Weihnachtsfilme lesen: Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre 9783839464243

Weihnachtsfilme Lesen lohnt sich! Denn ästhetisch stellen sie als transgenerisches Phänomen eine Besonderheit dar. Sie e

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German Pages 288 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung
Liebeskonzepte
Christmas uncovered. Liebesdispositive in Richard Curtis’ Love Actually
»All by myself«: Weihnachten mit Bridget Jones oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz
Vom Wunder der Liebe im populären Genre. Märchenhafte Ordnungen in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel
Nachbarvaterschaft. Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street
Familienordnungen
Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)
Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Weihnachtsgroteske Santa Claus (1959)
Die Setzung des Anderen. Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance
Inklusives Weihnachten inklusive. Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Geschlechternormen
Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten. Black Christmas (1974) und Silent night, deadly night (1984)
John McClane im Bade. Weihnachten mit Die Hard (1988)
Millenials allein zu Haus: Die Serie Über Weihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus
Queering the Christmas Effects: Subversionen von Weihnachten im deutschen Gegenwartsfilm
Wiederholung, Differenz, Exzess. Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life
Autor:innen
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Weihnachtsfilme lesen: Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre
 9783839464243

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Andrea Geier, Irina Gradinari, Irmtraud Hnilica (Hg.) Weihnachtsfilme lesen

Film

Andrea Geier (Prof. Dr.) ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Genderforschung an der Universität Trier. Irina Gradinari (Jun.-Prof. Dr.) lehrt Gender Studies am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen. Irmtraud Hnilica (Dr. phil.) lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft an der FernUniversität Hagen.

Andrea Geier, Irina Gradinari, Irmtraud Hnilica (Hg.)

Weihnachtsfilme lesen Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre

Diese Publikation wurde gefördert mit Mitteln der FernUniversität in Hagen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Justin Campbell / Unsplash Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464243 Print-ISBN 978-3-8376-6424-9 PDF-ISBN 978-3-8394-6424-3 Buchreihen-ISSN: 2702-9247 Buchreihen-eISSN: 2703-0466 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung Andrea Geier, Irina Gradinari und Irmtraud Hnilica ................................... 7

Liebeskonzepte Christmas uncovered. Liebesdispositive  in Richard Curtis’ Love Actually Claudia Liebrand ................................................................... 23

»All by myself«: Weihnachten mit Bridget Jones  oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz Annette Keck ...................................................................... 39

Vom Wunder der Liebe im populären Genre. Märchenhafte Ordnungen in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel Andrea Geier ....................................................................... 57

Nachbarvaterschaft. Das mythische Eigenheim  und Familienmodelle in Miracle on 34th Street Irmtraud Hnilica.................................................................... 77

Familienordnungen Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980) Thomas Wortmann ................................................................. 95

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Weihnachtsgroteske Santa Claus (1959) Nikolas Immer ..................................................................... 115

Die Setzung des Anderen. Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance Helen-Dominique Höstlund ......................................................... 131

Inklusives Weihnachten inklusive.  Eine kleine Weihnachtsgeschichte Michael Niehaus................................................................... 153

Geschlechternormen Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten.  Black Christmas (1974) und Silent night, deadly night (1984) Irina Gradinari .................................................................... 173

John McClane im Bade. Weihnachten mit Die Hard (1988) Sandra Beck ...................................................................... 195

Millenials allein zu Haus: Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus Simon Sahner ...................................................................... 217

Queering the Christmas Effects: Subversionen von Weihnachten im deutschen Gegenwartsfilm Peter Scheinpflug ................................................................. 235

Wiederholung, Differenz, Exzess. Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life Roxanne Phillips .................................................................. 257

Autor:innen .................................................................... 281

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung Andrea Geier, Irina Gradinari und Irmtraud Hnilica

Weihnachten, so wie wir es kennen, als zentrales Ritual der westlichen Kultur, ist ein junges Phänomen. Dass der Weihnachtsmann mit weißem Bart, dickem Bauch und roter Kleidung eine erst von Coca-Cola-Werbung der 1930er Jahre geprägte Erscheinung ist, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Dass aber die visuelle Repräsentation von Weihnachten im 19. Jahrhundert nicht nur ohne Santa Claus auskam, sondern eine ganz andere war, wissen die wenigsten. So verschickte man zwar schon im 19. Jahrhundert Weihnachtskarten, doch waren sie überwiegend mit floraler Motivik versehen. Auch Vögeln begegnete man mitunter, wie sich anhand des von Kenneth L. Ames herausgegebenen Bandes American Christmas Cards 1900-19601 nachvollziehen lässt, der auch einen Abschnitt zu Karten aus dem 19. Jahrhundert enthält. Schneelandschaften, Tannenbäume, aber auch Krippen finden sich hier nicht, allenfalls mitunter puttenartige Engel. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen sich allmählich die uns heute noch weihnachtstypisch erscheinenden Motive: verschneite Landschaften, Kutschen, Weihnachtsbäume, die zentrale Farbe Rot. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sind darüber hinaus Schiffe auf Weihnachtskarten ein beliebtes und häufig gewähltes Motiv, eine Bildtradition, die offenbar wieder verloren ging. Dass die visuelle Repräsentation von Weihnachten auch weiterhin dem Wandel unterworfen ist, zeigen in jüngerer Zeit die in den USA populären Darstellungen eines Santa of Color.2 In der Entstehungsphase des modernen Weihnachtens und seiner Ästhetik entwickelt sich auch der Weihnachtsfilm – und Ames thematisiert explizit Wechselwirkungen zwischen Hollywood und Postkartenästhetik. Bald ist es

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Ames, Kenneth L.: American Christmas Cards 1900-1960, Yale: University Press 2011. Etwa im Kinderbuch The Real Santa von Nancy Redd, aber auch auf Weihnachtskarten und Tassen.

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dann der Film, der unsere Vorstellung vom ›echten‹ Weihnachten ganz maßgeblich prägt, wie Mark Connelly im Oxford Handbook of Christmas schreibt: »›Real Christmas‹ is one of snow, frost, and cutting winds, which, ironically, is largely a cinematic construction.«3 Möchte man also verstehen, wie Weihnachten als kulturelles Ritual entstanden ist und welche (Sinn-)Formen dieses Festes zirkulieren, muss man sich Weihnachtsfilmen zuwenden. Weihnachten stellt ein grundlegend mediales Ritual dar, und wichtige soziale Strukturen werden über Medienprodukte (mit-)konstituiert, stabilisiert und konsolidiert. Den filmischen Konstruktionen von Weihnachten ist dieser Band gewidmet. Er beruht auf dem Workshop »Weihnachtsfilme lesen« (auf Twitter begleitet unter #WeihnachtsfilmeLesen), der im November 2021 an der FernUniversität in Hagen in hybrider Form stattfand, und einer digitalen Vortragsreihe während der Vorweihnachtszeit – eine Art akademische Variante des adventlichen Countdowns. Programmatisch haben wir dabei den zeitlichen Rahmen weit gefasst sowie die Diskussion des ›Genres‹ in den Mittelpunkt gestellt. Diese erstreckt sich auf filmische Inszenierungen und Reflexionen kulturellen Wissens über weihnachtliche Traditionen – im Sinne von narrativen und visuellen Wiederholungen und Variationen von Genrekonventionen, Verhandlungen von cultural performances eines ›Festes der Liebe‹ zwischen Krise und Erlösungsphantasma – sowie last but not least den transgenerischen Charakter des Weihnachtsfilms. Weihnachten als Motiv wurde im Film schon früher eingesetzt, z.B. in einer freien Verfilmung von Heidi (USA 1937, R: Allan Dwan); der Weihnachtsfilm entsteht jedoch symptomatisch während des Zweiten Weltkrieges – in einer Zeit also, in der in mehreren westlichen Ländern, vor allem bei den Kriegsparteien, der Bedarf an internem sozialen Zusammenhalt steigt. Holiday Inn (USA 1942) von Mark Sandrich ist ein frühes Beispiel – auch für die Verflechtung von Weihnachtsfilm und Musik, denn diesem Film verdanken wir den Weihnachtssong White Christmas, mit dem ein Idealbild von Weihnachten – der besinnliche Abend mit Schneefall – initiiert wurde, das wiederum White Christmas (USA 1954, R: Michael Curtiz) filmisch umsetzt. Dieser Film verhandelt zudem jene Kraft schenkende Verbindung zwischen

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Connelly, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larsen (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: University Press 2020, S. 411-420, hier S. 417. Vgl. auch Connely, Mark (Hg.), Christmas at the Movies. Images of Christmas in American, British and European Cinema, London/New York: IB Tauris 2000.

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung

der Front und der Heimat, die durch Weihnachten möglich wird. Auch Frank Capras Nachkriegsklassiker It’s a Wonderful Life (USA) von 1946 macht dies, wenn auch eher am Rande, zum Thema. Ganz fokussiert auf die Heimat erscheint ein anderer Klassiker der unmittelbaren Nachkriegszeit, George Seatons Miracle on 34th Street (USA) von 1947, der jedoch indirekt auf den vergangenen Krieg verweist und somit die Notwendigkeit, Familie neu zu denken vor Augen führt. Der Weihnachtsfilm ist somit durchaus politischen Ursprungs, übernimmt er doch die wichtige soziale Aufgabe, mit dem Heim und der Familie eine in Krisenzeiten besonders gefragte gesellschaftliche Stützstruktur zu installieren. Diese wird durch die christliche Symbolik des Neuanfangs in einen neuen Gründungsmythos umgeschrieben. Der Weihnachtsfilm ist also als Genre der sozialen Konsolidierung zu verstehen, das wie kein anderes an Normen der westlichen Gesellschaft arbeitet. Normen und Werte wie Heim, Familie und heterosexuelle Paarbeziehung werden im Weihnachtsfilm aber nicht nur gesetzt und bestätigt, sondern auch verhandelt und – besonders markant im Weihnachtshorror – auf ihre dunklen Kehrseiten hin ausgeleuchtet. So müssen Weihnachtsfilme sowohl ästhetisch als auch in ihrer sozialen Funktion gedacht werden, die sich mit dem gesellschaftlichen Wandel ändert. Das macht sie so produktiv für kulturwissenschaftliche Untersuchungen. In Weihnachtsfilmen sind aktuelle Bedürfnisse der Gemeinschaftsbildung sowie Subjektivierungsprozesse auffindbar, deren Legitimationsmechanismen sowie auch (ideologische) Wirkung(sabsichten). In diesem Band werden sie in ihrer historischen Bandbreite und aus komparatistischer Perspektive in den Blick genommen. Analysiert werden Weihnachtsfilme aus der Nachkriegszeit – It’s a Wonderful Life, Miracle on 34th Street – über René Cardonas Santa Claus (MEX 1959), Filme der 1970er, 1980er und 1990er Jahre – Black Christmas (CAN 1974, R: Bob Clark), Silent Night, Deadly Night (USA 1984, R: Charles E. Sellier, Jr.), Die Hard (USA 1988, R: John McTiernan) und Eine kleine Weihnachtsgeschichte (SWE 1999, R: Asa Sjöström/Mari Marten-Bias Wahlgren) –, aber auch Filme, die um die Jahrtausendwende erschienen sind – Love actually (UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis) und Bridget Jones (UK 2001, R: Sharon Maguire) – bis hin zum Netflixereignis ÜberWeihnachten (D 2020, R: Tobias Baumann). Weihnachten, so zeigt sich dabei, kann in den unterschiedlichsten Genres, etwa im Liebesfilm, der Groteske, im Horror-, Trick-, Märchen- und Kinderfilm – die Liste ist sicher nicht vollständig – realisiert werden.

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Andrea Geier, Irina Gradinari und Irmtraud Hnilica

Weihnachtsfilme sehen sich in besonderer Weise einem Trivialitäts- und Kitschverdacht ausgesetzt. Zu Unrecht, wie die Weihnachtsfilmforschung bereits festgestellt hat. Scheinbar einfach und naiv gestrickt, sind diese Filme ein transgenerisches und hybrides Phänomen,4 eine Art Genre-Passage,5 die über die Genrelogik und -traditionen selbst nachdenken lässt. Weihnachtsfilme machen dadurch auf vielfältige Weise die kulturelle Bedeutung von Weihnachten sichtbar. Diese erstreckt sich auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche, deren Thematisierung die Genrevielfalt erfordert. Weihnachten wird dabei von ganz unterschiedlichen, manchmal unerwarteten Blickwinkeln ausgeleuchtet. Weihnachtsfilme haben zudem, so John Mundy, die in der lebensweltlichen Erfahrung der Weihnachtszeit enthaltenen Ambiguitäten immer schon anerkannt: »Christmas movies have always acknowledged the ambiguities enshrined in our experience of the festive season.«6 Trotzdem wecken die emotionalisierenden Angebote vieler Weihnachtsfilme den Argwohn, dass mit der rührselig-nostalgischen Stimmung und dem Kitsch ideologisch problematische Angebote, insbesondere hinsichtlich Gesellschafts- und Familienordnungen sowie Liebesbeziehungen, vermittelt werden. Daher gilt es, die unterschiedlichen Formen, wie für das avisierte Publikum ein Wohlfühlen mit kultureller Tradition inszeniert wird, genau in den Blick zu nehmen. Neben klaren ideologiekritischen Zugriffen erweist es sich als besonders produktiv, die spielerischen Formen der Arbeit im Genre mit und auch durchaus gegen Genrekonventionen zu fokussieren. An populären Genres wie dem Weihnachtsfilm lässt sich beobachten, wie ein Wissensrepertoire und dessen Darstellungskonventionen tradiert und beständig weiterentwickelt, damit in veränderten gesellschaftlichen Resonanzräumen erzählbar gehalten und an verschiedenen Publika und deren

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Vgl. Liebrand, Claudia/Steiner, Ines (Hg.), Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg: Schüren 2004; Liebrand, Claudia: Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywood-Filmen der Jahrhundertwende, Köln: DuMont 2003; Ritzer, Ivo/Schulze, Peter W. (Hg.), Genre hybridisation. Global cinematic flows, Marburg: Schüren 2013. Dazu Ritzer, Ivo/Schulze, Peter W.: »Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven«, in: dies. (Hg.), Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 1-40. Mundy, John: »Christmas and the Movies: Frames of Mind«, in: Sheila Whiteley (Hg.), Christmas, Ideology and Popular Culture, Edinburgh: University Press 2008, S. 164-176, hier S. 165.

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung

Erwartungen ausgerichtet werden – in einer internationalen Unterhaltungsindustrie, die zugleich nationale Märkte weiterhin im Blick hat. Ebenso wichtig wie die Verführungskraft kultureller Bilder im Modus der Wiederholung zu reflektieren ist es, ein Sensorium dafür zu entwickeln, dass in populären Genres gerade im Rahmen von grundsätzlicher Erwartungserfüllung – das ›Happy End‹ – Freiräume entstehen für die Darstellung von Ambivalenzen, für Krisen, die keineswegs immer durch ›Weihnachten‹ gelöst werden, bis hin zur selbstreflexiv-ironischen Ausstellung des performativen Charakters weihnachtlicher Rituale – inklusive des Massenkonsums, zu dem auch der Weihnachtsfilm selbst gehört. Dass Film ein Traditionsbewusstsein besitzt, das Be- und Umspielen nicht nur erlaubt, sondern das Erzählen im Genre allererst attraktiv macht, bedeutet, dass Stabilisierung von Normen und Inszenierung von Ambivalenzen, Öffnungen und Brüchen in vielfacher Weise zusammenspielen, statt einen klaren Kontrast zu bilden.7 Nach wie vor bleibt die Frage offen, wie die Filme die Zuschauenden affizieren und die Popularität von Weihnachten vor allem als emotionales Fest der Liebe aufrechterhalten, ja Weihnachten mit (positiven) Gefühlen aufladen und die Zuschauenden auf eine weihnachtliche Atmosphäre einstimmen. Weihnachtsfilme sind also, das zeigen alle Beiträge des Bandes im Rahmen ihrer unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte, grundsätzlich keine simplen Repräsentationen der Wirklichkeit, sondern Bestandteile unseres Wissens- und Wahrnehmungssystems, in dem Weihnachten mit Begehren und Ängsten, aktuellen Diskursen und politischen Imaginationen sowie Vorstellungen vom ›guten Leben‹ und Gerechtigkeit verwoben wird. Weihnachtsfilme konstituieren beispielsweise Familie als zentralen Topos, an dem Subjektivierungsprozesse und Gemeinschaftsbildung immer wieder aufs Neue performativ ausgehandelt und zusammen gebündelt werden können. Das in-

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Zahlreiche Studien zur Genreforschung weisen auf die Komplexität der Genrelogik hin, darunter vor allem Neale, Steve: Genre, London: British Film Institute 1980; Neale, Steve: »Questions of Genre«, in: Screen 31/1 (Spring 1990), S. 45-66; Neale, Steve: Genre and Hollywood, London: Routledge 2000; Moine, Raphaёlle: Cinema Genre, Malden, MA/ Oxford/Carlton: Blackwell Publishing 2008; Ritzer, Ivo/Schulze, Peter W. (Hg.), Mediale Dispositive, Wiesbaden: Springer VS 2018; Stiglegger, Marcus (Hg.), Handbuch Filmgenre. Geschichte – Ästhetik – Theorie, Wiesbaden: Springer VS 2020. Grundsätzlich auch Derrida, Jacques: »Das Gesetz der Gattung«, in: ders.: Gestade, Wien: Passagen 1994, S. 245-283.

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takte Heim wird zum nicht immer für jede*n erreichbaren Sehnsuchtsort.8 Filmische Verhandlungen von Familienordnungen, Ehe- und Partnerschaftsformen sowie Generationen(dis)kontinuitäten öffnen dabei Handlungs- und Begehrensräume, stellen also zugleich Modelle dar, mit denen gesellschaftliche Normen auf die Probe gestellt und Krisen thematisiert werden können. Metonymisch kann die Familie auch für den Staat einstehen, wobei das Verhältnis zwischen Familie und Staat, zwischen Individuum und Kollektiv zum Gegenstand kritischer Verhandlung wird. In diesem Zusammenhang fragt vor allem eine genderorientierte Perspektive danach, welche Subjekte wie in die Gemeinschaft integriert werden, auf welche Weise sich Gesellschaft stabilisieren kann. So hängt die Genrezuordnung oft mit der geschlechtsspezifischen Perspektivierung von Weihnachten zusammen, was deutlich macht, dass damit verhandelte kulturelle Begehrensformen ebenfalls geschlechtsspezifisch codiert sind. Waren unsere Tagung und Vortragsreihe #WeihnachtsfilmeLesen allgemein auf die Produktion von Gender, Class und Race/Ethnicity gerichtet, kristallisierten sich für den Band drei Schwerpunktsetzungen heraus, die auf diesen Kategorisierungen sowie deren intersektionalen Verknüpfungen aufruhen: Liebeskonzepte, Familienordnungen und Geschlechternormen. In diesem Zusammenhang gilt es, das konstitutive Verhältnis von Genre und Gender neu zu denken,9 nicht allein als Wechselwirkung von filmischen Strukturen, sondern in Bezug auf deren performative Kraft, über die Ästhetik soziale Effekte hervorzurufen. So wird durch die Konsolidierung der Gemeinschaft, also die Inszenierung der Versöhnung, Gründung und/oder Vereinigung im

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Für das Genre Melodrama ist das Heim ein zentraler Topos, auch der Weihnachtsfilm weist melodramatische Strukturen auf. Vgl. dazu Gledhill, Christine (Hg.), Home Is Where the Heart Is: Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: British Film Institute 1987. Liebrand, Claudia/Steiner, Ines (Hg.), Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg: Schüren 2004; Bernold, Monika/Braidt, Andrea B./Preschl, Claudia (Hg.), Screenwise. Film – Fernsehen – Feminismus, Marburg: Schüren 2004; Ritzer, Ivo/Schulze, Peter W. (Hg), Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 10 (2016): Genre und Gender, https://filmwissenschaftumsonst.wordpress.com/ 2017/09/04/rabbit-eye-102016-genre-und-gender/; Überblick in Gradinari, Irina: »Genre und Gender«, in: Stiglegger, Marcus (Hg.), Handbuch Filmgenre: Geschichte – Ästhetik – Theorie, Wiesbaden: Springer VS 2020, S. 171-198, https://doi.org/10.1007/978-3-6 58-09631-1_8.

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung

Weihnachtsfilm, auch das Publikum vor dem Fernseher versammelt und emotional vereinigt. Der Weihnachtsfilm ist also als soziales Ritual zu verstehen, das seine affektive Kraft im kollektiven Imaginären entfaltet und eben auf eine durchaus schematisierte Wiederholung von Genreelementen und Gendertopoi angewiesen ist, um in der Wiedererkennung zu funktionieren und jedes Jahr vergleichbare Emotionen abzurufen. In diesem Zusammenhang produzieren Liebeskonzepte, Familienordnungen und Geschlechternormen Konsolidierungsenergien und Begehren, sie sind also genre- und genderspezifische Konfigurationen der performativ vereinigenden Kraft. In einer ersten dieser Verknüpfungen stehen Liebeskonzepte und Paarbildungen im Vordergrund, oft zentriert auf eine Frauenfigur und auf Fragen nach einer ›weiblichen Identität‹. Die zumeist heterosexuelle Paarbildung verbindet sich in vielen Dimensionen mit geschlechtsspezifischen Ordnungsmustern, etwa der Konstitution eines ›Heims‹, obwohl die Filme die Liminalität des Übergangs favorisieren. Die Familie erscheint hier öfters als künftige, nicht immer wirklich eingelöste Option; familiale Initiation wird zum Thema und so werden Paarbildungen prozessiert. In diesem Zusammenhang wird Gemeinschaftsbildung auf einer Mikroebene angesiedelt, d.h. auf die Frage der individuellen Handlungen und Strategien verengt. Die Liebe wird als Initiationskraft – nicht immer nur in ihrer heteronormativen Begehrensform – verhandelt. Auch wenn durch das Motiv Liebe einerseits der Eindruck erweckt wird, dass die Handlung ›natürlich‹ voranschreitet, kann sie andererseits die institutionellen Bedingungen des sozialen Wandels kaum verdecken. Auch in einer mikropolitischen Inszenierung fordert die Liebe daher eine Veränderung eines gesellschaftlichen Zustandes. Unter welchen Bedingungen können Menschen zueinanderkommen? Welche Machtstrukturen – auch in Bezug auf ökonomische Verhältnisse – werden dabei verhandelt? Was bedeutet Liebe überhaupt und was sind gesellschaftliche Harmonisierungs- und Legitimierungsstrategien? Zentral

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für diese Fragen sind Genres wie Melodramen,10 Romantische Komödie und Musicals – die Genres der großen Emotionen11 und des Spektakels.12 Dabei lassen sich auch in oft als plakativ bewerteten Inszenierungen heteronormativen Liebesglücks in der RomCom reflexive und ironische Formen des Umgangs mit kulturellem Wissen um das Empfinden und Zeigen von Liebe und Begehren finden, wie Claudia Liebrands Lektüre von Richard Curtis’ Love Actually zeigt. Sie liest den Film als ein Rühr- und Metarührstück zugleich, das Liebesdispositive als medial, nämlich intertextuell und intermedial geformt, vorführt, das Grenzen zwischen Hetero- und Homosozialität in Bewegung versetzt und Rituale in Bezug auf Weihnachten wie auch Erwartungen einer bürgerlichen Liebesideologie in ihrem performativen Charakter vor Augen stellt. In ihrem Beitrag zu Bridget Jones’s Diary zeigt Annette Keck auf, wie Weihnachten und Familie einander bedingen. Eine »weihnachtliche Metaphysik der familiären Substanz« treibt jene Familie, die dem Weihnachtsfest vorausgesetzt erscheint, tatsächlich erst hervor. In Bridget Jones’s Diary wird nun, wie Keck argumentiert, das weihnachtliche Warten auf die Ankunft des Erlösers mit Bridget Jones’ Hoffnung auf die große Liebe verknüpft. Der Film beginnt im Zeichen der Krise, wird die Protagonistin doch gerade an Weihnachten – auch durch ihre taktlos-übergriffige Familie – mit ihrem problematischen Singlestatus konfrontiert. Dass aber gerade Familie, als deren Keimzelle die neue Paarbeziehung gelten kann, stets neue Krisen hervorbringt, macht die Erlösung durch Liebe zur paradoxen Hoffnung. Das Happy End in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (ČSSR, DDR 1973, R: Václav Vorlíček) erscheint dagegen zwar als eindeutiger Schluss, aber

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Diese Genres sind transmediale und transgenerische Phänomene, vgl. Hettich, Katja: »Romance als Genreerfahrung: Musical moments in Stranger than Fiction (2006), Before Sunrise (1995) und Alle anderen (2009)«, in: Ivo Ritzer/Peter W. Schulze (Hg.), Mediale Dispositive, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 211-230; aus der Genderforschungsperspektive vgl. Braidt, Andrea B.: Film-Genus. Genre und Gender in der Filmwahrnehmung, Marburg: Schüren 2008 und Gledhill, Christine: »Rethinking Genres«, in: dies./ Linda Williams (Hg.), Reinventing Film Studies, London: Hodder Education Group 2000, S. 221-243. Z.B. Brütsch, Matthias et al. (Hg.), Kinogefühle: Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2009. Röttger, Kati: »Technologien des Spektakels«, in: Ivo Ritzer/Peter W. Schulze (Hg.), Transmediale Genre-Passagen, S. 43-71.

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung

auf dem Weg dahin rücken im Vergleich mit der Erzähltradition die Prinzessinnenhaftigkeit des Aschenbrödels und die Partnertauglichkeit des Prinzen auf neue Weise in den Blick. Ausgehend von der Frage, in welcher Weise es sich eigentlich um einen Weihnachtsfilm handelt, erläutert Andrea Geier geschlechter- und klassenspezifische Aspekte der inszenierten Familien-, Paar- und Liebes-Ordnung und stellt sie in den weiteren Rahmen von Überlegungen zum (›emanzipativen‹) Erzählen im Genre. Mit einem der ersten Weihnachtsfilme überhaupt, Miracle on 34th Street, beschäftigt sich der Beitrag von Irmtraud Hnilica. Dabei nimmt sie neben dem Film von 1947 auch das Remake (USA, R: Les Mayfield) aus dem Jahr 1994 in den Blick. Beide Filmfassungen setzen sich, wie Hnilica zeigt, mit den traditionellen amerikanischen Werten home und family auseinander. Dabei werden diese nicht einfach bedient, sondern von den Filmen vielmehr analysiert, variiert und in ihrer Fragilität sichtbar gemacht. Für die Verhandlung von Familienordnungen wird im Weihnachtsfilm häufig eine kindliche Perspektive entfaltet, aus der die Familie als bereits bestehende erscheint, wenn auch in oftmals problematischer, dysfunktionaler Form. In diesem Zusammenhang wird Familie mehr oder weniger als (staatliche) Organisationsstruktur sichtbar: Denn mit Familienordnungen werden Fragen nach Familienformen und generationaler Kontinuität, nach der (Selbst-)Reproduktion und dem Weiterbestehen einer Gemeinschaft zentral. Auch die institutionellen, aber durchaus auch individuell gestalteten Existenzbedingungen der Familie rücken in den Vordergrund. Hier wird insbesondere sozialer Zusammenhalt problematisiert und so auch als Begehrensform inszeniert, öfters aber als ›naiver‹ Blick getarnt13 und daher scheinbar entpolitisiert. Gerade diese Allegorisierung der Familie als Staatsgemeinschaft sprengt zugleich den Kinderfilm als Genre,14 als das diese Weihnachtsfilme zunächst erscheinen. Der ›naive‹ Blick fungiert so

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Zur Konzeption des ›naiven‹ Blicks vgl. Gradinari, Irina: »Der ›naive‹ Blick auf die unvergängliche Heimat: Heidi (A 1965, R: Werner Jacobs)«, in: Linda Leskau/Sigrid Nieberle (Hg.), Das Wiedersehen mit Heidi. Polyperspektivische Lektüren der Heidi-Romane Johanna Spyris, Bielefeld: transcript 2022 (= Diversity in Culture, Bd. 1) (in Vorbereitung). Kuhn, Annette: »Cinematic Experience, Film Space, and the Child’s World«, in: Canadian Journal of Film Studies, Vol. 19, No. 2 (Fall 2010), S. 82-98; Henzler, Bettina/Pauleit, Winfried (Hg.), Kino und Kindheit. Figur – Perspektive – Regie, Berlin: Bertz + Fischer 2017.

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oft als Verfremdungsstrategie auf bestehende Strukturen, die es nun zu hinterfragen gilt. So wird die Gemeinschaftsorganisation anhand der Familienstrukturen einer Revision ausgesetzt, wie Thomas Wortmanns Lektüre von Der kleine Lord (GB 1980, R: Jack Gold), dem Weihnachtsfilmklassiker schlechthin, zeigt. Seine Interpretation geht den familiären Versehrungen nach, um die der Film kreist, und arbeitet die schier übermenschlich erscheinende Güte des kleinen Lords Cedric heraus. Sie ist zwar der Schlüssel zur schließlichen Versöhnung des die Familien spaltenden Gegensatzes zwischen Liebe und Besitz, in seiner radikalen Güte erscheint der kleine Lord jedoch, wie Wortmann darstellt, als durchaus unheimlicher »Despot des Guten«. Auch im Beitrag von Nikolas Immer steht am Beispiel der mexikanischen Weihnachtsgroteske Santa Claus Familie als Problemfeld im Zentrum. Diese wird in Bezug auf die Klassenfrage verhandelt, die zugleich mit der geschlechtsspezifischen Perspektive verknüpft ist: Ein Junge wächst in einer reichen Familie auf, ein Mädchen in einer armen, wodurch unterschiedliche Familienordnungen problematisiert werden. Wirtschaftliche Absicherung garantiert jedoch keine familiäre Stabilität, Armut bedeutet ebenfalls keinen Untergang der Familie. An die christliche Symbolik angeschlossen erscheint die Familie als eine ökonomisch und politisch unabhängige, ja göttlich versicherte Instanz, deren Stabilität Weihnachten möglich macht, was Immer als Belohnungsideologie analysiert. Mit ihrer Analyse der Weihnachtsgeschichte (D 2017, R: Klaus Marschall/Fred Steinbach) der Augsburger Puppenkiste fragt Helen-Dominique Höstlund nach der Aktualität des Puppenspielfilms. Höstlund zeigt, wie vor der Folie der Weihnachtsgeschichte aktuelle Migrationsbewegungen aufgegriffen werden. Höstlunds Überlegungen, dass die Weihnachtsgeschichte Parallelen zu gegenwärtigen Fluchtgeschichten hat, weisen über den Film der Augsburger Puppenkiste hinaus auf die rituell in Kirchen aufgeführten Krippenspiele. Hier wie dort ist bei allem guten Willen kritisch nach problematischen ›Setzungen des Anderen‹ (Othering) zu fragen. So wird die (Heilige) Familie mit aktuellen, intersektionellen Gemeinschaftsvorstellungen angereichert. Mit der Herstellung von Gemeinschaft im ›affirmativen‹, d.h. auf Weihnachten einstimmenden Weihnachtsfilm befasst sich Michael Niehaus am Beispiel von En liten Julsaga/Eine kleine Weihnachtsgeschichte. Der schwedische Film inszeniert das für das Weihnachtsfest zentrale Motiv der Zugehörigkeit, in dem sich elterliche Fürsorge im Privaten und im staatlichen

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung

Handeln gewissermaßen ineinander abbilden, über die Reise eines Teddybärs durch die Hände von Menschen verschiedener Klassen, Alter und Herkünfte. Niehaus zeigt, welche Bilder von Institutionen wie Familienordnungen in der Produktion dieses ›sozialen Bandes‹ entstehen. Unter dem Fokus Geschlechternormen werden Filme subsumiert, die Geschlechternormen verhandeln, wobei insbesondere Fragen nach Männlichkeit(en) in den Vordergrund rücken. Diese Filme – vorwiegend Action, Horror und Krimis – legen Schwerpunkte auf Diskontinuitäten und Störungen, verhandeln Familie in Bezug auf Makrostrukturen, können auch mit dem Tod verbunden sein. Sie gehen den Fragen nach, wieso die vereinigende Kraft der Liebe durch andere (sozialpolitische) Ordnungen oder Veränderungen und somit auch bestehende (Familien-)Normen geschwächt werden kann und wie diese Kraft zu verteidigen ist. Sind die Weihnachtsfilme mit Fokus auf ›weibliche Identität‹ auf eine Initiation und Aktualisierung ausgerichtet, erzielen die Filme, die Männlichkeitskonstruktionen inszenieren, häufig eine Wiederherstellung der Ordnung, sie trotzen also ein Stück dem sozialen Wandel und arbeiten an der Reparatur. Über Männlichkeiten wird Weihnachten daher mit den Themen Macht und Gewalt verknüpft, die im Kino traditionell mit männlichen Subjekten inszeniert werden. Interessanterweise verhandeln auch diese Filme Harmonisierungs- und Legitimierungsstrategien, allerdings getarnt hinter ›großen‹ Themen. Ebenfalls wird Weihnachten zum Spektakel, diesmal durch die Kampfchoreografien,15 wobei das Scheitern oder die Uneinholbarkeit der mit Weihnachten verbundenen Harmoniephantasmen hier häufiger thematisiert wird. So zeigt Irina Gradinari, dass mit Weihnachten auch die Zerstörung der Familie als gewaltsam erfahren werden kann. Im Horrorgenre problematisieren Weihnachtsfilme auf eine radikale Weise die Unmöglichkeit (männlicher) Subjektivität, wenn keine Familie zustande kommt. Vor dem Hintergrund der Heiligen Familie spielen Black Christmas und Silent Night, Deadly Night Szenarien der unvollständigen Familie durch, deren Perspektivierung vor allem mit der geschlechtsspezifischen Konfiguration zusammenhängt. Grundsätzlich greifen Weihnachtshorrorfilme mit den Themen Familie, Sub-

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Nach wie vor aktuell ist Neale, Steve (1983): »Masculinity as Spectacle. Reflections on men and mainstream cinema«, in: Steve Cohan/Ina Rae Hark (Hg.), Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema, London/New York: Routledge 1993, S. 9-20.

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Andrea Geier, Irina Gradinari und Irmtraud Hnilica

jektivierung und Weihnachtsrituale, so Gradinari, kulturelle Sinnstiftungsprozesse an. Auch bei Sandra Beck steht eine versehrte Familie im Zentrum, die über die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und daher nur mit großer Gewalt wieder zusammengefügt werden kann. Die Hard konfiguriert den Weihnachtsfilm im Action-Buddy-Genre, so werden Elemente dieses Genres zugleich für die Verhandlung der Familienordnung umcodiert. In diesem Zusammenhang erscheint die Familie als ›Schlachtfeld‹ internationaler ökonomischer Interessen und Männlichkeiten als fragile, emotionale und traumatisierte Konstruktionen, welche mit Hilfe der Wiederherstellung der Familie – wenn auch erneut mit Gewalt – ›geheilt‹ werden. Simon Sahner widmet sich in seinem Beitrag der Netflix-Miniserie ÜberWeihnachten aus dem Jahr 2020. Der von Luke Mockridge – er spielt auch die Hauptrolle Bastian – produzierte Dreiteiler lässt sich, wie Sahner zeigt, filmsoziologisch als Auseinandersetzung mit für Millenials typischen Formen, die Feiertage zu verbringen, lesen. Die im Frühjahr 2021 vor allen Dingen von Mockridges Ex-Partnerin Ines Anioli formulierten Vorwürfe der sexualisierten Übergriffigkeit erweitern den Rezeptionskontext der Serie und werfen analytisch neue Fragen auf, gerade weil die Filmfigur Bastian eng an Mockridges Starpersona angelehnt wirkt. Peter Scheinpflug fragt in seiner Bestandsaufnahme des deutschen Gegenwartsfilms nach Möglichkeiten, die patriarchale und heteronormative Logik von Weihnachten zu ›queeren‹. Diese Filme stellen sich gegen das gemeinschaftliche Konsolidierungsbegehren, zumindest unter dem Vorzeichen der bestehenden Heteronormativität. Als ergiebig erweist sich dabei weniger der Kino- als der Fernsehfilm, und in mehreren Einzellektüren arbeitet Scheinpflug verschiedene subversive Potenziale in der Darstellung von sexual identity in weihnachtlichen Settings heraus – mit unterschiedlichen Figuren und Themen, darunter einem Weihnachtsmann in drag, Sex-Orgien, sexualisierter Gewalt gegen Kinder, rezeptionslenkenden Spuren, die auch in die Irre führen können, und Reflexionen auf Eltern-Kind-Beziehungen. Im Beitrag von Roxanne Phillips stehen erneut Dysfunktionen des Heimischen und daher der Gesellschaft im Fokus. Am Beispiel des HollywoodKlassikers, des Melodramas It’s a Wonderful Life, und der Horror-Komödie Gremlins (USA 1984, R: Joe Dante), die auf Capras Film rekurriert, zeigt Phillips, wie die Themen der Ökonomie und der Staatsinstitutionen auf Männlichkeiten zentriert und darüber hinaus wegen Weihnachten auch an die Familienkonstitution angeschlossen werden. Über die Konstituierung der Fa-

Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung

milie wird das Politische als affektives (melodramatisches) Gefüge deutlich, wobei Phillips auch intertextuelle Referenzen zwischen beiden Filmen sowie ein darin reflektiertes Begehren nach Abenteuer selbst untersucht, das kinematografisch (als männliches) produziert und in diesem Falle als Phantasma aufgedeckt wird. *** Bei der Vorbereitung des Bandes hat uns Anna Spener sehr geholfen. Ihr gilt unser besonderer Dank. Der Workshop »Weihnachtsfilme lesen« fand in Kooperation zwischen dem Centrum für Postcolonial und Gender Studies der Universität Trier (CePoG) und der interdisziplinären Forschungsgruppe »Gender Politics« der FernUniversität in Hagen am 19. und 20.11.2021 in Hagen statt. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde für Studierende beider Universitäten und andere Interessierte auch eine öffentliche Online-Vortragsreihe vom 30.11.2021 bis zum 14.12.2021 angeboten. Für die große Unterstützung bei der Organisation des Workshops bedanken wir uns bei der wissenschaftlichen Koordinatorin der »Gender Politics«, Carolin Rolf. Unser Dank gilt auch Silvana Schmidt, die uns während des Workshops tatkräftig unterstützt hat.

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Liebeskonzepte

Christmas uncovered. Liebesdispositive  in Richard Curtis’ Love Actually Claudia Liebrand

Schaut man sich in den sozialen Netzwerken oder in den Online-Zeitungen um und verfolgt die Debatte um Weihnachtsfilme (die regelmäßig gegen Ende des Jahres geführt wird), kommt Love Actually (UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis; dt.: Tatsächlich Liebe) eher nicht gut weg.1 Der Film sei schlecht gealtert, heißt es. Er präsentiere Frauenfiguren als Hausfrauen, Haushälterinnen oder Sekretärinnen; der Handlungsstrang, der auf Colin bezogen sei, den britischen selbsternannten Sex-Gott (der als frustrierter Single in London lebt und nur nach Amerika fliegen muss, damit sich ihm die attraktivsten und heißesten Frauen gleich scharenweise und in Gruppensexorgien hingeben), sei degoutant; im Lichte der #MeToo-Debatte erscheine als völlig inakzeptabel, dass sich das vom amerikanischen Präsidenten (gespielt von Billy Bob Thornton) sexuell belästigte Opfer Natalie beim britischen Prime Minister (gegeben von Hugh Grant) für das Geschehene entschuldigt. Der Film setze auf Heteronormativität, es werde keine schwule Liebesbeziehung dargestellt. Und der Film komme nicht ohne Misogynie aus. Die beiden Frauen, die nicht mehr zwanzig seien, würden im Regen stehen gelassen: Emma Thompson als düpierte Ehefrau, deren Mann sich in seine Sekretärin verguckt habe, und Laura Linney, die Grafikdesignerin, die sich um ihren an einer psychischen Krankheit leidenden internierten Bruder kümmere (letzterer geht der Mann ihrer Träume – mit einem Adoniskörper wie aus der Unterhosenwerbung –, der schon auf ihrer Bettkante sitzt, noch stiften). Für mittelalte Frauen sehe diese RomCom kein Liebesglück vor.

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Vgl. z.B. Froitzheim, Mareike: »›Tatsächlich Liebe‹ nervt. Und ich gucke den Film trotzdem jedes Jahr«, in: Die Welt vom 20.12.2022, https://www.welt.de/icon/partners chaft/article222791486/Tatsaechlich-Liebe-nervt-Und-ich-gucke-den-Film-trotzdem-je des-Jahr.html (zuletzt aufgerufen am 22.06.2022).

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Viele von den genannten Kritikpunkten haben einige Berechtigung. Der politisch korrekte Blick auf den Film verführt aber zu Reduktionismus. Mir geht es im Folgenden darum, die Verhandlungen um das Sujet »Liebe«, die auf durchaus komplexe Weise in den Film eingeschrieben sind, nachzuzeichnen. Manche von den Vorwürfen wird das entkräften, manche Konfigurationen zeigen sich in anderem Licht.

Liebe ist Mimikry, Liebe ist Wiederholung Love Actually ist ein Film, der neun Handlungsstränge miteinander verknüpft. In einem dieser Handlungsstränge fungiert als Protagonist der kleine, 11jährige Sam, dessen Mutter gerade gestorben ist (wir wohnen der Beerdigungsfeier bei). Sam ist verliebt, in Joanna, »the coolest girl in school« – bislang hat Joanna aber keine Notiz von ihm genommen. Seinem Stiefvater Daniel, der sich Sorgen um ihn macht, erzählt Sam von der Sache. Sam: Okay. Well, the truth is… actually… I’m in love. Daniel: Sorry? Sam: I know I should be thinking about Mum all the time, and I am. But the truth is, I’m in love and I was before she died, and there’s nothing I can do about it. Daniel: [laughs] Aren’t you a bit young to be in love? Sam: No. Daniel: Oh, well, okay… right. Well, I mean, I’m a little relieved. Sam: Why? Daniel: Well, because I thought it would be something worse. Sam: [incredulous] Worse than the total agony of being in love? Daniel: Oh. No, you’re right. Yeah, total agony. Den Film hindurch verfolgen wir Sams Liebesprojekt. Werden die Liebesqualen zu groß, gibt der Stiefvater die Losung aus: »We need Kate, and we need Leo. And we need them now. Come on.« Beide schauen Titanic (USA 1997) und spielen die Szene nach, in der James Camerons Liebespaar mit ausgebreiteten Armen – sie setzen zum gemeinsamen Liebesflug an – zu Galionsfiguren des Ozeandampfers werden. Sam weiß, dass es die eine große Liebe im Leben gibt, weil das für ihn klassische Muster, Camerons Blockbuster, ihm das vorführt (jedenfalls ist das seine Rezeption des Films). Rose und Jack sind für ihn Romeo und Juliet, das

Christmas uncovered. Liebesdispositive in Richard Curtis’ Love Actually

Abbildung 1: My Heart Will Go On.

Love Actually (2003)

Liebespaar aller Liebespaare. Auch wenn er von den unsäglichen Qualen der Liebe spricht (the total agony of being in love), ruft er ein kulturelles Muster auf, das für den Liebesdiskurs bezeichnend ist – und für das in der abendländischen Literatur Petrarcas ›Urszene‹ am Karfreitag des Jahres 1327 als Paradigma gilt. Petrarca sieht ›seine‹ Laura in der Kirche, wird vom Liebespfeil durchbohrt. Diese Verletzung markiert den Beginn seiner Passion (hier lässt sich durchaus an die Passion des Gottessohnes denken). In seiner Liebe zu Joanna ist Sam also auf das kulturelle Repertoire – auf Petrarca und Laura, Romeo und Juliet, Kate und Leo – bezogen, das die Vorgaben bereitstellt, die nachgeahmt werden können und müssen, für jeden, der liebt. Er ist aber nicht nur in einer kulturellen Matrix gefangen, sondern auch in einer familialen. Für diese familiale Matrix hat Sigmund Freud bekanntlich das Beschreibungsmodell zur Verfügung gestellt: Freud konstatiert, dass das erste Liebesobjekt des Kindes die Mutter sei, diese sei die erste Person, auf die sich das Kind libidinös beziehe. Sam nun hat seine Mutter, Joanna, verloren – und sich verliebt, in ein Mädchen namens Joanna. Der kleine Junge reflektiert über die Namensgleichheit: Daniel: And her name’s Joanna? Sam: Yeah, I know, just like Mum. Spooky. Daniel: Well, in one way then, we’re in luck. At least we still have the godlike genius of Scott Walker.

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»Spooky« ist die Namensgleichheit tatsächlich, genauer: Sie ist uncanny, weil sie auf den Substitutscharakter und den Wiederholungszwang, der der Liebe inhärent ist, verweist. Joanna ist ironischerweise gerade nicht die Einzige, die Eine. Joanna ruft das erste Liebesobjekt Sams wieder auf, die Mutter. Obgleich Sam sich sicher ist, dass es nur Joanna für ihn geben könne, Joanna ›the one‹ sei, zeigt der Film, dass das aufgerufene Konzept prekär ist. Als Sam seinem Stiefvater sagt, für diesen habe es ja auch nur ›the one‹ gegeben, Sams Mutter, weiß er noch nicht, dass Claudia Schiffer alias Carol im Epilog des Films an Daniels Seite sein wird. Und auch für Sams Mutter gab es ja offensichtlich nicht ›the one‹, sonst wäre Daniel nicht Sams Stief vater. Liebe ist also Iteration. Und: Das Neue ist das Alte in neuem Gewand, das Unheimliche das Heimliche, das heimisch Bekannte. Daniel kommentiert den Zusammenhang, indem er die Stereoanlage anschaltet und Scott Walkers Lovesong Joanna auflegt – und damit die Hymne für seine Liebesbeziehung mit Sams Mutter, seiner Joanna, ins Spiel bringt.

Wer liebt wen? Zu den persistierenden Vorwürfen, die gegenüber Love Actually formuliert werden, gehört das Monitum der Heteronormativität. Schwule Liebesbeziehungen würden nicht gezeigt. Tatsächlich? Schauen wir uns den Handlungsstrang an, der die Freunde Peter und Mark fokussiert. Bereits zu Beginn des Films wohnen wir einer Hochzeit bei – Peter heiratet Juliet (gegeben von Keira Knightley). Sein Freund Mark, sein best man, hat als Überraschung einen Chor und einen Solisten gebucht, als das Brautpaar die Kirche verlässt, öffnen sich die weißen Vorhänge an der Empore der Kirche und der Beatles-Song All you need is love wird dargeboten. Und das, obgleich der Trauzeuge dem Bräutigam zuvor versprochen hatte, keine Überraschungen aus dem Hut zu zaubern. Als beide am Altar auf den Einzug der Braut warten, entspinnt sich folgender Dialog: Peter: No surprises? Mark: No surprises. Peter: Not like the stag night? Mark: Unlike the stag night. Peter: Do you admit the Brazilian prostitutes were a mistake? Mark: I do.

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Peter: And it would have been much better if they’d not turned out to be men? Mark: That is true. Ein wenig später auf dem Hochzeitsfest, das nach der kirchlichen Zeremonie stattfindet, wird Mark (der auf einem Stuhl sitzt und vorgeblich das Brautpaar, eigentlich nur die Braut, filmt) von der von Laura Linney gespielten Sarah (die Figur, die sich hingebungsvoll um ihren psychisch kranken Bruder kümmert) angesprochen: Sarah: Do you love him? Mark: Uh, b- What? Sarah: No, I… I just thought I’d ask the blunt question. Mark verneint die Frage mit Furor – und zwar mit so viel Furor, mit so viel affektiver Energie, dass man keine Psychoanalytiker-Ausbildung braucht, um sich zu fragen, ob das »Nein« nicht doch eigentlich ein »Ja« ist. Das würde jedenfalls zu der Fehlleistung passen, männliche (und gerade nicht weibliche) brasilianische Prostituierte zum Polterabend eingeladen zu haben. Überdies ist Sarah die Figur des Films, die psychische Nöte anderer besonders gut ›lesen‹ kann. Vielleicht versteht sie Mark besser, als der sich selbst versteht. In Marks Selbstwahrnehmung ist sein Liebesobjekt die Braut seines Freundes, die Braut mit dem beziehungsreichen Namen: Juliet. Nun ließe sich argumentieren – mit Eve K. Sedgwick2 etwa –, dass Marks Konzentration auf Juliet gerade nicht bedeute, dass es ihm nicht um Peter gehe, sondern dass die Wahl seines Liebesobjektes nur die Verbundenheit, die libidinöse Bezogenheit auf seinen Freund bezeuge. (Nachdem Peter mit Juliet zusammengekommen ist, ignoriert Mark sie, redet nicht mit ihr; das könnte darauf verweisen, dass er sie für einen Eindringling hält.) Der Galerist Mark, mit einem Beruf versehen, dessen Homosexualitätsindex angeblich etwa so hoch ist wie der bei Friseuren, würde sich in dieser Perspektive deshalb unglücklich und sterblich in Juliet verlieben, weil er damit ganz eng auf das eigentliche Objekt seines Begehrens, Peter, bezogen wäre. Auch die Kameraführung – Mark filmt die Hochzeitszeremonie von Peter und Juliet und das anschließende Fest auf sehr eigenwillige Weise (es handelt sich fast nur um Nahaufnahmen von Juliets Gesicht) – ist nicht zwingend als ›Beweis‹ zu lesen, dass Mark die Frau

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Sedgwick, Eve K.: Between Men. English literature and male homosocial desire, New York: Columbia University Press 1985.

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seines Freundes liebt. Vielleicht schwenkt die Kamera auf Juliet, weil es noch verräterischer wäre, Peter, sollte der das heimliche Objekt der Begierde sein, in den Fokus zu nehmen. Vielleicht ist Mark so bezogen auf Peter, dass er gewissermaßen mit dessen Augen auf Juliet blickt.3 Offensiver noch wird die delikate Grenzscheide zwischen Homosozialität und Homosexualität in Bezug auf den alternden Popstar Billy Mack und dessen Manager Joe behandelt. Billy gelingt das schier Unmögliche; seine CoverVersion von Love is all around (Christmas is all around) schafft es auf den Thron des Nummer-Eins-Weihnachts-Hits. Den Film hindurch verfolgen wir Billy Macks Auftritte mit immer leichtbekleideteren, als weihnachtliche Sexbomben in Szene gesetzten weiblichen Band-Mitgliedern. Als er seine NumberOne-Hit-Trophäe bekommt, kündigt er an, nun zu einer Weihnachtsparty bei Elton John aufzubrechen. Kurze Zeit später klingelt er aber bei seinem Manager: Billy Mack: I realized that Christmas is… is the time to be with the people you love. Joe: Right. Billy Mack: And I realized that, as dire chance and… and… and fateful cockup would have it, here I am, mid-50s, and without knowing it I’ve gone and spent most of my adult life with a… with a chubby employee. And… and much as it grieves me to say it, it… it might be that the people I love is, in fact… you. [pause] Joe: Well, this is a surprise. Billy Mack: Yeah. Joe: Ten minutes at Elton John’s, you’re as gay as a maypole! Billy kommentiert den letzten Satz nicht, sondern schlägt seinem Manager vor, den Weihnachtsabend gemeinsam auf dem Sofa mit dem Konsum von (heterosexuellen) Pornos und Alkoholika zu verbringen – das scheint eine hinreichend solide Schutzdichtung vor dem Verdacht einer homosexuellen Anziehung zu sein. Verhandelt wird hier das Problem aller Buddy-Filme: Die beiden Männer, die aufeinander bezogen sind, die sich lieben – und es ist ein veritables Liebesgeständnis, das Billy Joe macht – müssen vor homosexual misreadings geschützt werden: Frauen, Pornos – for cover – sind da hilfreich. 3

Juliet bringt Mark, als sie ihn in seiner Wohnung aufsucht, um seine Aufnahmen von der Hochzeit abzuholen, Backwerk mit. Mark lehnt das Geschenk ab (in dem sich Juliet ihm gewissermaßen selbst als ›Törtchen‹ anbietet).

Christmas uncovered. Liebesdispositive in Richard Curtis’ Love Actually

Eine ähnliche Screen-Funktion hat wohl auch den Film hindurch die abfällige Rede über den Buddy: Sein Manager sei »the ugliest man in the world«, erklärt Billy etwa – und das ist nur eine der Beleidigungen, die möglicherweise nur Verschleierungsfunktion haben. Nach dem Prolog schauen wir der Aufnahme der Cover-Version von Love is all around zu – und hören, wie sich Billy (seinen Manager anschauend) mehrmals ›versingt‹: Immer wieder nimmt Billy die Liebe (und nicht Weihnachten) in den Mund. Ohnehin ist das Cover-Thema eines, das den Film hindurch virulent ist. Love Actually beginnt – nach dem Prolog auf dem Heathrower Flughafen – im Plattenstudio, in dem Billy Mack eine Cover-Version von Love is all around, Christmas is all around, aufnimmt. Liebe, und der Liebesfilm, bilden also das Palimpsest für Weihnachten, und das Genre Weihnachtsfilm, das ja ein wenig irisierend ist. Weihnachtsfilme sind Filme, die ein weihnachtliches Thema haben, die das Weihnachtsfest intradiegetisch verhandeln oder deren Handlung zumindest an Weihnachten stattfindet, aber auch solche, die – meist mit rituellem Charakter – zu Weihnachten geschaut werden (und die manchmal gar keinen intradiegetischen Weihnachtsbezug haben: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel etwa). Das religiöse Fest Weihnachten ist eines, das in Szene setzt, dass der Erlöser der Menschheit geboren wird, und die in Love Actually erzählten Geschichten haben auch einen Erlösungsplot, thematisieren, wenn man so will, die Erlösung des gequälten einzelnen Individuums qua Liebe. Und Christmas kommt nicht nur als Cover daher (Christmas is all around als Cover-Version von Love is all around), ironischerweise verweist der Film auch auf Christmas uncovered – so nämlich heißt die Ausstellung, die in Marks Galerie präsentiert wird – jener Galerie, in der die Firmenweihnachtsfeier stattfindet, auf der viele der Protagonistinnen und Protagonisten des Films anwesend sind. Ausgestellt sind Nudes in Schwarz-Weiß, ornamentiert mit rotweißen kleinen Weihnachtshüten (die etwa auf den Brustwarzen der abgebildeten Frauen drapiert sind). In einer kurzen Szene des Films machen sich Jugendliche über die Bilder lustig; der Galerist belehrt sie umgehend, das sei Kunst.        

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Abbildung 2: Weihnachtlicher Akt.

Love Actually (2003)

Liebe und Öffentlichkeit Liebe scheint ja zunächst einmal eine private, eine intime Angelegenheit zu sein. Curtis’ Film allerdings ist interessiert an den Räumen, die sich ergeben, wenn Liebe öffentlich gemacht, wenn sie publiziert wird. Mit dem Fokus auf diese ›Publikation‹ von Liebe seien zwei der Handlungsstränge in den Blick genommen – der, dem es um den von Hugh Grant gespielten Prime Minister David und Natalie geht, und der, der die Beziehungsgeschichte des Krimiautoren Jamie und seiner portugiesischen Haushaltshilfe Aurélia verfolgt. Kommen wir zunächst zu David und Natalie. Der neu gewählte Premierminister verguckt sich in eine seiner Angestellten, in Natalie. Es scheint sich eine Romanze anzubahnen. Der kommt aber ein Staatsbesuch dazwischen. Der amerikanische Präsident reist an und macht sich an Natalie heran, umarmt und küsst sie (der Prime Minister betritt in diesem Moment das Zimmer). Eine typische MeToo-Situation, allerdings vor der MeToo-Debatte. Der Premierminister lässt Natalie, damit er ihr nicht mehr begegnen muss, in einen anderen Arbeitsbereich versetzen. Verhandelt – under cover – wird der Vorfall auf der Pressekonferenz, die David, der Premierminister, zum Abschluss des Staatsbesuchs zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten gibt:

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Press Conference Reporter: Mr. President, has it been a good visit? The President: Very satisfactory indeed. We got what we came for, and our special relationship is still very special. Press Conference Reporter: Prime Minister? The President: I love that word »relationship.« Covers all manner of sins, doesn’t it? I fear that this has become a bad relationship; a relationship based on the President taking exactly what he wants and casually ignoring all those things that really matter to, erm… Britain. We may be a small country, but we’re a great one, too. The country of Shakespeare, Churchill, the Beatles, Sean Connery, Harry Potter. David Beckham’s right foot. David Beckham’s left foot, come to that. And a friend who bullies us is no longer a friend. And since bullies only respond to strength, from now onward I will be prepared to be much stronger. And the President should be prepared for that. Der Prime Minister, der zuvor die politische Maxime ausgegeben hatte, nichtkonfrontativ mit dem politischen Partner USA umzugehen, macht eine Kehrtwende. Anders als die Öffentlichkeit (im Film), der der Premierminister diese Haltung präsentiert, weiß der Filmzuschauer, was zu diesem Meinungsumschwung geführt hat. Zwei Alpha-Männchen streiten sich um ein Weibchen – und das britische Alpha-Männchen streckt sich zu voller Größe auf. Das Politische ist privat; wir haben es mit einem double talk zu tun: Es geht nicht um die politischen Sünden Amerikas, sondern die erotischen Verfehlungen des amerikanischen Präsidenten. Das kann hören, wer über die BackstageInformationen verfügt; diejenigen, die nicht darüber verfügen, hören eine etwas bullig geratene Hymne auf Britanniens Großartigkeit. Wochen nach dieser Pressekonferenz, als der Premierminister am Heiligabend Weihnachtskarten liest – eine davon von Natalie geschrieben (sie wünscht frohe Weihnachten, sie entschuldigt sich für den sexuellen Zwischenfall und sie macht sich selbst zum Geschenk: »I’m yours«) –, begibt er sich auf die Suche nach ihr (ihre ungefähre Adresse hat er im Kopf). Er findet sie (seine Erklärung, warum er sie aufgesucht habe, lautet: es gehe um state business) und begleitet sie und ihre Familie (Eltern, Geschwister, Nichten und Neffen) zu der Weihnachtsfeier, auf der auch Joanna ihren Auftritt hat. David und Natalie küssen sich backstage – da geht der Vorhang (zu ihrem Schrecken) auf; und das Publikum in der Schulaula erblickt den Prime Minister in love; es applaudiert dem Paar begeistert. Backstage wird zu On Stage, Liebe hat es auf die Bühne geschafft; Davids neue Freundin könnte nicht theatraler präsentiert werden.

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Abbildung 3: Love on Stage.

Love Actually (2003)

Ohnehin gilt: Wie jeder erfolgreiche Politiker ist der Prime Minister David (der keinen Nachnamen hat; das ist erfrischend: Nachnamenlosigkeit ist eigentlich ein Spezifikum von Frauen – Gretchen hat keinen, Heinrich [Faust] schon) – ein Schauspieler, ein Showman: In Downing Street gibt er eine Musicaleinlage zum besten und fegt tanzend durchs Treppenhaus; als er Klinken putzt und an Haustüren klingelt, um Natalie aufzuspüren, gibt er auf den Wunsch von Kindern ein Weihnachtslied zum Besten (zusammen mit einem Wingman, seinem Leibwächter). Auf gewisse Weise auch auf die große Bühne schaffte es die Beziehung zwischen Jamie und Aurélia. Jamie, dem seine Freundin Hörner aufgesetzt hatte, hat sich in die Portugiesin Aurélia verliebt. Sie führt in seinem Ferienhaus in der Provence seinen Haushalt. Er tippt auf einer alten Schreibmaschine seinen nächsten Krimi. Zwar ist Aurélia dafür verantwortlich, dass ein Großteil seines Manuskriptes davonfliegt. Der Verlust scheint Jamie aber nicht sehr umzutreiben. Er liebt Aurélia, der er alles sagen kann (und die ihn nicht versteht – sie wiederum spricht auf Portugiesisch zu ihm). Die Sätze sind untertitelt, so dass nur der Zuschauer dem Dialog der beiden folgen kann, die wechselseitig die Sprache des anderen nicht sprechen (und doch oft über die gleichen Dinge reden). Jamie bricht einige Zeit vor Weihnachten nach Hause, nach London, auf. Heiligabend, als er beladen mit Geschenken das Haus seiner Familie betritt, macht er jedoch kehrt – fährt zum Flughafen und fliegt nach Marseille. Er sucht die Wohnadresse Aurélias auf; trifft aber nur ihren Vater und Aurélias übergewichtige Schwester an. Der Vater

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begleitet ihn ins Restaurant, in dem Aurélia als Kellnerin arbeitet. Den beiden schließen sich immer mehr Menschen an (weiß Aurélias Schwester doch zu verkünden, dass der Vater ihre Schwester als Sklavin verkaufen wolle). Im Restaurant macht Jamie Aurélia dann auf Portugiesisch einen Heiratsantrag – vor den Augen und Ohren der Restaurantbesucher und derjenigen, die sich der Prozession angeschlossen haben. In einer Londoner Sprachschule hatte Jamie Unterricht in Portugiesisch genommen, er kann nun zu seiner Angebeteten (die, als er das Restaurant betritt, auf der Empore bedient) so sprechen, dass sie ihn versteht. Aurélia, sein Schatz (bedeutet ihr Name doch ›die Goldene‹), ist für ihn Engel und himmlische Verheißung – er blickt hoch zu ihr, himmelt sie an. Und auch sie kann den Heiratsantrag auf Englisch annehmen, auch sie hat seine Sprache gelernt. Der Heiratsantrag, so wie er in Szene gesetzt ist (Jamie ›wallfahrtet‹ zurück nach Frankreich, eine Prozession von Menschen begleitet ihn in das portugiesische Restaurant, in dem Aurélia arbeitet), stellt nicht nur eine Performance dar, es ist eine Performance, ein theatraler Akt, vor großem Publikum. Zwar ist die Situation auch ohne Sprachkenntnisse eindeutig; wenn in dem portugiesischen Restaurant – was anzunehmen ist, handelt es sich doch um ein Restaurant, das in der Provence liegt – auch Nicht-Portugiesen ihr Weihnachtsessen einnehmen, folgen die einer Theateraufführung, die die falsche ›Sprachfassung‹ hat. Parallel montiert ist die ›Verfolgungsjagd‹, die Sam und sein Stiefvater aufnehmen, um Joanna, die in die USA fliegt, nach der Weihnachtsfeier am Flughafen noch zu erreichen. Diese Parallelmontage ist mit hinreißendem Drive choreographiert; sie beendet den den Film strukturierenden Countdown hin zum Heiligabend, der – dramaturgisch überzeugend – den Film zu seinem Ende hin immer atemloser werden lässt. Daniel ermutigt Sam, ohne Abfertigung die Kontrollen zu passieren, einfach zu rennen. Obwohl das Sicherheitspersonal dem Jungen gleich auf den Fersen ist, gelingt es Sam tatsächlich – auch auf großer Bühne, das Terminal ist riesig –, Joanna am Abfluggate noch abzupassen. Sie sagt ihm, natürlich wisse sie seinen Namen (das scheint für Sam fast ein Analogon zum biblischen Erkennen darzustellen; strahlend lässt er sich vom Flughafenpersonal abführen). Bevor ihn sein Stiefvater wieder in die Arme schließen kann, küsst Joanna (die nun ihm nachgelaufen ist) Sam auf die Wange. Auf den Bildschirmen im Terminal sehen wir derweil Billy Macks Cover-Version ›uncovered‹. Wie angekündigt lässt der Popstar die Hüllen fallen (er lässt die Kleidungshüllen fallen, nicht wie Sam die seelischen), trällert Christmas is all around splitterfasernackt. Für Sam ist der Cover-Song Christmas is all around uncovered wieder zum Love-Song: Love

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is all around geworden. Aber Christmas ist ohnehin so etwas wie ein Wechselbegriff für Liebe, für Beziehungen. Konventionell religiös ist an Weihnachten, wie Curtis’ Film es in Szene setzt, fast nichts mehr. Es geht um Brauchtum (Mistelzweige, Krippenspiele etc.), um populäre Weihnachtslieder (All I want for Christmas is you, I’m dreaming of a white Christmas etc.). Sowohl Brauchtum als auch das populäre Feel-Good-Weihnachtsliedgut werden aber federleicht ironisiert: Der Premierminister mutiert zum carol singer, im Krippenspiel wimmelt es vor Meerestieren, Hummer und Kraken stehen bei Christi Geburt in der ersten Reihe. Als in Karens und Harrys Familie ein Ausschnitt des Krippenspiels im häuslichen Raum nachgestellt wird, liegt ein kleiner StoffDinosaurier in der Krippe und gibt das Jesuskind. Weihnachten hat sich überlebt, und behauptet sich nur in quasi-parodistischer Form.

Liebesgeständnisse und scheiternde Romanzen Lag der Fokus bislang auf der Konfiguration, dass Liebe in einem theatralen Akt der Öffentlichkeit präsentiert wird – es um public display geht –, lassen sich auch ›heimlichere‹ Publikationsformen von Liebe in Love Actually finden. Eine, die sogar im Dezember 2019 Eingang in Boris Johnsons Wahlkampf gefunden hat, ist Marks Texttafel-Liebesgeständnis am Weihnachtsabend vor Juliets und Peters Haus. Abbildung 4: Silent Night.

Love Actually (2003)

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Mark lässt seinen Freund Peter, der vor dem Fernsehen sitzt, glauben, die Sternsinger ständen vor der Tür – und macht Juliet vor der Haustür stehend ein ›stummes‹ Geständnis, er zeigt ihr Bildtafeln und Texttafeln, auf denen steht: With any luck, by next year – I’ll be going out with one of these girls. [abgebildet sind Supermodels] But for now, let me say – Without hope or agenda – Just because it’s Christmas – And at Christmas you tell the truth – To me, you are perfect – And my wasted heart will love you – Until you look like this. [er zeigt das Bild einer Mumie] Merry Christmas! Aufgegriffen ist in dieser Szene, die auch aus medienhistorischer Perspektive interessant ist (spielt der Film hier doch mit den Texttafeln, die für den sogenannten ›Stummfilm‹ kennzeichnend sind), das Sujet ›Geständniszwang‹, das den Film hindurch immer wieder verhandelt wird – in manchmal durchaus ironischer Manier, etwa wenn Billy Mack einem Radio-Interviewer, der mit ihm über seinen Möchtegern-Weihnachtshit spricht, versichert: »Ask me anything you like, I’ll tell you the truth.« Allerdings bleibt Billy Macks »Wahrheit« (über angeblichen Sex mit Britney Spears) irisierend und opak. Und auch in Bezug auf Mark gibt es ja Hinweise, dass seine Besessenheit für Juliet vielleicht nur sein Engagement für seinen Freund Peter ›covered‹. Warum gerade Weihnachten, wie immer wieder betont, ein Wahrheitsgenerator sein soll, bleibt ein Rätsel. Mark rechnet nicht damit, dass seine Juliet vorgetragene Liebe beantwortet wird, er setzt aber die Voraussetzung für gelingende Liebe in Szene: Liebe muss publiziert, kommuniziert werden. Am entzückendsten vorgeführt wird das in Love Actually am Paar Julie und John (der sich James nennt). Beide arbeiten als Licht-Doubles bei einer Pornofilm-Produktion, führen freundlichen small talk, während sie nackt einen Cunnilingus oder eine Kopulation a tergo simulieren. Obwohl sie sich technisch gesehen bereits so nahe sind, macht es beider Schüchternheit schwer, sich einander zu entdecken. Schließlich traut sich John und lädt Julie zu einem Drink ein; der zaghafte Kuss, den sie ihm bei der Verabschiedung an der Haustür dann gibt, ist unendlich intimer als die Quasi-Beischlafszenen, denen wir zuvor beigewohnt haben. Im romantischen Liebesreigen, den Love Actually vorführt, gibt es zwei Verliererinnen: Sarah und Karen. Sarah ist auf gewisse Weise ein Callgirl; sie ist in den Chef-Designer ihrer Firma, Carl, verliebt, wird aber im gefühlten

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Minutentakt von ihrem psychiatrisch hospitalisierten Bruder angerufen, um den sie sich hingebungsvoll kümmert. Als Carl und sie sich nach der Weihnachtsfeier auch physisch näherkommen, treiben Anrufe des Bruders (die Sarah – Carl damit düpierend – annimmt) den Fast-Liebhaber aus dem Haus. Die romantische, die erotische Liebe bleibt Sarah also verwehrt. Allerdings – und möglicherweise zieht sie daraus mehr Befriedigung – kann sie sich der karitativen Liebe widmen: Agape schlägt Eros aus dem Feld. Und tatsächlich wird Carl im Film so blass gezeichnet, auch wenn er mit seiner Physis punkten kann, dass der Zuschauer/die Zuschauerin sich nicht sicher sein kann, ob es sich für Sarah tatsächlich um einen Verlust handelt. Bleibt romance für Sarah ein schöner Traum, weil familiäre Verpflichtungen sie binden, muss Karen erleben, dass ihr Mann das Drehbuch eines schlechten Films nachspielt und den Verführungskünsten seiner Sekretärin Mia (gegeben von Heike Makatsch) erliegt oder zu erliegen droht. Auch sie bringt nach dem weihnachtlichen Krippenspiel die Wahrheit auf den Tisch: Karen: Tell me, if you were in my position, what would you do? Harry: What position is that? Karen: Imagine your husband bought a gold necklace, and come Christmas gave it to somebody else… Harry: Oh, Karen… Karen: Would you wait around to find out… Parent: Good night! Karen: Harry: Night, night. Happy Christmas! [wieder an Harry gerichtet] Karen: Would you wait around to find out if it’s just a necklace, or if it’s sex and a necklace, or if, worst of all, it’s a necklace and love? Would you stay, knowing life would always be a little bit worse? Or would you cut and run? Harry: Oh, God. I am so in the wrong. The classic fool! Karen: Yes, but you’ve also made a fool out of me, and you’ve made the life I lead foolish, too! Die von der unvergleichlichen Emma Thompson gespielte Karen gibt ihrem Mann Nachhilfeunterricht in Empathie – und in Schauspieltheorie (stell Dir vor, Du seiest jemand anderes…). Das ist metareflexiv – in medialer Hinsicht, aber auch in liebestheoretischer, spielt sie, anders als die anderen Figuren, doch keinen Plot nach, sondern reperspektiviert ihn. Wenn man so will, redet sie über Casting-Fragen, die Umbesetzung von Rollen. Harry hatte ihr

Christmas uncovered. Liebesdispositive in Richard Curtis’ Love Actually

als Weihnachtsgeschenk eine Joni-Mitchell-CD geschenkt: to continue your emotional education. Ironischerweise ist er es und gerade nicht Karen, der einer éducation sentimentale bedarf. Love Actually ist in vielfacher Hinsicht nicht nur ein Film über die Liebe, sondern ein Film über das Schauspiel »Liebe«. Die neun Handlungsstränge erlauben eine Vervielfältigung der tragenden Rollen, nahezu alle bekannten britischen – und einige amerikanische – Schauspieler und Schauspielerinnen begegnen uns in dem Film (Hugh Grant, Colin Firth, Emma Thompson, Alan Rickman, Liam Neeson, Keira Knightley, Laura Linney, Martin Freeman, Billy Bob Thornton), und sie kaleidoskopieren ihr Sujet: Love Actually. Curtis’ Komödie erzählt davon, wie erotische Liebe (Pornographie) in den diesbezüglichen Genre-Film kommt, wie Filme die Präskripte bereitstellen, an denen man sich orientieren kann, wenn es um Verhaltensmuster in Bezug auf Liebe geht (Titanic beispielsweise), Love Actually führt uns vor, dass und warum Liebe (wie auch das Medium Film) Zuschauer braucht. Bedient werden Männerphantasien (die Colin-Handlung, aber auch Daniels Zusammenkommen mit Claudia Schiffer/Carol) und Frauenträume (Aurélia ist eine neue Pretty Woman, die das Herz ihres Arbeitgebers zum Schmelzen bringt; Natalie desgleichen), die Rowan-Atkinson-Auftritte verweisen mit Force auf den ZitatCharakter, die Pastiche-Struktur des filmischen Unternehmens (der britische Komiker zitiert sich in seinen Auftritten offensiv selbst). Im Film gesungen wird das hohe Lied der romantischen Liebe (tatsächlich gesungen werden Pop-Songs). Erträglich, ja amüsant und unterhaltlich gerät das, weil Curtis’ Episoden-Weihnachtsfilm bei allen auch zeitbedingten politischen Inkorrektheiten das mediale, das kommunikative, das kulturelle Voraussetzungsgefüge bürgerlicher Liebesideologie und ihrer Praktiken (mit) in Szene setzt. Mit einem Augenzwinkern verweist Love Actually auch immer wieder darauf, dass wir uns – im Medium Film wie im Medium Liebe – in einem Illusionszusammenhang befinden (für den etwa Claudia Schiffer einsteht, von der Daniel geschwärmt hat und mit der er unter ihrem ›Decknamen‹ Carol zusammenkommt). Dem Film gelingt das kleine Kunststück, Rührstück zu sein (sehr kalkuliert und mit Blick auf die Box-Office-Ergebnisse), aber auch MetaRührstück – eine elegante Studie über die Phantasmen romantischer Liebe, in die nicht verstrickt zu sein uns allen schwerfällt. Insofern fungiert Love Actually tatsächlich auch als Open-Access-Angebot für die éducation sentimentale et intellectuelle der Zuschauenden.

