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German Pages 96 Year 2021
Klaus Benesch Mythos Lesen
Wie wir lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik | Band 2
Für Bärbel
Klaus Benesch
Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter
Wir danken der Hauslage-Stiftung für die freundliche Förderung der Reihe »Wie wir lesen«.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Luisa Bott, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5655-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5655-2 https://doi.org/10.14361/9783839456552 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Vorwort � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 1. Primaner, Primaten, Prime Time � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 11 2. Not For Profit Lesen im Kapitalismus � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 33
3. Die ›gute‹ Leserin Literatur und Moral � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 47
4. Kulturrevolution Von der Bildungs- zur Kulturwissenschaft � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 59
5. Reading Proust on My Cellphone � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 71 Anmerkungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 83 Index � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 89
Vorwort
Der nachfolgende Essay verdankt seine Niederschrift – ebenso wie die Reihe, in der er erscheint – einer Tagung mit dem Titel »Wie wir lesen: Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik«, die im Juni 2018 im Literaturhaus in München stattfand. Einige Monate zuvor hatte ich an der Universität Venedig einen Vortrag über Ezra Pounds Artikel How To Read gehalten, der 1929 in der New York Herald Tribune erschienen war. Pounds Bemerkungen über den Stand des Bücherlesens am Anfang der Moderne schienen mir in vieler Hinsicht ähnliche Fragen aufzuwerfen, wie man sie auch in aktuellen Diskussionen zur Buch- und Lesekultur an der Schwelle zum digitalen Zeitalter vernehmen kann. Warum lesen? Wie ist es um die Wertschätzung des Buches bestellt? Wer kann, wer sollte und, vor allem, was lohnt sich zu lesen, in einer Zeit, in der die Menschen anfangen, sich vom Buch abzuwenden, und ihm zunehmend den Respekt verweigern? Für Pound waren diese Fragen aufs Engste mit der Situation des Schriftstellers verbunden. Wer würde sich noch die Mühe machen, schwierige, anspielungsreiche Texte zu lesen? Für wen schreiben? Und wer besitzt in einer solchen Zeit noch die Kompetenz, zwischen guten und schlechten Büchern zu unterscheiden? So wichtig diese Fragen – zumindest aus der Sicht von Autorinnen und Verlagen – auch sein mögen, sie lassen auch erkennen, dass die Lektüre von Büchern schon länger nichts Selbstverständliches mehr war und dass die vielbeschworene Krise des Buches im Grunde bereits mit seiner massenhaften Ausbreitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. Dies schien mir Grund genug, um gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Manlio Della Marca vom ›Eva Hesse Forschungsarchiv für Modernismus und literarische Übersetzung‹ an der Universität München (LMU) die oben genannte Tagung auf den Weg zu bringen. Neben den bereits von Pound aufgeworfenen Fragen wollten wir dabei auch einen Blick auf die (Vor-)Geschichte des Lesens werfen, als
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Mythos Lesen
noch nicht nahezu alle lasen und der Buchkonsum noch nicht zur conditio sine qua non bürgerlicher Selbstwahrnehmung geworden war. Und wir wollten die Perspektive weiten, auf Religion, Soziologie, Kunstgeschichte, Architektur und weitere Disziplinen, in denen Lesen für die in ihrem Umfeld tätigen Wissenschaftlerinnen ebenfalls relevant war. Und schließlich hatten wir versucht, auch die ›Praktikerinnen‹ des Lesens – Verlagslektorinnen, Redakteurinnen von Printmedien und Onlineplattformen, freie Autorinnen – selbst zu Wort kommen zu lassen. Der Erfolg und das große Medienecho auf diese Tagung ließen von Anfang an die Idee zu einer kleinen Buchreihe reifen, deren einzelne Bände sich jeweils mit unterschiedlichen Aspekten des Themas in prägnant formulierten, auf ein breiteres Publikum zielenden ›Positionsessays‹ auseinandersetzen sollten. Dabei war es eine glückliche Koinzidenz, dass Dr. Cathrin Klingsöhr-Leroy, die Direktorin des Franz Marc Museums in Kochel am See und heutige Mitherausgeberin der Reihe »Wie wir lesen«, etwa zeitgleich mit der Tagung im Literaturhaus eine großangelegte Jubiläumsausstellung in Kochel mit dem Thema »Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder« geplant hatte. Das Ergebnis unserer Zusammenarbeit – neben einer Abendveranstaltung, bei der Cathrin Klingsöhr-Leroy ausgewählte Gemälde der Ausstellung in Kochel vorstellte und meine Kollegin Barbara Vinken (LMU) und ich ein Gespräch über die Sicht von Autorinnen auf das Lesen führten – ist die nunmehr mit dem vorliegenden zweiten Band Gestalt annehmende Reihe, für die wir die freundliche Unterstützung des transcript Verlags in Bielefeld gewinnen konnten. Ein Bereich, in dem ebenfalls professionell gelesen wird, den wir bei der Tagung zwar nicht ausgespart, der von den verschiedenen Beiträgerinnen aber nur am Rande gestreift wurde, sind die Geisteswissenschaften. Lesen findet unter ihren Auspizien sowohl als Wissenschaft wie auch als Technik statt. Nach eingehender Lektüre von Primärliteratur entsteht hier neue Sekundärliteratur, die wiederum – im besten Fall – von beiden, den Studierenden wie den Lehrenden, gelesen werden sollte; und in Seminaren und Lektürekursen wird an praktischen Beispielen zum ›richtigen‹ Lesen angeleitet, es wird vor- und mit-, wieder- und tief gelesen. Da kann es kaum verwundern, dass Buchkultur und Geisteswissenschaft aufs Engste miteinander verbunden sind und dass das eine oft nicht ohne das andere gedacht werden kann: Ohne geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit sprachlichen Kunstwerken wären diese wohl kaum am Markt durchzusetzen, gäbe es weder kompetente Rezensentinnen noch Leserinnen. So jedenfalls der My-
Vorwort
thos, der seit den Anfängen der Geisteswissenschaften im frühen 19. Jahrhundert sich dort um das Buch und seine sittlich-moralische Kraft gebildet hat. Höchste Zeit also, am Beginn einer neuen Epoche – dem digitalen Informationszeitalter – eine kritische Bestandsaufnahme dieses Mythos und seiner Bedeutung für die Geisteswissenschaften zu unternehmen. Genau dies hat der nachfolgende Essay zum Ziel. Der Maxime unserer zunächst auf zehn Bände angelegten Reihe folgend, will er keine ›wissenschaftliche‹ Erörterung des für die Geisteswissenschaften zum Problem gewordenen Lesens sein. Es bleibt, dies ist auch dem begrenzten Umfang der Beiträge geschuldet, beim pointierten Argument und rhetorisch zugespitzter Essayistik. Der Band versteht sich als Beitrag zur anhaltenden Debatte um die Zukunft von beidem, Büchern und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter, und er versucht, Innen- wie Außenpositionen zu berücksichtigen und darzustellen. Geschrieben unter dem Eindruck der Dringlichkeit einer Öffnung nach außen sowie strukturellen Veränderungen nach innen, beschreibt er ein düsteres Szenario für den Fall, dass alles so bleibt, wie es ist. Man muss diese Vorausschau nicht teilen; aber von einer Krise und der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der geisteswissenschaftlichen Fächer zu reden, dies muss jedem angebracht erscheinen, der unvoreingenommen auf die Situation an den Universitäten – diesseits wie jenseits des Atlantiks – blickt. Als Amerikanist und Literaturwissenschaftler ist meine Position in diesen Fragen naturgemäß durch jahrelange Beschäftigung mit und durch das amerikanische Hochschulsystem geprägt. Ich habe dennoch versucht, dort, wo strukturelle Unterschiede allgemeingültige Aussagen verbieten, geographische, kulturelle und historische Besonderheiten mit in den Blick zu nehmen. Abschließend noch ein Wort zur Sprache. Immer dann, wenn von der Gegenwart bzw. von allgemeinen Aspekten des Lesens, Schreibens und Denkens die Rede ist, habe ich generisch weibliche Nominalformen verwendet. Dies mag den Fluss des Essays gelegentlich etwas weniger geschmeidig machen bzw. dem einen oder der anderen unnötig outriert erscheinen. Ich glaube aber, dass das Anliegen, das sich damit verbindet, diesen Nachteil bei Weitem aufwiegt. Dort, wo es um Positionen aus früherer Zeit geht bzw. wo – meist männliche – Autoren entweder direkt oder indirekt selbst das Wort ergreifen, habe ich indes auf dieses Mittel verzichtet. München, im September 2020
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1. Primaner, Primaten, Prime Time
Im Juli 2017 nahm die Journalistin und ehemalige Oberbürgermeisterin von Kiel, Susanne Gaschke, an einer Sendung des Deutschlandfunks teil, die den Titel trug: »Lesen ist eine unverzichtbare Kulturtechnik. Für eine Bildungspolitik im Geist der Auf klärung.«1 Dort machte Frau Gaschke u.a. die folgende Bemerkung: »Die Lese- und Schreibkompetenz wird künftig den Unterschied machen. Denn jeder halbwegs interessierte Affe kann ein Smartphone bedienen. Aber kein Affe kann lesen. Schon in naher Zukunft werden wir einerseits jene Menschen haben, die sich noch konzentrieren, die urteilen, sich einfühlen und selbstständig denken können – und andererseits die, die sich mit Piktogrammen und Spracherkennungssoftware durch ihren gänzlich antiintellektuellen Alltag schlagen.« Diese Aussage ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. So schreibt sie zum einen der Lese- und Schreibkompetenz eine weit über das übliche Verständnis dieser basalen Kulturtechniken hinausreichende Qualität zur sozialen Ausdifferenzierung zu. An ihnen scheiden sich – buchstäblich – die Geister: Wer beides beherrscht, gehört quasi automatisch zu den intellektuellen Eliten, wer hingegen mehr Gefallen an Spracherkennung und Visualisierung findet, wird der gänzlich anti-intellektuellen Unterschicht der digitalen Idioten zugerechnet. Dies ist zweifellos starker Tobak. Dabei spricht hier eine Form von bildungs- und lesebef lissener Überheblichkeit, die häufig auch auf den Fluren deutscher Universitäten anzutreffen ist. Auch hier weht öfters der Wind kulturpessimistischer Technophobie, die in den allgegenwärtigen digitalen Medien weniger die Chance auf Wissenszugewinn als die Gefahr schleichender Verblödung wittert. Doch davon später mehr. Was Gaschkes Bemerkung ebenfalls verrät, ist die Ansicht, allein das Lesen und Schreiben im Sinne klassischer, humanistischer Bildung ermögliche Konzentrationsfähigkeit, Urteilskraft, Einfühlungsvermögen – kurzum, selbständiges Denken.
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Während andererseits, so steht zu vermuten, die Bedienung eines digitalen Gerätes wie des Smartphones das genaue Gegenteil bewirkt: Es macht aus uns eben keine sittlich erhabenen, selbständig denkende Menschen; stattdessen verwandelt es uns zurück in eine Spezies von Affen, deren digitale Mimikry uns zwar zu unterhalten vermag, sozialevolutionär gesehen aber verheerende Auswirkungen hat. Die Trias von Konzentrations-, Urteils- und Einfühlungsvermögen, die hier dem Lesen, nota bene: dem ›richtigen‹ oder eigentlichen Lesen, also dem Lesen von Büchern und nicht etwa dem von Blogs, Kurznachrichten oder Facebook-Posts, zugeschrieben wird, verrät unverhohlen ihren Ursprung im romantischen Ideal des Einfühlungsvermögens. Dieses basiert im Wesentlichen auf einer Verquickung von Text und Moral. Der ästhetische Diskurs, dem das Lesen als integraler Bestandteil eingeschrieben ist, schafft überhaupt erst die Umgebung, in der moralische Urteile möglich werden. Nur das Zusammenfallen von Erkenntnisleistung und Gefühlseinstellungen sichert, wie Friedrich Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) ausführt, den Fortbestand universalistisch moralischen Handelns. Die Ansicht, dass der Akt des Lesens gar dem Akt der Menschwerdung vorausgeht, ja diesen im eigentlichen Sinn erst bedingt, schwingt in vielen Diskussionen über die Zukunft der Buchkultur und, damit verbunden, den auf Büchern fußenden Geisteswissenschaften mit.2 Lesen – sei es unausgesprochen oder ganz direkt wie im oben genannten Zitat von Susanne Gaschke – wird hier mit Bildung und Intellekt überhaupt gleichgesetzt. Diese garantieren dann wiederum, indem sie den Lesekundigen als symbolisches Kapital dienen, sozialen Aufstieg und gesellschaftlichen Erfolg. Zu fragen wäre dabei, und dies ist eines der Hauptanliegen des vorliegenden Essays, ob eine derart verkürzte Gleichsetzung von Leseerfahrung und humanistischer Bildung, dem Lesen von Büchern, aber auch dem Ansehen der mit ihnen verbundenen Geisteswissenschaften nützt oder vielleicht sogar eher schadet? Denn unstrittig ist, dass parallel zu den Bemühungen um den f lächendeckenden Einstieg in die digitale Gesellschaft die Zahl der ernsthaft Lesenden, d.h. der Leserinnen und Leser von Büchern, von Jahr zu Jahr abnimmt. Kaum eine Mitteilung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels oder der Stiftung Lesen, die nicht auf die zunehmend kleiner werdende Schar kompetenter Leserinnen hinweisen würde. So beklagt eine im Juni 2018 veröffentlichte Studie des Börsenvereins zum Bücherkauf und zur Nutzung von Büchern einen signifikanten Rückgang an erwachsenen Leserinnen und Lesern.3
1. Primaner, Primaten, Prime Time
Zwischen 2013 und 2017 hätten sich quer durch alle Altersschichten immer mehr Menschen in Deutschland vom Buch verabschiedet, im untersuchten Zeitraum waren es insgesamt etwa sechs Millionen Deutsche, die weder regelmäßig Bücher zur eigenen Nutzung kauften noch diese in Bibliotheken oder von Freunden ausliehen. Digitale Formen wie Online-Dienste und Streaming-Plattformen hätten dagegen im gleichen Zeitraum kontinuierlich das Buch von seinem angestammten Platz auf der Beliebtheitsskala verdrängt. Ihr Anteil am Gesamtbudget, also der Summe, die für Unterhaltungsmedien jährlich in Deutschland ausgegeben werde, nehme, so die Studie, beständig zu. Dies hat zum einen pragmatische Ursachen wie die ohnehin hohe, anhaltende Dauerpräsenz im Netz, der schnelle, unkomplizierte Zugang zu Online-Medien oder ganz allgemein die hohe Attraktivität digitaler, interaktiver Kommunikationsstrukturen. Zum anderen gibt es aber auch strukturbedingte Rückkoppelungseffekte, etwa den Rückgang von Primärtugenden wie Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und die Bereitschaft zur vertieften Beschäftigung mit einem Gegenstand (deep attention), ohne die das Lesen von Büchern kaum möglich geschweige denn attraktiv ist. Die Gründe für den Prestigeverlust des Buches sind vielfältig, doch nicht wenige sehen eine der Hauptursachen in der schwindenden Lesekompetenz der digital natives. Wie Phillip Keel, der Verleger des Schweizer Diogenes Verlages, im August 2018 im Gespräch mit der Wochenzeitung Die Zeit mitteilte, ist die Krise des Buches für jede und jeden mit der Branche Vertrauten evident.4 Sie müsse nicht herbeigeredet werden, es gelte vielmehr, endlich ›darüber‹ zu sprechen – öffentlich und ohne zahlendreherische Beschönigung. Auch die Ursache für den nicht zu übersehenden Niedergang des Buchmarktes hat Keel klar benannt. Seine Analyse trifft ins Mark einer aufgeklärten, bildungsaffinen Gesellschaft, denn – so der Verleger – die Krise des Buches sei in Wirklichkeit eine Krise des Lesens, das als eine der wichtigsten Kulturtechniken überhaupt vom Aussterben bedroht ist. Dabei ist der Befund selbst keineswegs neu. Schon vor knapp 100 Jahren diagnostizierte der amerikanische Dichter Ezra Pound den allmählichen Verfall unserer Wertschätzung für das Medium Buch. Wir leben in einem Zeitalter, das einerseits von der Wissenschaft und andererseits von materiellem Überf luss beherrscht wird, stellt Pound am Anfang seines 1934 erschienenen Essays Das ABC des Lesens fest. In solchen Zeiten falle es Büchern naturgemäß schwer, ihren Platz als Quelle von Wissen und Einsicht in existentielle Zusammenhänge zu behaupten. Denn die Pf lege und Ehrfurcht, die wir
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Büchern über die Jahrhunderte hinweg zukommen ließen, stammten aus einer Zeit, in der kaum ein Buch vervielfältigt wurde – es sei denn, jemand machte sich die Mühe, es mit der Hand abzuschreiben. Bücher, so Pounds Fazit, seien offensichtlich weder den technologischen Voraussetzungen noch dem Erhalt und der Vermittlung von Wissen in der Moderne angemessen. Für den universal gebildeten Dichter und Hochschullehrer für romanische Sprachen stand dabei außer Frage, dass das Buch dennoch einen intrinsischen Wert besitzt, aber eben nicht für alle Mitglieder moderner Gesellschaften. Bücher, oder präziser: wirklich gute Bücher, d.h. solche, die den Aufwand ihrer Lektüre tatsächlich lohnen, werden von wenigen für wenige geschrieben. Sie sind naturgemäß schwierig und erfordern erhebliche Ausdauer und Leseanstrengung. Damit aber versagen sie sich der massenhaften Verbreitung, und werden notwendig zu einem Luxusartikel, dessen Wert allein die initiierte, kundige Leserin zu schätzen weiß. Die Bücherwand, wie es ein befreundeter Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einmal ausdrückte, war eben schon immer die Rolex des Intellektuellen.5 Dass auch eine Rolex irgendwann einmal von Inf lation bedroht sein kann, mag dem einen oder anderen Intellektuellen heute den Schlaf rauben. Wirklich verwundern kann es jedoch nicht. Die Unkenrufe angesichts einer zunehmend lesefeindlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit sind also deutlich älter als die digitalen Medien, von denen man heute mutmaßt, sie seien die eigentlich Schuldigen am Verlust unserer Lesekompetenz. Medien, Verlage, Bildungsforscherinnen, Wissenschaftsmanagerinnen und Politikerinnen beklagen den drohenden Verlust dieser für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbaren Fähigkeit des Lesens, und sie warnen vor einer Zukunft, in der die meisten ein Smartphone und einen Computer aber nur noch wenige ein Buch besitzen. Ganz zu schweigen von der Muße, die es braucht, sich diesem angemessen zu nähern. Bücher sind nämlich immer auch Instrumente der Entschleunigung, sie halten uns auf, kommen uns buchstäblich in die Quere – etwa dann, wenn sie die Fortführung der an verregneten Sonntagen oder auf langen Zugfahrten begonnenen Lektüre anmahnen. Der italienische Semiotiker und Romancier Umberto Eco hat sie deshalb auch einmal als eine Art Rastplatz der Sinne bezeichnet, eine Einladung an den Leser, anzuhalten, ihm die Möglichkeit zu geben, dem hektischen, reizüberf luteten Alltag für einige Stunden zu entkommen.6
1. Primaner, Primaten, Prime Time
Man kann es aber auch anders sehen. Folgt man den historischen Langzeitstudien des in den USA lehrenden Literaturwissenschaftlers Franco Moretti, dann ergibt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Anzahl der in einer Gesellschaft verfügbaren, regelmäßig produzierten Bücher und den verschiedenen Modi des Lesens, also der Art und Weise, ›wie wir lesen‹. Wie korrelieren sinkende Auf lagen und die kaum noch überschaubare Titelvielfalt einerseits mit unserer Leseunlust andererseits? Könnte es nicht sein, dass wir gerade deshalb, nämlich wegen Überforderung durch ein sowohl analoges als auch digitales Überangebot an zu lesenden Texten, des Lesens irgendwie überdrüssig geworden sind?7 Durch eine Technik, die als distant reading, oder deutsch: ›Fernlesen‹, bekannt wurde und im Wesentlichen das Lesen von computergestützten, lange Zeiträume erfassenden Statistiken meint, fand Moretti heraus, dass sich anfangs des 19. Jahrhunderts mit der steigenden Zahl wöchentlich publizierter Bücher signifikante Unterschiede im Leseverhalten der Menschen ergaben.8 Zum einen entwickelte man Vorlieben für ein bestimmtes Genre, was eine Verschiebung von der Leserin als Generalistin hin zur Leserin als höchst selektiv agierenden Spezialistin nach sich zog. Und zum anderen las man nunmehr schneller und oberf lächlicher, man verzichtete auf die Lektüre historischer Texte ebenso wie auf Re- oder Mehrfach-Lektüren, um mit den vielen Neuerscheinungen Schritt halten zu können. Morettis Ansatz wollte zeigen, dass distant reading – im Gegensatz zu dem in den Literaturwissenschaften gerne praktizierten close reading, dem Nahelesen – Entwicklungen sichtbar machen kann, die weit über die Erfahrungswelt der wenigen intensiv gelesenen Bücher des literaturwissenschaftlichen Kanons hinausreichen. Während seine quantifizierende Methode sich auf die Analyse hunderttausender Bücher stützen kann, bleibt dem Nahelesen dagegen nur die kleine, kaum repräsentative Welt der akademischen Bestenliste. Gegen Morettis ›Fernlesen‹ ließe sich leicht einwenden, das Verfahren sei seinem Wesen nach unhistorisch und vernachlässige wichtige sozio-ökonomische Faktoren wie die Erfindung erschwinglicher Lesebrillen oder die Einführung eng getakteter Eisenbahn-Fahrpläne, die in den USA um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein eigenes Literaturgenre, die sogenannten railroad novels, hervorgebracht hat. Dessen ungeachtet kann Morettis auf den Computer gestützte Forschung anschaulich machen, dass sowohl das Wie als auch das Was des Lesens immer schon Schwankungen, gelegentlich sogar – etwa in Kriegszei-
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ten – dramatischen Paradigmenwechseln unterworfen war, ohne dass diese Veränderungen dabei dem Lesen an sich die Grundlage entzogen hätten. Es ist also Entspannung angesagt, auch wenn die oben genannten Zahlen eine deutliche und bezüglich unserer Lesekompetenz wenig schmeichelhafte Sprache sprechen. Wie also umgehen mit der vermeintlichen Leseunlust der digital sozialisierten, nachwachsenden Generationen, wohlgemerkt hier verstanden als eine Unlust am Lesen mit großem ›L‹, also dem Lesen von Büchern? Und läutet dieser Wandel tatsächlich den Um- und Auf bruch in ein neues Zeitalter der Gegenauf klärung ein, in dem lesegestörte Primaten den Ton angeben und die großen Werke der Weltliteratur zu billigen massenkulturellen Versatzstücken verkommen, empty tales told by digital idiots, wie man frei nach Macbeth formulieren könnte, full of sound and fury, signifying nothing? Der vorliegende Essay versucht, mögliche Antworten auf diese Fragen zu geben. Niemand weiß, wie die Zukunft des Lesens tatsächlich aussehen wird. Aber einiges – wenn auch vorläufiges – lässt sich dennoch aus den einschneidenden Entwicklungen der letzten 20 Jahre extrapolieren. Um ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Positionen zu Wort kommen zu lassen, werde ich die Zukunft des Lesens nicht allein aus Sicht der Leseforschung und der Literaturwissenschaften diskutieren. Da der bürgerlichen Tugend des Lesens von Büchern im Laufe ihrer gut 200-jährigen Geschichte immer wieder das Potential zu moralisch-ethischer Erziehung zugesprochen wurde, verlangt die kritische Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Formen des Lesens im digitalen Zeitalter die Ausweitung der Perspektive in den Bereich der Gesellschafts- und Wissenschaftspolitik. Dafür müssen sowohl konventionelle Lektüreformen als auch neue, digitale Leseweisen, die sich entweder aus der sich wandelnden Praxis des Lesens selbst ergeben oder von den verschiedenen, mit dem Lesen befassten Wissenschaften identifiziert wurden, genauer unter die Lupe genommen werden. Das sprachliche Bild der ›Lupe‹ ist hier mit Bedacht gewählt, denn zum einen suggerieren Formen wie etwa das Nahe- oder auch Tief lesen (close und deep reading) die detaillierte, mikroskopische Beschäftigung mit dem Gegenstand Buch. Zum anderen aber werden Lesevorgänge, wie man gut am oben genannten Beispiel von Morettis Fernlesen erkennen kann, häufig anhand unterschiedlicher Skalierungen beschrieben, die dann ihrerseits auf eine vermeintlich geringe bzw. größere Distanz zum gelesenen Text verweisen. So ließen sich mittels einer Abstandsmessung zwischen Leser und Buch etwa die folgenden
1. Primaner, Primaten, Prime Time
Zuschreibungen vornehmen: close reading als Methode für die Literaturwissenschaften, distant reading für die empirisch arbeitende Leseforschung, deep reading für das Gymnasium und den anspruchsvollen Laien, oberf lächliches Querlesen (surface reading oder hyper reading) für die digitalen Primaten. Was aber wäre damit eigentlich gesagt, auch wenn die meisten Literaturwissenschaftlerinnen für sich in Anspruch nehmen, nahe und besonders tief zu lesen? Wie steht es mit dem Verhältnis von Textgattung und Methode, oder anders ausgedrückt, welcher Text erfordert welchen Abstand und welchen Maßstab für die jeweilige Lektüre? Und stimmt es wirklich, dass die Lyrik, für die der englische Literaturwissenschaftler I.A. Richards die Methode des Nahelesens ursprünglich entwickelt hat, tatsächlich nur aus der Nähe rezipiert werden kann, sich also dem Zurücktreten und auf Distanz gehen qua ihrer Form verweigert? Der in regelmäßigen Abständen ausgerufene Niedergang des Lesens hat Auswirkungen auf fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Der größte Kollateralschaden entsteht jedoch dort, wo Lesen wesentlich die Identität eines ganzen Berufsstandes prägt und von diesem als unverzichtbar angesehen wird. Da die kritische Lektüre von Büchern zu den basalen Kompetenzen der Geisteswissenschaften gehört, hat jede Veränderung im Leseverhalten notwendig Auswirkungen auf das Selbst- und Fremdverständnis dieser sich primär über Bücher definierenden Disziplinen. Schwindende Lesekompetenz stellt die Geisteswissenschaften daher vor die größte Herausforderung seit ihrer Entstehung aus dem Geist des deutschen Idealismus. Ohne Leser keine oder höchstens eine Geisteswissenschaft light, so befürchten viele innerhalb aber auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms. Was aber, wenn das Lesen langer, komplexer und oft nur schwer zugänglicher Texte gar nicht ursächlich für die ihm zugeschriebenen positiven Rückkoppelungen im moralisch-ethischen Bereich verantwortlich wäre? Was, wenn das von Lernpsychologen und Philologen gleichermaßen beschworene, sogenannte deep reading seine ethisch-moralische Kraft nicht aufgrund des Lesens als solchem, sondern schlicht aufgrund der Hingabe an einen Gegenstand entfachte, eine Hingabe, die sich dann vielleicht auch auf anderem Weg erreichen und verfestigen ließe? Was, wenn Geisteswissenschaft sich allgemein über den intensiven, öffentlichen Austausch von Ideen definierte, als dessen Medium dann das Lesen langer Texte als eine mögliche, nicht jedoch als eine unabdingbare Voraussetzung angenommen werden müsste?
