zugehfrauen, Mrs McNab und Mrs Bast, von der Familie des Leuchtturmwärters, und, teilweise, von Mrs Ramsay in ihrer viktorianischen Attitüde des angel in the house identifizierbar. Der zweite Bereich bringt Realität in komplexer Vielfältigkeit und Simultaneität im I. und III. Teil des Romans durch die Malerin Lily Briscoe, den Poeten A. Carmichael und, wiederum, durch eine mütterlich-künstlerische Mrs Ramsay sowie die elegische Gestaltung des II. Teils zum Ausdruck. Die Isomorphie der beiden Bereiche entsteht in To the Lighthouse durch die auf sich selbst zurückgeworfenen je individuellen Lebens- und Sinnentwürfe der Erzählfiguren, die durchgängig von ihren Fragen nach Bedeutung und Sinn ihrer Existenz geleitet werden. Wie ein roter Faden durchziehen Fragen nach dem sinnvollen Auf bau ihres Lebens und der Welt, in der sie sich selbst fremd und in Bezug auf Andere entfremdet leben, den Roman. Jede der Figuren findet andere Antworten. Aufgrund der familiären und freundschaftlichen Nähe der Figuren zueinander, die in der Einheit des Ortes, dem Haus auf der Hebrideninsel Skye und seiner näheren Umgebung, gebündelt werden, entstehen simultane, differente Zeit-

174 | J. Kavaloski: High Modernism. Aestheticism and Performity in Literature of the 1920s. New York: Camden House 2014, S. 124, S. 126. 175 | S. Raitt: Virginia Woolf’s To The Lighthouse. New York: Harvester Wheatsheaf 1990, S. 47.

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erfahrungen, Selbstwidersprüche und »Perspektivendiskrepanzen«176 in und zwischen den Figuren, deren Schnittpunkte die Transzendentalien aufscheinen lassen. Deren Trias bildet die Sinnachse des Romans. Sie garantiert, in den Fragmentierungen als pars pro toto eines Sinnganzen, seine symmetrische Dichte, seine Komplexität und seine Sinnangebote an die Leserinnen. Von dieser Deutung des Romans aus gesehen, bedarf Kavaloskis Beobachtung einer Ergänzung: »Discontinuity is visible on so many textual levels that it arguably represents the novel’s guiding principle.«177 Ganz zu Recht deutet Kavaloski in Bezug auf To the Lighthouse Diskontinuität nicht als dessen mimetisches Prinzip, sondern als Poesis, mithin als aktivierendes performatives Erzählprinzip, »that participates in the construction of knowledge«.178 Was Kavaloski übersieht, ist, dass diese Diskontinuität in den Transzendentalien überschritten wird. Durch dieses ästhetische Zentrum wird die narrative Performativität dieses Romans isomorph verstärkt. Als narrative Form evoziert die gestaltete Fragmentarität ihre elegische Ausdrucksgestalt, ohne die Fragmentarität dieses Romans aufzugeben. Als Roman des 20. Jahrhunderts »[…] the new writing keeps trying to find its way back into the past, so there is an odd tension between the experimental and the nostalgic«.179

Teil I: The Window Die rekursiv angelegte Dynamik der Transzendentalien Tod als Unbegreiflichkeit und Gegenwart des Todes im Leben, Leben als Auf bruchstimmung und innere Selbsterfahrung und Kunst soll an drei Beispielen aus dem I. Teil des Romans – dem Erzähleingang, der Gestaltung des Grimm’schen Märchens Vom Fischer und seiner Frau und der ganzheitlichen Gestaltung der Erzählfigur Mrs Ramsay – erläutert werden.

176 | N. Würzbach: »Der englische Frauenroman vom Modernismus bis zur Gegenwart (1890–1990): Kanonrevision, Gattungsmodifikationen, Blickfelderweiterung«, in: A. Nünning (Hg.): Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004, S. 195–211, hier: S. 201. 177 | J. Kavaloski: High Modernism ebd., S. 126. 178 | J. Kavaloski: High Modernism ebd., S. 124. 179 | H. Lee: »To The Lighthouse. Introduction« ebd., S. 182.

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Der Erzähleingang Der Roman weist bereits in den ersten beiden Absätzen autoreferenziell auf sein isomorphes Erzählprinzip hin, das Fragmente als pars pro toto für ein Sinnganzes gestaltet. Der Erzähleingang ist elliptisch gestaltet. Er thematisiert »Augenblicke« als Kristallisationspunkte von Leuchtkraft und Dunkelheit, Glück, Märchenhaftigkeit und Schicksalhaftigkeit in Gestalt der Bedeutung der Katalogbilder für den sechsjährigen James [»a refrigerator [which] was fringed with joy«] (TL, S. 3), und er weist hin auf die Integrität dieses Kindes sowie auf die Imaginatiosfähigkeit der Mutter, Mrs Ramsay, als moments of being – »the power to crystallise and transfix the moment upon which its gloom or radiance rests«, (TL, S. 3), die durch das für Mutter und Kind und für die Leserinnen unerwartete Auftreten des Vaters zerstört werden. James reagiert mit hasserfüllten Todeswünschen gegenüber seinem Vater und Mrs Ramsay versucht beschwichtigend zu vermitteln. Bereits in diesen ersten Absätzen des Romans werden Fragmentierung und die Transzendentalien als autoreferenzielle Bezüge aus der Perspektive der Fragmentierung in Assoziationen an Freuds phylogenetische Konstruktionen des ermordeten Urvaters der Brüderhorde verknüpft.180 Der Eingangssatz des Romans lautet: »›Yes, of course, if it is fine tomorrow,‹ said Mrs Ramsay. ›But you’ll have to be up with the lark,‹ she added«. (TL, S. 3) Der elliptische Erzähleingang setzt die Antwort Mrs Ramsays auf eine Frage des sechsjährigen James voraus, die außerhalb des Romans gestellt wurde. Ebenso wird an diesem Anfang James’ mögliche Antwort, also ein Dialog zwischen Mutter und Kind als Leerstelle gestaltet. Stattdessen folgt die längere Darstellung eines Bewusstseinsstroms des Kindes, der abläuft, »as his mother spoke«. (TL, S.  3) Es handelt sich um einen unbestimmten Erzählbeginn, der durch den erzählerisch unerwartet eingeführten Vater in seiner narrativen Unbestimmtheit erweitert wird. Mr Ramsay teilt seiner Frau und seinem Sohn mit, dass das Wetter »›won’t be fine‹«, (TL, S. 3) verbietet den von James so ersehnten Ausflug zum Leuchtturm und löst in ihm als Reaktion auf dieses Verbot einer Wunscherfüllung hasserfüllte Todeswünsche gegen den Vater aus. (TL, S. 3) Diese mehrfache narrative Disruption, die von inneren Monologen Mrs Ramsays begleitet wird, erfährt eine weitere Disruption durch die 180 | Die vom Ehepaar Woolf aus der Taufe gehobene Horghart Press publizierte die Werke Freuds in englischsprachiger Übersetzung.