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»All by myself«: Weihnachten mit Bridget Jones  oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz Annette Keck

Das berühmte Aufeinandertreffen von Bridget Jones und Mark Darcy in Helen Fieldings Roman Bridget Jones’s Diary (1996) steht unter dem Stern der wahren Liebe, verweist es doch auf das Liebespaar der anglophonen Literatur, auf Elizabeth Bennet und Mr Darcy aus Jane Austens Pride and Prejudice (1813). Der Film Bridget Jones’s Diary (UK, I, F 2001, R: Sharon Maguire)1 verstärkt diese Korrespondenz noch durch ihre Besetzungspolitik: Colin Firth hat in der berühmten BBC-Fassung von Austens Roman aus dem Jahr 1995 als romantic lover Maßstäbe gesetzt, mit ihm als Mark Darcy ist somit immer auch der Austen’sche Mr Darcy im Spiel. Hugh Grant als Daniel Cleaver, weiteres Liebesobjekt Bridgets und Gegenspieler von Darcy, ist auch Teil des AustenUniversums, spielt er doch in Sense and Sensibility (UK, USA 1995, R: Ang Lee) Edward Ferrars. Gemma Jones wiederum, die Bridgets Mutter verkörpert, gibt in demselben Film Mrs Dashwood. Während in Bridget Jones’s Diary nun die Weihnachtstage von besonderer Bedeutung sind, kennt Pride and Prejudice dieses Fest nicht, was wohl auch daran liegen mag, dass es in der heutigen Form noch nicht erfunden war.2 Lizzy Bennet ist jedoch selten bis nie ohne familiäres Geleit, bei Bridget Jones – und das ist für mich ein wichtiger Unterschied – wird Familie hingegen im vermeintlich natürlichen, bürgerlichen Sinn meist nur noch an Festtagen erfahrbar und von daher dient Weihnachten neben Hochzeiten und Beerdigungen als prominentes Datum, 1

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Bridget Jones’s Diary wird im Folgenden zitiert unter der Sigle BJD, die Zeitenangaben im Fließtext sind diejenigen der DVD-Ausgabe von Universal Studios, Studio Canal und Miramax Film Corp. Zur Entstehung des Weihnachtsfestes, wie wir es heute feiern, siehe: Göttert, KarlHeinz: Weihnachten. Biographie eines Fests, Ditzingen: Reclam 2020.

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an dem diese Familienkonstellation allererst erzählt bzw. inszeniert werden kann.

Familienangelegenheiten Das Phänomen ›Familie‹ fungiert als Knotenpunkt sehr unterschiedlicher Diskurse, seien sie rechtlicher, historischer, religiöser, psychologischer oder biologischer Natur.3 Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es kaum Einigkeit darüber gibt, was ›Familie‹ eigentlich ausmacht. Die Trias von Vater, Mutter, Kind ist kaum haltbar, berücksichtigt man historische bzw. ethnographische Untersuchungen, auch biologische Definitionen greifen zu kurz. Pierre Bourdieu schreibt demzufolge, dass es sich bei dem Begriff ›Familie‹ um eine »well-founded fiction« handele, »a collective principle of construction of collective reality«: Aus seiner Sicht stimmt beides, nämlich dass »social realities […] social fictions« sind, »with no other basis than social construction«, und dass diese wirklich existieren, »inasmuch as they are collectively recognized.«4 Der eigentliche Witz daran ist, dass sich ›Familie‹ von selbst versteht. Noch einmal Bourdieu: »We tacitly admit that the reality to which we give the name ›family‹, and which we place in the category of ›real‹ families, is a family in reality«,5 dass also das, was wir als Familie bezeichnen, auch wirklich eine Familie ist. ›Familie‹ formt sich dementsprechend nicht allein mittels imaginärer und narrativer Akte, vielmehr speisen sich diese auch umgekehrt aus den Vorstellungswelten, Erzählungen und Gestaltungsformen dessen, was ›Familie‹ war, ist oder sein soll – etwa aus Generationenromanen, Familiengeschichten, Fotoalben, Serien (Denver Clan [OT: Dynasty, USA 1981-1989, Idee: Esther Shapiro/Richard Shapiro], Modern Family [USA 2009-2020, Idee: Christopher Lloyd/Steven Levitan]) oder eben auch aus Weihnachtsfilmen. Der Inszenierung von Familie kommt, da ist Bourdieu zuzustimmen, eine genuin performative Funktion zu. Teil dieser Performativität ist, dass sich ›Familie‹ als Kategorie im Moment ihrer Inszenierung realisiert, in unserem Fall als Weihnachtsgesellschaft –

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Für grundlegende Anregungen zur Reflexion des Familialen möchte ich Susanne Lüdemann und Tobias Döring danken. Bourdieu, Pierre: »On the Family as a Realized Category«, in: Theory, Culture & Society 13/3 (1996), S. 19-26, hier S. 20. Ebd.

Weihnachten mit Bridget Jones oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz

insofern kann man sagen, dass die Konstruktion von Familie einer metaleptischen Vertauschungsrhetorik verpflichtet ist. Judith Butler hat bekanntlich diese metalepische Struktur in Anschlag gebracht für das Verhältnis von sex, einer biologisch und ›tatsächlich‹, d.h. unhintergehbaren Vorstellung von Geschlechtlichkeit, und gender, einer kulturell variabel gedachten Geschlechtsidentität. In ihrem Verständnis ist gender nicht Ausdruck von sex, sondern sex erweist sich Effekt von gender, d.h. auch die Geschlechtsidentität darf nicht nur als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden […]. Vielmehr muß dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat bezeichnen, durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet werden. Demnach gehört die Geschlechtsidentität (gender) nicht zur Kultur wie das Geschlecht (sex) zur Natur. Die Geschlechtsidentität umfaßt auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine »geschlechtliche Natur« oder ein »natürliches« Geschlecht als »vordiskursiv«, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird.6 Dass Geschlechtsidentität das produziert, was ihr vermeintlich vorausgeht, hat Judith Butler mit dem schönen Begriff einer »Metaphysik der Substanz« belegt.7 Überträgt man die hier skizzierte performative Logik auf die Konstitution von ›Familie‹, dann wird ›Familie‹ als unhintergehbare natürliche, biologische ›Tatsache‹ mit diskursiven/kulturellen Mitteln allererst erzeugt. Auf unsere Thematik zugespitzt ließe sich sagen, ›Familie‹ erweist sich als Effekt der Inszenierung von Weihnachten, obwohl sie dem Familienfest vorausgesetzt erscheint – somit kann man (ansatzweise ernsthaft) von einer ›weihnachtlichen Metaphysik der familiären Substanz‹ sprechen. Die Frage dieses Aufsatzes lautet nun, wie sich die Kategorie ›Familie‹ mit ›Weihnachten‹ in Bridget Jones’s Diary realisiert bzw. differenziert. Auch wenn es selbstverständlich ist bzw. gerade, weil es selbstverständlich ist, sei hier noch einmal gesagt, dass mit Weihnachtsfilmen rudimentäre Phantasmen des Christentums aufgerufen werden, ein zentrales christliches Phantasma bildet die Heilige Familie, ein weiteres das des Heilbringers. Zudem finden mit dem Weihnachtsfest als Bestandteil des zyklisch konzipierten Kirchenkalenders ritualistische Wiederholungsstrukturen Eingang in das Narra6 7

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1991, S. 24. Ebd., S. 37-49.

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tiv der Familie: Jedes Jahr wieder baut sich ein Erwartungshorizont (Advent) auf, der mit Frieden, Freude und dem Versprechen auf Erlösung umrissen werden kann. Das Besondere nun an Bridget Jones’s Diary ist, dass dieser weihnachtliche Erwartungs- bzw. Erlösungshorizont mit der Liebeshandlung verknüpft wird: Erwartet wird nicht Jesus Christus als Erlöser, sondern – wie die Referenz auf Mr Darcy schon indiziert – Mr Right bzw. ›die wahre Liebe‹. Das Erlösungsversprechen allerdings ist paradox: Einerseits soll Bridget von ihrem einsamen Single-Dasein und den familiären Übergriffen erlöst werden, andererseits aber würde sie sich damit wieder in einen Familienverbund eingliedern, der – wie der Verlauf der Handlung zeigt – grundsätzlich krisenhaft ist. Wenn man allerdings Weihnachtsfilme ansieht (und vielleicht auch die eigenen familiären Weihnachtsfeierlichkeiten), dann wird der Erwartungshorizont von Frieden und Freude oft genug enttäuscht. Die Vorstellung einer harmonischen Weihnacht im Familienkreis wird nicht selten von Momenten des Krisenhaften grundiert. Fast alle Weihnachtsfilme beginnen im Modus der Krise, jeder einzelne Handlungsstrang bspw. von Love Actually (UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis) belegt dies: Sei es, dass die langjährige Ehe von Harry und Karen durch die neue Mitarbeiterin in der Adventszeit auf die Probe gestellt wird, sei es, dass der Schriftsteller Jamie (wieder Colin Firth) sich vor Weihnachten verletzt nach Frankreich zurückzieht, weil er von seiner Freundin mit seinem Bruder betrogen wurde, sei es, dass der Trauzeuge in die Braut seines besten Freundes verliebt ist. So nimmt es nicht Wunder, dass auch Bridget Jones’s Diary mit einer massiven Weihnachtskrise beginnt, die natürlich als Zitat von Austens Pride and Prejudice fungiert, indem sie die berühmte Beleidigungsszene beim ersten Aufeinandertreffen von Elizabeth Bennet und Mr Darcy zitiert. Auch bei Bridget haben vor allem die Mütter bei diesem Zusammentreffen die Hände im Spiel, wie Mrs Bennet will Mrs Pamela Jones ihre Tochter an den Mann bringen, Subtilität ist auch hier nicht am Werk. Das erste von Mrs Jones herbeigeführte Treffen von Bridget und Mark Darcy geht dementsprechend schief. An dessen Ende steht Marks vernichtendes Urteil über Bridget als Antwort auf die Kuppelversuche seiner Mutter: »Mother, I do not need a blind date. Particularly not with some verbally incontinent spinster … who smokes like a chimney, drinks like a fish and dresses like her mother.« (BJD, 0:04:32-04:42) Diese Beleidigung kommt direkt bei Bridget an, sie wird als Moment der Erkenntnis und als Initialzündung für die folgende Handlung ausgewiesen »And that was it. Right there. Right there. That was the moment. I suddenly realized that unless something

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changed soon … I was going to live a life where my major relationship was with a bottle of wine.« (BJD 0:04:49-05:03) Bridgets ›Familienkrise‹ fügt sich in das Krisennarrativ, das die Rede über die Familie spätestens seit dem 19. Jahrhundert prägt. Kulturhistorische Schriften avant la lettre, wie Wilhelm Heinrich Riehls ausgesprochen einflussreiche Schrift Die Familie, die als dritter Band seiner Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik (1851-1869) erschien, bemühen es, um der Stärkung des pater familias das Wort zu reden bzw. seine Schwächung zu beklagen. Riehl setzt an den Anfang seiner Schrift die soziale Ungleichheit von Mann und Frau als Naturgesetz, attestiert allem Emanzipationsbestreben der Frauen ›Ungereimtheit‹ und begründet so das Narrativ des patriarchalisch organisierten ›ganzen Hauses‹, das mit dem 19. Jahrhundert »sehr verkümmert« sei.8 Das Krisennarrativ persistiert aber bis heute in Szenarien, die anlässlich der Diskussion um Reproduktionsmedizin, gleichgeschlechtliche Ehen oder die steigende Anzahl weiblicher Single-Haushalte entworfen werden (auch hier scheint mir die Klage vom bürgerlich-patriarchalischen Machtverlust vorherrschend zu sein). Dass das Dickens’sche Christmas Carol, das diskursbegründend für die Fiktionalisierung von Weihnachten wurde, einen alleinstehenden alten Junker mit Sinnkrise ins Zentrum setzt, der schlussendlich in die Arme seiner Familie findet und in seine Rolle als patriarchalischer Wohltäter, bestätigt diese Diagnose bzw. scheint die folgerichtige Kehrseite dieser frühen familialen Krisenrhetorik zu sein. Bridget will nun ihr Leben grundlegend ändern, ihr Single-Dasein soll ein Ende haben. Dass Alleinstehende insbesondere an Weihnachten auf ihr Allein-Sein zurückgeworfen werden, ist nicht nur seit Dickens gängiger Topos, sondern auch das zentrale Narrativ von Chick Flicks bzw. Working GirlsFilmen rund um Weihnachten.9 Das Eingangsszenario von Bridget Jones’s Diary inszeniert diese Krise des Single-Daseins, auf der sich der folgende 8

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Was ihn dazu veranlasst, Frau und Familie zu austauschbaren Begriffen zu machen: »Ich bin ein Mitkämpfer für die verrufene ›Emancipation der Frauen‹, indem ich kämpfe für eine bedeutend erweiterte Geltung und Berücksichtigung der Familie im modernen Staat. Denn in der Familie stecken die Frauen. Sie sollen wirken für das öffentliche Leben, aber man soll ihrer nicht ansichtig werden, denn sie sollen zu Hause bleiben. Diese Wirksamkeit im Hause aber ist den Frauen zur Zeit sehr verkümmert […].« Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Familie, Stuttgart: J. G. Cotta’scher Verlag 1861, S. 12. Jüngeres Beispiel hierfür ist die norwegische Netflix-Serie Hjem til jul (Weihnachten zu Hause, N 2019ff., P: Anders Tangen, Netflix).

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Film entfaltet: Über Voice Over erfahren wir von eben jener Bridget, seit 32 Jahren Single, dass sie sich wie immer allein auf dem Weg befindet zum winterlich eingeschneiten Elternhaus »auf dem Land« (in Weihnachtsfilmen der Signifikant für Familie schlechthin). Anlass ist das weihnachtliche »annual turkey curry buffet«. Mit ihm werden die Zumutungen der Single-Existenz gnadenlos durchbuchstabiert: Da ist Bridgets Mutter, welche die Tochter wie jedes Jahr mit »some bushy-haired, middleaged bore« verkuppeln möchte und sie dafür scheußlich ausstaffiert (»Great, I was wearing a carpet«), da sind der zweifelhafte Onkel, der unter dem Deckmantel familiärer Fürsorge die ›Nichte‹ sexuell belästigt, und die familiäre Freundin der Mutter, die Bridget mit der biologischen Uhr konfrontiert (»tic toc, tic toc«), sowie der Vater, der nichts gegen die Kuppelversuche seiner Frau unternimmt, obwohl er Mark Darcy für ein »pretty nasty beast« hält. »Dumpling« Bridget wird im Gegensatz zu Baby Jesus nicht beschützt oder gar angebetet, sondern verschiedensten familiären Übergriffen und Ansprüchen ausgesetzt (BJD 0:01:00-0:04:48).

Familienkrisen Die große Liebe, »the one«, wie es im Film heißt, verspricht Erlösung, sie werde, so die Hoffnung, genau den Schutz bereitstellen, den diese Familie nicht bereithält. Sie verspricht eine Alternative zu dieser ziemlich aus dem Ruder geratenen bürgerlich-patriarchalischen Familie, in der der Onkel kein Onkel, der Vater schwach und resigniert ist und die Mutter das Szepter in die Hand nimmt, um die Tochter an den Mann zu bringen, was in letzter Konsequenz die Restitution der bürgerlich-christlichen Familie im patriarchalischen Sinn bedeutet. Bridgets Krise wird von Mrs Pamela Jones zumindest initiiert, von Bridget als lebender Anachronismus bürgerlicher Hausfräulichkeit eingeführt, der »gherkins«, wie Bridget abschätzig formuliert, als »the height of sophistication« betrachtet (BJD 00:01:29). Pamela sucht einen Mann für Bridget, alljährlich an Weihnachten präsentiert sie ihr ein aus mütterlicher Sicht eligibles Exemplar. Wie schon Mrs Bennet hat Mrs Jones nicht die Liebe im Blick, sondern das Gehaltskonto und den sozialen Status. Die Peinlichkeit bzw. die Fremdscham, die Mrs Jones’ Agieren auslöst, erwächst aus ihrer Obszöni-

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tät,10 was das bürgerlich-patriarchalische Liebeskonzept gerne verbirgt bzw. als nebensächlich ausflaggt, ist für sie zentral: ökonomische und sexuelle bzw. rekreative Potenz. In Pride und Prejudice steht hinter den kupplerischen Unternehmungen der Mutter die drohende Obdachlosigkeit, da die Bennet-Frauen aufgrund des Erbrechts nach dem Tod des Vaters ihren Wohnsitz verlieren würden. Wie Michael Kramp argumentiert, referiert nicht nur dieser Roman von Austen auf eine ökonomische Umbruchsituation, in der der Landadel an Macht einbüßt: Darcy verkörpere dabei ein landadliges Männlichkeitsideal, das mehr und mehr zum Anachronismus gerät, sein berühmter sich erklärender Brief an Elizabeth wurde dementsprechend als ein Einlassen auf bürgerliche Werte verstanden.11 Im Gegensatz zu Bridget muss zumindest eine der BennetTöchter reich heiraten oder sich mit dem lose verwandten Erben verbinden, um gegebenenfalls ohne den Vater in einem einigermaßen gesicherten Wohlstand weiterleben zu können. Die Rezeption von Pride and Prejudice in Chick Lit und Chick Flick ignoriert dieses für Austens Roman zentrale Moment der ökonomischen Prekarität von weiblichen Familienmitgliedern, Mrs Pamela Jones wird somit doppelt diffamiert: Einerseits scheint Mark Darcys Wohlstand einzig und allein ihren Snobismus zu befriedigen, und andererseits wird ihre Arbeit im Shopping Channel als (lächerliche) Selbstverwirklichung ausgewiesen, die zudem keine finanzielle Not kennt.12 Mrs Bennet und in Teilen Mrs Jones verweisen darauf, dass der Fortbestand der Familie, sprich Genealogien und Erbschaften, nicht ohne Nachkommen und Einkommen zu haben sind, und das heißt nicht ohne Geld und zumindest bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert nicht ohne Sex. Sie legen die sorgsam verborgenen materiellen Stützen des bürgerlichen Liebes- und Familienkonzepts, Geld und Sex, offen. 10

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Obszön geht (leider) nicht, wie manchmal zu lesen, auf scaena, die Bühne, zurück, sondern auf obscenum, schmutzig, anstößig bzw. auf caenum, Schmutz, Kot, Schlamm. Vgl. Kluge, Friedrich: »obszön«, in: Elmar Seebold (Hg.), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Boston/New York: Walter de Gruyter, 25., durchges. u. erw. Aufl., 2011, S. 665. Kramp, Michael: Disciplining Love. Austen and the Modern Man, Columbus: Columbia University Press 2007, S. 74ff. Schabert, Ina: »Lesen, wie ein Brief gelesen wird: Zu den politischen und poetologischen Implikationen von Jane Austens Pride and Prejudice. Bk. II, Chapt. 12-13«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 49 (2008), S. 129-143. Zumindest in der Film-Version ist dies so, im Roman kommt das Moment ökonomischer Prekarität durch Julio ins Spiel, der die Ersparnisse der Jones’ veruntreut.

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Die mütterlichen Unternehmungen machen darüber hinaus auf die Instabilität familiärer Verhältnisse aufmerksam: Sie verdeutlichen, dass ›Familie‹ eben kein geschlossener organizistischer Sozialverbund ist, sondern grundlegend, soll sie denn fortbestehen, auf ein ihr Anderes im Sinne des LéviStrauss’schen Exogamiegebots angewiesen ist.13 Patrilinear verfasst beruht sie auf Frauentausch. Judith Butler schreibt pointiert über die Institution der Ehe mit Blick auf das Exogamiegebot: [D]ie Braut fungiert als Verbindungsterm (relational term) zwischen Männergruppen. Weder hat sie eine Identität, noch tauscht sie eine Identität gegen eine andere aus. Sie reflektiert lediglich die männliche Identität, gerade indem sie den Schauplatz ihrer Abwesenheit darstellt. […] Die patrilineare Struktur wird ebenso durch die rituelle Austreibung wie durch die rituelle Einfuhr von Frauen gesichert. Als Ehefrauen sichern die Frauen nicht nur die Reproduktion des Namens (d.i. der funktionale Zweck des Tauschhandels), sondern führen auch einen symbolischen Verkehr zwischen den Männergruppen herbei. Die Frauen als Schauplatz des patronymischen Austauschs sind also das patronymische Zeichen und sind es zugleich nicht, da sie von der Bezeichnung, die sie tragen: dem Patronym, ausgeschlossen sind.14 Frauen bzw. Töchter sind von daher von eminent politischer Bedeutung, was aber das romantische Liebeskonzept unterschlägt. Wenn Mütter als Agentinnen des Frauentauschs agieren, um Geld und Genealogie zu sichern bzw. den symbolischen Verkehr zwischen Männergruppen aufrechtzuerhalten, werden sie als Kupplerinnen diffamiert, die ihre Töchter zu Markte tragen, heißen sie nun Mrs Bennet oder Mrs Jones.15 Bridgets Interesse geht, so scheint es zumindest, in eine andere Richtung, ihr Ziel ist es, kein Single mehr zu sein, sie will Beständigkeit in der Liebe, Zusammenhalt auf Dauer gestellt. Der Titelsong All by Myself in der Version von Jamie O’Neil buchstabiert uns das Problem aus: All by myself Don’t wanna be 13 14 15

Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 68f. Zum Verhältnis von Mutterschaft und Kuppelei siehe auch: Keck, Annette: Buchstäbliche Anatomien. Vom Lesen und Schreiben des Menschen – Literaturgeschichten der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 63f.

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All by myself Anymore   When I was young I never needed anyone And making love was just for fun Those days are gone   All by myself Don’t wanna be All by myself Anymore (BJD 00:05:05-00:07:07) ›Making love for fun‹ soll der Vergangenheit angehören. Bridgets Tagebucheintrag vom ersten Januar buchstabiert dementsprechend die Vorsätze aus, die Dickens gemäß den Neuanfang markieren sollen. Bei Dickens steht der Neuanfang am Ende des Christmas Carol, die Konversion vollzieht sich in der Weihnachtsnacht, Scrooge erscheint erlöst. Bei Bridget steht die Erkenntnis eines (vermeintlich) verfehlten Lebens am Anfang der Erzählung. Wie Scrooge will sie dem Alkohol entsagen, allerdings vergeblich, ansonsten will sie ihre Logorrhoe in den Griff kriegen, aufhören zu rauchen und abnehmen. Vor allem aber, und da bleibt Scrooge natürlich außen vor, will sie in keinem Fall den Inbegriff des ›making love for fun‹, ihren Vorgesetzten Daniel Cleaver, begehren. Wie nun der weitere Verlauf des Films zeigt, nützen die guten Vorsätze wenig, doch Bridget ist nicht so allein, wie es die Anfangssequenz mit dem leeren Anrufbeantworter suggeriert: Sie gehört zu einer engen Gemeinschaft von Freunden, einer, wie sie es nennt, »urban family« (BJD 00:10:19), die ebenfalls Rollenskripts hat, nicht hierarchisch geordnet und zumindest ansatzweise divers und nicht ausschließlich heterosexuell aufgestellt ist. Die ›Selbst-Verständlichkeit‹ der Familien-Kategorie im Sinne Bourdieus zeigt sich hier besonders deutlich, unterscheidet diese Familie sich doch entscheidend von Bridgets bürgerlicher Herkunftsfamilie: Zwar konstituieren sich beide im Modus der Krise, doch während die bürgerliche Familie als Auslöser von Krisen fungiert, konstituiert sich die Urban Family im »emergency summit« (BJD 00:10:19), der einberufen wird, um persönliche Krisenerfahrungen zu diskutieren bzw. zu heilen, so bspw. als Bridget von ihrem Chef beim privaten Telefonat erwischt wird und sich um Kopf und Kragen lügt. Für

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Christian Lenz16 stellen Urban Families in Chick/Lad Lit bzw. Flicks nur vordergründig eine Alternative zur – wie er es nennt – biologischen Familie dar. Seine These lautet etwas summarisch, dass die Urban Family eine Art Durchlaufstation darstelle, die schlussendlich zugunsten der ›biologisch‹ definierten Familie aufgelöst wird. Seiner Ansicht nach stellen Urban Families in der Mehrheit der Fälle keine Alternativmodelle bereit, vielmehr werde in Chick bzw. Lad Flicks das konservativ bürgerlich-patriarchalische Familienmodell bis auf ganz wenige Ausnahmen restituiert. Christian Lenz zählt Bridget Jones’ Diary nicht zu diesen Ausnahmen. Dagegen möchte ich eine solche Ausnahmeposition nachweisen und die These aufstellen, dass die Restitution des bürgerlichen Familienmodells in den Bridget Jones-Filmen fraglich ist, was insbesondere an die Besetzung der patriarchalischen Symbolfigur schlechthin, die Vaterposition geknüpft ist. Schon in Pride and Prejudice ist zu beobachten, dass der Kopf der Familie zwar sympathisch und gelehrt ist, aber im Grunde schwach. Robert Miles urteilt: »Mr Bennet is a charming, witty, hopeless parent. […] [T]his hopelessness is aggravated by his abdication of authority within, and responsibility for, the household: it is a feckless turning aside from his Christian duty, and telos.«17 Miles zählt zu diesen ›Christian duties‹, »to curb his wife’s silliness«18 und Sorge für die ›Respektabilität‹ der Töchter zu tragen, um ihnen ein (zumindest materiell) sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Bridgets Lebenswandel lässt, wenn man den Zigaretten- und WodkaKonsum beim ersten ›emergency summit‹ so betrachtet, an Respektabilität so einiges zu wünschen übrig, ihre Urban Family kennt keine väterliche Instanz, die über ihr Benehmen richtet bzw. wacht. Aber auch in ihrer Herkunftsfamilie steht die patriarchalische Herrschaft auf wackligen Füßen, hat Mr Jones wenig zu sagen. Wie Mr Bennet ist er unfähig, ›to curb his wife’s silliness‹. Diese Silliness wird dadurch gesteigert, dass Pamela Jones, Inbegriff der bürgerlichen Ehefrau, ihren Mann für den windigen TV-Shoppingkanal-Entertainer Julian verlässt. In Helen Fieldings Roman

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Lenz, Christian: »›A bit like family‹: The Urban Family as Community in Chick- and Ladlit«, in: Anglistik. International Journal of English Studies 16/1 (2015), S. 45-54. Miles, Robert: »Character«, in: Janet Todd (Hg.), The Cambridge Companion to Pride and Prejudice, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2013, S. 15-26, hier S. 19f. Ebd., S. 20.

Weihnachten mit Bridget Jones oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz

sind die strukturellen Parallelen zu Pride and Prejudice offensichtlicher,19 insbesondere was die Schwäche des Vaters anbelangt: Auch im Roman wird die ›silliness‹ von Mrs Bennet und der Handlungsstrang um Lydias elopement mit George Wickham zu einem Handlungsstrang verwoben, allerdings erweist sich Julio, so sein Romanname, nicht als TV-Presenter, sondern als vermeintlicher Anlageberater und Betrüger, der mit nie existierenden »timeshare appartments« nicht nur die Jones’ um ihre Ersparnisse, sondern auch Freunde und Verwandte, darunter Mark Darcys Eltern, um ihr Geld gebracht hat.20 Dass Pamela Jones nicht in die Mühlen der Justiz gerät (und das Geld gerettet wird), ist Mark Darcy zu verdanken.21 Mr Jones erweist sich hier als ebenso schwach wie Mr Bennet bei der Rettung von Lydias Ehre. Im Film Bridget Jones’s Diary ist Julian zwar kein Krimineller, doch dass Pamela Jones wieder nachhause zurückkehrt, ist nicht dem Einsatz von Mr Jones geschuldet (er sitzt zuhause und trauert), sondern Julians wahrem (und durch Selbstbräuner ziemlich orange- bzw. pupurfarbenem) abstoßendem Gesicht. Mark Darcy fällt aber auch im Film wieder die Rolle des Retters zu: Er rettet Bridgets Karriere, indem er ihr als einziger ein Interview mit seinen Mandanten, einem Liebespaar, in einem brisanten politischen Rechtsfall gewährt. Zu beobachten ist also, dass Mark Darcy wie Mr Darcy – um in der Perspektive von Robert Miles zu bleiben – genau jene Aufgaben übernimmt, die einer väterlichen Position zukommen, womit beide sich als künftige Ehemänner und Väter empfehlen. Die ins Humoristische gewendete Schwäche der Vaterfigur in Bridget Jones’s Diary kann aber nicht nur als Widerhall des Austen’schen Romans verstanden werden, sondern auch mit dem Phantasma der Heiligen Familie in Verbindung gebracht werden, das mit Weihnachtsgeschichten bzw. -filmen aufscheint. Auch die heilige Familie hat, wie Albrecht Koschorke zurecht bemerkt, ein Vaterschaftsproblem: Sie ist »keine echte Familie. Die heiligen Eltern Joseph und Maria haben nach christlicher Überzeugung Jesus nicht ge-

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Vgl. auch Eckert, Kenneth: »Pride and Pastiche: Humor and Intertextual Parody in Bridget Jones’s Diary«, in: English Language and Literature 63/2 (2017), S. 263-279. Fielding, Helen: Bridget Jones’s Diary. A Novel, London: Picador 2001, S. 272f. Siehe insbes. das Kap. »November: A Criminal in the Family«, H. Fielding: Bridget Jones’s Diary, S. 251-281.

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schlechtlich gezeugt.«22 Durch das »Mysterium der jungfräulichen Empfängnis« verdoppeln sich die Vaterpositionen bzw. -instanzen: Wieder und wieder ist die Heilige Familie in Legende und Malerei als eine innige, von zärtlicher Zuwendung erfüllte Gemeinschaft dargestellt worden. Sie hat entscheidenden Anteil daran, dass sich ein Ideal familiärer Intimität überhaupt ausformen und alltagsweltlich durchsetzen konnte. Dennoch geht so etwas wie ein Spalt durch diese Konstellation. Die menschliche Vaterschaft tritt zu einer anderen, himmlischen, transzendentalen Vaterschaft in Konkurrenz. Man hat sich nicht genügend darüber gewundert, dass das Christentum als patriarchale Religion außerstande war, die Position des Vaters eindeutig zu besetzen.23 Joseph führt in dieser Konstellation rechteigentlich eine »Halbschattenexistenz«. Als »ohnmächtiger, gehörnter Gatte« ist er eine Figur, »die seit jeher zu den Spottgestalten der abendländischen Popularkultur zählt.«24 Wenn Bridget und ihr Vater am Weihnachtsabend gemeinsam Trübsal blasen, ohne Pamela Jones und ihren TV-Starverkäufer, dann zeigt sich die profane Kehrseite der Heiligen Familie: Der Vater betrogen, die Mutter beseelt von einem anderen Mann und der Sohn ist eine Tochter.

Happy Endings Die strukturelle Konkurrenz zwischen menschlicher und himmlischer Vaterschaft ist, blickt man auf Weihnachtsfilme, von grundlegender Bedeutung, und das eben nicht nur, wenn Santa Claus/Father Christmas himself auftritt wie in Miracle on 34th Street (USA 1947, R: George Seaton) oder The Santa Clause (USA 1994, R: John Pasquin). Strukturell persistiert sie auch in It’s a Wonderful Life (USA 1946, R: Frank Capra), wenn am Ende des Films der Protagonist wieder seine Position als (guter) Vater einnimmt. Die Spannung zwischen himmlischem und irdischem Vater sieht Koschorke am Ursprung des christlichen Monotheismus am Werk, von Anbeginn sei die Geschichte des christlichen Monotheismus »eine Geschichte der Spaltung der Vater22 23 24

Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt a.M.: Fischer 2011, S. 20. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 30f.

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funktion« in einen »empirischen und transzendenten Part, die anwesende unzuständige und die abwesende, aber aus der Ferne herrschende patriarchale Instanz.«25 Diese Spaltung sei an die »kulturträchtige Trennung von geschlechtlicher und geistiger Liebe« gebunden, was sich »zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Geschlechterkonfigurationen« niederschlage: »Das Schisma der Vaterschaft […] stellt, durch alle historischen Einpassungen hindurch, den Schlüsselmechanismus in einem Machtsystem dar, dessen Direktiven im Namen des Vaters ergehen.«26 Auch Weihnachtsfilme setzen an dieser Spaltung an und so ist die Frage, ob Bridget Jones’s Diary und die Sequels The Edge of Reason (UK, USA 2004, R: Beeban Kidron) und Bridget Jones’s Baby27 (UK, USA, F 2016, R: Sharon Maguire) Direktiven im Namen des Vaters realisieren oder ob diese Filme der kulturträchtigen Trennung von geschlechtlicher und geistiger Liebe im Namen des Vaters etwas entgegensetzen. In Bridget Jones’s Diary versöhnen sich Mr und Mrs Jones an Weihnachten, die Mutter kehrt reumütig zu ihrem Mann zurück, nicht ohne »some effort« von seiner Seite einzufordern, zumal es nicht helfe, wenn Bridget und er ihren »lovely grown-up club of two« haben und auf »silly old Mummy« herabschauen (01:12:39). Dass diese Ehe sich zeitweise auflöst und Bridgets Mutter berufstätig wird, kann man mit Gilles Deleuzes These von der grundsätzlichen Krise aller disziplinargesellschaftlichen »Einschließungsmilieus« in Zeiten der Kontrollgesellschaften in Verbindung bringen.28 Mit ihnen etablieren sich »ultraschnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« (wie bspw. die Fußfessel), welche nach und nach »die alten – noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden – Systeme ersetzen«.29 Effekt dieses Umbruchs ist ein[e] allgemeine Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie. Die ›Familie‹ ist ein ›Heim‹, es ist in der Krise

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Ebd., S. 38. Ebd., S. 38f. Im Folgenden zitiert unter der Sigle BB, die Zeitenangaben im Fließtext sind diejenigen der DVD-Ausgabe von Universal Studios, Studio Canal und Miramax Film Corp. Deleuze stellt Ende der 1980er Jahre die These auf, dass das Regime der Disziplinargesellschaften im Sinne Foucaults nun abgelöst sei durch das der Kontrollgesellschaften, Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 254-262. Ebd., S. 254.

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wie jedes andere Heim, ob schulisch, beruflich oder sonstwie. Eine Reform nach der andern wird […] notwendig.30 Auch Deleuze stimmt also in den Krisendiskurs des Familialen mit ein, jedoch kann bei ihm keine Rede davon sein, dass er – wie Riehl im 19. Jahrhundert – einen patriarchalischen Machtverlust betrauert. Vielmehr weist er darauf hin, dass das, was freiheitlich aussieht wie Home-Office oder PatchworkFamilien, ein anderes Machtregime etabliert. Insofern liegt hier weniger eine Krise vor als ein auf Dauer gestellter Umbau von Institutionen. Mit diesem Umbau geht einher, dass die geschlechtlichen Identitätskonzepte der Disziplinargesellschaften, wie bspw. die bürgerliche Hausfrau und Mutter oder der bürgerliche Ernährer ›moduliert‹ werden.31 Pamela Jones ist hierfür das beste Beispiel: Schien die Arbeit im Shopping Channel nur eine Episode in ihrem Leben unter dem Zeichen der Selbstverwirklichung zu sein, so stellt sie sich am Ende von Bridget Jones’s Baby zur Wahl für das Grafton Underwood Parish Council und wird – natürlich – gewählt (BB 01:42:55ff.). In ihre Figur ist eine Zeitenwende eingetragen, die das Identitätskonzept bürgerliche Hausfrau bzw. ›die Frau an seiner Seite‹ als Anachronismus ausweist. Dementsprechend sind in den ersten beiden Bridget-Filmen die Hochzeiten ›alte Hochzeiten‹, die vornehmlich an Weihnachten stattfinden: Die Darcys feiern ihre Ruby Wedding in Bridget Jones’s Diary und die Jones’ ihre Silberhochzeit am Ende von The Edge of Reason. Gleich der Liebe von Elizabeth Bennet und Fitzwilliam Darcy bilden sie die Folie für die Liebeshandlung um Bridget und Mark. Dass dieses Liebeskonzept nicht in das beginnende 21. Jahrhundert zu übertragen ist, zeigt sich auch an der Umschrift des Austen’schen Happy Endings in Bridget Jones’s Diary: Der glückliche Spaziergang von Elizabeth Bennet und Mr Darcy am Ende des Romans erscheint in Bridget Jones’s Diary grotesk entstellt:32 Statt würdig zu spazieren muss Bridget nur mit Shirt, Strickjacke, Leopardenslip und Sneakern bekleidet im winterlichen London Mark Darcy hinterherjagen, weil sie glaubt, er habe ihr Tagebuch 30 31 32

Ebd., S. 255. Ebd., S. 256. Zur Funktion des Grotesken in Working Girls-Filmen der 1990er und 00er Jahre siehe: Keck, Annette: »Working Girls Go Grotesque. Zur Reflexion von Selbstregierungstechniken in der westlichen Populärkultur seit den 1990er Jahren«, in: Paula-Irene Villa et al. (Hg.), Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht, Wiesbaden: Springer 2012, S. 75-88.

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gelesen und hätte sich angewidert oder zumindest verletzt von ihr abgewendet. Der finale Kuss zeigt dieses ungleich gekleidete Paar und entbehrt dementsprechend nicht der Komik.33 Dass groteske Elemente als Medien kultureller Veränderungen begriffen werden können, hat Peter Fuß auf der Grundlage der Überlegungen von Michail Bachtin und Wolfgang Kayser herausgearbeitet; er versteht das Groteske als Medium des kulturellen Wandels, als transgressiven Akt, als Grenzziehung, die sich selbst thematisiert.34 So gesehen konfrontieren groteske Entstellungen das bürgerliche bzw. disziplinargesellschaftliche Geschlechterregime mit ihrem perhorreszierten Außen, ihren Grenzen, sie verhandeln und justieren neu gesellschaftliche Grenzziehungen. Die Trennung von geistiger und geschlechtlicher Liebe mit den daran geknüpften Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten ist eine solche Grenze, die mit Bridget Jones’s Diary reflexiv wird, Paradebeispiel hierfür sind ›natürlich‹ Elizabeth Bennet und Fitzwilliam Darcy: The basis… I know, is my simple human need for Darcy to get off with Elizabeth… They are my chosen representatives in the field of shagging, or, rather, courtship. I do not, however, wish to see any actual goals. I would hate to see Darcy and Elizabeth in bed, smoking a cigarette afterwards. That would be unnatural and wrong and I would quickly lose interest.35 Das perhorreszierte Außen ist der körperlich-materielle Aspekt der Liebe, ›the field of shagging‹, das in Fieldings Roman vielfach ›beackert‹ wird. Die Trennung zwischen geistiger Liebe und just shagging, wie sie in der Figurenkonstellation Mark Darcy/Daniel Cleaver angelegt ist, scheint so einfach nicht zu sein, dementsprechend bleibt das Sakrament der Ehe bei Bridget und Mark ausgesetzt und spätestens zu Beginn von The Edge of Reason wissen wir, dass die beiden bis dahin nicht geheiratet haben. Auch dieser Film endet trotz des Heiratsantrags von Mark Darcy nicht mit Bridgets Hochzeit, sondern, wie oben erwähnt, mit der weihnachtlichen Silberhochzeit von Mr und Mrs Jones. 33

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Zur Komik in Bridjet Jones’s Diary siehe Poole, Ralph J.: »Funny Ones 1990«, In: Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hg.), Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit in der Moderne, Berlin: Kadmos 2007, S. 182-203, bes. S. 186-190. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar: Böhlau 2001 (= Kölner Germanistische Studien, Neue Folge 1), S. 38; Fuß bezieht sich auf: Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg: Stalling 1957 und Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. H. Fielding: Bridget Jones’s Diary, S. 215.

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Bridget Jones’s Baby führt nun eine im Vergleich zum bürgerlichchristlichen Ehekonzept radikal modulierte Version der Familiengründung vor: Bridget wird schwanger und weiß nicht, ob das Kind während eines One-Night-Stands mit dem Datingplattform-Gründer Jack Quant (Patrick Dempsey) gezeugt wurde oder Ergebnis einer Nacht mit Mark Darcy war, die sich anlässlich der Taufe des gemeinsamen Patenkindes ergab. Die folgende Handlung prägt das Rivalisieren beider Männer um Bridgets Gunst und die Vaterschaft ihres Kindes. Bridget bekommt somit vor der Ehe ihr Kind, einen Sohn, Vaterschaft wird an das Ergebnis eines genetischen Tests geknüpft. Zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes stehen die Frauen im Vordergrund, die Frauenärztin, prominent besetzt mit Emma Thompson, schickt die eventuellen Väter vor die Tür und macht sich über jene (männlichen) Ärzte lustig, die glauben, man könne den Schmerz wegatmen, wenn ein Menschenkind durch die mütterliche Vagina auf die Welt komme. Bridgets Mutter, frisch gewählt, verkündet bei der Wahlversammlung mit ihrem Mann an der Seite: »We are about to become a grandmother« (BB 01:43:17), die News-Moderatorin in Bridgets Fernsehsender verkündet »Bridget Jones is in labour« und weist sich als »bloody godmother« aus (BB 01:43:40), was Bridgets Chef noch durch ein »You are a fucking mother« steigert. Die absolute Hochstimmung in der News-Redaktion wird konterkariert durch zwei ziemlich erschöpft wartende Männer, statt einer Heiligen Familie sehen wir zwei, die Vaterposition ist vorläufig doppelt besetzt, einige Mitglieder der Urban Family, wie wir sie aus Bridget Jones’s Diary schon kannten, kommen hinzu und mit ihnen ein kurzer Verweis auf eine Demonstration von »lesbian activists«. Spätestens hier zeigt sich, dass die ›biologisch‹ kodierte, heterosexuell aufgestellte Familienkonstellation in die Urban Family eingelassen ist, also keine Ablösung inszeniert wird. Der Kuss des älteren schwulen Paars anlässlich desjenigen von Bridget und Mark vor dem Traualtar belegt diese Öffnung bzw. Modulation. Den Vater von Bridgets Kind macht die Ärztin, sie bittet die beiden zum Test: »Come on, you two, time for a little test. It’s exiting, isn’t it? It’s like the final of The X Factor, dial 1 if you want it to be Mark, dial 2 if you want it to be Jack« (BB 01:46:36). Dr Rawlings weist die Vaterschaft von Bridgets Kind als kontingent und dem Willen entzogen aus, wie der ironische Verweis auf die Wahl des Wunschkandidaten deutlich macht. Das Ergebnis jedoch scheint dagegen den Glauben an eine höhere (göttlich-patriarchalische) Ordnung möglich zu machen: Man könnte argumentieren, dass in dem Moment, in dem Mark Darcy zum Vater bestimmt wird, die große Liebe wieder einge-

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setzt wird, das Erlösungsphantasma wieder in Kraft tritt, die Trennung von geistiger und körperlicher Liebe wieder vollzogen wird. Der Name des Kindes aber vollzieht diese Trennung nicht, das Kind trägt den Namen von Mutter und Vater: William Jones Darcy heißt es, die maternell-materielle Seite bleibt präsent, das Patronym wird irritiert. Zweifel an der Erlösungskraft dieser Ehe bzw. an der einzigen großen Liebe sind durchaus begründet: Kleinere Anlässe hierfür sind, dass die Pluralisierung der Vaterposition bestehen bleibt, während der Trauung von Mark und Bridget hält Jack das Kind auf dem Arm, beide Männer treten nebeneinander bei der letzten Einstellung aus dem Bild. Wir sehen allein Bridget im Brautkleid samt Kind, wobei ihr Schleier als Teil des hochzeitlichen Transgressionsrituals und Zeichenträger von Unschuld bzw. Reinheit vom Wind erfasst und weggeweht wird. Größeren Anlass zu Zweifeln bietet die Tatsache, dass nicht nur zwei Väter um die Vaterposition konkurrieren, sondern dass Mark Darcy schon zweimal verheiratet war und dementsprechend zweimal geschieden ist, es also sein drittes ›Ja-Wort‹ ist. Der größte Zweifel aber liegt im Schicksal von Daniel Cleaver begründet: Bridget Jones’s Baby beginnt mit der Beerdigung von Daniel Cleaver, dem Konkurrenten von Darcy, Inbegriff von Promiskuität, ›shagging‹ und ›making love just for fun‹, dem Bridget, wie wir aus den vorhergehenden Filmen wissen, nur mühsam entsagen konnte. In der letzten Einstellung von Bridget Jones’s Baby erfährt dieser Daniel Cleaver nun seine Auferstehung: Wir sehen vor dem Abspann eine Zeitungsseite mit seinem Foto und den Schlagzeilen »Publishing playboy discovered alive. One year after the plane goes down in bush« (BB 01:51:18). Dass Daniel Cleaver nun doch wieder quicklebendig sein liebesabenteuerliches ›Unwesen‹ treiben wird, stellt Bridgets Ehe erneut unter Vorbehalt und artikuliert keine geringen Zweifel an der Wahrheit und Einzigartigkeit bzw. dem Erlösungspotenzial der Liebe zu Mark von den Wirrnissen der körperlichen Liebe. Das Ende der Hochzeitsszene und der Blick auf die Zeitung mit Daniels Foto ist unterlegt mit Ellie Gouldings Song »Still Falling For You« – stellten die Lyrics zu Beginn noch einen Bezug zur Beziehung von Bridget und Mark her, insinuiert der Schwenk auf Daniels Portrait in der Zeitung, dass sie genauso gut für Bridget und Daniel Cleaver gelten können. Das Erlösungsversprechen, das sowohl die Inszenierungen von Weihnachten bzw. weihnachtlichen Hochzeiten wie auch die Liebeshandlung von Pride and Prejudice aufrufen, erweist sich mit den Bridget Jones-Filmen infrage gestellt. Ob dieser Mr Darcy ›the one‹ ist, ob alles ›gut‹ wird bzw. ist, bleibt fraglich. Das weihnachtliche Phantasma der ›Heiligen Familie‹ er-

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scheint irritiert, die Restitution der Differenz von körperlicher und geistiger Liebe im Namen des Vaters dauerhaft aufgeschoben bzw. unterlaufen. ›Die große Liebe‹ kann nicht eins zu eins in die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts übertragen werden. Sie fungiert als gleichermaßen sentimentalisches wie anachronistisches Zitat. Es bleibt somit zu diskutieren, ob mit den quasisakralen Einsprengseln ein Fall von ›to have the cake and eat it‹ generiert wird, d.h. ob und wenn ja wie der patriarchalisch grundierte Familienund Liebesmythos trotz seines auf Dauer gestellten, seriellen Scheiterns in Zeiten der Kontrollgesellschaften wirkmächtig bleibt – und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Vom Wunder der Liebe im populären Genre. Märchenhafte Ordnungen in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel Andrea Geier

Erzählen im populären Genre Wer mit Aschenputtel- und Cinderella-Märchen vertraut ist, wird in einem Film, der Drei Haselnüsse für Aschenbrödel betitelt ist, ein Happy End erwarten. Die binationale Koproduktion (ČSSR, DDR 1973, R: Václav Vorlíček) erfüllt dies.1 Allerdings muss der Prinz einigen Aufwand betreiben, damit das Paar sich findet. Zusätzlich zur Schuhprobe als dem in der Erzähltradition zentralen retardierenden Moment gilt es ein Rätsel zu lösen und das Aschenbrödel explizit zu fragen, ob es ihn heiraten möchte. Auch wenn sich genrespezifisch die Spannung in Grenzen hält, ob es einwilligt, fällt auf, dass hier nicht direkt von der Schuhprobe zur Hochzeit übergegangen, sondern Einverständnis inszeniert wird. Diese Gestaltung des Happy Ends verweist auf ein Charakteristikum des Erzählens im populären Genre im Allgemeinen: Bekannte Plots und Darstellungskonventionen formen Erwartungshaltungen des Publikums. Interessant ist zu sehen, wie eine bereits bekannte Geschichte auf neue Weise präsentiert wird. Dass sich einzelne intertextuelle oder intermediale Referenzen auf bestimmte Werke erkennen lassen – das Drehbuch von Drei Haselnüsse für

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Filmstudio Barrandov, ČSSR/Prag, DEFA, DDR/Berlin. Zu DEFA-Märchenfilmen, insbesondere Verfilmungen von Märchen der Brüder Grimm siehe Niemeyer, Christin: »Zwischen Magie und Propaganda. DEFA-Verfilmungen von Märchen«, in: Claudia Brinkervon der Heyde/Holger Ehrhardt/Hans-Heino Ewers/Annekatrin Inder (Hg.), Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (MeLiS. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, Band 18), Bern: Peter Lang, S. 435-444.

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Aschenbrödel hat das Märchen von Božena Němcová zur Vorlage,2 die sich wiederum an der berühmten Version in Grimms Kinder- und Hausmärchen orientierte –, ist dabei nicht entscheidend. Das Publikum darf vielmehr einen unterhaltsamen und versierten Umgang mit dem von einzelnen Quellen unabhängigen populären Wissen über Plotmuster und zentrale Motive erwarten, hier: Liebesgeschichte, Familienkonstellation, Schuhprobe, Ball am Hof als Festivität (ältere Versionen: Schauplatz Kirche) u.a.m. Dies erklärt, warum auch heute noch neue Aschenputtel-Filme3 ein Publikum finden und sogar Neuverfilmungen wie z.B. in neuerer Zeit Tre nøtter til Askepott (NOR 2021, R: Cecilie Mosli). Für jedes künstlerische Werk, das sich einer Erzähl- und Genretradition zuordnen lässt, ist es also grundsätzlich produktions- und rezeptionsseitig gleichermaßen bedeutsam, wie Wiederholung und Variation zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dies gilt für alle Gattungen und alle Formen medialer Inszenierung: Im Fall der Aschenputtel-Erzählungen für das klassische und modernisierte Märchen in Literatur und Filmen, die Heftchenliteratur ebenso wie das Musical. Für die Analyse ist allerdings nicht nur der Umstand interessant, dass es Veränderungen gibt, sondern wie diese jeweils motiviert sind: Lassen sich motivische Veränderungen einer Erzähltradition vorwiegend im Sinne eines allgemeinen variatio delectat-Prinzips charakterisieren oder ist dabei (auch) ein problemorientiertes Arbeiten an Figurencharakterisierungen, Plot und Motiven erkennbar? Und wie werden diese Veränderungen medien- und genrespezifisch umgesetzt? Für die Untersuchung des Märchenklassikers Drei Haselnüsse für Aschenbrödel bietet sich ein Fokus auf geschlechts- und klassenbezogene

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Němcová, Božena: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, Berlin: Eulenspiegel Verlag 2006. Einen Überblick über Aschenputtel- und Cinderella-Filme bietet Tomkowiak, Ingrid: »›In einem Schloss zu leben ist ganz herrlich‹. Aschenputtel im Film«, in: Claudia Brinker-von der Heyde/Holger Ehrhardt/Hans-Heino Ewers/Annekatrin Inder (Hg.), Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (MeLiS. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, Band 18), Bern: Peter Lang, S. 493-503, hier S. 499. Eine Voraussetzung für den Erfolg ist zweifelsohne, dass »die Kinder- und Märchenfilmproduktionen der Tschechoslowakei als unpolitisch und oft sogar als freiheitlich-oppositionell wahrgenommen wurden.« Retzlaff, Steffen: »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Zur Produktion und Rezeption und zum Erzähltyp eines Märchenfilms aus der Zeit der ›Normalisierung‹«,in: Zeitschrift für Slawistik 63/2 (2018), S. 301-329, hier S. 306.

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Zuschreibungen und Stereotypisierungen an. Die Paarbildung vollzieht sich im Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung, die ständisch strukturiert ist, und dies ist für die Inszenierung der Familienverhältnisse wie der Liebesgeschichte in mehrfacher Weise relevant.4 Eine intersektionale Untersuchungsperspektive hilft zu verstehen, wie sich Dimensionen von gender und class (weiter)entwickeln und in ihrem Zusammenspiel in der Darstellung wirksam werden.5 Mit Blick auf Genres steht außer Frage, dass der »European cult classic«6 dem Märchenfilm zuzuordnen ist, auch wenn dabei genauer zu prüfen sein wird, welche Bedeutung dem Märchenhaften tatsächlich zukommt. Im Unterschied zu anderen Märchenfilmen, die ganzjährig beliebt sind, ist Drei Haselnüsse für Aschenbrödel an Weihnachten besonders populär. Ist er also auch ein »Weihnachtsfilm«7 oder genauer: In welcher Hinsicht ist er das? Die Antwort auf diese Frage ist methodisch aufschlussreich, denn damit kommen verschiedene Möglichkeiten der Genrezuordnung in den Blick.        

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Zeitlich ist die Geschichte, für das Märchengenre durchaus typisch, vage situiert. Retzlaff spricht davon, dass sich stilistisch im Wesentlichen das 15./16. Jahrhundert assoziieren ließe. Vgl. S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 316. Der Beitrag basiert auf Überlegungen, die ich zuerst im Rahmen der WeihnachtsfilmeVortragsreihe im Dezember 2021 vorgestellt habe. Eine Aufzeichnung ist auf YouTube abrufbar: https://youtu.be/B5ZEZfXp2h8 (23.5.2022). Eine kürzere Version des Beitrags wurde bei 54books veröffentlicht: Geier, Andrea: »Weihnachten mit Cinderella: Über Nostalgie, Genres und märchenhafte Ordnungen bei ›Drei Haselnüsse für Aschenbrödel‹«, in: 54books vom 19.12.2021, https://www.54books.de/weihnachten-mit-cinderell a-ueber-nostalgie-genres-und-maerchenhafte-ordnungen-bei-drei-haselnuesse-fuer-a schenbroedel/ (zuletzt aufgerufen am 22.05.2022). Schwabe, Claudia: »The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany: Tracing the Popularity of a Binational Fairy-Tale Film on Television«, in: Marvels & Tales 31/1 (2017), S. 80-100, hier S. 80. Schwabe erwähnt außerdem die Auszeichnung als »Fairy Tale of the Century« beim Internationalen Filmfestival für Kinder und Jugend in Zlín, Tschechien, 1999. Zur Rezeption vor und nach 1989 in Tschechien und Deutschland siehe S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 302.

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Drei Haselnüsse für Aschenbrödel als Weihnachtsfilm Der Name Aschenbrödel verweist als Variante von Aschenputtel auf eine bekannte Märchentradition. Weder Weihnachten noch die Adventszeit kommen in diesem Film vor. Das Fest selbst wird nicht als Ereignis vorgeführt oder auch nur erwähnt, es bildet keinen zeitlich-situativen Bezugsrahmen für das Erzählte. Entsprechend finden sich keinerlei Anspielungen auf weihnachtliche Rituale und weitergehendes kulturelles Wissen über Weihnachten, das in westlichen, historisch christlich geprägten Gesellschaften als bekannt vorausgesetzt werden kann. Dass sich Drei Haselnüsse für Aschenbrödel trotzdem als Weihnachtsfilm etabliert hat und tatsächlich zu den »Weihnachtsklassikern«8 gezählt wird, erschließt sich über die Mediengeschichte. Seit der Erstausstrahlung am 26.12.1975 in der ARD gehört der Film zum festen Programm der (Vor-)Weihnachtszeit in der BRD, seit der bundesweiten Ausstrahlung der Dritten Programme machen ihn vielfache Sendetermine von der Adventszeit bis ins jeweils neue Jahr verfügbar. Als ein in der Bundesrepublik geborenes und sozialisiertes Kind habe ich diesen Film als Weihnachtsfilm kennengelernt. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht führen Rezeptionszeugnisse unabweisbar vor Augen, dass Drei Haselnüsse für Aschenbrödel international als Weihnachtsfilm gilt. Ich nenne nur zwei Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten: Ohne diese Zuordnung wäre unverständlich, wieso sich die Filmmusik von Karel Svoboda auf einer Weihnachts-CD neben We Wish You a Merry Christmas und Last Christmas finden kann.9 Und in der norwegischen Netflix-Serie Weihnachten zu Hause (Hjem til jul, 1. Staffel 2019, 2. Staffel 2020, Produktion: Anders Tangen) findet sich eine Referenz auf Drei Haselnüsse für Aschenbrödel als Weihnachtsfilm-

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S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 302. Dass dies ein bedeutsamer Teil der Rezeption ist, zeigt sich auch im Wikipedia-Eintrag: »Seit Jahren ist er als Kultfilm fester Bestandteil des Weihnachtsprogramms der deutschen öffentlich-rechtlichen Sender.« Drei Haselnüsse für Aschenbrödel: Wikipedia, https://de.wikipedia.org /wiki/Drei_Haseln %C3 %BCsse_f %C3 %BCr_Aschenbr %C3 %B6del (zuletzt aufgerufen am 02.06.2022). Die DEFA-Fassung hat eine Instrumentalversion, während die tschechoslowakische Fassung »Tři oříšky pro Popelku« auch Gesang von Karel Gott enthält. Siehe dazu S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 323.

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Klassiker.10 Wie aber kann ein Film erfolgreich als Weihnachtsfilm im Fernsehprogramm platziert werden, obwohl Weihnachten darin nicht vorkommt? Der Film bietet an Vorstellungen der (Vor)Weihnachtszeit anschlussfähige visuelle und inhaltliche Motive, die als stimmig empfunden werden können: Dazu gehören der Schnee (jahreszeitbezogen aus mittel- und nordeuropäischer Perspektive) in den meist sonnenbeschienenen Schneelandschaften des Films,11 der Umstand, dass sich mehrere wunderbare Ereignisse darin finden, und das eindeutige Happy End. Keines dieser Elemente ist exklusiv für den Weihnachtsfilm, doch gemeinsam plausibilisieren sie entsprechende Assoziationen. Dazu gehören insbesondere die beiden zuletzt genannten Aspekte, die sich fungibel dem (Aschenputtel-)Märchen und dem Weihnachtsfilm zuordnen lassen. Weihnachten gilt als ein Fest der Liebe in Bezug auf eine familiäre Gemeinschaft, in Filmen teilweise inszeniert als ein Test für den Umgang der Gesellschaft mit ihren weniger privilegierten Mitgliedern,12 und als ein Fest der romantischen Liebe, das besonders romantische Komödien in weihnachtlichem Setting erfolgreich bedienen.13 Orientiert auf das Thema Familie und Partnerschaft, verbunden mit der Hoffnung auf Lebensglück, wecken Weihnachtsfilme positive Emotionen, die Stimmung ist rührend-weinerlich-nostalgisch. Auch wenn Drei Haselnüsse für Aschenbrödel in Bezug auf die Aschenputtel-Geschichte eindeutig ein Märchenfilm ist, lässt es das bisher bereits genannte Merkmalsbündel ebenso zu, von einem Liebesfilm mit märchenhaften Motiven zu sprechen. Auffällig ist, dass das Wunderbare zwar eine wichtige Rolle spielt, aber die in einem engeren Sinn märchenhaft-fantastischen Motive im Film sparsam verwendet werden – so

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Ironischerweise wird dieser Status gerade dadurch hergestellt, dass die beiden Gesprächspartner:innen, die sich in einer Szene (vierte Folge der zweiten Staffel) über bekannte Weihnachts-Lieder und Filme austauschen, darin übereinstimmen, dass sie Drei Haselnüsse für Aschenbrödel nicht mögen. Ursprünglich sollte der Film im Sommer gedreht werden. In der binationalen Produktion ließ sich der Termin jedoch nur im Winter verwirklichen. Zu dieser angesichts der Bedeutung der Winterlandschaften für den Film kurios anmutenden Entwicklung siehe z.B. S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 308; C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 86. Siehe dazu z.B. den Beitrag von Michael Niehaus in diesem Band. Bedijs, Kristina: »Lebkuchen, Lichterglanz, Lametta… und Liebe: Das gelingsichere Weihnachtsfilmrezept«, in: 54books.de vom 05.12.2021, https://www.54books.de/lebku chen-lichterglanz-lamettaund-liebe-das-gelingsichere-weihnachtsfilmrezept/ (zuletzt aufgerufen am 02.06.2022).

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sind zwar beispielsweise Tiere sehr wichtig, was Kindern besonders gefallen dürfte, aber sie sprechen nicht. Dadurch rückt das Wundersame assoziativ noch stärker in den Kontext weihnachtlich-romantischer Stimmung und macht den im realistischen Modus gedrehten Märchenfilm insbesondere für erwachsene Zuschauer:innen attraktiv. Zu diesem Merkmalsbündel passt auch, dass der Liebesplot eingebunden ist in eine Erzählung, in der die Idee poetischer Gerechtigkeit verwirklicht erscheint: Aschenbrödel wird von der Stiefmutter ungerecht behandelt – Krise der familialen Ordnung –, und durch die Heirat nimmt es einen ihm zustehenden Platz in der Gesellschaft ein. Umgekehrt sind die grausamen Motive des Aschenputtel-Märchens (in der Erzähltradition u.a. auch noch bei Nêmcová) wie etwa das Verstümmeln der Füße für die Schuhprobe und die Bestrafung der Stiefmutter entfernt oder zumindest stark abgemildert. Sie stören daher nicht die romantisch-nostalgische Stimmung, die vom Weihnachtsfilm erwartet wird. Drei Haselnüsse für Aschenbrödel lässt sich als ein familientauglicher romantischer Weihnachtsfilm charakterisieren, der visuell ansprechend Schneelandschaften und eine Festivität – ein Ball in einem Schloss mit Tanzszenen, Kostüme etc. – in Szene setzt. Das Genre Weihnachtsfilm muss also nicht durch das Thema oder Setting ›Weihnachten‹ hergestellt werden. Ebenso offensichtlich ist allerdings, dass eine Ausstrahlung zur Weihnachtszeit allein nicht genügt, um jeden Film, etwa aus der James Bond-Reihe,14 zu einem eigentlichen Weihnachtsfilm zu machen. Eine Voraussetzung dafür bleibt neben einem regelmäßigen einschlägigen Sendetermin, dass eine motivische Anschlussfähigkeit vorhanden ist – so reduziert und fungibel diese auch sein mag. Und dies ist bei Drei Haselnüsse für Aschenbrödel der Fall. Es wäre eine interessante Frage für zukünftige Studien zur Medienentwicklung, ob es im Zeitalter von Streamingdiensten weiterhin gelingen kann, Filme, die keinen thematischen Bezug zu Weihnachten haben, in gleicher Weise als 14

Im Massenkonsum zur Weihnachtszeit spielen Filme traditionell eine wichtige Rolle: »Much of this scheduling was anchored around big budget films, many of which were originally released in the Christmas season to maximize box office potential. Christmas Day ›blockbuster‹ movies were soon a staple of television. Often these films had absolutely nothing to do with Christmas, but were chosen for their spectacle, action, and family appeal such as The Sound of Music (1965), Mary Poppins (1964), Raiders of the Lost Ark (1981), or a James Bond title.« Connelly, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larsen (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: Oxford University Press 2020, S. 411-422, hier S. 418.

Vom Wunder der Liebe im populären Genre

Weihnachtsfilme zu positionieren. Umgekehrt ist zu konzedieren, dass der anhaltende Erfolg von Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und die auch dank des Internets international große Fangemeinde nicht (mehr) an den traditionellen Ausstrahlungstermin an Weihnachten gebunden sind.15

Liebe und sozialer Aufstieg oder: Die Liebe als das eigentlich Wunderbare Zum klassischen Plot einer Aschenputtel-Geschichte gehört, dass sie mit einer heterosexuellen Paarbildung abschließt und diese als vollendetes Glück vorstellt. Damit wird zunächst einmal, unabhängig davon, ob es dem Genre Märchen zuzuordnen ist oder nicht, ein heterosexuelles Liebeskonzept reinszeniert. Diese Beschreibung trifft offensichtlich zu, aber es ist auch noch nicht viel damit gewonnen. Denn wenn das als Happy End vorgestellte Ende auf Grund bekannter Genrekonventionen von vornherein feststeht, lautet die entscheidende Frage nicht, ob es glücklich ausgeht, sondern wie dieses Ende innerfiktional motiviert und hergestellt wird. Hierfür spielen Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnungen und sozial (un)angemessener Verhaltens- und Interaktionsmuster in Bezug auf Geschlecht, Klasse, Alter, Herkunft u.a.m. eine zentrale Rolle. Charakteristisch für die Aschenputtel-Erzähltradition ist, dass das Liebesglück für die weibliche Figur mit sozialem Aufstieg verknüpft wird: »Das Märchen vom Aschenputtel kann als prototypisches Verlaufsmodell einer Liebesgeschichte gelten, da es beschreibt, wie ein armes, einsames Mädchen, das niedere Arbeiten verrichten muss, einen Prinzen heiratet, wie also materieller Gewinn und sozialer Aufstieg mit Liebesglück einhergehen.«16

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Die beeindruckende Palette an Merchandising, Fan-Aktivitäten bis hin zu touristischen Angeboten ist ein dankbares Feld für kulturwissenschaftliche Untersuchungen. Zu den Aschenbrödel-Konsumprodukten und Veranstaltungen insbesondere C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 90ff. Reiling, Jesko: »›Wird sie, das Aschenbrödel von der Kaiseralm, jemals einen Brautkranz tragen?‹ Das Aschenputtel-Märchen in Liebesromanen seit dem 19. Jahrhundert«, in: Eva Parra Membrives/Albrecht Classen (Hg.), Literatur am Rand/Literature on the Margin, Perspektiven der Trivialliteratur vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert/ Perspectives of Trivial Literature from the Middle Ages to the 21st Century (Popular Fiction Studies 1), Tübingen: Narr Francke Attempto 2013, S. 243-255, hier S. 243.