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Um keine Missverständnisse auf kommen zu lassen: Es geht mir nicht darum, den f lächendeckenden Einsatz digitaler Technologien als den einzig zukunftsweisenden Weg für einen sinnvollen Austausch von Meinungen und Ideen unkritisch gutzuheißen. Noch soll hier tradierten Formen der Rezeption und Beschäftigung mit Literatur – entgegen aller Anzeichen eines dramatischen gesellschaftlichen Wandels – apologetisch das Wort geredet werden. Da ich selbst von Hause aus Literaturwissenschaftler bin, halte ich – wie viele meiner universitären Kolleginnen – die hier zur Diskussion stehenden Veränderungen unseres Leseverhaltens für gravierend und folgenreich. Was mich jedoch an vielen Diskussionen über die allgemeine Leseunlust und, insbesondere mit Blick auf die jüngere Generation, zunehmende Leseunfähigkeit irritiert, ist die mangelnde Bereitschaft zu einer offenen Bestandsaufnahme dessen, was das Lesen von Büchern tatsächlich zur digitalen Zukunft beisteuern und wo es ohne größere Reibungs- und Bildungsverluste durch andere, neue Formen der Wissensvermittlung ersetzt werden könnte. Anders ausgedrückt, ›wie wir lesen‹ unterliegt gerade – wie die Gesellschaft insgesamt – einem weit greifenden Strukturwandel. Die mit diesem Strukturwandel verbundenen Veränderungen haben naturgemäß Auswirkungen auf die Geisteswissenschaften, für die das Lesen von Büchern immer noch unverzichtbar ist. Doch die Geisteswissenschaften leiden nicht nur an der schwindenden Fähigkeit der Studierenden, lange und komplexe Texte zu lesen. Auch nicht an der mangelnden Zeit, die es bräuchte, damit beide, Studierende wie Lehrende, in wöchentlichem Abstand Romane und dicke wissenschaftliche Abhandlungen lesen (wie dies vor Verbreitung von Computer und Internet durchaus der Fall war). Sie leiden, so scheint mir, vor allem an der schwindenden Reputation der Lektüre von Büchern überhaupt. Die Bücherwand ist nämlich schon lange kein Ausweis von Status, Expertise und Bildung mehr. Nicht wenige derjenigen, die mich zuhause besuchen, halten mich angesichts von Regalmetern und Bücherstapeln für hoffnungslos ›analog‹. Die Bücherwand ist längst zum Kuriosum und zur exotischen Wunderkammer verkommen. Dem einen oder anderen mag sie zwar noch, ob des darin vermeintlich gebundenen Wissens, eine gewisse Anerkennung abringen; im Großen und Ganzen verrät sie aber vor allem eins: das fortgeschrittene Alter ihres Besitzers. Schon 1994, anlässlich des Germanistentags in Aachen, vermutete der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die schiere Zahl an Studienanfängern täusche die im Fach
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Tätigen offensichtlich darüber hinweg, dass dem Studium der Germanistik nur noch der Status eines Orchideenfaches zukommt. Sein Gegenstand, die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, habe »in der deutschen Gegenwart keine öffentliche Geltung« mehr. Schlimmer noch, so Schlaffer weiter, die Anspruchvollsten unter denen, die das Studium beginnen, haben Autoren der Nachkriegszeit, vielleicht Arno Schmidt und Thomas Bernhard, gelesen. Viele jedoch begnügen sich bei ihrer Lektüre mit den Genres »phantasy« und »science fiction«; die meisten freilich dieser angehenden Literaturwissenschaftler lesen nichts und kennen Literatur bestenfalls aus Verfilmungen [Hervorhebung KB].9 Schlaffers Analyse ist insofern interessant, als sie den Schuldigen für diese Misere nicht außerhalb der akademischen Mauern, sondern vielmehr in ihrem Inneren, nämlich den literaturwissenschaftlichen Fächern selbst, ausmacht. Schlaffer bringt den Niedergang des Lesens einerseits mit deren zunehmenden ›Verwissenschaftlichung‹ in Verbindung, so wie andererseits mit dem Abhandenkommen des Untersuchungsobjektes ›Literatur‹ an sich. Bereits in den 1960er Jahren habe die Germanistik die klassische Vorstellung des Werks preisgegeben, um von nun an jegliche Form von Text – Predigten, Flugblätter, ja selbst das Feuilleton – zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung zu machen. Anstelle der Werke werden nun die sozialen Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption zum Thema. Man interessiere sich nicht mehr für den Sinn eines Textes, seine formalen Strukturen, seine komplexe Mehrdeutigkeit oder gar aporetische Undeutbarkeit. Kurz, die Literatur verkommt zur bloßen Illustration multipler literaturtheoretischer Konstruktionen. Sie wird zum poetischen Zitat in den berufsstandsichernden akademischen Theorielabors, in dem eine stetig steigende Zahl an verbeamteten Professorinnen um Aufmerksamkeit für ihre jeweils neuesten Leseweisen buhlt. Dies alles, so Schlaffer, hindert den »nichtprofessionellen Leser klassischer Literatur (sofern es ihn noch gibt) daran, Ermunterung und Unterstützung bei jener Disziplin zu suchen, die für seine Interessen eigentlich zuständig sein sollte«. Folgt man den hier vorgetragenen Argumenten, dann wäre die Krise des Lesens aus der Krise der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, und hier insbesondere der Literaturwissenschaften, hervorgegangen und nicht umgekehrt. Die Lockrufe germanistischer Studiengänge fin-
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den nicht deshalb kein Gehör mehr, weil junge Menschen kein Interesse an den Klassikern mehr haben, sondern weil die Germanistik das Lesen von Texten um- und neukodiert hat. Statt Literatur wird jetzt alles mögliche gelesen, und die tendenzielle Offenheit der Textauswahl begünstigt wiederum den Modus der ›leichten‹ Lektüre bzw. der Hinwendung zu visuellen Formen wie Literaturverfilmungen oder graphic novels. Lassen wir für den Moment dahingestellt, ob die normative Kraft, die Schlaffer der Germanistik zuschreibt, so jemals Bestand hatte. Daneben fällt noch ein anderes und in unserem Zusammenhang schwerwiegenderes Versagen der literaturwissenschaftlichen Fächer auf. Wie Friedrich Kittler in derselben Ausgabe der FAZ vom September 1994 hervorhebt, fehlt es der Germanistik – wie auch den Geisteswissenschaften allgemein – an einer ernstzunehmenden Methode, mit der es gelänge, an der Schnittstelle zwischen Literatur und technischen Medien Sinn stiftende Diskurse zu entfalten. »Um das Medium Literatur weiter zu überliefern«, wie Kittler fordert, »muss seine Wissenschaft es mit anderen Medien kompatibel machen können.«10 Dabei wird es kaum ausreichen, einfach den Geltungsbereich der Literatursoziologie auszudehnen, also mit ›alten‹ Methoden dem Fach neue Arbeitsgebiete zu erschließen. Vielmehr ginge es darum, die Literaturwissenschaft an eben dieser Schnittstelle quasi neu zu erfinden, ihr einen Grund zu geben. Genau dies sei anderen literaturwissenschaftlichen Fächern besser gelungen als der Germanistik. »Wenn Bücher Geisteserzeugnisse und nicht auch Medien sind«, so der Berliner Medienwissenschaftler, »gehen die audiovisuellen Medien der Moderne ihre Wissenschaft auch nichts an.« Aus heutiger Sicht, gut 25 Jahre später, wirkt diese kritische Bestandsaufnahme eines der zentralen geisteswissenschaftlichen Fächer immer noch prophetisch. Auch weil sich die Frage der Kompatibilität germanistischer Methoden mit den audio-visuellen Medien im Zeitalter von sozialen Medien, Gesichtserkennung und f lächendeckenden Cloud-Anwendungen noch einmal neu und mit weitaus größerer Brisanz stellt. An der Fähigkeit, die Schnittstelle zwischen den allmählich verschwindenden analogen, Papier basierten und den digitalen Medien zu bearbeiten, wird sich das Schicksal nicht nur der germanistischen Fächer entscheiden. Für die Frage ›wie wir lesen‹ – denn, dass wir dies auch in Zukunft tun werden, steht nicht ernsthaft zur Diskussion – wird daher entscheidend sein, ob wir neue digitale Formen der Lektüre zulassen und wie wir diese einsetzen können, um dem analogen
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Medium Buch langfristig einen Platz im geisteswissenschaftlichen Curriculum zu sichern. Vielleicht noch wichtiger, viel wird von unserer Bereitschaft abhängen, das Lesen von Büchern von allem bildungsbürgerlichen Ballast zu befreien und als das zu lehren und zu praktizieren, was es vornehmlich immer schon war: eine aber bei Weitem nicht die einzige Möglichkeit, unsere Vorstellungskraft herauszufordern und Ideen mit anderen Menschen auf sinnhafte, wenn auch oft verschlüsselte Weise zu teilen. Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi – wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, wie es an einer berühmten Stelle in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo (1958) heißt, dann werden wir nicht darum herumkommen, alles zu verändern (Übers. KB).11 Die Verantwortung für den schleichenden Prestigeverlust des Lesens von Büchern, für den die schwindende Zahl an Lesern ein Indiz aber wohl kaum ursächlich ist, liegt nicht allein bei den bildungsbürgerlichen Eliten oder den mit dem Lesen professionell befassten Hochschullehrerinnen. Es ist also kein reines Vermittlungs- und Kompetenzproblem. Vielmehr argumentieren die Kombattantinnen um die Stellung des Buches häufig entlang der Trennungslinie von digitalen und analogen Medien, wobei letztere, je nach Standort, entweder als Kommunikationsform der Vergangenheit oder als Garant christlichabendländischer Zivilisation gehandelt werden. Die weitverbreitete Skepsis gegenüber den digitalen Medien und ihren materiellen Repräsentanten in Form von Computern, Tablets und Smartphones kann technikgeschichtlich kaum verwundern. Wie die in Cambridge lehrende Kognitionspsychologin Amy Orben gezeigt hat, sitzt die Ablehnung neuer Technologien auch im Fall der digitalen Revolution tief. In einem kürzlich erschienenen Artikel mit dem Titel The Sisyphean Cycle of Technology Panics erklärt Orben, wie schwer es selbst Akademikerinnen fällt, aus der Vergangenheit zu lernen. Denn obwohl wir heute eher amüsiert auf Schilderungen reagieren, die von alarmierten zeitgenössischen Reaktionen auf das jeweils neue Medium Roman, Radio oder das Fernsehen berichten, sind wir kaum in der Lage, den eigenen Alarmismus angesichts der Verbreitung des Smartphones historisch zu relativieren. Stattdessen häufen sich die Untersuchungen, die weitreichende negative Auswirkungen der digitalen Medien auf unsere Kinder befürchten und diese wissenschaftlich zu belegen versuchen. Das ist dann der besagte Sisyphos-Zirkel, der es uns schwer macht, angemessen auf technische Neuerungen zu reagieren. Anstatt deren positives Poten-
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tial auszuloten, verteufeln wir – häufig ohne fundierte Grundlagenforschung – neue Entwicklungen und deren angeblich zivilisationsbedrohende Auswirkungen. Orben hat für ihren Überblick über den Stand der psychologischen und verhaltenswissenschaftlichen Forschung zur Digitalisierung eine Vielzahl von Studien unter die Lupe genommen. Dabei fand sie heraus, dass viele der oft als Beleg für die fatalen Folgen von Online-Nutzung herangezogenen wissenschaftlichen Arbeiten vorurteilsbehaftet und wenig aussagekräftig sind. Schlimmer noch, aufgrund ihrer oft latenten Technophobie versäumen es die Autorinnen dieser Studien, ihrer Rolle als gesellschaftliche Vermittlerinnen neuer Technologien nachzukommen. Anstatt auf die Vorteile dieser Technologien hinzuweisen, schüren sie Bedenken und verbreiten unangemessenen Pessimismus.12 Angesichts dieses Befunds fühlt man sich an die Einsicht des britischen Satirikers und Romanciers Douglas Adams erinnert, der unsere Reaktion auf neue Technologien in drei Phasen eingeteilt hat. Phase 1: Alles, was bereits in der Welt ist, in die wir geboren werden, empfinden wir als normal; Phase 2: Alles, was zwischen dem Zeitpunkt unserer Geburt und dem Erreichen des 30. Lebensjahres erfunden wird, ist unglaublich aufregend und spannend; Phase 3: Was danach in die Welt kommt, empfinden wir häufig als existenzbedrohend; erst nach einigen Jahren der Gewöhnung und Nutzung entspannt sich unser Verhältnis zu diesen, dann nicht mehr ganz neuen Technologien allmählich wieder und wir halten sie, im Großen und Ganzen, für angemessen.13 Auch wenn das Lesen von Büchern schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts irgendwie nicht mehr zeitgemäß erschien, so kommt mit der digitalen Revolution ein neues technisches Medium ins Spiel, auf das weder die Literatur- und Geisteswissenschaften noch die Verlagsbranche bislang angemessen reagiert haben. Gut 100 Jahre nach Erscheinen von Pounds ABC des Lesens zeichnet sich am Horizont der Geisteswissenschaften noch immer keine von allen mitgetragene Schnittstelle zwischen außen und innen, zwischen den Verheißungen der f lächengreifenden digitalen Medienökologie des 21. Jahrhunderts und den im Diltheyschen Geist mit sich selbst beschäftigten Geisteswissenschaften ab. Die Corona-Krise des vergangenen Jahres ist ein Lehrbeispiel für die kulturpessimistische Skepsis, mit der viele Geisteswissenschaftlerinnen auf die mit den neuen digitalen Technologien verbundenen Herausforderungen reagieren. Im Nachgang zum landesweit ersten
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virtuellen Semester ist viel darüber spekuliert worden, wie denn die Lehren und Konsequenzen aus diesem für tradierte Unterrichts- und Kommunikationsformen kataklysmischen Ereignis aussehen könnten. Das Ergebnis war – gelinde gesagt – ambivalent. So haben die meisten akademischen Bildungseinrichtungen die mit der Krise verbundenen Herausforderungen zwar durchaus passabel und zur weitgehenden Zufriedenheit der Studierenden gemeistert. Doch bereits zu Beginn des Sommersemesters 2020 verbreitete sich Unmut unter den Kolleginnen, die das bevorstehende digitale Sommersemester – mit mehr, meistens jedoch weniger guten Gründen – am liebsten ganz abgesagt hätten. In einem offenen Brief, den einige von ihnen Anfang März an Kolleginnen vorwiegend der Geisteswissenschaft versandt haben, fordern sie ein ›Nichtsemester‹ und appellieren an Universitäten, Akademien und Ministerien, neben einer Anpassung von BaFöG- und Regelstudiumsauf lagen auch die strengen Deputatsberechnungen für Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer einzuschränken.14 Als Grund für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen werden vor allem deren mangelnde Kompetenzen im Bereich der Online-Lehre sowie die Gefahr der technischen Überforderung und der damit verbundene Mehraufwand an Vor- und Nachbereitung genannt. Nachdem nur wenige Hochschulen diesen Weg gegangen sind, zeichnet sich in der Retrospektive jedoch ein anderes, mehrheitlich positives Bild ab. Alle Umfragen unter Studierenden weisen darauf hin, dass die verschiedenen digitalen Angebote dankbar und mit viel Nachsicht für die sich notwendig aus den neuen Formaten ergebenden Defizite angenommen wurden. Die Bandbreite der Kommunikations- und Interaktionsoptionen von Plattformen wie ZOOM, Moodle, Sync & Share u.a. sind vielfältig und ermöglichen ortsunabhängiges Lernen bei gleichzeitig größtmöglicher Reichweite. Mit der – pandemiebedingt – sich beschleunigenden Transformation in digitale Unterrichtsformate werden Seminare und Vorlesungen plötzlich international, denn sie erlauben mühelos den aktiven Austausch mit Kolleginnen aus dem In- und Ausland. Sie öffnen damit das Hochschulstudium weit über den beschränkten geographischen Raum der jeweiligen Universität hinaus und erlauben – insofern die neuen Möglichkeiten ernsthaft geprüft und genutzt werden – sowohl die Kooperation unterschiedlicher Bildungseinrichtungen untereinander als auch das Zusammenwirken internationaler Forscherinnen bei der plurimedialen Vermittlung von Wissenschaft und Wissensfortschritt.
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Doch kaum zeichnete sich die im Großen und Ganzen erfolgreiche Umsetzung virtueller Lehrangebote ab, kam die – bislang völlig unbegründete – Sorge auf, die Wissenschaftsmanagerinnen in den Hochschulverwaltungen und Ministerien könnten die Universitäten als Orte des direkten intellektuellen und sozialen Austauschs gleich ganz abschaffen. Unter der Überschrift »Hunderte Wissenschaftler haben in einem offenen Brief den Wert der Präsenzlehre betont. Sie befürchten eine bleibende Digitalisierung durch Corona« berichtete die Zeitschrift Forschung und Lehre, das offizielle Organ des Deutschen Hochschulverbands, von der Aktion, der sich bis zum September 2020 fast 6000 Hochschullehrerinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angeschlossen haben.15 Ohne die Bewegründe, Argumente und Ängste der Unterzeichnerinnen in Frage stellen zu wollen, sollte die alarmierte Reaktion auf den vom Virus erzwungenen, plötzlichen Innovationsschub in Lehre und Forschung alle Beteiligten nachdenklich stimmen.16 Auch in den deutschsprachigen Ländern kursieren seit längerem Furcht und Ablehnung gegenüber den sogenannten digital humanities, einer für digitale Unterrichtsformen und Computer basierte Forschung offenen Geisteswissenschaft, die in der angelsächsischamerikanischen Universitätslandschaft – aus europäischer Perspektive – schon längst viel zu viel Gehör und, noch schlimmer, bedeutende finanzielle Unterstützung bekommt. Oftmals herrscht jedoch erschreckende Unkenntnis hierzulande über die tatsächlichen Verhältnisse an amerikanischen Hochschulen und die Art und Weise, wie dort Teile der humanities versuchen, kreative, Analyse gestützte Antworten auf die Herausforderungen der digitalen Revolution zu geben. In How We Think: Digital Media and Contemporary Technogenesis (2012) hat die an der Duke University lehrende Literaturwissenschaftlerin N. Katherine Hayles, die zu den führenden Befürwortern der digital humanities zählt, auf die größer werdende Kluft zwischen den noch weitgehend analog geprägten Universitätsprofessorinnen einerseits und ihren in einer vernetzten, omnipräsenten digitalen Umwelt sozialisierten Studierenden andererseits hingewiesen. Je jünger die digital natives desto schärfer treten die Unterschiede zwischen diesen beiden Alterskohorten in den Blick. Diese betreffen dabei nicht allein den Bereich der habituellen Nutzung digitaler Medien. Beide Gruppen zeichnen sich vielmehr durch unterschiedliche kognitive Fähigkeiten aus, die Hayles mit deep bzw. hyper attention assoziiert.17 Ähnlich wie unlängst der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz, so sieht auch Hayles das Auseinanderdriften
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beider Formen von Aufmerksamkeit als Anzeichen eines größeren, alle gesellschaftlichen Gruppen erfassenden medialen Paradigmenwechsels. In Reckwitzs an McLuhan geschultem Modell der Abfolge unterschiedlicher Medienrevolutionen, auf das ich an späterer Stelle noch einmal zurückkommen werde, findet sich zwar die Dialektik von Fortschritt und Fortbestehen, d.h. traditionelle Medien wie etwa die Langspielplatte oder das gedruckte Buch führen innerhalb der neuen digitalen Medienökologie ein residuales Nischendasein.18 Diese technisch veralteten, aber durchaus resilienten Formen sind bei Reckwitz jedoch von den nunmehr dominanten Medien weitgehend unabhängig und werden von diesen kaum affiziert. Ihre Daseinsberechtigung erwächst ihnen vielmehr gerade aus ihrer altmodischen Andersartigkeit, die in einer diversifizierten und von zunehmender Unüberschaubarkeit geprägten digitalen Welt begrenzte Authentizitätserfahrungen ermöglicht. Alte und neue Medien bleiben sich hier gegenseitig wesensfremd und sind weitgehend antagonistisch gefasst. Ganz anders erscheint die Situation im kognitionsanalytischen Befund von Katherine Hayles. Indem sie die Veränderungen unserer kognitiven Fähigkeiten und die Entwicklung neuer medialer Kommunikationsformen als synchrones, sich gegenseitig bedingendes und aufs Engste verf lochtenes Ereignis annimmt, gelingt ihr der Sprung über die ideologischen Gräben, die von kulturpessimistischen Luddites einerseits und allzu technikgläubigen digital humanists andererseits errichtet wurden. Hayles hat für ihr Buch intensiv die seinerzeit verfügbaren Studien zur Mediennutzung und zu Aufmerksamkeitsdefiziten unter jüngeren Amerikanern untersucht.19 Im Ergebnis referiert sie einen ähnlichen Befund wie die bereits weiter oben erwähnte Studie des deutschen Börsenvereins. Während die tägliche Mediennutzung der zehn- bis zwanzigjährigen Amerikanerinnen 2010 auf das Rekordhoch von mehr als 6,5 Stunden angestiegen war, fiel in der gleichen Gruppe der Anteil des Buches unter allen in diesem Zeitraum genutzten Medien unter die Marke von einer Stunde (0,43 h). Parallel zu diesen Veränderungen stieg der Prozentsatz der Jugendlichen, bei denen ADD (attention deficit disorder) und ADHD (attention deficit hyperactivity disorder) diagnostiziert wurden, signifikant an. Was auf den ersten Blick wie eine glasklare Korrelation aussieht – intensive Nutzung digitaler Medien führt zu Hyperaktivität und damit zur Unfähigkeit, sich über einen längeren Zeitraum einer komplexen kognitiven Herausforderung zu widmen –, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Trug-
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schluss. Dabei ist es nicht so sehr die angenommene Kausalkette von digitaler Technologie und lernpsychologischen Defiziten, die hier zum Problem wird, sondern die wertende Gegenüberstellung unterschiedlicher Modi des Denkens, also deep attention versus hyper attention, die Fähigkeit zu anhaltender intellektueller Fokussierung, wie sie etwa das konzentrierte Lesen erfordert, gegen das sprunghafte, an der Oberf läche klebende digitale Multitasking. Die oft beschworene Dichotomie dieser unterschiedlichen Formen kognitiver Erfahrung von Welt, so Hayles, ist nämlich nur eine scheinbare. Auch wenn sie häufig von beiden – Kultur- wie Buchkritikerinnen – für ihre jeweiligen Belange in Stellung gebracht werden, so stellen sie jeweils nur eine der vielen möglichen Entwicklungsstufen unseres Gehirns dar. Dass sich dieses in den letzten 250 Jahren in Richtung deep attention entwickelte, ist keineswegs eine biologische und schon gar keine unumkehrbare Notwendigkeit. Vielmehr ist diese Entwicklung allein der Tatsache geschuldet, dass moderne Gesellschaften dem ausgedehnten, konzentrierten Lesen langer Texte systemrelevante Bedeutung zumaßen.20 Das Verstehen unserer modernen Welt und unserer Stellung in dieser Welt war aufs Engste mit ihrer Lesbarkeit in Form von Büchern und gelehrten Abhandlungen verknüpft. Wie die zahllosen, die Moderne durchziehenden alternativen Pädagogik- und Erziehungsbewegungen von Georg Steiner, Maria Montessori oder auch Alexander Sutherland Neill belegen, sind buchfeindliche Strömungen jedoch kein Prärogativ des digitalen Zeitalters. Das Misstrauen gegen das Buch und die von ihm eingeforderte vertiefte Aufmerksamkeit war schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts groß. Vor allem die Ausweitung seiner potentiellen Leser durch Titelvielfalt und Erhöhung von Auf lagen hat unter Intellektuellen Misstrauen erzeugt. In seinem 2015 erschienenen, wissenschafts- und buchgeschichtlichen Lagebericht Zur Sache des Buches verweist Michael Hagner u.a. auf Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883) als Beweis für die Attacken, denen sich das Lesen von Büchern schon vor der digitalen Wende ausgesetzt sah. Dort schreibt Nietzsche: »Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken. Dass jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken.«21 Hayles versucht deshalb erst gar nicht, den Wechselbeziehungen von deep und hyper attention kulturgeschichtlich oder buchwissenschaftlich nachzuspüren. Wie Studien zeigen, verändert sich nämlich mit unterschiedlicher Mediennutzung auch die Struktur unseres Ge-
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hirns. Es bildet neue Synapsen aus und verstärkt Bereiche, die durch die digitalen Medien in besonderer Weise gefordert sind. Hierzu gehören ein hoher Grad an Visualität, schnelle Bildabfolgen, permanente Reizung durch interaktive Nutzung und vor allem beständiges Multitasking, das eigentlich nicht wirklich synchron verläuft, sondern viele kleine Handlungsabschnitte in kurzer Zeitfolge beinhaltet. Die digital natives verhalten sich demnach nicht nur anders, nutzen Smartphones und Tablets intensiver und über größere Zeiträume hinweg, sie denken auch anders, d.h. ihre Erfahrung von Welt und ihre Reaktionen darauf sind wesentlich von denen früherer Generationen unterschieden.22 Hieraus ergibt sich dann für Hayles die Notwendigkeit, sich diesen Veränderungen zu stellen. Konkret heißt das, die Geisteswissenschaften müssen angestammte Praktiken der Wissensvermittlung adjustieren, um ihre wichtigste Klientel, nämlich die Studierenden, aber auch viele Jüngere in der Gesamtgesellschaft, überhaupt noch zu erreichen. Für Hayles, die sich hier, wie gesagt, auf zahlreiche Studien aus der Lernpsychologie stützen kann, ist es zudem keineswegs ausgemacht, dass das vernetzte, dafür aber oft weniger ›tiefe‹ Denken der digital natives in jedem Fall der mönchischen Lektüre vorzuziehen sei. Da immer mehr junge Menschen immer stärker von der neuen, digitalen Medienökologie geprägt sind, sieht Hayles ihre eigene Disziplin wie auch die Geisteswissenschaften insgesamt vor die Herausforderung gestellt: Entweder es gelingt uns, die Studierenden des 21. Jahrhunderts in analoge Studenten früherer Zeiten zurückzuverwandeln (was als ziemlich unwahrscheinlich angenommen werden darf und aus mehreren Gründen wohl auch nicht wünschenswert wäre) oder wir ändern das universitäre Lernumfeld, um es für die heutigen Studierenden mit ihren anderen Denkgewohnheiten und Aufmerksamkeitsregimen kompatibel zu machen.23 Die Augen vor den veränderten Bedingungen der digitalen Wissensgesellschaft zu verschließen, ist nicht wirklich eine Option und führt die Geisteswissenschaften unauf haltsam in ein der Langspielplatte und dem Röhrenverstärker vergleichbares Nischendasein. Denn aufgrund der hohen gesellschaftlichen Kosten, die die geisteswissenschaftlichen Fächer durch eine Vielzahl an verbeamteten Professorinnen und deren Mitarbeiterinnen verursachen, stünde am Ende dieser Entwicklung nicht die begrenzte, aber prestigeträchtige Authentizität medialer Andersartigkeit, sondern schlicht das gesellschaftliche Aus.