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Hinzufügung Charles Tansleys, der die Wetterdiagnose Mr Ramsays und damit dessen Verbot, am folgenden Morgen zum Leuchtturm fahren zu können, bestätigt (TL, S. 4). Unkonventionell ist die plötzliche Hinzufügung Tansley deshalb, weil die elliptische Steigerung an dieser Stelle den Ausschnitt aus einer dem Romaneingang vorhergehenden Interaktion zwischen Mr Ramsay, Mrs Ramsay und Charles Tansley vermuten lässt. Das Zusammentreffen der drei erwachsenen Figuren wird durch einen in Fragmente zerlegten Dialog gekennzeichnet, der sich in Teil I zwischen dem 1. und 7. Kapitel auf etwa 25 Seiten entfaltet. Nimmt man die Einfügungen heraus, lässt sich dieser Dialog als Variation des Verbots des Vaters, der Antworten Mrs Ramsays und der Bestätigungen des Verbotes durch Tansley rekonstruieren.181 Dieser rekonstruierte Dialog, der Freuds phylogenetische Rekonstruktion des Urhordenmythos narrativ aufgreift und ihr widersteht, ist mit Ereignissen und Reflexionen im ersten Romanteil durchsetzt, die mit dem Ausflug zum Leuchtturm nichts zu tun haben, das Telos – die Fahrt zum Leuchtturm – also ihrerseits unterbrechen. Die Fragmentierung des Dialogs und des Telos lässt für James und die Leserinnen die untersagte Wunscherfüllung, verstärkt als unerfüllbare Sehnsucht nach einer verlorenen Ganzheit in der Fragmentierung, elegisch aufscheinen. Zugleich hinterlässt sie den Eindruck einer Auflösung und gleichzeitigen Überschreitung von fixierten Charakteren, so dass von stabil geformten Charakteren kaum die Rede sein kann, aber sehr wohl von einer dynamisierten Beziehung zwischen ihnen, die den Durchblick auf die sie verknüpfenden Transzendentalien ermöglicht. So lassen sich auch Mr Ramsays – aus Mrs Ramsays Sicht gesehen – widersprüchliche Aussage am Schluss des Dialogs und ihre selbstwidersprüchliche Reaktion auf ihren Mann für die Rezipientinnen nicht eindeutig auflösen: »›Damn you. He said. It must rain. He said. It won’t rain; and instantly a heaven of security opened before her.« (TL, S. 24) Die Fragmentierung des Dialogs und seine Widersprüche durchkreuzen für Rezipientinnen Erwartungen an eine konventionelle Handlungsführung des Romans. So wird der Blick der Rezipientinnen auf die Gestaltung der Narration gelenkt. Unter dem Narrationsprinzip eines Spiels mit Auflösungen linearer Handlungsführungen, eines Spiels mit divergierenden Perspektiven und subjektiven Zeiterfahrungen lassen sich weitere bedeutende Bruchlinien in To 181 | J. Kavaloski: High Modernism ebd., S. 127.

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the Lighthouse ausmachen: die eingebauten stories, die von bestimmten Figuren erzählt werden; der zweite Teil des Romans; der Tod Mrs Ramsays und der scheinbare Plot des Romans [die Fahrt zum Leuchtturm]. Diese Bruchästhetik sei an einem weiteren Beispiel, der Gestaltung des Grimm’schen Märchens Vom Fischer und seiner Frau erläutert.

Das in den Roman eingebaute Grimm’sche Märchen Vom Fischer und seiner Frau Zu den in den Roman eingebauten Geschichten gehören (a) Mr Ramsays Gedanken über die Nachhaltigkeit seiner Schriften, die er in ihrer Qualität an die Messlatte des Alphabets anlegt. Er vermeint, höchstens den Buchstaben R erreicht zu haben (die Initiale seines Namens), das Niveau Z aber nie erreichen zu können, (b) Mr Ramsays Rezitation von Lord Tennysons Gedicht »Charge of the Light Brigade« und (c) das Grimm’sche Märchen Vom Fischer und seiner Frau, das Mrs Ramsay James vorliest. Diesen eingebauten Geschichten ist gemeinsam, dass sie einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben, kontinuierlich linear angelegt sind. Das lässt sich am Einbau des Grimm’schen Märchens Vom Fischer und seiner Frau zeigen: Dieses Märchen, das Mrs Ramsay James als Ganzes in seiner konventionellen Handlungsführung vorliest, ist im ersten Teil des Romans verschiedentlich in den fortlaufenden Text so eingeflochten, dass seine ganzheitliche Linearität zwar bis zur Unkenntlichkeit zerstört wird, aber durch die Imagination der Rezipientinnen visionär erhalten bleibt. Seine erste Erwähnung findet das Märchen im letzten Drittel des 7. Abschnitts. Hier lässt Mrs Ramsay ihren Finger über die Seite des Märchens gleiten (TL, S. S. 28). In der Konsequenz des fragmentierenden Erzählens des Romans wird der Titel des Märchens erst mehrere Zeilen später genannt. Viele der Märchenpassagen enden abrupt: »And he stood there and said –«/»Her husband was still stretching himself …« [Punkte im Original]/»›Well, what does she want then?‹ said the Flounder«. (TL, S. 28, S. 40, S. 41) Geht man davon aus, dass Mrs Ramsay das Märchen als Ganzes vorliest, dann wandeln sich diese Passagen in kurze abgebrochene Vortragsmomente. So bleibt in der hier zitierten dritten Passage die Frage unbeantwortet. Ganz deutlich wird die Auflösung linearen Erzählens, wenn Mrs Ramsay ihr Vorlesen des Märchens zu Ende führt (TL, S. 44). Sie bedient sich nicht der tröstenden Formel, die Märchen abschließt [»Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende«], sondern Mrs Ramsay zitiert die originalen abschließenden Worte dieses Märchens, »as if she had made