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Wenn Aschenputtel-Geschichten von der wahren Liebe erzählen, stellen sie dabei jeweils Verbindungen zwischen geschlechts- und klassenbezogenen Ordnungsmustern her. Wie dies geschieht und vor allem, in welcher Weise, ob explizit oder nur unterschwellig, ist in jedem einzelnen Werk aufs Neue zu untersuchen. Hier kommt eine Story, die wir alle kennen. Und trotzdem kann man sie gar nicht oft genug hören. So toll ist die Geschichte von Aschenputtel und ihrem Weg durch dick und dünn bis zum Sieg über alles Hässliche und Böse. Weil diese Geschichte so packend und lehrreich zugleich ist, gibt es sie nicht nur bei uns, sondern überall auf der ganzen Welt. So auch im fernen Amerika. Dort heißt Aschenputtel übrigens Cinderella. Mit diesen Worten leitet der Erzähler in der deutschsprachigen Version von Disney’s Zeichentrickfilm Cinderella (USA 1950, R: Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, Hamilton Luske; die zitierte Einleitung wurde in der deutschen Synchronisation 1980 hinzugefügt) die Geschichte ein, und er fährt fort: Walt Disney lasse uns »erleben, wie es Cinderella geschafft hat, ein glückliches Mädchen zu werden.« Der Disney-Film knüpft an Charles Perraults Aschenputtel-Version an und überrascht möglicherweise diejenigen deutschen Zuschauer:innen, die vor allem mit Grimms Kinder- und Hausmärchen vertraut sind, mit Mäusen, einer zaubernden guten Fee und einer Kürbis-Kutsche in prominenten Funktionen. Dies muss das Publikum allerdings nicht irritieren, da der Erzähltypus in Bezug auf die Kernelemente – Ausgangssituation (untergeordnete Position in der Familie, Ungleichbehandlung), Schuhprobe und Happy End – wiedererkennbar ist. Das märchenhafte und zeitenthobene Setting wird in der Disney-Version mit einer klaren, um nicht zu sagen holzhammerartig wirkenden alltagsweltlichen Perspektive versehen: Es gehe für eine junge Frau darum, das Glück zu finden, und das liege in der Liebe. Wie sich Lebensglück und Heirat im Erzählmuster miteinander verbinden, verweist auf von patriarchaler Logik geprägte Weiblichkeitsnormen, die sich für eine ideologiekritische Lektüre geradezu anbieten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erfuhren Mädchen im Rahmen einer traditionellen, bürgerlich geprägten Sozialisation in die Weiblichkeit, dass ihre soziale Akzeptanz als Erwachsene von einem Status bestimmt wird, den sie nicht alleine erreichen können: Sie sollten die Heirat mit einem Mann als Lebensziel und Ehe und Familie als (alleinige) Erfüllung ansehen. Die Ehe war, so hat es eindringlich schon Simone de Beauvoir in ihrer Analyse von Geschlechtermythen

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in Das andere Geschlecht (franz. 1949, dt. 1951) aufgezeigt, innerhalb einer von Geschlechterungleichheit geprägten Gesellschaft nicht nur ein Versprechen sozialer Sicherheit, sondern weitergehend ein soziales Aufstiegsversprechen. Solche Muster konnten auch unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen mit grundsätzlich erweiterten Rollenmodellen und damit verbundenen Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen fortwirken, weil es sich um internalisierte Weiblichkeitsmuster handelt. In diesem Sinne prägte etwa Colette Dowling den Ausdruck ›Cinderella-Komplex‹ für das Motiv, dass Frauen auf eine Veränderung ihres Lebens von außen (z.B. Heirat) warten.17 Im Rahmen solcher traditioneller Weiblichkeitsnormen lernten Mädchen und Frauen auch: Damit eine Frau attraktiv wirkt, soll sie sich heiratswillig und -fähig präsentieren, aber weder darf sie dabei allzu angestrengt und zielstrebig erscheinen, noch sollte sie versuchen, ihr Glück zu forcieren. In einer traditionellen Geschlechterordnung wird erwartet, dass sie wartet, bis sie gefragt wird, obwohl es ihre Aufgabe ist, ›den Richtigen‹ zu finden und eine Position zu ›erreichen‹, die soziale Akzeptanz verspricht. Beschreibt man Ansprüche patriarchaler Normvorstellungen, werden viele solcher inneren Widersprüche sichtbar. Den sogenannten Richtigen zu finden, gestaltet sich im Märchen zwar vergleichsweise einfach, weil es hier nur einen Mann gibt, der die Position eines Prinzen innehat, doch muss das Aschenputtel die Gelegenheit erhalten, von diesem ›erwählt‹ zu werden, d.h. konkret die Chance haben, am Ball und an der Schuhprobe teilnehmen zu können, was die Stiefmutter zu verhindern sucht. In Disney’s Cinderella werden solche widersprüchlichen Anforderungen an die junge Frau oberflächlich harmonisiert oder zumindest abgemildert dargestellt. Der Traum vom Liebesglück verbindet den Prinzen und Cinderella. Obwohl es eine plausible Motivation wäre, dem Leben mit der bösen Schwiegermutter und den gehässigen Stiefschwestern entkommen zu wollen, soll dies lediglich als Nebeneffekt der sprich- und wortwörtlichen Märchenhochzeit wahrgenommen werden. Cinderellas Ziel ist es, die wahre Liebe zu finden. Dank der Unterstützung tierischer Helfer kann Cinderella die Schuhprobe bestehen und ›schafft‹ es so, glücklich zu werden. Wichtige Voraussetzungen dazu sind wie in anderen Aschenputtel- und Cinderella-Versionen Schönheit und ein guter Charakter, eine positive Ein17

Dowling, Colette: Der Cinderella-Komplex. Die heimliche Angst der Frauen vor Unabhängigkeit, Frankfurt a.M.: Fischer TB 1984 (Orig.: The Cinderella-Complex. Women’s Hidden Fear of Independence, 1981).

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stellung zum Leben, die sie trotz ihrer Situation fast nie verzweifeln lässt, und das Motiv der Liebe auf den ersten Blick. Bei Disney erklärt Letzteres allerdings nicht nur, warum sich der Prinz sofort für Cinderella begeistern kann, sondern es wendet auch jeden Verdacht profan-pragmatischer Motive von Cinderella ab: Sie verliebt sich tanzend in den Prinzen, bevor sie weiß, dass er es ist. Das Gegenbild dazu bildet die Stiefmutter, die selbst vor Betrug nicht zurückschreckt. Hier zeigt sich, dass der Aschenputtel-Plot über die Figurenkonstellation ein potenzielles Problem bearbeitet, das sich durch das Narrativ vom sozialen Aufstieg durch Hochzeit ergibt. Der soziale Aufstieg darf nicht die zentrale Motivation darstellen, da dies die Vorstellung der romantischen Liebe beeinträchtigte. Auch Drei Haselnüsse für Aschenbrödel präsentiert in dieser Hinsicht Aschenbrödel (Libuše Šafránková) und ihre Stiefschwester Dora (Dana Hlaváčová), die darin von ihrer Mutter, d.i. Aschenbrödels Stiefmutter (Carola Braunbock) angestiftet wird, als kontrastive Weiblichkeitsmodelle: Gute Frauen heiraten aus Liebe, schlechte Frauen sind solche, die den Prinzen allein zum Zweck sozialen Aufstiegs in die Herrscherfamilie heiraten wollen. Dieses Liebeskonzept in Verbindung mit der Sortierung sozial erwünschter und unerwünschter Verhaltensweisen von Frauen findet sich in abgewandelter Form in Aschenputtel-Geschichten in alltagweltlichen Settings. In Aschenbrödel und Dollarprinz (1928) von Hedwig Courtz-Mahler sorgt eine Standesmaskerade dafür, dass sich das Aschenbrödel in einen Mann verliebt, von dem es erst später erfährt, dass er reich ist.18 Die Möglichkeit eines märchenhaft reichen Lebens darf als gut und angemessen gelten, weil sie sich gerechterweise ergibt. Ökonomisch belohnt wird nicht die Frau, die den »Dollarprinz« nur will, weil er reich ist, sondern diejenige, die die wahre Liebe sucht. Aschenputtel-Geschichten in der sogenannten Schemaliteratur konzentrieren sich ganz auf die Inszenierung eines alltagsweltlichen Wunders der Liebe im Rahmen eines Klassen- oder Milieuwechsels durch Heirat. Betrachtet man aus dieser Perspektive die märchenhaften Elemente im Märchengenre, fällt auf, dass sie nur benötigt werden, damit Hindernisse aus dem Weg geräumt werden können. Die Liebe selbst wird auch im Märchen

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Reiling weist in seiner Interpretation des Textes darauf hin, dass Courths-Mahler auf ein »traditionelles Motiv der Aschenbrödel-Dramatisierungen« zurückgreift, »den Rollentausch von Prinz und Diener«. J. Reiling: Das Aschenputtel-Märchen in Liebesromanen seit dem 19. Jahrhundert, S. 250.

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in keiner Weise herbeigezaubert, und gerade deshalb kann sie als das eigentliche Wunder wahrgenommen werden. Dieses Changieren zwischen genrespezifischem und alltagsweltlichem Gebrauch des Wunderbar-Romantischen spiegelt sich u.a. in der alltagssprachlichen Formulierung ›sich wie eine Prinzessin fühlen‹ oder ›den Märchenprinzen suchen‹. Auch jenseits einer oft plakativen Didaxe zeigt sich, dass sich das Genre Märchen keineswegs gegen alltagsweltlichen Transfer immunisiert, sondern im Rahmen der Liebesgeschichte gerade darauf abzielt. Im Film Drei Haselnüsse für Aschenbrödel wird im Einklang mit der Märchenvorlage kein zusätzlicher Aufwand betrieben, um narrativ abzusichern, dass es sich auf Seiten Aschenbrödels um die wahre Liebe handelt. Ein guter Charakter reicht aus. Er wird, wie in der Erzähltradition üblich, mehrfach plausibilisiert: Durch die einfühlsame Interaktion mit Tieren (Tieren, die es wertschätzt, im Unterschied zu Tieren, die gejagt werden), das Pferd Nikolaus, das der Vater ihm schenkte, die Eule, die zumindest indirekt über die Schatulle, auf der das Tier sitzt, mit der Mutter verbunden ist, sowie die Tauben, die bei den Strafarbeiten helfen. Dazu kommen vielfache zwischenmenschliche Interaktionen: Die Art, wie Menschen auf dem Gutshof, Knechte und Mägde, insbesondere die Küchenchefin (Míla Myslíková) und der väterlich wirkende Knecht Vinzekund (Vladimír Menšík), mit Aschenbrödel umgehen, und umgekehrt dessen selbstlose Hilfsbereitschaft, die sich u.a. darin zeigt, dass es den Küchenjungen vor Strafe bewahrt. Für ein gutes Herz spricht nicht zuletzt, dass es die kleinen Dinge wertschätzt wie das Geschenk der unscheinbaren drei Nüsse, die sich als nützliche, weil wunscherfüllende Zaubernüsse erweisen. Während die Nüsse im Film ein wichtiges Motiv sind, das auf Nêmcovás Märchen zurückgeht, weicht die Figurencharakterisierung deutlich ab: »Unlike her representation in Nêmcová’s tale, DEFA’s Aschenbrödel is no taciturn wallflower but rather an active, outspoken, resourceful spirit full of guile and wit.«19 Aschenbrödel ist eine selbstständige, Ungerechtigkeiten benennende, auch rebellisch handelnde, deutlich seltener und wenn dann offensichtlich widerwillig duldsame Frauenfigur,20 die ihr Leben selbst 19 20

C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 83. »Auch die emanzipierte Popelka muss zunächst gehorchen und unglücklich sein, ehe sie sich mit Hilfe des Märchenwunders befreien kann. Wäre die Figur so eigenständig, wie oft unterstellt wird, wäre der Filmplot von Tři oříšky pro Popelku als Märchen nicht plausibel. Der innovative Zugang dieses Films besteht darin, den zentralen Merkmalen des Typs zu folgen, um in den Schranken des Genres zu bleiben, diesen Vorgang aber

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gestalten will. Diese Eigenschaften und Haltungen bewirken im Rahmen des Narrativs sozialer Aufstieg durch Heirat, dass ein besonderer Akzent auf Wahl und Zustimmung der Protagonistin gesetzt wird.

Die drei Rollen des Aschenbrödel und ein Prinz, der sich bewähren muss Mehrere Motive lassen sich als problembewusst-progressives Arbeiten an tradierten Geschlechterrollen und geschlechtsspezifischen Zuschreibungen lesen. Allerdings sind diese durchaus programmatisch wirkenden Veränderungen ostentativ spielerisch inszeniert. Aschenbrödel kann reiten und Bogenschießen. Die Stiefmutter verbietet das aber mit der Begründung, dass es ein unangemessenes, da angeblich ›unweibliches‹ Verhalten sei. Solche rigorosen geschlechtsspezifischen Normen werden innerfiktional als falsch ausgewiesen. Der Vater brachte Aschenbrödel das Reiten und Bogenschießen bei und liebte seine beiden Töchter gleichermaßen, wie Aschenbrödel betont. Diese familiale Ordnung ging mit dem Tod des Vaters, der Aschenbrödel zur Waise machte (eine deutliche Veränderung gegenüber den beiden Märchenvorlagen), verloren. Die Stiefmutter ist unsympathisch und ungerecht, weil sie für alle erkennbar Tochter und Stieftochter ungleich behandelt, die Arbeitskräfte auf ihrem Hof nicht wertschätzt und mit Schlägen bedroht. Wenn sie Aschenbrödel verbietet, in die Stadt zu fahren oder auf den Ball zu gehen, wenn sie ihre Tochter anstiftet, das vom Ruß schmutzige Aschenbrödel zu verlachen und zu beschimpfen, ist offensichtlich, wer die Schuld an diesem Umstand trägt, und das setzt sie ins Unrecht in Bezug auf all ihre Entscheidungen. Die Erinnerung an eine frühere familiale Ordnung, die nach dem Tod der Mutter zunächst noch weiter bestand, ermöglicht es dem Publikum von Beginn an, lustvoll an Aschenbrödels Übertretungen teilzuhaben, denn diese stehen im Zeichen der Gerechtigkeit: Das Aschenbrödel nimmt sich nur, was ihm zusteht. Besonders intensiv wird dieses empathische Mitfühlen beim ersten Ausritt angeboten. Indem die Wahrnehmung zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung (Blick vom Pferderücken auf Wald und verschneiten Weg) wechselt, sind die Zusehenden eingeladen, die positiven Gefühle der über die variablen Ausdrucksmittel so weit wie möglich zu vertuschen.« S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 314.

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Figur mitzuempfinden. Dies wird musikalisch durch fröhliches Singen und Summen unterstrichen. Dass die als geschlechtsspezifisch markierten Normvorstellungen der Stiefmutter falsch sind, zeigt sich auch auf der Ebene des Plots: Denn es sind die als ›unweiblich‹ geltenden Fähigkeiten des Reitens, Jagens und Kletterns, die es Aschenbrödel ergänzend zu Klugheit und ›weiblicher‹ Anmut beim Ball ermöglichen, Prinzessin zu werden. Dass Aschenbrödel hübsch ist, spielt dafür durchaus eine Rolle, auch wenn der Schleier beim Tanz dies im Vergleich zu anderen MärchenVersionen etwas zurückzunehmen scheint.21 Es bleibt aber wie der gute Charakter eine Voraussetzung für die Prinzessinnentauglichkeit: Wie sich die Garde beim Ball nach ihr umdreht! Wie der König sofort ihre Haltung lobt! Die Ball-Szenen zeigen, dass Aschenbrödel eine Prinzessin ist, und sie sollte in dieser Rolle leben – und nicht wie eine Dienstmagd. Der entscheidende Unterschied zu anderen Fassungen ist, dass drei Begegnungen zwischen dem Prinzen (Pavel Trávníček) und Aschenbrödel vor der Schuhprobe inszeniert werden, und nur eine davon überhaupt auf Romantik fokussiert ist. Dadurch ergibt sich eine Akzentverschiebung in der Paarbildung: Die Eignung Aschenbrödels als Prinzessin steht nicht in Frage, sehr wohl aber die Eignung des Prinzen als Partner. Er muss sich bewähren. In der Erzähltradition reicht hierfür eine gewisse Hartnäckigkeit aus, mit der er nach der Prinzessin sucht oder gar suchen lässt, und mit der Schuhprobe ist alles entschieden. In Drei Haselnüsse für Aschenbrödel muss sich der Prinz dagegen auf Aschenbrödels Bedingungen einlassen und so für sich gewinnen. Auf diese Weise dürfen die Zuschauer:innen sicher sein, dass Aschenbrödel die richtige Wahl getroffen hat. Dass die ›Richtigen‹ zueinander finden, führt der Film auf der Ebene der Figurencharakterisierung und des Plots ausführlich vor. Gemeinsam ist beiden Figuren, dass sie zunächst gar nicht erpicht darauf sind zu heiraten, und dass sie offen aussprechen, was sie denken. Bei beiden konfligiert dies nur in geringem Maße mit den ihnen zugeschriebenen Rollen. Aschenbrödel rebelliert, wie bereits beschrieben, gegen falsche Regeln, und das Verhalten des

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Die Anmut der Prinzessin, die beim Tanz gelobt wird, ist natürlich auch ein Element ihrer Schönheit, daher greift es deutlich zu weit, wenn Claudia Schwabe urteilt: »In 3HfC the focus shifts from Aschenbrödel’s beauty to her active, feisty, yet charming character.« C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 88.

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Prinzen wird damit erklärt, dass er der Liebesheirat seiner Eltern nacheifere. Dies ist eindeutig positiv konnotiert und stützt, dass er in Aschenbrödel seine wahre Liebe erkennt. Beide verlieben sich, allerdings scheinbar zeitversetzt: Aschenbrödels Interesse am Prinzen wird während der Begegnung beim ersten Ausritt geweckt (noch bevor es die Zaubernüsse besitzt, die dann bei den weiteren Begegnungen helfen22 ). Der Prinz dagegen verkündet noch während des Tanzes mit Aschenputtel, dass er seine Zukünftige gefunden hat. Als er das Rätsel gelöst hat, entdeckt er, dass diese ›Liebe auf den ersten Blick‹ eine Vorgeschichte hat. Er erkennt in Aschenbrödel das ›kleine Mädchen‹, das vom Prinzen und seinen Gefährten verfolgt wurde und ihnen eine lange Nase drehte, und den besten Bogenschützen, der den Ring für den König der Jagd gewann. Zusammen mit Aschenbrödel haben die Zuschauer:innen in allen drei Begegnungen vor der Schuhprobe einen entscheidenden Informationsvorsprung, der Teil des Vergnügens ist und im Rätsel dann auch zum Thema wird. Der Prinz erkennt nun Aschenbrödel in allen Verkleidungen und damit weiblichen und männlichen Rollen als dieselbe Person und nicht nur als elegante Tanzpartnerin, die ihm den Kopf verdrehte und ihm danach beibrachte, dass es nicht (völlig) selbstverständlich ist, dass sie ihn will. »Aber eine Prinzessin ist sie nicht, mein Herr«, sagt Aschenbrödel in der Wiederholung des Rätsels, kurz bevor es eine werden wird. Im Rätsel zeigt sich: Die Täuschungen, die die Verkleidungen auch darstellen, entbergen das wahre Wesen Aschenbrödels. Die männliche Rolle, die in der Erzähltradition oftmals blass und wenig ausgearbeitet ist, wird in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel ausführlich gestaltet. Während der Präzeptor (Jan Libíček) eine Verlachfigur darstellt, der mit seinen Bemühungen um angemessene Ausbildung des Prinzen nicht durchdringt, erweist sich der junge Mann nach den drei Begegnungen mit Aschenbrödel als ein Partner, der ihre Zuneigung verdient. Allerdings vermeidet es der Film, diese kurze Bildungsreise ausschließlich als eine Erziehung des Mannes durch eine Frau darzustellen. Denn er hat bereits einen guten Charakter. Dass der Prinz gut und ehrlich ist, daran lässt die Darstellung keinen Zweifel, auch wenn es nach den ersten Blödeleien und der Jagd auf das

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Diesen zeitlichen Ablauf hebt Retzlaff zu Recht hervor. S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 314. Die Beobachtung stützt den Eindruck, dass in diesem Märchenfilm die im engeren Sinn märchenhaften Motive in ihrer Bedeutung zurückgenommen sind. Dies stellt auch Schwabe fest, vgl. C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 87.

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›Hühnchen ohne Federn‹ für manche Zuschauer:innen überraschend wirken mag, dass das Aschenbrödel ihn wiedersehen will. Doch als die Gefährten sagen, dass das Mädchen eine Tracht Prügel verdiene, antwortet er: »Eher einen Orden, weil sie uns so hereingelegt hat.« Als es sich in Gestalt eines Jägers als bester Bogenschütze erweist, erkennt er dies sofort an. Und noch bevor er das Rätsel löst, dass ihm Aschenbrödel bereits in drei verschiedenen Rollen begegnet ist, akzeptiert er nicht, dass es ihm den Ring zurückgibt. Er hat kein Problem damit, dass ihm der fremde Schütze bei der Jagd die Show gestohlen hat, und an seiner Anerkennung ändert sich nichts, als er erfährt, dass das Aschenbrödel der von ihm »Zauberschütze« genannte Jäger ist. Der Prinz sammelt also demonstrativ Sympathiepunkte im Rahmen aller Interaktionen mit Aschenbrödel. Zusätzlich bestätigt das im Hof versammelte Gesinde in der Schlussszene, dass das Aschenbrödel eine nachvollziehbare Partnerwahl getroffen hat. »Unser Aschenbrödel« lautet ihr Ruf, und der Prinz nimmt diesen Ruf auf in seinem Heiratsantrag: »Und auch meins. Wenn du willst?« Auch wenn das Aschenbrödel bereits im Brautkleid erscheint und eine Ablehnung nicht zu erwarten wäre, inszeniert der Film ausführlich eine klassenübergreifende Zustimmung. Und da sich das Aschenbrödel zuvor selbst als dem Gesinde zugehörig markiert hat, lautet die Botschaft des Films, dass bei diesem Aufstieg durch Heirat eine von ihnen eine Prinzessin wird. Muss man das ein »emanzipiertes Märchen«23 nennen und wenn ja, emanzipativ in welchem Sinne? Im Vergleich mit der bis dahin existierenden Aschenputtel-/Cinderella-Erzähltradition und insbesondere den beiden Märchentextvorlagen fallen progressive Charakterzüge in den Beschreibungen auf.24 Diese passen auch zu einem Verständnis emanzipativer Weiblichkeit im Sinne eines sozialistischen Realismus, sind aber in keinerlei Weise dafür spezifisch, so dass schon das zeitgenössische Publikum, nicht nur in Westdeutschland, eine solche Passung nicht wahrnehmen musste.25 Vor allem 23 24

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S. Retzlaff: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, S. 307. Schwabe spricht von »feminist undertones«, »female empowerment, emancipation, and nontraditional gender roles«, C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 81. Tomkowiak wertet Drei Haselnüsse für Aschenbrödel eindeutig als emanzipativen Märchenfilm, da »gängige Geschlechterstereotypen bewusst durchbrochen werden.« I. Tomkowiak: Aschenputtel im Film, S. 499. »The ideological components of socialist realism feed into the appeal of 3HfC because they coincide with contemporary conceptions of a modern, emancipated Cin-

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über die drei Begegnungen und das Motiv des Rätsels inszeniert der Film, dass Partner:innen auf Augenhöhe zueinander finden, und hebt sich damit von anderen Fassungen deutlich ab. Das Spektrum akzeptabler geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen ist innerhalb des Rahmens der erzählten Welt trotzdem eher vorsichtig ausgeweitet. Wichtiger erscheint, dass falsche Verbote kritisch in Szene gesetzt werden. Der kurze Auftritt Aschenbrödels als Jäger ist wie in anderen Geschlechtermaskerade-Geschichten vor allem Teil einer vergnüglichen Inszenierung. Das cross dressing ist innerfiktional durch die königliche Jagd motiviert, denn eine Frau hätte den Ring nicht erhalten können. Die progressiven Elemente bewegen sich innerhalb bestimmter Grenzen und sind dramaturgisch unterschiedlich motiviert. Das gilt auch für andere Bilder von Weiblichkeit. Wie schon beschrieben macht Schönheit alleine zwar nicht die Prinzessin, sie muss etwas Besonderes sein, damit sich der Prinz in sie verliebt. Doch Drei Haselnüsse für Aschenbrödel vermittelt indirekt in einer kurzen Szene ebenso, dass eine Frau jenseits der Normschönheit so großartig sein kann wie sie will. Sie kommt für die vorgesehene Position eher nicht in Frage: Es soll Komik erzeugen, wie sich die dicke Figur »Kleinröschen« den Prinzen beim Tanz beherzt unter den Arm klemmt und ihn dabei auch hochhebt. Die Art, wie die Eltern des Prinzen, er selbst und die Umstehenden auf ihre Aktion reagieren, zeigt: Sie läuft außer Konkurrenz. Allerdings liegt der Akzent nicht darauf, sie lächerlich zu machen. Das würde zum einen verhindert durch Helena Růžičkovás Spiellust, die sich in der Rezeption klar vermittelt. Zum anderen ist es innerfiktional begründet: Indem sich Kleinröschen den ersten Tanz sichert, schnappt sie Aschenbrödels Schwester Dora den Prinzen weg. Das soll für uns als Publikum ein Anlass zur Freude sein. Denn »dem Dorchen«, dem Liebling von Aschenbrödels böser Stiefmutter, ist der Prinz auf keinen Fall zu gönnen. Und zwar nicht nur, weil sie ihre Schwester schlecht behandelt, sondern weil hier die Ansprüche an die wahre weibliche Liebe ins Spiel kommen: Dora will den Prinzen aus den falschen Gründen heiraten.

derella figure who invides viewer identification.« C. Schwabe: The Legacy of DEFA’s Three Hazelnuts for Cinderella in Post-Wall Germany, S. 88.

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Veränderte Repräsentationserwartungen und die Freuden einer ideologiekritischen Lektüre von Weihnachtsfilmen Dass es gut ausgeht, steht im populären Märchenfilm, im Liebesfilm und auch dem romantischen Weihnachtsfilm von vornherein fest. Es bietet der Rezeption Sicherheit. Das Narrativ sozialer Aufstieg durch Heirat kann man als antifeministisch kritisieren. Doch was bedeutet dies für die Bewertung des Films? Drei Haselnüsse für Aschenbrödel inszeniert im Rahmen einer dezidiert spielerischen, teilweise demonstrativ progressiveren Modellierung von Interaktionen und geschlechtsspezifischen Eigenschaften einen sozialen Aufstieg durch Heirat. Der rebellische Teil des Aschenbrödel-Charakters hat ebenso wie die eher traditionelleren Seiten einen Anteil am gerechten Sieg der wahren Liebe. Der narrative Rahmen bleibt also wichtig, erzählt aber offensichtlich auch nicht die ganze Geschichte. Konzentrieren sich pädagogische Zugriffe auf das Material auf die Hochzeit als Lebensglück-Narrativ, mögen sie mit Blick auf gegenwartsbezogene didaktische Botschaften (Internalisierung patriarchaler Logiken) eher in Abrede stellen, dass sich ein Film mit diesem Narrativ als tendenziell emanzipativ lesen lässt. Nun wäre es unzweifelhaft ein Problem, wenn Kinder oder Jugendliche ausschließlich traditionelle CinderellaGeschichten konsumierten. Es wäre in der Gegenwart allerdings auch eine sehr bewusste selektive Wahl, denn in deutlichem Unterschied zu den 1950er Jahren haben sich alltagsweltliche Verhältnisse wie auch mediale Repräsentationen deutlich pluralisiert. Statt nur auf die narrative Schließung am Ende zu achten, gilt es in der Analyse die Wendungen auf dem Weg wahrzunehmen, und hierbei gewinnt der Film in der Verschränkung von gender und class dem Erzählmuster neue Perspektiven ab. Diese Öffnung ist eindeutig strukturell angelegt und wird aus dem Erzählmuster selbst entwickelt. Für wissenschaftliche Lektüren, die sich dem Erzählen im Genre widmen, ist es überhaupt keine Frage, ob man einem populären Genre wie dem Märchenfilm grundsätzlich zuerkennt, dass es emanzipative oder gar feministische Darstellungsverfahren aufweisen kann.26 Sich für verschiedene Darstel-

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»Resistance against calling a popular fairy tale feminist is not new to fairy tale studies.« Williams, Christy: »The Shoe Still Fits. Ever After and the Pursuit of a Feminist Cinderella«, in: Pauline Greenhill/Sidney Eve Matrix (Hg.), Fairy Tale Film, Visions of Ambiguity, Logan: Utah State University Press 2010, S. 99-115, hier S. 100ff.

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lungen von Geschlechterrollen und -zuschreibungen in der Erzähltradition zu interessieren, bedeutet, sie vor der Folie der Darstellungstradition zu betrachten. Ein alleiniger Fokus auf das Motiv der Heirat erfasste, wie gezeigt, noch nicht einmal das Spezifische dieser Inszenierung, und schon gar nicht, wie es mit anderen Variationen zusammenspielt. Dazu kommt, dass diese Veränderungen vor dem Hintergrund des jeweiligen gesellschaftspolitischen Resonanzraums der Zeit zu betrachten und einzuordnen sind. Eine Erzähltradition wie Aschenputtel/Cinderella zu untersuchen, bietet die Möglichkeit zu erkennen, dass motivische Veränderungen unterschiedlich motiviert sein können. Ausgehend von der Leitfrage, was dem einzelnen Kunstwerk zum Problem wird, das eine Variation (oder mehrere) nötig macht, wird dabei auch deutlich, dass nicht jede Arbeit an Motiven, die sich mit geschlechtsspezifischem Verhalten bzw. Erwartungshaltungen verknüpfen, in emanzipativer Absicht geschehen muss – und darüber hinaus, dass es diesbezüglich keine klare Linie eines ›Fortschritts‹ im Erzählen gibt. Dies kann der Blick auf ein paar Details veranschaulichen: Die blutige Schuhprobe ist nicht erst in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel verschwunden. Schon Disney’s Cinderella nutzt die Schuhprobe für eine komische Inszenierung: Wie verzweifelt sich alle Frauen, auch die Stiefschwestern, bemühen, ihre viel zu großen Füße in diesen kleinen Schuh zu zwängen! Ähnliches gilt für die Bestrafung der bösen Stiefmutter. In der Märchentradition sozial geächtet, wird sie in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel nur mehr dem Spott ausgesetzt: Wir sehen ihre hilflosen Versuche, sich aus dem halb zugefrorenen Teich zu befreien, während der Prinz endlich auf dem Weg zur zukünftigen Braut ist. In Disney’s jüngster, realistischer Neuverfilmung des Märchens mit Lily James als Cinderella (USA 2015, R: Kenneth Branagh) kommt dagegen am Ende die mehrfach explizit thematisierte Didaxe »Sei freundlich und sei mutig. Dann wird alles gut« zum Tragen: Cinderella verzeiht ihrer Stiefmutter. Gerade die Aussicht auf ein sicheres Ende ermöglicht es, dass auch Krisen ausführlich dargestellt und vom Publikum mit der Aussicht auf Bewältigung genossen werden können. Es lohnt sich daher zu untersuchen, was jeweils im Zusammenhang mit dem Erzählmuster selbst als krisenhaft und als Problem bearbeitet und letztlich einer Lösung zugeführt wird. Hier kann sich ein reflexiver Blick auf das Genre im Erzählen ergeben: So präsentiert sich zum Beispiel Rodgers und Hammerstein’s Cinderella (USA 1997, R: Robert Iscove) durch einen diversen Cast (in den Hauptrollen Brandy und Whitney Houston) als Cinderella-Geschichte in modernisiertem Gewand. Diese Verän-

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derung wird innerfiktional nicht zum Thema, stellt aber trotzdem einen kritischen Kommentar zu den Repräsentationslogiken einer weißen Erzähl- und Darstellungstradition dar. Das Musical wirbt um ein Publikum, das Freude an der Cinderella-Geschichte hat, sich aber eine visuelle Anschlussfähigkeit an die gegenwärtige Gesellschaft wünscht. Veränderungen müssen nicht, können aber zentrale Erzählelemente betreffen – Liebeskonzepte, die Aufstellungen der Patchworkfamilie, Geschlechterbilder, die Bedeutung von Standesunterschieden und in gewissem Maße auch die Vorstellung von Herrschaft –, und sogar das Happy End, zumindest solange eine gewisse Genrereferenz die Wiedererkennung sicherstellt. Dazu zählt etwa das Musical Cinderella (USA 2021, R: Kay Cannon). Die Vorstellung, dass sich mit der Heirat ein Lebenstraum erfülle, wird von der üblichen Verbindung mit dem Anspruch auf Herrschaft (auf Seiten des Prinzen) und Aussicht auf sozialen Aufstieg (auf Seiten von Cinderella) getrennt. Ella und Prinz Robert lieben sich, und zunächst scheint es, als ob die Standesunterschiede ihrer Verbindung im Weg stünden. Der König ist dagegen, dass sein Sohn eine Bürgerliche heiratet. Doch obwohl der Konflikt zwischen standesgemäßer Ehe und Liebeshochzeit beigelegt werden kann, zieht das Paar mit dem Spirit der Selbstverwirklichung in die Welt hinaus. Der Prinz gibt sein Recht auf Herrschaft auf, die jüngere Schwester rückt nach. Ein demonstrativ emanzipativer Schritt innerhalb des Genres – außer man möchte, dass in jedem Cinderella-Plot immer auch die Monarchie abgeschafft wird. Die Frage, was man vom Erzählen in populären Genres erwartet, kann einen Impuls setzen, die eigenen Zugänge zu Untersuchungsgegenständen zu reflektieren. Denn hier gibt es einige sprichwörtliche intellektuelle Nüsse zu knacken: Was bedeutet es, sich wissenschaftlich mit affektiv besetzten Gegenständen zu beschäftigen, also z.B. den nostalgisch besetzten Weihnachtsfilm einer ideologiekritischen Lektüre in Bezug auf die angebotenen Geschlechterrollen und -beziehungen zu unterziehen? Dem oft gehörten Argument, dass eine kritische Lektüre etwa der patriarchalen Geschlechterideologie notwendig den Genuss eines solchen Werkes zerstöre, kann ich aus Erfahrung nicht zustimmen. Denn in meiner Lektüre finden die ambivalenten und problematischen Aspekte selbstverständlich ihren Platz, kommen aber mit der nostalgischen Besetzung des Films letztlich nicht in Konflikt. Denn ich erwarte nicht, dass jeder einzelne Film alles leistet, was im Rahmen einer (ideologie-)kritischen Arbeit am Genre in der Gegenwart geleistet werden könnte. Bücher und Filme, die in keiner Weise reflexiv mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Machtverhältnissen umgehen, genieße ich

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eher nicht. Umgekehrt hängt meine Wertschätzung eines Films aber auch nicht daran, dass ich allen seinen Deutungsangeboten zustimme. Vielmehr muss mir genrespezifisch genügend interessantes und vergnügliches Schauund Erzählenswertes präsentiert werden. Wenn ich Drei Haselnüsse für Aschenbrödel in der Weihnachtszeit streame, was ich immer noch regelmäßig tue, freue ich mich wie schon als Kind an der liebevollen Ausarbeitung im Detail, am Verzicht auf eine allzu lärmende Didaxe, und als Literaturwissenschaftlerin bereitet es mir besonderes Vergnügen, dass ich wahrnehmen kann, an welche Motivtraditionen der Film anschließt, und wie sie verwendet und weiterentwickelt werden. Dies gilt gerade auch für die unterschiedlich motivierte Arbeit an geschlechts- und klassenbezogenen Vorstellungen.

Nachbarvaterschaft. Das mythische Eigenheim  und Familienmodelle in Miracle on 34th Street Irmtraud Hnilica

Während des Zweiten Weltkrieges und durchaus davon beeinflusst, so liest man es bei Mark Connelly im Oxford Handbook of Christmas, entstand der moderne Weihnachtsfilm mit der ihm von Beginn an eingeschriebenen Vorliebe für die Familie: »[T]he dislocation of millions of people heightened a sense of family associations […].«1 Weihnachtsfilmtypisch sei, schreibt Connelly weiter, eine Orientierung an den amerikanischen Werten »home, family and charity«.2 Das stimmt zweifelsohne und ist doch komplizierter, als es zunächst einmal klingen mag. Denn home, family und charity sind für den Weihnachtsfilm nicht etwa unproblematisch gegebene Bezugspunkte, sondern vielmehr Gegenstand komplexer Aushandlungshandlungsprozesse. Das soll im Folgenden anhand einer Lektüre von Miracle on 34th Street deutlich werden. Dabei ist die frühe Fassung (USA 1947, R: George Seaton) ebenso Thema wie das Remake (USA 1994, R: Les Mayfield). In den Blick genommen werden home und family, charity spielt in Miracle on 34th Street eine eher untergeordnete Rolle. Erzählt wird in Das Wunder von Manhattan, so der deutsche Titel des Films, die Geschichte der als director of special events eines großen Kaufhauses beschäftigten Doris – das Remake variiert den Namen zu Dorey – Walker (1947 gegeben von Maureen O’Hara, 1994 von Elizabeth Perkins) und ihrer Tochter Susan (Natalie Wood/Mara Wilson). Nach einer offenbar traumatischen Beziehung zu Susans Vater – der Film bleibt bezüglich der genauen Vorkommnisse sehr vage – lebt Doris/Dorey mit ihrer Tochter alleine. Im Verlauf des Geschehens lernt Doris/Dorey ihr Misstrauen gegenüber der Liebe 1 2

Connelly, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larsen (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: University Press 2020, S. 411-420, hier S. 412. Ebd., S. 411.

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bzw. den Männern zu überwinden und lässt sich auf den Nachbarn Fred Gailey bzw. Bryan Bedford (John Payne/Dylan McDermott) ein, einen Anwalt, der bereits im Vorfeld der Liebesbeziehung als Vaterfigur für Susan auftritt und der später Kris/Kriss Kringle (Edmund Gwenn/Richard Attenborough), die Santa-Claus-Figur des Films, erfolgreich vor Gericht verteidigen wird. Denn der mit dem ersten verknüpfte zweite Handlungsstrang stellt die Figur des Santa Claus – Kris(s) Kringle – ins Zentrum. Kris(s) springt bei der von Doris/Dorey Walker organisierten Thanksgiving Parade für den dort eigentlich engagierten, aber betrunkenen Weihnachtsmann ein. Im Anschluss an seinen spontanen Auftritt wird Kris(s) Kringle vom Kaufhaus angestellt, um die gesamte Weihnachtszeit über als Santa Claus zu agieren. Was Doris/Dorey nicht weiß, sich ihr aber nach und nach enthüllt: Kris(s) Kringle ist der echte Weihnachtsmann. Das ist zunächst lediglich seine eigene Überzeugung und sie bringt ihn in Konflikt mit dem Kaufhauspsychologen, dann sogar in die Psychiatrie. Hier tritt nun Doris’/Doreys Nachbar, der sich in der Zwischenzeit mit Kris(s) Kringle befreundet hat, als Anwalt auf den Plan. Vor Gericht verteidigt er Kris(s) Kringle gegen das Ansinnen, ihn für unmündig zu erklären. Zudem wird das Gericht – und im gleichen Atemzug die Zuschauer*innen – davon überzeugt, dass Kris(s) Kringle der Weihnachtsmann ist. Als Beweismittel fungieren 1947 säckeweise Kinder-Wunschbriefe, die von der Post in den Gerichtssaal gebracht werden. Die Post als staatliche Institution stellt die Briefe Kris(s) Kringle zu, somit erkenne, so die Argumentation, der Staat Kringle als den Weihnachtsmann an. Angesichts dieser – 1994 über die Aufschrift »In God we trust« auf der amerikanischen Dollarnote etwas abstrakter hergeleiteten – Beweislage und auch unter einem gewissen öffentlichen Druck entscheidet das Gericht zum allgemeinen Jubel pro Santa Claus. Ein anderer Beweis hingegen steht noch aus, die Filme enden nicht mit Santas Erfolg vor Gericht. Susan, die eigentlich nicht an den Weihnachtsmann glaubt, hatte sich von Kris(s) Kringle ein Haus gewünscht. Am Ende erfüllt sich auch das – und das frischgebackene Liebespaar zieht gleich gemeinsam ein. Erst damit hat sich das Wunder von Manhattan wirklich ereignet: Doris/Dorey und Susan glauben wieder – an die Liebe und an den Weihnachtsmann. Schon der Trailer zum Remake3 zeigt, dass auf dem Weg zu diesem Wunder familiale Rollen ein expliziter Gegenstand der Aushandlung sind. So wird 3

Abrufbar u.a. auf der Plattform Youtube unter https://youtu.be/leDD6Y-Nyqg (zuletzt aufgerufen am 02.07.2022).

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

eine Auseinandersetzung zwischen Dorey und Brian gezeigt, während der sie als die Mutter sagt, dass sie »the parent«, er hingegen lediglich »the friendly guy down the hall« sei. Nahegelegt wird vom Trailer damit eine Lektüre, die nicht auf ein fixes Idealbild von home und family abhebt, sondern – Fred/Brian muss ja erst vom Nachbarn zum Dad werden – nach den Aushandlungsprozessen von Familie fragt. Dass dabei familiale Rollen mit Fragen des Wohnens verknüpft werden, deutet die initiale Nachbarschaftskonfiguration der späteren Patchworkfamilie an. In einem ersten Teil meiner Überlegungen soll es nun um das home gehen, genauer um das Haus, das Susan sich wünscht. Im zweiten Teil wird dann die family näher in den Blick genommen. Beides ist nicht nur miteinander, sondern auch mit Weihnachten nahezu gordisch verknüpft: Weihnachten, so erzählt uns der Film, kann nur im Familienverbund und nirgendwo anders als im gemeinsamen home gefeiert werden.

Home: Das mythische Einfamilienhaus als Integrationsinstanz Im emotionalen Zentrum beider Fassungen von Miracle on 34th Street steht der Wunsch Susans nach einem Haus. Die hohe Aufladung dieses Wunsches wird schon durch den Rahmen deutlich, in dem er ausgesprochen wird. Als Babysitter bringt Kris(s) Kringle Susan ins Bett und befragt sie – bereits im Bett liegend, am Übergang zwischen Wachen und Träumen – nach ihren tiefsten und heimlichen Wünschen. Es müsse doch, insistiert er, etwas geben; etwas, was sie noch nicht einmal ihrer Mutter erzähle. Angesprochen ist hier die Ebene der tiefsten, der geheimen, ja fast unaussprechbaren Wünsche. Das zunächst zögernde Kind öffnet schließlich mit einem »Well…« – ich rekonstruiere das Gespräch hier anhand der 1947er Fassung – die Nachttischschublade und präsentiert Kris Kringle das offenbar aus einer Zeitschrift oder Zeitung herausgerissene Bild eines Hauses: »That’s what I want for christmas!« Kris Kringle versteht Susan zunächst nicht ganz: »You want a doll’s house like this!« Susan stellt richtig: »No, a real house!« Die Erfüllung ihres Wunsches macht Susan nun zur Probe auf Kris Kringle: bekommt sie das Haus, wird sie daran glauben, dass er der echte Santa Claus ist. Mit dem Weihnachtswunsch steht also zugleich der Glaube an den Weihnachtsmann auf dem Spiel. Kris Kringle sucht zunächst mit Susan zu verhandeln und argumentiert, dass Santas Existenz nicht an die Erfüllung aller Wünsche gebun-

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Abbildung 1: »That’s what I want for Christmas!«

Miracle on 34th Street (1947)

den werden könne; manche Kinder wünschten sich schließlich auch Dinge wie etwa eine echte Lokomotive, die sie überhaupt nicht gebrauchen könnten. Susan hält dagegen, dieser Fall sei anders und beantwortet Kris Kringles Frage, was sie denn mit einem solchen Haus tun könnte, mit großer Bestimmtheit: »Live in it with my mother«, zudem wolle sie für sich einen Garten mit Baum und Schaukel, Dinge, die das Appartement in Manhattan nicht bieten kann. Mit dem Versprechen, er werde sein Bestes tun, erbittet sich Kris Kringle, das Bild behalten zu können und gibt Susan einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Mit dieser Szene ist das Haus als das überdeterminierte emotionale Zentrum des Films etabliert. Nicht nur, weil Susan es mit dem Glauben an den Weihnachtsmann verknüpft, sondern auch, weil die tiefen Weihnachtswünsche von Kindern (nicht nur) im Weihnachtsfilm einen besonderen, mithin unantastbaren Status haben. Weihnachtswünsche müssen erfüllt werden, an

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

Weihnachten haben Kinder, wie Claude Lévi-Strauss schreibt, »wirklich ein Recht […], Geschenke zu fordern«.4 Nun ist ein Einfamilienhaus auch jenseits des Films immer mehr als lediglich eine funktionale Lösung für den Wohnbedarf einer Gruppe Menschen. Das hat Pierre Bourdieu herausgearbeitet, der in Der Einzige und sein Eigenheim den mit dieser Wohnform verbundenen Phantasmen und sozialen Distinktionen nachgeht.5 So geht mit dem Einfamilienhaus immer eine bestimmte Vorstellung von der dauerhaften, Generationen übergreifenden Kohäsion seiner Bewohner*innen einher, mithin stiftet das Einfamilienhaus familialen Zusammenhalt, zementiert und demonstriert ihn. Die Implikation, dass das suburbane Haus mit Garten immer schon eine bestimmte normative Familienkonstellation aufruft, scheint Susan in der frühen Fassung des Filmes nicht zu sehen, möchte sie doch schlicht mit ihrer Mutter dort wohnen. Für Kris Kringle aber und wohl auch für das Publikum scheint mit Susans Wunsch die Vorstellung der es bewohnenden vollständigen und heilen, der ganzen Familie auf. Diegetisch greifen Susans Hauswunsch und das Paarbildungsbegehren der Erwachsenen, vorangetrieben insbesondere von Fred/Brian, ineinander. So bespricht Kris Kringle, nachdem er nachdenklich das Bild von Susans Wunschhaus betrachtet hat, mit Fred dessen Wohnsituation. Auch dieses Gespräch findet, korrespondierend mit Susis Bettbringszene, am Übergang zwischen Wachen und Träumen statt, denn Fred hat Kris für eine Weile in seine Wohnung aufgenommen und beide machen sich hier bettfertig. Ob er denn, fragt Kris Fred, glücklich sei mit seinem Appartement in Manhattan? Als Fred ihm antwortet, er könne sich auch ein Haus etwas außerhalb ganz gut vorstellen, antwortet ihm Kris Kringle, er wisse, was für ein Haus er wohl meine – und die Zuschauer*innen verstehen, dass das Susans Wunschhaus ist. Deutlich wird hier, dass für Kris Kringle der Weg zur Erfüllung von Susans Wunsch über die Paarbildung von Susans Mutter und dem Nachbarn läuft; das Haus ist an die Stiftung einer neuen Familie geknüpft. Erst ganz am Ende des Films erfüllt sich beides. Bei Susan hatte bereits die Enttäuschung eingesetzt, das Geschenk nicht bekommen zu haben: »I knew it wouldn’t be here but I thought there would be a letter or something telling

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Lévi-Strauss, Claude: Wir sind alle Kannibalen. Mit dem Essay »Der gemarterte Weihnachtsmann«. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 11-42, hier S. 26. Bourdieu, Pierre: Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg: VSA 2002.

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Abbildung 2: Zwischen Wachen und Träumen: Fred und Kris.

Miracle on 34th Street (1947)

me«, wie Susi ihrer Mutter, die noch immer nicht weiß, worum es sich eigentlich handelt, klagt. Kris sei eben doch »just a nice old man with whiskers«. Doch noch am Weihnachtstag entdeckt Susan, mit Fred und ihrer Mutter im Auto auf einer von Kris Kringle vorgeschlagenen Route unterwegs, plötzlich das ihrem Bild entsprechende Haus, zwingt Fred zum Anhalten und stürmt hinein. Den verblüfften Erwachsenen erklärt sie nun, dass dies ihr Haus sei, das sie sich gewünscht habe, dass Kris Kringle also doch Santa Claus ist. Das sich nun küssende und umarmende Paar räsoniert, während Susi nach der Schaukel schaut (natürlich ist sie da), dass vor dem Haus ein »For Sale«-Schild steht und beschließt, dass Susi nicht enttäuscht werden könne. Das Haus wird gemeinsam gekauft werden, Doris, Fred und Susan werden als neue Familie dort einziehen. Eigentlich magisch ist dies zunächst nicht, tatsächlich muss das Haus ganz lebensweltlich erst noch gekauft werden. Auch steht es leer und ist daher erst noch einzurichten. Der Film bleibt, wie auch bei den Szenen im courtroom, in einem weitgehend realistischen Modus. Die Handlungsfäden aber laufen auf wunderbare Weise im Haus zusammen; es belegt, dass das Wünschen hilft, dass es einen Santa Claus gibt – und es stiftet home und family zugleich.

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

Das Einfamilienhaus dient als Integrationsinstanz, die die ehemaligen Nachbarn aus dem Mietshaus überhaupt erst zur Familie macht. Erst das Haus installiert Fred, von Susi noch im Auto, Sekunden bevor sie das Haus erstürmt, als »Uncle Fred« apostrophiert und damit in einem nur vagen familialen Verhältnis verortet, endgültig als Vater und Ehemann. Im urbanen Mehrparteienwohnhaus waren die Allianzen fluide und flexibel; hier wohnte Fred für eine Weile mit Kris Kringle zusammen, die Tochter besuchte den Nachbarn, dieser wiederum kam herüber zum Thanksgiving Dinner. So konnten sich neue Kontakte und Beziehungen ergeben, die im Einfamilienhaus nun zur Alternativlosigkeit eingefroren werden.6 Als »materielle[] und immaterielle[] Schutzwälle[]«7 geben die »eigenen vier Wände« dem Beziehungsgeflecht ihrer Bewohner*innen einen konventionalisierenden Rahmen und vereindeutigen es nach innen wie nach außen.8 Das gilt in gleicher Weise für das Remake. Allerdings fallen hier gegenüber der frühen Fassung zwei Abweichungen ins Auge. Zum einen ist das Haus von Beginn an offensiv und explizit verbunden mit der Vorstellung einer Familie; während Susi sich 1947 ein Haus wünscht, um mit ihrer Mutter darin zu wohnen, formuliert sie 1994 den Wunsch anders: »I want a house, a brother and a Dad«. Das aus einer Zeitschrift gerissene Bild, das sie Kriss analog zur frühen Fassung präsentiert (hier allerdings noch wirksamer verborgen in einer kleinen, abschließbaren Kasse, die offenbar weitere kleine Schätze des Kindes enthält), zeigt denn auch nicht nur ein Haus, sondern davor stehend gleich auch eine Idealfamilie aus Vater, Mutter und zwei Kindern. Zum anderen ist das Haus im Remake vollständig eingerichtet. Dass es zunächst als Kulisse für den nächsten Kaufhaus-Weihnachtskatalog dienen soll, mit dem Dorey bereits befasst ist, bildet den lebensweltlichen Hintergrund dafür, dass es sich samt gedecktem Tisch, lichterstrahlendem Weihnachtsbaum und einer Fülle an Geschenkpaketen voll ausgestattet und möbliert präsentiert. Anders als in der frühen Fassung hat die frischgebackene 6

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Im 19. Jahrhundert wurde die Arbeiterklasse als »Masse[] ohne Heim und Herd« stigmatisiert, mit dem fehlenden Eigenheim einher gingen Zuschreibungen von »sozialer Desintegration und moralischer Instabilität«. Steinrücke, Margareta/Schulthei, Franz: Vorwort zur ersten Auflage, in: P. Bourdieu: Der Einzige und sein Eigenheim, S. 9-18, hier S. 15. Ebd., S. 14. »Nach innen zusammenschweißen, nach außen isolieren, auf diesen Nenner lässt sich die seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelte Politik der ›Vereigenheimung‹ […] bringen.« Ebd., S. 17.

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Abbildung 3: »I want a house, a brother and a Dad.«

Miracle on 34th Street (1994)

Patchworkfamilie hier nicht einmal mehr einen vollständigen Umzug oder Kücheneinbau zu erledigen. Das Haus bereitet keine Mühe, verlangt seinen Bewohner*innen keine Arbeit ab und scheint selbst nicht das Ergebnis von Arbeit zu sein. Es ist vollkommen, mithin glatt. Nichts verweist hier auf »den technischen und sehr menschlichen Vorgang der Bearbeitung«, um eine Formulierung aus Roland Barthes’ Mythen des Alltags aufzugreifen: »Der Heilige Rock Christi war ungenäht, so wie das makellose Metall der Science-fictionRaumschiffe keine Schweißnähte kennt«.9 Auch das Haus entspricht einer mythischen »Welt fugenlos gefügter Elemente«.10 Damit konterkariert es einerseits die in der Regel mit einem Eigenheim verbundene Idee, es nach den eigenen Vorstellungen gestalten zu können, bedient damit zugleich aber sicher auch geheime Wünsche erwachsener Zuschauer*innen nach dem mühelos gegebenen home.11 Die Fugenlosigkeit (d.h. auch hermetische Abge9 10 11

Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957], Berlin: Suhrkamp 5 2020, S. 196. Ebd., S. 197. Für die empirische Realität gilt, was Marcus Menzl beschreibt: »Der Umzug in ein Eigenheim am Stadtrand bildet in aller Regel eine wohnbiografische Zäsur, hinter der die Vision von einem neuen, veränderten Leben steht. Diese Bilder und Vorstellungen vom ›richtigen Leben‹ treffen nun auf die harte Realität und müssen in den Alltag

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

schlossenheit), die »Nahtlosigkeit« dieses mythischen homes steht dabei in einem wohl als kompensatorisch zu beschreibenden Spannungsverhältnis dazu, dass es eine Patchworkfamilie ist, also eine Gruppe besonders auffällig »zusammengenähter« bzw. »zusammengeflickter« Menschen, die in dieses Haus einzieht und denen es als familiale Integrationsinstanz dient.

Family: Familienmodelle zwischen Performanz und medialer Präfiguration Wenn Miracle on 34th Street das Haus als familiale Integrationsinstanz etabliert, wird Familie als fragiles, sich nicht von selbst verstehendes Projekt gezeigt. Indem beide Filme unterschiedliche Formen von Familie zeigen, explorieren sie dieses Projekt und seine Varianten weiter. Insgesamt lassen sich mindestens vier Modelle oder Spielarten von Familie ausmachen, die in den Filmen vorkommen oder erwähnt werden: Die biologische Kernfamilie, eine aus Mutter und Tochter bestehende Familie, Adoption und schließlich die – um Kris(s) Kringle als zusätzliche Vaterfigur erweiterte – Stieffamilie.

Modell I: Vater, Mutter, Kind: Die biologische Kernfamilie als backstory wound Zu Beginn des Films leben Susan und ihre Mutter alleine; Susans biologischer Vater ist nicht präsent, nicht einmal in Form von Familienfotos aus vergangenen Zeiten, er bleibt Leerstelle. Deutlich wird aber der Effekt, den die offenbar dysfunktionale Beziehung mit Susans Vater bei Doris/Dorey hinterlassen hat. Weil sie selbst die Erfahrung gemacht hat, dass ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen enttäuscht wurden, will sie ihre Tochter nun in einem radikalen Geist der Wahrheit erziehen, der auch den Glauben an den Weihnachtsmann ausschließt. Mutter und Tochter werden von Kris Kringle deshalb als »two lost souls« charakterisiert. Dass die Erziehung im Geist radikaler Wahrheit, die ja bestimmte Probleme vermeiden soll, dafür andere mit sich bringt, aus Susan ein desillusiotransferiert werden. Ob das gelingt, ob also die mit dem Umzug angestrebten Wohnund Lebensvorstellungen erreicht werden können, ist ergebnisoffen […]«. Menzl, Marcus: Das Eigenheim im Grünen. Kontinuität und Wandel eines Sehnsuchtsortes, in: Sonja Hnilica/Elisabeth Timm (Hg.), Das Einfamilienhaus (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2017), Bielefeld: transcript 2017, S. 117-131, hier S. 123.

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niertes und hoffnungsloses Kind gemacht hat, wird in beiden Versionen des Films durchaus nachdrücklich gezeigt. So etwa in der tief melancholischen Szene im Remake, in der Susan zu Brian sagt, sie kenne »Santa’s secret«, wisse schon seit langer Zeit: »He’s not real.« Dass Susan nicht an den Weihnachtsmann glaubt, widerspricht grundlegenden Vorstellungen von Kindheit; für Lévi-Strauss definieren sich Kinder geradezu durch ihren Glauben an den Weihnachtsmann. Santa Claus sei, schreibt Lévi-Strauss, die Gottheit einer Altersklasse unserer Gesellschaft (einer Altersklasse, die zu charakterisieren im übrigen der Glaube an den Weihnachtsmann ausreicht), und der einzige Unterschied zwischen dem Weihnachtsmann und einer wirklichen Gottheit besteht darin, daß die Erwachsenen nicht an ihn glauben, obwohl sie ihre Kinder ermuntern, es zu tun, und diesen Glauben durch eine Vielzahl von Mystifikationen am Leben erhalten.12 Doris/Dorey nun ermuntert ihre Tochter gerade nicht, an den Weihnachtsmann zu glauben. Die zu Beginn über Mutter und Tochter liegende Aura der Hoffnungslosigkeit betrifft Liebe, Paarbeziehung und Familie ebenso wie den Weihnachtsmann. Wenn – ebenfalls im Remake – Brian seinen Verlobungsring als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk labelt, kommt die Verknüpfung, die der Film zwischen Weihnachts- und Liebeswunder suggeriert, auf den Punkt. Den in dieser Weise aufgeladenen Antrag lehnt Dorey denn auch ab. Der enttäuschte Brian mit seinem nutzlos gewordenen Cartier-Ring sitzt im Anschluss mit Kriss Kringle auf einer Bank und berichtet ihm das wenige, was er über Doreys Vorgeschichte weiß: Susans Vater war Alkoholiker und verließ die Familie unmittelbar nach der Geburt des Kindes. Die biologische Kleinfamilie, insbesondere die Ehe, taucht hier also ausschließlich als Verletzung und Beschädigung auf, die Dorey in der Vorgeschichte erfahren hat und die ihr Verhalten in der filmischen Gegenwart erklärt. Sie entspricht damit dem filmdramaturgischen Begriff und Konzept der backstory wound.13 Weder ist die biologische Familie, die family, unhintergehbarer, selbstverständlicher Bezugspunkt oder propagiertes Ideal noch »die Lösung«, sondern wird vielmehr im Film als Vorgeschichte marginalisiert und als Ursache der gezeigten Probleme perspektiviert.

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C. Lévi-Strauss: Wir sind alle Kannibalen, S. 24. Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 25-62.

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

Modell II: Mutter & Tochter: Liebe ohne Vorbehalt Zu Beginn beider Filme lebt Susan mit ihrer Mutter alleine, in der 1947er Fassung beschäftigt Doris die Haushälterin Cleo (Theresa Harris). Die unterstützt und bereitet an Thanksgiving den Truthahn zu. Als berufstätige Mutter bedarf Doris eines helfenden Netzwerkes, das ihr in Form der Haushälterin und des hilfsbereiten Nachbarn zur Verfügung steht. So haftet dieser kleinen Familie sicherlich ein gewisser Mangel, vielleicht auch – aus der Filmperspektive gesprochen – ein Makel an. Als hausfrauliches Versagen der Mutter wird dies im Remake wesentlich deutlicher dargestellt, wenn die Tochter beim Thanksgiving Dinner erwähnt, dass Beilagen und Dessert vom Caterer kommen und Dorey, die den ganzen Tag bis dahin mit der Organisation der Parade beschäftigt war, sichtlich in Verlegenheit gerät. 1947 hingegen wird das Dinner, ohne dass dies problematisch erscheint, von Cleo zubereitet. Doris lobt selbst entspannt, wie phantastisch der Truthahn aussehe, von Verlegenheit darüber, ihn nicht selbst zubereitet zu haben, findet sich bei ihr keine Spur. Diese Lösung bringt natürlich andere Probleme mit sich, die mit Blick auf die Kategorien class und race zu diskutieren wären. Die Unterschiede, die bezüglich der Frage der Hausarbeit zwischen den beiden Filmen über die Zeitspanne von knapp 50 Jahren zu beobachten sind, machen exemplarisch deutlich, dass Ungleichheiten zwischen 1947 und 1994 nicht gelöst, sondern lediglich verschoben worden sind. Wenn 1994 eine Hausangestellte nicht mehr tragbar ist, wird, so ist hier zu beobachten, die entsprechende Last eben der Mutter Susan aufgebürdet. Sie ist beschämbar dafür, dass sie diese zum Teil an Caterer ausgelagert hat. In diesem Sinne jedenfalls bedarf die Mutter-Tochter-Familie der Unterstützung, weil Doris schlicht nicht gleichzeitig kochen, mit ihrer Tochter die Parade anschauen und arbeiten kann. Und zumindest das Remake sieht darin durchaus ein Problem. Perfekt ist die Mutter-Tochter-Familie also nicht. Sie ist aber, und das ist bemerkenswert, emotional nicht inhärent dysfunktional, ihre Schwierigkeiten ergeben sich aus der vorangegangenen gescheiterten Familienkonstellation. Obwohl beide, Doris/Dorey und Susan, als desillusionierte Charaktere gezeichnet werden, ist die Beziehung zwischen ihnen liebevoll und wirkt insgesamt intakt. Mutter und Tochter begrüßen einander freudig und zärtlich oder sprechen nachts im Bademantel offen und vertraut miteinander. Der grundlegende Beziehungsvorbehalt, den Doris ansonsten kultiviert, gilt zwischen Mutter und Tochter offenbar nicht. Dieses Verhältnis erfordert keine Enttäuschungen vorbeugenden Vorsichtsmaßnahmen, wie sie

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gegenüber dem Weihnachtsmann oder dem Nachbarn als potentiellem Partner notwendig scheinen. Dass sich Abgründe ja auch zwischen Mutter und Tochter eröffnen können, es auch hier ein Enttäuschungspotenzial gibt, blendet der an zwischenmenschlichen Verwerfungen grundsätzlich interessierte Film weitgehend aus. Während die biologische Kernfamilie als traumagenerierende backstory wound erscheint, wird die Mutter-Tochter-Beziehung als eine Art Refugium unkomplizierter und unbedrohlicher Liebe idealisiert.  

Modell III: The Dutch girl scene: Adoption Eine weitere Familienform spielt der Film von 1947 in einer kleinen, aber ganz besonders rührenden Szene ein. Als Kaufhaus-Santa begegnet Kris Kringle einem kleinen Waisenmädchen aus den Niederlanden (Marlene Lyden), das in New York Adoptiveltern gefunden hat. Diese Szene, in der etwas von der zeitlichen Nähe zu den Verheerungen und Toten des Zweiten Weltkrieges spürbar wird, zeigt, wie Kris Kringle mit dem Kind zum Erstaunen der Adoptivmutter (Mary Field), die das Mädchen schon darauf vorbereitet hatte, dass Santa ihre Sprache wohl nicht spreche, mit ihr plaudert, das Lied vom »Sinterklaas« anstimmt und sie nach ihrem Weihnachtswunsch befragt. Sie habe keinen Wunsch mehr, besitze ja schon alles, antwortet die Kleine, sie wolle ja nichts als »bij deze lieve dame zijn«, also nur bei dieser lieben Dame, ihrer Adoptivmutter, sein. Während sie die Szene beobachtet, beginnt die buchstäblich zugeknöpfte Susan – sie trägt einen Mantel mit auffälliger doppelter Knopfreihe – hier an Kris Kringle als echten Santa zu glauben, weil er die Sprache des Mädchens aus Rotterdam versteht und spontan ins Gespräch mit ihr kommt. Susan fällt die Kinnlade herunter und direkt im Anschluss an diese Szene berichtet sie ihrer Mutter von ihrem Erlebnis und artikuliert ihren neuen Zweifel: Ob Kris Kringle nicht vielleicht doch der echte Santa sei? Die Szene ist aber noch aus einem zweiten Grund als Schlüsselszene zu bewerten. Denn Susan kann hier beobachten, dass nicht-biologische Eltern Familie stiften. Die freundliche Frau, die das Kind aus dem Waisenhaus adoptiert hat, macht es offenbar so glücklich, dass es sich darüber hinaus nichts mehr zu Weihnachten wünscht. Nicht nur das Verhältnis zwischen Susan und Doris, auch die Adoptivbeziehung zwischen diesem einander offensichtlich liebevoll zugewandten Adoptiv-Mutter-Tochter-Paar wirkt ideal. Dass das kleine Waisenkind sich – »Ik heb van alles« – nichts mehr zu Weihnachten wünscht, da es bereits alles, nämlich nun eine Familie habe, strickt mit an

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

der engen Verknüpfung von Weihnachts-, Liebes- und Familienwunder, die der Film stiftet. So wirkt die kleine Szene auch als Vorblick auf das, was Susan und ihre Mutter erwartet, sobald sie ihren Glauben – an den Weihnachtsmann, an die Liebe, an die Möglichkeit von Familie – wiedergefunden haben. Und dabei hilft Kris Kringle, der darüber hinaus selbst als eine Art Vaterfigur fungiert.

Modell IV: Zwischen Normativität und sozialem Rollenspiel: Die Stieffamilie Kris(s) Kringle stiftet also nicht nur Weihnachten, sondern auch Familie. Oder anders gesagt: Kris(s) und Fred/Brian verhelfen einander gegenseitig zur jeweiligen Identität als Santa Claus bzw. Ehemann und Vater. Der eine verteidigt den andern vor Gericht – und Kris unterstützt und berät den um die desillusionierte und darum schwer zu erobernde Mutter werbenden Nachbarn. Darüber hinaus nimmt Kris(s) Kringle aber auch selbst eine Vater- oder Großvaterrolle für Susan ein. Er wird mithin gemeinsam mit dem Nachbarn Fred/ Brian zu einer Art Vaterfigurenpaar, wie besonders die frühe Fassung deutlich macht, in der Kris Kringle vorübergehend bei Fred Gailey wohnt. Dabei kommt es zu intimen Szenen der Plauderei beim gemeinsamen Schlafengehen – zwar nicht im selben Bett, aber doch im gemeinsamen Schlafzimmer. Bemerkenswert ist, dass via Kris(s) Kringle eine sanfte, mithin weiche Männlichkeit als positiv gezeichnet wird. Das gilt auch für den männlichen Körper. So ist mehrfach die Rede davon, dass der Bauch wichtig sei für den »echten« Santa Claus. Das zeigt sich auch an der Nebenfigur Alfred (Alvin Greenman), einem jungen Mann, der im Kaufhaus als eine Art Reinigungskraft angestellt ist. Dass er selbst auch einen Bauch hat, macht ihn, wie er Kris Kringle erzählt, geeignet, selbst ebenfalls in die Rolle Santas zu schlüpfen. Alfred avanciert zu einem weiteren männlichen Sympathieträger, der Santa-Claus-Persönlichkeits- und Körpermerkmale als ganz grundsätzlich erstrebenswerte männliche Attribute erscheinen lässt. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt der Film damit eine Männlichkeit, die mit soldatischen Qualitäten kaum etwas gemein hat. Beide Filme entfalten also alternative Familienmodelle und damit einhergehend auch Geschlechterrollen jenseits von Stereotypen. Gleichwohl muten die jeweiligen Schlusstableaus der Filme, die ein happy ending samt Paarbildung im Eigenheim anbieten, zunächst recht traditionell an. Festzuhalten ist allerdings, dass auch die Familien am Ende von Miracle

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on 34th Street tatsächlich Stiefvaterschaft mit Patchworkperspektive zeigen. Ob der optimistische Umgang des 1947er Films mit Adoption, MutterTochter-Familie, weicher Männlichkeit und Stiefelternschaft nun eher pragmatisch oder programmatisch ist, sei dahingestellt. Jedenfalls waren alternative Familienmodelle nach dem Krieg eine empirische Realität und ein Umgang mit den sich dadurch eröffnenden Problemen wie Chancen schlichte Erfordernis. Vielleicht liegt es daran, dass das Remake in gewisser Weise traditioneller erscheint als sein Vorläufer. 1994 wird die Paarbildung durch eine an Christmas Eve stattfindende, von Kris Kringle eingefädelte Spontanhochzeit zusätzlich konsolidiert. Zudem scheint Dorey am Ende des Films schwanger, 1947 ist davon nichts zu erkennen. Und, wie bereits im Zusammenhang mit Susans Weihnachtswunsch diskutiert: Das Remake flaggt den Wunsch nach Familie ostentativ als Susans Sehnsucht aus und nobilitiert ihn dadurch. Einen anderen, der vielleicht doch allzu süßlichen Familiensehnsucht entgegenlaufenden Akzent setzt das Remake mit einer interessanten Szene, die Familie sehr deutlich als soziales Rollenspiel erkennbar macht und darüber hinaus eine Ebene der medialen Selbstreflexion eröffnet. Während des gemeinsamen Thanksgiving Dinners – vermutlich der ersten Mahlzeit, die Dorey, Susan und Brian gemeinsam zelebrieren – äußert sich Susan: »This is kinda like on TV« und beginnt nun mit der Rollenverteilung nach einem als medial vermittelt ausgewiesenen Muster: »You’d be the dad«, aber auch: »you’d be the mom«. Der kategoriale Unterschied zwischen Dorey und Brian, den sie, die Mutter, ihm gegenüber so betont hatte – »I’m the parent, you’re the friendly guy down the hall« – wird hier von Susan mal eben einkassiert. Auch Dorey wird die Mutterrolle erst von Susan und im Konjunktiv, in der Möglichkeitsform zugewiesen. Familie erscheint in dieser Szene als Ergebnis eines munteren und medial präfigurierten Rollenspieles, das sich auf einer Ebene mit der Verkörperung Santas durch Kris(s) Kringle abspielt. So springt ja auch Kris(s) Kringle, der echte Weihnachtsmann, zunächst für den betrunkenen und deshalb ausfallenden ursprünglichen Santa ein. Das Remake zieht hier eine explizite Parallele zur Familienkonstellation, wenn von Susans Vater berichtet wird, er sei Alkoholiker gewesen. Beide, Kriss Kringle und Brian Bedford, scheinen also zunächst zweite Wahl, um sich dann als deutlich mehr als dies zu erweisen. Die soziale Rollenspielanweisung »you’d be the dad and you’d be the mom« macht deutlich: Ob man Vater, Mutter oder auch der Weihnachtsmann ist,

Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street

hängt von der Bereitschaft ab, die jeweilige Rolle zu verkörpern – und von der Bereitschaft der anderen, dies zu beglaubigen sowie ihrerseits die korrespondierenden Rollen zu spielen. **** Beide Fassungen des Films propagieren einerseits die normativ-traditionelle Familie und eröffnen andererseits Alternativen. Sie zeigen zudem die Fragilität familialer Projekte und legen dabei nicht zuletzt die mediale Vermitteltheit der amerikanischen Werte home und family offen. Susans Wunsch nach einem Haus – in der 1994er Fassung spricht sie vom »catalogue house« – generiert sich aus ihr in Illustrierten begegneter Werbung; family ist eine Inszenierung »kinda like on TV«. Die Familienmodelle erweisen sich in diesem Sinne als Familienspielräume, in denen neben Vater bzw. Stiefvater, Mutter und Kind auch der Weihnachtsmann eine Rolle spielt. Zwar demonstriert erst das Remake von 1994 offensiv ein Bewusstsein für den performativen Charakter von Familie. Bereits die Fassung von 1947 eröffnet indessen Perspektiven für Familienmodelle jenseits der Biologie und wirft einen durchaus skeptischen Blick auf Kernfamilie. Die Dislozierung von Millionen von Menschen, von der Connelly im eingangs zitierten Oxford Handbook of Christmas spricht, beförderte ganz offenbar den Sinn nicht nur für Zusammenkünfte von Familien, sondern auch für deren mögliche Re- und Neuarrangements – besonders in der Weihnachtszeit.