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Was also tun? Der vorliegende Essay ist ein Plädoyer für das Buch, aber nicht aus den Gründen, die von Susanne Gaschke und vielen Kolleginnen in den Geisteswissenschaften immer wieder bemüht werden. Deep attention, das intensive Studium von längeren, manchmal auch langatmigen Texten, ist ohne Frage ein wichtiger Aspekt geisteswissenschaftlicher Praxis. Bücher sind in vieler Hinsicht ein kostbares Gut, und ihre Lektüre sollte gelehrt und trotz der knapper werdenden Zeitressourcen in der postindustriellen Digitalkultur und unserer eigenen zunehmenden Ungeduld mit der Widerständigkeit langer, anspruchsvoller Texte praktiziert werden. Denn Bücher leisten etwas, das tatsächlich nur sie können: Was gestern noch – nicht ganz zu unrecht – als bürgerliche Form ideologiegeleiteter Erkenntnis kritisiert wurde, erscheint im heutigen neoliberalen Umfeld, allein aufgrund des erforderlichen Zeitkontingents, als gegenkulturelle Praxis. Bücherlesen lässt uns für die Dauer der Lektüre aus dem Kreislauf der Waren und ihrer Vermarktung heraustreten, führt uns die Widersprüchlich- und Vieldeutigkeit sprachlich formulierter Wahrheitsbehauptungen vor Augen, und erlaubt uns – im besten Fall – im intensiven Dialog mit dem Text gleich doppelt zur Besinnung kommen: als gemeinsame Anstrengung aller Sinne und als sinnlich erfahrbare Erkenntnis. »One should start with an open mind«, so ermahnt uns Pound am Anfang seines ABC des Lesens.24 Gutes Lesen, egal an welche Lektüre wir unsere Zeit ›verschwenden‹, setzt notwendig die Bereitschaft voraus, sich verführen und vom einmal eingeschlagenen Weg ablenken zu lassen. In einem wunderbaren Buch über die Bilder, die wir beim Lesen sehen, schreibt der New Yorker Lektor Peter Mendelsund, »a novel invites our interpretative skills but it also invites our minds to wander« – Lesen und Verstehen sind anstrengend, aber richtiges Lesen versetzt uns regelmäßig in Erstaunen, indem es unsere Gedanken auf Wanderschaft schickt.25 Lesen ist also notwendiger denn je, auch wenn einiges, das wir mit seiner Ausübung assoziieren, nicht nur von ihm bereitgestellt wird. Sinnlich erfahrbare Erkenntnis etwa kann sich ebenso vor einem Bild im Museum oder beim Anhören eines Musikstückes einstellen. Abschweifen und unsere Gedanken auf Wanderschaft schicken, das erlauben gleichfalls der gestreamte Film oder das Browsen durch eine nicht enden wollende Folge an YouTube-Clips. Daher scheint mir die Befürchtung, dass mit dem Niedergang des Mediums Buch auch die Fähigkeit zu selbstständigem, kritischen Denken verschwinden würde, wenig plausibel. Letzteres lässt sich ebenso an filmischen Artefakten einüben,
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die nicht selten – insofern sie auf erzählerischen Vorlagen basieren – das Original an Subtilität und Komplexität übertreffen. Sieht man von wenigen und oft nur schwer zugänglichen Ausnahmen ab – etwa José Maria Codinas siebenstündiger Film Mefisto (1917), Hans-Jürgen Syberbergs monumentales Epos Hitler, ein Film aus Deutschland (1977), der ebenfalls annähernd sieben Stunden an Zeit beansprucht oder auch Melancholia (2011) des dänischen Regisseurs Lars von Trier von knapp drei Stunden Länge – dann handelt es sich bei vielen filmischen Produktionen eher um generisch kürzere Formen, vergleichbar etwa dem Essay oder der Novelle, die ebenfalls zeit- und räumlich begrenzt sind. Auch Computerspiele haben längst ihre Eignung zur Einübung narrativer Verfahren unter Beweis gestellt und drängen an vielen, vor allem amerikanischen Universitäten in literarische Einführungsveranstaltungen. Dabei wäre es wenig sinnvoll, bei all diesen Beispielen allein an einen gegenseitigen Verdrängungskampf unterschiedlicher Medien – Buch, Film, Musik, Computer etc. – zu denken. Ganz gleich, ob sie digital oder analog abgespeichert sind, viele dieser Formen harmonieren vortrefflich (Literatur + Musik), wechseln gelegentlich die Seiten (Literatur + Film) oder zeigen sich artverwandt (Literatur + Computerspiele). Wie Katherine Hayles gezeigt hat, kann selbst ein schwieriger, sperriger Text wie The Education of Henry Adams (1907) im vernetzten, interaktiven Seminarraum bestens bestehen. So eignet sich das genaue Studium sozialer Medien wie Facebook, Instagram oder TikTok hervorragend, um gängige Strategien narrativer Selbstdarstellung, wie sie in Adams’ berühmter Autobiographie beständig unterlaufen werden, unmittelbar erfahrbar zu machen. Instrumente wie vorgetäuschte Naivität, gezielte Täuschung, ironische Gegenüberstellung, inszenierter Wettbewerb oder die scheinbare Kooperation von Figuren untereinander finden sich in Facebook-Einträgen ebenso wie in Adams’ im Eigenverlag publizierter Autobiographie. Warum also nicht die Studierenden bitten, einen fiktiven Facebook-Eintrag für die autobiographische Person zu schreiben, die das Buch auf gut 500 Seiten als brüchiges, durch und durch verunsichertes modernes Subjekt entwirft? Ohne die letztlich notwendige Lektüre damit überf lüssig zu machen, ließe sich so die Aufmerksamkeit auf wesentliche Aspekte eines Textes lenken, dessen autobiographisches Ich sich seinerseits an der Kluft zwischen der vormodernen Welt, die ihn und seine Familie hervorgebracht hat, und dem nunmehr alles bestimmenden Maschinenzeitalter, dessen Schnelllebigkeit und Materialität ihn von seinen Zeitgenossen
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immer stärker entfremdet, abarbeitet. Auch William Faulkners modernistischer Roman Absolom Absolom! (1936), der seinen Leserinnen jede Menge Rätsel aufgibt und uns zwingt, die Identität, Motive und geheimen Triebkräfte der Akteure des Romans mühsam zu rekonstruieren, lässt sich durchaus mit Hilfe der narrativen Strategien gängiger Computerspiele ein Stück weit erschließen. Wie schon The Education of Henry Adams, so erfordert auch dieser Text ein gehöriges Maß an deep attention. Die komplexe Erzählstruktur und seine pluripersonale Fokalisierung verlangen der Leserin viel an Kombinationsleistung und Vorstellungskraft ab. Arbeitet man sich allmählich durch die fünf verschachtelten Erzählebenen des Romans, die die Geschichte von Thomas Sutpen, dem Patriarchen einer Südstaaten-Familie, aus je unterschiedlicher Perspektive wiedergeben, dann ist es weniger das sture Festhalten an vermeintlich linearen Kausalketten als das gekonnte Hin- und Herspringen zwischen Zeitebenen und Personenkonstellationen, mit anderen Worten hyper attention (sic!), das größtmögliche Gratifikation verspricht und am Ende der Intention des Romans vielleicht am nächsten kommt. Da die vernetzte digitale Medienökologie ihrerseits auf dem Prinzip asynchroner Zeitabläufe und multipler Identitäten beruht, verfügen die in ihr sozialisierten Leserinnen über Eigenschaften, die die Rezeption dieses, aber auch vieler anderer moderner und postmoderner Texte unter Umständen sogar erleichtern können. Die von Hayles beschriebene Überlappung digitaler und analoger Medien, deren narrative Verfahren und kognitive Ansprüche an die jeweiligen Rezipientinnen durchaus vergleichbar sind, verdeutlichen meines Erachtens den Sinn, aber auch die Grenzen einer Literaturwissenschaft, die sich primär als Medienwissenschaft versteht. Indem sie Literatur vornehmlich als Medium inter pares und nicht als Geisteserzeugnis im romantischen Sinn denkt, öffnet sie sich für vergleichende, medienkritische Lektüren jenseits der eingetretenen Pfade hermeneutischer, textimmanenter oder kulturhistorischer Interpretation. Digital humanities können dort, wo sie auf die Synergien unterschiedlicher Medien setzen und deren spezifische Vermittlungs- und Rezeptionstraditionen theoretisch in den Blick nehmen, also durchaus das oben zitierte Kittler’sche Desiderat einlösen, nämlich, dass die audiovisuellen Medien der Moderne – respektive der digitalen Postmoderne – die Germanistik und andere literaturwissenschaftliche Fächer nunmehr tatsächlich etwas angehen. Wenn einen etwas ›angeht‹, heißt dies jedoch nicht automatisch, dass dieses Andere, um das ich mich küm-
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mere und das für mich aus guten Gründen interessant ist, deckungsgleich mit mir selbst wäre. Die von den digital humanities geforderte Kommensurabilität digitaler und analoger Medien darf also nicht als beliebige und willfährige Austauschbarkeit dieser Medien untereinander missverstanden werden. Dies wäre ebenso unsinnig wie die anachronistischen Berührungsängste der analog arbeitenden Literaturwissenschaften, die ihren Gegenstand durch die neuen Medien teils kontaminiert, teils entweiht sehen. Tatsächlich gibt es Restbestände an medienspezifischen Besonderheiten, die nur von jeweils einem dieser Medien geleistet und eingelöst werden können. Was das gedruckte Buch und seine zeitintensive Lektüre im Vergleich mit anderen Formen der Wissensvermittlung auszeichnet bzw. wo es unter Umständen ersetzbar wäre, soll im Folgenden anhand von drei gängigen Thesen zur Lage des Buches näher bestimmt werden. Schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass es dabei nicht um die erneute Heiligsprechung der Kunstform Literatur oder, allgemeiner, der ausgedehnten Lektüre schwieriger Textgattungen gehen wird. Derartige Alleinstellungsversuche von Buchkulturen sind von universitärer wie außeruniversitärer Seite bereits vielfach und medienwirksam unternommen worden (man erinnere sich an die oben beschriebene Kontroverse um die digitalen Primaten). Und ebenso wenig soll es hier um das Lesen als persönlichkeits- und empathiefördernde Maßnahme gehen, deren unterstellte Systemrelevanz dann im Umkehrschluss helfen könnte, auch die ins Straucheln geratenen Geisteswissenschaften gleich mit abzusichern. So geschehen in dem 2016 erschienenen Essay der in Princeton lehrenden Sozialphilosophin Martha Nussbaum. Das Studium der Literatur sei dringend erforderlich, heißt es dort, da es die Studierenden zu mündigen und verantwortungsbewussten Bürgerinnen erziehe. Denn nur die Literatur erlaube es uns, dass wir soziale Rollen anderer Individuen für die Dauer der Lektüre übernehmen, ohne dabei tatsächlich zu diesen ›Anderen‹ zu werden.26 Das inszenierte Rollenspiel der Literatur, das den zeitlich begrenzten Rollentausch miteinbegreift, wird bei Nussbaum zum Garanten demokratischer Gesinnung schlechthin. Die Aporien dieser – nicht nur von Nussbaum reklamierten – Notwendigkeit literaturwissenschaftlicher Praxis sind gut gemeint, entpuppen sich bei näherer Betrachtung jedoch als problematisch.
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2. Not For Profit Lesen im Kapitalismus In einer der ersten Abhandlungen zum Einsatz des Mikroskops in der Biologie notiert der englische Forscher Robert Hooke, dass für die menschliche Wahrnehmung Skalierung und der Abstand zum beobachteten Objekt von entscheidender Bedeutung sind. In seinem Buch Micrographia von 1665 beschreibt Hooke detailliert seine bahnbrechenden physiologischen Untersuchungen kleinster Körper mit Hilfe des von ihm entwickelten Vergrößerungsglases, das er als natürliche Ergänzung des auf die Ferne gerichteten Teleskops betrachtete. Beide Instrumente erlaubten es, unsere begrenzte Sicht auf die Dinge zu erweitern und die menschliche Wahrnehmung zu perfektionieren. Das Buch enthält atemberaubende, teilweise mehrseitige Kupferstiche kleinster Ausschnitte von Insekten und Säugetieren. Dabei mäandern Hookes Beschreibungen beständig zwischen der Welt der kleinsten Dinge und den symmetrischen Konstellationen der unendlich weit entfernten Himmelskörper, denn beide Welten, so seine christliche Überzeugung, entsprächen in idealer Weise der von Gott vorgesehenen Harmonie und Ordnung. Anders als von Menschenhand Gemachtes, etwa die Spitze einer Nadel oder die Klinge eines Rasiermessers, die unter dem Mikroskop stumpf und ausgefranst erscheinen, spiegelt sich in der mikroskopischen Betrachtung eines Flohauges die Harmonie des Universums als Ganzes wider.27 Hookes Micrographia ist ein starkes Plädoyer für das ›Nahesehen‹, der Text legt aber auch die damit verbundenen Gefahren offen. Denn so aufschlussreich die mikroskopischen Beobachtungen auch sein mögen, das christliche Weltbild des Beobachters verstellt letztlich den Blick für die in den Erscheinungsformen der Dinge ziselierten Ausdifferenzierungen und Besonderheiten. Auch im kleinsten Detail kann Hooke immer nur das Große und Ganze der göttlichen Ordnung sehen,
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wird ihm alles zum Beleg des bereits Bekannten. Das Nahesehen ermöglicht zwar über die Miniatur des Gegenstandes hinausreichende Erkenntnisse, wie auch bei anderen Formen des Sehens ist damit aber nicht automatisch die für die Wahrnehmung des Unerwarteten und Neuen notwendige Offenheit garantiert. Dass es letztlich keine blinde, ideologiefreie Form von Wahrnehmung geben kann, lässt sich auch an der wechselhaften Geschichte der in den Literaturwissenschaften lange Zeit dominanten Praxis des close reading ablesen. Ähnlich wie der Blick des Forschers durch das Mikroskop versucht auch das ›Nahelesen‹ die Tiefenstrukturen eines Textes, die dem f lüchtigen, ungeübten Leser meist entgehen, offenzulegen. Die Analogie zu den Naturwissenschaften scheint bereits im Untertitel des von I.A. Richards gemeinsam mit dem Sprachphilosophen C. K. Ogden verfassten Gründungstextes des literaturwissenschaftlichen Nahelesens, The Meaning of Meaning: A Study of the Inf luence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism (1923), auf. Wie der an der Universität von Cambridge lehrende Richards später erläuterte, ging es beim close reading vor allem darum, ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe Studierende überprüf bare Aussagen über die Funktionsweise von Gedichten machen konnten, ohne dabei auf subjektive Empfindungen und kaum nachvollziehbare Gefühlslagen zurückzugreifen.28 Gerade bei der Lektüre von Lyrik komme es darauf an, oberf lächliches, allein am Klang des Gedichts klebendes Lesen – Richards nennt es bad reading – zu vermeiden. Um als Leser in ein Gedicht ›hineinzufinden‹, muss man es langsam und aus der Nähe lesen. Nur dann wird man die strukturelle Identität von poetischer Form, Inhalt und Bedeutung, die allen sprachlichen Kunstwerken zugrunde liegt, erkennen können. Gedichte sind komplexe ästhetische Kunstwerke, aber ihre Funktionsweise lässt sich ähnlich eindeutig beschreiben, wie die eines mechanischen Apparates. Viele Zahnräder greifen hier ineinander, um schließlich eine Wirkung zu produzieren, die von Laien oft als rein äußerlich und nur ›gefühlt‹ wahrgenommen wird. Durch Vermittlung des konservativen Schriftstellers und Literaturkritikers John Crowe Ransom fand die Methode des Nahelesens auch in den USA rasch Verbreitung. Nach einer von Ransom herausgegebenen Anthologie mit dem Titel The New Critics (1941) eroberte sie dort als New Criticism die Universitäten und war bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein die Standardlesart in den verschiedenen Literaturwissenschaften. Diesen erstaunlichen Erfolg verdankte das
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close reading nicht allein dem Nimbus des Neuen, Technizistischen und Wissenschaftsaffinen. Die überwiegend aus dem wirtschaftlich rückständigen Süden kommenden New Critics, die Richards’ Fokussierung auf die textimmanenten Aspekte von Dichtung sukzessive auf literarische Kunstwerke insgesamt ausgeweitet hatten, sahen in ihm nicht zuletzt eine Möglichkeit, die Geisteswissenschaften gegen die rasant fortschreitende Ökonomisierung und den ungezügelten Fortschrittsglauben des modernen Amerika zu immunisieren. Dass dies gerade mit einer explizit anti-romantischen, gegen Einfühlung und Identifikation mit dem Text gerichteten Methode gelingen sollte, mutet zunächst paradox an. Für die New Critics war das Nahelesen jedoch vor allem der Schlüssel zur autocthonen, von den wirtschaftlichen Verwertungskreisläufen unabhängigen Sphäre der Kunst. Aufgrund seiner Fixierung auf das sprachliche Kunstwerk als alleinige Grundlage literaturwissenschaftlicher Betrachtung schloss close reading die Berücksichtigung externer, nicht unmittelbar im Text zu identifizierender Faktoren wie Autorintention, historische Wortbedeutungen, Leserinnenreaktionen oder politisch-soziale Kontexte kategorisch aus. Literatur war zwar Kunst und damit wie die Künstlerinnen selbst, denen sie ihre Existenz verdankt, Teil kapitalistischer Produktions- und Vermarktungszusammenhänge. Einmal in der Welt, negieren literarische Texte diese Ursprünge jedoch und werden zu eigenständigen (self-contained) Artefakten, deren eigentliche Bedeutung, wie die New Critics glaubten, jenseits dieser Zusammenhänge liegt und sich adäquat nur mit der vermeintlich wissenschaftlichen Methode des Nahelesens bestimmen lässt. Mit den gegenkulturellen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre geriet das Nahelesen dann zunehmend in die Kritik. An den durch die Atombombe und den Völkermord in Vietnam politisierten English Departments hielt man die New Critics und die von ihnen propagierte Praxis des close reading für elitär, pseudowissenschaftlich und – schlimmer noch – ohne jeden Bezug zur gesellschaftlichen Realität. Lesen und Literatur waren eben gerade keine von den gesellschaftlichen Entwicklungen losgelösten Formen intellektueller Betätigung. Stattdessen begriff man sie nunmehr als Bestandteil einer umfassenden, sich stetig verändernden Medienökologie. Literarische Texte und ihre Lektüre waren eine kulturelle Äußerung unter vielen, deren unterschiedliche Ausprägungen in den einzelnen Ländern zwar von literatur- und kulturgeschichtlichem Interesse sind, die im Kern aber durchaus mit
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anderen Kulturtechniken wie dem Film, der Fotographie oder der populären Musik vergleichbar waren. Vor allem für die aus England kommenden sogenannten ›Kulturstudien‹ (cultural studies), auf die ich in einem späteren Kapitel noch einmal zurückkommen werde, waren die Herstellung und Rezeption sprachlicher Kunstwerke lediglich ein weiterer Beleg für die kulturschaffende Dynamik von Gesellschaft, die es nur vor diesem Hintergrund, nämlichen als Ausdruck bestimmter historischer, sozialer und politischer Formationen, zu studieren lohnt. Nach einigen Jahrzehnten der Abstinenz, in denen das close reading an den Hochschulen weitgehend durch psychologisierende, dekonstruktionistische oder neuhistorische Ansätze ersetzt worden war, ist an amerikanischen Universitäten (und darüber hinaus) nun erneut eine Debatte über den Sinn des Nahelesens entbrannt.29 In einer Zeit immer kürzer werdender Aufmerksamkeitsspannen, digitaler Bilderf lut und einer disziplinär stark ausdifferenzierten Universitätslandschaft scheint die Rückbesinnung auf die Tugenden der intensiven Beschäftigung mit Literatur qua Literatur verlockend. Denn es ist kaum zu bezweifeln, dass das Lesen auch und gerade an den Universitäten in Bedrängnis, wenn nicht gar in Verruf geraten ist. Warum also sollten Studierende wie Professorinnen zum close reading als der zentralen geisteswissenschaftlichen Methode zurückkehren? Die Antwort auf diese Frage fällt naturgemäß je nach Standort unterschiedlich aus. Unabhängig von der jeweiligen politischen und fachlichen Einstellung zeugt die neuerliche Hinwendung zum Nahelesen jedoch vor allem von einem über die Einzelfächer hinausreichenden Strukturproblem, nämlich die rasant schwindende Bedeutung der literaturwissenschaftlichen gegenüber den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), auf das die Geisteswissenschaften nun mit dem Rückzug in längst überholt geglaubte Methoden- und Theoriebastionen reagieren. Da der offensichtliche Anachronismus dieser disziplinären Volte mit der Renaissance des Nahelesens Hand in Hand geht, bedarf er hier einer näheren Betrachtung. Ganz allgemein kann man feststellen, dass auch die Universitäten, wie die Gesellschaft insgesamt, von der digitalen Wende hin zum Bild, zur visuellen Wahrnehmung erfasst wurden und dass dieser methodische Paradigmenwechsel erhebliche Auswirkungen auf die Lesepraxis in den Geisteswissenschaften hatte. Die oft mit dem visual turn in Verbindung gebrachte Konzentration auf bildliche Textformen, zu denen dann amerikanische Serien des sogenannten quality tv ebenso gezählt
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werden wie Meta-Werbung, Computerspiele oder auch Anleihen in Kunst- und Fotographiegeschichte, hat nicht nur zu einer Ausweitung des Kanons der literaturwissenschaftlichen Fächer geführt.30 Parallel dazu hielten audiovisuelle Techniken der Wissensvermittlung (Videoeinspielungen, Overheadprojektoren, Powerpoint Präsentationen, smart boards oder jüngst video conferencing tools wie ZOOM, Skype und digitale chat rooms) Einzug in geisteswissenschaftliche Seminare und Vorlesungen. Diese aus den Natur- und Wirtschaftswissenschaften übernommenen Lehrformate taten dann ein Übriges, die geisteswissenschaftlichen Fächer – schleichend und von den Betroffenen lange unbemerkt – sich selbst zu entfremden. Zusätzlich sahen sie sich seit den frühen 90er Jahren in die Pf licht genommen, sich in die Effizienz basierten Kreisläufe neoliberalen Wirtschaftens einzuschreiben und Qualitätskontrollen zuzulassen, die einerseits vor allem die Quantität und Geschwindigkeit wissenschaftlicher Arbeit bemaßen sowie andererseits wissenschaftsfremde Leistungen wie das Einwerben von Forschungsgeldern und großen Verbundprojekten prämierten.31 All dies war mit dem Selbstbild einer ihrem Wesen nach zweckfreien, auf Ausbildung der kritischen Seh- und Lesefähigkeit des Individuums ausgerichteten Geisteswissenschaft nicht zu vereinbaren. Was war zu tun? Die Rückbesinnung auf die vermeintlichen Tugenden des Nahelesens, das schon die New Critics als Antidotum gegen die zunehmende Profitorientierung des modernen Amerikas ansahen, versprach hier aus mehreren Gründen Abhilfe. Denn zum einen weist es eine gewisse generische Nähe zu den Naturwissenschaften auf; und zum anderen zeigt es sich als durchaus resilient gegenüber den übermächtig gewordenen Fliehkräften der Identitätspolitik, die vor allem (aber nicht nur) an amerikanischen Hochschulen einf lussreich ist. Und nicht zuletzt erlaubt die Methode des Nahelesens die Abwehr der von den digital humanities ausgehenden Bedrohung einer schleichenden technizistischen Unterhöhlung der Fächer, da sie auf der ontologischen Sonderstellung von Literatur und damit den mit ihr verbundenen Geisteswissenschaften beharrt. Die Rückkehr zur formalistischen Praxis des close reading ist offensichtlich eine Reaktion auf die oben beschriebene Identitätskrise der Geisteswissenschaften, die sich zunehmend der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands und der Wissenschaftlichkeit ihrer Methoden ausgesetzt sehen. Das Nahelesen folgt einem eindeutigen und immer gleichen Analyse-Protokoll und es erfordert professionelle Leserinnen,