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them up herself«: »›And there they are living still at this very time. And that’s the end‹, she said […].« (TL, S. 44) Das deutsche Original schließt: »Door sitten se noch bet up hüüt un düssen Dag«.182 Mrs Ramsay bringt damit in dreifachem Bezug auf das Märchen, auf James und auf sich zum Ausdruck, dass das Märchenende offensichtlich unabgeschlossen ist: [»›… dort sitzen sie … bis zum heutigen Tag‹«] und trotz seiner linearen Kontinuität einer ganzheitlichen Abrundung bedarf. Verstärkt wird Mrs Ramsays ganzheitliches Bedürfnis durch die Fortsetzung des fragmentierten Erzählens. James verliert zum Märchenschluss hin sein Interesse an dem Märchen als Ganzem. Er ist abgelenkt und fasziniert vom Widerschein des Lichts, das der Leuchtturm in den Abend sendet. Schaut man sich die in den ersten Teil des Romans eingeflochtenen Märchenpassagen noch einmal an, so sieht man, dass das Märchen keinen Anfang, viele Lücken und ein eher formal markiertes Ende im Gesamten des Romans hat. So entsteht ein Kontrast zwischen der ästhetischen Einheit des Märchens und seiner erzählerischen Fragmentierung.

Die ganzheitliche Gestaltung der Erzählfigur Mrs Ramsay In der gespiegelten Beziehung zwischen Liliy Briscoe und Mrs Ramsay erscheint die schillernde Erzählfigur Mrs Ramsay in mehreren Perspektiven: als konventionell viktorianische Ehefrau und Mutter, als Ehestifterin, als mütterlich-empathischer Mittelpunkt der Familie – einer Familie, die, sobald Mrs Ramsay weggeht oder gestorben ist, auseinanderbricht. Mrs Ramsay ist eine Frau, die aus 50 Augen unterschiedlich wahrgenommen wird. Schließlich wird sie in der Perspektive der Erzählstimme als ein zu sich selbst werdender ganzheitlicher Mensch gestaltet, in dem sich die Künstlerin Lily Briscoe und ihr Werk spiegeln und sich zugleich von ihr distanzieren. Da der gebrochene Spiegelbezug sich autoreferenziell auf das Ganze des Romans To the Lighthouse bezieht, sei darauf näher eingegangen. Die gebrochene Spiegelbeziehung zwischen den beiden Frauenfiguren zeigt sich in Lily Briscoes ambivalenter Beziehung zu Mrs Ramsay, ihrer Sehnsucht danach, mit Mrs Ramsay eine Symbiose zu bilden,183 und ihrem Bedürfnis, sich als eigenständige künstlerische Persönlichkeit zu 182 | Brüder Grimm: Von dem Fischer un syner Fru, in: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Herausgegeben von H. Röllecke. Stuttgart: Reclam 2009, S. 114–122, hier: S. 122. 183 | S. Raitt: Virginia Woolf’s To The Lighthouse ebd., S. 106.

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entfalten: »It was love, she thought, pretending to move her canvas, distilled and filtered, love that never attempted to clutch its object«, (TL, S. 34) eine Liebe zu Mrs Ramsay, die in ihrer Qualität »was meant to be spread over the world and become part of the human again.« (TL, S. 34) Aus dieser weltinteressierten Transzendierung entfaltet sich Lilys Eigenständigkeit. Im III. Teil sieht sich Lily Briscoe nach Mrs Ramsays plötzlichem, etwa zehn Jahre zurückliegendem Tod in einem distanzierten Verhältnis zu ihr: »And one would have to say to her, It has all gone against your wishes. They’re happy like that; I’m happy like this. Life has changed completely. At that all her [Mrs Ramsay’s] being, even her beauty, became for a moment, dusty and out of date.« (TL, S. 130) Diese Reflexion Lilys auf die in ihrer Erinnerung anwesende und in ihrem Leben abwesende Mrs Ramsay stärkt in ihrer an die Ästhetik des Kinos angelehnte Widersprüchlichkeit – die Zuschauer eines Films nehmen rezipierend an einem Geschehen teil, von dem sie ausgeschlossen sind – 184 stärkt also Lilys Selbstbewusstsein, künstlerische Entschiedenheit und somit, in der Perspektive der Romanästhetik Virginia Woolfs, ihr ganzheitliches Selbstgefühl. Dieses entfaltet sich, in der Sicht der Erzählstimme unabhängig von allen anderen Romanfiguren bei Mrs Ramsay. An drei Romanstellen wird Mrs Ramsays Fähigkeit zur Selbsttranszendierung hervorgehoben: »[…] and it was a relief when they went to bed. For now she need not think about anybody. She could be herself, by herself. And that was what now she often felt the need of – to think, well not even to think. To be silent; to be alone. All the being and the doing, expansive, glittering, vocal, evaporated; and one shrunk, with a sense of solemnity, to being oneself, a wedge-shaped core of darkness, something invisible to others. Although she continued to knit, and sat upright, it was thus that she felt herself; and this self having shed its attachments was free for the strangest adventures. When life sank down for a moment, the range of experiences seemed limitless. And to everybody there was always this sense of unlimited resources, she supposed […]. Beneath it is all dark, it is all spreading, it is unfathomably deep but now and again we rise to the surface and that is what you see us by. Her horizon seemed to her limitless […]. This core of darkness could go anywhere, for no one saw it. They could not stop it, she thought exulting. There was freedom, there was peace, there was, most welcome of all, a summoning together, a resting of a platform of stability.« (TL, S. 45) 184 | S. Raitt: Virginia Woolf’s To The Lighthouse ebd., S. 197.