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Familienordnungen

Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)1 Thomas Wortmann I’d rather live in his world, Than live without him in mine. Gladys Knight & the Pips

Wer in den 1980ern und 1990ern aufwuchs, kannte Weihnachten aus Film und Fernsehen als das Fest der blonden Kinder: Der oder die mit einem Atomkraftwerk im Miniaturformat beschenkte Dicki Hoppenstedt, Anna oder Clara aus den gleichnamigen ZDF-Serien, der alleine zu Hause bleibende Kevin – und natürlich das Christkind selbst: Ob glatt oder gelockt, alle waren sie blond. Geradezu unheimlich blond aber war der von Ricky Schroder gespielte Cedric Errol,2 dieser kleine amerikanische Junge, der eines Tages zum Lord wird 1

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Dieser Text stellt eine erweiterte, vor allem im Hinblick auf die Einbindung der vorliegenden Forschung und den Bezug auf den literarischen Prätext überarbeitete Fassung des folgenden Essays dar: Wortmann, Thomas: »Unheimlich blond – Der Weihnachtsfilm ›Der kleine Lord‹«, in: 54books vom 20. Dezember 2021. Online abrufbar unter: https://www.54books.de/unheimlich-blond-der-weihnachtsfilm-der-kleine-lord/. Für zahlreiche Hinweise in der Diskussion und nach der Lektüre des Manuskripts danke ich: Sandra Beck, Johannes Franzen, Andrea Geier, Irina Gradinari, Irmtraud Hnilica, Nikolas Immer, Annette Keck und Claudia Liebrand. Der Konnex von Schauspieler und Figur erscheint in der Rückschau als ein besonders irritierendes Verhältnis: Ricky Schroder, der 1980 als Zehnjähriger den kleinen Lord spielte, hat sich 2020 mit einem mindestens sechsstelligen Betrag an der Millionenkaution beteiligt, um Kyle Rittenhouse, der während der mehrtägigen Proteste nach der Ermordung des Schwarzen Jacob Blake durch einen Polizisten in Kenosha zwei Menschen erschossen hatte, aus dem Gefängnis zu befreien. Ganz so blond wie 1980 ist Schroder auf aktuellen Bildern nicht mehr, unheimlich wirkt er aber trotzdem, gerade weil es so eine auffallende Nähe zwischen Figur und Schauspieler gibt: Wie der kleine Lord, den er vor über vierzig Jahren spielte, setzt Schroder sein Geld für andere ein. Nur die Ziele sind unterschiedlich, um es freundlich zu formulieren. Irgendwo

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und durch seine Güte die Herzen aller Menschen gewinnt – und dasjenige seines misanthropischen Großvaters (gegeben von Alec Guinness) auf geradezu wundersame Weise erweicht. Dem Kleinen Lord (UK 1980, R: Jack Gold) konnte man, gerade in Zeiten, in denen es nur drei Sender gab, an Weihnachten nur schwer entgehen. Wovon handelt der Film? Der junge Cedric Errol lebt zusammen mit seiner Mutter (Connie Booth) in einfachen Verhältnissen im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Der Vater, der dritte Sohn eines englischen Earls, ist gestorben. Cedrics beste Freunde sind der Ladenbesitzer Mr. Hobbs (Colin Blakely), ein Anhänger der demokratischen Partei und Gegner der Aristokratie, sowie der Schuhputzer Dick (Rolf Saxon). Cedrics Leben erfährt eine Wendung, als der Anwalt seines Großvaters (Eric Porter) auftaucht: Nachdem alle Söhne des Earls verstorben sind, ist Cedric, dessen Vater der Earl wegen seiner nicht standesgemäßen Heirat mit einer Amerikanerin verstoßen hatte, der Erbe des Hauses. Dieses Erbe soll der kleine Lord nun antreten. Die Bedingungen sind streng: Cedric soll auf dem Schloss leben und vom Earl erzogen werden; seine Mutter kann mit nach England kommen, erhält ein Haus und Unterhalt, darf das Schloss aber nicht betreten. Cedric und seine Mutter willigen ein. Als der Anwalt Cedric Geld in Aussicht stellt, wünscht dieser nichts für sich, sondern versorgt selbstlos den Schuhputzer Dick mit einem eigenen Geschäft und Mr. Hobbs mit einer goldenen Uhr. In England angekommen, ist Cedric beeindruckt vom Reichtum des Earls, dessen Besitz unermesslich scheint. Wenig beeindruckt ist er hingegen vom mürrischen Wesen des Großvaters; ja er scheint dieses nicht einmal zu bemerken. Der alte Earl wird vom kleinen Lord mit Liebe überschüttet und in Nächstenliebe unterrichtet: Einem säumigen Pächter wird eine Stundung der Schulden gewährt, ein kranker Junge mit Krücken versorgt und das Elend eines ganzen Dorfviertels durch umfangreiche Bauarbeiten geheilt. Ähnlich mildtätig ist auch Cedrics Mutter, die die Alimente des Earls ablehnt, stattdessen als Näherin eigenes Geld verdient und sich daneben um Arme und Kranke kümmert. Cedrics Engagement bleibt nicht ohne Folgen: Schritt für Schritt wird der alte Earl milder, die Liebe zu seinem Enkel macht ihn zu einem gutherzigen Grafen. Gefährdet wird dieses Glück, als eine weitere Amerikanerin

muss Schroder falsch abgebogen sein. Vgl. für ein solches Nachträglichkeitsverhältnis im Hinblick auf Person und Figur auch den Beitrag von Simon Sahner zur Serie ÜberWeihnachten und deren Hauptdarsteller Luke Mockridge in diesem Band.

Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)

mit Namen Minna (Kate Harper) auftaucht, sich als Ehefrau des zweiten Sohnes ausgibt und ihren Sohn als den rechtmäßigen Erben des Earls präsentiert. Der Skandal zieht weite Kreise, auch in den USA machen die Geschehnisse Schlagzeilen. In den Vereinigten Staaten erkennt der Schuhputzer in der Amerikanerin seine Schwägerin Minna. Zusammen mit seinem Bruder und Mr. Hobbs macht er sich auf nach England. Konfrontiert mit den Vorwürfen verrät sich Minna, die Ehe mit dem Sohn des Earls ist ungültig, das Kind ist ohnehin nicht von ihm. Der Earl bittet Cedrics Mutter aufs Schloss, ihr Erscheinen dort ist das Weihnachtsgeschenk an den kleinen Lord. Der Film endet mit einer großen Weihnachtsfeier, bei der Hausangestellte und Dorfbewohner, der Schuhputzer Dick, Mr. Hobbs, der alte Earl, der kleine Lord und seine Mutter gemeinsam um den Tisch sitzen. Im Weihnachtsprogramm der öffentlich-rechtlichen Sender hat der Film seinen festen Platz. Einige Jahre war es sogar der Primetime-Slot schlechthin, Heiligabend um 20.15 Uhr, der dem Kleinen Lord vorbehalten war. Das wirkt bis heute nach: In allen Top-Ten-Listen zu Weihnachtsfilmen, die regelmäßig ab November im Internet kursieren, taucht der Kleine Lord auf. Entstanden ist der Film, der mit Frances Hodgson Burnetts Litte Lord Fauntleroy3 (1886) einen der Bestseller der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts adaptierte, als Auftragsarbeit für das britische Fernsehen. In den USA lief er auch kurze Zeit im Kino, geriet dann aber in Vergessenheit. In Deutschland hingegen entwickelte sich Jack Golds Regiearbeit nach ihrer Erstausstrahlung im Jahr 1982 zu einem echten Kultfilm. In Großbritannien und in den Vereinigten Staaten gilt der Kleine Lord nicht als Weihnachtsklassiker.4 Mehr noch: Selbst in der Reihe der Verfilmun3

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Der Text ist bis heute in der Puffin-Classics-Reihe erhältlich: Burnett, Frances Hodgson: Little Lord Fauntleroy, London 2010. Dass Golds Regiearbeit die Adaption eines literarischen Textes darstellt, ist in Deutschland, wo der Kleine Lord Kultstatus genießt, eher unbekannt. Burnetts Roman ist aktuell in deutscher Übersetzung nur antiquarisch erhältlich. Der Reclam-Verlag wird Ende des Jahres 2022 in seiner Klassiker-Reihe eine deutsche Übersetzung von Emmy Becher publizieren. Wie genau sich das Korpus des Genres »Weihnachtsfilm« zusammensetzt, welche Kriterien also zu erfüllen sind, damit ein Film diesem Genre zugerechnet werden kann, ist im Rahmen der Tagung und der Vortragsreihe, deren Beiträge hier dokumentiert sind, intensiv diskutiert worden. Muss das Fest in einem Weihnachtsfilm thematisch sein? Und falls ja: Wie zentral muss es für die Handlung sein? Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (ČSSR/DDR 1973, R: Václav Vorlíček) gilt in Deutschland als klassischer Weihnachtsfilm, würde dieses Kriterium aber nicht erfüllen, auch bei Stirb Langsam (USA 1988, R: John McTiernan) könnte man darüber streiten, wie wichtig das Weih-

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gen von Burnetts Roman ist Golds Regiearbeit nahezu unbekannt. Populärer sind die Adaptionen aus den 1920er und 1930er Jahren. Die Verfilmung von 1921 (R: Alfred E. Green/Jack Pickford) produzierte Mary Pickford, einer der größten Stars des Stummfilms, und schlüpfte gleich in zwei Rollen, nämlich sowohl den kleinen Lord als auch dessen Mutter. Dass mit Pickford eine Frau die Rolle des kleinen Cedric spielte, war für das zeitgenössische Publikum nicht sonderlich überraschend: Auch in den Bühnenadaptionen des Romans wurde die Rolle des kleinen Lords meist von Mädchen oder jungen Frauen gegeben.5 Die international bekannteste Kino-Verfilmung des Romans stammt aus dem Jahr 1936 (R: John Cromwell). Es handelt sich um den ersten Film, den David O. Selznick als eigenständiger Produzent realisierte. Die Rechte dazu musste er von Pickford erwerben, das Investment aber zahlte sich aus: Sein Little Lord Fauntleroy mit dem Kinderstar Freddie Bartholomew6 in der

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nachtsfest für die Handlung ist. Beide Filme gehören aber – wie der Kleine Lord – zum Feiertagsprogramm des deutschen Fernsehens und sind damit Teil des Festes, wie auch Filme, die um die Weihnachtszeit in die Kinos kommen, gemeinhin auf das Genre »Weihnachtsfilm« bezogen werden. Neben inhaltlichen Kriterien können also vermarktungsstrategische Überlegungen (wann etwa ein Film Premiere feiert), Sendezeiten und damit eine Form der ›rituellen Rezeption‹ für die Kategorisierung von Filmen als Weihnachtsfilme eine Rolle spielen. Versteht man ›Genre‹ prinzipiell als eine Analysekategorie, die durchaus weit ausgelegt werden kann und Filme als kulturelle Artefakte, die ein ganzes Bündel von Genrezuschreibungen verhandeln, so scheint eine allzu restriktive Zusammenstellung eines Genrekorpus ohnehin nicht sinnvoll. Wie produktiv eine Lektüre von Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und Stirb Langsam als Weihnachtsfilme ausfallen kann, zeigen die Beiträge von Andrea Geier und Sandra Beck in diesem Band. Inwiefern auch andere Filme, die bisher nicht als Weihnachtsfilme rezipiert wurden, über den Verweis auf das Genre noch einmal anders interpretiert werden können, zeigt für Ridley Scotts Film Prometheus bspw. Liebrand, Claudia: »Mythos-Palimpsest. Ridley Scotts Prometheus«, in: Claus Leggewie/Ursula Renner/ Peter Risthaus (Hg.), Prometheische Kultur. Wo kommen unsere Energien her?, München: Wilhelm Fink 2013, S. 411-428. Für eine Lektüre von Fatih Akıns Soul Kitchen (BRD 2009, R: Fatih Akın) als Weihnachtsfilm: Wortmann, Thomas: »Soul Kitchen. Es war einmal in Hamburg …«, in: ders./Cornelia Ruhe (Hg.), Die Filme Fatih Akıns, Paderborn: Wilhelm Fink 2022, S. 201-228, hier S. 226-228. Vgl. Knoepflmacher, U.C.: »Little Lord Fauntleroy. The Afterlife of a Best-Seller«, in: The Princeton University Library Chronicle 73/2 (2012), S. 185-213, hier S. 197. Dort findet sich auch umfangreiches zeitgenössisches Bildmaterial. Vgl. ebd., S. 200f. In einem grundlegenden Beitrag zu den Genderverhandlungen des Romans und der Adaptionen hat Anna Wilson zum Casting der Verfilmungen bemerkt: »Both the 1936 and the 1980 film versions of the story subject Fauntleroy to a kind of ›butchification‹ process; a subtextual fear of Fauntleroy’s effeminacy and its cultural meaning results

Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)

Hauptrolle wurde zum Erfolg an den Kinokassen, als erfolgreichster Film des Studios wurde er erst drei Jahre später abgelöst von Vom Winde verweht (USA 1939, R: Victor Fleming). Beide Verfilmungen waren also mit absoluten Stars ihrer Zeit besetzt. Das mag ein Grund sein, warum die Adaptionen an den Kinokassen erfolgreich waren. Erklären lässt sich dieser Erfolg aber auch damit, dass sie einen Roman für das Kino adaptierten, der sich nach seiner Ersterscheinung als Fortsetzungsgeschichte von 1885-1886 zu einem Bestseller entwickelte – ein englischer Kritiker sprach von einer wahren »Fauntleroy Plague«7  – und auch beim Publikum des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts noch immens populär war.8 Der ›Fauntleroy suit‹, ein (meist violettfarbener) Samtanzug mit weißem Spitzenkragen wurde zu einem modischen Kleidungsstück für kleine Jungen, der Name »Errol« entwickelte sich zu einem beliebten Vornamen und »Dearest« zu einem populären Kosenamen.9 Geschuldet war die Popularität

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in Fauntleroy’s masculine credentials being immediately foregrounded. In the 1936 version a shorn, uncostumed Fauntleroy (Freddie Bartholomew) fights (and loses, being heavily outnumbered) a street battle in order to establish himself as, presumably, essentially indistinguishable from Tom Sawyer – who is also initially defined for the reader by his territorial dispute with the new boy in town. In 1980 Fauntleroy dons his velvet outfit only in England to please his grandfather; his original self has by then been established as a streetwise Lower East Side boy.« Wilson, Anna: »The Darling of Mothers and the Abomination of a Generation«, in: American Literary History 8/2 (1996), S. 232-258, hier S. 236. Beffel, John Nicholas: »The Fauntleroy Plague«, in: Bookmann, April 1927, S. 133-137, zitiert nach: A. Wilson: The Darling of Mothers, S. 235. Mit seiner Einschätzung war Beffel nicht alleine. In einem fünf Jahre später erschienenen Band zur Kinderliteratur in England heißt es zu Little Lord Fauntleroy: »It ran through England like a sickly fever. Nine editions were published in as many months, and the odious little prig in the lace collar is not dead yet.« Darton, F. J. Harvey: Children’s Books in England: Five Centuries of Social Life, Cambridge: University Press 1932, S. 239, zitiert nach A. Wilson: The Darling of Mothers, S. 235. Vgl. für eine Rekonstruktion der Erfolgsgeschichte des Romans: U.C. Knoepflmacher: Little Lord Fauntleroy. Eine Einordnung des Textes in die zeitgenössische (Kinder-)Literatur bietet: Michals, Teresa: »Henry James and the Invention of Adulthood«, in: Novel. A Forum on Fiction 44/2 (2011), S. 229-248, hier S. 240-242. Über die Popularität des Bandes und dessen Einfluss auf die zeitgenössische Kultur heißt es in einer Besprechung aus dem Jahr 1956: »Appearing first as a serial in St. Nicholas magazine, Little Lord Fauntleroy was published as a book by Scribners in 1886 and became an immediate success. In its first five years it sold half a million copies and is still in print and popular today. […] The original for the ›Little Lord‹ was her own son

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von Text und Kleidungsstück unter anderem einer geschickten Vermarktung des Romans durch dessen Verfasserin Burnett. Als 1888 eine von ihr nicht legitimierte Theateradaption Premiere feierte, verklagte sie dessen Autor erfolgreich und schrieb ihre eigene Bühnenfassung,10 die sich vier Jahre auf dem Broadway und jahrzehntelang auf anderen US-amerikanischen Bühnen hielt.11 Little Lord Fauntleroy war also nicht nur einem Lesepublikum, sondern auch einem Theaterpublikum bekannt. Der Schritt auf die Leinwand war damit ein kleiner. Dass die Adaptionen des Romans von Pickford und Selznick nicht zum Kanon der Weihnachtsfilme zählen, liegt allerdings weder am Alter der Filme noch an dem Umstand, dass Stummfilme es heute bei einem an talkies gewöhnten Publikum tendenziell schwer haben, sondern ist eher damit zu begründen, dass in beiden Filmen Weihnachten keine Rolle spielt. In beiden Adaptionen benötigt die große Versöhnung zwischen dem Earl und Cedrics Mutter sowie die Zusammenführung der Familie kein Weihnachtsfest: Während bei Pickford Großvater, Mutter und Kind ohne einen besonderen Anlass zueinanderfinden, ist es im Film aus dem Jahr 1936 der Geburtstag des kleinen Lords, der den Schlusspunkt der Handlung bildet. Damit bleibt die Adaption mit Bartholomew in der Hauptrolle nah am Prätext, denn auch in Burnetts Roman ist es der achte Geburtstag des kleinen Lords, der am Ende der Handlung steht und nicht das Weihnachtfest. Im gesamten Text ist nicht einmal von Weihnachten die Rede. Wenn Golds Regiearbeit das Weihnachtsfest prominent an den Schluss setzt, entfernt sich der Film in diesem Punkt auffällig

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Vivian. The famous illustrations by Reginald Birch, which had a large part in making the book popular – and also set a fashion in boys’ clothes – were based on a photograph of Vivian dressed in black velvet knickerbockers, sash and white collar and cuffs. For a generation after the book appeared, this costume plagued thousands of little boys in England and America – little boys taught to address their mother as ›Dearest‹, and many a one to bear the name of Errol.« Hale, Nancy: »Little Lord ›Who-am-I‹«, in: The Georgia Review 10/1 (1956), S. 102-108, hier S. 102. Eine Rekonstruktion dieser ›Affäre‹ liefert U.C. Knoepflmacher: Little Lord Fauntleroy, S. 197f. Mara Gubar hat die Bedeutung von Little Lord Fauntleroy für das Kindertheater um 1900 ausführlich aufgearbeitet. Sie bezeichnet Burnett als »a key transitional figure in the history of children’s theater«, da Little Lord Fauntleroy als eines der ersten »child-centered serious drama[s]« rezipiert wurde. Gubar, Marah: »Entertaining Children of All Ages: Nineteenth-Century Popular Theater as Children’s Theater«, in: American Quarterly 66/01 (2014), S. 1-34, hier S. 19.

Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)

vom Roman sowie den bekannten Adaptionen desselben. Oder anders gesagt: Erst Gold macht aus dem Kleinen Lord einen Weihnachtsfilm.12

Familiäre Versehrungen und Leerstellen Neben dem (Liebes-)Paar bildet die Familie einen der phantasmatisch aufgeladenen Punkte, um die Weihnachtsfilme kreisen. Wie die Heilige Familie das Zentrum des Festes darstellt (oder im Idealfall darstellen soll), so ist die Heiligkeit der Familie das Zentrum zahlreicher Filme, die sich Weihnachten widmen oder denen an Weihnachten ein Sendeplatz gewidmet wird.13 Auch der Kleine Lord bildet da keine Ausnahme, allerdings erscheinen hier alle Familien auf unterschiedliche Weise und aus ganz unterschiedlichen Gründen versehrt: Cedrics Vater ist gestorben (im Film ist er nur noch als Fotografie und in Erzählungen präsent), die Mutter ist in ihrem Handeln aber noch ganz auf ihn bezogen. Der kleine Junge übernimmt die Position des Verstorbenen, er spricht seine Mutter nun mit dem Kosenamen an, den der Vater für sie hatte: »Dearest«. Jochen Vogt hat das Szenario in einem literaturpsychologischen Zugriff als ein »Schema von Einheit, Trennung und Wiedervereinigung« beschrieben, mithin als eine »Mutter-Kind-Symbiose unter letaler Ausschaltung des Vaters, der im Grunde nur die Funktion hat, das ticket für

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Vgl. für einen grundlegenden Überblick zur filmischen Inszenierung von Weihnachten: Mundy, John: »Christmas and the Movies: Frames of Mind«, in: Sheila Whiteley (Hg.), Christmas, Ideology and Popular Culture, Edinburgh: University Press 2008, S. 164-176 sowie: Connelly, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larsen (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: University Press 2020, S. 411-422; ders. (Hg.), Christmas at the Movies: Images of Christmas in American, British and European Cinema, London/New York: I.B. Tauris 2000, S. 1-11. Vgl. dazu auch die Beiträge von Annette Keck und Irmtraud Hnilica in diesem Band. Mundy verweist darauf, dass Weihnachtsfilme in ihrer Darstellung der Familie und des Festes nicht zu einer (naiven) Eindeutigkeit tendieren: »Christmas movies have always acknowledged the ambiguities enshrined in our experience of the festive season.« J. Mundy: Christmas and the Movies, S. 165. Mundy zeigt dies eindrücklich in seinen Lektüren klassischer Weihnachtsfilme wie Ist das Leben nicht schön? (USA 1946, R: Frank Capra 1946) und Das Wunder von Manhattan (USA 1947, R: George Seaton), aber auch am Beispiel von Filmen, die in der Filmkritik eher negativ gesehen wurden wie Mein Weihnachtswunsch (USA 1991, R: Robert Liebermann) und Versprochen ist versprochen (USA 1996, R: Brian Levant).

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den sozialen Aufstieg zu hinterlassen«.14 Komplettiert wird dieses Ensemble durch die Hebamme, die offensichtlich nach der Geburt Cedrics den Absprung nicht geschafft hat. Die Familie des Earls wiederum ist geradezu ein Trümmerfeld zwischenmenschlicher Beziehungen: Die Position der Mutter ist eine Leerstelle, ob und wann die Frau des Earls gestorben ist, darüber erhält man keine Auskunft. Ohnehin sind Frauen im Allgemeinen und Mütter im Speziellen für den Earl offensichtlich ein Problem, zumindest nimmt er sie konsequent als Bedrohung wahr: Sie üben als Schwestern Kritik und verführen als Geliebte Söhne, die sie im schlimmsten Fall auch noch heiraten. Als Ehefrauen und Mütter können sie Ansprüche erheben und tun dies sogar. Und selbst wenn sie – wie Cedrics Mutter – auf Ansprüche verzichten, wird das vom Earl noch als eine ›Kriegslist‹ verstanden. Relativierend festhalten muss man jedoch, dass Familie ganz generell für den Earl eine Herausforderung zu sein scheint: Denn wie Frauen und Mütter eine Bedrohung sind, so sind Söhne eine Enttäuschung: Sie führen das falsche Leben, lassen sich mit zu vielen Frauen ein oder schließen Ehen mit Partnerinnen, die nicht standesgemäß sind. Aber auch über die Figurenperspektive des Earls hinaus ist die Genderpolitik des Films durchaus rigide, die Weiblichkeitskonfigurationen, die Golds Regiearbeit aufruft, schwanken zwischen den Extremen Heilige und Hure. In Richtung der letzteren tendiert die Hochstaplerin mit dem sprechenden Namen Minna, die zusätzlich, fast könnte sie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter entsprungen sein, auch noch Schauspielerin ist und damit die ›Verstellung‹ zum Beruf hat; ihr Kostüm (rot-strahlend, mit Pelz und Rüschen besetzt, zum Pompösen tendierend) verstärkt diesen Eindruck und steht im krassen Kontrast zu der stets einfach gekleideten Mutter Cedrics. Im Gegensatz zu ihr, die nur eine Liebe hatte, der sie über den Tod hinaus treu bleibt, hat Minna gleich mehrere Verhältnisse, ist sogar gleichzeitig mit zwei Männern verheiratet und macht den Sohn zum Kuckuckskind, um ihn auf diese Weise als Lord zu etablieren. Den Gegensatz dazu bildet »Dearest«, deren Name Programm ist.15 In England angekommen, sorgt sie für die Armen und

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Vogt, Jochen: »Gerührt, nicht geschüttelt. Zur Ehrenrettung einer heruntergekommenen Kategorie«, in: Gerth Teile (Hg.), Das Schöne und das Triviale, München: Wilhelm Fink 2003, S. 63-78, hier S. 77. Vgl. für eine Kontextualisierung von Burnetts Roman und der Figur »Dearest« in zeitgenössischen Konzepten von Mutterschaft: Davin, Anna: »Imperialism and Motherhood«, in: History Workshop 5 (1978), S. 9-65.

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Abbildung 1: Kleider sprechen: Minna als pompöse Hochstaplerin.

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Abbildung 2: Mrs Eroll als Mutter Teresa.

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Kranken, nicht umsonst erinnern die Bilder, die ihren karitativen Einsatz in Earl’s Lane zeigen, an ikonische Bilder Mutter Teresas, die 1979, ein Jahr be-

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vor Golds Film zum ersten Mal im Fernsehen lief, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.16 Selbstlos ist sie aber auch im Hinblick auf die eigene Familie: Den Weg nach England tritt sie an, weil sie sich der Vergangenheit ihres Mannes bzw. seiner englischen Herkunft ebenso verpflichtet fühlt wie der Zukunft ihres Sohnes. Auffallend ist allerdings, dass Mrs. Errol in Golds Film – anders als im literarischen Prätext – durchaus selbstsicher ihre Position gegenüber dem Earl verteidigt und ihre Souveränität selbstbewusst aus ihrer Nationalität und ihrer Klasse ableitet. Wiederholt verweist sie darauf, dass sie stolz darauf ist, Amerikanerin zu sein und ihr Geld mit eigener Arbeit zu verdienen.

Liebe vs. Besitz? Abbildung 3: Galerie in klein: Familie Errol – ohne Ahnen.

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Knoepflmacher geht sogar so weit, Mrs. Errol als »socialist as well as a proto-feminist« zu bezeichnen: »She not only refuses the money the old Earl wants to bestow on her but also insists on retaining her working-class status.« U.C. Knoepflmacher: Little Lord Fauntleroy, S. 211.

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Abbildung 4: Galerie in groß: Familie Fauntleroys – und Ahnen.

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Die beiden Familien, die im Kleinen Lord kontrastiert werden, stehen paradigmatisch für die Gegensätze, die den Film organisieren: Da ist zunächst einmal derjenige zwischen alter und neuer Welt, zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten, der schon in der Exposition des Films gesetzt wird, in der Mr. Hobbs gegenüber Cedric in einer Art Bürgerkundelektion emphatisch die Errungenschaften der Republik gegenüber der Monarchie lobt. Der Konflikt zwischen diesen beiden Welten findet seinen Höhepunkt in einem Rededuell zwischen dem Earl und Mrs. Errol auf offener Straße. Dieses Streitgespräch gipfelt darin, dass Cedrics Mutter dem englischen Adligen erklärt, jeden Tag dankbar für die Revolution und den Krieg zu sein, der einem die Unabhängigkeit von Großbritannien beschert habe.17 17

Im Gegensatz dazu schließt der Roman damit, dass ausgerechnet Mr. Hobbs, der größte Kritiker des aristokratischen Englands, von Amerika nach England übersiedelt: »And that would be the very end of my story; but I must add one curious piece of information, which is that Mr Hobbs became so fascinated with high life and was so reluctant to leave his young friend that he actually sold his corner store in New York, and settled in the English village of Erlesboro, where he opened a shop which was patronized by the Castle and consequently was a great success. And though he and the Earl never became very intimate, if you will believe me, that man Hobbs became in time more aristocratic than his lordship himself, and he read the Court news every morning,

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Dieser Gegensatz zwischen republikanischen und aristokratischen Idealen – mithin eine »friction of civilizations«18  – wird in den Familienmodellen gespiegelt. Gegenübergestellt ist der amerikanischen, (klein-)bürgerlichen Kernfamilie ein aristokratisches Familienverständnis – und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Den zwei Fotografien von Cedrics verstorbenem Vater (ein Porträt- und ein Hochzeitsfoto) stehen die unzähligen Porträtgemälde gegenüber, die im Schloss und der Kirche des Earls zu sehen sind. Dort finden sich ganze Galerien, die die Ahnen zeigen, eine lange Reihe von Earls und Lords, in deren Nachfolge das Individuum steht. Im Vergleich dazu gibt es in der Familie der Errols keine Familiengeschichte außerhalb der Vater-Mutter-Kind-Konstellation. Es handelt sich um eine Kernfamilie im radikalen Sinne, außerhalb dieses Kerns gibt es nichts, historisch existiert kein Vorher: Die Familie der Mutter etwa bleibt eine Leerstelle, die Familiengeschichte des Vaters hat für Cedric keine Bedeutung, bis sie durch den Anwalt plötzlich in das Leben des Jungen einbricht.19 Während für die aristokratische Familie also die genealogische Linie den Zusammenhalt stiftet, ist es für die bürgerliche Familie das intime Verhältnis zwischen Vater, Mutter und Kind, das das energetische Zentrum der familiären Beziehungen bildet. Insofern ist die erste Anrede, die der Anwalt an Cedric richtet, programmatisch (und mithin sprechakttheoretisch als ein performativer Akt) zu verstehen: »Das ist also der kleine Lord Fauntleroy« – damit ist Cedric aus der bürgerlichen Kernfamilie in die aristokratische Genealogie überführt. Dieser Gegensatz zwischen den Familien zeigt sich schließlich auch im Hinblick darauf, was sie zusammenhält. Bei Cedrics Familie ist es die Liebe

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and followed all the doings of the House of Lords! And about ten years after, when Dick who had finished his education and was going to visit his brother in California, asked the good grocer if he did not wish to return to America, he shook his head seriously.« F. Burnett: Little Lord Fauntleroy, S. 228f. Der Text sendet damit eine für ein amerikanisches Publikum durchaus irritierende Botschaft, denn selbst der flammendste Verteidiger der Republik kann sich der Faszination der Aristokratie offensichtlich nicht entziehen. J. Vogt: Gerührt, nicht geschüttelt, S. 78. »Es geht hier ja«, so Vogt, »wenn man literatursoziologisch argumentieren würde […], um die Angst vor dem Verfall und die Sehnsucht nach Revitalisierung des Britischen Empire.« Knoepflmacher hat die Narrativierung dieses ›clashs‹ als eine geschickte Strategie Burnetts beschrieben, ein Lesepublikum auf beiden Seiten des Atlantiks zu adressieren. Vgl. U.C. Knoepflmacher: Little Lord Fauntleroy, S. 188. Im Gegensatz dazu wird die backstory des Vaters im Roman gleich auf den ersten Seiten entfaltet.

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zwischen Vater und Mutter, zwischen Eltern und Kind, die als unbedingte, als absolute zu verstehen ist und die auch den Tod überdauert. Und über diese Konzeptualisierung der Familie als Institution der Liebe kann deshalb auch eine Hebamme zu deren Teil werden, weil sie eben Mutter und Sohn liebt. Bei der Familie des Earls wiederum sind es der Besitz und – verbunden damit – die (Bluts-)Verwandtschaft, die den Zusammenhalt stiften. Dieser Besitz fordert im Falle des Earls das Engagement für die Familie, schließlich braucht es einen Nachkommen, um ihn zu erhalten. Die Zugehörigkeit zu einer Familie ist damit nicht primär eine Liebes-, sondern eine rechtliche (Streit-)Frage. Nun könnte man im Hinblick auf die Familienkonfigurationen im Kleinen Lord von einer Gegenüberstellung emotionaler und funktionaler Beziehungen sprechen. Einerseits. Andererseits aber sind die Familienverhältnisse auch beim Earl durchaus emotional aufgeladen, nur eben im negativen Sinne: Sein Hass auf die Söhne wird immer wieder artikuliert und rückgebunden an deren enttäuschenden Lebenswandel. Es bedarf keiner großen analytischen Anstrengung, um diesen Hass wiederum auf das funktionale Familienmodell zurückzubeziehen, sind es doch die Söhne (oder zumindest einer von ihnen), die einst an die Stelle des Vaters treten und selbst zum Earl werden. Das Leben der Söhne, damit ist im Kleinen Lord ein Grundproblem aristokratischer Familienmodelle aufgerufen, ist auf den Tod des Vaters ausgerichtet. Dieses Problem kommt zwischen Großvater und Enkel explizit zur Sprache – und zwar in einer der rührendsten Szenen des Filmes,20 die sich gleichzeitig fast als eine Liebesprobe lesen lässt. Als der Earl Cedric vor einem Panorama des Dorincourt’schen Gutes stehend erklärt, dass all sein Besitz einst an ihn übergehen werde, schlägt dieser das in Aussicht stehende Erbe aus, weil er den Preis dafür, den Tod des Großvaters, nicht zahlen möchte. Wenn es sich bei diesem Gespräch um eine Probe handelt, so besteht Cedric sie mit Bravour. Wie groß also die Gegensätze zwischen der amerikanischen und der britischen Familie, zwischen bürgerlichen und aristokratischen Familienmodellen auch sein mögen: Das Fest der Liebe schafft alle Probleme aus der Welt. An Weihnachten, das im Stammsitz des Earls als ein Fest des ›ganzen Hauses‹ gefeiert wird,21 findet die neue Familie zusammen. Am Festtisch sitzt mit

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Vgl. grundlegend zum Kleinen Lord im Hinblick auf eine Literatur- und Mediengeschichte der Rührung: J. Vogt: Gerührt, nicht geschüttelt, S. 76-78. Knoepflmacher beschreibt die Schlusskonfiguration als utopisches Ende. Vgl. U.C. Knoepflmacher: Little Lord Fauntleroy, S. 211. Wenn im Film dieses utopische Ende mit

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(Groß-)Vater, Mutter und Kind eine neu konstituierte, in Harmonie vereinte Kernfamilie, mit der die Genealogie der Dorincourts gesichert ist. Gezeigt wird die »Einsetzung einer Heiligen Familie«,22 bei der der alte Earl als eine Art Ersatz-Joseph fungiert.23 Mit diesem happy ending schreibt sich der Kleine Lord in die Reihe von Weihnachtsfilmen ein, die die wunderwirkende Kraft des Festes betonen.24 Weihnachten, das ist die Botschaft, löst alle Konflikte, führt Feinde zusammen, macht aus den Bruchstücken zweier Familien eine einzige heile neue, in der Liebe und Besitz sich auf wundervolle Weise ergänzen und das Gute gewinnt. Auch Jack Golds Film betont also die Wirkmacht des Festes.

Bildungsfernsehen Aber nicht nur. 2010 hat Terry Eagleton ein Buch mit dem Titel Das Böse geschrieben und sich darin gleich in der Einleitung auch mit Kindern beschäftigt. Kinder, so schreibt Eagleton, scheinen »eine fast außerirdische Rasse in unserer Mitte zu sein. Da sie nicht arbeiten, ist nicht klar, welchen Nutzen sie haben. Sie haben keinen Sex, obwohl sie vielleicht […] darüber nur nichts verlauten lassen. Sie sind unheimlich wie alles, was uns in einigen Aspekten ähnelt, in anderen aber nicht.«25 Dass Kinder böse Dinge tun, sich gegensei-

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Weihnachten zusammenfällt, erinnert das an eine Konzeption des Festes als karnevalistisches Ereignis, wie sie Claude Lévi-Strauss beschrieben hat: »Wie die römischen Saturnalien weist auch das mittelalterliche Weihnachtsfest zwei synkretistische und entgegengesetzte Merkmale auf. Zunächst ist es eine Vereinigung und eine Gemeinschaft. Der Unterschied zwischen den Klassen und Ständen wird vorübergehend aufgehoben; Sklaven oder Diener setzen sich an den Tisch der Herren, und diese werden zu ihren Dienstboten; die reich gedeckten Tische stehen allen offen; die Geschlechter tauschen ihre Kleider.« Lévi-Strauss, Claude: »Der gemarterte Weihnachtsmann (1952)«, in: ders.: Wir sind alle Kannibalen, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 11-41, hier S. 32. J. Vogt: Gerührt, nicht geschüttelt, S. 78. Vgl. ebd. In der Forschung gilt Ist das Leben nicht schön? als kanonischer Film in dieser Hinsicht. Vgl. M. Connelly: Film and Television, S. 113 sowie J. Mundy: Christmas and the Movies, S. 169. Das wunderbare Moment des Festes trägt ein anderer klassischer Film bereits im Titel: Das Wunder von Manhattan. Vgl. dazu den Beitrag von Irmtraud Hnilica in diesem Band. Eagleton, Terry: Das Böse, Berlin: Ullstein 2010, S. 9f.

Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)

tig quälen, ja sogar töten, kann deshalb laut Eagleton nicht sonderlich überraschend sein, [s]chließlich sind Kinder nur halbsozialisierte Geschöpfe, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie sich von Zeit zu Zeit ziemlich unzivilisiert benehmen. Wenn wir Freud Glauben schenken dürfen, haben sie ein schwächeres ÜberIch oder Moralempfinden als Erwachsene. […] Vielleicht bringen Kinder sich ständig gegenseitig um und reden bloß nicht darüber.26 Ob Eagleton jemals Little Lord Fauntleroy gelesen oder eine Verfilmung des Romans gesehen hat, ist unbekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass er von dem beinahe ins Extrem gesteigerten Moralempfinden des kleinen Ceddie irritiert gewesen wäre. Denn Cedric ist die Personifikation des Guten. Gibt man ihm Geld, verschenkt er es. Schenkt man ihm ein Pony, so lässt er andere Kinder darauf reiten, wird er mit Spielzeug überhäuft, denkt er nur an seine Mutter. Schon im Roman ist die Figur des kleinen Lords so angelegt, Golds Adaption folgt damit dem literarischen Prätext. Allerdings gibt es in Burnetts Little Lord Fauntleroy im Gegensatz zur Verfilmung eine veritable Initiation in das Gutsein. Der aus England angereiste, von Cedrics Auftreten, seinem Aussehen und seinem Verhalten gleich begeisterte Anwalt des Earls muss in Burnetts Text erst die Idee aufbringen, dass der kleine Lord mit dem Geld des Großvaters die Armen unterstützen könnte. Und Cedrics Mutter muss daraufhin ein Gespräch mit dem Sohn führen, ehe es zur Geldübergabe und -weitergabe kommt. Im Film ist diese Episode getilgt, der kleine Ceddie kommt ganz alleine auf diese Idee, die selbstlose Güte gehört zu seinem Wesen von Anfang an. Mit dieser Güte bekehrt Cedric auch seinen hartherzigen Großvater – so oder so ähnlich liest man es in den Kurzbeschreibungen, die sich zum Kleinen Lord finden. Das ist nicht falsch, aber ganz richtig ist es auch nicht. Denn tatsächlich passiert die Bekehrung nicht einfach so nebenbei, sie ist vielmehr ein hartes Stück Arbeit, mithin ein Projekt, das der Bekehrer mit großem Eifer verfolgt. In einem Tweet zum Film hat Nikolas Immer vom »Tugendterrorismus«27 des kleinen Lords gesprochen und damit

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Ebd., S. 9. Nikolas Immer [@NikolasImmer]: Wie wäre es, im Horizont Deines Geld-und-LiebeThemas den Tugendterrorismus des kleinen Lord Fauntleroy kritisch zu beleuchten?, 21.11.2021, abrufbar unter https://twitter.com/NikolasImmer/status/1462366541283041 280.

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den Zusammenhang sehr präzise beschrieben.28 Cedric ist ein ›Despot des Guten‹. Was ist damit gemeint? Die Liebe, davon war bereits die Rede, ist das, was die Familie Errol zusammenhält. Der kleine Cedric macht daraus ein Gebot, dem man sich in jeder Situation unterzuordnen hat. In nahezu jedem Gespräch, in dem der Earl die Möglichkeit ins Spiel bringt, dass man seinen Großvater ja auch nicht lieben, dass man von einem Familienmitglied enttäuscht sein könnte, ja dass Familie vielleicht nicht das bringt, was man von ihr erwartet, antwortet Cedric, dass man seinen Großvater lieben müsse, weil man seinen Großvater eben liebe. Und weil man seinen Großvater liebt, kann man auch niemals von ihm enttäuscht werden. Cedric entwirft eine Parallelwelt der absoluten (Familien-)Liebe, in der alles Wissen, das es um das eigentliche Wesen und Verhalten des Gegenübers gibt, keine Rolle spielt. Die verdrehten Augen des Personals, ihr kommentierendes Lachen, die Bemerkungen des Priesters, die Erzählungen der Bevölkerungen: All das blendet Cedric auf geradezu bewundernswerte Weise aus. Bedingungslose Liebe ist stattdessen die Losung, die er predigt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die dramaturgische Entscheidung in Golds Regiearbeit, die Handlung im Weihnachtsfest enden zu lassen, durchaus als ein inszenatorischer Clou verstehen, denn auf diese Weise erscheint der kleine Lord als die Personifikation der Ideologie von Weihnachten: Egal was geschehen ist, egal, wie sich einzelne Mitglieder der Familie verhalten haben, man hat seine Familie zu lieben. Die Familie erscheint als das höchste Gut, dem man nicht nur die eigenen Gefühle, sondern auch sich selbst unterzuordnen hat. Der Kleine Lord ist damit das Familienbildungsfernsehen schlechthin. Wer Heiligabend um 20.15 Uhr in die Schule des kleinen Ceddie geht, lernt, wie man am ersten und zweiten Weihnachtstag die Familie überleben kann: Man muss einfach alle immer lieben und allen alles verzeihen. Und wenn selbst das nicht hilft, kann man immerhin noch davon träumen, 28

Eine andere, versöhnlichere Perspektive auf diese Konstellation entwickelt Anne Scott MacLeod: »[I]n Little Lord Fauntleroy, it is Cedric’s perfection that moves the plot. Since he himself is without meanness of spirit, Cedric cannot see its existence in others; since his own nature is open and generous, he assumes this to be true of human nature in general. The novel’s adult characters respond first by learning to love Cedric (who is, after all, irresistibly lovable) and by reforming themselves to justify Cedric’s faith in their goodness.« Scott MacLeod, Anne: »From Rational to Romantic: The Children of Children’s Literature in the Nineteenth Century«, in: Poetics Today 13/1 (1992), S. 141153, hier S. 151.

Unheimlich gut. Jack Golds Weihnachtsfilm Der kleine Lord (1980)

dass eines Tages auch ein Anwalt vor der Tür steht, der eine*n mit unendlich viel Geld und einem Teil der Familie ›beschenkt‹, den man bisher nicht kannte und der vielleicht nicht unbedingt besser, zumindest aber anders ist und/oder Geld hat.29

Lieben müssen Der Kleine Lord erzählt von einem Bildungsprojekt, bei dem sich die Rollen umkehren: Der junge Amerikaner soll in das Schloss unter die Obhut des Großvaters, um dort zum Lord erzogen zu werden. Erzogen wird schließlich aber der Erzieher selbst – und zwar zu einem gutmütigen, zur Verzeihung und zur Versöhnung fähigen Menschen. Das Projekt, einmal nachzuzählen, wie oft der kleine Lord das Wort »müssen« in seinen Reden nutzt, könnte spannend sein: Man muss einem kranken Pächter die Schulden stunden, man muss einem kranken Jungen helfen, man muss dem Elend in Earl’s Lane ein Ende machen, man muss die Mutter lieben, man muss an seine Freunde in den Vereinigten Staaten schreiben, man muss den Großvater in sein Herz schließen etc. Was diese – sicherlich unvollständige – Aufzählung zeigt: In der Welt des kleinen Lords gibt es einen Zwang zum Guten. Und so erweist sich auch das Bildungsprojekt des Lords als auffallend radikal. Der kleine Cedric entwirft ein spezifisches, genauer sein spezifisches Bild des Großvaters, mithin die Idealvorstellung eines guten und freundlichen Aristokraten. Interessanterweise ist dies das genaue Gegenteil des Bildes, das Mr. Hobbs in seinen täglichen Lektionen gezeichnet hat. Cedric erweist sich im Blick auf seinen Großvater als ein kleiner ›Anti-Hobb(e)s‹: Bei ihm ist der Mensch dem Menschen kein Wolf, sondern ein Engel. Der Großvater muss diesem Idealbild nahekommen, dazu zwingt der Enkel ihn geradezu, indem er ihn wieder und wieder mit diesem Idealbild konfrontiert und es sogar als Realität setzt. Eine programmatische Szene dafür ist jene, in der Cedric einen Brief an Mr. Hobbs schreibt, um diesen davon zu unterrichten, dass sein Bild von Aristokraten als schlechten, ja verkommenen Menschen falsch war. Das

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Dass die Faszination des Kleinen Lords in diesem Moment des Märchenhaften liegen könnte, hat die Forschung beschrieben. Burnetts Roman wurde als eine »male variation on the Cinderella theme« gelesen. Vgl. Inge, M. Thomas: »Fitzgerald, Faulkner, and Little Lord Fauntleroy«, in: The Journal of American Culture 26/4 (2003), S. 432-438, hier S. 435.

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wirft der Schreibende dem Freund nicht vor, schließlich habe der Kaufmann bisher einfach keinen Earl gekannt. Sein Großvater aber sei das genaue Gegenteil dessen, was Mr. Hobbs mit Aristokraten verbinde. Interessant ist diese Szene in zweierlei Hinsicht: Was wir als Publikum über den Earl erfahren, bestätigt erstens die Vorurteile von Mr. Hobbs eher, als sie zu entkräften. Insofern trifft der Vorwurf, den Cedric gegenüber seinem Briefpartner erhebt, auf ihn selbst zu: Cedric hat den Earl nicht wirklich kennengelernt, sondern sieht lediglich das in ihm, was er sehen will. Insofern ist zweitens von Interesse, dass er diese Beschreibung seines Großvaters schriftlich niederlegt, wird der Brief doch damit fast als eine Art Skript kenntlich, dem die Erziehung des Earls folgen soll. Was und wie der Großvater ist, das wird vom Enkel im literalen Sinne vorgeschrieben. Die Kehrseite dieser moralischen Verbesserung des Großvaters ist dessen Entmachtung. Wenn Cedric in der bereits erwähnten Rührungsszene sagt, dass er den Besitz nicht haben wolle, wenn dies nur mit dem Tod des Earls zu erreichen sei, dann lügt er nicht und er raspelt auch kein Süßholz, sondern er beschreibt sein Projekt ziemlich präzise. Schließlich ist er es, der zu Lebzeiten schon die Entscheidungen trifft, das Geld ausgibt und die Grafschaft nach seinen Vorstellungen umgestaltet. Earl’s Lane mag noch Earl’s Lane heißen, alle wissen aber, dass das Viertel eigentlich Lord’s Lane heißen müsste. Und so verabschiedet sich der Earl nach und nach von seinen Idealen und Geboten, im Großen und im Kleinen. Dafür ist das Weihnachtsfest am Ende das beste Beispiel: Lernt das Publikum den Earl zu Beginn des Films alleine (und als Alleinherrscher) in diesem Raum kennen, zwischen Schwertern und anderen Kriegswaffen sitzend, die, zugegeben ein Nachträglichkeitseffekt, überraschend an den Eisernen Thron aus der HBO-Serie Game of Thrones erinnern, so sitzt nun das Gesinde mit am Tisch, die Mutter ist ins Schloss eingezogen, der Schuhputzer und der Lebensmittelhändler feiern mit dem Aristokraten – und das letzte Wort hat der kleine Lord, der im wörtlichen und im übertragenen Sinne das Zentrum der Familie bildet.                

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Abbildung 5: Der Earl als Alleinherrscher.

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Abbildung 6: Die Feier der Familie.

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Unheimlich blond … Sicher, das ist ein Happy End, schließlich ist ja auch Weihnachten. Und wer würde sich nicht auf die Seite des kleinen Lords stellen, wenn es darum geht, Kinder mit Krücken zu versorgen, Pächterfamilien vor der Obdachlosigkeit zu bewahren und ganze Straßenzüge zu renovieren? Die Versessenheit, mit der dieses Gute erreicht wird, mit der Cedric sein Bildungsprojekt verfolgt, wirkt aber zumindest irritierend, denn tatsächlich steht die Entschiedenheit des Lords in seinem Willen zum Guten der Härte des Earls nicht nach. Der Generationenwechsel bedeutet in dieser Hinsicht keinen Wandel, sondern sorgt für eine seltsame Kontinuität: Statt eines bösen Despoten hat nun ein Despot des Guten das Sagen. Und damit ist man wieder beim Anfang und bei Weihnachten als Fest der blonden Kinder – und des unheimlich blonden Ceddie. In Golds Film hat der kleine Lord eines seiner beiden wichtigsten Attribute verloren: die Locken. Ricky Schroder ist zwar so blond, wie es Cedric auch im Roman ist, er trägt das Haar aber glatt. Ob es ein Zufall ist, dass dieses Kind damit ausgerechnet jenen Kindern aus Wolf Rillas Film Das Dorf der Verdammten (UK 1960) gleicht, die in der Filmgeschichte für das Böse schlechthin stehen? Man weiß es nicht.

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Weihnachtsgroteske Santa Claus (1959) Nikolas Immer

In René Cardonas Weihnachtsgroteske Santa Claus (MEX 1959) wird die traditionelle Praxis des Schenkens und Beschenkt-Werdens mit christlichen Tugendnormen verbunden. Weihnachtliche Zuwendung von Santa Claus bekommen nur solche Kinder, die sich dauerhaft moralisch integer verhalten. Mit Fokus auf die zwei kindlichen Protagonisten wird im Folgenden untersucht, wie Cardona die leitende Tugendethik im Horizont von gender und class profiliert und sogar bis zum Tugendrigorismus steigert.

Santa Claus und das Lachen.  Zur Anlage von Cardonas Weihnachtsfilm Dass es Cardonas Weihnachtsgroteske Santa Claus heutzutage nicht leicht hat, belegen vor allem die Kund*innenkommentare, die in den letzten Jahren auf der Handelsplattform Amazon über diesen Film abgegeben wurden. So schrieb beispielsweise eine Käuferin namens »Sylvia« am 21. Dezember 2015: »Also ehrlich Amazon! Was war das denn? Sicherlich haben auch alte Filme manchmal ihren Reiz, aber dieser ist einfach nur mies.«1 Und zehn Monate später ergänzte ein*e Käufer*in namens »Pferdekopf«: »Der Film ist einfach nervtötend. Bitte nicht kaufen, sparen sie es lieber oder verbrennen Sie das

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Siehe https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R2DMENVMO1ZJOU/ref=cm_cr_d p_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=B005749G4U vom 21.12.2015 (zuletzt aufgerufen am 06. 07.2022).

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Geld, da haben sie mehr davon, da haben sie es wenigstens warm.«2 Hätten allerdings beide Rezensent*innen vor ihrem Kauf ein wenig recherchiert, hätten sie feststellen können, dass Cardonas Santa Claus – mitsamt zwei anderen Weihnachtsfilmen – auf der zuletzt am 19. Februar 2018 aktualisierten IMDb-Liste The 100 Worst Films Ever Made verzeichnet ist.3 Während Platz 17 von Santa and the Ice Cream Bunny (USA 1972, R: Richard Winer) und Platz 37 von Santa Claus Conquers the Martians (USA 1964, R: Nicholas Webster) belegt wird, hat es Cardonas Santa Claus dort auf den beachtlichen 19. Platz geschafft. Diese Einordnung dürfte auch dem Umstand zu verdanken sein, dass der Film am 24. Dezember 1993 als Nr. 116 in der Reihe Mystery Science Theater 3000 gezeigt worden war, die der Komiker Joel Hodgson gegen Ende der 1980er Jahre begründet hatte.4 Das Prinzip dieser Reihe besteht darin, ein B-Movie auszustrahlen, das zeitgleich von einem Zuschauer und zwei Robotern kommentiert wird. Weitere Popularität erlangte Cardonas Santa Claus durch die Aufnahme in die von Oliver Kalkofe und Peter Rütten moderierte Filmreihe Die schlechtesten Filme aller Zeiten (›SchleFaZ‹) (Nr. 56). Hier werden die ausgewählten Filme in mehreren Zwischenmoderationen kommentiert, teilweise nachgespielt und dabei persifliert.5 Der Weihnachtsfilm Santa Claus wurde in den Churubusco-AztecaStudios in der Nähe von Mexico City gedreht und 1959 von dem Schauspieler und Regisseur René Cardona produziert, der zu den Vertreter*innen des Goldenen Zeitalters des mexikanischen Kinos zählt. Zwei Jahre vor Santa Claus hatte er den Kinderfilm Der kleine Däumling (OT: Pulgarcito, MEX 1957) gedreht, ließ aber beispielsweise fünf Jahre später den Horrorstreifen Wrestlerinnen gegen die Azteken-Mumie (OT: Las luchadoras contra la momia, MEX 1964) folgen.6 Erstaunlicherweise wurde Cardona für Santa Claus bereits 1959 auf dem San Francisco International Film Festival der ›Golden 2

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Siehe https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R6NUIQ5TVJDZP/ref=cm_cr_dp_ d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=B005749G4U vom 01.10.2016 (zuletzt aufgerufen am 06. 07.2022). Vgl. https://www.imdb.com/list/ls061312389/vom 19.02.2018 (zuletzt aufgerufen am 06.07.2022). Vgl. Rees, Shelley S. (Hg.), Reading Mystery Science Theater 3000. Critical Approaches, Lanham/Toronto/Plymouth: The Scarecrow Press 2012. Vgl. Kalkofe, Oliver/Rütten, Peter: Die 100 schlechtesten Filme aller Zeiten. Das große SchleFaZ-Buch, München: Riva 2019. Vgl. Voger, Mark: Holly Jolly. Celebrating Christmas Past in Pop Culture, Raleigh (NC): TwoMorrows Publishing 2020, S. 126.

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Gate Award‹ für den besten internationalen Familienfilm verliehen.7 Mit dieser Auszeichnung bewarb der Regisseur K. Gordon Murray fortan seine amerikanische Synchronfassung, die er 1960 veröffentlichte. Ein grundsätzliches Anliegen Cardonas war es, die Figur des Santa Claus im katholischen Mexiko bekannter zu machen. Da dort traditionell das Epiphaniasfest gefeiert wird, sah man Santa Claus als Verkörperung des weihnachtlichen Materialismus und amerikanischen Konsumdenkens.8 So wurde beispielsweise am 31. Dezember 1953 das Bild eines Wasserski fahrenden Santa Claus in der mexikanischen Zeitschrift Jueves de Excélsior abgedruckt und mit der Bildunterschrift versehen: »Santa Claus steht in keinem Zusammenhang mit unseren poetischen Traditionen. Diese exotische Figur taugt nur zum Scherzen mit nordamerikanischen Mädchen. Wir dagegen, wir bleiben bei unseren drei Heiligen Königen.«9 Angesichts einer derart deutlichen Ablehnung lässt sich Cardonas Gestaltung durchaus als Versuch werten, einen zwar sonderbaren, aber dennoch moralisch integren Santa Claus zu popularisieren.10 Das vorbildhafte Verhalten der Protagonisten, d.h. das der armen Lupita (Lupita Quezadas) und das des reichen Rico (Antonio Díaz Conde jun.), soll dabei veranschaulichen, dass an Weihnachten nicht das Konsumdenken im Vordergrund steht, sondern dass vielmehr das moralisch richtige Verhalten belohnt wird. Doch bevor die beiden Kinder überhaupt in den Fokus rücken, wird zunächst die Lebenswelt von Santa Claus (José Elías Moreno) vorgestellt. Am Beginn des Films ist ein Wolkenpalast zu sehen, den der Erzähler mittels Voiceover folgendermaßen beschreibt: »Weit entfernt im Weltraum. In einem wunderschönen goldenen Kristallpalast, genau über dem Nordpol, lebt ein freundlicher, fröhlicher alter Herr. Der beste Freund von Jungen und Mädchen

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Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Santa_Claus_(1959)#cite_note-1 vom 07.01.2022 (zuletzt aufgerufen am 06.07.2022). Vgl. Sosenski, Susana: »Santa Claus contra los Reyes Magos: influencias transnacionales en el consumo infantil en México (1950-1960)«, in: Cuicuilco. Revista de Ciencias Antropológicas 60 (Mai–August 2014), S. 261-282, hier S. 262. Zu dieser Opposition vgl. auch Ford, Eileen: Childhood and Modernity in Cold War Mexico City, London: Bloomsbury Academic 2018, 162f. S. Sosenski: Santa Claus, S. 271. Geboten wird hier die sinngemäße Übersetzung der Bildunterschrift. Vgl. ebd., S. 275.

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überall.« (SC 01:52)11 Was in der deutschen Synchronfassung fehlt, ist nicht nur die Identifikation der Titelfigur als Santa Claus, sondern auch die an die Zuschauer*innen gerichtete Aufforderung, näher heranzukommen, um sich alles genauer anzuschauen.12 Die im Anschluss gezeigte Szene, in der Santa Claus eine Weihnachtskrippe aufbaut, ist für die weitere Rezeption von Cardonas Titelfigur ausschlaggebend. In der mexikanischen Ursprungsfassung erklingt zwar im Hintergrund die Melodie des bekannten Weihnachtslieds Stille Nacht, heilige Nacht (1818),13 ansonsten aber führt Santa Claus seine Vorbereitungen aus, ohne sich akustisch bemerkbar zu machen. Im Gegensatz dazu sind seine Handlungen in der amerikanischen Synchronfassung mit einem anhaltenden Lachen unterlegt, das wegen seiner Grundlosigkeit umso irritierender wirkt. Im Mystery Science Theater 3000 (Nr. 116, USA 1993, Idee: Joel Hodgson) hat dieses befremdliche Lachen eine der zuschauenden Figuren dazu angeregt, Santa Claus zu imitieren und ihm die Worte in den Mund zu legen: »I will rule the world!«14 Dieser Kommentar verdeutlicht, dass es naheliegt, sein übermäßiges – aber erst nachträglich hinzugefügtes – Gelächter als Symptom eines latenten Wahnsinns zu deuten. Allerdings dürfte es Murray kaum darum gegangen sein, Santa Claus zu pathologisieren. Vielmehr wird es in seiner Absicht gelegen haben, die heitere Ausstrahlung der Titelfigur zu intensivieren, um die kindlichen Zuschauer*innen zum Mitlachen anzuregen. Darüber hinaus ist es denkbar, dass mit dem Gelächter auf das mexikanische Melodram Das Briefpapier (OT: El Papelerito, MEX 1951, R: Agustín P. Delgado) verwiesen werden sollte, an deren Beginn eine lachende Santa Claus-Figur zu sehen ist.15 Auch in der deutschen Synchronfassung ist das Gelächter ein auffälliges Merkmal von Santa Claus, das dazu beiträgt, die groteske Anmutung der gesamten Weihnachtswelt zu unterstreichen.

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Im Folgenden wird die deutsche Synchronfassung zitiert, die 2011 als DVD bei SchröderMedia erschienen ist. Zitate aus dem Film werden mittels der Abkürzung ›SC‹ und dem Timecode (TC) nachgewiesen. Diese Aufforderung ist sowohl in der mexikanischen Ursprungsfassung als auch in der amerikanischen Synchronfassung enthalten. »The soundtrack of the film basically plays Jingle Bells and Silent Night to death.« (Mitchell, Charles P.: The Devil on Screen. Feature Films Worldwide, 1913 through 2000, Jefferson (NC)/London: McFarland 2002, S. 237). TC 08:13. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass es auch bei Cardona mehrere Jahrmarktsszenen gibt, in denen eine überaus ähnliche, wenn nicht sogar die identische Santa Claus-Puppe zu sehen ist.

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Santa Claus (1959)

Während er anfangs an einer Orgel musiziert, treten zahlreiche Kindergruppen aus verschiedenen Nationen auf, um weihnachtliche Gesangs- und Tanzeinlagen darzubieten.16 Anschließend wirkt es geradezu unheimlich, über welches Arsenal an Spezialwerkzeugen Santa Claus verfügt, um die Kinder auszuspähen. So besitzt er mit dem Ohrenskop, dem Masterauge und dem Traumoskop mehrere – wie sie der Erzähler nennt – »wundervolle Instrumente« (SC 14:58), dank derer Santa Claus nichts, was auf der Erde geschieht, verborgen bleibt.17 Doch damit nicht genug: In der Weihnachtswelt ist nicht nur ein Schmied (Ángel Di Stefani) anzutreffen, der einen goldenen Schlüssel herstellt, mit dem sich jede Tür öffnen lässt, sondern überraschenderweise auch der Zauberer Merlin (Armando Arriola), der als »hingebungsvollster Helfer« (SC 34:33) von Santa Claus beschrieben wird. Von ihm erhält er ein Schlafpulver, das die Erinnerung auslöscht, ein Traumpulver, das die schlechte Laune vertreibt, und sogar eine Blume, mit der man verschwinden kann. Was wie ein eigenwilliger Synkretismus aus Märchenund Mythen-Motiven erscheint, kann allerdings auch als Überforderung des Weihnachtsfilmgenres gewertet werden. In diesem Sinne hat etwa Peter Rütten seine drastische Einschätzung formuliert: »In einem Weihnachtsfilm, da gibt’s überhaupt keinen beschissenen Merlin. Der Merlin gehört in die Artussage und nicht in Santas Weltall-Klapse.«18 In Cardonas Weihnachtsfilm besitzt Santa Claus zudem einen Gegenspieler namens Pitch (José Luis Aguirre), den Lucifer als »Meister aller Dämonen« (SC 10:52) vorstellt. Aufgrund dieses besonderen Rangs erteilt ihm Lucifer einen anspruchsvollen Auftrag: Lucifer: […] Lass dich nicht unterkriegen von dem fröhlichen alten Zausel, dem Weihnachtsmann. Wenn du es nicht schaffen solltest, alle Kinder der Erde auf die dunkle Seite zu holen, dann werde ich dich bestrafen. Und anstelle von roter, heißer Kohle, wirst du Schokoladeneiscreme essen. Pitch: Nein, nein, Lucifer, Meister aller bösen Geister, das nicht. Ich flehe dich an, das nicht zu tun. Ich brauche warme Mahlzeiten. Gefrorene Speisen sind schlecht für mich, ganz besonders Schokolade. Das ist Gift für meine 16 17 18

Die deutsche Kindergruppe trägt allerdings kein Weihnachtslied vor, sondern intoniert Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedicht Die Schäferin und der Kuckuck (SC 06:48). »Nichts was auf der Erde geschieht, geschieht ohne das Wissen des Weihnachtsmanns« (SC 15:06). SchleFaZ, Nr. 56: Santa Claus (D 2016, Moderation: Oliver Kalkofe, Peter Rütten), TC 01:06:18.

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Verdauung, das weißt du doch. Ich verspreche dir, unvergleichlicher Prinz des Hades, dass ich diesmal den Weihnachtsmann ein für allemal ausschalten werde. Alle Kinder werden sich daneben benehmen, und er wird vor Wut vergehen. (SC 11:40) Von der angedrohten Speisefolter einmal abgesehen, deutet sich hier der klassische Wett- und Widerstreit zwischen Gut und Böse an. Während Santa Claus beabsichtigt, die artigen Kinder für ihr tugendhaftes Verhalten mit Geschenken zu belohnen, versucht Pitch, sie zu einem lasterhaften Verhalten anzustiften. Doch im Gegensatz zur Anweisung Lucifers beschäftigt sich Pitch keineswegs mit »alle[n] Kindern der Erde«, sondern nur mit einer Gruppe von drei ohnehin schon arglistigen Jungen sowie mit der kleinen Lupita. Mit den drei Jungen hat Pitch überaus leichtes Spiel: Anfangs muss er nur drei Steine hinter ihnen platzieren, um sie auf die Idee zu bringen, diese auf eine Santa Claus-Puppe zu werfen. Auch später bedarf es nur geringer Motivation, um sie dazu zu bringen, eine Stolperfalle für Santa Claus herzurichten. Nach dem Steinwurf kündigt dieser jedoch an, dass die drei Jungen für ihr ungezogenes Betragen bestraft werden sollen.19 Im Unterschied zu diesem Negativbeispiel verkörpern die Protagonisten Rico und Lupita zwei Exempel vorbildhaften Verhaltens.

Rico und seine Eltern. Vom Mangel im Überfluss Der Junge Rico, der aus einer begüterten Familie kommt, aber erstaunlicherweise nicht von Pitch behelligt wird, verkörpert strukturell das Pendant zu Lupita. Denn im Gegensatz zu ihr lebt er in materiellem Überfluss, wird aber von seinen Eltern vernachlässigt. Das belegt bereits sein Traum, den sich Santa Claus mit dem Traumoskop anzeigen lässt. Dieser Traum spielt im Wohnzimmer von Ricos Eltern, in dem zwei übergroße Präsentboxen zu sehen sind,

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»Die ungezogenen Jungen sind nicht wichtig, die werden ihre gerechte Strafe noch bekommen.« (SC 14:40) Das ist freilich nur sehr bedingt der Fall. Denn selbst nachdem sie einen unwahren Weihnachtsbrief geschrieben haben (SC 30:54), werden sie für ihr Verhalten keineswegs von Santa Claus zur Rechenschaft gezogen. Vielmehr ist es Pitch, der aus Übermut Unfrieden zwischen ihnen stiftet, so dass sie sich am Ende gegenseitig verprügeln. Diese Züchtigung kann als interne ›Strafe‹ für ihre ungebührliches Verhalten gewertet werden.