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die mit der Poetizität und Funktionsweise sprachlicher Texte vertraut sind. Die Vorstellung der New Critics, literarische Kunstwerke seien grundsätzlich autonom und ließen sich nur schwer für Zwecke außerhalb der Kunst selbst verfügbar machen, bedient darüber hinaus einen Mythos, dem die Geisteswissenschaften seit ihrer Geburt aus der Romantik huldigen. Gemeint ist, was Martha Nussbaum in ihrer Streitschrift zur Verteidigung der humanities unlängst mit dem Schlagwort Not for Profit für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen reklamiert, nämlich ihre prinzipiell anti-kapitalistische Struktur. Dass die Künste und mit ihr die von ihnen handelnden Geisteswissenschaften ihrem Wesen nach nicht an Maximierung – weder von Wissen noch von Kapital – interessiert seien, gehört zu den Gründungsmythen der modernen Kunst überhaupt. Dies ist nicht der Ort den vielfältigen Verzweigungen dieser trügerischen Selbstwahrnehmung von den Romantikern über Nietzsche bis hin zur kritischen Theorie im Einzelnen nachzugehen. Einige entscheidende Wegmarken, die das Ihre zur Persistenz dieser Selbstbeschreibung beigetragen haben, sollen hier dennoch kurz genannt werden. Dabei geht es immer wieder um die Vorstellung, der Bereich der Kunst und das zweckfreie Spiel mit den von ihr bereitgestellten Mitteln, hier: die sprachliche Dichtung, besäße die Fähigkeit zur Transzendenz des vom Kapital ausgehenden Zwangs zur Produktivität. Die Herstellung von Kunst, ebenso wie ihre geisteswissenschaftliche Objektivierung als Forschungsgegenstand, definiert sich damit klar in Opposition zur Sphäre wertschöpfender Arbeit, oder anders ausgedrückt, sie wird zum Sonderfall kapitalistischer Produktion. Am Anfang ihrer 1960 erschienen Studie Vita Activa oder Vom tätigen Leben zitiert Hannah Arendt den Satz eines amerikanischen Journalisten, der anlässlich der ersten Sputnik-Mission 1957 schrieb, »nunmehr sei der erste Schritt getan, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen«.32 Für Arendt ist dieser Satz mehr als nur eine rhetorische Ungeschicklichkeit. Vielmehr zeigt sich an ihm, dass das Denken der Menschen schon immer dem Vermögen der Wissenschaft und der Technik vorausgeeilt war, dass die Wissenschaft nur verwirklicht hat, was Menschen geträumt haben. Im Folgenden beklagt Arendt dann eine doppelte Form der ›Weltenfremdung‹ in modernen Gesellschaften. Zum einen die Entfremdung von unserer unmittelbaren Umgebung, denn »jeder Verringerung von Entfernung auf der Erde kann nur um den Preis einer vergrößerten Entfernung des Menschen von der Erde gewonnen werden, also um den Preis einer entscheidenden Entfremdung des Men-
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schen von seiner unmittelbaren irdischen Behausung«.33 Und zum anderen die Entfremdung des Menschen von sich selbst, ausgelöst durch die Verabsolutierung einer weiteren Triebkraft der Moderne, nämlich die der Arbeit oder des Lebens als ›tätigem‹ Leben. Bereits im 17. Jahrhundert, so Arendt, habe die Neuzeit damit begonnen, die Arbeit zu verherrlichen und die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. Arendt warnt vor dem damit einhergehenden Verlust eines Bewusstseins für zweckfreie, wirtschaftlich unproduktive Tätigkeiten wie sie das geisteswissenschaftliche Lesen bzw. das Denken allgemein darstellen. Angesichts des technischen Fortschritts und der damit verbundenen, stetig wachsenden Produktivität der Industrie, die in absehbarer Zeit den Einsatz menschlicher Arbeitskraft überf lüssig machen wird, wäre dieser Verlust in der Tat fatal. Was nämlich macht eine völlig auf Arbeit abgestellte Gesellschaft ohne Arbeit? Was arbeiten, wenn es nichts mehr herzustellen gibt, wenn Dienstleistungen zunehmend von Maschinen übernommen werden, und Arbeit daher sinnentleert und zwecklos erscheint? Für Arendt erlaubt allein das vom Zwang zur Produktivität befreite Nachdenken von Kunst und Philosophie, sich über die existenziellen Fragen des modernen Lebens zu verständigen. Die Sprache aber, die für sie immer auch eine bestimmte Form des Denkens bezeichnet, sei gerade dabei, sich zu verf lüchtigen, sie werde von immer weniger Menschen wirklich beherrscht und benutzt, ganz besonders in den Naturwissenschaften, wo Formeln und Zahlen sprachliche Komplexität reduzieren sollen.34 Die Aktualität dieser Bestandsaufnahme, gut 30 Jahre vor der f lächendeckenden Einführung des Computers, ist bestechend. Arendt schreibt der Sprache das besondere Vermögen zu, uns zur ›Besinnung‹ kommen zu lassen. Mit Besinnung ist dabei vor allem das Nachdenken über die Welt an sich, unser In-der-Welt-Sein gemeint. Diese nur im Raum der Sprache mögliche Form des Denkens führt mit großer Wahrscheinlichkeit, so Arendt weiter, zwar nicht zu Handlungen im Sinne praktischer Politik; sie führt aber im besten Fall zu weiterer Besinnung und erlaubt so einen anderen, neuen Blick auf die drängenden Probleme der Zeit, jenseits dominanter Diskurse und etablierter Formen gesellschaftlicher Erfahrung. Während jedoch die Formelhaftigkeit naturwissenschaftlichen Sprechens auf Effizienz und größtmögliche Klarheit gerichtet ist, erlaubt allein die Sprache der Philosophie und der Geisteswissenschaften kritisch und sinnstiftend zugleich auf die Entwicklungen auf der Erde zu reagieren. Denn was immer »Menschen
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tun, erkennen, erfahren oder wissen«, wie Arendt uns in Erinnerung ruft, »wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann«. Ohne eine solche nicht-mathematische Sprache, und damit ohne die Wissenschaften, die sie hegen und als Mittel der Verständigung und des Austauschs von Ideen nutzen, also ohne die Geisteswissenschaften, kann es letztlich keine Form von Erkenntnis geben. Denn die Naturwissenschaften »leben bereits in einer sprach-losen Welt, aus der sie qua Wissenschaftler nicht mehr herausfinden«.35 Zur Besinnung kommen als eine Form des kritischen Nachdenkens ist auch das Thema eines heute größtenteils in Vergessenheit geratenen Essays des Philosophen und Nobelpreisträgers Bertrand Russell. In dem 1932 verfassten Lob des Müßiggangs stellt Russel der Arbeitsverfallenheit moderner Gesellschaften das Ideal des kreativen Nichtstuns entgegen. Die Moderne, so beklagt er, habe sich ohne Not einer verhängnisvollen Dynamik der umtriebigen Geschäftigkeit überantwortet, die gedanklicher Produktivität abträglich und aller wissenschaftshistorischen Erfahrung gegenläufig ist. Diese moderne Arbeitsmoral sieht Russel vor allem in den USA am Werk, wo selbst diejenigen Teile der Bevölkerung ihr verfallen sind, die dies ökonomisch gar nicht nötig hätten und die den Zwang zur Arbeit als säkularisierte Selbstautorisierung und symbolische Abgrenzung von den Verhaltensnormen einer degenerierten, prämodernen Aristokratie missverstünden. Aus Sicht des aufgeklärten, humanistisch gebildeten Europäers, so Russell, ist dies im Kern ein Verrat an den Werten europäischer Zivilisation, für die das nicht zweckgerichtete Denken und die Produktion von Kulturgütern, die eben gerade keine Konsum- und Gebrauchsgüter im kapitalistischen Sinn darstellen, eine Grundvoraussetzung ist. Russell identifiziert hier einen Grundwiderspruch zwischen der geschäftigen Betriebsamkeit des modernen Menschen und den Zwecken, für die wir vermeintlich all die Mühsal und Plackerei auf uns nehmen: Die ganze Welt ist in geschäftiger Bewegung befangen, aber Geschäftigkeit allein ist nicht die Bestimmung des Menschen. Vielmehr verhindert sie, dass wir zur Besinnung kommen und unsere eigentliche Bestimmung erkennen können.36 Um dies zu erreichen, entwirft Russell eine – aus heutiger Sicht durchaus realistische – Gesellschaft ohne Arbeit, in der wir die Muße haben, uns dem zu widmen, was er an anderer Stelle einmal als useless knowledge, als ›nutzloses Wissen‹ bezeichnet hat.37 Dass das Adjektiv ›nutzlos‹ in vielen Sprachen negativ besetzt ist, hat für Russel damit zu
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tun, dass wir wesentliche Grundtugenden christlich-abendländischer Kultur schlicht verlernt bzw. in Folge der fortschreitenden Säkularisierung und Selbstbezüglichkeit der Moderne aus dem Arsenal unserer kulturellen Praktiken entsorgt haben. Wie schon bei Hannah Arendt, so zeigt sich auch für Russell die fortschreitende Utilitarisierung moderner Gesellschaften am prägnantesten im Verlust der Sprache. Die Vorstellung, Sprache könne andere Absichten als den möglichst störungsfreien Austausch von praktischen Informationen verfolgen, sei den meisten Menschen – wohlgemerkt, wir befinden uns in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts – fast vollständig abhanden gekommen.38 Sprache als Instrument ästhetischer Erfahrung und als eine Form des joie de vivre, Fehlanzeige! Russells Lobgesang auf den intellektuellen Müßiggang, der in der sinnlosen Geschäftigkeit einer fehlgeleiteten Moderne unterzugehen droht, scheint dem Selbstverständnis der Geisteswissenschaften als Hort selbstbezogener Beschäftigung mit Ideen und Texten beste Argumente bereitzustellen. Umso mehr muss verwundern, dass seine pädagogischen Texte jenseits der verschiedenen Studentenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre kaum auf ernsthaftes Interesse gestoßen sind. Dies mag daran liegen, dass Russells Nonkonformismus auch den Geisteswissenschaften eher skeptisch gegenüberstand. Er selbst empfand gewachsene akademische Strukturen zeitlebens als ein Korsett, das ihn daran hinderte, kreativ und – wie man heute sagen würde – outside the box zu denken. Und es wäre verfehlt zu glauben, Russells antiautoritäre Schriften zur Erziehung redeten einer Pädagogik das Wort, die allein vom Diktat der Nutzlosigkeit bestimmt ist. So beurteilt er etwa die humanistische Ausbildung, die gegen den Trend der Zeit am Erlernen von ›toten‹ Sprachen wie Griechisch und Latein festhält, durchaus kritisch. Aufgrund ihres strukturellen Beharrungsvermögens und der mangelnden Bereitschaft sich an gesellschaftliche Veränderungen anzupassen, seien institutionalisierte Bildungseinrichtungen, so das für Universitäten düstere Fazit des Essays, im Großen und Ganzen schlecht gerüstete Hüter der Werte westlicher Zivilisation. In einem Umfeld, in dem außerhalb der akademischen Mauern jeder damit beschäftigt ist, produktiv zu sein, stünden die Geisteswissenschaften auf verlorenem Posten, da sie weitgehend Werte propagierten, die konsens- und kommunikationsfähig sind. Das Neue, Originelle und Abseitige hingegen, dessen ideeller Ertrag gesellschaftlich oft nur schwer vermittelbar ist, muss ihnen qua ihrer Struktur fremd bleiben.39
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Dies war auch Theodor Adorno durchaus bewusst. In den Noten zur Literatur bemerkt er an einer Stelle, dass »die objektive Fülle von Bedeutungen [...], die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, um sich zu enthüllen, vom Empfangenden eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie [verlangten], die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird«.40 Adorno identifiziert hier einen eklatanten Grundwiderspruch akademischer Lektüre, nämlich der fälschlichen Annahme, dass man, um einen Text ›richtig‹ zu verstehen, sich diesem nur im Rahmen eines mühsam erlernten methodischen Regelwerks nähern könne; und dies wohlwissend, dass gerade die im Text verborgene Fülle an Bedeutungen, sich mit keiner Methode allumfänglich sichtbar machen lässt. »Nichts lässt sich herausinterpretieren«, so Adorno weiter, »was nicht zugleich hineininterpretiert wäre.«41 Mit der neuerlichen Rückbesinnung auf das close reading – insofern es tatsächlich wieder f lächendeckend zum Einsatz käme – vollziehen die Geisteswissenschaften also zwar eine Kehrtwende: nach den angeblichen Verirrungen der ›Verkulturwissenschaftlichung‹ der literarischen Fächer zurück zum Expertentum des New Criticism und der Moderne. Doch die Immunisierung gegen die digital humanities (von innen) und den zunehmenden Verlust an sozialem Prestige (von außen) ist trügerisch. Denn einerseits kann gerade die hochregulative Methode des Nahelesens kaum den von Adorno so prägnant beschriebenen Grundwiderspruch geisteswissenschaftlicher Lehre auf lösen. Im Gegenteil, sie wird die Kluft zwischen den im Text eingeschlossenen Bedeutungen und dem methodisch verengten Blick auf ihn eher noch größer werden lassen. Und andererseits erscheint fraglich, ob sich der mit dieser Methode verbundene Anspruch auf disciplinary exceptionalism, auf die Transzendenz und ontologische Andersartigkeit literaturwissenschaftlicher Forschung, im heutigen neoliberalen universitären Umfeld überhaupt noch einlösen lässt. Zwar stimmt auch heute noch, dass das kritische Nachdenken über die Bedingungen menschlicher Tätigkeit sich nur im Raum der Sprache artikulieren kann. Und richtig ist auch, dass die Geisteswissenschaften mit großer Wahrscheinlichkeit hierfür besser geeignet sind als die auf Effizienz in der Wissenschaftskommunikation bedachten Naturwissenschaften, von denen Hannah Arendt behauptete, sie kämen qua Naturwissenschaft nicht mehr aus der epistemologischen Falle ihrer Fächer heraus. Doch die Nähe zur Sprache allein, wie Bertrand Russell am eigenen Leib leidvoll erfahren musste, schafft noch nicht die notwendige Offenheit und Flexibilität, die es braucht, um sich Querden-
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kern, aber auch den Veränderungen, die durch technischen Fortschritt bedingt sind, konstruktiv zu stellen. Der eher hilf los anmutende Rückgriff auf verkarstete Positionen und das sehnsuchtsvolle Schielen auf ein für die Geisteswissenschaften vermeintlich goldenes, jedoch längst vergangenes Zeitalter kann jedenfalls kaum zuversichtlich stimmen. Woher also rührt die enorme Bedeutung, die die Geisteswissenschaften dem Lesen (immer noch) zumessen? Da wäre zum einen der simple Umstand, dass fast der gesamte Korpus mindestens der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften in Buchform vorliegt und sich nur über entsprechende Lektüre erschließen lässt. Wie ich zeigen wollte, liegen jedoch auch hier Welten zwischen dem Nahelesen der New Critics und dem Fernlesen Franco Morettis. Ob wir in ein Buch hinein- oder herauszoomen, ob wir es digital mit anderen Büchern vergleichen oder es während akribischer Lektüre bis zur Unkenntlichkeit annotieren (wie es von Edgar Allan Poe überliefert ist), ist keinem Buch eingeschrieben; es liegt vielmehr in der Entscheidung jeder einzelnen Leserin, wann, wie und mit welcher Methode sie sich diesem scheinbar profanen und doch mit allerlei Mythen behafteten Medium nähert. Und zum anderen verbindet sich mit dem Schreiben und Lesen von Büchern die – für viele nicht entfristete Akademikerinnen häufig jedoch trügerische – Hoffnung auf ein ›richtiges Leben im Falschen‹, auf eine kreative Nische innerhalb des auf Produktivität abgestellten kapitalistischen Systems. Ich habe hier Arendt, Russell und Adorno zu Wort kommen lassen, da sie drei Besonderheiten sprachlicher Kunstwerke und deren Rezeption benennen, die auch in den Debatten zur Legitimation von Buchkultur und Geisteswissenschaften immer wieder angeführt werden. Da wäre zunächst die Bedeutung der Sprache als Ort des Denkens. Sprache und Denken sind aufs Engste miteinander verknüpft und nur, wer einer Sprache mächtig ist, wird auch kritisch nachdenken können. Da wir in der modernen Zeit weitgehend schriftsprachlich kommunizieren, werden Lesen und Schreiben gleichfalls zur Voraussetzung des Denkens. Besinnung in Form sprachlicher Ref lexion führt zwar selten zu konkreten Handlungen, sie erlaubt jedoch weitere Besinnung. Denken ist produktiv, da seine Artikulation in der Sprache immer auch Anstoß zum Weiterdenken ist. Dass diese von Arendt beschriebene Kausalität letztlich auch die Arbeit der Philosophie einer Dynamik der Maximierung unterstellt, scheint mir ein weiterer Beleg für das Dilemma, in dem sich die Geisteswissenschaften seit ihrer Gründung am Anfang der Moderne befinden. Offensichtlich
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lässt sich deren vielfach behauptete Zweckfreiheit und Anwendungsresistenz eben doch nur in den Kategorien des Marktes und der beständigen Vermehrung denken. Eine weitere Besonderheit schriftsprachlicher Ref lexion ist ihr verschwenderischer Umgang mit der Zeit. Denn Lesen und Schreiben – egal ob es sich um Sachbücher oder Fiktionen handelt – benötigen Zeit. Die durchschnittliche Verweildauer vor einem Bild im Museum beträgt nur wenige Minuten, doch für ein Buch bedarf es mehrerer Stunden, wenn nicht gar Tage oder Wochen. Und um ein gutes Buch zu schreiben, werden nicht selten Jahre veranschlagt. Lesen und Schreiben erlauben uns zu denken, gerade weil sie unseren hektischen Rhythmus verlangsamen und uns Zeit einräumen, um im besten Fall zur Besinnung zu kommen. Für Bertrand Russell war es daher entscheidend, dass beides, Lesen und Schreiben, sich jenseits der Zeitökonomie und des produktiven Imperativs moderner Gesellschaften entfalten kann. Gute Autorinnen und gute Leserinnen brauchen den Müßiggang. Dabei war Russell durchaus bewusst, dass universitäre Strukturen diesen Müßiggang kaum werden gewähren können. Auch hier deutet sich ein Wertekonf likt an, der die Geisteswissenschaften bereits seit längerem begleitet und dessen tragikomische Auswirkungen auf die Selbstdarstellung der betroffenen Fächer seit der Einführung von Regelstudiengängen und Modulprüfungen nicht mehr zu übersehen sind. Und schließlich wäre da noch Adornos Einsicht, dass nämlich jede noch so kluge Lektüre immer nur Teilaspekte, und überdies f lüchtige Teilaspekte, eines verborgen bleibenden Ganzen des Textes erschließen kann. Lesen ist damit immer auch ein Nicht-Lesen, eine Kapitulation vor der Komplexität des Buches, das man so aber eben auch anders interpretieren kann. Zwar hat die akademische Literaturkritik die unhintergehbare Subjektivität ihrer Urteile gelegentlich durch Methoden wie das close reading oder die strukturalistische Literaturanalyse zu reduzieren versucht. Für die Geisteswissenschaften eröffnete diese deformation professionelle jedoch auch die Möglichkeit, ihren Sonderstatus unter den Wissenschaften erfolgreich zu behaupten. Geisteswissenschaft war eben weder eine exakte Wissenschaft im Sinne des Rationalismus, noch war sie im Vergleich mit der Zweck- und Anwendungsorientierung der MINT-Fächer ›markttauglich‹. Im Gegenteil, ihre Attraktivität und ihr symbolisches Kapital erwuchsen ihr gerade aus der Distanz zu diesen beiden Polen der akademischen Werteskala. Geisteswissenschaft war schon immer im besten Sinn des Wortes
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›nutzlos‹. Mit dem Auszug des Lesens aus den Geisteswissenschaften wie auch aus der Gesellschaft insgesamt geht diese Möglichkeit unwiderruf lich verloren. Statt einer Wissenschaft der lesenden Einfühlung bleibt nunmehr die Wissenschaft von einer Kulturtechnik, die es so, wie man sie immer beschworen hat, längst nicht mehr gibt. Damit aber wäre die Geisteswissenschaft endgültig zur Hüterin ihrer eigenen Geschichtlichkeit mutiert. Dabei ist es gerade dieser brüchige, scheinbar nutzlose Dialog der Leserin mit dem sprachlichen Text, der beide, Buchkultur und die Geisteswissenschaften, so wertvoll macht: für das Verständnis der sprachlichen Bedeutungsambivalenzen jenseits der Texte, für die Ausbildung von Resilienz gegenüber den Narrativen autoritärer Ermächtigung in der nicht-fiktionalen Welt, für die Frage nach dem Mensch-Sein an sich. Man kann darüber diskutieren, ob Bilder etwa im Film oder in der Videokunst nicht ähnlich komplexe Strukturen beherbergen, wie dies die besten literarischen Texte tun. Und man kann anführen, dass es Zeit wird, die angestaubten Lektürelisten an den Universitäten durch neue, interaktive Formen der Repräsentation von Welt, wie etwa das Video- oder Computerspiel, zu ersetzen. Oder auch, dass die Literatur niemals ein ›unschuldiges‹ Medium war, jenseits von Ideologieverdacht und wirtschaftlichem Interesse; dass sie immer schon auf ein ganz bestimmtes, nämlich bürgerliches und gut ausgebildetes Publikum gezielt hat und daher kaum Wirkung auf breite Schichten der Bevölkerung entfalten konnte. Letztlich wird keines dieser Argumente den Mehrwert des Literarischen als Form der (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der Conditio Humana vollständig negieren können. Doch auch ›negative‹ Produktivität, um einen Ausdruck Adornos für das subversive Potential guter Literatur zu gebrauchen, ist immer noch Produktivität. Auch wenn geisteswissenschaftliche Besinnung selten zu konkreten Handlungen und messbaren gesellschaftlichen Veränderungen führt, ist sie Teil der Gesellschaft insgesamt. Und dies nicht allein, weil es sich bei Professorinnen in vielen Ländern um gut bezahlte Staatsdienerinnen mit Pensionsanspruch handelt. Angesiedelt an der Schnittstelle von Sozial-, Wirtschafts-, Rechts- und Naturwissenschaften, mit denen sie beständig um die Gunst der Studierenden buhlen, sind die Geisteswissenschaften aufgerufen, gesellschaftliche Transformationsprozesse konstruktiv zu begleiten und diskursbildend in die Gesellschaft hineinzuwirken. Das Lesen von Büchern und die mit ihnen verbundenen Wissenschaften bedingen sich gegenseitig, sie wä-
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ren für sich genommen jedoch kaum überlebensfähig. Beide bedürfen eines gesellschaftlichen Umfelds, das Ihnen Interesse und Anerkennung entgegenbringt. Ist dies nicht mehr der Fall, dann liegt es an den Geisteswissenschaften, den Beweis für die gesellschaftliche Relevanz des Mediums Buch – und zwar allgemeinverständlich, ohne den selbstgefälligen Rückgriff auf esoterische oder pseudowissenschaftliche Rhetorik – anzutreten. Die Vorstellung, es könnte innerhalb des neoliberalen Systems ein ›richtiges Leben im Falschen‹ geben, das Beharren auf disziplinärer Resilienz gegenüber dem technischen Fortschritt und den Gesetzen des Marktes, bleibt – auch dies wissen wir von Adorno – eine Utopie.42 Umso erstaunlicher, dass sie von vielen Vertreterinnen der Zunft in gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Debatten um die Zukunft der geisteswissenschaftlichen Fächer immer wieder verbissen ins Feld geführt wird.