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Diese wie auch die beiden anderen Stellen gestalten, wie oben zu Woolfs Romanästhetik dargelegt, Mrs Ramsay als eine Romanfigur, die die Rezipientinnen dazu einlädt, sie aus deren Augen und universalisierend zu sehen. Mrs Ramsy und, in unterschiedlichen Akzentuierung, Lily Briscoe haben die Macht, »to make you think not merely of itself, but of all sorts of things through its eyes – of religion, of love, of war, of peace, of family life, of balls in country towns, of sunsets, moonrises, the immortality of the soul«.185 In ihrer Erinnerung an Mrs Ramsay ist Lily die einzige Romanfigur, die derem Fähigkeit zur Selbsttranszendierung erkennt. Elisabeth Bronfen deutet diese Stelle als Fähigkeit Mrs Ramsays, sich »aus einer Verhaftung in der Welt« herauslösen zu können, »als Rückzug auf eine unter der Oberfläche liegende Finsternis«. Mrs Ramsay »erfährt den Eintritt in einen Zustand reiner Potentialität.«186 Diese und weitere metapsychologisch erzählte Stellen verdichten von Lilys Erkenntnis Mrs Ramsays her die Dialektik der Trias der Tranzendentalien Tod [»Finsternis«], Leben und Kunst [»reine Potenzialität«]. In Teil I, Kapitel 19 variiert zunächst ein innerer Monolog Mrs Ramsays ihr Bewusstsein ihrer Fähigkeit, ein Ganzheitsgefühl und damit ihre rollenübersteigende Unabhängigkeit187 entfalten zu können. Sie sitzt in der Nähe ihres Mannes, der Scotts Roman The Antiquary liest: »Mrs Ramsay raised her head and like a person in a light sleep seemed to say that if he wanted her to wake she would, she really would, but otherwise, might she go on sleeping, just a little longer, just a little longer? She was climbing up those branches, this way and that, laying hands on one flower and then another.« (TL, S.  87) In der Partikularität der beiden nahe beieinander sitzenden Ehepartner und der Fragmentierung ihrer Tätigkeiten scheint ein von Mr Ramsay unbemerktes Totalitätsmoment auf, das beider Beziehungen, sich verflüchtigend, übersteigt. Die dritte Stelle befindet sich im III. Teil und weist nach Mrs Ramsays Tod Lily in ihrer Erinnerung als diejenige aus, die als einzige Figur dieses Romans Mrs Ramsays Dunkelheit und Freiheit erkennt. Lily erinnert sich: »Mrs Ramsay sat silent. She was glad, Lily thought, to rest in silence, uncommunicative; to rest in the 185 | Mr Bennet«, CDB, S. 98. 186 | E. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Hanser 2008, S. 589. 187 | G. Summerfield and L. Downard: New Perspectives on the European Bildungsroman. London/New York: continuum 2012, S. 165.

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extreme obscurity of human relationships. Who knows, what we are, what we feel? Who knows even at the moment of intimacy?« (TL, S.  128) In der Erinnerung an die verstorbene Mrs Ramsay erkennt Lily deren Weltwissen, das nur »in the perfection of the moment« (TL, S.  128) auf blitzen und die Schönheit und Vollkommenheit eines Augenblicks erfahrbar machen kann.188 Lily und die lebende und später erinnerte Mrs Ramsay kreieren in der präsenten Abwesenheit Mrs Ramsays eine Schönheit, die selbstbewusst ist: gelebt und für andere unsichtbar bei Mrs Ramsay, aktiv künstlerisch erarbeitet und für andere als Provokation sichtbar bei Lily Briscoe. Hier kommt eine cineastische Denkfigur ins Spiel,189 bei der Schönheit in der Harmonie ihrer Gegensätzlichkeit durch Abwesenheit der Mrs Ramsay Gestalt gewinnt. Diese Denkfigur weist autoreferenziell auf die Sinndimension des Romans, die Verknüpfung von Tod, Leben und Kunst, zurück.

Teil II: Time Passes Mrs Ramsays Fähigkeit zur Selbsttranszendierung und die mit dieser Fähigkeit kontrastiv verknüpften künstlerischen Entfaltungspotenziale Lily Briscoes werden im ersten Teil des Romans eingebettet in die Partikularität des Lebens im Hause der Ramsays. Dieser Ort wird an zwei Stellen im ersten Teil von einer zerstreuten Mrs Ramsay als »bear garden« (TL, S. 65) und wenig später von Lily Briscoe in Bezug auf Mrs Ramsay als »this hubbub« bezeichnet (TL, S. 81), dessen organisierende und schützende Mitte Mrs Ramsay bildet. Die verlässt das so empfundene Tollhaus alsbald, worauf die sie umgebende Gemeinschaft auseinanderfällt: »And directly she went a sort of disintegration set in.« (TL, S. 81) Die Steigerung von der Zerstreutheit zum Rückzug Mrs Ramsays aus der Gemeinschaft hebt das Sinnvakuum hervor, das ihre Abwesenheit, erneut gesteigert durch ihren in Parenthese gesetzten unerwarteten Tod im zweiten Teil, hinterlässt. Teil II des Romans beginnt mit einer neuen narrativen Ausdrucksgestalt. Während sich im ersten Teil innere Monologe einer Vielzahl von Figuren überschneiden, Perspektivendiskrepanzen die Widersprüchlichkeit und Komplexität eines sich selbst entgleitenden Lebens anschaulich werden lassen, setzt die narrative Energie im zweiten Teil des Romans individuell sich überkreuzende Sinnentwürfe aus: »Statt Menschen an einem Ess188 | T. Eagleton: The English Novel ebd., S. 324–325. 189 | S. Raitt: Virginia Woolf’s To The Lighthouse ebd., S. 92–93.