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Santa Claus (1959)

über die sich auch der Erzähler wundert: »Seltsam, und was für riesige Geschenkekartons. Ist das Spielzeug?« (SC 20:36) Doch die Präsentboxen enthalten keine herkömmlichen Geschenke, sondern Ricos Eltern, die ihren Sohn sogleich in die Arme schließen. Im Moment ihrer harmonischen Vereinigung verkörpern die drei Figuren das Modell der heiligen Familie, das aber in Ricos Lebenswelt erst noch realisiert werden muss. Nach der Observierung dieses nächtlichen Traums deutet eines der Kinder, die als Helfer von Santa Claus dessen Überwachungsgeräte bedienen, Ricos psychische Verfassung: »Der kleine Junge ist nicht glücklich, denn seine Eltern kümmern sich einfach nicht um ihn.« (SC 21:11) Santa Claus unterstreicht noch einmal, dass es die Liebe seiner Eltern ist, die Rico fehlt. Auf die Nachfrage eines anderen Kindes hin, ob sie ihn denn überhaupt lieben würden, antwortet er unbestimmt: »Vielleicht tun sie’s, vielleicht aber auch nicht.« (SC 21:20) Wie sich bald zeigen wird, müssen Ricos Eltern im Grunde nur an ihre elterliche Liebe erinnert werden, um sich wieder auf ihre Fürsorgepflichten zu besinnen. Offen bleibt, ob Santa Claus überhaupt eine Möglichkeit des harmonisierenden Eingreifens gehabt hätte, wenn Ricos Eltern keinerlei Zuneigung für ihren Sohn empfunden hätten. Wie sehr sich Rico nach der elterlichen Zuwendung sehnt, belegt auch sein Brief, den er an Santa Claus schreibt. Darin heißt es: »Lieber Weihnachtsmann, die einzige Sache, die ich mir wünsche, ist, dass meine Eltern den Tag vor Weihnachten mit mir verbringen können. Ich mag es nicht, alleine zu sein.« (SC 29:39) Auf der einen Seite scheint dieser private Weihnachtswunsch die gravierende Einsamkeit Ricos nur ein weiteres Mal zu betonen. Auf der anderen Seite bildet diese Niederschrift eines Weihnachtsbriefs den Auftakt zu einer Szene, in der nacheinander gezeigt wird, wie mehrere Kinder ihre Weihnachtswünsche schriftlich fixieren. Ein anderer Junge, der ebenfalls begüterte Eltern zu haben scheint, wünscht sich: »einen Zug mit Schienen, und ein Fahrrad […], ein schwarzes Pferd, ein Flugzeug, das fliegt.« (SC 30:35) Auch die drei arglistigen Jungen werden dabei gezeigt, wie einer von ihnen schreibt: »Und meine zwei kleinen Brüder, die immer brav waren, bitte sorg dafür, dass sie alles kriegen werden.« (SC 30:54)20 Im Vergleich mit diesen Beispielen nimmt sich der Weihnachtswunsch Ricos regelrecht bescheiden aus: Er hat weder materielle Bedürfnisse noch versucht er, Santa Claus mit

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Später wird Santa Claus diese Falschbehauptung als Lüge entlarven, indem er bekräftigt: »Wisst ihr, den Weihnachtsmann kann man nicht täuschen« (SC 33:19).

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falschen Angaben zu täuschen – ihm genügt es vollauf, am Weihnachtsabend endlich die fehlende Zuneigung seiner Eltern zu bekommen. Doch danach sieht es zunächst überhaupt nicht aus, da Rico ausgerechnet am Weihnachtsabend sich selbst überlassen wird: Mutter von Rico: Denk an all die schönen Sachen, die der Weihnachtsmann dir bringt. Rico: Ja, Mama. Vater von Rico: Das ist unser Junge. Wir sehen uns morgen früh. Mutter von Rico: Wenn dir langweilig wird, kannst du ja ein bisschen am Klavier üben. Bis später mein Schatz. (SC 49:35) Um die Einsamkeit von Rico visuell hervorzuheben, wird in der nächsten Szene gezeigt, wie er nach dem Aufstehen durch ein zwar vornehm ausgestattetes, aber vollkommen menschenleeres Haus läuft. Auch wenn seine soziale Situation inzwischen hinreichend deutlich ist, kommentiert der Erzähler nochmals Ricos Zustand: »Trotz aller Sachen, die er besitzt, mangelt es ihm an der wichtigsten Sache der Welt: an der Gesellschaft seiner Mutter und seines Vaters.« (SC 01:01:34) Auffällig ist, dass an dieser Stelle schon nicht mehr von der elterlichen Liebe, sondern nur noch von ihrer »Gesellschaft« die Rede ist, nach der sich Rico sehnt. Wie um der Vorgabe seiner Mutter zu entsprechen, spielt er ein paar Takte auf dem Klavier, schmiegt sich danach aber in einen Sessel, auf dem er sogleich einschläft. Da das genau an dem Ort geschieht, an dem sein vorheriger Traum gespielt hatte, liegt es nahe, dass Rico auf diese Weise versucht, erneut in jene heitere Traumwirklichkeit einzutauchen, in der seine Eltern sich liebevoll um ihn kümmern. An diesem Punkt beginnt Santa Claus, auf zweifache Weise in das Leben Ricos einzugreifen. Zunächst taucht er in seiner Gegenwart auf und wendet sich mit folgenden Worten an ihn: »[…] ich werde etwas für dich tun, das ich nur mit Kindern mache, die ganz besonders artig waren: du darfst mich so sehen, wie ich bin.« (SC 01:04:01) Weil Rico noch immer schläft, benutzt Santa Claus für diese Aktion ein spezielles Puder, das den Jungen träumen lässt, er würde bereits wach sein. Nachdem Rico die Augen aufgeschlagen und Santa Claus erkannt hat, umschlingt er einen seiner Stiefel und will sich seiner Liebe versichern. In dieser Situation übernimmt Santa Claus die Rolle des abwesenden Vaters, indem er Rico in den Arm nimmt und ihm die körperliche Nähe gibt, die der Junge schon länger entbehrt zu haben scheint. Im Unterschied zu seiner früheren, weitaus unbestimmteren Einschätzung bekräftigt San-

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Santa Claus (1959)

ta Claus jetzt, dass Ricos Eltern ihn selbstverständlich lieben würden. Mehr noch: Als Rico ein weiteres Mal nachfragt, ob sich Santa Claus wirklich sicher sei, bekräftigt dieser: »Natürlich lieben sie dich, du musst daran glauben, dass sie dich lieben.« (SC 01:05:21) Der Hinweis auf die Notwendigkeit des Glaubens verdeutlicht die Gefahr, in der Rico schwebt: Mit seinen wachsenden Zweifeln an der Zuneigung seiner Eltern ist er auf dem besten Weg, ein ›ungläubiger Thomas‹ zu werden. Weil ihm geraten wird, unbedingt am Glauben an seine Eltern festzuhalten, wirkt er fast wie Hiob im Miniaturformat: Trotz des emotionalen Leidens, das seine Eltern verursachen, ist er gefordert, auf ihre grundsätzlich vorhandene Zuneigung zu vertrauen. Um dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, muss Santa Claus ein zweites Mal eingreifen.

Abbildung 1: Das Glück des Kleinen oder Ricos Ankunft im Familienidyll.

Santa Claus (1959), TC 01:08:43

Während Ricos Eltern in einem Restaurant sitzen und auf die Bedienung warten, serviert der offenbar verkleidete Santa Claus, von dem nur eine Hand zu sehen ist, zwei etwas eigenartig aussehende Cocktails. Er erläutert sofort, dass es sich bei den Getränken um den »Cocktail der Erinnerung« (01:06:48) handeln würde, der die Trinkenden an das denken lasse, was ihnen am wichtigsten sei. Als Santa Claus wieder verschwunden ist, meint sich Ricos Mutter zu entsinnen, dass sie sein Gesicht schon einmal als Kind gesehen habe.

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Bevor dieser Gedanke jedoch vertieft werden kann, werden die Eltern von einer plötzlichen Sehnsucht nach ihrem Sohn ergriffen und bemühen sich, schnellstmöglich zu ihm zurückzukehren. Nachdem sie den schlafenden Rico geweckt haben, umarmen sie ihn in knieender Stellung (Abb. 1). Auf diese Weise wird genau jenes Modell der heiligen Familie wiederholt, von dem Rico anfangs geträumt hatte.

Lupita und die Puppe. Das Modell der virgo gloriosa Bei Lupita sind die Vorzeichen von gender und class umgekehrt. Sie stammt aus einer armen, aber intakten Familie und hat nur den einen Wunsch, zu Weihnachten eine Puppe geschenkt zu bekommen. Nachdem sie in einem Schaufenster drei dieser Spielzeugfiguren erblickt hat, versucht sie zunächst auf unrechtmäßigem Weg, sich eine Puppe zu beschaffen: Erzähler: Nein, nein, Lupita, du solltest nicht stehlen. Pack sie zurück! Mutter von Lupita: Lupita! Lupita, komm her! Pitch: Sie gehört dir. Niemand hat gesehen, wie du sie nahmst. Wir haben so viele davon. Da kommt es auf eine Puppe mehr oder weniger gar nicht an. Siehst du! Du hast doch sonst kein Spielzeug. Behalte sie! Hm. Erzähler: Lupita, man darf nicht stehlen. Und es wird dir leid tun. – – – Braves Mädchen! Pitch: (Grummeln.) – – – Und jetzt? Dummes Ding. Jetzt musst du ohne Puppe nach Hause gehen. Kleine Mädchen sollten stehlen und sich nehmen, was sie wollen. Hm. Erzähler: Lupita, wenn du brav bist, dann wirst du irgendwie dafür belohnt werden. (SC 18:31) Diese Szene ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zunächst fällt auf, dass sich Lupita aus eigenem Antrieb spontan entschließt, eine Puppe zu stehlen, womit sie gegen das siebente der zehn Gebote verstößt. Doch trotz ihres Diebstahls wird sie keineswegs zu einem warnenden Beispiel stilisiert – vielmehr avanciert sie aufgrund ihrer kindlichen Unschuld und ihrer durch Armut bedingten Notlage sogleich zu einer Sympathieträgerin. Demgegenüber erscheint der Erzähler geradezu kaltherzig, wenn er angesichts seiner im Befehlston vorgetragenen Anweisungen keinerlei Empathie für die Situation des kleinen Mädchens erkennen lässt.

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Santa Claus (1959)

Weil Lupita im Verlauf dieser Szene kein Wort sagt, können der Erzähler und Pitch einen verbalen Streit austragen: Während der strenge Erzähler auf der Einhaltung christlicher Tugendnormen besteht, verkörpert Pitch den amoralischen Verführer, der ein lasterhaftes Verhalten zu provozieren versucht. Im übertragenen Sinn können der Erzähler und Pitch als Veräußerlichungen von Lupitas Gewissen und Begehren gedeutet werden. Da aber Lupita die Puppe wieder zurücklegt, zeigt sie mit ihrem Verhalten, dass sie – gleichwohl unter Tränen – die christliche Tugendethik affirmiert. Unklar bleibt jedoch vorerst, worin die vom Erzähler angekündigte Belohnung bestehen soll, da ausgerechnet die von Lupita ausgewählte Puppe kurz darauf von einer anderen Person gekauft wird.21 Pitch wiederum scheint ab diesem Moment sein eigentliches Opfer gefunden zu haben, bemüht er sich doch, Lupita selbst während ihres Schlafes auf seine Seite zu bringen. In der anschließenden Traumsequenz treten zehn übergroße Puppen auf, die das leicht verängstigte Mädchen (Abb. 2) bedrohlich umtanzen. In der Verkleidung einer dieser Puppen versucht Pitch erneut, Lupita zu beeinflussen: Pitch: Warum stiehlst du denn nicht einfach eine Puppe? Lupita: Nein, du weißt, dass stehlen böse ist, und ich will immer brav sein. Pitch: Aber du musst lernen, wie man stiehlt. Lupita: Nein, du weißt, dass stehlen böse ist, und ich will immer brav sein. Pitch: Aber wir Puppen mögen keine braven, kleinen Mädchen. Lupita: Nein, man darf nicht stehlen, denn das ist wirklich böse. Pitch: Aber du musst böse sein, wenn du eine Puppe willst. Lupita: Nein, man darf nicht stehlen. Denn das ist wirklich böse. Pitch: Ach, stehlen ist wunderbar, wenn du’s tust, dann gehören wir dir alle. Lupita: Nein, ich will nicht böse sein. Und stehlen ist böse. Pitch: Du willst nicht brav sein. Du willst böse sein. Lupita: Nein, stehlen ist böse. Und ich will immer brav sein. Pitch: Nun, dann wirst du eben nie eine Puppe bekommen. (SC 26:31)

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In der SchleFaZ-Fassung wird im Anschluss an die Erzählerrede »wenn du brav bist, dann wirst du irgendwie dafür belohnt werden« der folgende satirische Kommentar als Bauchbinde eingeblendet: »Bloß halt nicht mit einer Puppe« (SchleFaZ, Nr. 56: Santa Claus, TC 30:11).

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Abbildung 2: Die teuflische ›Verpuppung‹ oder Lupitas demonstrative Standhaftigkeit.

Santa Claus (1959), TC 24:06

Dieser überraschend repetitive Dialog veranschaulicht exemplarisch, wie standhaft sich Lupita gegenüber dem zudringlichen Pitch behauptet. Gleichwohl wirkt ihre insistente Ablehnung jeglichen bösen Verhaltens selbst schon wieder unheimlich, wie bereits Peter Rütten betont hat: Die Lupita hat doch eindeutig Katholiken-Tourette. Die ist doch gebrainwashed, die kleine Maus. Ich sag doch, den Streifen hat ’ne Scheiß-Sekte gedreht. Also, die wiederholt das doch öfter, als man es als Kind überhaupt nur denken kann. (Mit der Stimme Lupitas.) ›Nein, man darf nicht stehlen, denn das ist wirklich böse. Nein, man darf nicht stehlen, denn das ist wirklich böse.‹22 In ihrem plötzlich hervorbrechenden Tugendrigorismus scheint Lupita sogar noch den kleinen Lord Fauntleroy zu übertreffen.23 Dabei kann ihr unbeirrbares Verhalten modellhaft auf die Legende vom heiligen Antonius zurückge22 23

Ebd., TC 01:09:56. Zum Thema Tugendrigorismus im Film Der kleine Lord siehe den Beitrag von Thomas Wortmann in diesem Band.

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Santa Claus (1959)

führt werden, der bekanntlich verschiedenen Versuchungen erfolgreich widerstanden hat.24 Darüber hinaus verweist der Name ›Lupita‹ – als Kurzform des Namens ›Guadalupe‹25  – auf das Gnadenbild ›Jungfrau von Guadalupe‹, das als das bedeutendste Marienheiligtum Mexikos angesehen wird.26 Im mariologischen Sinn entspricht das unschuldige Mädchen mit ihrer vorbildlichen und daher lobenswürdigen Haltung am ehesten dem Typus der virgo gloriosa. Die Marienallusion lässt sich zudem auf die Mutter von Lupita erweitern: Als sie ihrer Tochter erklären muss, dass Santa Claus auch die armen Kinder besucht, selbst aber nicht recht an ihre eigenen Worte glaubt, nimmt sie die Leidenspose der mater dolorosa ein (Abb. 3). Pitch wiederum gibt auch in dieser Situation keine Ruhe und wendet sich geradezu schadenfroh an das kleine Mädchen:

Abbildung 3: Die Marter der Mutter oder ›Armut essen Seele auf‹.

Santa Claus (1959), TC 01:20:13

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Vgl. Murk, Andreas (Hg.), Assidua. Eine Biografie des heiligen Antonius von Padua, Würzburg: Echter 2018. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Lupita vom 13.11.2016 (zuletzt aufgerufen am 06.07. 2022). Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Unsere_Liebe_Frau_von_Guadalupe vom 30.11.2021 (zuletzt aufgerufen am 06.07.2022).

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Pitch: Erwarte bloß nichts vom Weihnachtsmann, mein braves Engelchen. Armen Kindern bringt er kein Spielzeug. Habe ich dir nicht gleich gesagt, dass du die Puppe behalten sollst. Dummerchen! Ich würde mal sagen, jetzt wirst du überhaupt nichts haben. Du bist arm! Lupita: Mami, Mami! Mutter von Lupita: Ja, mein Schatz? Lupita: Ist es denn wahr, dass die armen Leute überhaupt nichts vom Weihnachtsmann bekommen? Mutter von Lupita: Wer hat dir das denn erzählt? Nein, mein Schatz. Der Weihnachtsmann geht zu allen Kindern, die artig waren. Es spielt keine Rolle, ob sie arm sind oder sein werden. (SC 01:19:43)

Abbildung 4: Die symbolische Eingitterung oder die Grenzen der Tugendethik.

Santa Claus (1959), TC 01:29:52

Die sozial diskriminierende Rede von Pitch wird sofort durch die Worte der Mutter entkräftet, die ihrer Tochter nochmals versichert, dass tugendhaftes Verhalten grundsätzlich von Santa Claus belohnt wird. Nachdem aber die Mutter in einen unruhigen Schlaf gefallen ist und der heimkehrende Vater eingeräumt hat, am Weihnachtsabend keine Arbeit gefunden zu haben, sieht

Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Santa Claus (1959)

es nicht danach aus, als würde sich Lupitas Weihnachtswunsch noch erfüllen. Als Lupita jedoch kurz darauf die Puppe entdeckt, die Santa Claus heimlich für sie bereit gelegt hat, glauben auch Lupitas Eltern, dass ein Weihnachtswunder geschehen sei.27 Zugleich wird auf diese Weise die permanent ausgestellte Belohnungsideologie bekräftigt, welche die Tugendhaftigkeit der Kinder fördern und festigen soll. Überraschend ist es allerdings, dass im Unterschied zu Lupitas Pendant Rico am Ende dezidiert nicht das Modell der heiligen Familie aufgerufen wird. Vielmehr wird gezeigt, wie Lupita mit ihrem Weihnachtsgeschenk, aber ohne ihre Eltern hinter einem Zimmerfenster steht und gen Himmel schaut (Abb. 4). Fast scheint es, als veranschauliche das Eisengitter die Grenzen der bei Cardona propagierten Tugendethik: So ist es zwar möglich, einmal im Jahr ein außergewöhnliches Weihnachtsgeschenk zu bekommen. Unmöglich bleibt es aber, der sozialen Schicht, der man angehört, zu entkommen.

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Ein symbolischer Beleg dafür ist die sofortige Bekreuzigung von Lupitas Mutter (SC 01:29:25).

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Die Setzung des Anderen. Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance Helen-Dominique Höstlund

In der deutschen Theaterwissenschaft gab es bisher wenige Auseinandersetzungen mit dem Krippenspiel als theaterspezifischer Aufführungspraxis, obwohl es jährlich in Kirchen, Schulen, Theaterstätten und Wohnzimmern stattfindet und allen Regeln der Minimaldefinition, was Theater sei, folgt: A stellt B dar, während C zuschaut.1 Das Krippenspiel erzählt die Weihnachtsgeschichte, die eine der bekanntesten christlichen Erzählungen ist.2 Innerhalb christlich geprägter Gesellschaften nimmt das Weihnachtsfest einen Raum neben der religiösen Bedeutung ein und wird auch von Nichtgläubigen bzw. Nichtchrist*innen als Familienfest, Betriebsfest usw. gefeiert. Insbesondere seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert orientiert sich das Weihnachtsfest zunehmend als Ort der familieninternen Bindung und koppelt sich ein Stück weit von dem Kirchenfest ab. 3 Vorangetrieben wurde dies u.a. durch die entste1

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Eine Einordnung des Krippenspiels fehlt beispielsweise in dem von Erika Fischer-Lichte herausgegebenen Standardwerk über Theatertheorie im Metzler Verlag und verweist damit auf eine Diskrepanz in der Wahrnehmung und Wertung von verschiedenen Theaterformen jenseits von Verbreitung und Quantität. Laura Schmidt schließt diese Lücke mit ihrer Monographie Weihnachtliches Theater und untersucht, wie das Verhältnis von Kirche, Religion und Gesellschaft sich anhand der verschiedenen Aufführungspraxen weihnachtlichen Theaters an deutschsprachigen Beispielen verändert hat vom 18. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Die folgenden Ausführungen zur Geschichte des Krippenspiels basieren daher weitestgehend auf ihren Erkenntnissen. Es handelt sich bei diesem Beitrag nicht um eine theologische Einordnung des Krippenspiels oder der Inszenierung der Augsburger Puppenkiste. Die Analyse des Weihnachtsfilms folgt einem kultur- und literaturwissenschaftlichen Zugang. Schmidt, Laura: Weihnachtliches Theater. Zur Entstehung und Geschichte einer bürgerlichen Fest- und Theaterkultur, Bielefeld: transcript 2017, S. 19-20.

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hende Bürgerkultur und ihren wachsenden Einfluss auf andere Milieus.4 Die ›Weihnachtsfeier‹ ist als kulturelle und soziale Komponente der Gemeinschaft zu verstehen, die die Gruppe, die sie begeht, festigt und als jährliches Ritual durch Wiederholung Gemeinschaft bestätigt und stiftet. Auch der Handel und das Konsumverhalten sind Teil dieses Rituals und bestätigen mit zeitlich limitierten Angeboten zur ›Weihnachtszeit‹ die Selbstverständlichkeit der Wiederholung. Die Weihnachtsgeschichte findet inmitten dieser rituellen Gemeinschaftsund Identitätsstiftung statt und verweist auf die religiösen Hintergründe für die Feier mittels Performanz und Narration. Laura Schmidt verweist mit Milton Singer darauf, dass bereits das gesamte Weihnachtsfest eine cultural performance ist,5 die durch Wiederholung und Imitation bzw. Mimesis Verbreitung fand und eine gewisse Dramaturgie etabliert, wie die Inszenierung und Aufführung des Festes und damit einhergehend auch das Krippenspiel zu erfolgen hat. Singer verwendet den Begriff der Performance, um kulturelle Veranstaltungen zu beschreiben und verweist somit auf die Gemachtheit von kulturellen Praktiken und deren theatrale Elemente: »Each performance has a definitely limited time span, a beginning and end, an organized programme of activity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance.«6 Rituale, Feste und Zeremonien, die diese theatralen Eigenschaften der Performance ebenfalls besitzen, ermöglichen es einer »Kultur ihr Selbstverständnis vor ihren Mitgliedern und anderen dar[-] und aus[zustellen]«.7 Das Krippenspiel ist also nicht nur eine theatrale Performance, sondern auch eine ›kulturelle Performance‹, die Funktionen innerhalb einer (kulturellen) Gemeinschaft übernimmt.        

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Ebd., S. 20-21. Ebd., S. 21. Singer, Milton: Traditional India: Structure and Change, Philadelphia: American Folklore Society 1959, S. 12f. Fischer-Lichte, Erika: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFG-Symposion 1999, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 1-19, hier S. 1.

Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance

Das Krippenspiel als Grundlage für die Puppenkisteninszenierung Zu den Charakteristika des Krippenspiels gehören die inhaltliche Abfolge der Verkündung, der Reise nach Bethlehem, das Kind im Stall, die Anbetung der Hirten und die Ehrerbietung durch die Drei Heiligen Könige. Die beteiligten Figuren sind Maria, Josef, das Christuskind, Engel, Hirten, Könige, Esel und Ochsen. Eine räumliche Struktur stellt sich durch die Elemente Stall mit Krippe und Stern am Himmel her. Das Krippenspiel zeigt jährlich die Menschwerdung Gottes und die damit verbundene Liebe Gottes zum Menschen im Rahmen einer spannenden Geschichte, die die Größe Jesu als Messias, als Erlöser der Menschheit also, legitimiert und darstellt. Mittels feststehender narrativer und performativer Elemente fungiert die jährliche Wiedererzählung der Gründungsgeschichte des Christentums als cultural performance, die über die Wiederholungen im Kirchenjahr hinausgeht, weil sie sich nicht auf die Kirchen als Aufführungsort beschränkt. Die Menschwerdung Gottes geschieht durch die Geburt Jesu und bedeutet damit für Maria und Josef als Figuren der Geschichte auch eine Familienwerdung, der Aufmerksamkeit durch Geschenke und Glückwünsche zuteilwird. Das Wiedererzählen der Weihnachtsgeschichte im Krippenspiel wiederholt diese Familienwerdung und etabliert neben der christlichen Botschaft den Zusammenhalt als Familie, der dann im eigenen Weihnachtsfest als Ritual gesucht und inszeniert wird: Durch das einmalige, historische Ereignis der Geburt Jesu Christi, einen performativen Akt, hat sich aus christlicher Perspektive grundlegend das Weltgeschehen verändert: Gott ist Mensch geworden, seine Liebe hat sich offenbart. Die Grundlage des bürgerlichen Weihnachtsfests hingegen bildet die Sehnsucht nach in konfliktfreier Liebe miteinander verbundenen Familienmitgliedern, die Bestätigung und alljährliche Wiedergeburt der eigenen Familie.8 Bereits für das Mittelalter lassen sich Belege über das weihnachtliche Theaterspiel in Kirchen finden, aus denen sich das Krippenspiel entwickelt, wie es Laura Schmidt aufschlussreich herausgearbeitet hat.9 Diese Weihnachtsspiele haben gemeinsam, dass sie einer steten Weiterentwicklung unterliegen,

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L. Schmidt: Weihnachtliches Theater, S. 22. Ebd.

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jedoch immer auf die Evangelien als Textgrundlage beruhen.10 Es gibt daher nicht den einen Dramentext als Ursprung für die inhaltliche Gestaltung der Krippenspiele, sondern eine durch Wiederholung und Veränderung weitergegebene Tradition.11 Ab dem 18. Jahrhundert werden die weihnachtlichen Feste im Rahmen der aufkommenden Bürgerkultur privatisiert.12 Ab dem 20. Jahrhundert etablieren sich die Krippenspiele im Rahmen einer neuen Theaterästhetik, die das Volk jenseits der Bourgeoisie als Publikum anspricht. Während der Kriegsjahre sind Krippenspiele Teil von volksnahem und religiösem Theater.13 Im Zuge dessen werden Krippenspiele auch wieder für die Kirchen geschrieben und dort zur Aufführung gebracht.14 Ziel ist die immersive Einbeziehung des Publikums – der Gläubigen – in die Geschichte und damit die Stärkung des Glaubens an das Weihnachtswunder.15 Neben der Professionalisierung der Weihnachtsspiele allgemein gab es auch Laienspielgruppen, die »eigens verfasste, bearbeitete oder bereits existente Weihnachtsspiele zur Aufführung bring[en], denen die biblische Weihnachtsgeschichte zu Grunde liegt.«16 Das Krippenspiel ist heutzutage eine der bekanntesten Weihnachtstheaterformen, das dezidiert durch Laien und mittlerweile insbesondere Kinder performt und weitergetragen wird.17 Daneben gibt es jedoch weiterhin Kinder- und Jugendtheater, die Krippenspiele professionalisiert aufführen.

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Ebd., S. 42. Es gab Versuche, die weihnachtlichen Theaterspiele und öffentliche Weihnachtsbräuche zu kontrollieren und zu verbieten, was dazu führte, dass das Krippenspiel zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert kaum zelebriert wurde (vgl. ebd., S. 47). Eine Reaktivierung des Krippenspiels Anfang des 20. Jahrhunderts ist damit Teil des antibürgerlichen und volkstümlichen Theaters, ebd., S. 212-214. Ebd., S. 47. Ebd., S. 278. Schmidt verweist auch auf die Inanspruchnahme der volksnahen Krippenspiele für das Nationalistische, siehe auch S. 288. Krippenspiele wurden dann auch von den Nationalsozialisten ideologisch vereinnahmt, aber nicht gefördert, da die christliche Kultur insgesamt von einer nationalsozialistischen abgelöst werden sollte. Siehe dazu S. 340. Ebd., S. 245. Ebd., S. 246. Ebd., S. 311. Christliche Einrichtungen, aber auch Familien, Bildungswesen, Vereine etc. machen von dieser Theaterform Gebrauch, wodurch sich Publikum und Darstellende meistens persönlich kennen, was weitere Ebenen zur autopoietischen Feedback-Schleife hinzufügt.

Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance

Je nach Theater werden Interaktionselemente eingebaut, die die Kinder als Publikum ansprechen bzw. mitagieren lassen.

Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste Eines davon ist die Weihnachtsgeschichte (D 2017, R: Klaus Marschall/ Fred Steinbach) der Augsburger Puppenkiste. Seit 2014 wurde ihre Inszenierung als Puppenspiel jährlich gezeigt. Für die Filmversion wurden mehrere Aufführungen hintereinander aufgenommen, zusammengeschnitten und 2016 im Kino gezeigt.18 Seit 2017 liegt die DVD vor. Dieser Film bzw. diese Aufführungsaufzeichnung ist die Grundlage für diesen Beitrag. Mit der Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste liegen mehrere Genres und Medientypen vor: Ein Puppentheater, das ein Krippenspiel darstellt und gleichzeitig ein Theaterfilm ist, und zwar in der Untergruppe Kindertheater bzw. Kinderfilm. Ästhetisch schließt der Film an frühere Filminszenierungen der Augsburger Puppenkiste wie Urmel aus dem Eis (D 1969, R: Harald Schäfer) etc. an. Es handelt sich damit um einen Weihnachtsfilm, der dem traditionellen Rahmen des Festes versucht nah zu bleiben, indem die Weihnachtsgeschichte basierend auf der Bibel im Stil des Krippenspiels mit seinen verschiedenen Stationen bzw. Szenen gezeigt wird. Klaus Marschall, der Leiter der Puppenkiste, führte Regie. Die Figuren wurden auch im hausinternen Puppenbau gestaltet bzw. geschnitzt. Mehrere Sprecher*innen und Puppenspieler*innen sind beteiligt, was einen Unterschied zu anderen Puppen- und Kasperletheatern darstellen kann. Die Besetzung verweist auch auf einen Unterschied zu anderen Krippenspielen: Es spielen keine Laien oder Kinder als Teil einer Gemeinde, sondern Profis. Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) vergab das Prädikat »besonders wertvoll« und lobte den Umgang mit gesellschaftlichen Themen und die intelligente und humorvolle Modifikation für Kinder.19 In fünf Akten wird die Handlung der Weihnachtsgeschichte, basierend auf den Evangelien nach Lukas und Matthäus erzählt – wie dies typischerwei-

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Siehe https://www.domradio.de/themen/advent/2016-11-25/augsburger-puppenkiste-b ringt-die-weihnachtsgeschichte-ins-kino vom 25.11.2016 (zuletzt aufgerufen am 06. 07.2022). Siehe https://www.fbw-filmbewertung.com/film/die_weihnachtsgeschichte (zuletzt aufgerufen am 30.05.2022).

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se der Fall ist, da sich diese mit der Geburt Jesu auseinandersetzen. Erzählt wird die Geschichte in dieser Inszenierung durch einen Esel namens Noel. Der Esel ist eines der optischen und inhaltlichen Wiedererkennungsmerkmale für die Reise nach Bethlehem und die Situation im Stall nach der Geburt. Er kommentiert die Handlung, stellt dem Publikum Personen vor und ist selbst Teil der Handlung. Von den menschlichen Figuren wird er nicht verstanden, die anderen Tiere und das Publikum jedoch verstehen seine Äußerungen. Er ist also die kommunikative Brücke zwischen Publikum und Bühne. Inhaltlich umreißt die Darstellung die Empfängnis Marias inklusive der Zweifel Josefs, die Volkszählung, die Reise nach Bethlehem, die Suche nach einer Herberge, die Verkündung an die Hirten und die Ehrerbietung durch die Hirten und die Drei Heiligen Könige. Beendet wird das Stück mit den beteiligten Tieren, die »Stille Nacht, Heilige Nacht« singen, und dem Segensspruch des Engels Gabriel. Besonders interessant an dieser Inszenierung ist, dass sie versucht, sich als deutlich inklusiv darzustellen. Zum Ausdruck kommen soll dies durch Religions-, Sprach-, Hautfarbenvielfalt und eine scheinbar authentischere Bühnengestaltung als den europäisch verschneiten Winter.20 Dies verweist direkt auf einen bedeutenden Unterschied zwischen den Kinderkrippenspielen und Kindertheater wie diesem: In der Darstellung muss wenig an Gegebenheiten angepasst werden wie den Raum einer Kirche und die darin herrschenden Temperaturen, sondern die Bühne passt sich dem Gestaltungswillen an. Wie der Augsburger Regisseur und sein Team die Weihnachtsgeschichte für Kinder zugänglich machen wollen, spiegelt daher deren eigenen Bezug zur Weihnachtsgeschichte und zur Fremde, wie aus den Interviewabschnitten deutlich wird. Die bemühte Vielfalt lässt auf zwei Dinge schließen: Erstens wurden nicht nur christliche Kinder und Erwachsene als Publikum mitgedacht, sondern die zuschauende Gesellschaft als divers erkannt und durch das Stück gespiegelt; zweitens versucht die Inszenierung so den Anforderungen der Zeit zu entsprechen, um Authentizität21

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Siehe dazu auch das Zusatzmaterial »Behind the Scenes«, dass es sich laut Marschall bei einer Szene in Nazareth oder Bethlehem nicht um eine Südtiroler Winterlandschaft handle. Vgl. »Behind the Scenes«, in: Die Weihnachtsgeschichte. In einer Inszenierung der Augsburger Puppenkiste, Min 00:01:10. Authentizität kann hier nur als etwas mithilfe verschiedener Strategien Erzeugtes verstanden werden. Als Ziel dieser Strategien steht die wahrgenommene Wahrhaftigkeit der Erzählung, also dem Original entsprechen zu wollen. Dies heißt nicht zwangsläu-

Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance

zu erzeugen. Der Produzent Fred Steinbach sagt dazu im Zusatzmaterial der DVD: Alle sprechen in einer anderen Sprache, also sie sprechen alle deutsch, aber es gibt den jiddischen Akzent, es gibt Franzosen, es gibt Österreicher, […] wir waren alle nicht dabei, aber der Überlieferung nach, war das damals genauso, dass Menschen aus aller Herrenländer dort irgendwie waren […].22 Dass auch die inszenierte ›Authentizität‹ Teil des Gestaltungswillens des Regisseurs ist, wird deutlich, wenn Klaus Marschall über den Entstehungsprozess des Drehbuchs spricht: Die ersten Gedanken zu der Geschichte sind mir bei der Musik entstanden. Also, es sind Bilder entstanden mit der Musik über eine Karawane, die durch die Wüste zieht, über ein Kamel, das in der Wüste zu sehen ist. Das waren also so die ersten Bilder, die bei mir entstanden sind.23 Der Regisseur benennt also ganz konkret, dass die genutzten Bilder in der Inszenierung aus seiner Vorstellung der zeitlichen und geografischen Fremde stammen. Bevor der Esel Noel als kommentierender Erzähler durch die Handlung führt, werden die Filmschauenden durch die bekannte Augsburger Puppenfigur, den Kasperl, an der Tür der tatsächlichen Puppenkiste in Augsburg begrüßt und in den Theaterraum geführt. Diese zusätzliche erzählerische Ebene bricht die vierte Wand, wie es nachher der Esel im Theater tut, nun bereits auf Filmebene und schafft, ganz nach Kasperltheaterart, die Interaktion mit den Kindern durch die direkte Ansprache. Die Kamera folgt dem Kasperl vorbei an den Kindern, die dann im Theaterraum sitzen werden. Den filmschauenden Kindern wird bildlich und sprachlich noch einmal bestätigt, dass sie das angesprochene Publikum sind. Im Laufe der Aufführung sind weitere Schnitte ins Kinder-Publikum zu sehen. Der Kasperl dient identifikatorisch als Markenzeichen der Augsburger Puppenkiste, weswegen er auch im Augsburger Dialekt spricht.

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fig, dass es sich um Originalität handelt. Sie soll jedoch dem Bild, das die Gesellschaft von dieser Originalität hat, entsprechen und formt es dadurch gleichzeitig mit. Ebd., Min. 00:06:14. Ebd., Min. 00:01:30.

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Die Drei Heiligen Könige Die Weihnachtsgeschichte selbst wird durch die Drei Heiligen Könige eröffnet, die sich über den veränderten Himmel und den Abendstern unterhalten und dies mit einer passenden Prophezeiung abgleichen, weswegen sie sich auf die Suche nach dem neuen König machen. Die Sterndeuter und ihre Suche nach dem »König der Juden« werden in der Bibel bei Matthäus erwähnt, Details zu ihren Personen basieren jedoch auf einer längeren Legendenbildung. Die Darstellung der Puppenkiste entspricht dem gängigen Drei-Heilige-Königs-Motiv, das in Krippenspielen Verwendung finden kann, aber nicht muss. Gekleidet sind die drei erkennbar als Könige und ›aus dem Morgenland‹ – was eine geographische, religiöse und kulturelle Ferne im Vergleich zu der Lebenswelt Jesu darstellen und seine messianische Herrschaft legitimieren soll: »In ihnen spiegeln sich die Christen, die sich im Laufe von Jahrhunderten zu Jesus Christus bekennen.«24 Die Legendenbildung um die Drei Heiligen Könige ist vielfältig25 und die Frage der Herkunft nicht eindeutig geklärt,26 es hat sich jedoch in Abbildungen und in der Sternsingertradition, die die Kinder potenziell kennen, etabliert, dass einer der Könige als Schwarz und die anderen beiden als weiß dargestellt werden. Der Schwarze König ist entweder Melchior oder Caspar.27 Die FBW will ohne weitere Erläuterung die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam in ihnen erkennen.28 Die tradierte Fremdheit versucht die Puppenkiste nun dadurch umzusetzen, dass die drei Figuren neben ihrer optischen Erscheinung als ›orientalische‹ Könige, Dialekte bzw. Akzente des Deutschen sprechen.29 Melchior

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Becker-Huberti, Manfred: Die drei heiligen Könige. Geschichte, Legenden und Bräuche, Köln: Greven Köln 2005, S. 71. Ebd., S. 66ff. Ebd., S. 67. »Die Fachwelt neigt heute eher zu einer Herkunft aus Babylon, weil dort die messianische Hoffnung Israels durch das Exil der Juden bekannt war.« Ebd., S. 104. Vgl. die Jurybegründung hier: https://www.fbw-filmbewertung.com/film/die_weihnac htsgeschichte (zuletzt aufgerufen am 30.05.2022). Klaus Marschall sagt dazu: »Die Figuren sprechen unterschiedliche Dialekte, weil sie ja auch aus unterschiedlichen Teilen der Welt kommen. Gerade die drei Weisen aus dem Morgenland sind ja wirklich aus vielen, vielen Ländern zusammengewürfelt und das war uns wichtig, das auch in der Geschichte rüberzubringen.«, in: »Behind the Scenes«, Min. 00:05:58.

Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance

spricht einen österreichischen Dialekt und der zu spät kommende Balthasar spricht einen deutsch-tschechischen Dialekt. Caspars Dialekt ist nicht eindeutig zuordenbar und erscheint eher wie ein gebrochenes Deutsch mit osteuropäischem Einschlag. Als einzig Schwarze Figur ist dies eine problematische Setzung des Anderen, der eben als einziger nicht fähig ist, die Sprache oder einen Dialekt korrekt zu sprechen. Es entsteht der stereotypisierte Eindruck einer inkompetenten Person of Colour. Bestärkt wird dies durch die Äußerungen der Figuren. Zwar erhalten alle drei Könige mindestens eine Textpassage, in der sie ihr Wissen zur Schau stellen, es ist jedoch immer Caspar, der Ratlosigkeit ausdrückt. Exemplarisch sagt Caspar an einer Stelle: »Doch noch scheint alles rätselhaft, wie umgeben von einem Schleier, den ich nicht durchdringe.« (Min. 00:03:17) Der österreichische Melchior ist fachlich hochkompetent, während Caspar eher Praxiswissen anbringt und dem dazukommenden Balthasar nur den Stand des gemeinsamen Wissens erklärt. Balthasar fügt das Wissen um die Prophezeiung hinzu und so ist Caspar derjenige von den dreien, der fachlich am wenigsten beizusteuern hat. Die Drei Heiligen Könige finden Jesus, Maria und Josef im 5. Akt, am Ende des Stückes im Stall vor und werden von einem Dromedar begleitet, das die Geschenke trägt.

Religionspluralismus Der Esel und der Ochse treffen auf dieses Dromedar bereits zuvor in der Stadt, als Noel nach einer Unterkunft für Maria und Josef sucht, kurz bevor die Geburt bevorsteht. Die Tiere unterhalten sich bereits zum zweiten Mal über Gott, an den sie glauben. Das erste Gespräch führen Noel und der Ochse bei ihrem ersten Aufeinandertreffen. Das Besondere an dem zweiten Gespräch ist, dass das Dromedar als muslimisch markiert ist. Es sagt: »Wie kannst du wissen, was Allah, der Allmächtige, den deine Menschen Gott nennen, in seiner grenzenlosen Weisheit vorgesehen hat für diese Frau, für dieses Kind?« (Min. 00:41:40) Durch das muslimische Dromedar soll also die Botschaft des einenden Gottes zwischen den verschiedenen Religionen transportiert werden, und sie richtet sich indirekt an die Kinder als moralische Aussage. Bestätigt wird dies wenige Minuten später durch ein Gespräch zwischen Dromedar und Ochse:

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Dromedar: Allah offenbart sich uns gern auf Umwegen. Ochse: Mmh, wie wir ihn auch nennen, er hat ans Futter gedacht. Sehr freundlich von ihm. (Min. 00:43:45) Weder den Islam noch das Christentum hat es bis zu diesem Zeitpunkt in der Aufführung gegeben. Das Dromedar benennt Gott nicht mit einem dezidiert jüdischen Namen,30 sondern mit dem – für christliche Gläubige vertrauten – Namen ›Gott‹ und dem muslimischen Namen ›Allah‹. Die Differenzierung der Anrede wird durch die Tokenfigur des muslimischen Dromedars als Thematik eröffnet und soll auf das Einende statt Trennende der heutigen größten, monotheistischen Religionen hinweisen. Gleichzeitig findet keine eindeutige Einbeziehung der jüdischen Religion in die Inszenierung der Weihnachtsgeschichte durch die Anrede Gottes statt. Die Bezeichnungen ›Gott‹ und ›Er‹ für Gott im gesamten Stück vereinnahmen innerhalb dieser Inszenierung den jüdischen Glauben an Gott und machen ihn so unsichtbar. Der angesprochene Esel kann aufgrund des Zeitpunktes noch kein Christ sein so wie das Dromedar nicht muslimisch sein kann. Die ahistorische Religionsvielfalt macht somit deutlich, dass es nicht um das Jüdischsein der dargestellten Figuren geht, sondern um das Christlichsein der zuschauenden Kinder, die die Benennung ihres Gottes hören. Eine eindeutig erkennbare jüdische Bezeichnung für Gott fehlt im ganzen Stück, die Menschen, Tiere und der Engel nennen ihn entweder »Er«,»Gott« oder im Fall des Dromedars der Könige »Allah«. Eine Unterscheidung zwischen den Benennungen ist also nur zum Islam hin für das Publikum möglich, nicht jedoch zum Judentum, wodurch dieses als eigene Religion nicht wahrgenommen wird.

Nomad*innen Der Ochse gehört zu einem Paar, das ebenfalls in der Wüste unterwegs zur Stadt ist. Ihre Kleidung erinnert an Nomad*innen. Sie werden ebenfalls als fremd bzw. ›exotisch‹ gekennzeichnet durch ihre Kleidung, ihre Sprache und ihre Hautfarbe. Insbesondere in der Frau, die im Mondschein am Lagerfeuer ein sehnsuchtsvolles Lied über »den Retter« singt, zeigen sich exotisierende 30

Denkbar wäre ›Adonai‹, da ›JHWH‹ im Judentum nicht ausgesprochen wird. Es gäbe damit Möglichkeiten, den jüdischen Glauben auch in der Benennung Gottes sichtbar zu machen. Die Vermeidung des Namens durch das Personalpronomen »Er«, wie es auch im Judentum Brauch ist, ist an dieser Stelle nicht ausreichend, um eine Differenzierung herzustellen.

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Fremdbilder über Rom*nja/Sinti*zze in Anlehnung an die Esmeralda-Figur.31 Als einzige weitere Personen sprechen sie gebrochen Deutsch, dieses Mal mit französischem Akzent. Als einzige andere Personen, die Schwarz sind, fällt dies in Zusammenhang mit Caspar auf. Schwarzsein wird mit Fremdsein gleichgesetzt. Zum Ausdruck kommt dies visuell durch die Kleidung und akustisch durch das gebrochene Deutsch. Die Intention der Puppenkiste, dass Menschen aus verschiedenen Bereichen der Erde sich trotzdem verstehen – Akzent und Dialekt als einzigartige Merkmale, die unterscheiden, aber nicht trennen – scheitert hier in der Bildsprache, wenn Hautfarbe zu einem Merkmal des ganz Fremden wird.

Der Erzengel Gabriel und Gott Neben Tieren und Menschen, die sich ihr gegenseitiges Anderssein und Ähnlichsein im Stück auch immer wieder aufzeigen, gibt es eine weitere Wesenskategorie, nämlich den Erzengel Gabriel. Dieser ist zwar den Menschen in seiner Gestalt ähnlicher und kann mit ihnen reden im Gegensatz zu den Tieren, wird aber in seinem Anderssein subtil bestätigt. Er braucht als übernatürliches Wesen u.a. nichts zu trinken, kann fliegen und weiß Botschaften von Gott. Außerdem spricht er immer wieder, wenn auch nicht durchgehend, Jiddisch und bedient sich mit Zitaten an seiner biblischen Vorlage. Das ostentativ inszenierte gewollte Sprachspiel der Inszenierung wird hier weitergeführt. Die jiddischen Teile sind für Deutschsprachige so gut zu verstehen, dass es sich nur um eine Ergänzung seiner Sprache handelt, die ihn hervorhebt. Diese soll auf das Judentum verweisen, dem alle bis auf Dromedar, Könige und Römer angehören. Es ließe sich sagen, der Erzengel sei von allen gezeigten Figuren diejenige, die am nächsten an Gott ist und daher sprachlich so markiert wird.32 Gott selbst funktioniert in dem gesamten Stück als der nicht sichtbare und nicht handelnde, aber bestimmende Andere. Der Engel Gabriel ist sein Sprachrohr, Gott selbst tritt nicht auf. Er ist nur durch den 31

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Rüthers, Monica: Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater. »Jewish spaces«/»Gypsy Spaces« – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas, Bielefeld: transcript: 2012, S. 137ff. Das Jiddische als Teil des Ostjudentums gilt als besonders ›authentisch‹ insb. im Gegensatz zum Westjudentum. Siehe: Rüthers, Monica: »Sichtbare und unsichtbare Juden: Eine visuelle Geschichte des ›Ostjuden‹«, in: Osteuropa. Ausstieg: Repression oder Innovation 60/1 (2010), S. 75-93, hier S. 75. Die Inszenierung wiederholt diesen Stereotyp, indem der Engel als gott- und religionsnahe Figur jiddische Sprachanteile hat.

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Glauben der Menschen und Tiere, den Engel und Wunder wie die unbefleckte Empfängnis Marias anwesend. So bezieht sich der Engel bspw. auf Gottes Wunsch und Willen, dass das Paar Maria und Josef seinen Sohn bekommt, und lobpreist ihn nach der Geburt Jesu: »Und Ehre sei Gott in der Höhe« (Min. 00:47:45), woraufhin das Lied »Gloria in excelsis deo« zu hören ist. Die Verkündigung und die Lobpreisung sind Handlungen des Engels, die direkt auf die Bibel verweisen und eine der biblischen Weihnachtsgeschichte inhärente Anwesenheit Gottes darstellt. Es handelt sich damit um keine zusätzliche, bewusste Setzung. Anders ist dies, wenn der Esel direkt auf ihn Bezug nimmt und ihn »der liebe, liebe Gott« (Min. 00:55:09) nennt, was eine Anspielung auf ein kindliches Verhältnis zu Gott ist, das den Kindern im Publikum vertraut sein könnte und damit eine Nähe zu ihnen schafft. Genauso wird Gott zusätzlich als Anderer in Bezug auf die Erdbewohner*innen gesetzt, wenn der Esel verzweifelt eine Herberge sucht und dabei Gottes Anwesenheit und Fürsorge hinterfragt: »Gott. Ich glaube, Gott hat kurz vergessen nach dem Rechten zu sehen.« (Min. 00:41:53) Woraufhin das Dromedar antwortet und den Zweifeln keinen Raum gibt: »Nein. Ich denke, du bist auf der falschen Suche. Gott weiß genau, was zu tun ist. Er hat es vorherbestimmt und in den Sternenhimmel geschrieben. Du musst einfach genau hinsehen und -hören.« (Min. 00:42:03) Das Dromedar nimmt damit Bezug auf die Prophezeiungen, von denen die Drei Heiligen Könige gesprochen haben, auf die Allwissenheit Gottes sowie Gottes Lenkung des Weltgeschehens. Gott als nicht-menschlicher Anderer wird somit als erhabener, existierender und nicht anzuzweifelnder Schöpfer in der Inszenierung positioniert. Der Esel bestätigt dies am Ende mit einem Kommentar an die Tiere und an das Publikum gewandt: »Wie wunderbar er alles bereitet hat.« (Min. 00:55:02) Er bezieht sich damit auf den erfolgreichen Ablauf der gesamten Weihnachtsgeschichte. An anderer Stelle, wenn Josef und Maria aufzählen, welche Merkmale das Jesuskind habe, inkludiert Josef Gott als »Gottvater«, was einerseits auf die religiös-göttliche Rolle und gleichzeitig auf die geteilte Vaterrolle mit Josef verweist: »Und die Nase? Vermutlich von Gott Vater.« (Min. 00:48:36) Die biblische Wahrheit wird hier zusätzlich bestätigt durch eine Annäherung an reale Situationen von jungen Eltern, wozu auch das »Dutzidutzidutzidu« Josefs im Anschluss an die genetischen Fragen gehört. Josef wirkt so als moderner Familienvater, der in einer Patchworkfamiliensituation lebt. Die Inszenierung spielt hier stark auf das Weihnachtsfest als Familienfest an und stellt auch in diesem Sinne eine cultural performance dar, deren Ausgangspunkt bei der kulturellen Verortung der Darstellenden und des Publikums in der heutigen Zeit liegt. Der Ochse kom-

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mentiert das Verhalten Josefs mit: »So sind alle Eltern, wenn sie mit ihren Kälbchen reden.« (Min. 00:49:40) So wie der Erzengel haben auch die meisten anderen Personen eine weiße Hautfarbe, nur die drei bereits benannten Nebencharaktere sind Schwarz. Auffällig ist, dass die Römer sehr weiß sind und somit die kolonialisierende Herrschaftsklasse mit Weißsein verbunden ist. Erst im Gegenzug zu ihnen fällt auf, dass Josef und Maria einen leicht gebräunten Teint und braune Locken haben, was auf ihre galiläische Heimat verweisen könnte und als zuschreibendes Authentizitätsmerkmal der inszenierten Vielfalt dienen soll. Diese Marker fehlen bei anderen Figuren. Die Norm scheint die weiße Figur zu sein; Abweichungen davon fallen auf. Die Hintergrundkulisse soll der Verortung in Israel zur Zeit Jesu dienen: Lehmhütten und -häuser mit runden Dächern, lange Kleidung, Landschaften wie die Wüste werden gezeigt. Zur Begrüßung wird oft das hebräische »Shalom« verwendet, was ebenfalls als jüdisches Authentizitätsmerkmal benutzt wird. Zitathafte Einschübe wie »Fürchte dich nicht!« aus der Bibel, wenn der Engel spricht, verweisen auf den biblischen Ursprungstext der gläubigen Christen. Sprachliche Akzentuierungen wie »Seid gegrüßt« etc. verweisen auf eine Sprache jenseits von Heute – deren Stil in Fantasy-, Mittelalter- und Antikendarstellungen ebenfalls zu finden ist. Um eine Nähe zum Publikum zu erzeugen, wird das meiste in Alltagssprache der Gegenwart gesprochen, und die Tiere äußern zudem ihre wesensspezifischen Tierlaute.

Musik Auch die verwendete Musik ist Teil der Abgrenzung zwischen Eigenem und Fremden und verweist zunächst auf das jüdische Leben der Weihnachtsfamilie. Die Musik ist fast durchgängig als jüdische Klezmer-Musik konzipiert und erfüllt somit den Anspruch der Inszenierung an scheinbare Authentizität. Klezmer gilt »allgemein als typisch für jüdisches Milieu und jüdische Kultur […]«33 und hat eine »atmosphärische Funktion«34 inne, die eine Romantisie-

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Sucker, Juliane: »›Zwei Juden an einem Tisch und schon lachst Du Dich kaputt.‹ Jüdischer Humor als Zeichen von Jewishness im deutschen Film und Fernsehen«, in: dies./ Lea Wohl von Haselberg (Hg.), Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 77-92, hier S. 87. Ebd. Sucker verweist auch auf einen »Klezmerboom«, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und im Rahmen des ›virtually Jewish‹ zu sehen sei (S. 89). ›Virtually

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rung des Ostjudentums als besonders ›authentisches Judentum‹ darstellt.35 Klaus Marschall sagt dazu: »Es ging mir darum, die Weihnachtsgeschichte in ihr Ursprungsland zurückzubringen und da passt eigentlich gerade jüdische Musik sehr gut dazu.« (»Behind the Scenes«, Min. 00:02:10) Dies stellt einen ahistorischen Zugang zum Judentum im Jahre 0 dar, da Klezmer erst im 15. Jahrhundert als weltliche Musik entwickelt wurde.36 Der Anspruch der zeitlichen Originalität wird hier nicht erfüllt. Nur im letzten Akt verändert sich die Musik. Für die Geburt Jesu ist eine sanfte Melodie gewählt, und nach der Verkündung bei den Hirten gibt es einen Wechsel hin zu christlicher Weihnachtsmusik. Der Engel verkündet die Geburt Jesu und es ertönt die Musik des französischen Weihnachtsliedes »Gloria in excelsis deo« aus dem 18. Jahrhundert ohne Gesang. Durch die Wahl der Musik wird deutlich, dass mit der beabsichtigten ›Authentizität‹ keine Originalität angestrebt wird, sondern allein Platzhalter für das jeweils Gemeinte – in diesem Fall Judentum bzw. Christentum – gesetzt wurden. Das Christentum beginnt mit der Geburt Jesu – dem Jahr 0 – und wird als Höhepunkt der Inszenierung durch die Verkündung und die musikalische Unterlegung mit christlich-festlicher Musik dargestellt. Dadurch ergibt sich eine naive Lesart der Ablösung des Judentums durch das Christentum, die aufgrund der u.a. Gewalt legitimierenden Geschichte der Substitutionstheologie nicht unproblematisch ist, aber durch den Rest der Darstellung nicht weiter forciert wird. In diesem Sinne ist auch der Versuch, die jüdische Familie scheinbar ›authentisch‹ darzustellen und gleichzeitig das Weihnachtsstück in einem christlichen Fest aufzulösen, kritisch zu sehen: Zum Abschluss stimmen Esel, Ochs und Dromedar »Stille Nacht, Heilige Nacht« an, der Engel gesellt sich zu ihnen und sie verweisen nun durch diesen Zeit- und Stilbruch deutlich auf das Weihnachtsstück als christliche cultural performance. Diese bettet sich in der Form in gemeinschaftliche Weihnachtsfeiern ein und funktioniert damit klar als tradiertes Kulturelement der christlichen Gesellschaft.

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Jewish‹ bezeichnet nach Ruth Ellen Gruber »vermeintlich[e] jüdische Kultur, die vorwiegend von Nichtjuden produziert würde« (ebd.). M. Rüthers: Sichtbare und unsichtbare Juden, S. 77. Vgl. Nemtsov, Jascha: »Klezmer«, in: Laurenz Lütteken (Hg.), MGG Online, zuerst veröffentlicht 2008, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable /51718 (zuletzt aufgerufen am 06.07.2022).

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Gesellschaftliche Debatte um Geflüchtete als Hintergrundfolie der Inszenierung Die Inszenierung verweist zudem auf einen ›Anderen‹, der nicht im Stück anwesend ist: die gesellschaftliche Debatte 2015/16 um die in Deutschland und Europa angekommenen Geflüchteten. Die Aktualisierung des Stoffes auf diese Thematik hin geschieht durch Anmerkungen, die dann weitere Szenen insb. für das erwachsene Publikum lesbar werden lassen. Im Zusatzmaterial der DVD »Behind the Scenes« erklären Regisseur und Theaterleiter Klaus Marschall und Produzent Fred Steinbach, dass die Weihnachtsgeschichte für sie auch explizit eine Fluchtgeschichte ist. So erklärt es Klaus Marschall: »Ich denke, dass die Weihnachtsgeschichte eigentlich eine Geschichte ist, die sehr viel mit Not und Flucht zu tun hat und ich glaube, das ist gerade in der heutigen Zeit auch ein Thema, das wirklich jeden angeht.« (Ebd., Min. 00:06:35) Fred Steinbach erwidert daraufhin: »Das ist im Prinzip ’ne Flüchtlingsstory und das Thema ist zwar jetzt aktuell, aber ich finde – wir werden ja alle wissen, dass uns das schon lange begleiten wird.« (Min. 00:06:55) Im Stück finden sich mehrere Hinweise auf diese gesellschaftliche Gegenwart des Publikums. Balthasar erklärt sein Zuspätkommen so: »Der Weg war schwerer zu bewältigen, als ich erhoffte, überall Wegelagerer, verbrannte Erde an den Grenzen. Wir musste Umwege nehmen.« Caspar: Die römischen Herrscher haben Unfrieden in alle Winkel ihres Reiches getragen. Balthasar: Es sind unruhige Zeiten. (Weihnachtsgeschichte, Min. 00:04:20) Sie sprechen damit die Situation vieler Flüchtender an, die entlang der Fluchtrouten auf dem Landweg an Grenzen feststecken. Dies sind Bilder, die 2015 in den Nachrichten prägend waren und auch heute noch aktuell sind. Da sie selbst Reisende sind, die mehrere Ländergrenzen überwinden, um dem König zu huldigen, verweisen sie so indirekt auch auf das Migrationsmanagement der EU, Deutschlands und vieler anderer Länder zwischen Migrierenden zu unterscheiden und eine Kategorisierung in scheinbar ›erwünschte‹ und ›unerwünschte‹ Migrierende vorzunehmen.37 Als erste 37

Müller, Doreen: Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen. Metamorphosen einer umkämpften Kategorie am Beispiel der EU, Deutschlands und Polens, Göttingen: Universitätsverlag 2010, S. 44. Eine differenzierte Aufteilung findet sich auf S. 43.

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nicht-jüdische Gläubige sind sie dem Christentum in der Legende besonders nah und fallen in die Kategorie der ›erwünschten‹ Migrierenden, die u.a. hochgebildet, wohlhabend, gesellschaftlich und beruflich einflussreich38 sind und die heutzutage oft als ›Expats‹ bezeichnet werden, auch wenn sie nicht den erwünschten ›Nähefaktor‹ vorweisen.39 Sie bringen eine hohe kontingente Würde40 mit und werden entsprechend geachtet. Im Gegensatz dazu stehen Geflüchtete, die an Grenzen abgewehrt wurden und werden und von Balthasar als Sicherheitsrisiko bezeichnet werden, was dem Migrationsmanagement der EU entspricht.41 Auch Josef und Maria werden reisen, zunächst nach Bethlehem, was in der Weihnachtsgeschichte zu sehen ist, und im Bibeltext anschließend nach Ägypten, also auch über Ländergrenzen hinweg, fliehen. Die Fluchtgeschichte ist nicht Teil dieses Weihnachtsfilms respektive der Krippenspiele, sondern wird von Gläubigen als Hintergrundwissen mitgebracht. Der Grund für die Flucht ist die Verfolgung durch Herodes, der aus Angst vor Machtverlust – Herrschaftsstabilisierung ist ein typischer Grund für Gewaltmigration42  – alle neugeborenen Kinder töten lässt.43 Die Lebenssituation der jüdischen Bevölkerung und der Willkür, der sie unter der römischen Herrschaft ausgesetzt sind, zeigt sich zum einen

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Sie entsprechen somit dem Wunsch der arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Migrationsregulierungen. Ebd., S. 45 und S. 184. Bzgl. der Raumdistanzen fallen unter die ›erwünschten‹ Migrierenden diejenigen, die ›ähnlich‹ und ›nah‹ sind. Dies markiert bei der Arbeitsmarktmigration innerhalb der EU u.a. die Freizügigkeit. Siehe ebd., S. 45. Da dies nicht auf die Drei Heiligen Könige zutreffen kann, entfällt dieser Bereich der personenbezogenen Kriterien für sie. Kontingente Würde unterscheidet sich von inhärenter Würde dadurch, dass sie soziale, expressive oder ästhetische Bereiche betrifft und erworben, verloren, gesteigert oder gemindert werden kann. Die kontingente, soziale Würde beschreibt u.a. die Stellung in der Gesellschaft. Siehe: Schaber, Peter: Instrumentalisierung und Würde, Paderborn: Brill Mentis 2010, S. 48. Die Stellung als Könige – und im Nachhinein als Heilige – bedeutet somit eine hohe kontingente Würde und Achtung. D. Müller: Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, S. 15. Müller macht auch deutlich, dass Staaten, selbst wenn Geflüchtete »im Einzelfall dem geforderten Qualifikationsprofil und damit dem Nützlichkeitsparadigma entsprechen« (ebd., S. 311), diesbezüglich keine Auswahl steuern können. Oltmer, Jochen: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt: Konrad Theiss 2017, S. 34. Vgl. Lutherbibel, Deutsche Bibelgesellschaft 2017, Mt 2, 16-18, https://www.die-bibel.d e/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/MAT.2/Matth %C3 %A4us-2 (zuletzt aufgerufen am 30.05.2022).

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durch den Zwang zum Zensus nach Bethlehem zu reisen, obwohl Maria hochschwanger ist, und zum anderen in der Inszenierung ganz konkret durch die römischen Soldaten am Hochzeitstag von Josef und Maria. Josef, der bis zur Hochzeit mit seinen Freunden das neue Haus für sich selbst und Maria baut, wodurch er als stark, redlich, sozial und fleißig gezeigt wird, kann sich nicht gegen die Willkür und Drohungen des römischen Soldaten wehren. Der Soldat verkündet den Aufruf zum Zensus und droht Josef konkret, als dieser auf die hochschwangere Maria verweist, mit den Worten: »Bursche, du folgst den Befehlen des Kaisers oder du wirst es bitter bereuen!« (Min. 00:21:35) Da Josef Widerstand leistet mit den Worten: »Ihr römischen Besatzer knechtet das jüdische Volk aus reinem Vergnügen. Schikanen. […] und Angst. Aus eurer Herrschaft erwächst nichts Gutes« (Min. 00:21:40) und politische Kritik übt, zerstört der Soldat zusammen mit seinen Wachen die neue Einrichtung des Hauses. Das Publikum sieht die Zerstörung nicht, kann sie nur hören und blickt währenddessen auf den machtlosen Josef und seine Familie. Eine Parallele zu Geflüchteten, die vor ihrer Flucht dem willkürlichen Gebaren von staatlichen Repräsentanten ausgesetzt waren, lässt sich hier ziehen. Das Publikum erlebt das Verhalten der römischen Soldaten als ungerecht. Eine Lösung des Unbehagens ergibt sich dadurch, dass das aggressiv-überhebliche Pferd des Soldaten durch eine Bremse in die Flucht geschlagen wird. Auch Josef ruft den nun pferdelosen Soldaten hinterher: »Weiß euer sogenannter Kaiser, was ihr hier treibt im Heiligen Land Gottes?« (Min. 00:23:44) Josefs Verweise auf seine Religion sind dem Soldaten egal, er verlangt eine Unterwerfung unter das römische Recht und den Willen des Kaisers. Soldat: »Euren Namen!« – Josef: »Ich bin Josef, aus dem Geschlecht Abrahams, dem auch David entsprungen ist.« – Soldat: »Interessiert mich nicht. Woher kommt ihr ursprünglich?« (Min. 00:21:00) Die Hirten, die Maria, Josef und Noel nach Bethlehem ankommen sehen, kommentieren diese mit Worten, die ebenfalls eine Nähe zu Geflüchteten aufkommen lässt: Matthäus: »Hast du die gesehen vorhin? Was meinst?« – Lukas: »Arme Leut. Arm dran.« – Matthäus: »Die Frau mit Kugelbauch.« – Lukas: »Auf einem müden Esel.« – Matthäus: »Kommen von weit her, Quartier kriegen die hier nie.« – Lukas: »Nein, das ist so. Die Stadt ist so, die ganze Welt.« – Matthäus: »Müde Frauen auf müden Eseln kriegen ihre Kinder im Freien.« –

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Lukas: »Den Römern ist’s egal. Den meisten Leuten auch.« – Matthäus: »Mir nicht. Ich koch Lammknochen. Die Suppe bring ich ihr.« (Min. 00:34:40) Die Beobachtung der kleinen Familie, die stellvertretend hier für Fliehende in Armut und Not steht, beginnt mit Mitleid, wird dann zu einem traurigen Kommentar über die verlorene Moral der Gesellschaft, Geflüchteten und Armen nicht zu helfen, und endet in der Erkenntnis, selbst Anteilnahme zu empfinden und aktiv helfen zu wollen. Lukas und Matthäus symbolisieren damit die Hilfsbereitschaft der sogenannten ›Willkommensgesellschaft‹. Zuletzt verweist die Herbergssuche von Maria, Josef und Noel auf die Situation der Geflüchteten 2015/16. Wie in der Bibel wird die kleine Familie abgelehnt, egal, wo sie anklopft, und sie findet nur im unwirtlichsten Ort ein Obdach, dem Stall. In der Inszenierung wird der Stall von Lukas, dem Hirten, zudem als gefährlich aufgrund seiner Bausubstanz (Min. 00:36:00) und vom Esel als »Bruchbude« (Min. 00:42:52) bezeichnet. Übertragen auf die Situation der Geflüchteten steht die erfolglose Herbergssuche für die Ungastlichkeit, die Geflüchteten in der EU entgegengebracht wird. Dies zeigt sich in überfüllten Lagern für Geflüchtete meist in den südlichen EU-Ländern wie Griechenland und Italien, der Abwehr von EU-Ländern, (mehr) Geflüchtete aufzunehmen, was auch zum Parteiprogramm von rechts(extremen) Parteien wurde, und der behelfsmäßigen Unterbringung in Hallen, die zu Asylunterkünften umgestaltet wurden. Die Inszenierung und die Weihnachtsgeschichte selbst legen diese aktualisierende Lesart nahe. Die Geburt Jesu verweist nicht nur auf das christliche Wunder, sondern auch auf die Situation von Schwangeren und Gebärenden auf der Flucht. Die Nomadin Esther und Josef sind in der Puppenkistenversion diejenigen, die Maria während ihrer Wehen bis zur Geburt beistehen. Dass bei Maria die Wehen einsetzen, führt zu einer panischen Suche Josefs und des Esels nach einer Unterkunft, die im Stall endet. Die verzweifelte Suche des Esels zeigt noch einmal, dass niemand für die Not einer Gebärenden Platz hat und dass auch niemand den Fremden gegenüber hilfsbereit ist. Maria leidet unter den Schmerzen der Wehen, sie sagt den – werdenden Eltern wahrscheinlich nicht unbekannten – Satz: »Meinst du, ich kann nachträglich noch Nein sagen?« (Min. 00:38:35) und zweifelt an ihrer Entscheidung für die Schwangerschaft. Gerade dass Maria während der Wehen nahbar für die Zuschauenden, in diesem Fall wahrscheinlich eher die Erwachsenen, ist, hebt hervor, dass ihre Geburtssituation sich deutlich von der europäischer Gebärender unterscheidet. Statt hygienischer Versorgung durch Fachkundige im Geburtshaus oder

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Kreißsaal gebiert sie mithilfe einer gutherzigen Fremden, die sie kaum kennt, und ihrem Mann. Erst in der Retrospektive Marias verändern sich die Bedeutung und der Fortgang der Geburt, der sich von Gebärenden auf der Flucht dadurch unterscheidet, dass der Engel Gabriel ihr ein Lied singt, das ihr die Schmerzen nimmt (Min. 00:48:45). Das gemeinsame, friedvolle Singen des Weihnachtsliedes »Stille Nacht, heilige Nacht«,nachdem das Jesuskind als ›Retter der Menschheit‹ – mehrfach so oder ähnlich in der Inszenierung betitelt44  – geboren ist, zeigt, dass auch der implementierte Andere, die geflüchteten Menschen in Europa 2016, Teil der cultural performance ist: Verschiedene Religionen und Wesen aus verschiedenen Ländern singen die vierte Strophe des christlichen Weihnachtslieds,45 in der es heißt: »Stille Nacht, Heilige Nacht | Die der Welt Heil gebracht | Aus des Himmels goldenen Höh’n | Uns der Gnade Fülle läßt seh’n | Christ in Menschengestalt!« (Min. 00:55:12) Neben dem Hinweis auf den ›gnadenvollen Gott‹ verweist die Strophe wiederum auf die Heilsbringung durch Jesus Christus und damit auf den Wunsch nach Frieden, den der Regisseur im Zusatzmaterial benennt als: »[d]en typischen Weihnachtswunsch ›Frieden auf Erden‹«. (»Behind the Scenes«, Min. 00:07:24) Diesen Frieden gibt es laut christlichem Glauben und laut Liedtext durch die Geburt Jesu, die das Publikum gerade miterlebt hat. Er wird auch durch den Hirten Matthäus angesprochen: »Ein Kindlein… Bringt es endlich Frieden für alle Menschen? – Engel: Ja, das wird es.« (Weihnachtsgeschichte, Min. 00:47:10) Und bei der Ansicht des Kindes sagt Lukas: »Der König. Der Friedensfürst. Dass ich das erleben darf.« (Min: 00:51:20) Der Wunsch nach Frieden ist also eingebettet in die Ausübung und Darstellung der christlichen Religion. Die Teilnahme der Nichtchrist*innen ist keine ökumenische Öffnung, sondern die Integration in die eigene tradierte, kulturelle Handlung. Sie bestätigen damit das gerade dargestellte ›Weihnachtswunder‹ der Geburt des ›Retters‹ und somit die Richtigkeit des christlichen Glaubens in einer zusätzlichen Handlung, die der Weihnachtsgeschichte der Bibel nicht inhärent ist. Der erhoffte Frieden –

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U.a. von Melchior in Weihnachtsgeschichteals »unser König, der Weltenretter« (Min. 00:05:52), vom Erzengel Gabriel in der Verkündung an Maria (Min 00:14:05) und an die Hirten (Min. 00:47:00), von der Nomadin (Min. 00:32:00), von Maria nach der Geburt mit den Worten: »[…] unser Licht, unsre Rettung« (Min. 00:49:04). In anderen Strophen des Weihnachtsliedes heißt es auch: »Christ, der Retter ist da« und »da uns schlägt die rettende Stund’«, die hier nicht gesungen werden, die bei textkundigen Zuschauer*innen jedoch anklingen.