3. Die ›gute‹ Leserin Literatur und Moral Die Annahme, dass die Schreibarbeit der Autorin und die konzentrierte Lesearbeit am Text sich nicht unter die produktiven Tätigkeiten in modernen Gesellschaften subsumieren lassen, dass sie ihrem Wesen nach etwas Anderes, Eigenes darstellen, reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück. Der amerikanische Autor Nathaniel Hawthorne hat diese Sonderform der Kulturproduktion in der Kurzgeschichte The Artist of the Beautiful (1844) am Beispiel des Uhrmachers Owen Warland veranschaulicht. Warland ist ein Handwerker manquè, dessen eigentliche Ambition, die Kunst, sich unter anderem darin manifestiert, dass die Uhren im Schaufenster seines Ladens mit der Rückseite zu den vorübergehenden Passanten ausgelegt sind. Denn der Wert der von ihm sorgfältig angefertigten Messinstrumente liegt gerade nicht darin, den Menschen die Zeit anzuzeigen. Sie sind in dieser Hinsicht so ›nutzlos‹ wie die Literatur selbst. Ihre Bestimmung ist vielmehr die Verkörperung eines ästhetischen Ideals, von dem der Künstler/Uhrmacher ahnt, dass es kaum dauerhaft Gestalt annehmen kann.43 Ein weiteres Thema von The Artist of the Beautiful ist die Frage nach der Moral. Owen Warland ist ein zutiefst ›unmoralischer‹ Mensch. Die innere Unruhe und das monomanische Suchen nach Schönheit, von der seine Künstlerexistenz bestimmt ist, verhindern normale zwischenmenschliche Beziehungen und beschränken den Radius sozialer Interaktion auf ein absolutes Minimum. Die Anderen sind ihm immer nur Spiegel des eigenen Schaffensdrangs, und ihre Bereitschaft, sich seiner Sehnsucht nach dem Schönen und Wahren unterzuordnen, wird zum Lackmustest für die Gewährung von Zuneigung und Empathie. Die in hohem Maße ›asoziale‹, von der Gemeinschaft abgewandte Fixierung auf das Erreichen eines einzigen Ziels ist seit der Romantik integraler Bestandteil künstlerischer Identität. Sie findet sich in vielen romantischen Künstlererzählungen ebenso
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wie in modernen und postmodernen Beschreibungen des Künstlers als einem von Wahn getriebenen, sich zunehmend der Welt entfremdenden Subjekt. Man denke nur an Kaf ka, Nabokov oder auch den späten William Gaddis. Interessant ist hier, dass parallel zur Genealogie des Künstlers aus den Niederungen der Unmoral und der sozialen Isolation die Rezeption seiner Werke, also das Lesen von Literatur, häufig mit genau dem Gegenteil, nämlich der moralisch-ethischen Bildung des Individuums, in Verbindung gebracht wurde. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in diesem Zusammenhang unlängst von einer Obsession der Literatur mit ihrer Rezeption, also dem Lesen, gesprochen. In zahlreichen Romanen – man denke etwa an Don Quijote oder Madame Bovary – lassen sich Protagonisten finden, die intensiv lesen und deren Lektüre Rückwirkungen auf die Erwartungen und Handlungen dieser Personen hat. Dabei unterscheidet Illouz zwischen zwei unterschiedlichen fiktionalen Lektüreformen: zum einen das typisierende Lesen, ein Lesen, das beständig die Einbildungskraft anregt, Erwartungsmuster vorprägt und dadurch die handelnden Personen allmählich ihrer Lebensumstände entfremdet; und zum anderen das Lesen als Bildung, bei dem Bücher keine überzogenen Erwartungen schüren, die zu Frustration und Überreizung führen können; stattdessen erlaubt diese Form der Lektüre dem lesenden Individuum, sich seiner selbst zu vergewissern und zum sittlich-moralischen Subjekt heranzureifen.44 Wie eingangs bereits erwähnt, erinnert das bildungsbürgerliche Eintreten für die Buchkultur à la Susanne Gaschke auffällig an Schillers Aufsatz Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793). Schiller beschreibt darin die enge Wechselbeziehung von ästhetisch-künstlerischer Erfahrung und moralischem Verhalten. Mehr noch, das Kunstwerk wird bei ihm zum Symbol von Moral schlechthin. Einerseits gehorcht es, wie der klassische Tanz, seiner eigenen Gesetzmäßigkeit und verfolgt eigene Ziele; andererseits aber erlaubt gerade die Kontemplation des selbstbezüglichen, autonomen Kunstwerks Einsicht in allgemeingesellschaftliche Zusammenhänge. Denn auch in der Sphäre sozialer und politischer Interaktion verhalten sich Individuen regelkonform und folgen moralisch-ethischen Normen. Diese im Grunde paradoxe Verortung von Kunst (einschließlich der Literatur) gleichzeitig außerhalb wie innerhalb der Gesellschaft zieht sich durch zahllose geisteswissenschaftliche Debatten über den Sinn und die Legitimation von Buchkultur. In den USA, wo gegen Ende der 1980er Jahre besonders heftig über die Zukunft des literarischen Kanons und der humanities
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insgesamt gestritten wurde, hat sich der an der Yale University lehrende Literaturwissenschaftler J. Hillis Miller mit einem viel beachteten Beitrag über die Ethik des Lesens zu diesem Problem geäußert. Millers Ausgangspunkt war der durch die Dekonstruktion und den Poststrukturalismus ausgelöste Paradigmenwechsel innerhalb der Geisteswissenschaften, was damals von pessimistischen Großprofessoren wie John Searle oder René Wellek als Anfang vom Ende humanistischer Bildung empfunden wurde. Wie schon der New Criticism so gingen auch die ursprünglich aus Frankreich kommenden poststrukturalistischen Ansätze von der Selbstreferenzialität und Autonomie sprachlicher Kunstwerke aus. Im Gegensatz zu den new critics erschien ihnen die Einteilung literarischer Werke nach Epochen und deren Interpretation mit Hilfe biographisch-historischer Kontexte allerdings wenig ertragreich. Da Literaturgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert zum festen Bestandteil des Studiums nationalsprachlicher Literaturen gehörte, war die Verstörung unter den historisch arbeitenden Kolleginnen groß. Doch Dekonstruktion und Poststrukturalismus waren nicht nur die Totengräber literaturgeschichtlicher Anthologien und Überblicksdarstellungen. Sie haben auch mit der Vorstellung aufgeräumt, literarische Kunstwerke zeichneten sich durch eine eindeutig beschreibbare, in ihnen organisch verschlüsselte Bedeutung aus, die es dann zu entziffern bzw. herauszulesen gilt. Grundlage dieser bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreiteten hermeneutischen Herangehensweise war die Ansicht, dass Sprache notwendig auf außersprachliche Zusammenhänge verweise und dass ihre Bedeutung daher gerade in der – wenn auch manchmal ambivalenten – Betonung dieser Referenzialität läge. Auch damit konnten Dekonstruktion und Poststrukturalismus wenig anfangen. Für ihre Anhängerinnen war Sprache, und zwar jede Form von Sprache (also nicht allein literarisches Sprechen), ihrem Wesen nach figurativ. Sie entziehe sich daher endgültigen Bedeutungszuweisungen und erlaube keine allgemeingültigen Aussagen über den Gehalt des Dargestellten wie auch der Darstellung selbst. Der konkrete Anlass für Millers Bemerkungen über die Moral des Lesens war die Tatsache, dass die Zahl der Einschreibungen in den Literaturwissenschaften von Jahr zu Jahr drastisch sank und dass amerikanische Universitäten damit begannen, verstärkt auf die Ingenieur- und Naturwissenschaften zu setzen.45 Wie ließ sich dieser Trend auf halten bzw. wer oder was waren Schuld am zunehmenden Desinteresse der Studierenden an den humanities? Millers Analyse
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dieser für die Geisteswissenschaften prekären Situation war damals so richtig wie heute: Wenn die Fächer es nicht schaffen, die ethische, soziale und politische Dimension von Literatur angemessen und überzeugend zu vermitteln, wird sich ihr Niedergang kaum auf halten lassen. Es muss möglich sein, so sein Argument, nicht nur die literarische Qualität von Miltons epischem Gedicht Paradise Lost zu lehren, sondern auch die ihm zugrunde liegende, menschenverachtende Theologie zur Diskussion zu stellen. Dabei war ihm bewusst, dass Fragen wie »Falls Sophokles’ Annahmen über die menschliche Natur richtig sind, was bedeutet das dann für unser Verhalten heute und für unsere Interaktion mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft?« unweigerlich zu einer Neubewertung von Literatur und zur Revision tradierter Strukturen des literarturwissenschaftlichen Studiums führen würden.46 Entgegen der von den Literaturwissenschaften häufig vorgeschützten Distanz zu aktuellen sozialen und politischen Fragen, gibt es, so Miller, kein moralisch ›unschuldiges‹ Lesen. Wie alle Wissenschaften, so ist auch die Literaturwissenschaft in instrumentelle Zusammenhänge und institutionelle Regelungsmechanismen eingebunden. Geisteswissenschaftlerinnen arbeiten als Expertinnen in wissenschaftspolitischen Gremien, die wiederum bindende Entscheidungen bezüglich des Umfangs, der Textauswahl und der Prüfungsanforderungen in den literaturwissenschaftlichen Studiengängen treffen. Sie besprechen Neuerscheinungen in literarischen Magazinen und Tageszeitungen und nehmen so Einf luss auf die Rezeption literarischer Texte; sie schreiben Gutachten für Verlage, die dann über die Annahme oder Ablehnung von eingereichten Manuskripten entscheiden; und für die europäischen Länder gilt, sie diskutieren als outside oder peer readers die Qualität literaturwissenschaftlicher Förderungsanträge bei Stiftungen und staatlichen Fördereinrichtungen. Beispiele für die Einf lussnahme von staatlicher Seite auf Lehrpläne, Besetzungen von Professuren, Stipendien und die Vergabe von Forschungsgeldern sind Legion, und dies nicht nur in autoritären Gesellschaften. In einem Brief an seinen Freund Arthur Hugh Clough schlug der bedeutende englische Kritiker Matthew Arnold 1849 ernsthaft vor, dass diejenigen, die nicht Griechisch im Original lesen könnten, ausschließlich Milton lesen sollten und dass der Staat dies zu garantieren hätte.47 Angesichts dieser Umstände mutet die Vorstellung, es könnte ein Lesen und eine Geisteswissenschaft jenseits der Sphäre politischer und gesellschaftlicher Zwänge geben – mit Verlaub – naiv an. Auch
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das Anthologisieren von Nationalliteratur oder das Festlegen von Prüfungsvorgaben und Curricula sind politische Akte. Ebenso wie die Agenda der New Critics, die sich die Restauration einer imaginierten, vormodernen Südstaatengesellschaft auf die Fahnen geschrieben hatten und deren Nicht-Beachtung der biographischen (intentional fallacy) und emotionalen Dimension (af fective fallacy) von Texten dabei half, die Paradoxien und reaktionären Implikationen dieses Ansatzes zu überdecken. Dass die Beschäftigung mit Literatur, also das Lesen, seinem Wesen nach unpolitisch sei, ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Ein anderer Aspekt ist die ihm zugeschriebene Fähigkeit zu moralischethischer Erziehung. Wie oben bereits angedeutet, zieht sich diese Vorstellung von Schiller bis zu den aktuellen Debatten über Buchkultur und die Zukunft der Geisteswissenschaften. Dabei fällt auf, dass es den Unterstützerinnen dieser These meist schwer fällt, genauere Angaben zu der von ihnen behaupteten implizit pädagogischen Funktion des Literarischen zu machen. Was am Lesen erzieht uns denn eigentlich zu einem moralisch-ethisch gefestigten Individuum? Ist es der Inhalt unserer Lektüre, die Identifikation mit den handelnden Personen (wie Martha Nussbaum vermutet) oder ist es die Kenntnis davon, dass es jeweils mehr als nur die eigene, als allumfassend empfundene Realität gibt, dass wir – um einen aktuellen Ausdruck zu gebrauchen – alle in unserer personalisierten Medien-›Bubble‹ gefangen sind und dass das Lesen fremder Texte uns die Augen für das Nicht-Eigene, das bzw. den Andere/n öffnet? Oder ist es die vielfach beschworene Imaginationskraft, die nur von regelmäßiger Lektüre, so die Annahme, geschult und am Leben gehalten wird? Ein Satz gegen Ende von Millers The Ethics of Reading könnte hier weiterhelfen. Dort heißt es, ›gutes‹ Lesen sei leider nicht allzu oft anzutreffen; am ehesten noch werde es von denjenigen praktiziert, die selbst gute Autoren sind.48 Dieser Hinweis ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens räumt Miller ein, dass man zwischen ›gutem‹ und nicht so gutem Lesen unterscheiden müsse, dass also nicht jede Lektüre den gewünschten pädagogischen Erfolg erzielt. Und zweitens legt er uns nahe, dass diejenigen, die selbst schreiben, oft bessere Leserinnen sind. Gute Lektüre wird damit an ein implizites professionelles Wissen geknüpft, über das in der Regel nur ein ausgewählter, relativ eingeschränkter Personenkreis verfügt. Die Vorstellung, Autoren seien qua Amt gute Leser, ist dabei keineswegs neu. Man findet sie beson-
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ders häufig in der Moderne, was damit zusammenhängen mag, dass es nunmehr deutlich mehr Leserinnen als Autorinnen gibt und das Lesen von Büchern sich aus der Sphäre religiöser und wissenschaftlicher Lektüre herausgelöst und zu einer bürgerlichen Massenbeschäftigung entwickelt hat. Wie überhaupt das Lesen nicht nur in den Texten selbst (ich erinnere an Eva Illouzs oben zitierte Bemerkung), sondern auch in unzähligen Vor- und Nachwörtern zu diesen immer wieder Thema ist. So behauptet Henry David Thoreau in einem Abschnitt über das ›richtige‹ Lesen in Walden; Or, Life in the Woods (1854), dass Bücher mit der gleichen Sorgfalt gelesen werden müssten, mit der sie abgefasst wurden, und dass die großen Werke der Weltliteratur daher eigentlich nur von ebenso großen Autoren gelesen werden könnten. Wichtig sei auch, gute Lektüre unbedingt von schlechtem, weil f lüchtigem und uninspiriertem Lesen zu trennen. Denn letzteres verderbe unser Urteil und verwandele uns in bloße ›Lesemaschinen‹, in Konsumenten von Massenware, die wir ohne Sinn und Verstand verschlingen. Die Tatsache, dass wir uns bei derartigen Aussagen darüber verständigen müssen, welche denn eigentlich die besten Bücher sind, war für Thoreau kein Problem. Für ihn hatte jede/r das Potential zur/m guten Leser/in, insofern er/sie sich von gesellschaftlichen Konventionen freimachen und zu einer naturgemäßen Lebensform zurückfinden würde. Gute Bücher können helfen, zu Selbst- und Welterkenntnis zu gelangen, sie sind bei Thoreau aber niemals Selbstzweck. Auch Marcel Proust, der sich in einem berühmten Vorwort zu einer von ihm angefertigten Übersetzung der Essays seines englischen Kollegen John Ruskin an seine Erfahrungen als begeisterter jugendlicher Leser erinnert, tut dies nicht in voller Unschuld. Er blickt zurück, um eine weit verbreitete These Ruskins zu widerlegen, die besagt, dass jede Lektüre uns in einen Dialog mit einem Menschen, nämlich dem Autor, verstrickt, der – in aller Regel – klüger sei als man selbst. Für Proust war das zu kurz gegriffen und zu didaktisch. Für ihn eröffnet das Lesen von guter Literatur vielmehr die grenzenlose Welt der Vorstellungkraft, die es dem begabten (!) Leser erlaube, die Tristesse und die geographischen Beschränkungen des Alltags zu überwinden.49 Apropos Proust. Wie und ob Literatur überhaupt auf seine Leser wirkt, hängt nicht unwesentlich von den Umständen und natürlich auch von der jeweiligen Leserin selbst ab. Prousts Äußerungen in On Reading waren Teil eines Gelehrtenstreits um die Wirkung von Büchern. Dass diese durchaus noch andere als die immer wieder aufgerufenen
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Wirkungen zeitigen konnten, belegen die Arbeiten des amerikanischen Sexualhistorikers Thomas Lacqueur. In seiner Kulturgeschichte der Masturbation (2003) stellt Lacqueur u.a. die Behauptung auf, das private Lesen von Büchern – d.h. die Lektüre zuhause und nicht an einem öffentlichen Ort wie der Bibliothek oder dem Konvent – hätte wesentlich zur Verbreitung der Masturbation in den westlichen Ländern beigetragen. Und dies unabhängig vom Inhalt und der Art des Buches. Sein Argument zielt darauf, dass allein die vom Lesen gesteigerte Einbildungskraft eine Stimmung der Selbstvertiefung erzeuge, die wiederum die von der Gesellschaft ausgehenden moralischen Zwänge abmildert und so (vorübergehend) Freiräume für antinomisches Verhalten schafft.50 Nicht jede Form des Lesens ist folglich moralisch erbaulich, und selbst wenn, so ist nicht jede Leserin im gleichen Maße empfänglich für die im Text – sei es explizit oder implizit – enthaltene Botschaft. Ganz zu schweigen vom Einf luss der Geschichte. Die dem ›richtigen‹ Lesen zugeschriebene moralische Erbauung setzt einen festen, historisch unveränderlichen Wertekanon voraus. Genau dies – wie wir nicht zuletzt aus der eigenen, jüngsten Geschichte wissen – ist aber nicht der Fall. Der promovierte Germanist Joseph Goebbels, selbst Autor eines Romans sowie mehrerer Theaterstücke und Gedichte, verfügte über eine ausgedehnte Bibliothek und war nachweislich ein begeisterter Leser. Die Wirkung seiner Lektüren auf das, was wir heute unter Moral und ethisch korrektem Verhalten verstehen, war dagegen zu vernachlässigen. Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass jedes Lesen, auch noch so anspruchsvoller und moralisch ›korrekter‹ Literatur, notwendig folgenlos bleiben muss? Natürlich nicht! Für J. Hillis Miller sind die großen Werke der Weltliteratur so etwas wie scharf gestellte Zeitbomben, die, wenn sie auf die richtige Leserin in der richtigen Stimmung und unter den richtigen Umständen treffen, explodieren und Unerwartetes freisetzen können. Ein solch glückliches Zusammentreffen produziere ohne Frage ethische Effekte; wie diese jedoch genau aussähen, lässt sich nur schwer vorhersagen.51 Um die Wahrscheinlichkeit eines solch explosiven Zusammentreffens von Büchern und Leserinnen zu vergrößern, empfiehlt Miller den Literaturwissenschaften zum einen die Rückkehr zur Philologie. Denn die genaue Kenntnis der Funktionsweise sprachlicher Kunstwerke sei die unabdingbare Voraussetzung für eine angemessene Lektüre. Doch zum anderen komme es auf die Leserinnen selbst an. Nur wenn diese bereit seien, die Herausforderungen
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des Textes anzunehmen, sich ganz und gar auf ihn einzulassen, könne das Lesen tatsächlich seine ethische Wirkung entfalten. Die oft gestellte Frage nach der Ethik des Lesens ist also nicht endgültig zu beantworten. Einerseits hängt eine mögliche Antwort von der Ernsthaftigkeit der Lektüre ab; beides, schlechtes Lesen und das Lesen schlechter Bücher, lassen jede ethische Wirkung verpuffen. Andererseits steht einer Antwort die sich stetig wandelnde Definition von Ethik und Moral im Weg. Um noch einmal an Miltons Paradise Lost zu erinnern: Nur wer bereit ist, die zutiefst menschenfeindliche, rigide christliche Moral des Gedichts zu seiner eigenen zu machen, wird hier Erbauung finden. Auch die wechselnden Umstände des Lesens, ob wir alleine lesen, ob uns vorgelesen wird (wie dies in der vormodernen Zeit die Regel war) oder ob wir gemeinsam mit anderen lesen und dabei zur ›richtigen‹ Lektüre angeleitet werden (etwa im literaturwissenschaftlichen Seminar) ist ebenfalls von Bedeutung. Und schließlich gilt es, die sich verändernde Medienökologie ins Kalkül miteinzubeziehen. Soll heißen, in der Welt des jungen Proust, als der Film und die Massenmedien noch weitgehend unbekannt waren, war es vor allem die Literatur, die die Sinne und die Einbildungskraft auf Wanderung schickte. Viele der Effekte, die dem Lesen von Literatur im Laufe ihrer Geschichte zugeschrieben wurden – furchterregend, erbaulich, erotisch, emotional, unterhaltsam, motivierend, informativ, auf klärerisch zu sein, um nur die gängigsten Zuschreibungen zu nennen – lassen sich ohne Weiteres auch durch andere Medien reproduzieren. Natürlich sollten Buchkultur und Geisteswissenschaften weiterhin fester Bestandteil der kognitiven Verständigung über die Grundwerte der Gesellschaft sein. Ihre notorische Selbstprivilegierung als vermeintlich einzige Hüter westlich-abendländischer Zivilisation erscheint mir angesichts ihres offenkundigen Prestigeverlusts aber weder angemessen noch zielführend. Besser wäre es, die historischen Bedingungen und Entwicklungslinien dieser Selbstprivilegierung offenzulegen und das Lesen – und damit auch die Geisteswissenschaften – als eine mögliche, wenn auch längst nicht mehr die einzige Form der Auseinandersetzung über die Normen und Ethik von Gesellschaft zu begreifen. Wichtiger noch, wie Jürgen Habermas unlängst richtig ausgeführt hat, das »Bedürfnis zu lesen oder gar ein entsprechender Appell lässt sich nur mit Attraktivität und Nutzen der Literatur selbst begründen«. Dies, so Habermas weiter, verlange »freilich eine Erklärung, worauf sich denn der Anspruch eines literarischen Werks stützen kann,
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das Interesse eines allgemeinen Publikums über den Tag hinaus zu verdienen« [H.i.O.].52 Habermas geht davon aus, dass die Mechanismen der Selbstkontrolle des literarischen Marktes auch im Informationszeitalter die Aura sprachlicher Kunstwerke gegen den Druck vernetzter, digitaler Autorschaft werden absichern können. Auch in einer Zeit, in der alle schreiben, wird es erkennbare Unterschiede zwischen professionellen Autorinnen auf der einen und der sich in Online-Foren ergießenden Masse an Emotions- und Wutprosa auf der anderen Seite geben. Weshalb es auch um das Lesen nicht unbedingt besser bestellt sein wird als in vordigitalen Zeiten. Zwar artikulieren sich immer mehr Menschen online und werden damit zu ›veröffentlichten‹ Autorinnen. Doch im selben Atemzug verwischen Geschwindigkeit und exponentielles Anwachsen des digitalen Diskurses die Grenzen zwischen Sprachbeherrschung und bloßer Sprachbenutzung. Die Zahl der ›guten‹ Autorinnen bleibt also ebenso begrenzt wie die Zahl der guten Leserinnen. Lediglich im Nischenmarkt verlagskontrollierter Literatur kann anspruchsvolle Prosa ihren ästhetischen Reiz entfachen; und lediglich unter den dort tätigen Autorinnen – sieht man einmal von buchaffinen Akademikerinnen an Schule und Universität ab – werden sich gute Leserinnen finden lassen. So weit so gut. Da jedoch – wie oben dargestellt – auch das Lesen an den Universitäten und Schulen seine ehemals dominante Rolle eingebüßt hat, wird der Kreis der ›guten‹ Leserinnen mittel- und langfristig notwendig kleiner werden. Die Frage ist also, wie man dieser Entwicklung entgegenwirken und die Attraktivität des Lesens und der Geisteswissenschaften insgesamt verbessern kann. Folgt man der These von Jürgen Habermas, dann lässt sich die Notwendigkeit von Literatur und ihrer genauen Lektüre nur aus dieser selbst begründen, und eben nicht über behauptete Sekundäreffekte des Lesens, etwa seine inhärente Moralität, die sich nur schwer belegen lassen. Zwar ist richtig, dass der Reiz des Literarischen lange Zeit seiner unverwechselbaren Versprachlichung gewöhnlicher Ereignisse zugeschrieben wurde, die diese dann ihrer Gewöhnlichkeit enthob und in den Bereich der besonderen, individuellen Wahrnehmung dieser Ereignisse überführte. Dass der Akt der ästhetischen Bewusstmachung eines bereits vorgefühlten und in seiner Tragweite erkannten Wissens nicht auf das Außergewöhnliche in der realen Welt, sondern in der Welt der Sprache zielt, hat Leser wie die New Critics dazu verführt, den Wert des Literarischen vornehmlich in der Art und Weise dieser Versprachlichung zu suchen. Inhalt, Au-
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tor, Leser und historischer Kontext blieben außen vor. Dabei sind es gerade diese außersprachlichen, jenseits der Versprachlichung liegenden Ebenen des Textes, die – wenn wir ehrlich sind – seit längerem die Diskussionen in literaturwissenschaftlichen Veranstaltungen beherrschen. Hieraus erklärt sich nicht nur der signifikante Rückgang von Lyrik als Seminarthema (da bei ihr die Versprachlichung am stärksten in den Vordergrund drängt), sondern auch die inzwischen von vielen Kolleginnen praktizierte Nachsicht, auf verbindliche Textausgaben in den Seminaren zu verzichten und Downloads aus dem Internet, häufig auf winzigen Smartphones gelesen, zuzulassen. Warum also nicht aus der Not eine Tugend machen und die Bedeutung literarischer Texte als Sprungbrett für philosophische, soziologische oder auch politische Debatten herausstreichen und diese dann im Verbund mit anderen medialen Ausdrucksformen – einem Artikel in der New York Times, einer Facebook-Seite oder einem Musikvideo – zur Diskussion zu stellen? Warum fällt es so schwer zuzugeben, dass auch die Literatur – wie alle Medien – einem Wandlungsprozess unterliegt, der eben nicht nur das Sprachliche betrifft, sondern Auswirkungen auf ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Verbreitung hat? Warum Festhalten an den Strategien literarischer Selbstprivilegierung, die unter den Bedingungen des Informationszeitalters potentielle Leser eher abschreckt, anstatt sie ins Boot notwendiger gesellschaftlicher Debatten zu holen? Für Habermas liegt die größte Gefahr des Niedergangs der Buchkultur in der negativen Auswirkung auf die politische Öffentlichkeit. Aus diesem Grund leitet er auf die Frage ›Warum lesen?‹ eine Art volkspädagogische Antwort ab: Literaturkonsum empfiehlt sich schon aus Gründen der politischen Erziehung, weil Leser, die an den Umgang mit Literatur gewöhnt sind, in ihrer Rolle als Staatsbürger gar nicht erst auf die Idee kommen, die demokratietheoretisch einleuchtend begründete funktionale Arbeitsteilung zwischen professionell geschulten Autoren und deren politisch interessierten Lesern als Bevormundung misszuverstehen.53 Der vielfach beschworene moralische Mehrwert des Lesens besteht für ihn vor allem in der Ausbildung von Toleranz gegenüber gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Autorinnen fällt hierbei nicht nur die wichtige Funktion der Versprachlichung von Alltagserfahrung zu, sondern die volkspädagogische Aufgabe der Gewöhnung des Lesepublikums an
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ein Expertenwissen, das durch die wiederholte Aneignung prägnant formulierter, fremder Erkenntnis im Akt des Lesens jeweils offenkundig und so demokratisch legitimiert wird. Zwar ist richtig, dass dem Buchkonsum in der vordigitalen, weitgehend von bürgerlichen Eliten bestimmten politischen Sphäre diese demokratisch legitimierende Funktion zukam und er diese mit Blick auf das bürgerliche Lesepublikum auch erfolgreich ausgefüllt hat. In Zeiten des Niedergangs der bürgerlichen Klassen, der Verarmung und politischen Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten erscheint diese literatursoziologische Begründung fiktionaler Prosa jedoch anachronistisch. Stellt man weiterhin die alles beherrschenden sozialen Medien und die damit einhergehende Demokratisierung von Autorschaft in Rechnung, dann zeigt sich erneut, dass viele gut gemeinte Rettungsversuche von Buchkultur und Geisteswissenschaft heillos aus der Zeit gefallen sind. Literatur, gute Literatur, leistet zweifellos Vieles. In einer Zeit, in der Professionalität und Expertenwissen vielen Menschen – und gelegentlich, nicht ganz zu Unrecht – suspekt geworden sind, wird sie aber kaum symbolisches Kapital zurückgewinnen können, indem sie beharrlich auf die Expertise des Autors und der ihn legitimierenden Kultur- und Bildungsinstanzen verweist. Wahrscheinlicher ist, dass sie damit eher das Gegenteil befördert. Vom ehemaligen demokratischen Präsidentschaftsbewerber und späteren Außenminister der USA John Kerry, der als Vielleser bekannt ist, wird berichtet, er hätte die Wahl 2004 gegen Präsident Bush u.a. deshalb verloren, weil er die Bewohner von middle America mit der Bemerkung gegen sich aufgebracht hat, seine Lieblingslektüre seien moderne europäische Romane. Bush hingegen hatte eingeräumt, er bevorzuge den amerikanischen Kinderbuch-Klassiker Winnie-the-Pooh – und gewann!
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4. Kulturrevolution Von der Bildungs- zur Kulturwissenschaft In seinem 1948 erschienenen Buch Zum Begrif f der Kultur schreibt der angloamerikanische Dichter und Kritiker T. S. Eliot: »So wie ein Glaubenssatz erst nach dem Auftauchen einer Irrlehre festgelegt zu werden braucht, so muss auch ein Wort erst dann in dieser Weise beachtet werden, wenn es in Missbrauch gekommen ist.«54 Der Begriff, zu dessen Klärung Eliot maßgeblich beitragen wollte, nämlich die ›Kultur‹, hat sich nach annähernd drei Jahrzehnten der intensiven ›Verkulturwissenschaftlichung‹ der geisteswissenschaftlichen Fächer als methodologisches Mantra einer ganzen Forschergeneration etabliert. Kaum ein Symposium, ein Sammelband, Forschungsantrag oder eine Stellenausschreibung, die nicht besagtes K-Wort im Titel trägt oder sich thematisch und methodisch auf dieses bezieht. Nach dem linguistic turn, dem narrative turn, dem mythical turn, dem ethical turn und dem visual turn sind die Geisteswissenschaften endgültig an der Wende zur Kultur angekommen. Jede Standortbestimmung ihrer mehr oder weniger kulturwissenschaftlich aufgestellten Fächer wird daher kaum an einer Klärung des Begriffs selbst sowie der Beantwortung der Frage nach dem Nutzen bzw. den Nachteilen der Hinwendung zum Bereich der Kultur vorbeikommen. Da der cultural turn nahezu zeitgleich mit der vermeintlichen ›Amerikanisierung‹ der hiesigen Universitäten einsetzt (institutionell an der Einrichtung von Departments, performativ an regelmäßigen Evaluationen von Forschung und Lehre und dem Zwang zur englischsprachigen Publikation gut abzulesen), kann man diesen jüngsten Paradigmenwechsel als Teil einer weitreichenden gesellschaftlichen Neuorientierung hinsichtlich der Leitlinien und dem Selbstverständnis geisteswissenschaftlicher Ausbildung insgesamt begreifen.