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tisch zu versammeln, versammelt sich [im zweitenTeil] ein unbestimmtes Zusammenlaufen von Zeit, in dem Dunkelheit und Tageslicht eine Einheit bilden.«190 In dieser mehrere Kapitel von Teil II umfassenden Leerstelle treten externe Naturkräfte widersprüchlichster Art auf, die den Zerfall des Hauses auf den Hebriden in elegischem Ton beschleunigen. Der narrative Ton bindet die extern gestalteten Naturkräfte zurück an den ephemeren Erzählgestus des Romans, so dass eine binäre Opposition zwischen innen (Teil I, Teil III) und außen (Teil II) ins erzählerisch sich selbst entgleitende Leben transzendiert wird: »Diese Nacht […] birgt die Möglichkeit in sich etwas Neues entstehen zu lassen.«191 Zu Beginn des zweiten Teils – er fragmentiert den Roman: er trennt den ersten vom dritten Teil inhaltlich und verbindet beide Teile invers – erfahren wir, dass einige Nächte vergangen sind. In Parenthesen erfahren wir außerdem, dass Mrs Ramsay, Prue und Andrew gestorben sind: Mrs Ramsay unerwartet, Prue im Kindbett und Andrew von einer Bombe im Ersten Weltkrieg getötet. Der Kontrast zwischen der in komplexen Perspektivenverschränkungen gestalteten, lebendigen Tollhauswelt des ersten Teils und den in Parenthesen minimierten, existenziell aber monumentalen Todesfällen, die in zivilisatorisch zerstörend wirkende und sich in diesem Prozess regenerierende Naturgewalten eingelassen sind, hebt in der Mitte des Romans, als Bruch gestaltet, das über individuelle Erfahrungen hinausgehende Sinnvakuum hervor, das die Moderne mit ihren zerstörerischen zivilisatorischen Kräften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat. Die Zivilisation ist ihrer Bedeutung beraubt [»robbed of meaning«, TL, S. 97] und die Erzählstimme fragt: »Did nature supplement what man advanced? Did she complete what he began? With equal complacence she saw his misery, condones his meanness and acquiesced in his torture.« (TL, S.  99) Am Ende des zweiten Teils erfahren wir, dass Lily Briscoe zehn Jahre später (TL, S. 110) in das Haus zurückkehrt (TL, S. 105) und Augustus Carmichael nach dem Ersten Weltkrieg ein erfolgreiches Buch mit seinen Gedichten veröffentlicht hat. Dies legt die Vermutung nahe, dass nach dem Ersten Weltkrieg ein hohes Bedürfnis nach der Lektüre von Gedichten bestand. Mit diesem Ende des zweiten Teils gestaltet der Roman die Trias der Transzendentalien als ganzheitliche, unzerstörbare Realität der menschlichen und außermenschlichen Natur, die die empi190 | E. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht ebd., S. 592. 191 | E. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht ebd., S. 592.

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rische Wirklichkeit in der narrativen Gestaltung des Bedürfnisses nach Bedeutung und Lebenssinn übersteigt. Unzerstörbar [»those fumbling airs that breathe and bend over the bed, itself, here you can neither touch nor destroy«, TL, S. 94] sind die in den Transzendentalien evozierte Seele des Romans, sein kreatives pattern, sein Eros. Das deiktische »here« weist autoreferenziell auf das in diesem Roman gestaltete unzerstörbare visionäre Moment der Seele, Vision einer Ganzheitlichkeit von Humanität und Natur, hin. Vor dem Hintergrund des Sinnvakuums der Moderne liegt Bedeutung allein im Wagnis, das Ephemere des menschlichen Lebens erzählerisch so zu gestalten, dass Kunst und Leben sich zueinander öffnen.

Teil III: The Lighthouse Der dritte Teil des Romans greift das Motiv der Transformation des Ephemeren in der Erzählkunst auf. Er beginnt mit Reflexionen der in das Haus der Ramsays zurückgekehrten Lily Briscoe über ihr zehn Jahre zurückliegendes Verhältnis zu Mrs Ramsay, über ihre eigene innere Leere, über Mr Ramsays angeordneten Ausflug zum Leuchtturm mit James und Cam am folgenden frühen Morgen und über ihre verwirrten Empfindungen. Diese Reflexionen münden in die Schlüsselfrage, die den Roman in dutzenden Passagen seiner drei Teile in Varianten durchzieht: »What does it mean then, what does it all mean?« (TL, S. 109) Eine Antwort lässt auch dieser dritte Teil in der Schwebe. Er variiert die Dynamik der rekursiven Denkfigur, der Trias Tod, Leben und Kunst, die die ersten beiden Teile des Romans durchzieht, und führt sie kompositorisch zu einem unbestimmten Romanende. Im Blickwechsel zwischen dem im Boot auf der Fahrt zum Leuchtturm sitzenden Mr Ramsay, seinem 16-jährigen Sohn James und dessen Schwester Cam mit der sich auf Skye in der Nähe des Hauses befindenden Liliy Briscoe, die daran arbeitet ihr zweites Gemälde nach dem Tode Mrs Ramsays fertigzustellen – sie ließ ihr erstes Gemälde in Teil I zu deren Lebzeiten unvollendet – in diesem Blickwechsel, der sich in der Komposition alternierender Kapitel vollzieht, wird der Irrtum des gealterten Rationalisten und Metaphysikers Mr Ramsay auf See und die Fertigstellung des Gemäldes durch Lily auf Skye in eine chiastische Figur überführt. Diese läßt das Denken in »Kammern« [Mr Ramsay] und kreative Lebendigkeit [Lily Briscoe] am Ende und als Schluss des Romans in unbestimmter Schwebe. Die Unbestimmtheit des Romanschlusses entsteht durch die Kontrastkopplung zwischen einer fragwürdigen Versöhnung von Mr Ramsay mit seinen sich von ihm ablösenden Kindern