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auch für die Menschen, die 2016 auf der Flucht sind – ist hier der Frieden durch den christlichen Glauben.

Fazit Die Setzung des Anderen in dieser Inszenierung erfolgt auf drei Arten: Erstens ist sie der biblischen Weihnachtsgeschichte inhärent und damit Teil jeden Krippenspiels, was gerade in kirchlichen Settings als Bestätigung des eigenen Glaubens zu erwarten ist. Zweitens ist sie als Teil der Inszenierung zu beobachten in Bezug auf die Umsetzung, also in dem geschriebenen Drehbuch, der Bildsprache, der gewählten Musik, der gesprochenen Sprache usw. Drittens ist sie in dem gesellschaftlichen Kontext der Entstehung dieser Inszenierung zu sehen, den der Regisseur und der Produzent bewusst hineintragen und mithilfe der Inszenierung auch kommentieren. Aufschlussreich für diese dritte Art der Setzung des Anderen ist insbesondere das Zusatzmaterial »Behind the Scenes«. Die Regie setzt den Anderen in ihrer Inszenierung bewusst als Teil einer Gesellschaft, der eine weiße, hochsprachliche und christliche Norm(alität) zugrunde gelegt wird. So wird die sprachliche Vielfalt der deutschen Sprache im Randbereich der Nebenfiguren abgehakt. Die Weihnachtsgeschichte ist per se eine christliche, damit die Identifikation jedoch vollends gelingt, wird das Andere trotz aller Inklusionsbemühungen als Gegenfigur gesetzt. Die Botschaft: »Wir glauben alle an den einen Gott, nennen ihn nur anders«, die in ähnlicher Form durch das muslimische Dromedar und den Ochsen formuliert wird, wird durch die Inszenierung nicht bestätigt. Die Figuren, insbesondere der Esel, als Gläubige bestärken das Gemeinschaftsgefühl und den Glauben der Kinder an Gott und das Weihnachtswunder. Als übermittelnde Zeugen dieses Wunders werden am Ende des Stückes die beiden Hirten, die Matthäus und Lukas heißen, als die Evangelisten gezeigt. Dies soll die Wahrhaftigkeit der Geschichte und des christlichen Glaubens unterstreichen. Die Kommentierung der gesellschaftlichen Situation für Geflüchtete und deren Debatte darüber hingegen funktioniert weitestgehend ohne Othering, da die Hauptfiguren selbst diejenigen sind, die als Parallele gesetzt werden. Als Krippenspiel bleibt die Inszenierung dem typischen Ablauf treu, fügt als Kindertheater jedoch freie Elemente wie sprechende Tiere und Witze sowie Authentizitätsmarker hinzu. Sie übernimmt den kirchlich-didaktischen Anspruch, den Glauben der Kinder an das Weihnachtswunder zu festigen; die

Die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste als cultural performance

Erwachsenen sollen durch das Aufzeigen der Parallelen zwischen der Heiligen Familie und dem aktuellen Fluchtgeschehen die Notwendigkeit von Güte und Hilfsbereitschaft als christliche Tugenden erkennen und anwenden. Als aufgezeichneter Theaterfilm wird die Weihnachtsgeschichte der Augsburger Puppenkiste zu einem Weihnachtsfilm, der das christliche Wunder bestätigen will und Zeugnis der gesellschaftlichen Debatte rund um die gesteigerte Aufmerksamkeit für Geflüchtete 2016 ist.

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Inklusives Weihnachten inklusive.  Eine kleine Weihnachtsgeschichte Michael Niehaus

Die Adventszeit und die Medien der Affirmation En liten Julsaga – Eine kleine Weihnachtsgeschichte (SWE 1999, R: Asa Sjöström, Mari Marten-Bias Wahlgren) ist ein etwa einstündiger Film, der schon mit diesem Titel ankündigt, dass er als ein ›wirklicher‹ Weihnachtsfilm ›gelesen‹ werden soll. Der Film ist eine schwedische Produktion von 1999, unter der Regie von zwei recht unbekannt gebliebenen Schwedinnen: Asa Sjöström und Mari Marten-Bias Wahlgren. Er war vor allem in Deutschland populär, wo er auch als DVD vertrieben wurde, mitsamt einem Booklet: »Nordische Weihnacht. Mit vielen Infos, Deko- und Bastelideen für Klein und Groß«. Ein ›wirklicher‹ Weihnachtsfilm ist ein Film, der das Weihnachtsfest – wie auch immer – affirmiert. Der affirmativen Logik zufolge thematisiert ein solcher Weihnachtsfilm das Weihnachtsfest nicht nur, sondern bereitet auf das Weihnachtsfest vor bzw. stimmt auf das Weihnachtsfest ein. Aus dem Begriff des affirmativen Weihnachtsfilms werden – in diesem ersten Teil – einige Schlussfolgerungen gezogen, die in ihrer Selbstverständlichkeit bedacht werden wollen. Denn es ist ein großer Fehler, wenn man meint, dass das Affirmative einfach ist. Anschließend wende ich mich im zweiten Teil dem Film En liten Julsaga selbst zu. Zunächst einmal betreffen die Überlegungen das Verhältnis zwischen dem Film selbst und dem Gegenstand des Films. Ein affirmativer Weihnachtsfilm kann nur deshalb auf das Weihnachtsfest vorbereiten und einstimmen, weil er – insbesondere im Fernsehen – in der Vorweihnachtszeit gezeigt wird. Die Vorweihnachtszeit gehört schon zum Weihnachtsfest. Das Kirchenjahr hat die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest in der sogenannten westlichen Hemisphäre als Adventszeit fest verankert. Insofern ist ein affirmativer Weihnachtsfilm vorab ein Teil dessen, was er zum Thema macht. Dieses Verhältnis bekommt eine latent

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paradoxale Struktur, wenn das Weihnachtsfest in einem Film dadurch zum Thema gemacht wird, dass von der Vorweihnachtszeit erzählt wird. Dies ist aber regelmäßig der Fall: Affirmative Weihnachtsfilme erzählen mit Vorliebe Geschichten, die entlang des Spannungsverhältnisses ›Einstimmung auf das Fest‹ versus ›vorweihnachtliche Komplikationen‹ organisiert sind und für die das eigentliche Fest – die Bescherung, die Zusammenkunft der Familie – der Schlusspunkt ist. Das Spektrum der vorweihnachtlichen Komplikationen, aus denen ein Weihnachtsfest-Narrativ gebildet werden kann, ist weit: Es reicht von der puren Hektik beim Besorgen von Geschenken über die Offenlegung bitterer Not oder familiärer Verwerfungen bis hin zu allerlei Unglücksfällen und Schicksalsschlägen. Alle Arten von Hindernissen sind geeignet. In der Bescherung wird der Schlusspunkt als Höhepunkt inszeniert, sozusagen als ein Orgasmus, der in die performative Herstellung von Harmonie übergeht. Der affirmative Weihnachtsfilm erzählt zwar auf der einen Seite in der vorweihnachtlichen Zeit von vorweihnachtlichen Hindernissen, muss aber auf der anderen Seite durch die Art und Weise, wie er das tut, selbst zur Einstimmung beitragen. Er muss das rechte Maß finden. An und für sich realisiert sich die Einstimmung in ein gemeinsames, sich im Jahreskalender wiederholendes Fest durch Ritual und Brauchtum, durch mehr oder weniger institutionalisierte Gewohnheiten, die insbesondere unter säkularen Verhältnissen mit den realiter notwendigen Vorbereitungen für das Fest teilweise verbunden werden können (gemeinsamer WeihnachtsbaumKauf, gemeinsames Ostereier-Bemalen usw.). Natürlich müssen alle Feste vorbereitet werden, aber beim Weihnachtsfest hat diese Vorbereitung einen kategorial anderen Status; sie ist auf eine andere Art und Weise institutionalisiert, und man versteht das Weihnachtsfest nur, wenn man sich vor Augen führt, dass die Vorweihnachtszeit das Entscheidende am Weihnachtsfest ist. Vor dem Weihnachtsfest kommt der Advent, der im säkularen westlichen Brauchtum besonders in zwei Institutionen seinen Niederschlag gefunden hat: im Adventskranz und im Adventskalender. Beides ist in seiner heutigen Form ein Produkt des 19. Jahrhunderts und der protestantischen Kirche. Der Gründungsmythos besagt, dass Heinrich Ernst Wichern 1839 im Rauhen Haus in Hamburg, einer Einrichtung für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen, den ersten Weihnachtskranz aufgestellt hat.1 Der Wichernsche Ad-

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Göttert, Karl-Heinz: Weihnachten. Biographie eines Festes, Stuttgart: Reclam 2021, S. 197.

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ventskranz hatte (und hat2 ) nicht nur vier Kerzen für die vier vorweihnachtlichen Sonntage, sondern darüber hinaus kleinere für alle Werktage bis zum Fest. Das Kommen des Weihnachtsfestes sollte für die Kinder sinnlich erfahrbar sein (und ihre Fertigkeit im Abzählen schulen). Auch der Adventskalender ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts und der lutherisch geprägten Auffassung von Weihnachten als einem innigen Familienfest. Der Adventskalender, den die Eltern den Kindern bereitstellen, gibt der kindlichen Erwartung der Weihnachtsfeier eine getaktete und vielfach ausdifferenzierbare Form.3 Er ist insofern Ausdruck dessen, dass »Weihnachten recht eigentlich das Kinderfest ist«, wie Friedrich Schleiermacher in seiner wegweisenden Schrift Die Weihnachtsfeier aus dem Jahre 1807 feststellte.4 Bekanntlich war die Adventszeit im Frühchristentum eine Fastenzeit, die in der Regel zwischen dem Martinstag (11. November) und Epiphanias (6. Januar) gefeiert wurde. Die Ankunft (der Advent, die Epiphanie) Jesu Christi war also zugleich das Ende der Fastenzeit, in Analogie zur österlichen Fastenzeit, die am Ostersonntag endet. Aber beim Weihnachtsfest ist die Fastenzeit in eine Advents-Struktur überführt worden, die es zu einem auf die Kinder zentrierten Familienfest hat werden lassen. Deswegen sind – zumal affirmative – Weihnachtsfilme in der westlichen Kultur grundsätzlich Kinderfilme, während ein vergleichbares Phänomen an Ostern nicht festzustellen ist. »Osterfilme« gibt es nicht im gleichen Sinn wie »Weihnachtsfilme«. Dass Weihnachten als »Kinderfest« aufgefasst wird, heißt freilich nicht bloß, dass es ein ›Fest für Kinder‹ ist. Vielmehr könnte man sagen, dass die

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Vgl. https://www.rauheshaus.de/wir-fuer-sie/adventskranz/ (zuletzt aufgerufen am 06. 07.2022). Gajek, Esther: Adventskalender. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: Süddeutscher Verlag 1988. Die berühmteste literarische Beschreibung des Weihnachtsfestes, in den Buddenbrooks (1901), berichtet unter anderem auch von einem 1869 zum Einsatz kommenden Adventskalender. Hier der vielzitierte Satz: »Unter solchen Umständen kam diesmal das Weihnachtsfest heran, und der kleine Johann verfolgte mit Hilfe des Adventskalenders, den Ida ihm angefertigt und auf dessen letztem Blatte ein Tannenbaum gezeichnet war, pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.« Mann, Thomas: Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Thomas Mann, Werke – Briefe – Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. I.1, herausgegeben von Eckhard Heftrich/Heinrich Detering, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 583-590, hier S. 587. Schleiermacher, Friedrich: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Berlin: Reimer 3 1836, S. 10.

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Kinder im eurozentrischen Weihnachtsfest eine Art Alibi für die Erwachsenen sind: Die Kinder ermöglichen den Erwachsenen die Partizipation an einer kindlichen Perspektive. In diesem Sinne sind die Erwachsenen (in zunehmendem Maße) beim Weihnachtsfest sowohl Erwachsene als auch Kinder. Schon für Schleiermacher ist der eigentliche »Weihnachtssinn« das »Verjüngtsein, das Zurückgehn in das Gefühl der Kindheit, die heitre Freude an der neuen Welt, die wir dem gefeierten Kinde verdanken«.5 Infolgedessen sind auch Weihnachtsfilme Filme für Kinder und für Erwachsene, die an der kindlichen Perspektive partizipieren. Damit partizipieren sie zugleich an der Perspektive derjenigen, die auf Weihnachten eingestimmt und eingeschworen werden. Die Vorweihnachtszeit dient dazu, darüber nachzudenken und vor allem zu fühlen, was Weihnachten ist. Denn was immer Weihnachten auch sein mag, es ist in jedem Fall ein Fest, das über uns hinausgeht, weil wir es nicht begrifflich fassen können. Das gilt zwar für alle Feste, aber für das Weihnachtsfest gilt es in besonderer Weise – und das Fest ist umso unbegreiflicher, je mehr der religiöse Anlass in den Hintergrund tritt und das Fest insofern nicht mehr begründet werden kann. Das Nachdenken über Weihnachten kann daher immer auch zum Nachdenken darüber werden, dass es Weihnachten gibt – dass es unhintergehbar ist (auch wenn man es nicht feiert). Insofern ein Weihnachtsfilm die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest zeigt und selbst in der Vorweihnachtszeit gezeigt wird, gehört er auch selbst zur Einübung in diese Unhintergehbarkeit. Wenn Weihnachten im langen 19. Jahrhundert ein Familienfest geworden ist, dann impliziert das natürlich, dass man es nicht allein feiert. Der spezifische Charakter als Familienfest ist aber nur die privilegierte Form, in der man Weihnachten nicht allein feiert. Denn Gemeinschaftlichkeit gehört zum Begriff des Festes.6 Es ist daher umgekehrt: Weil Weihnachten ein Familienfest geworden ist, aber nicht jeder eine Familie hat, ist es möglich, sich vorzustellen, dass man Weihnachten alleine feiert (bzw. dass das, was man tut, wenn man den Heiligen Abend alleine verbringt, unter den Begriff des Festes subsumiert werden kann).7 Damit hängt auch zusammen, dass alle 5 6

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Ebd., S. 30. Vgl. für einen Überblick und eine Definition des Fests über die Kategorie Gemeinschaft als einem von drei konstitutiven Bestandteilen Deile, Lars: »Feste – eine Definition«, in: Michael Maurer (Hg.), Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2005, S. 1-18. Otto Friedrich Bollnow hat phänomenologisch zwischen Fest und Feier unterschieden: Das Fest ist ausgelassen, die Feier ernst usw. Die Reichweite dieser Beschreibungs-

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anderen Formen, in denen Weihnachten gemeinschaftlich gefeiert werden kann, als Surrogat einer Familie aufgefasst werden. Für das Weihnachtsfest gilt: Die Familie ist die Form, in der eine Gemeinschaft an Weihnachten ihre Gemeinschaftlichkeit feiert. Dem entsprechen wiederum die vorweihnachtlichen Formen der Gemeinschaftlichkeit. Das Brauchtum dient dazu, bereits in der Vorweihnachtszeit auf die Gemeinschaftlichkeit einzustimmen; das heißt auch, dass Weihnachtsfilme – zumal, wenn sie in das Brauchtum (einer Familie) integriert sind – nicht alleine angeschaut werden. Alleine hingegen ist das Subjekt mit seiner (kindlichen) Erwartung. Hier zeigt sich der besondere Status des Adventskalenders. Er ist auf einer strukturellen Ebene das Medium, welches die Erwartung des kindlichen Subjekts auf den Höhepunkt ausrichtet. Beim Öffnen der Türen oder Schachteln des Adventskalenders, den jedes Kind exklusiv für sich hat, kann es sich in seine eigene Vorstellungswelt und seine Begehrensstruktur einspinnen. Das Fest soll dann diese exklusive Begehrensstruktur in eine inklusive Gemeinschaftlichkeit aufheben. Was man, wenn das Weihnachtsfest ein Familienfest ist, unter einer ›Familie‹ zu verstehen hat – welches Modell von Familie zugrunde gelegt wird –, steht keineswegs fest. Zwar ist es die Heilige Familie, die hier präfiguriert. Aber das heißt höchstens, dass es für das Weihnachtsfest keinen leiblichen Vater braucht. Was es letztlich benötigt, sind Generationen. Weihnachten kann nur dann ein »Gefühl der Kindheit« evozieren, wenn es auf der einen Seite Kinder und auf der anderen Seite Nicht-Kinder gibt, die an der kindlichen Perspektive partizipieren. Bei allen Festen spielt die Frage danach, wer zum Fest geladen ist bzw. teilnehmen darf und wer nicht, eine entscheidende Rolle. In dem Maße, in dem Weihnachten ein Familienfest geworden ist, nimmt auch diese Frage eine veränderte Gestalt an. Zunächst verstärkt sich die Opposition Zugehörigkeit/ Nicht-Zugehörigkeit durch die Opposition drinnen/draußen – was ja nicht selbstverständlich ist, da Feste auch draußen gefeiert werden können. Und da die nördliche Hemisphäre, in der Weihnachten in die Wintermonate fällt, in dieser Hinsicht tonangebend ist, kommen noch die Oppositionen kalt/warm und

ebene mag begrenzt sein, auf jeden Fall aber lässt sie die Feier als etwas verstehen, was auch alleine begangen werden könnte. Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus, Stuttgart: Kohlhammer 2 1960, S. 213-217.

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dunkel/hell hinzu. All dies intensiviert das Problem von Inklusion und Exklusion,8 das sich seit dem 19. Jahrhundert durch den Weihnachtsdiskurs zieht. Besonders markant geschieht dies in frühen Texten von Theodor Storm, so etwa in dem Gedicht Weihnachtsabend (1852) oder in der Novelle Marthe und ihre Uhr (1848). Immer wieder geht es darum, inwiefern es Zugehörigkeit geben kann, wenn sie nicht von selbst gegeben ist.9 Gerade weil Weihnachten ein Familienfest ist, muss erst geklärt werden, wer dabei sein soll und wer nicht. So beispielsweise die Bediensteten im Haus, die in den Buddenbrooks dabei sind, weil sie kein eigenes Haus, keine eigene Familie haben; oder die unverheiratete Tante usw. Anders gesagt: der Oikos (das gemeinschaftliche Haus) und die Polis (die politische Gemeinschaft) sind eben Kategorien, die sich gegenseitig implizieren. Es kann beim Weihnachtsfest nicht einfach darum gehen, dass man im eigenen Oikos ein harmonisches Fest begeht. Dann wäre das Weihnachtsfest vor allem exklusiv. Sondern es geht darum, dass diejenigen, die zur Polis gehören, auch ein Dach haben, wo sie unterkommen und an Weihnachten als einem Familienfest teilnehmen können. Deswegen gibt es so viele Weihnachtsgeschichten, die dieses Problem aufwerfen (und gleichsam Lösungsvorschläge machen). Weihnachtsgeschichten tendieren daher gewissermaßen strukturell dazu, das Verhältnis von Oikos und Polis zu harmonisieren. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Inklusive des Weihnachtsfestes in den Vordergrund treten.

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»Das Spiel von Inklusion und Exklusion ist nachgerade physisch erfahrbar. Weihnachten erzeugt auf ganz besondere Art eine Atmosphäre intensiver Intimität, vor allem in bestimmten Gegenden der nördlichen Hemisphäre, in denen im Dezember die Sonne früh untergeht.« Zill, Rüdiger: »Feiern des Gefühls: Zur arbeitsteiligen Kultivierung der Emotionen im Ensemble der Feste«, in: Jochen Kleres/Yvonne Albrecht (Hg.), Die Ambivalenz der Gefühle. Über die verbindende und widersprüchliche Sozialität von Emotionen, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 41-60, hier S. 54. Hier die archetypische erste Strophe von Weihnachtsabend: »An die hellen Fenster kommt er gegangen/Und schaut in des Zimmers Raum:/Die Kinder alle tanzten und sangen/Um den brennenden Weihnachtsbaum.« Storm, Theodor: Gedichte, Kiel: Schwer’sche Buchhandlung 1852, S. 135. Zur Bedeutung des Weihnachtsfestes für Storm vgl. auch: Eversberg, Gerd (Hg.), Theodor Storms Weihnachten. Dokumente, Gedichte, Erzählungen, Husum: Druck- und Verlagsgesellschaft 1995.

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Insofern lassen sich affirmative Weihnachtsfilme dem »Staatsgenre« zuordnen.10 Es gehört zur »Elternfunktion des Staates«,11 die Bedingungen für ein inklusives Weihnachten bereitzustellen (was man an vorweihnachtlichen Berichten im Lokalfernsehen über die Einbindung Obdachloser usw. leicht überprüfen kann). Und es gehört zur Funktion der Weihnachtsfilme, die Frage aufzuwerfen, ob das geglückt ist. Der affirmative Weihnachtsfilm, der ein gelungenes Weihnachtsfest zeigt, hat in dieser Funktion immer auch eine Polis zu implizieren, in der sich jeder – irgendwie – als zugehörig imaginieren darf.12 Zu dieser Inklusivität gehört schließlich auch die Aufmerksamkeit dafür, dass andere Gemeinschaften das Fest anders begehen. Dass es nicht nur in anderen Ländern, sondern auch in anderen Familien andere Traditionen gibt, wird mit einer Art ethnographischem Interesse bedacht. Es kommt nicht darauf an, wie das Fest jährlich begangen wird, sondern dass es jährlich begangen wird. Ein nicht geringer Teil der alltäglichen Gespräche über Weihnachten in der Weihnachtszeit gilt den Unterschieden der Begehung, also den (gleichberechtigten) Bräuchen der anderen.13 Hauptsache Bräuche. Dass die deutsche DVD-Version von En liten Julsaga ein Booklet enthält mit »allerlei Wissenswerte[m] rund ums frohe Fest in Skandinavien«, ist Ausdruck dieses Sachverhalts.

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Der Begriff Staatsgenre wurde von Irina Gradinari in Bezug auf den Kriegsfilm eingeführt. Vgl. Gradinari, Irina: Kinematografie der Erinnerung. Bd. 1: Filme als kollektives Gedächtnis verstehen, Wiesbaden: Springer VS 2020, S. 11. Er eignet sich aber für alle Filme, die – auf welche Weise auch immer – ein affirmatives Bild des Staates vor Augen stellen und mit diesem affirmativen Bild wirken möchten; deswegen »gehören Filme zum Staatsgenre«, die »sich nicht auf ein elitäres Publikum oder eine elitäre Klasse beschränken«. Gradinari, Irina: »Filmallegorien der Nationen. Über die Position der Zuschauenden«, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen, Lodz 2021, S. 41-62, hier S. 47. Vgl. Legendre, Pierre: Die Kinder des Textes. Über die Elternfunktion des Staates. Aus dem Französischen von Pierre Mattern, Berlin: Turia+Kant 2011. Diese Imagination impliziert nicht zwangsläufig eine Nation im Sinne von Benedict Andersons imagined communities. Das konfligiert nicht mit der Vorstellung, dass die eigene Art der Begehung – klassisch etwa die Art, wie der Weihnachtsbaum geschmückt wird – die ›richtige‹ ist. Gerade weil Weihnachten als Familienfest aufgefasst wird, wird jeder Familie gewissermaßen die Hoheit über die eigene Begehungsform ohne weiteres zugestanden.

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Ein Übergangsobjekt als Protagonist einer Weihnachtsgeschichte Eine kleine Weihnachtsgeschichte ist ein sehr kluger und – auch von den kinematographischen Verfahren her – sehr folgerichtiger Film. Die erste Einstellung zeigt die Protagonistin, das Kindergartenkind Ina, das aus dem Fenster blickt (Abb. 1). Auf der Fensterbank befindet sich auch der handgefertigte Teddybär NooNoo (Abb. 2), das Übergangsobjekt.14 Bevor Ina gleich das zehnte Türchen ihres Adventskalenders öffnen wird, streicht sie schon einmal sacht über das letzte Türchen für Heiligabend (Abb. 3). Das ist das Fürsich-Sein der Erwartung. Wir sind im Herzen einer intakten Stockholmer Kleinfamilie: Mutter, Vater, Tochter.

Abbildung 1: Die Heldin der Weihnachtsgeschichte.

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Dass der Begriff Übergangsobjekt häufig für Teddybären usw. verwendet wird, ist im Sinne Donald Winnicotts (der ihn eingeführt hat) nicht ganz korrekt, da das Übergangsobjekt ihm zufolge auf der genetischen Ebene zwischen dem Daumenlutschen und dem Teddybären angesiedelt ist, als der erste Besitz von etwas, das nicht Ich ist (vgl. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 4 1980, S. 548f). Der Teddybär, könnte man sagen, besticht dadurch, dass ihm ein Übergangsobjekt-Rest innewohnt. Auf dieser Ebene kann das Übergangsobjekt verloren gehen und zum Ausgangspunkt von Geschichten werden.

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Abbildung 2: Das verlorene Übergangsobjekt.

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Abbildung 3: Vorweihnachtlichkeit.

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Beim anschließenden vorweihnachtlichen Einkaufsbummel mit der Mutter wird Ina der Teddybär im Gedränge entrissen und bleibt in einer U-BahnStation liegen. In der Folge zeigt der Film alternierend die Odyssee NooNoos und die kleinen vorweihnachtlichen Begebenheiten in der Familie des Mädchens, deren Leitmotiv einerseits das Bemühen um die Verarbeitung des Verlustes ist und andererseits das Zeigen von Ritualen und Bräuchen (etwa das

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Pfefferkuchenbacken oder die Begehung des skandinavischen Luciafestes am 13. Dezember). Ein älterer Mann findet NooNoo, vergisst ihn aber am Postschalter. Aus Versehen gerät er in einen Postsack nach Lappland, wo ihn eine Postbeamtin mit dem Schlitten übers Wochenende zu ihrer Familie mit nach Hause nimmt. Auf dem Rückweg geht er in einem Schneesturm verloren; der Hund des Vaters der Postbotin, der mit Langlaufskiern unterwegs ist, gräbt ihn aus. Er schickt ihn an eine Fernsehstation, die einen Suchaufruf senden soll, was auch geschieht. Versehentlich auf dem Weg aus dem Fernsehstudio zu Boden gefallen, wird er von einer jugendlichen Reinigungskraft als Müll eingeschätzt, von den Männern der Müllabfuhr jedoch zur späteren Verwendung aussortiert. Erneut verloren gegangen, liest ihn ein Junge auf, der ihn aber, von gleichaltrigen Mädchen wegen des Stofftiers gehänselt, von einer Brücke wirft, wo er auf dem Dach eines nach Stockholm fahrenden LKWs liegen bleibt. Der Fahrer des LKW bringt ihn seiner Freundin in eine Kneipe mit, doch eine Streunerin lässt ihn mitgehen, um ihn bei einem Antiquitätenhändler zu Geld zu machen. Dort fällt der Teddybär spät am Weihnachtsabend einem jungen Mann vor die Füße, der aus der Neuen Welt zum ersten Mal nach Schweden gekommen ist, um die zweite Familie seines Vaters kennen zu lernen, die ihn erwartet. Er ist auf der Suche nach einem Geschenk, weil sein Gepäck am Flughafen nicht angekommen ist. Kurzerhand kauft er den Teddybären für die ihm unbekannte Tochter seines Vaters, seine Halbschwester. Und die ist – wie könnte es anders sein? – Ina. Das noch unbekannte Mitglied der Familie beschenkt das Mädchen also mit dessen verlorenem Übergangsobjekt, das damit zugleich den Übergang herstellt zum unbekannten Bruder. Denn zuvor hatte das Mädchen mehrmals verlauten lassen, es wolle statt eines neuen Bruders ihren NooNoo zurückhaben. Die Treue, mit der Ina an ihrem Teddybären festhält – die sich auch in ihrer Weigerung zeigt, ein vom Vater angebotenes neues Stofftier als Ersatz zu akzeptieren – wird gewissermaßen dadurch belohnt, dass es der Bruder ist, der NooNoo zurückbringt. Das ist das Märchenhafte an dieser kleinen Weihnachtsgeschichte, die – um es mit André Jolles zu sagen – »Ethik des Geschehens«, die in ihm wirksam ist.15 Das Wunderbare schlägt sich auch darin nie-

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Für André Jolles ist die »Erwartung, wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte, […] für die Form Märchen maßgebend […]: sie ist die Geistesbeschäftigung des Märchens«. Es ist nicht das ethische Handeln, durch welches NooNoo wieder zu Ina zurückführt, da alle Beteiligten nur ausführende Organe sind, sondern eben die »Ethik des Geschehens«.

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der, dass es einige Stellen gibt, an denen die Zuschauerinnen und Zuschauer Zeuge einer kleinen Regung dieses Teddybären werden (oder zu werden vermeinen). Er wird also ein wenig animiert, was die Kind-Position der Zuschauenden forciert und eine exklusive Beziehung zu diesem subjektivierten Ding stiftet. Denn dies geschieht jeweils in – wie man sagen könnte – intimen Momenten: dann nämlich, wenn innerhalb der Diegese niemand auf den Teddybären achtet. So scheint es, als falle NooNoo absichtlich in den Postsack, in dem er dann nach Lappland befördert wird. Man gewinnt also den Eindruck, als wolle NooNoo, dass es mit ihm weitergeht, solange er nicht wieder dorthin zurückgekehrt ist, wo er hingehört. Aber diese Regungen sind kein Handeln; sie tangieren die Ethik des Geschehens nicht. Im Bunde mit einer höheren Ordnung, die aber »außerhalb des Religiösen«16 steht, sind offenbar auch die Hunde, da sie zweimal die Menschen auf NooNoo aufmerksam zu machen versuchen. Das ist aber nur ein Teil eines Netzes an wunderbaren Bezügen, das den Figuren des Films selbst verborgen bleibt. Nicht nur sorgt ein Hund dafür, dass der im Schnee eingegrabene NooNoo wieder in die soziale Zirkulationssphäre zurückkehrt, sondern Ina hat zuvor (am 12. Dezember) auch eine Tür ihres Adventskalenders geöffnet, deren Bild einen Hund zeigt und so auf diesen Vorgang vorausdeutet. Oder sie bekommt vom Vater eine Schneekugel geschenkt, deren Schneegestöber das Schneegestöber in Lappland aufnimmt, in dem NooNoo vom Motorschlitten der als Postbotin arbeitenden Samin fällt. Der Adventskalender spielt bei der Herstellung dieser Bezüge schon deshalb eine besondere Rolle, weil die Protagonistin gar nicht anders kann, als das, was das jeweilige Türchen zu sehen gibt, als ein Zeichen aufzufassen, dessen Bedeutung dann aber nicht von ihr, sondern wiederum nur von den Zuschauenden realisiert werden kann. So gibt ein anderes Türchen des Adventskalenders (am 14. Dezember) eine Sternschnuppe zu sehen, die großformatig auf dem Truck wiederkehrt, auf dem NooNoo als blinder Passagier zurück nach Stockholm gelangt. Und sogar die Überreichung des Teddybären durch den unbekannten Halbbruder am Weihnachtsabend wird präfiguriert: In einem

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Jolles, André: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen: Niemeyer 7 1999, S. 240. Die Ethik des Geschehens ist eine »naive Moral«, die auf einem »Gefühlsurteil« beruht und daher kindlich genannt werden kann (ebd.). Ebd., S. 241.

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mit der Mutter betrachteten Leselernbuch wird der Buchstabe B für »Bruder« mit einem Bild illustriert, auf dem ein großer Bruder seinem Geschwister einen Teddybären überreicht. Der Film arbeitet aber keineswegs daran, dieses Netz von Verweisen als etwas Geheimnisvolles zu etablieren. Eher im Gegenteil: Wir sollen dieses Netz als etwas Gegebenes, nicht Hinterfragbares hinnehmen, das die Figuren, NooNoo und uns umfängt. Dieses Umfangensein ist in erster Linie als etwas Gesellschaftliches zu lesen. Denn signalisiert werden soll auf diese Weise eine Art – wenn man so will: mütterlicher – Geborgenheit, die das Geschehen auch unter den Bedingungen des Verlustes und der Gefährdung grundiert. NooNoo wechselt immer wieder den Besitzer. Insgesamt geht er durch siebzehn Hände, bevor er wieder bei der Protagonistin ankommt. Die meisten Hände sieht man am Paketband in Lappland, wo er gleich dreimal weitergereicht wird. Die Arten des Übergangs unterscheiden sich sehr und decken das Feld möglicher Besitzwechsel mehr oder weniger ab: Sie reichen von verloren/gefunden über aufgehoben/weggeworfen bis zu geschenkt, stibitzt und gekauft.17 Für die vorweihnachtliche Logik wichtiger ist jedoch das Spektrum der Figuren, die mit dem Teddybären in Berührung kommen. Erkennbar ist nämlich das Bemühen, ganz verschiedene Gruppen mittels dieses wandernden Dinges zu verketten und auf diese Weise zu integrieren: Figuren allen Alters sind dabei, verschiedene Ethnien, unterschiedliche soziale Schichten, diverse Berufe. Es soll also in diesen Figuren ganz Schweden repräsentiert werden. Entsprechend reist NooNoo auch in den höchsten Norden, bis nach Lappland und zurück.18 Insofern repräsentiert NooNoo mit seiner Reise in der Adventszeit das imaginäre soziale Band, das bestehen soll, damit Weihnachten gefeiert werden kann. Das schlägt sich konkret in der Art des Umgangs mit dem Übergangsobjekt nieder. Auch hier unterscheiden sich die Figuren, die mit NooNoo in Berührung kommen, und decken bis zu einem gewissen Grad das Feld möglicher Verhaltensweisen ab. Die jugendliche Putzkraft schmeißt NooNoo in 17

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Vgl. zu den möglichen Formen des Besitzwechsels insgesamt Niehaus, Michael: Das Buch der wandernden Dinge, München: Hanser 2009; zu Eine kleine Weihnachtsgeschichte vgl. S. 250-252. Das Modell hierfür hat Selma Lagerlöf mit ihrem Roman Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (1906) geliefert, der die Autorin nicht nur zur ersten Nobelpreisträgerin für Literatur machte, sondern auch ein Auftragswerk des Verbandes der schwedischen Volksschullehrer war (und insofern ebenfalls dem ›Staatsgenre‹ zuzurechnen).

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den Müllsack, der Junge wirft das Stofftier von einer Brücke (aber auch das geschieht nicht ohne einen Moment des Innehaltens oder des Widerstrebens, als handle es sich dabei um eine Zuwiderhandlung des Gebots zum Wohltun). Die anderen sind jedoch in der Mehrzahl. Der Langläufer verpackt seinen Zufallsfund und schickt ihn an die Fernsehstation; die Müllmänner klauben ihn aus dem Müllsack und heben ihn für später auf; der LKW-Fahrer bettet ihn auf dem Nebensitz, damit er auftauen kann; die Samin nimmt ihn des Abends aus der Pakethalle mit zu sich nach Hause, damit er dort nicht so allein ist. Auch die übrigen Erwachsenen animieren dieses Stofftier wie Kinder. Sie machen es zu einem Quasi-Subjekt, das man insbesondere in seiner Rede auch adressieren (und natürlich streicheln) kann. Zugleich aber machen sie sich auch als Erwachsene Gedanken darüber, welchem Kind dieses Übergangsobjekt wohl fehlen könnte. Das Stofftier wird also Gegenstand von Sorge. NooNoo kann als Ding nur wandern, weil es gewissermaßen auch umgekehrt zum Übergangsobjekt wird – weil es Gegenstand einer Sorge ist, die einen bewahrenden und einen weitergebenden Impuls zugleich hat. Dies wird vor allem durch die Vorweihnachtszeit verstärkt – denn einerseits erinnert der Teddybär an Weihnachten als Institution und andererseits weist er auf das kommende Weihnachtsfest voraus. Seine imaginative Stellung ist in dieser Hinsicht auf notwendige Weise paradox. Als Quasi-Objekt verbindet er diejenigen, die ihn in der Hand halten, als Quasi-Subjekt ist er selbst der Verbindung bedürftig: Mit den Worten »er wirkte so verlassen« begründet der Bruder seinen Kauf, als er NooNoo seiner Halbschwester überreicht. Es ist nun entscheidend, dass diese Sorge auch von Institutionen übernommen wird bzw. dass die Subjekte, die NooNoo befördern und sich um ihn sorgen, selbst eine institutionelle Dimension haben. Nicht umsonst spielen Postkontore, Pakethallen und die städtische Müllabfuhr eine Rolle in diesem Film. Die Menschen, die hier arbeiten, agieren als Vertreter der Institution, kümmern sich aber – gleichsam über ihr Amt hinausgehend – auch um das herrenlose Gut, das ohne Fahrkarte und Poststempel unterwegs ist oder klauben es sogar aus einem Müllsack wieder heraus. Am deutlichsten wird das natürlich dort, wo das Fernsehen, das in besonderer Weise Medium und Institution zugleich ist,19 sich NooNoos annimmt und aus dem hohen Norden einen Aufruf sendet, der im ganzen Land und also auch in Stockholm zu sehen ist. In Schweden sind überdies die Vorweihnachtszeit und das staatliche Fernsehen auf besondere Weise via Adventskalender miteinander verschaltet: 19

Niehaus, Michael: Was ist ein Format? Hannover: Wehrhahn 2018, S. 65-79.

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Seit 1960 gibt es den Sveriges Televisions adventskalender: Jedes Jahr wird vom 1. bis zum 24. Dezember pro Tag eine Folge einer fortlaufenden Fernsehserie mit weihnachtsaffiner Thematik ausgestrahlt20  – vielleicht der schönste Beleg dafür, dass Weihnachten eine Angelegenheit nicht nur des Oikos, sondern auch der Polis ist. In der Tat sieht Inas Mutter in Stockholm die Fernsehsendung mit dem Aufruf, der die ›Rückerstattung‹ NooNoos zu einer quasi-staatlichen Angelegenheit macht, und nur ein unglücklicher – oder letztlich glücklicher – Zufall verhindert anschließend, dass dessen Reise bereits hier zu einem Ende kommt. Schon ganz zu Anfang wurde der Beginn der Reise beinahe dadurch verhindert, dass der erste Finder NooNoos der Protagonistin und ihrer Mutter auf der Straße begegnet, und sich herausstellt, dass der alte Mann NooNoo auf dem Postamt vergessen hat. Um seine Mission zu erfüllen, muss der Teddybär die Entität (oder, wenn man möchte: das Sendegebiet) Schweden in verschiedenen Hinsichten durchqueren. Und fast am Schluss gibt es eine dritte verpasste Gelegenheit zur Abkürzung: Ina und ihr Vater betrachten nämlich bei einem Abendspaziergang die Schaufensterauslage des Antiquitätengeschäfts, wo der Bruder Jakob am Tag darauf NooNoo erwerben wird (und NooNoo versucht sich – freilich nur für die Zuschauenden sichtbar – bemerkbar zu machen). Aber gerade das wäre zu früh. Erst dadurch, dass NooNoo als Gabe des Bruders nach Hause zurückkehrt, realisiert sich die weihnachtliche Harmonisierung von Oikos und Polis. Die Institutionen der Polis werden in Eine kleine Weihnachtsgeschichte als helfende Institutionen vorgestellt, die einander gleichsam die Hand reichen. Alle, die NooNoo in die Hand bekommen, tragen dazu bei, dass der Teddybär am Ende wieder zu Ina zurückkehrt. Da sich das Ganze zugleich aber auf der Ebene der ›Ethik des Geschehens‹ abspielt, ist es nicht notwendig, dass alle Beteiligten reinen Herzens und guten Willens sind. Es genügt, dass sie eine Regung verspüren und ein Glied in der Kette sind. Insofern hat diese Weihnachtsgeschichte eine allegorische Komponente. Sie repräsentiert die schwedische Utopie oder das schwedische Modell, in dem – wenn man so will – das erwachsene Subjekt sowohl Vater als auch Mutter und Kind ist. Und das Stofftier NooNoo verkörpert das gesellschaftliche Band, das Oikos und Polis an Weihnachten zusammenschließt. 20

Siehe (mit Auflistung aller bisherigen ›Kalender‹) den Wikipedia-Artikel Sveriges Television’s Christmas calendar in Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/Sveriges_Televisi on %27s_Christmas_calendar [zuletzt aufgerufen am 06.07.2022]).

Inklusives Weihnachten inklusive. Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Am deutlichsten geschieht dies in einer ganz folgenlosen kurzen Szene, bei der sich dieses Band zugleich zu verflüchtigen droht: Ein offenbar obdachloser Mann steht nachts vor dem Antiquitätengeschäft, in dessen Schaufenster NooNoo von einem unscheinbaren Platz aus nach draußen schaut. In Schuss-Gegenschuss-Einstellungen sieht man, wie NooNoo dem älteren Mann zublinzelt, der Obdachlose dieses Blinzeln versteht – und lächelt. So wird uns bedeutet, dass auch er als inkludiert in die Gemeinschaft gelten soll. Das Stofftier gerinnt hier zum bloßen Symbol, mit dem der Obdachlose gleichsam abgespeist wird. Am Weihnachtsabend daheim hingegen, mit dem der Film endet, wird uns die tatsächlich zusammengekommene Gemeinschaft gezeigt, die inklusive Familie: Nicht nur Vater-Mutter-Kind, sondern Großeltern, Tanten, andere Kinder usw., wobei eine angeheiratete indigene (samische) Großmutter und ein – wohl adoptierter – Schwarzer Junge mutmaßlich afrikanischer Herkunft zusätzlich die Inklusivität der schwedischen Gesellschaft veranschaulichen. Zugleich wird die Abfolge der Generationen betont, indem der Großvater die Hand auf den Bauch einer hochschwangeren Verwandten legt und mittels eines Brauchs vorherzusagen versucht, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Es ist bemerkenswert, welche Elemente des Weihnachtsfestes in diesem inklusiven Beisammensein am Heiligen Abend nicht gezeigt werden. Dass es einen Weihnachtsbaum gibt, jedoch keine Krippe (die katholische Replik auf den protestantischen Weihnachtsbaum21 ), ist nicht weiter verwunderlich; aber auch der Weihnachtsmann und das Christkind spielen keine Rolle. Doch die eklatanteste Reduktion dieser Weihnachtsfest-Inszenierung liegt darin, dass auch die Übergabe bzw. der Austausch von Geschenken in ihr nicht vorkommt. Nicht Weihnachten als Schenkfest, sondern Weihnachten als Feier der Inklusivität wird zelebriert. Das einzige Geschenk, dessen Übergabe im Film gezeigt wird, ist NooNoo, den der junge Jakob schüchtern (und uneingepackt) aus einer Papiertüte zieht (und damit die fassungslosen Blicke von Vater-Mutter-Kind erntet, die ihm gegenüberstehen). NooNoo ist, so lernen wir, kein gewöhnliches Geschenk, sondern gleichsam ein Meta-Geschenk, nämlich gewissermaßen die Voraussetzung für die Aufnahme in eine Gemeinschaft, die sich nicht mehr durch den Austausch von Geschenken vergewissern muss, dass sie eine Gemeinschaft ist.

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Vgl. etwa die Abschnitte »Krippenfrömmigkeit« und »Tannenbaumromantik« in Göttert: Weihnachten, S. 170-184.

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Eine kleine Weihnachtsgeschichte liefert ein Bild dafür, dass das moderne abendländische Weihnachten strukturell gesehen ein Fest ist, das die Position des anwesenden Vaters letztlich als schwach zeigt.22 Das liegt nicht einfach daran, dass er in der Konstellation der Heiligen Familie nicht prominent ist. Dieses Fest steht nicht unter der Regie eines pater familias. Die Familiarisierung des Weihnachtsfestes ist allenfalls auf der Oberfläche eine Stärkung der väterlichen Position. Hilfsfiguren wie Knecht Ruprecht, die die ungezogenen Kinder mit der Rute strafen, statt wie erhofft zu beschenken, sind aus dieser Perspektive eher ein Symptom dieser Schwäche.23 In den USA, wo die Familiarisierung des Weihnachtsfestes eng mit der Figur des Santa Claus verknüpft ist, erscheint dieser als eine Figur, vor der man sich schon deshalb nicht fürchten muss, weil die Beschenkung nicht an Bedingungen geknüpft ist.24 Während Santa Claus in besonderer Weise die Transformation des Weihnachtsfestes in ein (kommerzielles) Schenkfest repräsentiert, bleibt die familiale Asymmetrie hier freilich erhalten. Claude Lévi Strauss, der das Weihnachtsfest auf der Folie von Initiationsriten liest, deren »praktische Funktion« es sei, »den Älteren« zu helfen, »die Jüngeren zur Ordnung und zum Gehorsam zu verpflichten«, stellt in seinem Essay Der gemarterte Weihnachtsmann im Jahre 1952 fest: Das ganze Jahr über berufen wir uns auf den Besuch des Weihnachtsmanns, um unsere Kinder daran zu erinnern, daß seine Großzügigkeit sich nach ihrer Bravheit bemißt. Und der periodische Charakter der Bescherung dient dazu, die Ansprüche der Kinder zu zügeln und den Augenblick, da sie wirklich ein Recht haben, Geschenke zu fordern, auf eine kurze Zeitspanne zu begrenzen.25

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In gewisser Weise kann man das freilich für alle Feste geltend machen, aber beim modernen Weihnachtsfest zeigt sich diese Schwäche nicht im Kontrollverlust, sondern in einer spezifischen Besinnlichkeit. Bereits in Theodor Storms paradigmatischem Gedicht Knecht Ruprecht ist das so: Der Vater tritt hier als Fürsprecher der Kinder auf, und der Knecht Ruprecht lässt die Rute schon deshalb stecken, weil die Kinder ihr Abendgebet aufsagen. K.-H. Göttert: Weihnachten, S. 206. Lévi-Strauss, Claude: Wir sind alle Kannibalen. Mit dem Essay »Der gemarterte Weihnachtsmann«. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 11-42, hier S. 25f.

Inklusives Weihnachten inklusive. Eine kleine Weihnachtsgeschichte

In der Tat markiert die Figur des Santa Claus (umso mehr, je ernsthafter er für die Kinder wirklich als ›der Schenkende‹ fingiert wird), die Asymmetrie von Weihnachten als Schenkfest, das nicht mehr über die explizite Opposition Belohnung/Strafe funktioniert (wie sie Knecht Ruprecht repräsentiert), sondern über die Dosierung von Geschenken. Es ist genau diese Logik, die schon in Schleiermachers Idee des Weihnachtsfestes zugunsten einer symmetrischen Gemeinschaftserfahrung umgangen werden soll. Das Beschenken wird bei ihm (ohne dass er auf pragmatische Aspekte näher einginge) als gegenseitig gedacht: »Denn was ist die schöne Sitte der Wechselgeschenke wol anders, als reine Darstellung der religiösen Freude, die sich, wie Freude immer thut, in ungesuchtem Wohlmeinen, Geben und Dienen äußert, und hier noch das große Geschenk, dessen wir uns alle gleichmäßig erfreuen, durch kleine Gaben abbildet.«26 Iris Därmann hat (mit Bezug auf die Überlegungen von Lévi-Strauss zum Weihnachtsfest) darauf hingewiesen, dass es an Weihnachten »zwischen Eltern und Kindern zu keinem reziproken Ausgleich« kommen kann: »Der innerfamiliäre und intergenerative Gabentausch ist diskontinuierlich, einseitig und asymmetrisch; die Gegenseitigkeit der Gaben erfüllt sich bestenfalls um eine Generation verschoben, in einem indirekten Tauschmodus, und dies auch nur, sofern aus einstigen Kindern selber Eltern werden.«27 Man versteht die Logik des Weihnachtsfests daher nur, wenn man die intergenerative Reziprozität einerseits als notwendig und andererseits als illusionär begreift. Dass der Gabentausch in Eine kleine Weihnachtsgeschichte nicht vorkommt, steht im Dienste dieser Illusion. Die eigentliche Bescherung kann ausgelassen werden, weil es nicht auf sie ankommen soll. Dem korrespondiert in diesem Film das Verhältnis der performativen inklusiven Familie am Heiligen Abend zur exklusiven operativen Kleinfamilie der Vorweihnachtszeit (in der es natürlich in keiner Weise reziprok zugeht). Der Film zeigt sozusagen zwei Aggregatzustände der nicht-prominenten Position des Vaters. In der Vorweihnachtszeit ist die Mutter die primäre Bezugsperson, am Heiligen Abend ist der Vater allenfalls eine gleichberechtigte Figur des gemeinschaftlichen intergenerativen Austauschs. Man könnte sagen: Die westliche Gesellschaft möchte sich im Begehen des Weihnachtsfests versichern, dass es im Grunde keines starken Vaters bedarf. Eine kleine Weihnachtsgeschichte zeigt die schwedische Variante 26 27

F. Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier, S. 30. Därmann, Iris: Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, S. 76f.

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(oder Montage). Man mag diese Variante, diese in Eine kleine Weihnachtsgeschichte gestaltete schwedische Illusion von den helfenden Institutionen und der intergenerativen Reziprozität belächeln. Aber Institutionen bestehen nur, weil die Menschen – irgendwie – an sie glauben, weil sie sie als fest und dauerhaft unterstellen dürfen.28 Und vielleicht war es dieser Wunschtraum, der es Schweden gestattet hat, als das einzige Land der sogenannten westlichen Hemisphäre durch die Pandemie zu kommen, ohne den Einzelnen in erster Linie als Untertan, als Gegenstand von Maßnahmen zu adressieren.

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Pierre Legendre spricht von der »Idee der Firmitas«, die ein »wesentliches Merkmal des institutionellen Strebens« sichtbar mache: »Die Gesellschaft muss nicht nur fest und aufrecht stehen, sie muss auch den Anschein erwecken, dass sie es tut.« Legendre, Pierre: Über die Gesellschaft als Text. Grundzüge einer dogmatischen Anthropologie. Aus dem Französischen von Sabine Hackbarth, Berlin: Turia+Kant 2012, S. 35. Dabei helfen affirmative Weihnachtsfilme.

Geschlechternormen

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten.  Black Christmas (1974) und Silent night, deadly night (1984) Irina Gradinari

Weihnachten als Horrorversion Kein Genre scheint ungeeigneter zu sein, das Thema Weihnachten zu bearbeiten, als das Horror- oder gar Slasher-Genre. Oder doch nicht? Bei der Recherche habe ich schnell festgestellt, dass dieses kleine Genre seit langem zur jährlichen filmischen Weihnachtsproduktion gehört und selbst bereits auf eine eigene, wenn auch kleine Tradition zurückblicken kann. Schon seit den 1950er Jahren stellen einzelne Filme die Figur des Weihnachtsmanns ambivalent dar,1 wobei die Filme hier auf die Vorarbeiten diverser Comics und Bücher zurückgreifen.2 Interessant ist auch der Fakt – das ist sicher vielen nicht bewusst –, dass eine Halloween-Horrorfilmreihe (ab 1978) auf das Slasher-Narrativ zurückgreift, das zunächst um Weihnachten herum ausprobiert wurde: Die erste Geschichte von Tales from the Crypt (UK 1972, R: Freddie Francis), die sich dem Weihnachtsfest widmet, Silent Night, bloody Night (USA 1972, R: Theodore Gershuny) und Black Christmas (CAN 1974, R: Bob Clark), bekannt in Deutschland unter dem Titel Jessy – Die Treppe in den Tod, sind Vorläufer von John Carpenters Halloween (USA 1978) oder haben ihn gar dazu inspiriert,3 sodass die Weihnachtshorrorfilme ne-

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Vgl. den Beitrag von Nikolas Immer in diesem Band. Newman, Kim: »You better watch out: Christmas in the Horror film«, in: Mark Connely (Hg.), Christmas at the Movies: Images of Christmas in American, British and European Cinema, New York: I.B. Tauris 2000, S. 135-142. Ebd., S. 137.

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ben dem italienischen Giallo4 als Mitbegründer des modernen Slasher-Films gelten können. Wie konnte eine solche Tradition entstehen? Laut Mark Connely5 kommt es dann zu einer Vermischung der Themen Weihnachten und Gewalt, wenn das Publikum mit friedlichen Weihnachtsthemen gesättigt ist. Diese Erklärung kann kaum als befriedigend angesehen werden, behauptet sie schließlich, dass Gewalt in den Repräsentationen lediglich als zusätzliches, verspätetes, wenn nicht gar überflüssiges Element auftaucht. Zunächst kann jedoch schnell festgestellt werden, dass Horrorelemente bereits in der Geschichte A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (1843) von Charles Dickens vorhanden sind, die vor allem in Verfilmungen zur Geltung kommen. Der Besuch der Geister und eine mögliche ewige Strafe sind keinesfalls Versöhnungsmotive, die heutzutage üblicherweise mit Weihnachten verbunden werden. Ähnlich stellt der Hollywood-Klassiker It’s a Wonderful life (USA 1946, R: Frank Capra)6 eine Verbindung zum Tod her und arbeitet mit einer unheimlichen Verschiebung der Gesellschaft als ästhetischer Strategie; so wird die christliche Tradition des Neuanfangs zugleich mit dem Ende des Lebens oder gar mit der Vorstellung des Nicht-Geboren-Werdens verknüpft. Das wäre eine ästhetische Erklärung für das Phänomen Horrorweihnachten, das auf Weihnachten als ambivalentes Ereignis, ja als Schnittstelle von Anfang und Ende, Geburt und Tod aufmerksam macht, die zugleich auch in der bürgerlichen Kultur mit der Deutung des Winters als einer Jahreszeit des Endes und Neuanfangs korreliert. Kim Newman erklärt die Gewalt in Weihnachtsfilmen als Produkt klassenspezifischer Differenzierung in dem Sinne, dass allein wohlhabende Familien traditionelle Filmbilder von Weihnachten umsetzen können, diese also für viele Zuschauenden ein unerreichbares Ideal darstellen und daher – so denke ich Newman weiter – auch Aggression hervorrufen können. Zumindest besitzt der Themenkreis Weihnachten in dieser Lesart das Potenzial, dem Publikum nicht nur dabei zu helfen, der Realität zu entfliehen und über bürgerliche Verwirklichung zu fantasieren, sondern umgekehrt gerade durch Weihnachtsfilme auf die eigene miserable soziale Situation aufmerksam zu wer-

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Scheinpflug, Peter: Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die GenreTheorie und den Giallo, Bielefeld: transcript 2014. Connely, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larson (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: University Press 2020, S. 1-11, hier S. 5. Vgl. dazu den Beitrag von Roxanne Phillips in diesem Band.

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

den. So wendet sich der Weihnachtshorrorfilm an diejenigen, die bürgerliche Ideale nicht verwirklichen können. Das wäre eine rezeptionspsychologische Erklärung. Zu guter Letzt, davon spricht auch Connely selbst – und das ist eine produktionsästhetische Erklärung –, werden die Fernseh- und Kinoprogramme zunehmend saisonal gestaltet, wodurch ebenfalls die Erschaffung der Weihnachtshorrorfilme zu Weihnachten unterstützt wird – das Programm wird so mit verschiedenen Genres bestückt, zu denen ebenso etwa Weihnachtskomödien gehören. Weihnachtshorrorfilme stellen somit einen Bestandteil des westlichen Repräsentationssystems dar, das sich spätestens im New Hollywood herausgebildet hat, erscheinen sie doch an einer Schnittstelle von etablierten generischen Produktions- und Rezeptionsverfahren und bedienen durchaus das große Interesse der westlichen Kultur an Gewaltthemen, die sich bereits genrespezifisch etabliert haben.

Weihnachtshorrorfilm als Slasher-Film Weihnachten im Slasher- und Splatter-Film7 ist insofern ein interessantes ästhetisches Phänomen, als dass sich dieses Genre Weihnachten als Fest widersetzt und stattdessen damit beschäftigt, die Motive der populären Weihnachtsfilme zu ›verschrotten‹, indem diese ins Gegenteil verkehrt werden: Es gibt kein versöhnliches Ende, die Familie wird zerstört, manchmal töten sogar Familienmitglieder einander, eine heterosexuelle Paarbildung und damit auch die Gründung einer Familie wird verunmöglicht. Auch in der Rezeptionshaltung verhält sich der Horrorfilm gegenteilig zum Weihnachtsfilm. Werden die Familien in Weihnachtsfilmen und durch Weihnachtsfilme vor dem Fernseher zusammengebracht, widersetzen sich Weihnachtshorrorfilme dieser Tradition auch performativ – diese dürfen aufgrund der FSK-Freigaben gar nicht von der gesamten Familie rezipiert werden. Das heißt, dass die Weihnachtshorrorfilme zum einen darauf aufmerksam machen, dass Weihnachten als scheinbar all-inklusives Ritual doch diejenigen exkludiert, die keine Familie haben bzw. sich in keiner heteronormativen Paarkonstellation bewegen, also einer bestimmten bürgerlichen Norm nicht entsprechen. Deswegen können diese Filme durchaus als Medium der Entfaltung von Queer7

Z.B. Köhne, Julia/Kuschke, Ralph/Meteling, Arno (Hg.), Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin: Bertz + Fischer 2005.

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ness im Sinne eines monströsen Begehrens8 verstanden werden, das sich der nicht erreichbaren Norm widersetzt wie auch den appellativen Charakter des Weihnachtsfilms zur Familiengründung und Paarbildung als strukturelle Gewalt entlarvt. Zum anderen sind sich diese Filme der aktuellen kulturellen Weihnachts- und ästhetischen Weihnachtsfilmtradition bewusst – sie sind in diesem Zusammenhang sowohl selbst- als auch diskursreflexiv, denn sie referenzieren gültige kulturelle Weihnachtsrituale und bereiten zugleich jene Lust in der Erkennung, Verschiebung oder Zerstörung bekannter Motive, wie etwa Feiern im Kreis der Familie, Bescherungsrituale, Singen der Weihnachtslieder und Erwartung der kleinen Wunder. Referenzen zur ›Realität‹ sind kaum von den ästhetischen Referenzen zu unterscheiden, bewegen sich doch zur Weihnachtszeit Motive, die bereits in Filmen inszeniert wurden, welche wiederum gesellschaftlichen Ritualen entnommen wurden, zirkulär durch die Kultur.9 Weihnachtshorrorfilme zielen also auf Filmwissen und zugleich auf das (auch filmisch präfigurierte) Alltagswissen des Publikums, also auf eine wirklichkeitsreflexive und zugleich genrebewusste, intertextuelle Rezeption ab, die die Rezeptionsrituale selbst in Frage stellt. Darauf deuten parodistische Momente hin, die viele Werke der 1970er und 1980er Jahre aufweisen: Die Weihnachtshorrorfilme aus dieser Zeit sind avantgardistische Filme, die mit Bild, Ton und Inszenierung experimentieren, auf jeden Fall mit der Groteske arbeiten und Trash als ästhetische Strategie entwickeln. Die Weihnachts-Slasher-Filme der 1970er und 1980er Jahre arbeiten dabei vor allem mit dem Serienmörder-Narrativ, das zu jener Zeit besonders populär war und bereits Tradition hatte. Das Serienmord-Narrativ beschäftigt sich mit männlicher Subjektivität,10 die grundsätzlich im Zentrum von New Hollywood steht. Diese Filme meinen mit dem Mann als Täter eigentlich eine Aussage über kulturelle Subjektivitätsprozesse als solche zu treffen, 8

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Jack Halberstam hat im Gegensatz zur feministischen Lesart von Linda Williams das Monster im Horrorfilm als queer (und nicht als ›verweiblicht‹) gedeutet, da es sich einer heteronormativen Festlegung entzieht. Die Uneindeutigkeit des Geschlechts stellt einen Bestandteil der Horrorstrategie dar. Halberstam, Judith: Skin Shows: Gothic Horror and the Technology of Monsters, Durham: Duke University Press 1995. Vgl. Schmidt, Laura: Weihnachtliches Theater. Zur Entstehung und Geschichte einer bürgerlichen Fest- und Theaterkultur, Bielefeld: transcript 2017. Gradinari, Irina: »Genre, Gender und Lust an der Gewalt: Der Serienmordfilm«, in: Ivo Ritzer/Peter Schulze (Hg.), Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung, Nr. 10: Gender und Gender, S. 45-61, https://filmwissenschaftumsonst.wordpress.com/2017/09/04/rab bit-eye-102016-genre-und-gender/.

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

sind natürlich aber androzentrisch. Frauen treten in der Regel als Objekte des männlichen sexuellen Interesses auf und sind so zugleich Ausdruck des männlichen Begehrens, weswegen vor allem weibliche Opfer als Signifikant männlicher Pathologie fungieren. Durch Weihnachten als Familienfest fokussiert das Horrorgenre die Familie. In diesem Zusammenhang bestehen in den Weihnachtshorrorfilmen dieser Zeit zwei konkurrierende Erzählweisen, die sich in der Ätiologie – wo kommt nun die pathologische Männlichkeit her? – unterscheiden: Ist eine solche Männlichkeit ein logisches Ergebnis der gewaltsamen patriarchalen Ordnung, wie es der als Kultfilm angesehene Trashfilm Silent night, deadly night (USA 1984, R: Charles E. Sellier, Jr.) durchspielt, zu dem danach vier Sequels11 und ein Remake12 produziert wurden? Oder liegt die Gewalt gerade in der gescheiterten Sozialisation, also in der Unmöglichkeit der Integration eines Mannes in die patriarchale Ordnung, die dann mit dem inzestuösen mütterlichen Begehren codiert wird, wie es z.B. You better watch out (USA 1980, R: Lewis Jackson) oder Black Christmas (USA, CAN 2006, R: Glen Morgan) durchspielen? Ist der Vater oder die Mutter daran schuld, dass (männliche) Subjektivität nicht funktional ist? Gerade diese geschlechtsspezifische Auseinandersetzung mit dem Gender (Männlichkeitsgenese) verändert die Funktionen des Genres. Grundsätzlich gilt das Serienmörder-Narrativ selbst als eine Erzählstrategie, die sich der Sinnherstellung widersetzt:13 Grausame Gewalt, die sich vor allem als visuelle und akustische Überwältigung der Zuschauenden manifestiert, welche sie ›angreift‹ bzw. affiziert (schockt), bevor sie das Gesehene oder das Gehörte sinnhaft erfassen können,14 bleibt dann in dem Sinne unaufgeklärt, als dass dafür die pathologische Sexualität, welche auf das Verbrechen nicht kausallogisch bezogen werden kann, als Begründung angeführt wird. Nach Michaela Wünsch verkörpert der Serienmörder daher eine »der Filmproduktion inhärente Gewalt«15 etwa in der Sichtbarmachung des Mon11

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Silent night, deadly night Part 2 (USA 1987, R: Lee Harry), Silent night, deadly night 3: Better Watch Out! (USA 1989, R: Monte Hellman), Silent night, deadly night 4 (USA 1990, R: Brian Yuzna) und Silent night, deadly night 5: The Toy Maker (USA 1991, R: Martin Kitrosser). Silent Night (USA/CAN 2012, R: Steven C. Miller). I. Gradinari: Genre, Gender und Lust an der Gewalt. Z.B. Williams, Linda: »Film Bodies. Genre, Gender und Excess«, in: Film Quarterly, Vol. 44, No. 4 (Summer 1991), S. 2-13. Wünsch, Michaela: Im inneren Außen. Der Serienkiller als Medium des Unbewussten, Berlin: Kadmos 2010, S. 64.

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tageschnitts und der Parallelisierung von Schlitzen und (Film-)Schnitten. Der Serienmord macht so auf filmästhetische Strukturen aufmerksam, denen er seine Existenz zu verdanken scheint,16 gerade weil er selbst keinen eigenen Sinn stiftet. Deswegen wird die Begründung für die im Bild und im Ton erlebte Gewalt narrativ eingeholt: als Erforschung der Werdung eines Mannes, in der Regel als dessen Scheitern innerhalb einer Familie, und Untersuchung seines (ödipalen) Traumas, um auf die Spur des (zerstörerischen) Begehrens zu kommen.17 Weihnachten wird keinesfalls zufällig für dieses Narrativ ausgewählt, bietet es sich doch im Kontext eines Feierns der Familie an, solche Prozesse in verschiedenen Konstellationen durchzuspielen und diese in der ödipalen Logik zu verorten. Die Besonderheit besteht dabei darin, dass nicht nur die Mutter als Ursache der männlichen Gewalt identifiziert wird, sondern auch der Vater, was im Horrorfilm ansonsten bis heute kaum eine Tradition hat. Weihnachten verändert im Gegenzug das Serienmörder-Narrativ – dieses Fest bewirkt wie kein anderes Motiv die Universalisierung der bürgerlichen Subjektivierungsprozesse. Der Horror an Weihnachten verbindet männliche Subjektivität mit der Geburt Jesu Christi, zu der aktuelle (gewaltsame) Männlichkeitskonzepte in ein konstitutives Verhältnis gesetzt werden. So werden diese Prozesse durch Weihnachten außerhalb des geschichtlichen Verlaufs situiert. Zur Universalisierung der Diegese verhelfen auch weiße Figuren. Denn weiße Menschen (vor allem weiße Männerfiguren) konnten noch bis vor Kurzem als Vertreter:innen der Menschheit fungieren, da sie nicht mit konkreten und sozialen historischen Kontexten verbunden waren,18 wenn diese nicht explizit in Szene gesetzt wurden. Im Zuge dessen findet sich im Weihnachtshorrorfilm eine Ambivalenz: Männliche Gewalt wird durch die biblische Vergangenheit als ›natürliche‹ und ›ewige‹ legitimiert und bekommt eine kosmologische Dimension, und zugleich scheint es sich bei den Dysfunktionen der Familie ebenfalls um eine ›ewige‹ Angelegenheit zu handeln. Durch den Fokus auf Weihnachten sind Weihnachtshorrorfilme im Gegensatz zu vielen an-

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Dazu auch Höltgen, Stefan: Schnittstellen – Serienmord im Film, Marburg: Schüren 2010. Mehr dazu bei Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa, Bielefeld: transcript 2011. Dyer, Richard: White: Essays on Race and Culture, London/New York: Routledge 1997.

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

deren Horrorfilmen19 jedoch immer schon unmittelbar an einen kulturellen Kontext gebunden, thematisieren sie doch das zentrale Ritual der westlichen Kultur und verhandeln Familienstrukturen. Sie sind daher urbane SlasherMovies, weil sie in der Regel in der Stadt spielen, an einem Ort also, an dem Weihnachtsrituale besonders sichtbar werden. Das Haus wird dabei zum unheimlichen Schauplatz des Verbrechens, zur Quelle der Gewalt, wodurch die Vorstellung der Familie als Ort der Geborgenheit und des Schutzes grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das Serienmörder-Narrativ als Slasher entfaltet als Gegenleistung jene Art von Begehren, die Jacques Lacan Jouissance genannt hat – ein ›idiotisches‹, triebhaftes, zwanghaftes Genießen, das aber kein Genießen im eigentlichen Sinne darstellt. Jouissance ist laut Lacan ein Einbruch des Realen, das allein in diskontinuierlichen Momenten des Symbolischen und auf diese Weise nur als Trauma erfahren werden kann.20 Es gehorcht dem Todestrieb und dem der Jouissance innewohnenden Wiederholungszwang,21 dem die Mörder dieser Filme und so auch die Zuschauenden verfallen. Die Zuschauenden werden mit Bildern gequält, zugleich können sie durchaus Schadenfreude durch das Zerstörungsspektakel der Familienidyllen erfahren. Dieses masochistische und sadistische Vergnügen durch die Gewaltszenen steht in der Logik einer Verausgabung (des Materials, des Settings, der Figuren): Die inszenierte Wut auf ein kulturelles Ritual und der Versuch, Bilder traumatisierender Qualität zu produzieren, wirken den zu Weihnachten durch die Kultur eingeforderten und zugleich auch ausgebeuteten Emotionen der Rührung entgegen. Weihnachtshorrorfilme ermöglichen es also, Traumata der Entbehrungen zu ›genießen‹, die der normative, gesellschaftliche Druck erzeugt und die in diesen Filmen ›zurückschlagen‹. Sie treffen somit ins Herz westlicher Normativität und bearbeiten dabei jene Diskrepanz zwischen den medialen (Werbe-)Bildern von Weihnachten, ja dem kollektiven Imaginären, in dem Weihnachten ein Wunder verspricht, auf der einen Seite und dem enttäuschenden ›realen‹ Erlebnis des Weihnachtsfestes, der Unmöglichkeit der Ver-

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Dazu Clover, Carol J.: Men, Women and Chain Saw. Gender in the Modern Horror Film, Princeton: University Press 1992. Lacan, Jaques: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar VII (1959-1960). Übers. aus dem Französischen von Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, S. 61. Freud, Sigmund: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 13 (19131917), hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M.: Fischer TB 1999, S. 125-136.

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söhnung wie auch der Aufrechterhaltung der eingeforderten Normen auf der anderen Seite.