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Als Eliot in den späten 40er Jahren über den Begriff der Kultur nachdachte, waren seine Überlegungen noch von der elitären Vorstellung einer über Jahrhunderte gewachsenen Hochkultur geprägt. Eliots Kulturbegriff war der eines Literaten und Intellektuellen, der unter Kultur vor allem das Ergebnis herausragender Leistungen im Bereich der schönen Künste und des Denkens verstand. Als ein wesentliches Merkmal derartiger Kulturleistungen erschien ihm die bewusste und richtungsweisende Auseinandersetzung des Individuums mit der Tradition: »Wenn ein Virgil, ein Dante, ein Shakespeare, ein Goethe geboren wird«, heißt es an einer Stelle in Zum Begrif f der Kultur, »dann bestimmt das den weiteren Verlauf der gesamten europäischen Literaturentwicklung. Wenn ein großer Dichter gelebt hat, sind gewisse dichterische Möglichkeiten ein für allemal ausgeschöpft. Andererseits vermehrt jeder große Dichter das reiche und vielfältige Gut, mit dem künftige Dichter arbeiten können.«55 Aus dieser Einsicht entwickelt Eliot dann drei unterschiedliche Niveaus kultureller Produktion, die jeweils durch intensives, weniger intensives bzw. lediglich schwach ausgeprägtes Kulturschaffen gekennzeichnet sind. Da ist zunächst 1. die Ebene des Individuums; 2. die Ebene einer bestimmten Gruppe oder gesellschaftlichen Schicht; und schließlich 3. diejenige der Gesellschaft insgesamt. Während auf der ersten Ebene Kultur in der kreativen Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Tradition entsteht, manifestiert sie sich auf der Ebene der gesellschaftlichen Gruppen und der Nation lediglich durch die passive Übernahme von Sitten und Gebräuchen sowie deren Bewahrung über die Generationen hinweg (man denke etwa an Arbeiter-, Sport- oder auch Musikvereine, die sich der Traditionsbewahrung verschrieben haben). Auch Alltags- und Massenkultur sind für Eliot strukturkonservativ, d.h. sie besitzen lediglich ein geringes Innovationspotenzial. Im Vergleich zu den kulturellen Leistungen des Individuums, das das Innovative seiner Schöpfung gegen etablierte ästhetische Kriterien und den Wider- und Unverstand der Kritiker durchsetzen muss, sind sie von nur untergeordneter Bedeutung. Eliots elitärer Kulturbegriff steht ideologisch der Rhetorik vom drohenden Kulturverfall nahe, die sich von Rousseau über Gottfried Herder, Thomas Carlyle, Matthew Arnold, Oswald Spengler, Thomas Mann, Ortega y Gasset, Theodor Adorno bis hin zu neokonservativen Kritikern der modernen Medien- und Informationsgesellschaft wie Neil Postman, Allan Bloom oder André Glucksmann erstreckt. Sie alle verstehen sich als Kassandra-Rufer im ›wüsten Land‹ demokratisch-
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egalitärer Massengesellschaften, um im Bild von Eliots berühmten Gedicht The Waste Land (1922) zu bleiben. Dieser exklusiven, werteorientierten Vorstellung von Kultur stand insbesondere im angelsächsischen und amerikanischen Sprachraum jedoch schon früh ein wesentlich weiter gefasster Kulturbegriff gegenüber. Kultur, dies schwingt bereits im englischen Wort culture mit, meint hier weniger die schönen Künste als die Gesamtheit der etablierten Sitten, Gebräuche und Formen sozialer Interaktion einer Gesellschaft.56 In den USA war Kultur zudem lange mit der Kultur der Mittelklasse assoziiert, die bis in die späten 1950er Jahre hinein als integrierendes, die sozialen Differenzen kaschierendes Amalgam fungierte. Erst mit der Bürgerrechts- und Studentenbewegung haben sich allmählich andere Bekenntnisidentitäten ausdifferenziert (identity politics) und so die Sichtbarkeit und Sensibilität für nicht normenkonformes Verhalten im Alltag erhöht. Es verwundert daher nicht, dass der akademische Siegeszug der sogenannten cultural studies in Nordamerika seinen Ausgang nahm. In den 60er Jahren am ›Centre for Contemporary Cultural Studies‹ in Birmingham als basisdemokratische Antwort auf einen bildungsbürgerlich verengten Kulturbegriff à la Eliot entworfen, war diese neue und vehement interdisziplinäre Forschungsrichtung an nordamerikanischen Universitäten auf so fruchtbaren Boden gefallen, dass sie bald als ideologisch entschärfter Reimport eines ehemals britisch-marxistischen Kulturmodells auch in die deutschen Geisteswissenschaften Einzug hielt. Nachdem sich 1990 auf dem Campus der Universität von Illinois mehr als 900 Professorinnen und Professoren aus dem Umfeld der cultural studies zu einer ersten Bestandsaufnahme der neuen akademischen Disziplin zusammengefunden hatten, warb der (damals noch) renommierte englische Verlag Routledge, bei dem die Ergebnisse der Konferenz zwei Jahre später publiziert wurden, mit dem Zitat eines Rezensenten, der geschrieben hatte: »If you plan to continue living in America, read this book.«57 Und auch an den Colleges und Universitäten führte an dieser monumentalen Anthologie kein Weg vorbei. Wer von nun an in den humanities von Kultur sprach, der meinte die gesamte Bandbreite des cultural studies Kanons: von Studien zur Entstehung des modernen Individuums in Shakespeares Tragödien, über Augenzeugenberichte der Verbrennung indischer Witwen in der kolonialen Literatur bis hin zu Untersuchungen der kulturellen Autorität amerikanischer mail-order Verlage oder des Book-of-the-Month-Club. Wie die
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Initiatoren und Herausgeber des Projekts in ihrer Einleitung hervorheben, lehnt diese neue Disziplin, die gar keine Disziplin sein wollte, die Fixierung auf eine elitäre ›Hochkultur‹ ab. Forscherinnen, die sich den Kulturstudien zugehörig fühlen, untersuchen stattdessen alle Ausprägungen künstlerischer Tätigkeit, und zwar immer in Relation zu anderen kulturellen und sozialen Praktiken. »Cultural Studies [der vage Name ist hier immer auch Programm, Anm. KB] studies the entire range of a society’s arts, beliefs, institutions, and communicative practices« – mit anderen Worten, ihr Untersuchungsgegenstand umfasst die gesamte Bandbreite privaten und öffentlichen Verhaltens in einer Gesellschaft.58 Es liegt auf der Hand, dass die kaum bestreitbare Beliebigkeit der von den cultural studies untersuchten Themen und die damit verbundene Forderung nach sof t methodologies bei den Vertretern der etablierten Fachwissenschaften auf harsche Kritik stieß. Worin, so fragten sich viele, besteht der Mehrwert einer neuen, von ihrer Struktur her transdisziplinären Disziplin, in der buchstäblich alle Forschungsgebiete der Geistes- und teilweise auch der Sozialwissenschaften im Hegel’schen Wortsinn ›aufgehoben‹ und damit zugleich ihrer fachwissenschaftlichen Kompetenz beraubt sind? Die Frage berührt letztlich einen neuralgischen Punkt aller geisteswissenschaftlichen Fächer: Wie kann akademische Seriosität angesichts exponentiell anwachsender Methodenpluralität noch gewährleistet und – vielleicht folgenreicher – im Rahmen der universitären Lehre vermittelt werden? Die Auswirkungen der sich aus der oben skizzierten Entwicklung ergebenden Neuausrichtung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen betreffen vor allem Veränderungen in zwei Bereichen: erstens den Gegenstand der Fächer selbst, insbesondere hinsichtlich der Ausweitung von Korpus und Kanon, für die Literaturwissenschaften etwa die Berücksichtigung neuer Textsorten jenseits des Literarischen; und zweitens die Verwässerung geisteswissenschaftlicher Methoden, die nunmehr von einem tendenziell plurimedialen Verständnis künstlerischer Äußerungen bestimmt sind; anders ausgedrückt, die jeweils zu untersuchenden Kunstwerke werden als Bestandteil eines alle gesellschaftlichen Bereiche umspannenden Netzwerks kultureller Produktion begriffen und zu anderen nicht-ästhetischen Formen sozialer Interaktion in Beziehung gesetzt. So hat sich inzwischen bei den meisten Literaturwissenschaftlerinnen die Einsicht durchgesetzt, dass sich literarische Texte nur dann sinnvoll lesen lassen, wenn man
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gleichzeitig ihre ästhetikgeschichtlichen, politischen, sozialen, ökonomischen, psychologischen, technologischen – kurzum die Gesamtheit ihrer kulturellen Herstellungsbedingungen bei der Lektüre mitref lektiert. Der Shakespeare-Forscher Stephen Greenblatt hat diese Erkenntnis prägnant in dem Satz zusammengefasst: »The world is full of texts, most of which are virtually incomprehensible when they are removed from their immediate surroundings.«59 Nach Greenblatt erfordert jede ›gute‹ Lektüre die möglichst genaue Rekonstruktion der spezifischen Produktionsmilieus eines Textes und damit, neben der Analyse von Sprache und Inhalt, die Berücksichtigung aller außerliterarischen Diskurse, die zu seiner Genese beigetragen haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die kulturwissenschaftliche Annäherung an sprachliche und nicht-sprachliche Kunstwerke diese ausschließlich auf ihre – marxistisch gesprochen – ›Widerspiegelungsfunktion‹ der gesellschaftlichen Verhältnisse reduziert. Vielmehr ermöglicht der aus den cultural studies übernommene Kulturbegriff die Untersuchung von Kunstproduktion als Funktion einer allgemeinen, über die Grenzen der Einzeldisziplin hinausreichenden Dynamik von Innovation und Tradition, von Veränderung und Bewahrung etablierter ästhetischer Normen. Ob in Form eines Films, eines Gemäldes, eines Romans oder eines Musikstücks, die Kunst war und ist ein wichtiger Katalysator für kulturellen Wandel. In ihr werden nicht nur vorgefundene Einstellungen und kulturelle Stereotype transportiert, sondern als Kunst stets auch transformiert, denn jede Form künstlerischer Darstellung von Welt trägt immer schon den Keim einer möglichen Veränderung dieser Welt in sich. Dass sich in unseren postindustriellen, postmodernen und zunehmend auch posthumanen Gesellschaften die Hierarchien kultureller Milieus allmählich auf lösen, muss die Geisteswissenschaften, die im Englischen bekanntlich humanities genannt werden, also noch nicht in die Krise stürzen. Der cultural turn hatte Auswirkungen auf die Buchkultur und das Lesen in den Geisteswissenschaften. Einerseits wurde mit der Ausdehnung der Perspektive über das Kunstwerk hinaus auf die Gesamtheit der in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt wirkungsmächtigen Medien und ihrer Produktionsbedingungen nun deutlich mehr gelesen – alles und jedes wurde plötzlich zur Angelegenheit der humanities. Man könnte auch sagen, nach einer Zeit permanenter Ausdifferenzierung haben sich die Geisteswissenschaften – ganz im Sinn ihrer ursprünglich wichtigsten Disziplin, der Philosophie – mit dem
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cultural turn am Ende des 20. Jahrhunderts in eine Universalwissenschaft zurückverwandelt. Dass nunmehr alles gelesen werden kann und die ganze Welt zum Auslegungsobjekt für Literatur- und Kunstwissenschaftlerinnen wurde, haben Strukturalismus und Semiotik durch ihren ›weiten‹ Textbegriff mit vorbereitet. Die Zeichen der Zeit werden seither nicht mehr erkannt, sie werden gelesen. Genauso wie von nun an Filme, Werbung und Heiratsverträge auch von Literaturwissenschaftlerinnen gelesen werden können. Mit der grassierenden Inf lation des Lesens haben sich auch seine Modalitäten und Rahmenbedingungen verändert. Es wird nicht mehr gelesen, um sich zu bilden (der Soziologe Andreas Reckwitz hat hier von einer auf dem Lesen beruhenden »Bildungskultur« gesprochen), es wird gelesen, um möglichst umfassend die gesellschaftlichen Produktionsmilieus von Kunst offenzulegen.60 Der Text selbst tritt dabei jeweils hinter die Bedingungen seiner Herstellung zurück. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Intensität des Lesens nachlässt: Was ehemals deep reading war, wird jetzt zu hyper reading, es gibt einen Wechsel von der ausgedehnten, auf eine Quelle fokussierten Lektüre hin zum Lesen unterschiedlichster – sprachlicher wie nonverbaler – Äußerungen mit gestreuter Aufmerksamkeit. Die kulturpessimistische Klagerede, wie sie in Reaktion auf den cultural turn vom Germanisten Heinz Schlaffer (siehe oben) zu vernehmen war, zielt genau auf diese Verwässerung des Lesebegriffs: Wenn alles gelesen werden kann, verliert das Lesen paradoxerweise seinen Charakter als ›Kulturtechnik‹. Denn Lesen war nach dem Verständnis der Bildungswissenschaften eng mit dem bürgerlichen Wertekanon verschränkt. Durch das Studium der als klassisch eingestuften Literatur konnte man sich diesen im Lesevorgang immer wieder neu vergegenwärtigen. Die gesteigerte sprachliche Komplexität der jeweiligen Einzeltexte und die Anstrengung, die es braucht, um sie in ihren verschiedenen Bedeutungen zu verstehen, waren die Gatekeeper dieses sich selbstprivilegierenden Lesezirkels. Das Lesen langer, schwieriger Texte gehörte seit dem frühen 19. Jahrhundert ebenso zum Habitus des gebildeten Bürgertums (die hauptberuf lichen Leserinnen an den Universitäten eingeschlossen) wie das bef lissene Anzitieren der in ihnen verschlüsselten Lebensweisheiten. Mit der Wende hin zur Kultur verliert das akademische Lesen – und im Umkehrschluss, wie Schlaffer argumentiert, auch das Lesen außerhalb der akademischen Mauern – nun sein Alleinstellungsmerkmal als Garant humanistischer Bildung: Es verf lüchtigt sich in die Weiten des kulturwissenschaftlichen Uni-
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versums. Doch das Lesen, so wie es das Bildungsbürgertum verstand, war schon länger in die Defensive geraten. Für Andreas Reckwitz lässt sich der Rückzug des Lesens aus der ersten Reihe gesellschaftlich relevanter Medien bereits auf die Einführung der audiovisuellen Massenmedien – Rundfunk, Schallplatte, Kinofilm und Fernsehen – datieren. Mit der Entstehung einer urbanen und medialen Massenkultur, die vorwiegend auf Zerstreuung und Unterhaltung ausgerichtet ist, wird das Lesen, so Reckwitz, als privilegierte Praxis bürgerlicher Eliten zunehmend in den Hintergrund gedrängt.61 Doch auch wenn seine Attraktivität leidet, die audiovisuellen Medien koexistieren noch lange Zeit mit der als unverzichtbar geltenden Buch- und Lesekultur. Ihr endgültiger Niedergang setzt erst mit einer weiteren medialen Revolution ein, der Erfindung des Internets und der Verfügbarkeit erschwinglicher, handlicher digitaler Endgeräte, mit deren Verbreitung sich das Informationszeitalter, das der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits Ende der 60er Jahre am Horizont der verglühenden GutenbergGalaxie heraufziehen sah, endgültig durchsetzt. Nach gut 30 Jahren interaktiver, digitaler Kultur (insofern man das Auf kommen der sozialen Netzwerke am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht als den eigentlichen Umbruch innerhalb der Digitalisierung des Alltagslebens verstehen möchte) zeichnet sich also ein durchaus gespaltenes Bild ab. Einerseits befinden wir uns in einer Phase der zunehmenden Ausdehnung des Lesens auf nahezu alle Bereiche menschlicher und menschlich-technischer Interaktion. Es wird immer mehr gelesen, doch die Zeit, die wir dafür aufwenden, ist knapper bemessen; ebenso wie die Aufmerksamkeit, mit der wir den zu lesenden Texten begegnen. Digitale Suchmaschinen informieren uns über die Zeit, die es braucht, um bestimmte Informationen zu ›lesen‹, indem sie den von ihnen aufgerufenen Produkten Zeitmarken voranstellen. Es entsteht ein regelrechter Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Teilnehmerinnen am digitalen Informationsaustausch. An diesem Wettbewerb müssen sich – nolens volens – auch die Geisteswissenschaften beteiligen. Zwar verlangen sie den unter ihrer Obhut Studierenden mit der Einschreibung in das Studium vorab ein pauschales Lesezeitkontingent ab; doch in der Realität beansprucht akademisches Lesen ein weit größeres zeitliches commitment als es jene neue akademische Währung, die sogenannten ETCS-Punkte (European Credit Transfer and Accumulation System), rechnerisch vorgibt. Wer mehr Zeit von den interaktiv vernetzten und auf hyper attention konditionierten Studierenden
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einfordert, sollte also gute Gründe haben, warum diese ihr perfekt an die digitale Umgebungskultur angepasstes Zeitmanagement ändern sollten. Die simple Rückkehr zu anachronistischen Positionen aus der Gründerzeit der Geisteswissenschaften wird, dies belegen die Zahlen aus Buchhandel und Universitäten, hier kaum etwas bewirken können. Andererseits haben sich nicht nur die Bedingungen verändert, unter denen gelesen wird, auch das Lesen selbst hat sich gewandelt. Ja, es wird immer mehr gelesen, aber wir – und dies schließt auch die Älteren unter uns ein – lesen heute anders als früher. Und hier ist nicht allein die von Katherine Hayles beschriebene Verschiebung von deep zu hyper attention gemeint. Auch die soziologischen Rahmenbedingungen des Lesens sind andere. Wie bereits angedeutet, haben Lesen und Buchkultur bereits seit längerem ihren Sonderstatus unter den Medien und damit viel von ihrem gesellschaftlichen Prestige eingebüßt. Wir lesen weniger habituell und wir bevorzugen weniger die exklusive Lektüre umfangreicher Bücher. Zudem ist die Rezeption von Printmedien heutzutage in der Regel fest in digitale Kommunikationszusammenhänge eingebettet – Buchtipps werden oft online weitergegeben und wahrgenommen, akademische Leserinnen springen nicht selten von Open-Access Zeitschriften zum gedruckten Buch und wieder zurück, das Buch wird im Informationszeitalter zur letzten Ressource, das wir immer dann zu Rate ziehen, wenn uns die Flut an digitalem Output überfordert und misstrauisch macht. Zur schleichenden Absetzung des Buches als Fundament bürgerlicher Bildungsanstrengungen haben die Geisteswissenschaften sicherlich das Ihre beigetragen. Inhaltlich durch die Wende zur Kultur und ihrer damit verbundenen disziplinären Überdehnung; und formal durch ihre Annäherung an die Kommunikationstechniken der Naturwissenschaften und ihre Kapitulation vor dem neoliberalen Umbau der ehemals ›humanistischen‹ Universitäten. Zu fragen wäre aber, ob es hierzu überhaupt Alternativen gab. Noch wichtiger vielleicht, ob sich die intentio obliqua der Wissenschaftspolitik in den letzten 20 Jahren nicht doch zur intentio recta, zur tieferen Einsicht in die Strukturen und den Habitus einer neuen Medienökologie wandeln kann. Damit ginge dann auch das Eingeständnis einher, dass eine Rückkehr zur belle époque geisteswissenschaftlicher Lesekultur kaum mehr möglich sein wird. Die Geisteswissenschaften schienen im Prozess der Medientransformation des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts lange eine Sonderrolle einzunehmen. Dies hing u.a. damit zusammen,
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dass die unter ihren Auspizien lesenden UniversitätslehrerInnen in der Regel auch Autorinnen wissenschaftlicher Publikationen waren, also einem Personenkreis angehörten, dem – wie wir gesehen haben – schon immer eine höhere Lesekompetenz zugesprochen wurde. Die Modalitäten dieses Wechselspiels waren von Land zu Land andere, doch einige allgemeine Anmerkungen hierzu mögen genügen, um das Problem zu skizzieren. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hat der Praxis geisteswissenschaftlicher Publikationen in den USA, Frankreich und in Deutschland in Zur Sache des Buches ein eigenes Kapitel gewidmet, das bündig die historischen und kulturellen Unterschiede in diesen Ländern darstellt. Relevant ist hier vor allem die Tatsache, dass in allen drei Diskurszonen das ›goldene Zeitalter‹ wissenschaftlicher Buchproduktion lange vorüber ist. Hagner mutmaßt zurecht, dass dies nicht unbedingt beunruhigen muss. Auch in der Vergangenheit gab es regelmäßig Phasen gesteigerter intellektueller Aktivität (etwa im deutschen Idealismus), in denen eine Vielzahl späterer Klassiker geschrieben und publiziert wurden.62 Nachdem eine Weile lang zeitgleich frische Thesen und Theorien mit hohem Wirkungsgrad in die Öffentlichkeit drängten, folgte zumeist eine intellektuelle Dürreperiode, in der naturgemäß auch der Output wissenschaftlicher Bücher signifikant abnahm. In der Regel korrelieren derartige wissenschaftsgeschichtliche Epochenumbrüche mit bestimmten politischen und sozialen Konstellationen, denen dabei eine Art Trigger-Funktion zukommt. Für den deutschen Idealismus war dies die Auf klärung und die von ihr eingeleiteten Revolutionen in Frankreich und Amerika; für die spätere Blüte deutscher geisteswissenschaftlicher Publikationen, von den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein, der Versuch, an intellektuelle Traditionen der Vorkriegszeit anzuknüpfen und philosophisch und literarisch auf die existentielle Herausforderung des von außen niedergerungenen Faschismus zu reagieren; für die USA die nach dem Zweiten Weltkrieg unangefochtene Rolle als Weltmacht und demokratisches Exportmodell, die unter dem Eindruck des Kalten Krieges große finanzielle Anstrengungen im Bildungsbereich nach sich zog und zur Einrichtung zahlreicher neuer humanistischer Studiengänge an Colleges und Universitäten führte; und für Frankreich schließlich galt, dass im Zuge der nationalen Einigung und des Übergangs von der provisorischen vierten zur fünften Republik der Staat durch die Einsetzung bestimmter Förderinstrumente wie das Centre national de livre aktiv in den wissenschaftlichen Buchmarkt eingriff und diesen – ebenso wie die sciences
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humaines – zur nationalen Angelegenheit erklärte. Trotz unterschiedlicher Ausgangslagen kam es in den drei Ländern zu einer Hausse geisteswissenschaftlicher Publikationstätigkeit, die bis in die späten 80er Jahre anhielt und seitdem stetig zurückgegangen ist. Dabei betraf das Austrocknen des Marktes nicht unbedingt die von ihm bereitgestellten Titel. Im Gegenteil, es wurde sogar mehr und öfter publiziert, nicht selten, um die sinkenden Einnahmen der Verlage wettzumachen (dies gilt insbesondere für den deutschsprachigen Raum, wo eine breit etablierte staatliche Subventionspolitik den privat geführten wissenschaftlichen Verlagen noch lange gute Umsätze garantierte). Doch der Anstieg der Titel bei gleichzeitig sinkenden Auf lagen hatte Konsequenzen. Im Bereich der Rezeption führte die jährlich wachsende Titelvielfalt zu einer Leseunlust, die alt eingeübte Gesten wie das Weiterreichen von Sonderdrucken an Kolleginnen inzwischen zu einem akademischen no go werden ließen: Niemand kann noch, niemand möchte noch zusätzliche knapp bemessene Zeit für eine nicht angefragte Lektüreaufforderung auf bringen. Die Zahlen hierzu sprechen eine klare Sprache: Laut einer Studie aus dem Jahr 2007 wurden von allen innerhalb eines Jahres publizierten wissenschaftlichen Beiträgen (die Natur- und Ingenieurswissenschaften miteingerechnet) nicht einmal die Hälfte von anderen als den Autoreninnen selbst, ihren peer reviewers, Lektorinnen oder Rezensentinnen gelesen. Für geisteswissenschaftliche Veröffentlichungen dürfte dieser Wert noch drastisch unterschritten werden. Und sobald wissenschaftliche Texte online gestellt und als Open-Source Dokumente erhältlich sind, werden sie meist nicht mehr als konsekutiv geschriebene Texte wahrgenommen. Hier dominiert die digitale Suche nach Stichworten und Themenkomplexen, die dann wiederum als Zitate und Belegquellen Eingang in weitere Publikationen finden.63 Da jedoch die entfristete Anstellung des wissenschaftlichen Nachwuchses und das Erlangen einer Professur nach wie vor von der Veröffentlichung von mindestens einer der beiden sogenannten ›Qualifikationsschriften‹ (Dissertation/Habilitation) abhängt, wächst der Berg ungelesener geisteswissenschaftlicher Fachliteratur indessen beständig an. Die Selbstlegitimationszwänge der drittmittelgeförderten Forschungsverbundprojekte und die ungeliebten Zielvereinbarungen bei Berufungen verstärken diese Tendenz weiter. Trotz der negativen Sekundäreffekte dieser Entwicklung – Rückgang der Qualität von Inhalt und Form der Publikationen, Legitimation der Arbeiten durch aberwitzige Spezialisierung und Wettbewerb um Nischenplät-
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ze in den Programmheften der Verlage, Auf lösung der disziplinären Strukturen an den Universitäten und zunehmende curriculare Beliebigkeit – hat das geisteswissenschaftliche Buch bis dato überlebt. Nur, jenseits von Berufungskommissionen und Forschungsausschüssen wird es kaum noch ernst genommen, geschweige denn gelesen. Beides, seine Reputation und die Neugierde, mit der noch vor nicht allzu langer Zeit jede neue Veröffentlichung eines französischen ›Meisterdenkers‹ erwartet und auch gelesen wurde, haben sich stillschweigend verf lüchtigt. Stattdessen regiert jetzt die kalte Mathematik der eingeworbenen Forschungsgelder, und die Sorge darüber, wie sich der Geldsegen denn einigermaßen sinnvoll verausgaben bzw. verwalten lasse, schmälert die ohnehin knappen Zeitressourcen an den Universitäten weiter. Von Walter Benjamin stammt die Überlegung, das Kunstwerk verliere im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – gemeint waren Reproduktionstechniken wie die Fotographie, die Schallplatte und der Rundfunk – die ihm eigene ›Aura‹ als Unikat und damit als etwas Unverwechselbares.64 Im Zeitalter seiner massenhaften Veröffentlichung hat das geisteswissenschaftliche Buch nicht nur seine Aura, sondern auch seine Leserinnen verloren. Wenn also selbst die Mitglieder einer Berufsgruppe, in deren professioneller DNA deep reading angeblich unauslöschlich eingeschrieben ist, sich untereinander nicht mehr lesen wollen oder können, wie dann eine Lanze brechen für Buchkultur und Geisteswissenschaften in Zeiten, in denen künstliche Intelligenz zunehmend das Sichten und Ordnen großer Datenmengen übernimmt und in denen kaum noch Zeit bleibt, mit der Überfülle an Informationen Schritt zu halten, geschweige denn sie intellektuell auch nur annähernd zu verarbeiten? Im folgenden letzten Abschnitt werde ich versuchen, eine vorläufige Antwort auf diese Frage zu geben. Dabei sollen abschließend sowohl Aspekte angesprochen werden, deren Diskussion ich bislang schuldig geblieben bin, als auch weiter oben bereits Genanntes erneut aufgegriffen und in eine konzise Form gebracht werden. Die Frage nach der Zukunft von Buchkultur und Geisteswissenschaften wird damit jedoch immer noch nicht zufriedenstellend beantwortet sein. Das letzte Wort hat hier, wie so oft, der Lauf der Zeit. Zu hoffen bleibt dennoch, dass im Laufe dieses Essays zumindest die existentielle Herausforderung, vor die sich Verlage, Wissenschaftspolitik und Geisteswissenschaft im Informationszeitalter gestellt sehen, in ihren unterschiedlichen Facetten deutlich wurde.