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James und Cam, die offen bleibt und als misslingend schattiert ist, und der intuitiv gelingenden Bildkomposition Lily Briscoes. Mr Ramsays Irrtum besteht zunächst darin, dass er vermeint, den Wunsch seiner verstorbenen Frau und seines jetzt 16-jährigen Sohnes, zum Leuchtturm fahren zu dürfen, nach zehn Jahren erfüllen kann. James und Cam folgen ihm widerwillig und schließen nonverbal einen Pakt gegen ihren Vater, »that they would fight tyranny to the death«. (TL, S. 151) Auf dem Seeweg zum Felsen, auf dem ein neuer Leuchtturm steht – er interessiert James nicht –, entwickelt sich in auffallender Konsequenz von Perspektivendiskrepanzen die ambivalente Struktur einer distanzierten Akzeptanz der beiden Jugendlichen gegenüber ihrem Vater. Dieser erscheint ihnen, wie auch Mrs Ramsay im ersten Teil des Romans, als Opfergaben fordernder (TL, S. 12) dämonischer Gott, zerrissen zwischen einem »splendid mind« (TL, S.  24) und einer Kassandra ähnlichen Destruktivenergie. »[S]houting, gesticulating […] glar[ing].« (TL, S. 14) So rennt er im ersten Teil beinahe Lily Briscoes Staffelei um. (TL, S. 13) Er lebt als Professor der Metaphysik im Irrtum seines Lebens, der darin besteht, dass er, dessen Gedanken mit David Humes Philosophie assoziiert werden,192 weder den Begriff der Kausalität noch den der Substanz seinem Denken zugänglich werden lässt, weil nach Hume die gesamte menschliche Erkenntnis auf sinnliche Wahrnehmung beschränkt ist.193 Für Mr Ramsay bedeutet dies, dass er Vernunfteinsichten, die über sinnliche Empfindungen hinausgehen, alle Fähigkeiten abspricht. Humes und mithin auch Mr Ramsays Irrtum besteht darin, dass er in verhängnisvoller Einseitigkeit Erfahrungen auf sinnliche Empfindungen reduziert und somit Erfahrung und Denken nicht zu einer Synthese führt. Denn Denken – das wird an Lily Briscoe, Augustus Carmichael und an intensiven Augenblicken bei Mrs Ramsay in deren ganzheitlicher Erfahrung der Trias der Transzendentalien deutlich – ist notwendigerweise immer auf Erfahrung angewiesen, so wie Erfahrungen als geistig durchdrungene, im Denken und Verstehen vollzogene Erfahrung begriffen werden können. Mithin »übersteigt

192 | G. Beer: »Hume, Stephen, and Elegy in ›To the Lighthouse‹«, in: S. Reid (Hg.): Mrs Dalloway and To the Lighthouse. Virginia Woolf. London: Macmillan, New Casebooks 2003, S. 71–86, hier: S. 75. 193 | E. Coreth/H. Schöndorf: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Kohlhammer 2000, S. 129–132.

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[…] das Denken des Verstandes […] die sinnliche Anschauung«.194 Wird dies, wie von Hume und Mr Ramsay, übersehen, bedeutet dies »den grundsätzlichen Verzicht auf jede Seinserkenntnis«.195 So wird Mr Ramsay weder ein metaphysischer Sinnentwurf noch ein kausaler Seinszusammenhang der Dinge erkennbar: eine fundmentale Erfahrung des Sinnverlusts für Rezipientinnen des dritten Lebensalters. Dass sich die Erfahrungswelt in eine Pluralität bloßer Erscheinungen auflöst, zeigt sich in der Affinität der Todesfantasien Mr Ramsays zu Tennysons Gedicht »The Charge of the Light Brigade«. (TL, S. 22) In der Perspektive der Erkenntniskritik Humes besteht der Irrtum Mr Ramsays in Analogie zum missverstandenen Befehl, dem die leichte Brigade in Tennysons Gedicht folgt und der die Hälfte dieser Brigade verwundet zurücklässt bzw. in den Tod führt. Die Analogie zur Erkenntniskritik Humes besteht darin, dass Mr Ramsay, wie der befehlsgebende Brigadier in Tennysons Gedicht, die Verknüpfung von Ursache [Befehl] und militärischer Lage mit Todesfolgen [Wirkung] nicht als notwendige Verbindung, die auch anders hätte sein können, ansieht: Nach Hume gibt es keine sensuellen Möglichkeiten einer Erkenntnis der Notwendigkeit.196 Ein kausaler Seinszusammenhang der Dinge ist, mit möglicher Todesfolge, in diesem Zusammenhang auch für Rezipientinnen des dritten Lebensalters nicht erkennbar. Konsequenterweise erscheint Mr Ramsay bereits im ersten Teil des Romans zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt gespalten, »riding […] as a thunderbolt, fierce as a hawk at the head of his men through the valley of death«, (TL, S.  22) wie die Brigadiers im Tal des Todes, unnahbar und unansprechbar, (TL, S. 22) als Anführer einer zum Untergang verurteilten Brigade, Expedition [»leader of the doomed expedition«, TL, S.  26]. Daher entstehen im dritten Teil des Romans, insbesondere in Kapitel 13, in verdichteter Akzeleration Diskrepanzen in und zwischen den Figuren. Bei Cam zeigt sich eine Sensibilität für die Grenzsituation zwischen Le194 | E. Coreth/H. Schöndorf: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ebd., S. 134. 195 | E. Coreth/H. Schöndorf: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ebd., S. 134–135. 196 | Zu Humes Erkenntniskritik: G. Skirbekk und N. Gilje: Geschichte der Philosophie. Eine Einführung in die europäische Philosophiegeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, Band 1, S. 424; O. Höffe: Kleine Geschichte der Philosophie. München: Beck 2001, S. 184.