Mutter ist schuld: Black Christmas Die Mutter als Schuldige für männliche Gewalt auszumachen, hat eine große kulturelle Tradition im Westen,22 denn das mütterliche Begehren kann sich in der patriarchalen Ordnung,23 die den Vater zur Autorität erhebt, allein als pathologisches manifestieren. Dieses steht vor allem mit Inzestfantasien in Verbindung: Die Mutter oder oft eine sexualisierte Mutter – eine Hure – lässt ihren Sohn nicht in die symbolische Ordnung eintreten, hält ihn im präödipalen Bereich fest, der noch keine Geschlechterdifferenz kennt, und verhindert daher auch die Herausbildung einer normativen Männlichkeit. So verfügen die Serienmörder über keine eindeutige (männliche) Identität. Im Gegensatz zu berühmten Filmen wie Psycho (USA 1960, R: Alfred Hitchcock) oder Peeping Tom (UK 1960, R: Michael Powell)24 entscheiden sich die Filmproduzenten von Black Christmas (CAN 1974), der in den USA zunächst unter dem Titel Silent Night, Evil Night lief, für ein offenes Ende, was eventuell auch dabei geholfen hat, Slasher-Strukturen zu entwerfen. Der Film selbst hat heutzutage einen Kultstatus und wird gar zu den 150 besten Horrorfilmen aller Zeiten gerechnet.25 Nachträglich können im Film Parallelen zu dem bekannten amerikanischen Serienmörder Ted Bundy festgestellt werden, der ebenfalls 1974 beginnt, vor allem Studentinnen, teilweise ebenfalls in Studierendenwohnheimen, zu ermorden, bis er nach zwei Fluchten und zwei Verhaftungen 1978 schließlich endgültig festgenommen wird. Zur

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I. Gradinari: Genre, Gender und Lustmord. Nach wie vor die wichtigste Studie im deutschsprachigen Raum ist von Brauerhoch, Anette: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg: Schüren 1996. Mit seiner Dissertation zeigt Höltgen, dass sich die Serienmörderfilme der 1930er bis 1960er Jahre großer Popularität erfreuten. Vgl. S. Höltgen: Schnittstellen. Der Erfolg von Psycho, gar seine Entstehung kann man so auf die bereits etablierte Tradition zurückführen, durch welche Motive entwickelt wurden. Außerdem wurde das Publikum dadurch auf das Thema vorbereitet. Righetti, Jamie: »The 150 Greatest Horror Movies of All Time«, in: IndiWire vom 23.03.2022, S. 9, https://www.indiewire.com/feature/best-horror-movies-all-time-scary -films-1202012183/9/ (zuletzt aufgerufen am 16.06.2022).

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Zeit der Filmproduktion war er jedoch noch nicht bekannt. Aus der Perspektive unserer Zeit wird allerdings deutlich, dass sich Filme und Verbrecher:innen im gleichen diskursiven Feld befinden, einander bedingen und prä- und konfigurieren. Black Christmas wiederholt zu Weihnachten also ein bereits bestehendes etabliertes Serienmördernarrativ: Nacheinander werden in einem kleinen Studierendenwohnheim drei Mitbewohnerinnen der Hauptfigur Jessica sowie die Hausmutter des Studierendenwohnheims ermordet, wobei der Mörder nicht gefasst wird. Diese Tatsache verschiebt den Fokus vom Täter nicht nur auf die Mordserie, was für den Slasher zentral ist, sondern lässt ihn als Leerstelle, in die das Publikum versetzt wird. Der Blick der Zuschauenden wird zwischen dem subjektiven Blick des Mörders und dem objektiven Blick des Vaters gespalten. Vor allem ist die Sicht des Mörders, aus der die Zuschauenden durch eine subjektive Einstellung (point-of-view) des Mörders, der aber nie gezeigt wird, sehen können, eine ästhetische Innovation. Es fehlt dabei fast immer ein Gegenschuss, wodurch der Film eine Immersion der Zuschauenden mit dem Täter erzielt,26 auch durch den Ton, der diese subjektive Einstellung begleitet. Bereits zu Beginn des Films ›schleichen‹ wir als Täter heimlich ins Studierendenwohnheim hinein – wir sehen die Hände, mit denen ›wir‹ die Treppe hoch auf den Dachboden klettern, und hören den Atem des künftigen Mörders. Solche Ton- und Blickperspektiven gibt es bei jeder Mordszene (bis auf Phyl (Andrea Martin)). Nur bei der Ermordung von Barb (Margot Kidder) sieht man in einem Gegenschuss Schattenkonturen des Mörders und sein ausgeleuchtetes, weit geöffnetes Auge, das mit Referenz auf Peeping Tom mit dem darauffolgenden Tötungsakt verbunden wird: Blicke (des Publikums, für das letztendlich dieses Gewaltspektakel inszeniert wird) können töten, wodurch Gewalt in der Diegese in der Blickstruktur verankert wird. Solche Einstellungen verweisen auf ein Außerhalb des Filmbildes, markieren also selbstreflexiv die Grenzen eigener Sichtbarkeit und machen auf die abwesende Kamera aufmerksam.27 Im Zuge dessen spielt der Film den Ton

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Curtis, Robin: »Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentionalität und Materialität bewegter Bilder«, in: montage AV 17,2 (2008), 89-107. M. Wünsch: Im inneren Außen, S. 65.

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Abbildung 1: Das ›tötende‹ Auge. Die Szene ist parallel zum Singen eines Kinderchors montiert, dessen Weihnachtslieder die Schreie des Opfers überdecken.

Black Christmas (1974)

gegen das Bild aus. Es wird nicht nur viel mit dem Ton experimentiert,28 sondern der Film koppelt auch die Stimme des Mörders vom Körper und vom Bild ab, denn über den Ton sollen die Zuschauenden an das Bild gekoppelt werden. Diese Stimme ist dabei phantasmatischer Natur, sie ist diskontinuierlich, besteht aus verschiedenen Tonlagen, ist manchmal als männliche, manchmal als schreiende oder würgende weibliche oder kindliche Stimme zu hören, wobei die männliche Stimme prävaliert. Diese Stimme nennt sich ›Billy‹, wie später die Hauptfigur in Silent night, deadly night. Der Ton verweist so auf eine instabile Identität des Mörders und impliziert zugleich die Vielfalt 28

Doupe, Tyler: »13 Things You Didn’t Know About ›Black Christmas‹«, in: ChillerTV vom 25.12.2015, https://web.archive.org/web/20151229181231/www.chillertv.com/friday13/13things-you-didn’t-know-about-black-christmas (zuletzt aufgerufen am 1.06.2022).

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

des Publikums selbst, das die Position des Mörders geschlechtsunabhängig ›einnehmen‹ kann. Die Stimme des Mörders wird dabei sowohl als ›innere‹ Stimme der Zuschauenden als auch als Stimme der Medienapparaturen29  – also entfremdet und entortet – inszeniert, wobei die Anrufe aus dem Haus selbst kommen, wie die Polizei feststellt. Die Innerlichkeit des Mörders/des Publikums wird so konstitutiv an Medientechnologien gebunden, welche diese Versetzung in den Raum des Anomischen, jenseits des Gesetzes, ermöglichen. Alle diese Strategien dienen der angestrebten Immersion der Zuschauenden und ihrer Identifikation mit dem Täter, zugleich stellen sie den größten Teil des Horrors dar, welcher scheinbar vom Publikum selbst hergeleitet wird. Die Zuschauenden hören (und sehen) mehr als die Figuren, oft werden Schreie durch fröhliche Klänge der Figuren oder Weihnachtslieder überdeckt. So wird das Publikum in eine privilegierte Position gesetzt und ermächtigt, auch wenn in diesem Film die Voice-Over-Stimme nicht eindeutig als Autoritätsinstanz inszeniert wird.30 Diese Stimme macht die Zuschauenden zu einem Anderen, weil sie als Medium das Publikum an die Erfahrung einer radikalen Alterität (als Mörder, als das Böse) anschließt.31 Diese Blick- und Tonkonstellationen sind also experimentell, erschaffen eine Bedrohung im Film, die direkt von den Zuschauenden ausgeht, verweigern jedoch dadurch der weiblichen Hauptfigur den Status des Subjektes – Frauen bleiben Objekte des Blickes des Mörders/der Zuschauenden und daher potenzielle Opfer. Anstelle des Familienhauses ist das Studierendenwohnheim hier der Schauplatz, wodurch vor allem die Entortung der Familie durch Emanzipation und Urbanisierung zum Thema wird. Mit der Hausmutter als Alkoholikerin wird es zum Ort der entfesselten Sexualität der Frauen –

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Dolar, Mladen: His Master’s Voice: Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 22. »Wir sind soziale Wesen dank der Stimme und durch die Stimme; es scheint so zu sein, daß unsere sozialen Bindungen um die Achse der Stimme kreisen und daß die Stimmen schlechthin das Gewebe des Sozialen sind – und zugleich der intime Kern der Subjektivität.« Silvermann, Kaja: »Die weibliche Stimme ent-körpern«, in: Andrea Seier/Kathrin Peters (Hg.), Gender & Medien-Reader, Zürich/Berlin: Diaphanes 2016, S. 71-90. Über die Erfahrung der Alterität durch die Stimme schreibt auch Jaques Derrida in der Grammatologie, wobei er keineswegs Horrorfilme im Sinne hat, die die Stimme als Horrorerlebnis anbieten: Die innere Stimme als Ort des Subjekts wird radikal entfremdet. Sie ist dabei nicht einfach die Bühne der gesellschaftlichen Diskurse, in deren Schnittpunkt sich das Individuum subjektiviert, sondern eher die Erscheinungsform einer radikalen Alterität, die Ausnahme anstatt der Regel.

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darauf deuten einige obszöne Bilder an den Wänden, der Alkoholkonsum der Figuren und die unehelichen Sexualbeziehungen der Frauen hin. Bei der ›Mutter‹ entziehen sich Frauen der väterlichen Kontrolle. Denn die Zuschauenden betreten (neben dem Einschleichen als Mörder) offiziell das Haus mit dem Vater des ersten Opfers, dessen moralischer Blick diesen Ort als Raum der Sünden abwertet. Das Studierendenwohnheim ist die Kehrseite des ›richtigen‹ Zuhauses – es ist das falsche Zuhause, in dem sich das Unbewusste und destruktive Triebe breitmachen. Der Dachboden, auf dem sich der Mörder versteckt, oder der Keller, in dem der Mord an einer der Figuren stattfindet, sind Räume des Unbewussten, von denen Gefahr ausgeht. Allerdings lauert für Frauen und Mädchen die Gefahr in der Stadt überall – die Mordserie im Studierendenwohnheim wird mit dem im Park ermordeten Mädchen verbunden. Im Kontext des Weihnachts-Hintergrunds wird vor allem die Geburt Christi umgeschrieben. Im Zentrum der Handlung steht die Geschichte der schwangeren Studentin Jessy (Olivia Hussey), die sich im Gegensatz zu ihrem Freund Peter (Keir Dullea) dieses Kind nicht wünscht. Auch schlägt sie seinen Heiratsantrag ab. Es wird keine bürgerliche Familie gestiftet, kein christliches Ideal erfüllt, so wird durch die Verweigerung der Nachstellung der Geburt Christi der ›Urszene‹ der westlichen Kultur – der Ankunft des Messias und der Etablierung männlicher Subjektivität – eine Absage erteilt. Das wird auch ikonografisch in einer Szene festgehalten, in der der Mörder der toten Studentin die Puppe auf den Schoß setzt und bildlich Maria mit Jesus nachstellt. Letztendlich tötet Jessy im Keller Peter, den sie als Mörder verdächtigt, wobei der Film mit dem Blick auf das Fenster des Dachbodens endet. Der Film arbeitet also mit metonymischen Verschiebungen: Eventuell war Peter der Mörder und der Blick aufs Fenster verweist nur auf den Ort, wo er sich versteckt hat. Peter wird als psychisch instabil gezeigt. Eventuell gibt es aber auch einen zweiten Mörder, der sich dort weiterhin versteckt. Möglicherweise war Peter unschuldig und der richtige Mörder versteckt sich weiterhin auf dem Dachboden. Dieses Ende ermöglicht es also, sich alle Männerfiguren im Film generell als potenzielle Mörder vorzustellen, sobald ihnen die Stiftung der heteronormativen Familie verweigert wird. Die Hausmutter steht für eine ›böse‹ Mutter, die schwangere Jessy nimmt eine ähnliche Rolle ein: Sie ist das potenzielle Opfer und zugleich eine künftige (böse) Mutter, die sich ihr Kind nicht wünscht und selbst zu einer Mörderin des Vaters in spe wird.

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

Abbildung 2: Eine tote Maria als eine traumatische Ikonografie der Absage an die Geburt Christi.

Black Christmas (1974)

Der Film stellt trotz seiner avantgardistischen Eröffnung also doch ein Serienmörder-Narrativ her, das die patriarchale Familie als Norm reetabliert und ›weibliches‹ Begehren (zum Beispiel in Form des Wunsches nach freiem Sex, Kinderlosigkeit oder Karriere) vor dem Hintergrund des Emanzipationsbestrebens der feministischen Bewegung der 1968er pathologisiert. So leistet der Film beides: Einerseits etabliert er in Anlehnung an Carol J. Clover ein Final Girl32  – eine Frau, die gegen Ende des Films zu gewaltvollen Mitteln greift und sich aktiv gegen den potenziellen Mörder und somit gegen die Paarbildung und die Stiftung der (heiligen) Familie wehrt. Andererseits steht sie metonymisch für die fehlende (böse) Mutter, die die männliche Pathologie begründet. Der Mord an Peter korrespondiert zudem mit der künftigen Abtreibung. Im Remake Black Christmas (USA, CAN 2006, R: Glen Morgen) werden all diese Metaphern realisiert und die Mutter als Quelle männlicher Pathologie identifiziert und ›bestraft‹.

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Clover, Carol J.: »Her Body, Himself. Gender in the Slasher Film«, in: Representations No. 20, Special Issue: Misogyny, Misandry, and Misanthropy (Autumn, 1987), S. 187-228.

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Vater ist schuld: Silent night, deadly night Im Gegensatz zur Ikonografie der mütterlichen Schuld hat die väterliche Schuld keine Tradition, das heißt, dass mörderische Männlichkeit ätiologisch eher selten oder kaum mit der patriarchalen Ordnung selbst verbunden ist. Es gibt einzelne Filme, die Kritik an der bestehenden Ordnung und der männlichen Gewalt üben – sie haben aber nicht zur Herausbildung einer Genretradition geführt. Deswegen sticht der mittlerweile ebenfalls als ›Kult‹ angesehene Trashfilm Silent night, deadly night (1984) doch heraus – als Bestandteil der Weihnachtshorrorfilme etablierte er generisch eine solche Erzählweise, deren Wirksamkeit durch die Proteste anlässlich der Filmpremiere belegt wird. Der Film wurde schon vor der Fertigstellung kontrovers diskutiert, deswegen lief er zu Halloween und nicht zu Weihnachten in den Kinos an, wobei er nach einigen Wochen zunächst wieder abgesetzt wurde.33 Zahlreiche Familien protestierten gegen das Bild des Weihnachtsmanns als Mörder. Im Gegensatz zu Black Christmas steht nun der Mörder im Zentrum der Handlung; der Film untersucht Ursachen seiner Pathologie, wobei Silent night, deadly night durch den Namen des Mörders, Billy, auf Black Christmas referiert. In diesem Film wird bewusst Bezug auf bestehende Weihnachtshorrorfilm-Traditionen genommen, er verarbeitet die durch den früheren Film hinterlassene Lücke zu den Gründen der mörderischen Lust, allerdings gegen die Logik von Black Christmas. In Silent night, deadly night steht ebenfalls eine Familie im Zentrum, diesmal als Ersatzfamilie, welche mit der christlichen Symbolik auf die Heilige Familie referiert und diese so zugleich in Frage stellt. Die patriarchale Ordnung wird über eine Reihe männlicher Figuren konstituiert, welche auf den Vater als symbolisches Gesetz, ja auf den toten Vater, wie es Sigmund Freud in Totem und Tabu einst beschrieben hat, im Sinne einer mit der patriarchalen Ordnung verbundenen Herausbildung eines (stra-

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Kerswell, J.A.: »Ho-Ho-HOMICIDE: The Silent Night, Deadly Night Controversy«, in: Hysteria Lives! vom 29.12.2016, https://www.hysteria-lives.co.uk/silent_night_deadly_nigh t/ (zuletzt aufgerufen am 15.06.2022).

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

fenden) Über-Ichs referieren.34 Das zerstörerische Begehren Billys geht auf den gewaltsamen Elternverlust in der Kindheit, dessen Zeuge Billy wird, und auf die Gewalt im Waisenhaus zurück, in dem er aufwächst. Diese Traumata verweisen jedoch auf den Großvater, welcher sich letztendlich auf Santa Claus bezieht. Die Familie Chapman mit zwei Kindern, Billy und Ricky, der noch ein Baby ist, besucht zu Beginn des Films zu Weihnachten den Großvater (Will Hare), den Vater des Vaters, in einem Altersheim. Er befindet sich in einem katatonischen Zustand. Als der fünfjährige Billy Chapman (Jonathan Best) jedoch kurz mit ihm allein bleibt, sagt der Großvater plötzlich, dass er Santa Claus fürchten solle, denn er bestrafe schlechte Kinder. Die Szene ist furchterregend, auch weil ungeklärt bleibt, ob diese Situation Billys Ängsten oder der Manipulation des Großvaters, der selbst als ein lebendiger Toter im Bild erscheint, entspringt. Auf dem Weg nach Hause werden die Eltern vor den Augen Billys durch einen Mann in der Kleidung eines Weihnachtsmanns umgebracht, der davor ein Geschäft ausgeraubt und den Verkäufer ermordet hat. So werden ›Urreferenzobjekte‹ als tote Eltern konstituiert, wobei die Mutter zugleich visuell ein Sexualobjekt darstellt. Im Moment ihrer Tötung werden ihre schönen Brüste entblößt, wodurch das voyeuristische Begehren des Publikums mit dem infantilen Begehren Billys verbunden wird. Die Ermordung der Eltern wird als eine Art ›Urszene‹ konstituiert, welche der sozialen Gewalt ein Bild gibt und Erinnerungen an die Gewaltmechanismen der Gesellschaft wachhält. Diese Szene wird als traumatische Erinnerung Billys im Flashback wiederholt. Hier vermischen sich kindliches Phantasma und ein tragischer Zufall, jedoch wächst Billy Chapman (Danny Wagner) in einem katholischen Waisenhaus auf – in diesem Kontext wird ihm durch eine christliche, patriarchale Institution systematisch Gewalt angetan. Dort findet seine kindliche Traumatisierung nicht nur keine Beachtung, sondern wird durch harte Bestrafungen durch eine Äbtissin sogar noch verstärkt, wobei der Film mit der Spaltung der Mutterfigur in eine gute Sister Margaret (Gilmer McCormick) und eine böse Mother Superior (Lilyan Chauvin) arbeitet und so auch den Projektionsmodus des Weiblichen verrät. Frauenfiguren stehen im Dienst der männlichen Subjektivität; sie sind Agentinnen des Patriarchats, denn die beiden möchten

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Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9 (1912), hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M.: Fischer TB 1999, Teil IV: Die infantile Wiederkehr des Totemismus, S. 122-194.

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Abbildung 3: Eine neue ›Urszene‹ der patriarchalen Gesellschaft – Santa Claus tötet die Eltern.

Silent Night, Deadly Night (1984)

Billy in die Ordnung des Vaters integrieren. Während Margaret als patriarchal imaginierte Fürsorge-Mutter auf milde Maßnahmen zurückgreift, bestraft die namenlose Äbtissin, die ›böse‹ Mutter, Billy, andere Kinder und Nonnen regelmäßig und repräsentiert so ebenfalls die patriarchale Ordnung, denn sie folgt den Regeln der christlichen Religion. In Analogie zu Black Christmas demontiert der Film das Heim – die Wiege der bürgerlichen männlichen Subjektivität –, das zum Ort des Verbrechens wird. Deutlich wird also, dass in der Gesellschaft überall Gewalt – wenn auch in unterschiedlicher Form – herrscht, was solche auf Versöhnung abzielenden Rituale wie Weihnachten zu vertuschen scheinen. Vater- und Mutterfiguren als Ersatzobjekte stehen also in einer Referenzkette, welche das Bild der Heiligen Familie im Gegensatz zu Black Christmas, der der bürgerlichen Familie gerade eine Absage erteilt, überbietet bzw. in ihren transzendenten Bildern realisiert und zugleich mit dem Tod verbindet.35 Der Film bewegt sich von der sterblichen Materie zur symbolischen

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Albrecht Koschorke verweist auf die Spaltung der Vaterfigur in einen transzendentalen und einen physischen Vater. Dazu mehr im Beitrag von Annette Keck in diesem Band. In Silent night, deadly night gibt es eine ähnliche Transzendenz der Mutterfigur.

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

Abstraktion: Physische Eltern werden eliminiert, Father Christmas und Mutter Kirche sind nun die Eltern männlicher Subjektivität, die wiederum gerade zu Weihnachten ›reift‹. In der Figur des mörderischen Santa Claus verdichtet sich an der Schnittstelle des Phantasmatischen und des Realen die gesellschaftliche Gewalt: Der erwachsene Billy (Robert Brian Wilson) wird zu Weihnachten zu einem strafenden Vater. Die Strafe fällt jedoch sehr viel heftiger aus als die ›Straftat‹, sodass das Motiv der ›gerechten Strafe‹ die Lust an der Gewalt kaum verdecken kann. Zu Weihnachten wird also Billy als Santa Claus zum Messias, indem das Wort zu Fleisch und die symbolische Strenge des patriarchalen Gesetzes zu blutrünstigen Taten wird. Mit 18 wird er als Lagerarbeiter in einem Spielzeuggeschäft angestellt, wo er zu Weihnachten gezwungen wird, den Santa Claus für Kinder zu spielen. Eifersucht, Alkohol und sein nicht verarbeitetes Trauma verleiten ihn dazu, später bei der Weihnachtsfeier mit den Arbeitskolleg:innen – alles findet in der Nacht statt – insgesamt vier Menschen zu töten. Sie nutzen soziale Machthierarchien aus und üben auch untereinander Gewalt aus – zum Beispiel versucht ein Kollege seine Kollegin im Lager zu vergewaltigen –, wobei sie vor allem aus dem Weihnachtsfest Kapital schlagen. Daraufhin tötet Billy ein Teenagerpaar, das zu Weihnachten Sex haben will, und einen Jugendlichen auf einem gestohlenen Schlitten. Gegen Morgen erreicht er das Waisenhaus und tötet dort einen Polizisten, der auf ihn wartet – mittlerweile fahndet die Polizei nach ihm. Auch in Bezug auf den Polizisten scheint der Mord ›gerecht‹ zu sein, da der Polizist kurz zuvor irrtümlich einen unschuldigen Menschen in einem Santa-Claus-Kostüm umgebracht hat. Billy kehrt ins Heim zurück, um die Äbtissin zu töten. Damit wird er paradoxerweise den Mord an seiner Mutter durch Santa Claus wiederholen, was die traumatische, zirkuläre Struktur des Films sichtbar macht. Dort wird Billy vor allen Kindern im Waisenhaus, die gerade dabei sind, ihre Geschenke auszupacken, durch die Polizei erschossen, sodass die Tradition der Weitergabe der Gewalt und das Waisenhaus als Quelle der Gewalt aufrechterhalten bleiben, was in den Sequels erneut zum Thema wird. Nicht weniger phantasmatisch erscheint der daraufhin produzierte Film Silent night, deadly night Part 2, der nun dem erwachsenen Bruder Ricky gewidmet ist, der eigentlich keine Erinnerungen an den Mord seiner Eltern und an die Taten seines Bruders haben dürfte. Der größte Teil, etwas über Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt a.M.: Fischer TB 2000, S. 20.

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Abbildung 4: Eine symbolische Wiederkehr zur Zeit des Traumas (Ermordung der leiblichen Mutter) und am Ort des Traumas (Waisenhaus).

Silent Night, Deadly Night (1984)

zwei Drittel dieser Fortsetzung, besteht aus einer Montage der Gewaltszenen des ersten Teils, welche in die Mordreihe durch den Bruder Ricky (Eric Freeman) übergeht. Hier wird der erste Film medientechnisch zu einem Gewaltexzess verdichtet, sodass die Begründung der Morde kaum noch eine Rolle spielt. Die soziale Gewalt kann nicht gebändigt werden und muss auch nicht mehr erklärt werden, denn sie ist in familiären und institutionellen Strukturen verankert, durch kulturelle Tradition – wie Weihnachten – tradiert.

Das Genre des Unbewussten In der Mischung von ödipaler Konfiguration, die sich (männlichen) Subjektivierungsprozessen zuwendet, traumatischer Ikonografie, metonymischen und metaphorischen Referenzreihen, welche Begehrens- und Differenzmechanismen als phantasmatisch nachzeichnen, sowie Universalisierungsstrategien sind Weihnachtshorrorfilme ein Genre des kollektiven Unbewussten, auch wenn es sich nicht um ein Body Genre im eigentlichen Sinne handelt. Denn sie spielen mit zentralen kulturellen Sinnmustern. Im Weihnachtshor-

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rorfilm werden normative Strukturen westlicher kultureller Sinnstiftungsprozesse manifestiert, welche sich an der Schnittstelle von Religion, Familie, Ökonomie, Gemeinschafts- und Subjektbildung konstituieren. Vor allem weil es um ein kollektives, tradiertes zentrales Ritual der westlichen Kultur wie Weihnachten geht, treffen die Weihnachtshorrorfilme ins Herz kultureller Sinnstiftung. Vor dem Hintergrund der etablierten filmischen Weihnachtsmotive legen Weihnachtshorrorfilme frei, dass Paarbildung, Familiengründung und Versöhnung die Wunscherfüllung und so die Realisierung der Bedeutung in einer Kultur an sich inszenieren. Diese Filme verhandeln Strukturen, welche normative, machtvolle Bedeutung produzieren, indem sie Subjektivität mit der Gesellschaft auf eine ›natürliche‹ Weise über Familie und Glauben verbinden und so der gesellschaftlichen Struktur in der Selbstreproduktion Sinn verleihen. Durch das Prisma des Weihnachtshorrors wird also das utopische Moment der meisten Weihnachtsfilme deutlich, die es durchaus reflektiert selbst thematisieren, etwa im bereits erwähnten Film It’s a wonderful life. Hier wird ebenfalls einer solchen Realisierung der Bedeutung und der Subjektivierung entsagt, allerdings erfolgt eine Kompensation durch eine Ersatzbefriedigung. Nichts, von dem die Hauptfigur träumt – und er möchte ja gar keine Familie gründen, kein Unternehmen leiten und keine Kinder erziehen –, kann er verwirklichen, aber er wird mit diesen bürgerlichen Werten versöhnt, indem diese als eine bereits realisierte Signifikation – Konsolidierung der Familie und der Gemeinschaft als das eigentliche ›wahre‹ Lebensziel – ausgestellt werden. Dieses Widersetzen der Realisierung der Bedeutung vollzieht Silent night, deadly night mehr und Black Christmas weniger – beide entlarven also kulturelle Signifikation als Phantasma, da die Befriedigung und Realisierung der Bedeutung (der Familie, der Gesellschaft, des Subjektes) nicht möglich ist. Was sagt das über die Eigenschaften der Filmgenres aus? Genres fungieren mit Magnus Enzensberger als Institutionen,36 welche Kommunikation innerhalb einer Mediengesellschaft ermöglichen und Wahrnehmungsrahmen etablieren, in denen Subjektivierungsprozesse reguliert werden sowie das Politische bzw. das politische Imaginäre ausgehandelt wird. Genres verarbeiten also an der Schnittstelle von (Medien-)Technologien, Ästhetik und Politik kulturelle Diskurse und ordnen diese entsprechend ihrer generischen Spezifik 36

Enzensberger, Magnus: Ein wenig Theorie: Vierte Vorlesung vom Nutzen und Nachteil der Gattungen (1964/65), in: ders.: Scharmützel und Scholien: über Literatur, hg. v. Rainer Barbey, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 64-82.

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sinnhaft an.37 Genres konstituieren dabei immer einen Sinn, fungieren also als kulturelle Ordnungsregister für ästhetische Bilder, politische Diskurse und kollektive Sinnmuster, auch wenn deren Strukturen eher unbewusst bleiben. Vor allem formiert sich in Genres das Denken selbst, das Ivo Ritzer in Anlehnung an Überlegungen von Alain Badiou zu »In-Ästhetik« im Sinne eines genuin ästhetischen Potenzials der Kognition38 als ein spezifisches »Denken in Bewegung« beschreibt,39 als einen prozessualen Denkvorgang im Ästhetischen und durch das Ästhetische.40 Nach Ritzer stellen die Genres so performatives, dynamisches, unabschließbares und transformatives Werden dar, das einen Raum zwischen Binaritäten, Dualismen und Dichotomien besetzt.41 Die Genres ermöglichen nicht nur das Andere zu denken, sie bringen ein anderes Denken hervor, dessen Logik sich in unser Denken irreduzibel einschreibt, was Weihnachtshorrorfilme gerade sichtbar machen. Mit Weihnachtshorrorfilmen wird also deutlich, dass Genres als Denkstruktur eine eigene Logik aufweisen, welche sonst in der Ästhetik des Films verborgen bleibt, denn sie dienen in diesem Fall keiner Bedeutungsgenese, sondern können genauso effektiv an der Vernichtung der sinnhaften Strukturen arbeiten. Das Ergebnis dieser Filme ist mehr oder weniger eine Erfahrung des Sinnlosen, der Dysfunktion kultureller Sinnstiftung, die jedoch genregemäß logisch strukturiert bleibt. In diesem Zusammenhang erscheint das Verhältnis zwischen Weihnachtshorrorfilm und Männlichkeit besonders wirksam, greifen die Filme mit der Destruktion von Vaterordnung und patriarchaler Männlichkeit doch basale und daher hegemoniale Sinnmuster an. Werden 37

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Vgl. Ritzer, Ivo/Schulze, Peter W.: »Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven«, in: dies. (Hg.), Transmediale Genre-Passagen. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 1-40. Badiou, Alain: Kleines Handbuch zur In-Ästhetik, Wien: Passagen 2001, S. 38. Ritzer, Ivo: »Badiou to the Head: Zur In-Ästhetik transmedialer Genre-Autoren-Politik oder Wie die Graphic Novel-Adaptation Bullet to the Head eine materialistische Dialektik denkt«, in: ders./Peter W. Schulze (Hg.), Transmediale Genre-Passagen. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 89-135, hier S. 93. Vgl. auch Ritzer, Ivo: »Out for Justice – Seagals Südafrika – Hegels Heroenzeit – Badious Bewegungsbild«, in: Irina Gradinari/Nikolas Immer/Johannes Pause (Hg.), Medialisierungen der Macht. Filmische Inszenierungen politischer Praxis, München: Wilhelm Fink 2018, S. 207-220. Dazu auch Gradinari, Irina/Ritzer, Ivo: »Einleitung: Genre und Race – ein zu berücksichtigendes Verhältnis«, in: dies. (Hg.), Genre und Race. Mediale Interdependenzen von Ästhetik und Politik, Wiesbaden: Springer VS 2021, S. 1-28, hier S. 10. Ebd., S. 11f.

Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten

Strukturen männlicher Subjektivität als dysfunktional dargestellt, so funktioniert die ganze Bedeutungsgenese als eine kausallogische Ereignisdarstellung sowie als tradierte, ästhetische Signifikationsverkettung nicht mehr. Genres etablieren also ein anderes Denken, welches sich in Weihnachtshorrorfilmen in der sinnentleerenden Wiederholung und Kombinatorik, Synthese und Disjunktion von Bildern, Motiven und Topoi, von Ton und Bild manifestiert. Möglicherweise stellt die Sinnstiftung durch die Genres grundsätzlich nur deren Nebenprodukt dar.

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John McClane im Bade. Weihnachten mit Die Hard (1988)1 Sandra Beck

Alle Jahre wieder feiert das Netz vor dem Fest »Is Die Hard a Christmas movie?«-Festspiele. Während des Countdowns to Christmas werden Umfragen erstellt, Daten von Rotten Tomatoes ausgewertet, think pieces publiziert – inklusive Meta-Perspektive, aus der Frucht- und Freudlosigkeit der immer gleichen Debatten kritisiert werden –,2 vom alljährlichen buzz in den sozialen Medien seit den 2010er Jahren3 ganz zu schweigen:

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Eine gleichnamige, kürzere Version dieses Beitrages ist am 12.12.2021 auf 54books erschienen, vgl. https://www.54books.de/john-mcclane-im-bade-weihnachten-mit-die-h ard/ (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Vgl. exemplarisch aus den Diskurs-Festspielen des letzten Jahres Jadah, Ty: »Let’s settle this: Is ›Die Hard‹ a Christmas movie?«, in: Daily Hive Vancouver vom 24.11. 2021, https://dailyhive.com/vancouver/die-hard-christmas-movie (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022); Loughrey, Clarisse: »Is ›Die Hard‹ a Christmas film? Who cares«, in: The Independent vom 23.12.2021, https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/ films/features/die-hard-christmas-movie-watch-b1981550.html (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022); Tiffany, Kaitlyn: »Is [REDACTED] a Christmas Movie?«, in: The Atlantic vom 24.12.2021, https://www.theatlantic.com/technology/archive/2021/12/is-die-hard-c hristmas-movie/620926/ (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022); Hall, Sophia Alexandra: »Is Die Hard a Christmas movie? Here’s what the soundtrack tells us …«, in: Classic fM vom 22.12.2021, https://www.classicfm.com/discover-music/periods-genres/film-tv/diehard-christmas-movie-beethoven-soundtrack/ (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Eine Auswertung der Google Trends ergibt, dass die Diskussion an sich jüngeren Datums ist: »Fifteen years ago, there was little to no cultural link between Die Hard and Xmas. This started to change in the early 2010’s and by the end of the decade was firmly entrenched«. Follows, Stephen: »Using data to determine if Die Hard is a Christmas movie«, Blogeintrag vom 05.12.2021, https://stephenfollows.com/using-data-to-d etermine-if-die-hard-is-a-christmas-movie/ (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022).

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Once again, tweets and Facebook posts about whether Die Hard is actually a Christmas movie are spiking. Posts about whether it’s original or cool to talk about Die Hard’s status as a Christmas movie are also spiking. […] According to Google Trends, search traffic for the phrase Is Die Hard a Christmas movie jumps every November and December. Somehow, in 2020, there was about as much search interest as there had been in any year prior.4 Jedwede Wortmeldung der an der Produktion Beteiligten erhält in diesem performativen selbstbezüglichen Spiel auf der Suche nach der nächsten Pointe den Status des potenziell entscheidenden Mosaiksteines zur ›richtigen‹ Lektüre. Wenn Bruce Willis 2018 in The Comedy Central Roast Of Bruce Willis zum Abschluss kategorisch erklärt: »I did this roast for one reason, and for one reason only. To settle something once and for all. Now, please, listen very carefully: Die Hard is not a Christmas movie! It’s a god damn Bruce Willis movie! So Yippie-ki-yay to all of you motherfuckers!«,5 so nutzt er die epistemologisch unsichere Bühne der insult comedy, um spielerisch eine Refokussierung auf die eigene persona als Marke zu verfügen. Letztlich will diese hyperbolisch scherzhafte Pointierung nichts klären, sondern gezielt Anschlusskommunikation provozieren. Neben den erwartbar pointierten Reaktionen in den sozialen Medien folgte denn auch unmittelbar die Wortmeldung von Steven E. de Souza – seinerzeit zusammen mit Jeb Stuart für das Drehbuch verantwortlich –, der Ernsthaftigkeit der Aussage und Definitionsmacht des Schauspielers in Frage stellt: »It was a comedy roast. I think he said that to be funny and be trolling […]. But then again, who are we going to believe; the actor, the screenwriters, or 20th Century Fox?«6 De Souza stützt seine Position pro Christmas Movie auf einen längeren Vergleich zwischen Die Hard (USA 1988, R: John McTiernan) und White Christmas (USA 1954, R: Michael Curtiz).7 4 5

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K. Tiffany: Is [REDACTED] a Christmas Movie? Daniell, Mark: »Die Hard writer says Bruce Willis classic is more of an Xmas movie than White Christmas«, in: Toronto Sun vom 23.12.2020, https://torontosun.com/enter tainment/movies/die-hard-writer-says-bruce-willis-classic-is-more-of-an-xmas-moviethan-white-christmas(zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Klassen, Anna: »Steven E. de Souza: Die Hard IS a Christmas Movie«, in: Final Draft vom 19.07.2018, https://blog.finaldraft.com/steven-e-de-souza-die-hard-is-a-christmas-mov ie (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Sacks, Ethan: »Debate over which films are Christmas movies continues to ›Die Hard‹«, in: NBC News vom 16.12.2018, https://www.nbcnews.com/news/all/debate-ov er-which-films-are-christmas-movies-continues-die-hard-n948126 (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022).

John McClane im Bade. Weihnachten mit Die Hard (1988)

Die Aufschlüsselung entlang seiner »Christmas Movie or not Check List«, die Genremarker mit Ähnlichkeiten mischt, behauptet nicht nur Vergleichbarkeit, sondern präsentiert in der tabellarischen Aufbereitung Die Hard als Gewinner des Duells mit dem prototypischen Weihnachtsfilm schlechthin – sowohl unter quantitativen Gesichtspunkten wie etwa der schlichten Zählung der in den Soundtrack eingebundenen Weihnachtslieder (4:2),8 aber auch im Hinblick auf die Verarbeitung klassischer Topoi. Denn fragt man nach dem »gift of the Magic-like selfless sacrifice«, dem dargestellten selbstlosen Opfer, so sticht John McClanes Körper im Schmerz fraglos die zentrale mildtätige Handlung in White Christmas aus, für das Upgrade eines Zugtickets zu sorgen.9

Definitionsmacht, aber mit Emotion Die dergestalt im Falle von Die Hard alle Jahre wiederkehrenden multimedialen Streitgespräche um die Zugehörigkeit dieses Action-Films zum Genrerepertoire des Weihnachtsfilms können in ihrem jeweiligen Votum aus Deutungen aus den Bereichen von Produktion, Distribution10 und Rezeption ihre Auswahl treffen. Die Diskussion erscheint aus dieser Perspektive nachgerade als exemplarischer Testfall einer im Grundsatz zu führenden theoreti-

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Dieses Kriterium findet sich beispielsweise auch in dem datengestützten Beitrag von Stephen Follows in seiner Distinktionskraft näher charakterisiert: »Die Hard features Christmas in Hollis, Winter Wonderland, a whistled section of Jingle Bells and a rousing rendition of Let It Snow over the end credits. This means that audibly, Die Hard is more Christmassy than 99.2 % of all movies released over the past thirty years«. S. Folllows: Using data to determine if Die Hard is a Christmas movie. Evans, Frank: »›Die Hard‹ IS a Christmas film«, in: The Boar vom 19.12.2020, https://the boar.org/2020/12/die-hard-is-a-christmas-film/ (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Twentieth Century Fox veröffentlichte so beispielsweise 2018 einen neuen Trailer, in dem Die Hard als »greatest Christmas story ever told« angekündigt wird. Vgl. Rosenberg, Elia/Horton, Alex: »›Die Hard‹« isn’t just a Christmas movie, it’s the best ever, according to 20th Century Fox«, in: Chicago Tribune vom 20.12. 2018, https://www.chicagotribune.com/entertainment/movies/ct-ent-die-hard-christm as-movie-20181220-story.html (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Im selben Jahr produziert Sky Cinema einen kurzen Clip, der Die Hard als 12 Days of Christmas neu erzählt.

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schen Debatte um (generische) Interpretationshoheit.11 Beobachtbar werden in der Debatte um Die Hard als Weihnachtsfilm widerstreitende Werturteile, die sich auf jeweils unterschiedliche Maßstäbe berufen und zur Unterstützung der eigenen Position je andere Kapitalsorten aktivieren. So entstehen Spannungen zwischen erstens individueller Betroffenheit und affektiver Involvierung der Rezipient*innen, weil es auch um die Tradition des eigenen Weihnachtsfestes geht, zweitens den spielerisch eingebrachten Wortmeldungen der an der Schöpfung Beteiligten, die sich aufmerksamkeitsökonomisch wiederum kapitalisieren lassen, und drittens jenen Ansätzen, die im systematisch angelegten Zugriff mit analytisch-objektiver Präzision eine distinkte genretheoretische Entscheidung zu begründen versuchen. Kurz: Die Debatte erschöpft sich keineswegs in der endlos hyperbolischen Selbstbezüglichkeit einer digitalen Diskussionskultur, wie Kaitlyn Tiffany insinuiert.12 Denn obwohl sich etwa in den sozialen Medien die erwartbare Anzahl deklarativer Positionsbestimmungen findet, die sich in mittlerweile topisch gewordener männlicher Selbstinszenierung und performativer Provokation qua Aphorismus erschöpfen, so sind ebenso reflexive Beiträge zu lesen, die etwa die genrekonstitutive Rhetorik des Weihnachtsfilms mit den Spielregeln des Action-Kinos vergleichen.13 Damit dokumentieren die vor allem im Netz geführten Debatten nicht nur einen grundlegenden Umbruch in der Rezeptionsgeschichte, sondern füllen überdies eine Leerstelle der Forschung, die sich bisher kaum um Die Hard als Weihnachtsfilm bekümmert hat. Ihr Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Frage nach der inszenierten Männlichkeit vor dem Hintergrund der Reagan-Ära. Im Unterschied zu diesem kontextualisierenden Lektürezugriff, mit dem das Werk im kulturellen Zusammenhang seiner Entstehungs- und Produktionszeit gelesen wird, legt die Summe der individuellen Wortmeldungen somit eine – auch über das Fernsehprogramm vermittelte – Geschichte der ästhetischen Erfahrung bloß, die sich nicht um dekodierbare kulturhistorische 11

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Siehe hierzu auch den Blogeintrag, der in der Weihnachtsfilm-Debatte drei Perspektiven berücksichtigt: »Creative«, »Commercial«, »Cultural«. S. Follows: Using data to determine if Die Hard is a Christmas movie. K. Tiffany: Is [REDACTED] a Christmas Movie? So bemerkt Greg Jenner auf Twitter: »Christmas is a liminal ritualized period of carnivalesque inversion during which underdogs and the powerless are briefly elevated above hierarchical structures. John McClane is a classic Christmas underdog triumphing over selfish venality«. https://twitter.com/greg_jenner/status/934380563389173761? s=20.

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Verstrebungen in der Tiefe bekümmert, sondern vielmehr eine Rezeptionsgeschichte erinnert, in der Die Hard integraler Bestandteil von ›Weihnachten‹ als dem Fest der eigenen Familie ist.14 Erhalten geblieben ist dabei sicherlich das geschlechtlich codierte Angebot, über die Integration gerade dieses Films in das eigene familiäre Weihnachten eine Absage an jenes klebrig überzuckerte Weihnachten auszustellen, das als Konzept ebenfalls Jahr um Jahr aufs Neue in den romantischen Komödien der Marke Hallmark aufgeführt wird:15 »We get it. You’re too cool for regular Christmas movies.«16 Damit ist allerdings mitnichten eine Absage an die traditionellen Werte des ›wahren‹ Weihnachten verbunden, die – wie noch zu zeigen sein wird – auch in Die Hard zelebriert werden: Familie, Liebe, Solidarität gegen Gier und Materialismus. Das skizzierte emotionale Investment, das in der Debatte um Die Hard als Weihnachtsfilm in quantitativer wie qualitativer Hinsicht in der Variationsbreite der Wortmeldungen vom bissigen Einzeiler bis zu komplexen Aus-

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Auch in meiner persönlichen Filmbiographie hat Stirb langsam (1988) einen eigenen Platz. Einerseits ist das historische Datum meiner Erstrezeption mit Weihnachten verbunden. Denn das erste Mal habe ich Schweinebackerei und Hohoho-Showdown zwischen John McClane (Bruce Willis) und Hans Gruber (Alan Rickman) irgendwann in den 1990er Jahren gesehen, als ich mich – ebenfalls zum ersten Mal – geweigert habe, nach dem Kindergottesdienst auch noch die Christmette im Dom zu besuchen. Blut, Gewalt, Fluchen und seltsames Deutsch on screen, Krippe, Christbaum, ausgepackte Geschenke schräg rechts neben den Fernseher. Zugleich markiert das Sehen des Filmes ein Gegenkonzept zu einem Weihnachten, dessen familiär verordnete Rituale und Zeremonien wesentlich durch die Gottesdienst-Besuche getaktet wurden. Anders formuliert: Bedingung dafür, den Film zu sehen, war der kurzzeitige Austritt aus dem Familienverbund, denn alle anderen sind in die Kirche gegangen. Bezeichnenderweise ist die Debatte um Die Hard als Weihnachtsfilm in romantischen Komödien und rom-coms längst absorbiert. Während in zahlreichen, oftmals als ebook publizierten Texten die Anerkennung von Die Hard als Christmas Movie gleichsam als Bewährungsprobe für das love interest fungiert – wobei in der Regel die Frau überzeugt werden muss –, will Love Hard (USA 2021, R: Hermán Jiménez) mit der Invertierung der Geschlechterrollen in dieser Gretchenfrage komödiantische Effekte erzielen. Entsprechend ist es hier die weibliche Hauptfigur, die Die Hard als Lieblingsweihnachtsfilm exaltiert verteidigt und am Ende ihren Liebesbeweis in einer ReInszenierung der Szene eines Liebesgeständnisses via Plakat aus Love Actually (UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis) mit der ikonischen Floskel aus Die Hard beschriftet: »yippee ki yay«. Notopoulos, Katie: »Stop Saying ›Die Hard‹ Is Your Favorite Christmas Movie«, in: BuzzFeed vom 16.12.2013, https://www.buzzfeed.com/katienotopoulos/here-is-an-opinion-t hat-is-not-as-clever-as-you-might-think (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022).

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wertungen von Datenwissenschaftlern sichtbar wird,17 meint also aus dieser Perspektive mehr als die Verteidigung des individuellen Geschmacks und führt zu grundlegenden Fragestellungen wie sie Rita Felski einleitend in Hooked umreißt: How does a novel entice or enlist us; how does a song surprise or seduce us? Why do we bridle when a friend belittles a book we love or fall into a funk when a favored TV show comes to an end? Attachment, I’ve suggested, has more than one meaning: to be attached is to be affected or moved and also to be linked or tied. It denotes passion and compassion – but also an array of ethical, political, intellectual, or other bonds. Hooked makes a case for »attachment« as a vital keyword for the humanities. Why do works of art matter? Because they create, or cocreate, enduring ties.18 Das attachment betrifft in diesem Fall mithin sowohl die Festsetzung von Die Hard als Weihnachtsfilm als auch die alljährliche Debatte, die sich als ritualisierte Konversation auch in ihrer spielerischen Fortschreibung in der zeitgenössischen Meme-Kultur schlicht als integraler Teil des Festtagtrubels etabliert hat.

Kulturhistorische Tiefenbohrungen: Männlichkeit, Macht, Muskeln Die Forschung liest Die Hard hingegen vornehmlich als Feier hypermaskuliner weißer Männlichkeit mit Witz: »one real man […] pitted against a horde of pretenders to the masculine crown.«19 Als illegitime Anwärter erscheinen nicht nur die Bande internationaler Geiselnehmer und Terroristen, die John McClane gezwungenermaßen im Alleingang besiegt,20 sondern ebenso über-

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Vgl. hierzu etwa Eland, Matt: »Is Die Hard a Christma Movie? Let’s ask Azure!«, in: Blogeintrag vom 25.11.2021, https://matteland.medium.com/is-die-hard-a-christmas-movie -what-machine-learning-has-to-say-e1ef9d7188ee (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Felski, Rita: Hooked. Art and Attachment, Chicago: The University of Chicago Press 2020, S. 1. Kimmel, Michael: Manhood in America. A Cultural History, New York/Oxford: Free Press 1996, S. 222. Unterstützung erfahrt McClane in seiner körperlich-physischen Auseinandersetzung mit den Geiselnehmern durch Al Powell, sodass sich Die Hard auch in die Tradition des biracial buddy movie der 1980er Jahre einordnen lässt. Vgl. Gates, Philippa: Detecting Men. Masculinity and the Hollywood Detective Film, Albany: State University of

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hebliche Geschäftsleute und der globale ›Andere‹. Ausgangspunkt ist allerdings die verheerende Auswirkung feministischer Emanzipation und der Anspruch weiblicher Selbstverwirklichung im Beruf auf die Familie McClane: »While bureaucrats almost cause McClane’s death and continually interfere with his stopping dangerous criminals […] it was feminism that put him in the crisis in the first place«.21 Denn hätte Holly McClane (Bonnie Bedelia) vor Monaten nicht die Jobofferte angenommen, für eine japanische Firma in Los Angeles zu arbeiten, gäbe es keinen Grund für die weihnachtliche Stippvisite des in New York zurückgebliebenen »hard-bitten cop, who deep down is desperately hoping something of his old idealism might be ressurrected«.22 Einzig der Versuch, im Rückgriff auf die kulturell verbürgte Versöhnungsenergie von ›Weihnachten‹ seine Ehe zu retten und die Familie zu restituieren, führt zu John McClanes Anwesenheit am Tatort einer Geiselnahme, deren ausgestellte terroristische Signatur lediglich als Deckmantel fungiert, hinter dem sich ein elaborierter Diebstahlsversuch verbirgt. Das Publikum beobachtet also einen gut definierten Körper, der in einer frotzelnden Auseinandersetzung mit Emanzipation, Globalisierung, Terrorismus und dem Versagen des Staates inszeniert wird. Nach Elizabeth Abele erscheint John McClane als »just another man who has been isolated from his family by his duty, who has the strength, macho stoicism, and sacrificial perseverance to single-handedly save the day«.23 Mit dieser derart in der Forschungsliteratur aufgehobenen Verkehrung von agency, die die gegenwärtige Konstellation als Resultat von McClanes Verpflichtung und Privatethos als Polizist legitimiert, lässt sich eine Lektüre des Filmes beginnen, die Die Hard als Weihnachtsedition des (Cop) Action FilmGenres liest24  – als fröhliche und ironisch selbstreflexive Genreaktualisierung

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New York Press 2006, S. 189-216 sowie Gradinari, Irina: Der lange Weg zum Schwarzen Helden: Über die Biracial-Politiken im Hollywoodfilm, in: dies./Ivo Ritzer (Hg.), Genre und Race. Mediale Interdependenzen von Ästhetik und Politik, Wiesbaden: Springer 2021, S. 85-110. Jeffords, Susan: Hard Bodies. Hollywood Masculinity in the Reagan Era, New Brunswick/New Jersey: Rutgers University Press 1994, S. 60. Connelly, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larsen (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: University Press 2020, S. 411-420, hier S. 414. Abele, Elizabeth: »Assuming a True Identity. Re-/De-Constructing Hollywood Heroes«, in: Journal of American & Comparative Cultures 25 (2003) 3-4, S. 447-454, hier S. 449. Connelly bedenkt in einem summarischen Absatz beide Perspektiven und stellt Lethal Weapon (USA 1987, R: Richard Donner) und Die Hard als »tongue-in-cheek approach

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mit der besonderen Pointe, dass der Film im großmütigen Christmas Spirit allen männlichen Figuren ihren größten Wunsch zu erfüllen scheint. Denn auch ›die Bösen‹ um Hans Gruber berufen sich in ihren rebellisch-gierigen Weihnachtsplänen auf das Versprechen eines Wunders: Theo: And you better be right, because it looks like this last one’s gonna take a miracle. Hans: It’s Christmas, Theo. It’s the time of miracles, so be of good cheer. And call me, when you hit the last lock.25 Gespielt wird diese widerstreitende Geschenk- und Wunschanordnung zwischen den echten Weihnachtshelden und den anti-festlichen, weil fremden, familienfeindlichen Verbrechern und ihrem falschen Weihnachtsgedanken auf dem Schmerz erleidenden, gehetzten Körper John McClanes. Es ist dieser Körper im Schmerz, der in spöttisch-reflexivem wise-cracking und körperlicher Kraft überlegene weiße Männlichkeit auf dem ins Vertikale gezogenen Schlachtfeld des Nakatomi Plaza als urbaner Grenze demonstriert.26

»I’m a cop. Trust me« Eingeführt wird dieser Körper im Landeanflug auf Los Angeles als verheiratet und von Flugangst verkrampft. Etabliert werden beide Markierungen durch eine Nahaufnahme der linken Hand mit Ehering, die sich in die Armlehne

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to the action movie genre« vor, betont aber unmittelbar im Anschluss: »Setting Christmas in a Los Angeles December also neatly inverted all the traditional expectations of the seasons.« M. Connelly: Film and Television, S. 414. Die Hard (USA 1988, R: McTiernan), DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2002, Timecode 1:24:16-1:24:26 (im Folgenden zitiert mit TC = Timecode). Nach der Lektüre von Kraszewski übersetzt Die Hard Nakatomi Plaza »into the West by having the building itself unsettled. Only the bottom floors of the high rise have been completed and are in use. The top floors, still under construction, are the setting for much of the action and stand in for the unsettled frontier«. Kraszewski, Jon: »The 1980s Action Film and the Politics of Urban Expulsion«, in: James Kendrick (Hg.), A Companion to the Action Film, New Jersey: Wiley Blackwell 2019, S. 325-344, hier S. 333. Zu bedenken ist in der Lektüre des ideologisch beschrifteten urban setting der Hinweis von Yaquinto, dass Nakatomi Plaza als Firmensitz eines japanischen Unternehmens zugleich als »symbol of foreign intrusion on American soil« zu lesen ist. Yaquinto, Marilyn: Policing the World on Screen. American Mythologies and Hollywood’s Rogue Crimefighters, Cham: Palgrave Macmillan 2019, S. 61.

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des Sitzes krallt. Die im Ausschnitt verdichtete Performance eines Körpers in Angst, die in ihrer visuellen Inszenierung auf konventionelle Bildbestände zur Darstellung maximaler menschlicher Erregungszustände zurückgreift, wird unmittelbar im Anschluss ausführlich besprochen, der von lähmender Angst gepackte Körper nach seiner visuellen Etablierung zum Konversationsgegenstand. Denn dem abschätzig-wissenden Blick des Sitznachbarn, der im Skript als »Babbitt clone« vorgestellt wird,27 folgt unmittelbar die aufs Offensichtliche fokussierte herablassende Frage: Salesman: You don’t like flying, do you? John McClane: What gives you that idea? Salesman: You wanna know the secret to surviving air travel? After you get where you’re going, take off your shoes and your socks. Then you walk around on the rug barefoot and make fists with your toes. John McClane: Fists with your toes? Salesman: I know, I know. It sounds crazy. Trust me. I’ve been doing it for nine years. (TC 0:54-1:22)28 Mag die fragend hochgezogene Augenbraue dieses Sitznachbarn gleichsam die Reaktion eines Publikums spiegeln, das an der Kino-Kasse immerhin ein

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Die Hard, Screenplay by Jeb Stuart, Revisions by Steven E. DeSouza, Second Revised Draft October 2, 1987 [o.P.]. Online verfügbar unter https://imsdb.com/scripts/Die-Har d.html (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022). Im Vergleich mit der Romanvorlage zeigt sich die gezielte Herausarbeitung dieser Opposition, die zugleich die im literarischen Text dominant gehaltene Verwurzelung der Figur im Zweiten Weltkrieg überschreibt. Denn in Nothing Lasts Forever (1979) von Roderick Thorp erinnert Joe Leland die Unterhaltung, in der ihm jenes Geheimnis eröffnet wurde: »In the sixties, the first time he went to Europe on business, he sat next to a German, an executive in the American branch of an optical firm who had crossed the Atlantic over seventy times, going back to the first quarter of the century. […] The old man had known Hitler, whom he called a peasant incapable of reshaping an opinion. […] A wonderful man, full of wisdom. Leland would have lied, if he had been asked what he had done in the war. ›Do you want to know a secret, Mr. Businessman? You can be wide awake at the end of the day if you wash your feet. Walk around barefoot for ten minutes. You’ll feel terrific.‹ It was true«. Thorp, Roderick: Nothing Lasts Forever [1979], Los Angeles/New York: Graymalkin 2012 [o.P.]. Die Adaption hingegen legt den Fokus nicht zuletzt darauf, Zehen wie Fäuste zu ballen, eine symbolisch lesbare Präzisierung, die im Roman fehlt.

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Ticket für »Suspense, Excitement, Adventure, On every level!«29 gelöst hatte, so setzt die folgende Einstellung das notwendige Gegengewicht. Denn nach der Landung wird dieser verkrampfte, verheiratete Körper, der irritiert-wohlwollend auf die Flirtbemühungen der Flugbegleiterin reagiert, zu einem Körper im karierten Hemd des working class underdog mit Waffe. Erneut ist es dabei der Blick des Geschäftsmannes, der unsere Wahrnehmung re-fokussiert. Mit ihm sehen wir McClanes Baretta, gesichert im Holster, unter der Jacke hervorblitzen. Auf den offenkundigen Schrecken des Gegenübers im Angesicht der Waffe reagiert McClane mit einer trockenen Replik: John McClane: It’s okay. I’m a cop. Trust me. I’ve been doing this for eleven years. (TC 1:37-1:44) Diese Eingangssequenz ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, denn sie etabliert audiovisuell mehrere Konfliktlinien und Machtgefälle: die Spannung zwischen in Angst verkrampftem Körper und lockerem Spruch, aber auch den Kontrast zwischen der arroganten Überheblichkeit des selbstgefälligen Vielfliegers, der bisher bestenfalls Zehen auf flauschigen Teppichen ballen musste, und dem stoischen, erotisch durchaus ansprechendem Durchschnittstypen mit einem Alltag von Gewalt. Sein Status als Cop, der in dieser Eingangssequenz sorgfältig inszeniert wird, ist Fluchtpunkt und Gravitationszentrum aller folgender Konversationen. Präsentiert wird eine Figur, die sich – im Sinne von G.K. Chestertons Defence detektivischen Erzählens – als »agent of the public weal«30 versteht und bereit ist, das eigene familiäre Glück dem Wohl der Gemeinschaft aus Pflichtbewusstsein zu opfern: Argyle: So, why didn’t you come? Well? Why didn’t you come with her, man? What’s up? John McClane: Because I’m a New York cop. I got a six month backlog of New York scumbags I’m still trying to put behind bars. You just can’t pick up and go that easy.

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Zitiert wird hier nach IMDb eine der neun taglines, mit denen Die Hard beworben wurde. https://www.imdb.com/title/tt0095016/taglines (zuletzt aufgerufen am 19.06. 2022). Chesterton, G.K.: »A Defence of Detective Stories«, online verfügbar auf der Homepage der Society of Gilbert Keith Chesterton, https://www.chesterton.org/a-defence-of-dete ctive-stories (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022).

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Argyle: In other words, you thought she wasn’t gonna make it out here and she’d come crawling back to you, so why bother to pack, right? John McClane: Like I said, you’re very fast Argyle. (TC 06:57-07:22) Es deutet sich hier zwar an, dass das zitierte Idealbild, einer jener »unsleeping sentinels« zu sein, »who guard the outposts of society«,31 für die Begründung vergangener Entscheidungen als selbstaffirmative Deckerzählung verstanden werden kann, die nicht zuletzt als gesellschaftlich akzeptierte narrative Abbreviatur fungiert und so emotionale Geständnisse erspart. Trotzdem ist die mit ernsthafter Verve vorgetragene Selbstcharakterisierung doch filmsprachlich insgesamt als glaubwürdig markiert – zumal sie sich im weiteren Verlauf des Films bewähren wird – und vertieft in der Folge die in der Eingangssequenz aufgebaute Spannung zwischen Cop und Corporate. Nach der Ankunft an Holly McClanes Arbeitsplatz wird diese Diskursivierung des Cop-Status im Gespräch mit Hollys Chef Joe Takagi fortgesetzt. Als John mit ihm Ellis – »a caricature of [the] entrepreneurial archetype of the 1980s, the Yuppie«32  – in Hollys Büro beim Koksen überrascht, entspinnt sich folgender Wortwechsel: Joe Takagi: I want you to meet John McClane. Holly’s husband. Holly’s policeman. Ellis is in charge of international development. Ellis: Heard a heck a lot about you. John McClane: You missed some. (TC 12:06-12:20) Eingebunden ist diese nunmehr hinlänglich etablierte Konstellation von »knight-errantry«33 gegen global operierenden Konzern in opponierende Konzepte von Weihnachten. Denn während John McClane zu Christmas in Hollis (1987) von Run DMC – und damit im Zeichen eines Weihnachten in Queens, New York City und unter der ethischen Prämisse: »But I’d never steal from Santa, cause that ain’t right« – vorfährt, trifft er in Nakatomi Plaza auf eine champagnertrunkene Partygesellschaft, die letztlich den Abschluss eines lukrativen Geschäftsdeals feiert – am Christmas Eve eben in Weihnachtsdekoration. Der sorgfältig inszenierten Fremdheit Johns in dieser Umgebung luxuriöser Dekadenz mit Streichquartett kontrastiert augenfällig die Sicherheit, mit der sich die Kriminellen um Hans Gruber in diesem 31 32 33

Ebd. Cohen, Paul: »Cowboys Die Hard. Real Men and Businessmen in the Reagan-Era Blockbuster«, in: Film & History 41 (2011) H. 1., S. 71-81, hier S. 75. G.K. Chesterton: A Defence of Detective Stories.

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Setting bewegen. Bezeichnenderweise spielt das Orchester zu Beginn der Geiselnahme mit Beethovens Ode an die Freude just jenes triumphierende musikalische Thema, das der Film im Folgenden als signature track für Hans Gruber etabliert (vgl. TC 21:58-22:08).34 In diesen drei Eröffnungssequenzen entwickelt Die Hard somit eine aus dem Weihnachtsfilm-Genre bekannte, nachgerade idealtypische Konstellation, die gegen den Idealismus des einsamen off-duty Cops nach und nach gewichtige Widersacher in Stellung bringt – und dies nicht nur über die Repräsentation idealtypischer Männlichkeit, sondern zudem entlang ›falscher‹ Versionen von Weihnachten verhandelt: Gegen den Polizisten aus New York City stehen die Gier globaler Konzerne, in deren Zeichen materialistische Werte – wahlweise auch vorm kitschig blinkenden Christbaum – zelebriert werden, die Bedrohung durch das fremde Andere, das sich in Weihnachts-Mimikry eingenistet hat,35 und feministische Selbstverwirklichung, die für den Zerfall der Familie verantwortlich zeichnet. Das ›falsche‹ Weihnachten Hans Grubers denkt diese pervertierten, in den kurzen Dialogen zur Kenntlichkeit entstellten Feiern konsequent zu Ende.

Von Zehen und Fäusten Prominent eingeführt sind mit der eingangs diskutierten Unterhaltung im Flugzeug zudem Techniken des Überlebens. Die zum Geheimnis erhobenen geballten Zehen mögen nun eine wirkungsvolle Strategie sein, um Jetlag zu ›überstehen‹ – im Kampf gegen eine Bande von Kriminellen sind nackte Zehen doch ein schmerzhafter Nachteil. Paul Cohen liest diese Zehen-Szene als Verhandlung von Männlichkeit und resümiert: »The true man can make real fists. The false man, as if upside down, can make fists only with his toes«.36 34

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Vgl. hierzu die präzise und umfassende Analyse von Stilwell, Robynn J.: »›I Just Put a Drone under Him …‹ Collage and Subversion in the Score of Die Hard« in: Music & Letters 78 (1997), No. 4, S. 551-580, hier insbesondere S. 563-565. So reagiert Joe Takagi auf McClanes Frage: »You throw quite a party. I didn’t realise they celebrated Christmas in Japan« mit einem ernsten Scherz: »We’re flexible. Pearl Harbor didn’t work out, so we got you with tape decks« (TC 12:31-12:39). Die im Scherz aufgehobene Bedrohung, die jedoch nur Ellis zu einem gespielten Lachen bringt, verfügt in der klaren Dichotomisierung zwischen ›wir‹ und ›sie‹ eine eindeutige Grenze, die im Dialog bestätigt wird. P. Cohen: Cowboys Die Hard, S. 73.

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Allerdings gerät hier aus dem Blick, dass die Erprobung des Ratschlags ein integraler Bestandteil der für den Film konstitutiven Szenen von John McClane im Bade ist. Die erste dieser Szenen spielt direkt nach John McClanes Ankunft in Nakatomi Plaza und wird durch folgenden Dialog vorbereitet: Takagi: She’s made for this business. Tough as nails. […] Ellis: Show him the watch. Holly: Later. Ellis: Ahh … Show him. Are you embarrassed? (to McClane) It’s just a small token of appreciation for all her hard work. It’s a Rolex. John: I’m sure I’ll see it later. Is there a place where I can wash up? (TC 13:06-13:28) Auf das vorgegebene Gesprächsthema – das Lob für die gute Arbeit seiner Frau und die erzwungene symbolische Zurschaustellung ihres beruflichen Erfolges – reagiert John brüsk mit einer Re-Fokussierung der Aufmerksamkeit auf seine aktuellen Bedürfnisse. Diese Selbstverständlichkeit, mit der in einem professionellen Setting die Kommunikation unvermittelt bestimmt wird, auf Körper und Körperpflege des Ehemannes einzugehen – von dem man eigentlich erwarten könnte, dass er nach dem Genuss eines ChauffeurServices angemessen gekleidet bei der Weihnachtsfeier erscheint und zumindest etwas Deo aufgelegt hat –, ist hochgradig irritierend. Denn so wird der öffentliche Kommunikationsraum ihres Arbeitsplatzes, der von Zeichen ihres beruflichen Erfolges und der Anerkennung ihrer Kollegen bestimmt ist, zurückgezwungen in eine Privatheit, deren zentraler Gegenstand die Aufmerksamkeit für John McClanes Wohlbefinden ist.37 Dieser jäh verfügte Themenwechsel operiert über Körper und Körperlichkeit, indem einerseits Holly von der als peinlich und übergriffig inszenierten Zumutung geschützt wird, die an ihrem Körper installierten Insignien der Firmengratifikation und -zugehörigkeit vorzuführen; andererseits wird mit dem projektierten Rückzug ins Badezimmer eine Ersatz-Privatheit eingefordert, die im Kontext der Trope Coming Home for Christmas gelesen werden kann. In der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit – denn John wird am Flughafen eben nicht von seiner Familie freudig begrüßt, sondern 37

Genrereflexiv mag man darin auch die Andeutung einer anderen Variante von kämpferischer Männlichkeit sehen – McClanes Begehren »to wash himself up« im Gegenschnitt zu Rambos Widerstand gegen das oktroyierte »clean him up«.

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von einem Abgesandten des Unternehmens erwartet – wird die Zerrüttung der Familie im Rückgriff auf Weihnachts-Codes und Topoi als eine enttäuschte Erwartungshaltung in Szene gesetzt, die das Skript ausbuchstabiert: FAMILY REUNIONS are going on all around hi[m] as grandparents greet grown children and their children, YOUNG WIVES greet uniformed SOLDIERS, our Babbit businessman greets a pleasant wife and two pleasant kids. It’s all very traditional, very touching and not the least bit corny. McClane watches, moved by the sight, then looks around the waiting area, just on the chance his family might be waiting. Instead he spots a thin, gangling black kid, ARGYLE, in an ill-fitting chauffeur’s uniform.38 Indem der Außenseiter sich den habituellen Schaukämpfen von Männlichkeit entzieht und im gezielten Bruch mit den Kommunikationscodes beruflichen Smalltalks die Anerkennung für die materialistische Wertorientierung einer von Millionen-Dollar-Deals trunkenen Partygesellschaft verweigert, führt die erste Szene in der Semi-Privatheit eines an Ellis’ Büro angeschlossenen Badezimmers in das Zentrum der verhandelten Diskurse von Geschlecht und Körperlichkeit und bereitet parallel das folgende Action-Spektakel vor. Holly: I missed you. John: I guess you didn’t miss my name, though, huh? Except maybe when you’re signing cheques? Since when did you start using ›Ms. Gennero‹? Holly: This is a Japanese company. They figure a married woman’s … John: You are a married woman, Holly. You are married to me. Holly: This conversation again? – We did this in July. John: We never finished this conversation. Holly: I had an opportunity. I had to take it. John: Yeah, right, no matter what the consequences, no matter what it did to our marriage. Holly: It didn’t do anything to our marriage. Maybe it changed your idea what our marriage should be. John: You have no clue what my idea … Holly: I know exactly what your idea of our marriage should be. (TC 14:54-15:38) Auch wenn der Beobachtung von Yvonne Tasker: »American action movies work hard, and often at the expense of narrative development, to contrive 38

Die Hard, Screenplay by J. Stuart.