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Was also tun, um der grassierenden Leseunlust und mit ihr dem drohenden Identitäts- und Prestigeverlust der Geisteswissenschaften Einhalt zu gebieten? Welche Maßnahmen sind denkbar und aussichtsreich? Und welchen Beitrag müssen die Geisteswissenschaften selbst leisten, wenn sie in Zukunft bei gesellschaftlichen Debatten wieder Gehör finden und ihren Platz unter den akademischen Disziplinen auch im Informationszeitalter sichern wollen? Ein Artikel, auf den ich vor einiger Zeit in The Atlantic gestoßen bin, kann hier vielleicht Aufschluss geben. Das 1857 in Boston gegründete Kulturmagazin, in etwa der deutschen Monatszeitschrift Der Merkur vergleichbar, ist ein beliebter Tummelplatz neuenglischer Intellektueller und – jenseits des akademischen Marktes – die letzte Bastion liberaler gesellschaftspolitischer Diskurse in den USA. Die Geschichte, die in jenem Artikel erzählt wird, ist selbst dann noch erstaunlich, wenn man bedenkt, dass The Atlantic seit 2017 mehrheitlich von Lauren Powell Jobs finanziert wird, der Witwe des Apple-Gründers Steve Jobs. Unter der Überschrift »Reading Proust on My Cellphone« berichtet die Schriftstellerin und ehemalige Mitarbeiterin der New York Times, Sarah Boxer, wie sie nach vielen Jahren berufsbedingter Unterbrechung die Lektüre von Prousts siebenbändiger Suche nach der verlorenen Zeit wiederaufnahm und dieses Mal auch tatsächlich zu Ende brachte. Das Besondere an dieser Begebenheit ist nicht so sehr, dass Boxers Bericht geeignet wäre, das Bonmot eines Kritikers zu bestätigen, Prousts monumentales Erzählwerk gehöre zu den bekanntesten, leider aber auch zu den am wenigsten gelesenen Klassikern der modernen Literatur. Das eigentlich Interessante hier ist vielmehr die Tatsache, dass es Boxer gelungen ist, die Geschichte von Charles Swanns untergegangener Welt allabendlich auf ihrem Smartphone zu lesen.
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Zugegeben, auch meine Reaktion auf diese Enthüllung war nicht weniger ungläubig als jene der meisten Bekannten und Freunde Boxers, die diese Art der Lektüre schlicht für unpassend, wenn nicht gar unmöglich hielten. Und war sie nicht gerade an der Widerständigkeit der Proust’schen Prosa gescheitert, mit ihren endlos langen Sätzen – der längste des Romans, ein schwindelerregendes Monstrum, kommt auf sage und schreibe 958 Wörter! – und dem komplexen, schwer nachvollziehbaren Beziehungsgef lecht des Pariser Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts, narrative Herausforderungen, die selbst die Geduld professioneller Leserinnen gelegentlich überfordern? Umso erstaunlicher, dass ihr nicht nur die Lektüre als solche gelang; sie wurde für Boxer zu einer einzigartigen Erfahrung, die sie als magisch, ja sogar auf ganz besondere Weise als »Proustian« empfunden habe. Wie kann das sein? Es ist nicht so, dass Sarah Boxer ein digital native ohne ernsthafte Lese- und Bucherfahrung wäre, für die das Smartphone gewissermaßen die erste Wahl und eine naheliegende Form der Lektüre war. Im Gegenteil. Boxer liebt Bücher, solche aus Papier und Karton, und sie besitzt, wie sie gesteht, nicht wenige davon. Als sie jedoch entdeckte, dass sie auf ihrem Handy alle sieben Bände der Gesamtausgabe in der ursprünglichen englischen Übersetzung durch Charles Kenneth Scott Moncrieff, einem Zeitgenossen Prousts, kostenlos vom Projekt Gutenberg Australien herunterladen konnte, entschloss sie sich zu einem Selbstversuch. Sie begann, wo sie vor vielen Jahren mit dem Lesen aufgehört hatte, irgendwo im vierten Band Sodom und Gomorra, und las von nun an jeden Abend auf dem hell erleuchteten Bildschirm des kleinen Smartphones bis, nun ja, bis zum Ende des letzten Bandes Die wiedergefundene Zeit. Boxer empfand ihre Leseerfahrung dabei als ausgesprochen angenehm. Bereits nach wenigen Abenden stellte sie fest, dass das kleinformatige Display ihres Smartphones, das ganze 6 x 10 Zentimeter misst, und Prousts anspruchsvolle Prosa keineswegs so inkompatibel waren, wie sie zunächst angenommen hatte. Hier, im Original, ihre Beschreibung dieses durchaus poetischen Zusammentreffens von digitaler Technologie und kunstvoll gestalteter Narration: Your cellphone screen is like a tiny glass-bottomed boat moving slowly over a vast and glowing ocean of words in the night. There is no shore. There is nothing beyond the words in front of you. It’s a voyage for one in the nighttime. Pure romance.65
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Die Meer-Metapher ist hier von Bedeutung, da Prousts kolossaler Text immer wieder mit einem überbordenden Ozean verglichen wurde, der den Leser treibend und ohne Orientierung, wie einen Schiff brüchigen, sich selbst überlasse. Die nächtliche Lektüre auf dem Smartphone versetze einen ans Steuer eines winzigen Unterseeboots, Boxer fühlt sich dabei an Kapitän Nemo aus Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer erinnert, man fahre fernab vom haltversprechenden Ufer und tauche buchstäblich ein in Prousts Ozean an Eindrücken, Erfahrungen, kleinsten narrativen Details. Trotz der geringen Größe des Bildschirms erfordert das ›Weiterblättern‹ auf dem Gerät nur wenige Wischbewegungen, für den oben genannten Monstersatz nicht einmal ein Dutzend. Boxer vergleicht sie mit Ruderschlägen, jedes Wischen ein erneutes Eintauchen ins Wasser, um das kleine Unterseeboot wieder ein Stück weit voranzubringen. Nach kurzer Zeit vergesse man die Bewegung vollständig, »you’re simply looking through the glass in an endless ocean, moving silently, blindly forward«. Um die fehlende Möglichkeit der Annotation am Rande des Textes auszugleichen, nutzt die Autorin Textnachrichten, die sie in regelmäßigen Abständen an sich selbst adressiert. Jeden Morgen erhält sie so ›Post‹ aus Prousts ozeanischem Universum, entdeckt noch einmal die magische Sprachgewalt einzelner Sätze, die sie während ihrer nächtlichen Lektüre aufgefischt und als elektronische Flaschenpost auf die Reise geschickt hat. Das Lesen auf dem Smartphone scheint nahezu allem zu spotten, was wir an der Haptik des analogen Buches, durch das wir uns allmählich vorarbeiten, schätzen gelernt haben: das Gefühl, das sich einstellt, wenn die größer werdende Zahl der an den Ecken eingeknickten Seiten uns das nahende Ende der Lektüre ankündigt; das physische Buch, das im Laufe der Lesezeit zu einem guten Kumpanen geworden ist, den wir an seiner äußerlichen Beschaffenheit wiedererkennen, die ihn uns vertraut macht und für die wir eine eigenartig rührende Zuneigung empfinden; oder auch die Orientierung, die uns die Einteilung in Seiten und Abschnitte ermöglicht, die Option des Zurückblätterns, das elektronische Bücher nur ansatzweise nachahmen. Und doch ermöglicht das kleine, intelligente Gerät – glaubt man der Verfasserin des Artikels – nicht nur eine ungewöhnliche und ungewöhnlich intensive Leseerfahrung. Als sich ihr Selbstversuch dem Ende des Romans nähert, scheint sie vielmehr selbst im Proust’schen Universum angekommen. Ihre verlangsamte Lektüre hat die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart
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allmählich verwischen lassen: »My long moment of reading Proust had itself become a Proustian moment, a bittersweet mixing of past and present, real life and reading life, being adrift and being amazed. Perhaps that was because I had made my way so slowly.« Ist es in Prousts Roman der bittersüße Duft des Madeleine-Gebäcks, der den Erzähler auf die Reise in die Vergangenheit schickt, so übernimmt diese Rolle bei Boxer das schwimm- und lesefähige Smartphone der Marke HTC. Natürlich ließen sich gegen Boxers Smartphone-Lektüren eine Reihe guter Argumente anführen. Sie mögen vielen naiv erscheinen, irgendwie unpassend und dabei auch – mit einiger Wahrscheinlichkeit – anstrengender als das Lesen einer analogen, gedruckten Ausgabe von Suche nach der verlorenen Zeit. Doch mir ging es hier um etwas anderes. Ich finde es bemerkenswert, dass ein Smartphone die Lektüre umfangreicher, komplexer Texte zu einer interessanten, kongenialen Leseerfahrung machen kann. Boxers Beschreibung des Proust’schen Eintauchens in die Vergangenheit weist sie als eine weit über das normale Maß hinaus kundige und einfühlsame Leserin aus. Sie scheint die Ästhetik Prousts und seine Arbeitsweise fast intuitiv zu erfassen, und die digitale Form, in der sie diese rezipiert, hat hierzu sicherlich einen Beitrag geleistet. Ganz gleich wie groß dieser Beitrag tatsächlich war, »Reading Proust on My Cellphone« gehört jedenfalls zum Interessantesten, was ich seit Langem über das Lesen und die Gefühle, von denen es begleitet wird, gelesen habe. Die immer noch großen Berührungsängste und Vorbehalte auf Seiten der Geisteswissenschaften gegenüber den digitalen Medien erscheinen vor diesem Hintergrund nicht berechtigt. Denn der Einsatz digitaler Technik kann durchaus zu neuen, intelligenten Lektüren selbst der kanonisierten Werke der Weltliteratur führen. Es gibt also keinen Grund, sich vehement gegenüber den digital humanities abzuschotten, ganz so als würden diese mit Hilfe des Computers den Geist aus den Geisteswissenschaften vertreiben wollen oder können. Hierin ist die Situation der humanities jener der meisten westlichen Gesellschaften mit Blick auf den Klimawandel vergleichbar: Solange sie an ihrer trügerischen Selbstwahrnehmung, ein auf Dauer gestelltes Erfolgsmodell ohne weiteren Veränderungsbedarf zu sein, festhalten, wird sich das Schlimmste kaum verhindern lassen (auch wenn die Konsequenzen des Scheiterns im Fall der Geisteswissenschaften weit weniger dramatisch sind). Ohne mehr Offenheit gegenüber den technischen Herausforderungen der Informationsgesell-
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schaft jedenfalls und ohne die Einsicht, dass auch die digitale Kultur die geisteswissenschaftlichen Fächer etwas ›angeht‹, droht ihnen ein ähnliches Schicksal wie der Langspielplatte oder dem Füllfederhalter – sie werden jenseits von Sammlerbörsen und offiziellen Anlässen als Untote eines längst untergegangenen ›goldenen Zeitalters‹ in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die Frage ist also weniger, ob deep oder hyper reading in Zukunft die Oberhand an den Universitäten gewinnen wird; denn dies scheint schon lange entschieden. Die eigentliche Frage ist, ob die Geisteswissenschaften sich endlich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden und auf hören, sich weiterhin als Hüter eines anachronistischen Geheimwissens gegen den Rest der digitalen Welt in Stellung zu bringen. Zu ihrer Rettung bedarf es jedoch noch einer anderen Einsicht, nämlich in die Unmöglichkeit des ›richtigen Lesens im falschen‹ (um Adornos Bemerkung hier leicht abzuwandeln). Wenn geisteswissenschaftliche Ansätze in den letzten 30 Jahren eines gezeigt haben, dann dies: Da jedes Lesen notwendig interessegeleitet und von den kulturellen und ökonomischen Umständen, unter denen wir lesen, mitbestimmt ist, kann es kein unangefochtenes, sich selbst privilegierendes Theoriemonopol geben. Die Vorstellung einer restorativen, gegenkulturellen Lektüre an den Universitäten, wie sie die New Critics für sich reklamierten, muss zwangsläufig Utopie bleiben; ein Zurück zur heilen Welt des close reading ist keine Handlungsoption. Mit Ernst Bloch ließe sich zwar argumentieren, es handle sich hier um eine sogenannte ›konkrete‹ Utopie, die tagtäglich in vielen Seminaren und Lehrveranstaltungen bereits praktiziert werde. Doch dies ginge angesichts der tatsächlichen Verhältnisse an den Hochschulen an der akademischen Realität vorbei. Wissenschaft ist Teil einer komplexen Struktur der Institutionalisierung und Vermittlung von Wissen. Dieses Wissen, auch wenn es nicht im Labor, sondern mit Hilfe geisteswissenschaftlicher Methoden generiert wird, reproduziert zum großen Teil die Bedingungen, unter denen es gewonnen wurde. Die Vorstellung eines akademischen Elfenbeinturms zielt deshalb ebenso ins Leere wie die Annahme, akademisches Lesen sei seinem Wesen nach unpolitisch (eine Annahme, die oft mit konservativen Positionen assoziiert ist) oder stehe außerhalb der Verwertungszusammenhänge des Marktes (wie häufig von progressiver Seite argumentiert wird). Und ebenso falsch ist, dass sich in den Geisteswissenschaften – wie populistische Politiker diesseits wie jenseits des Atlantiks immer wie-
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der beklagen – Freizonen der Gegenkultur etabliert hätten, in denen staatlich alimentierte cultural marxists daran arbeiteten, die Gesellschaft gemäß ihrer identitätspolitischen Agenda umzugestalten.66 Diese Fehlwahrnehmung trifft übrigens auch für die USA und England zu, wo cultural studies Forschung (siehe oben) und die mit ihr vermeintlich Hand in Hand gehende ›linke‹ politische Orientierung historisch weiter verbreitet sind als auf dem europäischen Festland. Richtig ist, in den letzten 30 Jahren konnte man beobachten, wie vor allem amerikanische Universitäten sich zunehmend politisiert haben. Dies war zum einen den sogenannten culture wars geschuldet, die von akademischen Institutionen ihren Ausgang nahmen; und zum anderen zwang der härter werdende Wettbewerb um Ressourcen die humanities in die akademische Defensive, aus der sie mit einer aberwitzigen Publikationsf lut und der Infragestellung naturwissenschaftlicher Methoden (Stichwort: science wars) wieder herauszufinden hofften. Im vorangegangenen Kapitel habe ich versucht, diese Entwicklung – wenn auch sehr verkürzt – am Beispiel der globalen Ausbreitung der Kulturstudien darzustellen. Das in der Folge oft als Radikalisierung der Geisteswissenschaften wahrgenommene Bekenntnis, sich in Forschung und Lehre die Interessen von marginalisierten Minderheiten zu eigen zu machen, hat in der Praxis jedoch nicht zu konkreten politischen Handlungen, ja oft nicht einmal zu einer dezidiert politischen Analyse der strukturellen Ursachen von Ungleichheit, Sexismus oder Rassendiskriminierung geführt. Im Gegenteil. Kulturpolitik, so richtig und wichtig sie auch sein mag, hat stattdessen zur weiteren Erosion geisteswissenschaftlicher Reputation innerhalb wie außerhalb der Universitäten beigetragen. Und sie hat dazu geführt, dass diese – identity politics, Kulturmarxismus und cancel culture zum Trotz – heute unpolitischer denn je sind, zumindest, wenn man ihren schwindenden politischen Einf luss auf die Gesamtgesellschaft zugrunde legt. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig und müssen hier nicht noch einmal aufgelistet werden. Festzuhalten bleibt, dass die Krise, in die die Geisteswissenschaften seit einigen Jahrzehnten geraten sind, auch eine Krise der Buch- und Lesekultur ist (und umgekehrt). Dies hat u.a. damit zu tun, dass die humanities es versäumt haben, den gesellschaftlichen Mehrwert der von ihnen herangezogenen und erforschten Literatur, wie von Habermas eingefordert, aus dieser selbst heraus zu begründen. Dort, wo dies nicht möglich oder zweckmäßig erscheint, sollte die Lektüre ganz aufgegeben bzw. durch andere, bes-
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ser geeignete Quellen ersetzt werden. Hierzu gehören u.a. die Neuausrichtung auf kürzere, nicht literarische Gattungen wie die Essayistik oder das politische Pamphlet sowie die Inklusion der gesamten Bandbreite an neuen digitalen Textformen, die die weltweite Vernetzung im Informationszeitalter – man denke nur an die inzwischen vielfältige soziale Medienlandschaft – hervorgebracht hat. Man könnte hier einwenden, im Zuge des cultural turn seien die Gattungsgrenzen ja bereits durchlässig geworden und die einzelnen Fächer hätten sich – teilweise bis zur Unkenntlichkeit – für neue Ansätze und transdisziplinäre Forschung geöffnet. Nur, ohne den offenkundigen Enthusiasmus der beteiligten Forscherinnen in Zweifel ziehen zu wollen, die Wende zur Kultur vollzog sich auf beiden Seiten des Atlantiks mit einer intellektuellen Beliebigkeit, in deren Folge eine wissenschaftlich solide Auseinandersetzung mit der sich wandelnden Rolle der Geisteswissenschaften in der digitalen Kultur nahezu unmöglich wurde. Hinzu kam, dass selbst in den USA keineswegs alle Kolleginnen in den geisteswissenschaftlichen Fächern auf cultural studies Forschung eingeschwenkt waren und die Unzufriedenheit mit Methodenpluralität und der schleichenden Aushöhlung fachwissenschaftlicher Kompetenz schon bald zum nostalgischen Schielen auf Literaturtheorien der 50er Jahre geführt hat. Der hier eingeforderten Auseinandersetzung der Geisteswissenschaften mit sich selbst – und dieses Mal nicht als elitäre Selbstprivilegierung, sondern im Hinblick auf die diskursiven und ökonomischen Wechselbeziehungen zur Gesellschaft, von der sie alimentiert werden und aus der heraus sie ihre Mitglieder rekrutieren – hat sich seit einiger Zeit ein neuer Forschungszweig angenommen, den man als eine Art cultural studies Projekt 2.0 beschreiben könnte; gemeint sind die sogenannten public humanities, zu deutsch: die öffentlichen Geisteswissenschaften. Diese relativ junge und in Europa kaum bekannte Forschungsrichtung ist in den letzten Jahren immer häufiger an amerikanischen Universitäten anzutreffen, teilweise als voll etabliertes Studienprogramm, teilweise in Form von außercurricularen, unregelmäßigen Zusatzangeboten. Die Bandbreite der unter ihrem Dach angebotenen Veranstaltungen umfasst nahezu alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen und ist – wie schon die ältere cultural studies Forschung – strikt inter- bzw. transdisziplinär angelegt. Im Gegensatz zu den Kulturstudien haben die public humanities in der Regel jedoch einen Forschungsfokus auf den Wechselwirkungen von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Sie lösen damit eine gesellschaftli-
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che Verpf lichtung zur kritischen Bestandsaufnahme der eigenen Forschung ein und versuchen, die Zirkulation von Wissen innerhalb der Universitäten aber auch in die Gesellschaft hinein zu intensivieren. Das public humanities Programm der Yale University etwa umfasst sieben zentrale Forschungsgebiete, aus denen Studierende jeweils Kurse auswählen können: »Museums and Collections«, »Public Writing«, »Documentary Studies«, »Digital Humanities«, »History and the Public«, »Space and Place« und »Arts Research«.67 Die disziplinären Grenzen der public humanities sind – ebenso wie ihre Methoden – f ließend; sie reichen von lokalhistorischer Forschung über die Kuratierung von Ausstellungen bis hin zu Kunstprojekten im öffentlichen Raum, Filmdokumentationen, öffentlichen Vorlesungen oder der Gestaltung von entsprechenden Webseiten, auf denen die einzelnen, meist von den Studierenden selbst initiierten Projekte dann vorgestellt und mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Medien diskutiert werden. Ihre institutionellen Strukturen und Hierarchien sind eher schwach ausgebildet. Was sie vereint, ist das Bestreben, möglichst viel Geisteswissenschaft in die Gesellschaft hinein zu kommunizieren und dabei offen zu sein für nicht-akademisches Wissen, das von außen an die Programme herangetragen wird. Wenn man so will, handelt es sich bei den public humanities um ein groß angelegtes, fächerübergreifendes Outreach-Programm, in dem Studierende und Universitätslehrer sich gemeinsam mit nicht-akademischen Expertinnen im Rahmen meist lokaler Forschungsprojekte zusammenschließen. Dabei handelt es sich explizit (man vergleiche hier die mission statements der entsprechenden Programme) nicht um eine Einbahnstraße. Der Dialog mit der Öffentlichkeit soll im Gegenteil gewährleisten, dass nicht-akademisches Wissen Berücksichtigung in der universitären Forschung findet. Auch die schwächelnde Buch- und Lesekultur könnte von einem vergleichbaren Ansatz profitieren. Warum müssen geisteswissenschaftliche Lektüren auf die Seminar- und Vorlesungsräume der Universitäten beschränkt bleiben? Warum nicht gemeinsames öffentliches Lesen bzw. Vorlesen, das die Geisteswissenschaften wieder in einen Dialog mit Menschen jenseits des Campus brächte. Und warum sollten literatur- und kunstwissenschaftliche Seminare nicht auch von Personen aus der Praxis – Literaturkritikerinnen, Kuratorinnen und Museumsleiterinnen, Festivalleiterinnen u.ä. – unterrichtet werden, die dabei helfen könnten, die notorische Selbstfixierung der Geisteswissenschaften aufzubrechen und sie für öffentliches Wissen durchlässig
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zu machen. Mir ist bewusst, dass Lehraufträge, Autorenvorlesungen oder die Outreach-Vorgaben der großen Forschungsfördereinrichtungen seit längerem versuchen, den Abstand zwischen town und gown, zwischen Öffentlichkeit und Universität, zu verringern. Richtig ist aber auch, dass vieles davon Lippenbekenntnisse geblieben sind und dass verkarstete Hierarchien, Wissenschaftsdiplomatie im Hinterzimmer und die Angst vor dem Verlust von Privilegien und etatisierten Stellen noch immer die selbstkritische Suche der Geisteswissenschaften nach ihrer neuen Rolle im Informationszeitalter behindern. Ein Bekenntnis zu einem offenen und öffentlichen Programm wie die public humanities wäre ein erster Schritt in diese Richtung. Denn nur im ständigen Abgleich mit den Bedürfnissen und Erwartungen einer größeren Öffentlichkeit können Buchkultur und Geisteswissenschaft sich aus sich selbst heraus begründen. Wer meint, die Amalgamierung von öffentlichem und akademischen Raum führe dazu, dass spezielles in allgemein anwendbares Wissen transformiert und damit ›entwertet‹ werde, der irrt. Es geht um public, nicht um populist humanities. Sich dem neoliberalen Diktat permanenter Selbstoptimierung, inklusive der völlig verfehlten Quantifizierung von Forschungserfolgen in Form von Forschungsgeldern, weitgehend widerstandslos ergeben zu haben, ist der eigentliche Sündenfall der Geisteswissenschaften. Ihre Öffnung in die Gesellschaft hinein und das Bemühen um Anschlussfähigkeit und Bürgerbeteiligung könnte die alte Frage nach der Ethik des Lesens mit neuem Leben erfüllen und – in der besten aller akademischen Welten – zu einem anderen Verständnis dessen führen, was ›gutes‹ Lesen ausmachen sollte. Noch einmal: Die Geisteswissenschaften sind sowohl Teil als auch Spiegel des Wertesystems der Gesellschaft, die sie finanziert und am Leben hält. Dass ihnen in engen Grenzen gewisse Freiräume eingeräumt werden, sollte sie nicht zu der Einschätzung verleiten, ihre Lese-Arbeit begründe ein Biotop zweckfreien, unpolitischen Denkens. Auch ungewöhnliche Maßnahmen wie die öffentliche Förderung von ›Nichtstun‹ werden daran wohl kaum etwas ändern können. So geschehen an der Kunstakademie Hamburg, die gerade drei sogenannte ›Müßiggang‹-Stipendien, à 1.600 Euro, für Studierende ausgeschrieben hat, denen es gelingt, ein professionelles Auswahlgremium von der Kreativität und Relevanz ihres ›Nichtstuns‹ zu überzeugen.68 Natürlich bleibt auch dieses nur scheinbar subversive Projekt den Werten einer auf Selektion und Beweisführung geeichten Universität verpf lichtet.
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Nichtstun muss sich hier als Mehrwert produzierende ›Forschungsuntätigkeit‹ beweisen, und ist in seiner Umkehrung der Kausalkette – das zu erwartende, klar definierbare Ergebnis ermöglicht erst die angestrebte Untätigkeit – meilenweit entfernt vom Müßiggang eines Cicero, Bertrand Russel oder Paul Lafargue. Sollte es tatsächlich als Kunstprojekt gemeint sein, dann allerdings ist es geeignet, auch den Geisteswissenschaften ihre unauf lösbare Verstrickung in die Warenkreisläufe des Spätkapitalismus vor Augen zu führen. Hier ist nichts umsonst und Nichtstun heißt immer noch, sich der ökonomischen Taxonomie des Mehrwerts unterzuordnen. Dieser Umstand entbehrt im Hinblick auf die Geisteswissenschaften nicht einer gewissen Komik. Ihre Verteidiger sind gefangen zwischen einer oft rückwärtsgewandten Haltung der Verweigerung und dem Impuls, sich mit den neoliberalen Triebkräften in der Gesellschaft zu arrangieren. So verweisen sie (nach außen) auf ihre Bemühungen, sich an die Erfordernisse der neuen Zeit angepasst zu haben, während sie gleichzeitig (nach innen) an der Utopie eines richtigen Lebens im falschen festhalten. In ihrer klammheimlichen Verachtung für das System, von dem sie ein integraler Bestandteil geworden sind, erinnern sie ein wenig an Kaf kas gelehrten Affen Rotpeter aus Ein Bericht für eine Akademie. Wie dieser vor die Wahl gestellt, entweder im zoologischen Garten oder im Varieté enden zu wollen, entscheiden sie sich für das Varieté. Dies ist zwar auch eine Art Gefängnis, es erlaubt aber immerhin noch die Selbsttäuschung, bei künstlerischer Freiheit handle es sich tatsächlich um Freiheit im eigentlichen Sinn.69 Besser wäre es, der ›Macht der Negativität‹ ins Angesicht zu schauen, denn die Überlegenheit des Geistes, dies wissen wir sowohl von Hegel als auch von Adorno, erweist sich gerade dort, wo er am wenigsten geschätzt wird. Letzterer hat in Minima Moralia unter der Überschrift »Das Leben lebt nicht«, die er von Ferdinand Kürnberger übernommen hatte, den folgenden Satz aufgeschrieben: »Die Departementalisierung des Geistes ist ein Mittel, diesen dort abzuschaffen, wo er nicht ex officio, im Auftrag betrieben wird.« Das Kapitel ist Marcel Proust gewidmet, und der Satz beschreibt die missliche Lage des dilettierenden Autors, dem zu Lebzeiten aufgrund seiner finanziellen Unabhängigkeit von akademischen Kollegen nur wenig Anerkennung entgegengebracht wurde. Dass es ihm gelingt, die akademische Arbeitsteilung aufzukündigen, wenn auch nur, weil ihm das Schreiben Lust bereitet und er es von Hause aus nicht hätte tun müssen, begründet seine eigentliche
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Überlegenheit. Doch diese schafft immer auch Blößen. Und so, merkt Adorno an, »ist für Ordnung gesorgt: die einen müssen mitmachen, weil sie sonst nicht leben können, und die sonst leben könnten, werden draußen gehalten, weil sie nicht mitmachen wollen«.70 Es wird Zeit, dass auch die Geisteswissenschaften sich einer Relektüre von Prousts Suche nach der verlorenen Zeit nicht mehr verschließen – auf dem Smartphone, und ohne wenn und aber!