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ben und Tod, zwischen Rettungsfantasie mit Vergangenheitsbezug und Untergangswirklichkeit mit Gegenwartsbezug, in Zusammenhang mit einem zwischen Zuwendung und Gleichgültigkeit als dämonischem Gott erscheinendem Vater, mit dem sie [James und Cam] in einem Boot sitzen: »for she was safe«, (TL, S. 142) »and they vowed that they fight tyranny to the death«, (TL, S. 151) »I shan’t fall over a precipice, for there he is, keeping his eye on me«, (TL, S. 152) »and yet he was leading them on a great expedition where, for all she knew, they would be drowned« [TL, S. 152; dies ist eine Anspielung auf die »doomed expedition« im ersten Teil]; »his father had praised him«, (TL, S. 153) »[a]sk us anything and we will give it to you. But he did not ask them anything«. (TL, S. 153) Am Felsufer angekommen, mündet die auf Widersprüchen beruhende distanzierte Akzeptanz der beiden Jugendlichen, in Assoziation zur Bruderhorde, die den Übervater ermordet, in eine durch Haß und Liebe ambivalenzbesetzte Versöhnung mit dem Vater, die, weil sie in der Schwebe bleibt, den Charakter des Misslingens annimmt: »He rose and stood in the bow of the boat, very straight and tall, for all the world, James thought, as if he were saying: ›There is no God,‹ and Cam thought, as if he were leaping into space, and they both rose to follow him as he sprang, lightly like a young man, holding his parcel, on to the rock.« (TL, S. 154) Diese Stelle wird im Zusammenhang mit Mr Ramsays Lebensirrtum als Empiriker [Hume] mit der Schlussstrophe von William Cowpers Gedicht The Castaway konnotiert, in der es um einen über Bord gesprungenen und ertrunkenen Seemann geht, eine Erfahrung, die Mr Ramsay reflektiert, dann ignoriert und daran das Lob anschließt, James habe seine Sache gut gemacht, mithin der »doomed expedition« gegen und mit Freud das Leben gerettet: »James had steered them like a born sailor.« (TL, S. 153) Gegen Freud, weil der Übervater in der Geschwisterhorde unbestimmt überlebt [»as if he were leaping into space«]. Mit Freud, weil James das Boot regelgerecht [»a born sailor«] ans Ufer des Leuchtturms gesteuert hat. Während Mr Ramsay aus Sicht der Rezipientinnen und für Lily Briscoe den Felsen zu betreten scheint, bleiben für die Rezipientinnen James mit dem Lob des Vater und Cam mit ihrer Vision des ins All springenden Vaters in einer paradoxen Situation zurück: »they both rose to follow him as he sprang«. (TL, S. 154) Da offen bleibt, wohin die Jugendlichen ihrem Vater folgen und ob Mr Ramsay seinen Lebensirrtum erkennt, entsteht eine imaginäre Kluft zwischen Mr Ramsay und seinen Kindern. Diese Kluft hat in der Grenzsituation der Überfahrt zum Leuchtturm und in der Perspektive

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der Trias Tod, Leben und Kunst sowie in Freuds rekonstruiertem Mythos des getöteten und hier unbestimmt überlebenden Übervaters seine Voraussetzung. Dennoch: die narrative Situation bleibt im Sinne der Romanästhetik Woolfs unbestimmt. Die in der Grenzsituation der drei im Boot sitzenden Figuren mitschwingende Erlösungsfantasie wird im folgenden Kapitel im Gelingen von Lily Briscoes Kunstwerk eingelöst. Im abschließenden Kapitel 14 formuliert Lily von Land aus, in räumlicher Distanz, die Ankunft Mr Ramsays und der beiden Jugendlichen am neuen Leuchtturm zusammen mit Augustus Carmichael als Vermutung: »›He must have reached it.‹« (TL, S. 154) Die schwebende Ambivalenz der Ankunft des Bootes auf See verlängert sich in die künstlerische Arbeit Lilys an ihrem zweiten Gemälde, dessen Fertigstellung ihr intuitiv zehn Jahre nach Mrs Ramsays Tod und nachdem ihr Mrs Ramsay als Phantom erschienen ist, in der Gestaltung malerischer Abstraktion gelingt: Für »Lily hat sich das Nichts als schöpfende Instanz enthüllt«.197 Dieses Gelingen resultiert aus Lilys Vision, in der ihr Mrs Ramsay erscheint, und ihrer ästhetischen Konzeption, die sie im ersten Teil Mr Bankes erläutert. Lily geht es im ersten Teil nicht um eine gemalte Ähnlichkeit mit der Objektwelt, sondern darum, Mrs Ramsay und James, Mutter und Kind, in ihrer Universalität kompositorisch als Beziehung zwischen Flächen, Licht und Schatten darzustellen. Aus dieser kreativen künstlerischen Anverwandlung der Wirklichkeit, Poesis, entsteht die Intuition, die Beziehung zwischen Mutter und Kind als »triangular purple shape« darzustellen. (TL, S. 38) Lily kann ihr Gemälde nicht zu Ende bringen, da sich ihre emotionale und räumliche Nähe zu Mrs Ramsay und ihr radikales Kunstkonzept, empirische Wirklichkeitselemente in abstrakte Formen zu überführen,198 wie es phänomenologisch in der Abstraktion eines Küchentisches in einen »phantom kitchen table« deutlich wird (TL, S.  17), widersprechen. Jedoch nach Mrs Ramsays Tod, nach den Katastrophen des Ersten Weltkrieges und nach Lilys Abwesenheit vom Hause der Ramsays und ihrer Rückkehr zehn Jahre später eröffnet die zeitliche, räumliche und emotionale Distanz, die zudem zwischen Lily und dem sich entfernenden Boot besteht, zusammen mit der Erfahrung einer Epiphanie Potenziale ihrer künstlerischen Intuition, die sie ihr zweites Gemälde fertigstellen lassen: Sie kann ihre Mittellinie ziehen. Der Dichter Carmichael ist als 197 | E. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht ebd., S. 594. 198 | W. Erzgräber: Virginia Woolf ebd., S. 89.

8. Die Romane Thomas Hardys, D.H. Lawrences und Virginia Woolfs

kontrastive Gottesfigur zum dämonischen Gott, als der Mr Ramsay im ersten und dritten Teil Mrs Ramsay (Teil I) und ihren Kindern (Teile I und III) erscheint, angelegt. Aus Lilys Sicht erscheint Augustus Carmichael erhaben wie eine Gottesgestalt, der, verschiedene Götterkulte von Christen, Juden, Zoroastriern, Manichäern in sich vereinend, neben ihr steht und weltübergreifend über das Leiden der Menschheit seine Hände ausbreitet. In dieser Erscheinung löst er bei Lily diese »sudden intensity« aus, (TL, S. 154) die durch die Vergegenwärtigung ihres ästhetischen Konzeptes, das sie vor zehn Jahren vertrat, und durch die visionäre Vergegenwärtigung der verstorbenen Mrs Ramsay im Akt der künstlerischen Transformation zur Vollendung ihres Werkes führt. In der Kontrastkopplung von unbestimmter Versöhnung zwischen Mr Ramsay und seinen Kindern und der Erhabenheit von Lilys intuitiv gelingendem Gemälde kommt eine Grenzüberschreitung zwischen Fragmentierung [es gibt zwei Leuchttürme, zwei Gemälde, zwei Götter, den Chiasmus zwischen zwei Romanschlüssen] und Ganzheit in Gestalt der Trias Tod, Leben und Kunst, repräsentiert von Mr Ramsay, Mrs Ramsay, Carmichael und Lily, zum Ausdruck, die das unbestimmte Ende dieses Romans zirkulär an seinen elliptischen Anfang anschließt. Diese symmetrische Kompositionsweise, die dunklen Geheimnissen des Lebens eine traumanaloge Gestalt gibt, bestimmt die Form dieses Romans als autonome Kunst und als lebens- und deutungsoffenen Bezug zu seinen Rezipientinnen. Mit Willy Erzgräber kann man schließen: Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse veranschaulicht multiperspektivisch »das Prinzip der schöpferischen Gestaltung menschlichen Zusammenlebens« in der Moderne.199 Woolfs Roman zielt nicht auf Illusion, sondern auf die Simultaneität der unvereinbaren Dimensionen empirischer Wirklichkeit und transzendenter Realität: In ihrem Roman To the Lighthouse ist die »Form zersetzende Macht der Nacht […] überwunden, indem sie am Tag aufrecht erhalten bleibt«200.

199 | W. Erzgräber: Virginia Woolf ebd., S. 89. 200 | E. Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht ebd., S. 595.

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9. Zusammenfassung

In der Wechselbeziehung zwischen den Romanen Thomas Hardys, D.H. Lawrences, Virginia Woolfs und den Leserinnen des dritten Lebensalters wurde im Rahmen einer metapsychologisch ergänzten kultursemiotischen Theorie deutlich, dass die Psychopathologie autobiografischer Erfahrungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von Rezipientinnen des dritten Lebensalters in der Lektüre und im Diskurs dieser Romane als literarische opera in der Doppelstruktur gerotranszendenter ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten thematisiert werden konnte. Im Verlaufe der Argumentation wurde hervorgehoben, dass die ausgewählten Romane Hardys, Lawrences und Woolfs das Leiden an der Moderne in den unterschiedlichen Schattierungen von Vertreibung, dezentrierter Subjektivität und sinnentleerter Zeiterfahrung gestalten, in Verbindung mit visionären Momenten der Seele, die Freud als Entscheidungen von Lebenswegen bezeichnete. Hervorgehoben wurde, dass sich die Kristallisation der Denkfigur literarischer Opferfiguren aus Freuds kulturkritischen Schriften ableiten lässt und die besprochenen Romane die Pathologie der Moderne aus Perspektiven ihrer Opfer thematisieren. Dementsprechend evozieren die Romane unterschiedliche Lösungsvorschläge für die Kapitulationsstrategien ihrer Erzählfiguren. Diese Lösungsvorschläge bringen zugleich Momente visionärer Entrückung zum Ausdruck. Das aber heißt auch, so wurde gesagt, dass von bildender Kunst und Literatur, die Objektivationen der mentalen Kulturdimension sind und die als Dokumente der menschlichen Psyche eine aktive Imagination als Brücke zwischen Bewusstsein und Unbewusstem der Rezipientinnen evozieren, eine verführerische Macht durch Bilder ausgeht, die zwar Rollenklischees befragen lassen, aber zugleich über eine »aesthetics of astonishment« Einfluss auf das Konsumverhalten im Bereich der sozialen und mentalen Kulturdimension nehmen. In Bezug auf eine Ästhetik der Werbung spielen hier

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Markt- und Meinungsforschungsstrategien im Bereich der materialen Kulturdimension eine wesentliche Rolle, die sich auf Wünsche, Erwartungen, Lebensstile von Konsumenten und ihre Bereitschaft konzentrieren, Werbung an sich heranzulassen. Viele der modernen bildenden Künstler waren und sind im Bereich der mentalen Kulturdimension für die Werbung tätig. Dazu gehört auch, dass Wirkungen des Unbewussten in der Kultur zu einer metaphysischen Erhöhung bzw. zur sozialen Erniedrigung des Weiblichen über Bilder und Sprachbilder führen. So kann die jeweilige Formgebung der Romane antiphobische Ausdrucksgestalten hervorrufen, die kathartisch wirken und diskursanregende Reflexionen provozieren. Da seelische Vorgänge von Freud als Lebensentwürfe bezeichnet werden, die in die drei materialen, mentalen und sozialen Kulturdimensionen mit unterschiedlicher Codierung eingelassen sind, und da subjektive Autonomiebildungsmöglichkeiten als Bedingungen von Lebensentwürfen in verdichteter Gestalt literarische Texte prägen, kann eine psychoanalytisch ergänzte Kultursemiotik auf der Grundlage künstlerischer materialer Formen und Medien in genauer Werkanalyse ihren Fokus auf mentale Aspekte einer Kultur richten und auf die Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den drei Kulturdimensionen reflektieren. Eine metapsychologische Ergänzung des dreidimensionalen, semiotischen Kulturmodells evoziert im dialogischen Bezug mit Werken der Literatur gerotranszendente Deutungsdifferenzierungen von Rezipientinnen des dritten Lebensalters. Sie lässt deutlich werden, das interesseloses Wohlgefallen in Bezug auf Werke der Kunst hochgradig kulturell vermittelt ist. Schließlich wird Kultur als eigenständiger Gegenstand der Psychoanalyse unter anthropologischen, phylo- und ontogenetischen Voraussetzungen für die Kulturwissenschaft deshalb interessant, weil das Unbewusste über die Leiblichkeit des Menschen kulturell verankert ist und somit den Sinn eines eigenständig wirksamen Systems erhält, dem die Funktion eines diagnostischen Kulturmodells zukommt.1 Mit Hartmut Böhme kann man über Lacan hinaus schließen, dass das Unbewusste im Feld der kultursemiotischen Theorie den konstruktiven Charakter einer »generative[n] semiotische[n] Maschine« hat, die, »anders als in der Ödipustragödie, kein Schicksal mehr [ist], sondern ein Code sich verschiebender Bedeutungen, der den historischen Subjekten auch 1 | A. Lorenzer: »Die Entdeckung der unbewußten Sinnstruktur« ebd., S. 58; P. v. Matt: ebd., S. 10–14.

9. Zusammenfassung

die Chance bietet, sich den Festlegungen der symbolischen Ordnung zu entziehen«.2

2 | H. Böhme: »Kulturwissenschaft«, in: H.-M. Lohmann und J. Pfeiffer (Hg.): Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2013, S. 302–306, hier: S. 305.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

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Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

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Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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