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Anmerkungen 1 Susanne Gaschke »Lesen ist eine unverzichtbare Kulturtechnik. Für
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eine Bildungspolitik im Geist der Aufklärung« (23.7.2017). Deutschlandfunk Kultur. Online verfügbar unter: https://www.deutsch¬landfunkkul tur.de/fuer-eine-bildungsp olitik-im-geist-der-aufklaerung-lesen.1005. de.html?dram:article_id=422657. Etwa unlängst in Michael Hagners Zur Sache des Buches, wo es an einer Stelle mit Bezug auf den argentinischen Autor Jorge Luis Borges heißt: »Als Leser von Borges begreifen wir nämlich auch, dass das Buch wie kein anderes Medium Phantasie, Selbsttranszendenz, Glückseligkeit, Träume, Erinnerung und Selbstbeobachtung in Gang setzt. […] Nur beide Typen zusammengenommen [gemeint ist Borges’ romantisierende und McLuhans’ rationalistische Anthropologie des Buches, KB], verschaffen eine Vorstellung von dem, was es heißt, ganz und gar Mensch zu sein.« Hagner, Zur Sache des Buches. Göttingen: Wallstein Verlag, 2015. S. 245. Börsenverein des Deutschen Buchhandels, »Buchkäufer – Quovadis?« (2018). Online verfügbar unter: https://www.boersenverein.de/marktdaten/marktforschung/studien-umfragen/studie-buch¬kaeufer-quovadis/. »Wenn die Leute so blöd sind … Immer weniger Menschen lesen. Immer weniger Menschen kaufen Bücher. Philipp Keel, Chef des Diogenes Verlags, über sinnlose Strategien und neue Geschäftsfelder«. Interview mit Jana Gioia Baurmann. Die Zeit, Nr. 32, 2. August 2018. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2018/32/philipp-keel-diogenes-verlag-buchha ndel-lesen. Gemeint ist hier Hubert Spiegel, der langjährige Leiter der Literaturabteilung der FAZ und heutige Deutschland-Korrespondent. Umberto Eco, »Innovation and Repetition: Between Modern and PostModern Aesthetics«. Daedalus, Band 114/4, Herbst 1985, S. 165. So konnte man unlängst im Guardian lesen, dass die steigende Zahl an wöchentlich publizierten Büchern – allein in Großbritannien waren für den 3. September 2020 mehr als 600 neue Titel angekündigt – sowohl Buchhandlungen als auch literarische Magazine und die Literaturseiten
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der großen Tageszeitungen zunehmend vor Probleme stelle. Zum einen fehle es an Platz, diese Titel im Laden angemessen zu präsentieren, und zum anderen sei es unmöglich, für derartig viele Neuerscheinungen Rezensenten zu finden. Alex Clark, »Literary world overwhelmed by 600 books to be published in one day«. The Guardian, 16. August 2020. Online verfügbar unter: https://www.theguardian.com/focus/2020/aug/16/liter ary-world-overwhelmed-by-600-books-to-be-published-on-one-day. Franco Moretti, Graphs Maps Trees. Abstract Models for Literary History. London/New York: Verso, 2005. Heinz Schlaffer, »Die eingebildete Kranke. Lesen ist mühsam: Die klassische Literatur ist ins Exil geraten«. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 208, 7. September 1994, S. N6. Friedrich Kittler, »Die Schnittstelle bearbeiten. Für eine kleine Mediengeschichte«. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 208, 7. September 1994, S. N6. Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo. Mailand: Feltrinelli, 1958, S. 32. Amy Orben, »The Sisyphean Cycle of Technology Panics«. Perspectives on Psychological Science 2020, S. 1-15. Douglas Adams, »The Technium«. Online verfügbar unter: https://www. kk.org/thetechni¬um/archives/2007/02/everything_that.php. Paula Irene Villa Braslavsky, Andreas Geier, Ruth Mayer, »Das Sommersemester 2020 muss ein ›Nichtsemester‹ werden – Ein offener Brief aus Forschung und Lehre«. Online verfügbar unter: https://www.nichtseme ster.de/cbxpetition/offener-brief/. »Hochschullehrer fordern Rückkehr zur Präsenzlehre« (04.06.2020). Online verfügbar unter: www.forschung-und-lehre.de/lehre/hochschullehr er-fordern-rueckkehr-zu-praesenzlehre-2837/. Dies sehen inzwischen auch einige der Unterzeichnenden selbst so. Ein eher kritischer Blick auf die Weigerung vieler Kollegen, sich konstruktiv mit der neuen Situation auseinanderzusetzen, findet sich etwa in einem Artikel von Christian Dries, vom 1. August 2020. Dort heißt es u.a. »das Lamento [unter den Kolleginnen] ist groß. Daraus spricht die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust«. Siehe Dries, »Aus der Traum. Gibt es kein Lernen ohne Präsenzlehre? Zerstört Corona das Wesen der Hochschule? Höchste Zeit für eine Abrechnung mit einem in Teilen überholten System«. Süddeutsche Zeitung, Nr. 176, 1/2. August 2020, S. 5. Vgl. N. Katherine Hayles, How We Think: Digital Media and Contemporary Technogenesis. Chicago/London: University of Chicago Press, 2012, S. 55-80. Andreas Reckwitz, »Kleine Genealogie des Lesens als kulturelle Praxis«. Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Hsg. Katharina Raabe und Frank Wegner. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2020, S. 31-45.
Anmerkungen 19 Die von Hayles zugrunde gelegten Befunde haben sich, nach meiner
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Kenntnis, in den acht Jahren seit der Erstveröffentlichung des Buches nicht wesentlich verändert. Im Gegenteil, die von ihr beschriebenen und von der Kognitionsforschung diagnostizierten generationalen Unterschiede mit Blick auf deep und hyper attention sind eher größer geworden. Vgl. hierzu Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. Zur Sache des Buches, S. 9. »Children growing up in media-rich environments literally have brains wired differently from those people who did not come to maturity under that condition.« N. Katherine Hayles, »Hyper and Deep Attention: The Generational Divide in Cognitive Modes«. Profession, 2007, S. 187-199; hier S. 192. »Change the students to fit the educational environment or change that environment to fit the students.« Hayles, »Hyper and Deep Attention«, S. 195. Vgl. Ezra Pound, ABC des Lesens. Übers. Eva Hesse. Zürich: Arche Verlag, 2013. Peter Mendelsund, What We See When We Read. New York: Vintage, 2014, S. 294. »Literature is so urgently important for the citizen [...]. It is the political promise of literature that it can transport us, while remaining ourselves, into the life of another, revealing similarities but also profound differences between the life and thought of that other and myself and making them comprehensible, or at least more nearly comprehensible.« Martha Nussbaum, Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 2016, S. 96. Robert Hooke, Micrographia: or, Some Physiological Descriptions of Minute Bodies Made by Magnifying Glasses. London: J. Martyn and J. Allestry, 1665. Online verfügbar unter: https://www.chch.ox.ac.uk/sites/default/files/ Hooke and Science at ChCh-Booklet.pdf. Vgl. I.A. Richards, Practical Criticism. London: Kegan Paul, Trench, Trubner, 1929, S. 225-34. Einen kritischen Blick auf diese Debatten wirft der unlängst in PMLA, einer Publikationsreihe der Modern Language Association of America, erschienene Beitrag von Andrew Kopec. Kopec interpretiert die Renaissance von close reading als einen von zwei strukturellen Rettungsversuchen der humanities. Der andere Versuch, geisteswissenschaftliche Relevanz zu generieren, sind für Kopec die besagten digital humanities. Obwohl es bei beiden methodologische Überschneidungen gibt, verfolgen sie häufig konträre, nicht kompatible Ziele. Vgl. A. Kopec, »The Digital Humanities,
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Mythos Lesen Inc.: Literary Criticism and the Fate of a Profession«. PMLA 131.2, 2016, S. 324-339. 30 Vgl. hierzu W. J. T. Mitchell, Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago: The University of Chicago Press, 1994. Mitchells zentrales Argument zielt auf die nach seiner Überzeugung ›künstliche‹ Unterscheidung zwischen sprachlichen und visuellen Formen der Repräsentation. Beide Formen sind als ›Mischmedien‹ untrennbar miteinander verwoben und erlauben so – sei es in der bildenden Kunst, im Film oder in der Fotographie, sei es im literarischen Text – überhaupt erst das Spiel mit Uneigentlichkeit und Mimesis. 31 Diese Entwicklung stellt sich in den USA, insbesondere an den privaten Elite-Universitäten, leicht anders dar. Hier ist es weniger das Diktat der Drittmittel-Einwerbung als die sinkenden Einschreibungszahlen, die an den straff privatwirtschaftlich geführten Bildungseinrichtungen die humanistischen Fächer in Bedrängnis bringen. Was den Zwang zur Effizienz und die damit verbundenen Qualitätskontrollen angeht, sitzen die Geisteswissenschaften, diesseits wie jenseits des Atlantiks, im gleichen Boot. Vgl. Beth McMurtrie, »Can You Get Students Interested in the Humanities Again?« The Chronicle of Higher Education 9. November 2019. Online verfügbar unter: https://www.universityworldnews.com/post.php?story=20191109053633715. 32 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1960, S. 7. 33 Arendt, Vita Activa, S. 246-47. 34 »Wären wir töricht genug, auf die von allen Seiten neuerdings erteilten Ratschläge zu hören und uns dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften anzupassen, so bliebe uns nichts anderes übrig, als auf das Sprechen überhaupt zu verzichten. Denn die Wissenschaften reden heute in einer mathematischen Symbolsprache, die ursprünglich nur als Abkürzung für Gesprochenes gemeint war, sich aber hiervon längst emanzipiert hat und aus Formeln besteht, die sich auf keine Weise zurück in Gesprochenes verwandeln lassen.« Arendt, Vita Activa, S. 10. 35 Arendt, Vita Activa, S. 10. 36 »The fact is that moving matter about, while a certain amount of it is necessary to our existence, is emphatically not one of the ends of human life.« Bertrand Russell, In Praise of Idleness and Other Essays. New York: Simon & Schuster, 1972, S. 23. 37 Vgl. Russell, »›Useless‹ Knowledge«. In Praise of Idleness and Other Essays, S. 30-46. 38 Russel, In Praise of Idleness, S. 34. 39 Vgl. Russell, In Praise of Idleness, S. 27.
Anmerkungen 40 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur. Hsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, 1974, S. 11. 41 Adorno, Noten zur Literatur, S. 11. 42 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Le-
ben. Gesammelte Schriften Bd. 4. Hsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 43. 43 Owen, der sich vorgenommen hat, einen der Natur überlegenen, mechanischen Schmetterling zu erschaffen, weiß um das Trügerische dieses Projekts. Als der vollendete Schmetterling schließlich von einem Kind zerstört wird, empfindet er daher kein Bedauern: »When the artist rose high enough to achieve the beautiful, the symbol by which he made it perceptible to mortal senses became of little value in his eyes while his spirit possessed itself in the enjoyment of the reality.« Nathaniel Hawthorne, »The Artist of the Beautiful«. Mosses from an Old Manse. The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne. Bd. 10. Hsg. Fredson Bowers Crowley et al. Columbus, OH: Ohio State University Press, 1974, S. 475. 44 Eva Illouz, »Dreimal Lesen«. Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Hsg. Katharina Raabe und Frank Wegner. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2020, S. 61-78; hier S. 66-67. 45 An der staatlichen University of Massachusetts, Amherst, wo ich in den 90er Jahren am English Department unterrichtet habe, hatte sich die Zahl der festangestellten Professorinnen – im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren – aufgrund sinkender Einschreibungen um gut die Hälfte verringert. 46 J. Hillis Miller, »The Ethics of Reading«. Style 21.2, 1987, S. 181-91; hier S. 189 (Übersetz. KB). 47 Zitiert in Miller, »The Ethics of Reading«, S. 183 (Übers. KB). 48 Miller, »The Ethics of Reading«, S. 190 (Übers. KB). 49 Henry David Thoreau, Walden and Other Writings. Hsg. Brooks Atkinson. New York: The Modern Library, 2000, S. 1-312; hier S. 96/99. Marcel Proust, On Reading Ruskin. Übersetzt und hg. von Jean Autret, William Burford, and Phillip J. Wolfe. New Haven, CT: Yale UP, 1987. 50 Thomas Laqueur, Solitary Sex: A Cultural History of Masturbation. Cambridge, MA: MIT Press, 2003. 51 Miller, »The Ethics of Reading«, S. 190. 52 Habermas, »Warum nicht lesen?«, S. 113. 53 Habermas, »Warum nicht lesen?«, S. 113. 54 Thomas Sterne Eliot, Zum Begriff der Kultur (1948). Hamburg: Rowohlt, 1961, S. 11. 55 Eliot, Zum Begriff der Kultur, S. 130. 56 So verzeichnet das Oxford English Dictionary unter dem Eintrag »culture« folgende Definition: »the customs and beliefs, art, way of life and social
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organization of a particular country or group.« Oxford English Dictionary. Online verfügbar unter: https://www.oed.com/. Das vollständige Zitat lautete: »The publication of Cultural Studies is an event no serious (or curious) reader can afford to ignore. Make no mistake: in American intellectual life, the ›undisciplines‹ of cultural studies will very likely be the single most controversial and contested terrain of the 1990s, and Cultural Studies the most capacious text in the fray. If you plan to continue living in America, read this book.« Online verfügbar auf der Webseite des Verlags unter: https://www.routledge.com/Cultural-Studi es/Grossberg-Nelson-Treichler/p/book/9780415903455. Cultural Studies. Hsg. Lawrence Grossberg, Cary Nelson und Paula Treichler. New York: Routledge, 1992, S. 4. Stephen Greenblatt, »Culture«. Critical Terms for Literary Study. Hsg. Frank Lentricchia und Thomas McLaughlin. Chicago: The University of Chicago Press, 1990, S. 225-32; hier S. 227. Reckwitz, »Kleine Genealogie des Lesens als kulturelle Praxis«, S. 32. Reckwitz, »Kleine Genealogie des Lesens als kulturelle Praxis«, S. 37. Hagner, Zur Sache des Buches, 154-55. Rose Eveleth, »Academics Write Papers Arguing Over How Many People Read (And Cite) Their Papers«. Smithonian Magazine, March 25 2014. Online verfügbar unter: https://www.smithsonianmag.com/smart-news/hal f-academic-studies-are-never-read-more-three-people-180950222/. Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1935). Gesammelte Schriften Bd. 1. Hsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 431469. Sarah Boxer, »Reading Proust on My Cellphone«. The Atlantic, Juni Heft, 2016. Online verfügbar unter: https://www.theatlantic.com/magazine/ archive/2016/06/reading-proust-on-my-cellphone/480723/. Vgl. Lea Ypi, »Why does the right keep pretending the left runs Britain?« The Guardian, 21. September 2020. Online verfügbar unter: https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/sep/12/right-pretending-lef t-runsbritain. Vgl. Yale University, Public Humanities Website, online verfügbar unter: https://ph.yale.edu/short-history-public-humanities-yale. »Money for Nothing: German University offers ›Idleness Grants‹. Indolence project is serious, looks at societal values of success versus sustainability, says Hamburg arts college«. The Guardian, 20. August 2020. Online verfügbar unter: https://www.theguardian.com/world/2020/aug/20/ bone-idle-german-university-offers-grant-for-best-inactivity. Franz Kafka, »Ein Bericht für eine Akademie«. Der Jude. Eine Monatszeitschrift, 2. Jhg., 1917/18, S. 559-65. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, S. 21-22.
Index A Ästhetischer Diskurs 12 Arendt, Hannah 38, 39, 40, 41, 42, 43, 86 Adams, Douglas 22, 84 Adams, Henry (The Education of Henry Adams) 29, 30 Adorno, Theodor W. 42, 43, 44, 45, 46, 60, 80, 81 Adorno (Noten zur Literatur 42 Adorno (Minima Moralia) 80 Arnold, Matthew 50, 60 attention deficit disorder/attention deficit hyperactivity disorder 25 attention, deep/hyper 24, 26, 28, 30, 65, 66 Auf klärung 67
B Bilderf lut, digitale 36 Bildung, humanistisch 11, 12, 40 Bildung, moralisch/ethisch 48 Bildungsbürgertum 57, 64, 65 Bildungspolitik 11, 83
Bloch, Ernst (konkrete Utopie) 75 Bloom, Allan 60 Börsenverein des deutschen Buchhandels 12, 25 Boxer, Sarah 71, 88 Buch (Bestenliste, akademische) 15 Buch (Bücherwand) 14, 18 Buch, als Medium 21 Buch, analog 73 Buch, geisteswissenschaftlich 67, 68, 69 Buch, Prestigeverlust/Krise des 7, 13, 21, 76 Buchmarkt (Niedergang) 13 Buchmarkt, wissenschaftlicher 67 Bush, George W. 57
C Carlyle, Thomas 60 Centre national de livre 67 C icero 80 Computer 14, 15, 18, 21, 24, 39
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Computer, Spiele 29, 45 Corona Krise 21, 24
D Digital natives 13, 24, 27 Digitale Idioten/Primaten 11, 31 Digitale Mimikry 12 Dilthey, Wilhelm 22
E Eco, Umberto 14, 83 Einfühlungsvermögen 11, 12, 35, 45 Einbildungskraft 48, 53, 54 Eliot, T.S. 59, 60, 61, 87 Eliten 11, 21, 57, 65 European Credit Transfer and Accumulation System 65 Eva Hesse Forschungsarchiv 7 Expertenwissen 42, 57
F Faulkner, William 30 Feuilleton 19 Forschung, Drittmittel 68, 69 Forschung, Grundlagen 22 Forschung (Psychologie, Verhaltensforschung) 22, 27 Forschungsarchiv für Modernismus und Literarische Übersetzung 7 Franz Marc Museum 8 Freiheit, künstlerische 80
G Gaddis, William 48 Gaschke, Susanne 11, 28, 48, 83 Gasset, Ortega y 60
Geisteswissenschaften 8, 9, 17, 18, 20, 21, 23, 24, 27, 28, 31, 35, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 50, 51, 54, 66, 69, 74, 79 Geisteswissenschaften, Curriculum 21, 61, 62, 65, 75 Geisteswissenschaften, Methoden 20, 36, 37, 43, 61, 62, 63, 75, 78 Geisteswissenschaften, Prestigeverlust 9, 71, 77 Geisteswissenschaften, Verwissenschaftlichung 19, 65 Germanistik, Germanistentag 18, 19, 20 Gesellschafts-, und Wissenschaftspolitik 16, 66, 69 Glucksmann, André 60 Goebbels, Joseph 53 Graphic novels 20 Greenblatt, Stephen 63, 88 Gutenberg Galaxie 65 Gutenberg (Projekt-) 72
H Habermas, Jürgen 54, 55, 56, 76, 87 Hagner, Michael 26, 67, 88 Hawthorne, Nathaniel 47 Hayles, N. Kathrin 24, 25, 26, 27, 29, 30, 66, 84, 85 Herder, Gottfried 60 Hooke, Robert (Micrographia) 33, 85 humanities 38, 48, 49, 61, 63, 76 humanities, digital 24, 25, 30, 31, 37, 42, 74, 78, 85 humanities, public 77, 78, 79
Index
I Idealismus, deutscher 17, 67 Identitätspolitik (identity politics) 37, 61, 76 Illouz, Eva 48, 87
J Jobs, Steve (Lauren Powell) 71
K Kaf ka (Ein Bericht für eine Akademie) 80 Kaf ka, Franz 48, 80, 88 Keel, Phillip 13 Kerry, John 57 Kittler, Friedrich 20, 30, 84 Kürnberger, Ferdinand 80 Kultur (Alltags-, Massen-) 60 Kultur, Begriff der 59, 60, 61, 63, 87 Kultur (cancel culture) 76 Kultur (culture wars) 76 Kultur, digital 28, 65, 66, 75, 77 Kultur (Hochkultur) 60, 62 Kultur (Kulturmarxismus, cultural marxists) 76 Kulturpessimismus 11, 22, 25, 64 Kulturstudien (cultural studies, cultural turn) 36, 59, 61, 62, 63, 64, 76, 77 Kulturtechnik 7, 11, 13, 36, 45, 64, 83 Kunstwerk, Aura des 55, 69 Kunstwerk, autonomes 48 Kunstwerk, sprachlich 8, 35, 36, 55
L Lacqueur, Thomas 53 Lafargue, Paul 80 Lampedusa, Giuseppe Tomasi di 21 Lesemaschinen 52 Lesen, als Bildung 48 Lesen, Anstrengung 14 Lesen, bad reading 34 Lesen, digital 16, 43, 66 Lesen, Ethik des 16, 49, 53, 54 Lesen, Fernlesen/distant reading 15, 17 Lesen, hyper reading 17, 64, 75 Lesen, Kompetenz 11, 14, 17 Lesen, Krise 13 Lesen, Leseforschung 16, 17 Lesen, Masturbation 53 Lesen, Nahelesen/close reading 15, 17, 34, 35, 36, 37, 42, 44, 75 Lesen, Nicht-Lesen 44 Lesen, Re-Lektüre 15 Lesen, Reputation 18 Lesen, Rezeption 18, 44 Lesen, surface reading 17 Lesen, Tief lesen/deep reading 16, 17, 64, 69, 75 Lesen, typisierend 48 Lesen, Unfähigkeit 18 Lesen, Unlust 16, 18, 68, 71 Leser, gute 51, 55 Literatur, klassisch 19, 20, 64, 84 Literatur (national) 51 Literatur, Nutzen 54 Literatur (-verfilmung/vs. Film) 20, 29 Literatursoziologie 20
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Literatur (-theorie) 19, 20 Literatur (Welt-) 16 Literaturwissenschaft(en) 15, 16, 19, 22, 30, 31, 36, 37, 42, 44, 49, 53, 62, 64 Lyrik 17, 34, 56
M Mann, Thomas 60 Massenmedien (Film, TV, Fotographie) 28, 54, 56, 65, 69 McLuhan, Marshall 25, 65 Mendelsund, Peter 28, 85 Medien, digital 14, 20, 21, 22, 24, 27, 29, 30, 51, 65, 74 Medien, Nutzung (interaktiv) 25, 27 Medien (-ökologie) 22, 25, 27, 30, 35, 54, 66 Medien, soziale 20, 29, 65, 77 Medien, technisch 25, 65 Medientransformation 45, 66 Medienwissenschaft 20, 30, 65 Methoden, Literaturwissenschaft 15, 17, 20, 34, 35, 36, 37, 42 Methoden, Pluralität 62, 77 Methoden (soft methodologies, etc.) 15, 17, 20, 34, 35, 36, 37, 42, 43, 44, 62, 75, 77 Mikroskop 33, 34 Miller, J.Hillis 49, 51, 53, 87 Milton, John (Paradise Lost) 50, 54 Moderne (Triebkräfte, Säkularisierung, etc.) 39, 40, 41, 42, 43, 48, 52 Montcrieff, Charles Kenneth Scott 72 Montessori, Maria 26
Moral, ethisch-moralisch 12, 48, 53, 55, 56 Moretti, Franco 15, 16, 43, 84 Müßiggang (Nichtstun) 40, 41, 44, 79, 80 Müßiggang-Stipendien 79 Multitasking, digital 26, 27 Muße 14, 40 Mythos (Gründungsmythen) 8, 9, 38
N Nabokov, Vladimir 48 Naturwissenschaften 36, 37, 39, 42, 44, 45, 49, 66, 68, 76 Naturwissenschaften (science wars) 76 Neill, Alexander Sutherland 26 New criticism (new critics) 34, 35, 37, 38, 42, 43, 49, 51, 55 Nietzsche, Friedrich 26, 38 Nussbaum, Martha 31, 38, 51, 85
O Ogden, C.K. 34 Online Access/Open Source 66, 68 Online-Dienste/Streaming Plattformen 13, 28 Online, Lehre (ZOOM, Moodle, Sync & Share) 23, 36 Online, Nutzung 22 Orben, Amy 21, 22, 84 Outreach, Programme/Vorgaben 78, 79
P Pädagogik 26, 41, 56 Phantasy (science fiction) 19
Index
Philologie 53 Philosophie 39, 40, 43, 56, 63 Poe, Edgar Allan 43 Postman, Neil 60 Postmoderne (digital) 30, 48 Poststrukturalismus (Dekonstruktion) 49 Pound, Ezra 7, 13, 14, 85 Pound (Das ABC des Lesens) 13, 22, 28, 85 Pound (How To Read) 7 Primär/Sekundärliteratur 8 Produktion, kapitalistische (Markt) 38, 39, 40, 75, 80 Produktion, künstlerische/kulturelle 38, 39, 40, 44, 60, 62 Produktivität, negative 45, 80 Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) 71, 72, 73, 74 Proust, Marcel 52, 54, 71, 72, 73, 74, 80, 81, 87, 88 Proust (On Reading) 52
Q Qualifikationsschrift 68
R Railroad novels 15 Ransom, John Crowe 34 Reckwitz, Andreas 24, 25, 64, 65, 84, 88 Richards, I.A. 17, 34, 35, 85 Romantik (allg.; Künstlererzählung) 38, 47 Rousseau, Jean Jacques 60 Ruskin, John 52 Russel, Bertrand 40, 41, 42, 43, 44, 80, 86
S Schiller, Friedrich (Über die ästhetische Erziehung des Menschen) 12, 48 Schlaffer, Heinz 18, 19, 20, 64, 84 Searle, John 49 Semester, ›Nichtsemester‹ 23 Semester, virtuelles 23 Shakespeare, William 61, 63 Shakespeare, William (Macbeth) 16 Smartphone 11, 12, 14, 21, 27, 56, 71, 72, 73, 74, 81 Spengler, Oswald 60 Steiner, Georg 26 Stiftung Lesen 12 Strukturwandel 18 Symbolisches Kapital 12, 44, 57
T Technik/Technologie, digital 18, 22, 26, 72, 74 Technik/Technologie (technikgläubig) 8, 21, 25, 36, 37, 38, 66, 69 Technophobie 11, 22 Textgattung (Essay, Pamphlet, digitale) 17, 77 Theorie, kritische 38 Thoreau, Henry David 52, 87
U Universität (akademischer Elfenbeinturm) 64, 75 Universität, Amerikanisierung 59 Universität, Hochschullehrer 14, 23, 84 Universität, humanistisch 66
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Unterricht, digital/virtuell 23, 24, 29 Unterricht, plurimedial 23
V Verkulturwissenschaftlichung 42, 59 Verne, Jules 73 Visualität (visual turn) 20, 27, 36, 59
W Wellek, René 49 Wissen, nutzloses 40 Wissen, Vermittlung/Kommunikation 14, 42, 57, 75 Wissenschaft, Förderung (öffentlich) 79 Wissenschaft, Managerinnen 14, 24 Wissenschaft, Vermittlung 18, 78 Wissenschaft, Verwaltung 24 Wissenschaftspolitik 16
Y Yale University 78, 88
Z Zivilisation, christlich-abendländisch 21, 40, 41, 54
Literaturwissenschaft Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
Laboring Bodies and the Quantified Self October 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit August 2020, 432 S., kart., 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3
Claudia Öhlschläger (Hg.)
Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Juli 2020, 258 S., kart., 10 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4884-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4884-7
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 1 August 2020, 226 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-4944-4 E-Book: PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4944-8
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