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situations for the display of the hero’s body«39 nicht im Grundsatz zu widersprechen ist, scheint für die Analyse von Die Hard doch ein anderes Moment gewichtiger. Denn die dem Streitgespräch vorangehende Entkleidung von John bis aufs Unterhemd trägt visuell in Dynamik und Machtkonstellation der Beziehung zwischen den Geschlechtern eine Unsicherheit ein. Einerseits evoziert die entworfene Szenerie die Vorstellung eines Alltags, in dem der Ehemann erschöpft von der Arbeit nach Hause kehrt und, während er sich die Mühsal des Tages vom Körper wäscht, mit seiner Frau über seinen Tag plaudert. Andererseits hat die sich dabei entwickelnde Diskussion bezeichnenderweise genau die Verkehrung dieser ›Normalität‹ zum Gegenstand, zumal Holly zunächst geistesabwesend einen nicht näher erkennbaren Gegenstand von Ellis’ Schreibtisch in ihren Händen wendet. Für Verstimmung sorgt bereits Hollys ungläubiges Lachen, mit dem sie auf Johns Eröffnung reagiert, während seines Aufenthaltes in LA bei einem pensionierten Kollegen in »Romona« unterschlüpfen zu wollen.40 Entscheidender Gegenstand des Streitgesprächs ist aber Hollys Priorisierung der eigenen Karriere gegenüber den Vorstellungen von Ehe, denen ihr Gatte anhängt. Die Rückkehr zu ihrem Mädchennamen im beruflichen Kontext und die Ausstattung ihres Körpers mit corporate codes sind dann im Sinne von showing und telling genau die als Zeichen einer Zerrüttung der Familie an Holly McClane gehefteten Markierungen, die im Finale des Films getilgt werden.41 Der Aufbau moduliert die Szene folgerichtig von den unbeholfenen 39 40

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Tasker, Yvonne: Spectacular bodies. Gender, genre and the action cinema, London: Routledge 1993, S. 79. »John: Captain Roberts retired out here. He told me I could bunk in with him. Holly: Cappy retired, huh? Where does he live? John: Romona. Holly: Pomona [laughs]. Pomona. John: Pomona. Holly: Yeah. You’ll be in the car half the time.« (TC 14:07-14:26) Bezeichnenderweise werden in dem zweifach gestaffelten Finale des Films beide Markierungen in einer sorgfältigen Inszenierung getilgt. Denn Hans Gruber kann erst dann in den Tod stürzen, wenn John McClane die Rolex an Hollys Handgelenk löst und so das kriminelle Mastermind seines letzten Rettungsankers beraubt. Die Rückkehr zum Familiennamen McClane nach der Überwältigung des letzten Terroristen durch Al Powell führt filmsprachlich diese Abkopplung und Loslösung von der corporate identity und die Besinnung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter konsequent fort. Im Schlussbild hat sich die ambivalente Position von Weiblichkeit, die zuvor zwischen ›Mutter‹ und ›Hure‹ platziert wurde – neben Holly McClane erhalten lediglich ihre schwangere Mitarbeite-

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Kommunikationsversuchen eines entfremdeten Ehepaares über intime Geständnisse immer noch bestehender Zuneigung zur Wiederaufführung eines beiden Parteien bekannten Streitgespräches. Aufgebaut als Shot-Reverse-Shot dominiert Johns Körperlichkeit die Szene – vorgeführt wird ein Spectacular Body im Sinne Taskers.42 Positioniert vor dem Spiegel in dem golden ausgekleideten Badezimmer eines anderen Mannes, zusätzlich hervorgehoben in Einstellungen, die ihn im Türrahmen zeigen, bleibt sein Körper auch im Gegenschuss in Kontur und Physis präsent. Aufgelöst wird diese Konfrontation, indem Holly zur »speech time« (TC 15:55) gerufen wird; John bleibt allein im Badezimmer zurück – und reflektiert in der Selbstansprache im Spiegel durchaus selbstkritisch das Scheitern seiner Kommunikationsbemühungen: »That was great, John. Good job, very mature« (TC 16:10-16:16). Visuell gibt diese Selbstaussprache dem Film die Möglichkeit, den männlichen Körper als gleichermaßen (emotional) verletzt und (physisch) unverletzt zu präsentieren. Die Positionierung vor dem Spiegel stellt sicher, dass wir diesen Körper als kraftvoll und rundum unversehrt wahrnehmen und Augenzeugen werden, wenn dieser die Zehen in den Badezimmerteppich krallt und dies mit einem wohlig-überraschten »son of a bitch. … Fists with your toes« (TC 16:25-16:33) kommentiert. Dass sich dieses ins Bild gehobene Verhältnis zwischen unverletzter Leiblichkeit und emotionaler Verletzung verkehren wird, steht zu vermuten, sind doch zwischen die hier punktuell kommentierten Szenen Aufnahmen geschnitten, die zeigen, wie sich unbekannte Kriminelle nähern, in einer konzertierten Aktion einen Sicherheitsmann töten, das Gebäude von der Außenwelt abriegeln und mit Waffengewalt die Feiernden als Geiseln nehmen. Angezeigt ist mit dem halbnackt sich im Bade vom terroristischen Überfall verbergenden John McClane nun ein zweifelsfreier Genrewechsel zum Action Film, der die Option zu Bewährung und Erlösung beinhaltet und dafür den Körper im Schmerz fordert. Vergleichbar hat dies bereits Philippa Gates hervorgehoben: To win back Holly’s love, McClane must first prove his masculinity and heroism by defeating the villains that threaten Holly. McClane’s body is the site upon which his crisis is expressed through the exposure of his naked, well-

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rin sowie eine namenlose Frau, die sich auf der Weihnachtsfeier sexuell vergnügt und kurz mit entblößten Brüsten gezeigt wird, einige Aufmerksamkeit –, eindeutig geklärt. Y. Tasker: Spectacular bodies.

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muscled physique and then its incurrence of cuts, scars, and injuries as he battles the villains.43 Diese These lässt sich am Beispiel der nackten Zehen in einem beiläufigen Bild-Arrangement exemplarisch verdeutlichen. Denn dem ersten Terroristen, den John mehr zufällig zu Tode bringt, werden die Schuhe ausgezogen, allein sie passen unserem Helden nicht. Der kommentiert: »Nine million terrorists in the world and I gotta kill one with feet smaller than my sister« (TC 37:2237:26). Wise-cracking im Namen der eigenen Männlichkeit. Bezeichnenderweise werden über diesen ersten getöteten Terroristen einmal mehr beide Codes des Filmes verhandelt, denn das die körperliche Konfrontation begleitende Wortgefecht aktualisiert spielerisch die Trope des cop gone rogue: John: Drop it, dickhead. It’s the police. Tony: You won’t hurt me. John: Yeah? Why not? Tony: Because you’re a policeman. There are rules for policemen. John: Yeah, that’s what my captain keeps telling me. (TC 35:22-35:37) Auf der anderen Seite wird die Leiche mit Santa Claus’ Bommelmütze ausstaffiert und der Oberkörper zur Übermittlung von Johns weihnachtlicher Botschaft beschriftet: »Now I have a machine gun. Ho – Ho – Ho«.

Wieder vor dem Spiegel In der zweiten Szene von John McClane im Bade ist wenig von der ironischen onomatopoetischen Performance weihnachtlicher Zuversicht geblieben. Auch im Vergleich mit den Badezimmergesprächen zwischen John und Holly hat sich das Setting vollkommen verändert. Im Bild stehen nicht mehr Indignation gegen die anti-familiäre Champagnerfeier der fremden Firma oder eine beleidigte Männlichkeit, die selbstkritisch unzufrieden ist, im Bemühen um eine Versöhnung mit der Familie gescheitert zu sein, sondern Erschöpfung und Versehrung eines Körpers, der zu Fleisch geworden ist und im Kampf gegen die Geiselnehmer schwer gelitten hat; das ehemals blütenweiße Feinrippunterhemd – Signatur einer proletarischen Underdog-Besetzung –

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hat sich, von Blut und Schweiß durchtränkt, schwarz gefärbt, die Fußsohlen, gleichsam eine Aktualisierung von Siegfrieds Lindenblatt, auf die Anweisung Hans Grubers: »Shoot the glass!« (TC 1:32:51) sind in einem Scherbenmeer zerfetzt worden.44 Angesichts des Versagens von Polizei, FBI und Presse,45 die allesamt den Plänen der vermeintlichen Terroristen zuarbeiten, befindet sich John McClane in einer schier hoffnungslosen Situation. Dies wird dadurch unterstrichen, dass in der direkt vorangehenden Sequenz der Triumph von Hans Gruber unter Einsatz aller filmsprachlichen Mittel zelebriert wird (1:39:18-1:40:05),46 während John letzte Worte an seine Frau an Al Powell (Reginald VelJohnson) übermittelt:

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Für eine Detailanalyse der Sequenz vgl. Kulle, Daniel: »Choreografien des Schmerzes. Actionfilm und die Grenzen der somatischen Empathie«, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 21 (2012), Nr. 2, S. 99-118. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/414. Kulle betont dabei, »dass die eigentliche Schmerzgefahr, der Kontakt zwischen Glas und bloßem Fuß, reine Antizipation bleibt, verstärkt durch die haptische Qualität der Glassplitter. […] Die Sequenz endet ohne zu zeigen, wie sich John barfuß durch das Scherbenmeer quält.« Ebd., S. 100. Die Darstellung der ›vierten Gewalt‹ als einer Truppe sensationslüsterner und inkompetenter TV-Gesichter, die alle ethischen Standards in der Gier nach news missachten und das Leben der Geiseln gefährden, komplettiert nicht nur den Reigen der Institutionen, die eine nach der anderen in ihrem staatlichen Auftrag versagen, sondern operiert über eine zweifache Korrektur von falschem Wissen. Diese erfolgt einmal explizit, denn die Ergänzung des anchorman: »As in Helsinki, Sweden« (1:25:27f.) lässt nicht nur umgehend den Produktionsleiter die Hand vor den Kopf schlagen, sondern wird live on air vom interviewten Professor Hasseldorf korrigiert: »Finland« (1:25:30). Dass der Professor als »Helsinki Syndrome« vorstellt, was de facto als »Stockholm Syndrome« bekannt geworden ist – »Basically, it’s when the hostages and the terrorists go through a sort of psychological transference and a projection of dependency. A strange sort of trust and bond develops. We’ve had situations where the hostages have even embraced their captors after their release and even corresponded with them in prison« (TC 1:25:30-1:25:49) –, dürfte einem US-amerikanischen Publikum bekannt sein, schließlich wurde die Diagnose nicht zuletzt im Fall Patty Hearst gestellt. Der Film legt diese Deutungen als groteske Verkennung der realen Situation bloß, indem er den theoretischen Ausführungen des Professors Bilder unterlegt, in denen der erschossene Ellis von einem der Täter quer durch das Büro geschleift wird. »The full orchestra swells with the loudest musical sequence in the body of the film, and through the music, the lighting, the camera angles and even the expressions on Hans’s and Theo’s faces, the audience is invited to share in the exhilaration of their success«. R. Stilwell: Collage and Subversion, S. 565.

John McClane im Bade. Weihnachten mit Die Hard (1988)

John: Listen, I’m starting to get a bad feeling up here … I want you to do something for me. I want you to find my wife … […] I want you to tell her something. I want you to tell her that … tell her it took me a while to figure out what a jerk I’ve been … but … that … when things started to pan out for her, I should’ve been more supportive. And … I just should have been behind her more. Oh shit … Tell her that … that she’s the best thing that ever happened to a bum like me. She’s heard me saying »I love you« a thousand times. She never heard me say »I’m sorry«. And I want you to tell her that, Al. Tell her that John said that he was sorry … Ok? You got that, man? (TC 1:41:22-1:42:46) Da dieses Bekenntnis medial vermittelt im Modus letzter Worte zwischen comrades in arms – dem weißen Cop off-duty und dem Schwarzen Sergeant – gesprochen wird, überraschen weder Auftrag noch Inhalt – obwohl offenbleiben muss, wann genau McClane Zeit hatte, über seine Vorstellungen von Ehe und sein Verhältnis zu Feminismus und weiblichem Erfolg im Beruf nachzudenken. Gelesen im Gegenschnitt zur ersten Szene im Bade wird dies jedoch plausibel. Der ursprüngliche hard body, ausgeleuchtet in einer ikonischen Pose idealtypischer Männlichkeit im goldenen Badezimmer, erscheint als von Tränen und Blut überströmter Körper im Schmerz, der kaum mehr bewegungsoder widerstandsfähig ist (vgl. Abb. 1 und Abb. 2).

Abbildung 1: Spektakulärer Körper...

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Abbildung 2: ... im Schmerz.

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An die Stelle der Selbstbetrachtung im Spiegel tritt das Geständnis der   eigenen Fehler gegenüber dem empathisch zugewandten Ohrenzeugen, dem   anderen Cop. Dabei etabliert der Film ein reziprokes Verhältnis zwischen Al Powells Eingeständnis seiner Schuld – im Dienst einen 13-jährigen Jungen getötet zu haben – und Johns Verbalisierung seiner Verfehlungen. Bezeichnend ist, dass diese aufgetragene Entschuldigung auch falsch adressiert bleibt. Denn funktionalisiert ist die Szene als Moment des male bonding in einer über Funkgerät etablierten bromance, die die eigentlich gemeinte Gesprächspartnerin durch den zweiten Cop ersetzt. Während die Erkenntnis McClanes nicht in gelebte Realität übersetzt wird – und so in den Fortsetzungen zum neuerlichen Problem werden kann –, stärkt die Szenerie der wechselseitigen Geständnisse einzig das homosoziale Band zwischen John und Al, die sich im je Anderen wiedererkennen. Und der Film stellt sicher, dass die in Johns Monolog ausgesagte Korrektur der Geschlechterrollen im Action-Finale deutlich überschrieben wird. Denn zum einen muss für den endgültigen Fall von Hans Gruber die Rolex von Hollys Handgelenk gelöst werden. Erst nachdem das männlich codierte Zeichen

John McClane im Bade. Weihnachten mit Die Hard (1988)

ihres beruflichen Erfolges und ihrer Attraktivität für andere Männer von ihrem Körper abgestreift ist, kann das Böse besiegt, die damsel in distress gerettet werden. Zum anderen ist filmsprachlich das zentrale Happy End nicht die Wiedervereinigung von John und Holly.

Die Apotheose des Al Powell Selbstverständlich sind gemäß der evozierten traditionellen HollywoodNarrative am Ende des Films John und Holly im obligatorischen Filmkuss versöhnt und die Kernfamilie unter dem Namen des pater familias restituiert,47 aber Glaube, Liebe, Hoffnung und den traditionellen Christmas Spirit heftet der Film am deutlichsten an die Beziehung von John McClane zu Al Powell. Entsprechend resümiert auch Robynn Stilwell: »The resolution of McClane’s conflict with Karl, resulting in Karl’s death, and the first face-to-face meeting between McClane and Powell are both dwelt upon in more detail [than Holly and John’s reconciliation] and with greater musical and incendiary bombast«.48 Als Weihnachtsedition eines cop movies und der für dieses Genre prototypischen Schule der Empathie,49 die in Die Hard als Action-Spektakel durchgespielt wird, versieht der Film nicht nur Al Powell mit den soundscapes von Weihnachten, sondern lässt das medial vermittelte, wechselseitige Erkennen der good cops in einer theatral inszenierten anagnorisis-Szene im Chaos der brennenden Trümmerlandschaft von Nakatomi Plaza kulminieren (TC 1:59:04-1:59:53). Auf die innige und tränenreiche Umarmung der beiden Cops aus New York und Los Angeles folgt unmittelbar Als mahnende Ansprache an Holly, die das Geständnis John McClanes im Bade augenfällig invertiert: »You got yourself a good man. You take good care of him« (TC 2:00:01-2:00:05). Filmsprachlich bezeichnend für diese Schließungskonfiguration ist neben der symboli47

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Jeffords pointiert die Sequenz wie folgt: »When McClane comes out of the building and finds Al Powell, he introduces him to Holly Gennero. Throwing any remaining feminist sentiments aside, and offering a resounding victory for the New Right/Reagan definition of family, Holly corrects him, ›Holly McClane‹.« S. Jeffords: Hard Bodies, S. 61. R. Stilwell: Collage and Subversion, S. 557. Vgl. zu dieser Schule der Empathie Beck, Sandra: »Die zwei Seiten von Law & Order – Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern«, in: 54books vom 07.06.2020, https://ww w.54books.de/die-zwei-seiten-von-law-order-ueber-die-kulturelle-diskrepanz-von-bild ern/ (zuletzt aufgerufen am 19.06.2022).

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schen Wiedereinsetzung Hollys als Ehefrau und Mutter und der damit vollzogenen Restitution familiärer Einheit insbesondere die Wiedereinsetzung Al Powells als Cop. Denn Powell war – wie das Publikum aus den Badezimmergeständnissen weiß – nicht mehr fähig seine Waffe zu ziehen, nachdem er im Dienst ein Kind getötet hatte. In der Schlusssequenz erschießt er ohne zu zögern, aber aus sicherer Distanz den aus den Trümmern von Nakatomi Plaza auferstandenen letzten Terroristen. Beschränkte sich seine Kameradschaft getreu der Prämisse »This is radio. Not television« (TC 01:21:00) bis dato auf die Ohrenzeugenschaft, so legt sein Handeln nun beredtes Zeugnis ab von Heilung und Erlösung, davon, dass Mut, Verpflichtung auf einen eigenen Ehrenkodex und Selbstüberwindung von McClane Schule machen. Zelebriert wird nach der Rückverwandlung der emanzipierten Geschäftsfrau zur liebenden Ehefrau und Mutter und nach der Restauration der Kernfamilie die Wiederauferstehung eines Cops, dessen zurückgewonnene agency genau für Rettung und Schutz dieser als Wunschbild kommunizierten Ausgestaltung von Arbeit und Familie eingesetzt wird, wobei er sich nicht auf die Vorgaben administrativ Vorgesetzter zurückzieht, sondern gemäß seines eigenen Wertekosmos selbstbestimmt und instinktiv handelt. Die Apotheose der Kernfamilie und die Apotheose des Cop fallen mithin in eins. Von all den angerufenen und um Hilfe gebetenen staatlichen Institutionen – von der Feuerwehr bis zum FBI50  – bewährt sich einzig der traumatisch versehrte Streifenpolizist. Er überwindet das eigene Trauma, weil nunmehr er für den Schutz von John und Holly als Familie McClane verantwortlich ist. In dieser Hinsicht ist es nur konsequent, wenn der Abspann auch musikalisch zu Al Powell zurückkehrt und die wie Schnee wirbelnden bearer bonds mit seinem musikalischem Thema begleitet: Let it Snow. Dass im Abspann nach den letzten Tönen von Let it snow Beethovens Ode an die Freude folgt, der Soundscape Hans Grubers, ist als Verweis auf ein dunkles Weihnachten im Zeichen der lords of misrule zu verstehen, die es Jahr um Jahr zu besiegen gilt. Denn nach dem Fest ist vor dem Fest.

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Auch hier zeigt sich eine klar zeithistorische Signatur, denn »the most insidious enemies of these rescuer-heroes are officials of their own government who represent those politicians and ›big shots‹ who […] ›stabbed the army in the back‹ and prevented it from winning the [Vietnam] war.« Slotkin, Richard: Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, Norman, Oklahoma: University of Oklahoma Press 1998, S. 649f.

Millenials allein zu Haus: Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus Simon Sahner

Weihnachten und Advent sind im kulturell christlich geprägten Westeuropa und den Vereinigten Staaten eine Zeit, die in ihrer öffentlichen Inszenierung eng verbunden ist mit einer Idee von Familie, Geselligkeit und Harmonie. Das spiegelt sich auch in den Erzählungen wider, die insbesondere durch populäre US-amerikanische und englische Filme wie den Klassiker It’s a wonderful life (USA 1946, R: Frank Capra) über Darstellungen amerikanischer Weihnacht in When Harry Met Sally (USA 1989, R: Rob Reiner) bis hin zu Love actually (UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis) erzeugt und transportiert werden. Aber auch die traditionelle familiäre Weihnacht beispielsweise in Deutschland, die medial und durch die Darstellungen in Kinderliteratur verbreitet wird, trägt zu dieser Vorstellung einer gelungenen Weihnachtszeit bei. Umso deutlicher wurde in der Adventszeit des ersten Jahres der Covid19Pandemie im Dezember 2020, was es für die Tradition Weihnachten bedeutet, wenn diese Formen des ritualisierten Zusammenseins nicht oder nur unter deutlich erschwerten Bedingungen möglich sind. Ausgerechnet in diesem Winter zeigte der Streaming-Dienst Netflix die deutsche Serie ÜberWeihnachten (D 2020, R: Tobias Baumann), die – so eine Rezension im Stern – »das allen vertraute Weihnachten zeigt« und daher insbesondere in einem Jahr, in dem das Erleben des Festes nur eingeschränkt möglich war, »genau richtig« kam.1 Dass dieses »allen vertraute Weihnachten« vor allem das Weih1

Heidböhmer, Carsten: »Darum ist ›ÜberWeihnachten‹ die Serie der Stunde«, in: Stern vom 02.12.2020, https://www.stern.de/kultur/tv/-ueberweihnachten---darum-ist -die-netflix-serie-mit-luke-mockridge-so-erfolgreich-9515664.html (zuletzt aufgerufen am 22.04.2022).

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nachten eines bestimmten privilegierten Milieus ist, wird im Verlaufe dieses Beitrags noch deutlich werden. Die Handlung der Serie sei hier kurz erläutert. Bastian (Luke Mockridge), ein erfolgloser Musiker um die 30, der in einem Call Center in Berlin arbeitet, fährt über die Weihnachtsfeiertage zu seinen Eltern in den Ort in der Eifel, in dem er aufgewachsen ist. Dort trifft er auch auf seinen beruflich erfolgreichen Bruder Niklas (Lucas Reiber), der aber überraschenderweise inzwischen mit Bastians Ex-Freundin Fine (Cristina do Rego) zusammen ist, die ebenfalls über die Feiertage anwesend ist. Außerdem trifft Bastian alte Mitschüler*innen wieder und verliebt sich während der Feiertage in Karina (Seyneb Saleh), die erste Freundin seines Bruders aus Teenagertagen. Sie hat inzwischen nach langer Abwesenheit eine Bäckerei im Dorf übernommen. Nach einigen Zerwürfnissen, absurden Situationen und einem großen Streit, der beinahe alte Freundschaften und familiäre Bande zerreißt, kehrt am Ende wieder weihnachtliche Harmonie ein, die durch gemeinsames Singen auf dem Dorfplatz auch performativ umgesetzt wird. ÜberWeihnachten bietet in seinem Publikationskontext auf Netflix, in der Ästhetik und der Erzählweise einer Vorabendserie und seiner harmonisierenden Handlungsführung einige Ansatzpunkte, die sich gerade im Kontext des pandemischen Weihnachtens 2020 unter (film)soziologischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen betrachten lassen. Der Rezeptionskontext der Serie wurde jedoch im Frühjahr 2021 noch um das Thema der sexualisierten Gewalt erweitert, als die Vorwürfe gegen den Hauptdarsteller Luke Mockridge, die vor allem seine Ex-Partnerin, die Journalistin und Komikerin Ines Anioli, gegen ihn erhob, publik wurden. Durch Recherchen des Spiegel2 und durch Aussagen von Anioli und anderen wurden Vorwürfe und Verhaltensweisen bekannt, die unter anderem Übergriffigkeit und sexualisierte Gewalt andeuten. Dadurch wurde auch die Rezeption der Serie beeinflusst. Gerade im Kontext ihrer Positionierung als harmonisches Erzählwerk, das in einer Zeit für Unterhaltung sorgen soll, die sich nicht zuletzt durch ihre kulturelle Funktion als Zeit der zwischenmenschlichen Nähe auszeichnet, stellen sich damit weitere Fragen. Diese betreffen vor allem die Wirkung und den Einfluss von Weihnachtsfilmen und -serien, die das kulturelle Bild von Weihnachten im gesellschaftlichen Kontext prägen und gar teilweise erst konstruieren. 2

Müller, Ann-Kathrin/Backes, Laura: »Du bist ziemlich durchgedreht gestern«, in: Der Spiegel 39 (2021), S. 108-112.

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

Erfundene Traditionen – Weihnachten der Gegenwart Um diese veränderte Rezeption im beschriebenen Kontext zu analysieren, bedarf es zunächst einer Einordnung von ÜberWeihnachten in Erzähltraditionen des europäischen und US-amerikanischen Weihnachtsdiskurses. In Form der Handlung und ihres Verlaufs greift die Serie zahlreiche Klassiker des Genres auf, die dem Zielpublikum des Streaming-Dienstes Netflix geläufig sind. Im Jahr 2021 wurde das deutsche Angebot von Netflix zur Hälfte von Menschen in Anspruch genommen, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden.3 Das Zielpublikum von Netflix speist sich daher statistisch gesehen vor allem aus der Generation der sogenannten Millenials, der Generation, die ihre prägenden Kulturerfahrungen um die Jahrtausendwende und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gemacht hat. Die Orientierung an dieser Zielgruppe zeigt sich an zahlreichen Parallelen zu modernen englischsprachigen Weihnachtsklassikern, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschienen sind und damit in die Zeit der prägenden Kulturerfahrungen der zwischen 1980 und 1995 geborenen fallen. Dabei handelt es sich um Weihnachtsfilme wie Love actually und Bridget Jones’s Diary (UK 2001, R: Sharon Maguire), die den traditionellen Zauber, der der Weihnachtszeit zugeschrieben wird, dem hektischen Berufsalltag von Menschen in ihren zwanziger und dreißiger Jahren gegenüberstellen und oft von Liebesglück zur Weihnachtszeit handeln. Erweitert wird dieses Erzählmuster durch ähnliche Darstellungen in zahlreichen US-amerikanischen Sitcoms, die ebenfalls eine zentrale Rolle im Kulturkonsum dieser Generation spielen. Als Beispiele seien hier Friends (USA 1994-2004, P: David Craine, Martha Kauffman, Kevin S. Bright) und How I met your mother (USA 2005-2014, P: Carter Bays, Craig Thomas) genannt. Die entscheidende Rolle in all diesen Erzählungen spielt die – meist heterosexuelle – Liebe und ihre monogame Erfüllung in einer zukunftsorientierten Zweierbeziehung: Im Trubel der Vorweihnachtszeit und aus dem Wunsch heraus an den Feiertagen nicht allein zu sein, entstehen romantische Sehnsüchte und Gefühle, die nach zahlreichen narrativen Verwicklungen für die meisten in einem glücklichen Ende ihre Erfüllung finden. Der*die Partner*in

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Siehe die Umfrage »Netflix-Nutzer in Deutschland nach Altersverteilung im Vergleich mit der Bevölkerung im Jahr 2021«, in: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/117 1667/umfrage/umfrage-unter-netflix-nutzern-in-deutschland-zur-altersverteilung/ (zuletzt aufgerufen am 22.04.2022).

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wird gefunden und dem romantischen Weihnachtsfest und einer gemeinsamen Zukunft steht vermeintlich nichts im Wege. Diese Filme aus den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts werden in Erzählstruktur und Motiven in ÜberWeihnachten aufgerufen und gehören zum kollektiven Gedächtnis derjenigen, die im Jahr 2020 etwa im Alter zwischen 25 und Ende dreißig waren. Dementsprechend häufig wurden diese Titel auch in Besprechungen der Serie als Referenzen aufgerufen.4 Damit greift die Serie von ihrer Grundausrichtung her Erzählmuster und Themen auf, die einem bestimmten Publikum geläufig sind, insbesondere die Verbindung von romantischer Komödie und Weihnachten, aber auch die Tradition einer deutschen Weihnacht. Der Grundsatz der Serie baut auf dem in Europa und den USA kulturell etablierten Konzept Weihnachten, ein harmonisches Familienfest auf, das insbesondere die Mutter des Protagonisten in ÜberWeihnachten wiederholt aufruft, wenn es in angespannten Situationen heißt, aber es sei doch Weihnachten, oder angesichts eines Streits ausgerufen wird »Und das an Weihnachten«. Die Serie referenziert dabei eine Vorstellung von Weihnachten, die sich in großen Teilen der – vor allem zunächst westdeutschen – Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten etabliert hat. Dabei wird das Ideal eines Weihnachtsfestes im Kreise der erweiterten Kernfamilie kombiniert mit der Imagination einer langen Tradition, die mit dem Fest verbunden ist und die unbedingt aufrechterhalten werden muss: Das Fehlen der Gans an Weihnachten beispielsweise wird in der Serie zum katastrophalen Ereignis, das die Durchführung eines angemessenen Weihnachtsfestes grundsätzlich in Gefahr bringt. Die Traditionselemente dieses Festes, die man von zahlreichen Bildern, aus Kinderbüchern und Filmen kennt, lassen sich mit dem Oxymoron der »erfundenen Tradition« beschreiben, Traditionen, »deren Herkunft aus ›alter Zeit‹ mithin lediglich vorgespiegelt ist, während sie tatsächlich jüngeren Datums sind«.5 Bei den geläufigen weihnachtlichen Traditionen des westlichen Europas und der Vereinigten Staaten handelt es sich um Rituale, die etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der englischen Mittelschicht entstanden sind und de-

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Zum Beispiel von Heidböhmer im Stern (https://www.stern.de/kultur/tv/-ueberweihn achten---darum-ist-die-netflix-serie-mit-luke-mockridge-so-erfolgreich-9515664.html) und von Maximilian Haase bei Prisma (https://www.prisma.de/news/Ueber-Weihnach ten-Netflix-Serie-mit-Luke-Mockridge-gestartet,27631519) (zuletzt aufgerufen am 22. 04.2022). Miller, Daniel: Weihnachten. Das globale Fest, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 13.

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

ren familiäre Ideale widerspiegeln.6 John Storey argumentiert nicht nur, dass Weihnachten, wie es heute in Westeuropa gefeiert wird, noch nicht einmal 200 Jahre alt ist, sondern dass es sich bereits in seinem Ursprung in dieser Form um ein kommerzielles Fest handelte, das in erster Linie dem Verkauf von Produkten diente, die damit in Verbindung standen.7 Analog dazu ist auch die deutsche Variante eines idealen Weihnachtsfests der Gegenwart des 21. Jahrhunderts vor allem ausgerichtet an Vorlieben und Vorstellungen einer traditionellen Feier der heterosexuellen, gut situierten Mittelschichtskernfamilie. Dabei ist weniger die konkrete Ausgestaltung des Festes als vielmehr seine ritualisierte Durchführung entscheidend. In der heutigen Form ist es in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und über familiäre Weitergabe und medial vermittelte Traditionsinszenierung an folgende Generationen übertragen worden. Neben Weihnachtserzählungen in Film und Fernsehen – beispielsweise in Loriots Weihnachten bei Hoppenstedts (D 1997 [1978], R: Vicco von Bülow) – und den populären Weihnachtsliedern, ist es vor allem auch die Werbung, die in den Wochen vor Weihnachten die traditionellen Rituale zwar in erster Linie für ökonomische Interessen nutzbar macht, indem Produkte in den Assoziationskontext des Weihnachtsfestes transferiert werden, dabei diese Rituale aber auch weitererzählt. Damit vollzieht sich bis heute, was bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm: Die Erzählung einer familiären Weihnacht im Dienste kapitalistisch-ökonomischer Interessen.

Bürgerliche Idyllen Die Serie nimmt die bürgerlichen Mittelschichtsideale auf, die in diesen Ritualen und ihren Narrationen mitgetragen werden: Die Eltern der Brüder Bastian und Niklas leben in einem eigenen Einfamilienhaus am Rande eines idyllischen Ortes in der Eifel. Das Familienheim spielt dabei eine zentrale Rolle, es ist – so könnte man sagen – die bürgerliche Trutzburg gegen die kalte Realität der Großstadt und des unsteten Lebens: die Garagenauffahrt mit

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Darauf verweisen vor allem Weightman, Gavin/Humphries, Steven: Christmas Past, London: Sidgwick & Jackson 1988, S. 15; zitiert nach D. Miller: Weihnachten, S. 15. Vgl. Storey, John: »The Invention of the English Christmas«, in: Sheila Whiteley (Hg.), Christmas, Ideology and Popular Culture, Edinburgh: University Press 2008, S. 17-31, hier S. 20f.

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dem alten Kombi vor dem Einfamilienhaus im Stil der 1980er Jahre, die Einrichtung im Stil der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, als das Haus vermutlich noch einmal renoviert wurde – helles, glattes Holz mit abgerundeten Ecken –, und die Familienfotos im Treppenaufgang, die nicht zufällig einer Ahnengalerie gleich die Geschichte der Kindheit der beiden Söhne nacherzählen. Der Vater ist Apotheker im Ruhestand, ein etwaiger Beruf der Mutter wird nicht erwähnt, die Kinderzimmer der Söhne sind unberührt, da das Haus für die Eltern viel zu groß ist, der Vater hat im Keller ein Arbeitszimmer. Bastian und Niklas sind von unterschiedlichem Charakter und konkurrieren miteinander, dabei sind die Rollen erkennbar klar verteilt, der eine ist erfolgreicher Arzt, der andere hat in Berlin sein Glück als Künstler gesucht, aber nicht gefunden. Vor diesem Hintergrund einer vermeintlich ubiquitären Normalität, die allerdings sehr detailliert ein bestimmtes privilegiertes Milieu der westdeutschen Gesellschaft widerspiegelt, entwirft die Serie das Bild eines Weihnachtsfestes, zu dem die Kinder zurück auf das Dorf kommen. Dabei spielt der Kontrast der anonymen Großstadt und des heimeligen Dorflebens eine entscheidende Rolle. Während Bastian in Berlin vor Werbeplakaten erfolgreicher Musiker*innen unter einer Brücke einsam bei kaltem Wetter Straßenmusik macht, ist er am Klavier in der Kneipe im heimatlichen Dorf am Vorweihnachtsabend umringt von singenden Menschen. Damit nimmt die Serie ein Motiv auf, das in konkretem Bezug zu der zuvor beschriebenen Zielgruppe steht. Es handelt sich bei den zwischen 1980 und etwa 1995 Geborenen um eine Generation, von der ein großer Teil zwar früh das Elternhaus und den Ort der Schulzeit verlassen hat, aber auch noch lange keine eigene Familie gründet. Beinahe zwei Drittel des jeweiligen Jahrgangs haben in den Nullerjahren, als die heute Ende Zwanzig- bis Ende Dreißigjährigen erwachsen wurden, nach dem Schulabschluss bald den Ort des Aufwachsens verlassen. Die Generation bekommt zudem meist erst mit Anfang, Mitte 30 selbst Kinder.8 Dadurch ist es in diesem Generationenmilieu länger üblich, dass die Kinder an den Feiertagen über mehrere Tage zu den Eltern kommen, weil sie selbst noch keine Familie und teilweise auch keine festen Beziehungen haben.

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Siehe die Studie »Durchschnittliches Alter der Mütter und Väter bei der Geburt eines Kindes in Deutschland von 1991 bis 2020«, in: https://de.statista.com/statistik/daten/st udie/1180171/umfrage/durchschnittliches-alter-der-muetter-und-vaeter-bei-der-geburt -in-deutschland/(aufgerufen am 22.4.2022).

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

Mit der Figur Bastian, der sich sein Künstlerleben mit einer Anstellung in einem Call-Center finanziert und keine konkreten Ziele für seine Zukunft erkennbar werden lässt, positioniert die Serie dadurch einen repräsentativen Vertreter dieser Generation als Protagonist ihrer Erzählung und versetzt ihn in eine Situation, die einem großen Teil des Zielpublikums geläufig sein dürfte: Die Rückkehr ins elterliche Haus auf dem Land über die Feiertage. Dieser Familienbesuch darf zwar auch im Kontext einer Erfüllung des weihnachtlichen Ideals aus erzählstrukturellen Gründen belastet sein, aber das Zuhause der Kindheit muss in sich einen Ort der friedlichen Rückkehr spiegeln. Im Kontext von ÜberWeihnachten bedeutet das, auch wenn der Vater Krebs hat, was Bastian erst im Verlauf der Handlung erfährt, bleibt Weihnachten davon erst einmal unberührt. Die familiär erwartete Performanz eines traditionellen Weihnachtens, das in seinen Abläufen seit Jahren identisch ist, darf nicht gestört werden.

Angepasste Konzepte der Millenial-Generation Dabei achtet die Serie sehr genau darauf die weihnachtlichen Ideale der Elterngeneration nicht ungebrochen zu reproduzieren, sondern sie entweder bewusst zu unterwandern oder sie entsprechend anzupassen. Deutlich erkennbar liegt in dem Eifeldorf, das die perfekte Kulisse für eine verschneite Idylle bieten würde, kein Schnee und der wenige Schnee, der noch fällt, schmilzt innerhalb weniger Stunden. Das gemeinsame Essen der Familie an den Feiertagen wird mehrfach von Missgeschicken, fehlenden Zutaten und Streit unterbrochen und der gemeinsame Kirchgang ist vor allem geprägt durch die Unlust der gesamten Familie außer der Mutter. Insbesondere Bastian schreibt während des Gottesdienstes lieber Chatnachrichten mit seiner neuen Liebschaft, die ebenfalls in der Kirche sitzt. Witze über Maria und Josef, die statt der weitgehend erfolglosen Suche nach einer Herberge ein AirBnB hätten reservieren sollen, oder über den Stall, der auf der Reiseplattform Tripadvisor ein ganz schlechtes Rating hätte, sowie der Kommentar, das Krippenspiel sei besser als die meisten deutsche Filme, sind Referenzen auf Alltagserfahrungen der Millenial-Generation oder verweisen auf Diskurse dieses Milieus. Auch der Running-Gag der Serie, dass das WLAN im Elternhaus nicht funktioniert, der Sohn es an Weihnachten reparieren muss, und die Empörung der Eltern über »das Internet« und »diese E-Roller« sind Bestandtei-

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le dieses eines weihnachtlichen Narrativs, das insbesondere in den Sozialen Medien und im Umfeld dieses Milieus wiederkehrt. Das weihnachtliche Klischee, das sich hinter diesen humoristischen Szenen verbirgt, wird dadurch anschlussfähig für ein Publikum, das dieser Inszenierung von Traditionen ansonsten eher kritisch gegenübersteht.9 Dazu gehört auch die Rückkehr des hippen Großstadtbewohners in das Umfeld seiner Kindheit. Das Schlafen im alten Kinderzimmer, die Fahrt auf dem BMX-Rad ins Dorf, insbesondere vorbei am Skatepark, wo der Protagonist einen Großteil seiner Jugend verbracht hat, sind auch Elemente einer Weihnachtstradition, die besonders in der Generation der Millenials entstanden ist, in deren Zentrum die nostalgische Erinnerung an eine bestimmte Vorstellung einer idyllischen Kindheit in kleinen Orten der beiden Jahrzehnte um das Jahr 2000 in Westdeutschland steht. Diese Weihnachtstradition festigt sich gerade erst als Konzept. Entscheidend für die Erfüllung dieser neuen Weihnachtstradition ist dabei nicht das perfekte und konfliktfreie Fest mit gutem Essen, gemütlichem Weihnachtsabend und tollen Geschenken, sondern die Rückkehr in ein Umfeld, das im Kontrast steht zur angenommenen kalten Anonymität der Großstadt und der ungewissen beruflichen wie auch privaten Zukunft. Deswegen sind auch die Bemerkungen der Eltern »Mach die Tür zu, sonst können wir ja gleich die Straße heizen«, Vorwürfe wie »Man hört ja auch kaum noch was von dir« oder ihre performative Empörung über die Verspätung der Deutschen Bahn, die von allen Anwesenden mitgesprochen wird, kein Grund für schlechte Stimmung, sondern essentiell. Sie sind Bestandteile eines Umfelds, das keine Überraschungen bietet und auch keine bieten soll. Einer der letzten Sätze der Serie, gesprochen von dem Protagonisten, fasst dieses Prinzip zusammen: »Dieses eine Mal im Jahr nach Hause zu kommen zu denen, die man liebt und von denen man geliebt wird.« Der Kitschfaktor, den Aussagen wie diese und die gesamte Handlung durchaus besitzen, rechtfertigt sich für das aufgeklärte Netflix-Publikum allerdings genau aus dieser jedes Jahr aufs Neue erlebten Nostalgie der Rückkehr. Die Stellung der Weihnachtsfeiertage außerhalb der Alltagsrealität in Großstadt, prekären Jobs im Kulturbetrieb,

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Darin zeigt sich auch eine Parallelität in der Funktionsweise zu Loriots parodistischer Weihnachtsdarstellung in Weihnachten bei Hoppenstedts. Beide Erzählungen ziehen ihren Erfolg auch aus der gewissen Selbstironie des Zielpublikums. Der Effekt, der hierbei entsteht, macht es möglich Rituale und Traditionen zu genießen, deren kulturelle und inszenatorische Enge man zwar erkennt, die man aber trotzdem schätzt.

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

in Start-ups, im Journalismus oder der Universität oder dem hektischen Leben einer erfolgreichen Karriere ermöglicht es, einen Wohlfühlkitsch in das eigene Selbstbild zu integrieren, der dem Bild des unabhängigen GroßstadtMillenial ansonsten widerspricht. Weihnachten bedeutet in diesem Milieu vorrangig kein christliches Fest mehr, das andächtig im Kreise der Kleinfamilie gefeiert wird, sondern eine Erholung vom selbstgewählten Leben in der Großstadt in Form einer nostalgischen Wiederbelebung der Kindheit und Jugend. Auch wenn die heteronormative Kernfamilie für diese Tradition essentiell bleibt, sind auch das Feiern mit den alten Schulfreund*innen in der Dorfkneipe, das Aufsuchen von zentralen Orten der Kindheit und das Abgeschnittensein vom hektischen Alltagsdiskurs integraler Bestandteil dieser Weihnachtstradition.

Die Vorwürfe sexualisierter Gewalt als neuer Paratext Die bisher hier entworfene Analyse der kulturellen Referenzhorizonte, mit denen ÜberWeihnachten ein sehr spezifisches Zielpublikum anzusprechen versucht, stellt – so könnte man sagen – die ideale Wirkungsweise dieses Erzählprodukts dar. Diese Referenzhorizonte sind zudem ein Indikator dafür, dass ÜberWeihnachten wie jedes andere mediale Erzählprodukt nicht im kulturell leeren Rezeptionsraum wahrgenommen wird, sondern nolens volens Assoziationen zu anderen Feldern hergestellt werden. Assoziationen, die mit dem Begriff des Paratextes in Verbindung stehen, der hier Anwendung finden kann. Ohne das theoretische Gerüst, auf das hier Bezug genommen wird, zu ausführlich darzustellen, sollen einige Erläuterungen zur Einordnung vorgenommen werden. Das Konzept des Paratextes, der einen literarischen Text begleitet und seine Rezeption maßgeblich steuert, wurde von Gérard Genette entworfen und bildet damit die terminologische Grundlage für die Analyse all derer Texte im erweiterten Sinne, die ein literarisches Werk begleiten und seine Wahrnehmung beeinflussen: angefangen beim Titel über Angaben im Klappentext, der Autor*innenbiografie und bis hin zu Interviews mit dem*der Autor*in oder gar Rezensionen. In seiner engen Definition gilt nur das als Paratext, was durch den Urheber eines Werkes autorisiert worden ist. Genette selbst öffnet jedoch den Begriff des Paratextes auch für Texte außerhalb dieser Grenzen, indem er das Konzept des faktischen Paratextes erläutert:

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Als faktisch bezeichne ich einen Paratext, der nicht aus einer ausdrücklichen (verbalen oder nichtverbalen) Mitteilung besteht, sondern aus einem Faktum, dessen bloße Existenz, wenn diese der Öffentlichkeit bekannt ist, dem Text irgendeinen Kommentar hinzufügt oder auf seiner Rezeption lastet.10 Genette erweitert diese Öffnung des Konzeptes noch durch die Bemerkung, »daß jeder Kontext als Paratext«11 wirke. Demnach hat jede Information, die im Kontext eines literarischen Textes steht, Einfluss auf dessen Rezeption, sei sie nun von der Autorin als »Beiwerk des Buches« – so die deutsche Übersetzung des Titels – intendiert oder nicht. Auch wenn Genette seinen Terminus strikt an literarischen Texten ausrichtet, ist es offensichtlich, dass das Konzept auch auf andere Kunstprodukte übertragbar ist, so auch auf filmische Erzeugnisse. Joachim Paech erkennt analog zu einem Paratext des Buches »paratextuelle Strukturen und Funktionen des Films [...], die ihn (den Film; Anm. d. Verf.) unmittelbar in der Situation und der Begegnung von Film und Zuschauer begleiten oder sich in größerem zeitlichen und/oder räumlichen Abstand auf ihn beziehen und die wesentlich die Rezeption«12 beeinflussen. Dabei weist er zudem darauf hin, dass sich diese Begegnung zwischen Zuschauer*in und Film historisch wandeln kann, das gilt zudem auch für den literarischen Text.13 Einen solchen Paratext, der sich gewandelt hat und dadurch die Rezeption der Serie verändert hat, stellen die Vorwürfe von sexualisierter Gewalt und übergriffigem Verhalten gegen den Hauptdarsteller Luke Mockridge dar, die zwar schon vor der Publikation der Serie erhoben worden waren, jedoch erst im Frühjahr 2021 zu einer umfassenden Debatte wurden und die angemessene Aufmerksamkeit erhielten. Durch sie bekommen zentrale Bestandteile der Serie eine zweite Ebene, die ansonsten schnell hinter dem Nostalgieschleier der liebenswerten Mittelschichtsfamilie und dem weitgehend glücklichen und in jedem Fall versöhnlichen Ende verschwindet. Die von Anioli geäußerten Anschuldigungen und ihre mediale Verhandlung sowie anschließende

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Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Berlin: Suhrkamp 2001, S. 14. Ebd., S. 15. Paech, Joachim: »Film, programmatisch«, in: Klaus Kreimeier/Georg Stanizek (Hg.), Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 213-223, hier S. 214. Ebd.

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

Gerichtsverhandlungen über die Rechtmäßigkeit der Verdachtsberichterstattung durch den Spiegel14 haben ein paratextuelles Netz geschaffen, das die Rezeption der Serie grundlegend beeinflusst. Sie stellen die Serie in den Diskurskontext toxischer Maskulinität und sexuell übergriffiger Männlichkeitsperformance und heben hervor, dass unter der Darstellung einer liebenswürdigen, zeitgenössischen Weihnachtserzählung der Subtext eines männlich dominierten und patriarchal strukturierten Umfelds und eines stellenweise problematischen maskulinen Habitus miterzählt wird. Im Zentrum dieses Subtextes steht dabei Bastian als der weiße, heterosexuelle cis Mann Anfang 30, der seinem Leben sowohl beruflich als auch privat noch keine klare Richtung gegeben hat. Der Typus dieses jungen Mannes aus privilegierter Familie wird in ÜberWeihnachten kontrastiert durch den ebenso privilegierten Bruder Niklas, der allerdings erfolgreicher Kinderarzt ist, ein eigenes Auto besitzt und glattrasiert sowie ordentlich frisiert auftritt. In der Darstellung dieser Kontrastbeziehung werden deutlich erkennbar patriarchale Herrschaftskämpfe ausgefochten, die insbesondere von Bastian initiiert werden. Dabei kommt ein im bourdieu’schen Sinne geschlechtsspezifischer maskuliner Habitus zum Tragen, der dazu dient die eigene heterosexuelle Positionierung und die Machtstellung im brüderlichen Gefüge zu erhalten. Die zunächst verständliche Frustration und Wut über die Beziehung zwischen seinem Bruder und seiner Ex-Freundin Fine schlägt bald um in Rachefantasien, nachdem Bastian wiederum Sex mit Karina, der Ex-Freundin des Bruders, hatte. Für Bastian sind die beiden Frauen in diesem Zusammenhang erst einmal nur Objekte in einem Kampf zwischen rivalisierenden Brüdern: einmal als vom Bruder geraubte Partnerin und einmal als Mittel zur Rache an besagtem Bruder. Der von Basti als solcher empfundene ›Sieg‹ über seinen Bruder ist auch der Versuch eines Ausgleichs von Niklas’ Dominanz über seinen Bruder in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Abgrenzung vom erfolgreicheren Niklas erfolgt daher auch meist durch eine herabwürdigend gemeinte Effeminisierung: dieser sei »doch früher nicht so eine Pussy« gewesen und er habe gestern »geschwächelt«, weil er nicht mit in die Kneipe gekommen ist. Bourdieu spricht mit Blick auf die Manifestation männlicher Herrschaft von einer Notwendigkeit, das eigene Geschlecht per-

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Müller, Ann-Kathrin: »Das Mockridge-Beben und seine Folgen«, in: Der Spiegel 1 (2022), S. 118.

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formativ vom anderen zu differenzieren.15 Die Effeminisierung des Bruders ist daher auch ein Angriff Bastians auf Niklas’ Position bei gleichzeitiger Stärkung der eigenen. Während Bastian mit alten Schulfreunden in der Kneipe trinkt und schulterklopfende Männlichkeitsrituale inszeniert, sitzt der erfolgreiche und brave Bruder mit seiner Freundin bei den Eltern zuhause. Dieses Verhalten ist durchaus Teil der Inszenierung des Protagonisten als liebenswerter, aber unreifer junger Mann, offenbart aber gerade dadurch die Problematik dieser Trope im Kontext von übergriffigem Verhalten bis hin zu sexualisierter Gewalt. Durch die gesamte Figur Bastian dringt ein grundsätzlich nicht reflektierter Männlichkeitshabitus, der sich in den Sprüchen gegenüber dem Bruder und den sexualisierten Rachefantasien zeigt, aber auch darin, wie er auf die Homosexualität des Schulfreundes Ingo reagiert. Auch wenn die überraschende Entwicklung, dass der als Dorfcasanova verschriene alte Freund offenbar homosexuell ist und eine Affäre mit dem Bankangestellten hat, innerhalb kürzester Zeit akzeptiert scheint, irritiert die Selbstverständlichkeit, mit der diese Offenbarung einer Lebenslüge integriert wird. Dass die Homosexualität des Freundes so umstandslos akzeptiert wird, erscheint auf den ersten Blick als unplausibel. Die ausbleibende Thematisierung fügt sich aber tatsächlich in Bastis unreflektierten und naiven Umgang mit queerer Sexualität ein, der eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema irrelevant erscheinen lässt. Das bisher ausgebliebene Outing wird allein als Versäumnis auf Seiten von Ingo dargestellt, da sich Bastian im Verlauf als vollständig unsensibel gegenüber struktureller Diskriminierung queerer Menschen im Alltag erweist, insbesondere in festen dörflichen Strukturen. Er macht Ingo zum einen Vorwürfe, dass er sich ihnen nicht anvertraut habe, zum anderen outet er ihn auf einer Bühne vor dem gesamten Dorf und wirft ihm Unehrlichkeit vor, anstatt zu hinterfragen, warum sich Ingo gezwungen sah, jahrelang seine Sexualität zu verbergen. Das Verhalten Bastians ist auf diese Weise geprägt von unreflektiertem Privileg als weißer, heterosexueller cis Mann und einem ebenso unreflektierten Verhältnis zu heteronormativen Männlichkeitsvorstellungen, das sich im Verhalten gegenüber dem Bruder und den beiden Frauen Karina und Fine

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Siehe dazu auch Jäger, Ulle/König, Tomke/Maihofer, Andrea: Pierre Bourdieu. Die Theorie männlicher Herrschaft als Schlussstein einer Gesellschaftstheorie, in: Heike Kahlert/Christine Weinbach (Hg.), Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Eine Einladung zum Dialog, Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 15-36, hier vor allem S. 25.

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

zeigt. Auch wenn Bastian kurz vor der finalen Versöhnungsszene einige Fehler einsieht und sich um Wiedergutmachung bemüht, bleibt über die gesamte Handlung hinweg das eben gezeichnete Bild vorherrschend und auch das Verzeihen dieses Verhaltens durch die Familie, Karina und schlussendlich auch durch das gesamte Dorf fügt sich letztlich ein in das Konzept des liebenswerten Trottels, der das eigentlich alles nicht so meint. Die Konstellation, die aus diesem Protagonisten sowie einer Erzählhaltung und einer Thematik entsteht, die auf Identifikation der Zuschauer*innen mit dem gezeigten Umfeld und seinen Ritualen angelegt sind, bringt die Serie dadurch in eine rezeptionsästhetisch problematische Situation. Die Vorwürfe gegen Luke Mockridge eröffnen ein paratextuelles Netz, das die Figuren der Serie und ihr Verhältnis zueinander neuen Bewertungen aussetzt. Die öffentliche Persona des Schauspielers und Comedian Mockridge ist beinahe deckungsgleich mit dem eben erläuterten Schema, das auch der fiktive Bastian ausfüllt. Der Spiegel bezeichnete Mockridges Image in einem Artikel, in dem es um die Vorwürfe gegen ihn ging, als »tollpatschige[n] Schwiegermutterliebling«.16 Auftreten und Kleidungsstil von Bastian und dem realen Mockridge gleichen sich und beide haben Karrieren in der Bühnenbranche eingeschlagen, auch wenn Mockridge wesentlich erfolgreicher ist als sein fiktives Gegenüber. Auch wenn in der Serie also lediglich die fiktive Figur Bastian vorkommt, wird die öffentliche Persona von Luke Mockridge auf einer zweiten Ebene mitgelesen. Wenn man sich – wie es die Serie anbietet – als Teil dieses Milieus mit den Erfahrungen und dem Umfeld von Bastian identifizieren soll, verlangt die Serie aus Sicht dieses Milieus implizit auch Mockridge als einen von ihnen anzusehen. Die Beschreibungen der Vorwürfe im Spiegel von Anioli zeigen Mockridge als eine Person, die – wie es dort heißt – öfters »die Kontrolle verliert, kein ›Nein‹ akzeptiert«17 und offenbar häufig übergriffiges Verhalten durch scheinbar spielerische Albernheiten zu verdecken versucht.18 Diese Darstellung fügt sich übergangslos in den Subtext der fiktiven Figur Bastian ein und kann sozusagen als die toxische Rückseite dieses Figurentyps gelesen werden, die aber in einer Wohlfühlweihnachtsserie keine zentrale Rolle spielt. Es kommt also zu einem assoziativen Übertreten der Fiktionsgrenze.

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Müller/Backes: »Du bist ziemlich durchgedreht gestern«, S. 109. Ebd., S. 110. Ebd.

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Im Kontext dieses Paratextes wirken die Szenen, in denen Bastian in der zweiten Folge mehrere betrunkene intime Situationen nach dem gemeinsamen Feiern mit Karina hat, problematisch und eröffnen Assoziationen zu Übergriffigkeit. Die intendierte Parallelität zwischen der fiktiven Figur und dem Schauspieler Mockridge wird der Serie hier zum Verhängnis, weil die Gefahr, die angesichts der Beschuldigungen gegen Mockridge von so einer Situation ausgehen könnte, miterzählt wird. Im Zuge der zahlreichen Enthüllungen in der Folge der MeToo-Bewegung wurde der faktische Paratext unzähliger Filme und Serien nachträglich verändert, deren Handlung nun auch im Kontext der sexuellen Übergriffe ihrer Hauptdarsteller wahrgenommen wird. Das betrifft nicht zuletzt die Serie House of Cards (USA 2013-2018, P: David Fincher u.a.), deren Hauptdarsteller Kevin Spacey mehrfache sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde. Besonders relevant werden diese neuen Rezeptionskontexte, wenn wie im Falle von ÜberWeihnachten eine Figur bewusst am öffentlichen Charakter ihres Darstellers orientiert wird.

Ein Blick auf andere Filme Angesichts der Vorwürfe gegen Luke Mockridge und der Parallelitäten zwischen Mockridge und der Figur Bastian gerät die filmische Trope der Liebe an Weihnachten in Kontexten in den Blick, die zeigen, dass in ihr ein grundsätzlich diskutabler Subtext enthalten ist. Das Bild von Liebe und ihrer Entstehung vor allem an Weihnachten, das hier entworfen wird, und das nicht zuletzt auf bereits erwähnte Klassiker wie Love actually oder Bridget Jones zurückgeht, basiert auf einer heteronormativen Konstruktion von Liebe, bei der der emotional unreife Mann, dem zahlreiche Fehltritte verziehen werden, am Ende mithilfe einer romantischen Geste die Frau bekommt, die er haben will. Der Grund dafür ist Weihnachten. Weihnachten als das Fest der Liebe, wie es schon die Figur Billy Mack in Love actually sagt: »Christmas is the time to be with the people you love«, ist der ultimative Grund zur Vergebung und die Zeit das zu erkennen, was wirklich zählt: Liebe. Was als Konzept eine versöhnende Idee ist, wird im Kontext vieler Erzählungen um Liebe als Zweierbeziehung zur problematischen Prämisse, weil es in den meisten Fällen der weibliche Part einer heterosexuellen Zweierkonstellation ist, der dem männlichen Gegenüber Missgeschicke und Fehltritte verzeiht, weil dieser im Angesicht des möglichen Verlusts seine Vergehen erkennt und in einer emotionalen Szene um Verzeihung bittet.

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

ÜberWeihnachten zeigt dadurch ein Weihnachtsideal, in dem alles, was im alltäglichen Miteinander geschieht, an Relevanz verliert, solange es nur im Kontext von Weihnachten verziehen wird. Die Serie ist damit in ihrer ganzen Ausrichtung als Streamingserie für ein Netflix-Publikum die perfekte Kombination aus der sehnsüchtigen Nostalgie eines idealen Weihnachtsfestes im Setting einer scheinbar unberührten Kindheit und Jugend, einer Flucht aus dem Stress des Alltags und der Gewissheit, dass am Ende auch die größten Sünden vergeben werden. Für Bastian genügt es, dass er am Ende mit seinen zwei besten Freunden und seinem Bruder die alte Band ihrer Jugendzeit wiederbelebt und ein Konzert auf dem Dorfplatz gibt und sich dabei entschuldigt. Was im Kontext der Serie funktioniert, weil die Erzählkurve diese Erlösung implizit fordert, wird durch die Realität aufgebrochen, die im Zuge der Vorwürfe gegen Luke Mockridge in die Fiktion eindringt. Erwähnenswert ist vor diesem Hintergrund abschließend die romantische Weihnachtskomödie Love Hard (USA 2021, R: Hernán Jiménez), die ein Jahr nach ÜberWeihnachten ebenfalls auf Netflix erschien. Das liegt in erster Linie daran, dass der Film auf ähnliche Weise sein Netflix-Zielpublikum anspricht wie ÜberWeihnachten. Der Titel ist eine Anspielung auf die Filme Die Hard und Love actually, die beide im Film mehrfach erwähnt und zitiert werden, zum Beispiel wenn die Protagonistin Natalie sich am Ende entschuldigt und auf die Szene Bezug nimmt, in der Mark in Love actually der Ehefrau seines Freundes Juliet mit beschrifteten Karten seine Liebe gesteht. Erwähnenswert ist auch die erstaunlich auffällige Parallele zu ÜberWeihnachten in der Figur der alleinstehenden Großmutter, die durch ihre rustikale, erfrischende Art und ihre Unverblümtheit über Sex zu reden, sowohl in der Serie als auch im Film die Rolle eines Comic-Relief übernimmt. Die Ähnlichkeit dieser beiden Figuren und ihres Verhältnisses zu den Protagonist*innen ist beinahe frappierend und zeigt erneut, wie offensiv ÜberWeihnachten mit Tropen des Genres spielt. Daneben ist aber vor allem der Umgang mit Geschlechterklischees und ihr Aufbrechen erwähnenswert. Love Hard handelt von Natalie (Nina Dobrev), die in Kalifornien lebt und für eine Website eine Kolumne über ihre amüsanten, aber enttäuschenden Dating-Erfahrungen schreibt. Als sie auf einer Dating-App Josh (Jimmy O. Yang) kennenlernt, der sich im Chat und später in zahlreichen Telefongesprächen als der perfekte Mann herauszustellen scheint, glaubt sie endlich das große Datinglos gezogen zu haben und beschließt ihn zu Weihnachten in seinem Heimatort Lake Placid in New York zu überraschen. Als sie dort ankommt, muss sie jedoch feststellen, dass Josh nicht der Mann ist, von dem

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sie über Wochen Fotos gesehen hat. Josh, inszeniert als der klassische Nerd und Loser, hat Fotos von seinem normschönen Bekannten namens Tag (Darren Barnet) benutzt, um Frauen online zu beeindrucken. Nach einem Streit und großer Enttäuschung auf Seiten von Natalie stimmt Josh zu, Natalie zu helfen, Tag für sich gewinnen, wenn sie dafür über Weihnachten vor Joshs Familie seine Freundin spielt. Das Versteckspiel führt zu lustigen und unangenehmen Szenen, am Ende wird bekannt, was Josh und Natalie inszeniert haben und zum Finale erkennt Natalie, dass Josh doch eigentlich der richtige für sie ist. Love Hard hat offensichtliche eigene sexistische und anderweitig diskriminierende Stereotypen, die unter anderem damit zusammenhängen, dass er mit der Prämisse des sexuell unattraktiven Nerds arbeitet, der zunächst von der Frau abgewiesen wird, aber am Ende doch die normschöne Frau bekommt, weil diese erkennt, dass Aussehen nicht alles ist. Interessant ist aber hier, dass die Figur des attraktiven und heteronormen Mannes Tag diejenige Figur ist, die an allen Verwicklungen und Intrigen des Plots unbeteiligt ist und stattdessen zum Opfer der Protagonistin und des Nerds wird. Die beiden haben sich wiederum gegenseitig hintergangen, weil Josh Natalie über seine wahre Identität getäuscht hat und weil Natalie Josh ausgenutzt hat, um an den gutaussehenden Mann heranzukommen. Dadurch sind hier Rollen vertauscht, die ansonsten in Weihnachtsliebesfilmen meist recht klar verteilt sind. Doch trotz dieser Umkehr von Genderrollen offenbart der Film ähnliche strukturelle Untiefen wie die Serie. Die Rolle derjenigen, die sich entschuldigt, fällt hier Natalie zu, wodurch die Genderrolle dieser Trope umgekehrt wird. Dabei bleibt allerdings die Frage unbeantwortet, warum am Ende der Betrug von Josh, der Natalie unter falschen Vorzeichen von sich überzeugen wollte und dafür auch noch die Identität seines Bekannten gestohlen hat, keine Konsequenzen mehr hat. Stattdessen ist es am Ende sein Privileg, Natalie verzeihen zu dürfen und ihr Liebeseingeständnis anzunehmen. Darin liegt die unangenehme Backstory, die Joshs Verhalten vor dem Hintergrund rechtfertigt, weil er als das Klischee eines unattraktiven Nerds zu solchen Mitteln greifen muss, damit sich eine normschöne Frau für ihn interessiert. Am Ende bleiben ein Film und eine Serie, die beide auf klassische Weise heteronorme Liebesgeschichten an Weihnachten erzählen, mit ähnlichen Mitteln die gleiche Zielgruppe zentral ansprechen und durch kleinere Andeutungen bewusst die diesem Publikum zugeschriebene progressive Ausrichtung bedienen wollen – sie scheitern aber letztlich beide auf ihre eigene Weise deutlich daran eine Liebesgeschichte zu erzählen, die sich nicht in hetero-

Die Serie ÜberWeihnachten im Kontext von Kitsch, Nostalgie und Sexismus

normativen Tropen und patriarchalen Klischees verstrickt – das ist angesichts der Tatsache, dass Netflix in den letzten Jahren mit Serien wie Sex Education (UK 2019, P: Jon Jennings) über queeren Sex, über feministische Themen und sexuell diverse Figuren große Erfolge gefeiert hat, bemerkenswert. Es scheint als müsste es an Weihnachten trotz aller Offenheit und Diversität eben doch zugehen wie immer. Die Tradition scheint am Ende einmal mehr zu gewinnen.

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Queering the Christmas Effects: Subversionen von Weihnachten im deutschen Gegenwartsfilm Peter Scheinpflug Im Essay Queer and Now widmet sich Eve Kosofsky Sedgwick1 der Frage »What’s ›queer‹?«2 Die Antwort setzt ausgerechnet bei der Weihnachtszeit an: »The depressing thing about the Christmas season – isn’t it – is that it’s the time when all the institutions are speaking with one voice.«3 Es geht dabei weniger darum, dass zur Weihnachtszeit in allen Schau-, Büro- und Privatfenstern dieselben Lichterketten, Sterne und anderer Weihnachtsschmuck prangen, überall dieselben Weihnachtslieder dudeln und überall

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Bei diesem Beitrag wurde auf sensible und inkludierende Formulierungen geachtet. Im Folgenden wird daher für reale Personen immer nur deren vollständiger Name genutzt, um keiner Person, v.a. ohne zu fragen, durch Substantive, Artikel, Personalund Possessivpronomen ein einziges Geschlecht zuzuweisen, das womöglich nicht mit der selbst bestimmten Geschlechtsidentität der Person identisch ist. Zwar ist auch der Name einer Person – zumeist von den Eltern – fremdbestimmt, aber eine Namensänderung ist – wenn auch unter strengen Auflagen – in Deutschland möglich, weshalb hier davon ausgegangen wird, dass eine Person, die sich mit einem Namen selbst bezeichnet, diesen zu ihrer Bezeichnung zumindest toleriert. Von der Nutzung allein des Nachnamens bei der wiederholten Nennung wird hier abgesehen, um eine Person nicht, womöglich ungewollt, mit anderen Personen mit demselben Nachnamen zusammenzufassen. Dies führt zwar zu einer womöglich für viele Leser*innen ungewohnten Häufung von Namen, ermöglicht aber einen vergleichsweise konventionellen Lesefluss. Bei Filmfiguren werden hingegen zumeist keine (gender-)inklusiven Formulierungen genutzt, da fiktionale Figuren nicht mit realen Personen verwechselt werden dürfen, sondern immer schon Konstruktionen mithilfe kultureller Codes – auch Gender-, Class- und Race-Codes – sind. Der Essay erschien erstmals 1991 und wird hier nach der folgenden Publikation zitiert: Sedgwick, Eve Kosofsky: »Queer and Now«, in: dies., Tendencies, London: Routledge 1994, S. 1-20, hier S. 5. Ebd.

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dieselben Weihnachtsmotive ihre Betrachter*innen anlachen, sondern vor allem darum, dass überall im Einklang dieselbe Weihnachtsideologie gepredigt wird.4 Aber wen sollte das noch verwundern, ist das doch eben ›normal‹ in der Weihnachtszeit. Eve Kosofsky Sedgwick nennt dies die »Christmas Effects« und kritisiert daran, wie Institutionen und Diskurse – nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern in konservativen Gesellschaften, die keine queere Pluralität fördern, immer – gemeinsam eine herrschende Ideologie mit nur einer homogenen »sexual identity«5 (re-)produzieren, die durch den Einklang aller Institutionen und Diskurse, also durch deren kulturelle Hegemonie naturalisiert wird. Diese Ausführungen zu den Christmas Effects sollen nicht nur erläutern, wie es ist, als queere Person in einer von Patriarchat und Heterosexualität bestimmten Kultur zu leben – nämlich so, als wäre das ganze Jahr Weihnachten, was selbst den größten Weihnachtsfanatiker*innen zu viel sein würde. Es leitet sich darüber hinaus aus den Christmas Effects auch ein mögliches, eher dekonstruktives, Verständnis von Queer ab, das weit über Eve Kosofsky Sedgwicks eigenen damaligen Gebrauch als Synonym für Homosexualität6 hinausgeht: That’s one of the things that ›queer‹ can refer to: the open mesh of possibilities, gaps, overlaps, dissonances and resonances, lapses and excesses of meaning when the constituent elements of anyone’s gender, of anyone’s sexuality aren’t made (or can’t be made) to signify monolithically.7 Im Folgenden wird es um jüngere deutsche Weihnachtsfilme gehen, die zum einen die Christmas Effects verhandeln und zum anderen diese einem Queering unterziehen, also sie kritisch gegenlesen und durchkreuzen, um Friktionen und Vielstimmigkeit zu erzeugen. Weihnachten ist ein beliebtes Sujet von Spielfilmen. Das Spektrum der Filme, die dem Weihnachtsfilm zugeordnet werden können, reicht von Komödien wie Home Alone (Kevin – Allein Zu Haus; USA 1990, R: Chris Columbus), National Lampoon’s Christmas Vacation (Hilfe es weihnachtet sehr; USA 1989, R: Jeremiah S. Chechik) oder Love Actually (Tatsächlich… Liebe; UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis) über Actionfilme und Thriller wie

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Subversionen von Weihnachten im deutschen Gegenwartsfilm

Die Hard (Stirb Langsam; USA 1988, R: John McTiernan), The Long Kiss Goodbye (Tödliche Weihnachten; USA 1996, R: Renny Harlin) oder Reindeer Games (Wild Christmas; USA 2000, R: John Frankenheimer) bis hin zu Horrorfilmen wie Gremlins (Gremlins – Kleine Monster; USA 1984, R: Joe Dante), Don’t Open Till Christmas (Fröhliche Weihnachten; UK 1984, R: Edmund Purdom) oder Sint (Saint; NL 2010, R: Dick Maas). Hinzu kommen die etlichen Weihnachts-Fernsehspecials wie das berühmt-berüchtigte The Star Wars Holiday Special (USA 1978, R: Steve Binder) oder die unzählbaren Weihnachtsepisoden vor allem von langjährig produzierten Fernsehserien wie beispielsweise Ally McBeal (S01E11, S02E10, S03E07, S03E08, S04E06, S04E08, S05E07; USA 1997-2002, Creator: David E. Kelly) oder Friends (S01E10, S02E09, S03E10, S04E10, S05E10, S06E10, S07E09, S07E10, S08E11, S09E10; USA 1994-2004, Creator: David Crane und Marta Kauffman). Es läge daher der Schluss nahe, dass sich ebenso schnell deutsche Filme zu Weihnachten finden lassen sollten. Immerhin – denken Sie kurz an die Zeit vor Corona zurück – gibt es in Deutschland eine lange Weihnachtsmarkttradition mit tausenden Weihnachtsmärkten, der weihnachtliche Kaufrausch ist so gigantisch, dass einige Branchen wie die Spielzeugindustrie bis zu einem Viertel, andere Branchen oft immerhin noch ein Sechstel ihres Jahresumsatzes nur in der Weihnachtszeit machen und, da selbst das Essen streng weihnachtlichen Ritualen unterliegt, schon einmal vor Engpässen in der Versorgung mit Gänse(brate)n gewarnt wird.8 Egal, ob man die Weihnachtszeit liebt oder hasst – einen Mittelweg scheint es hier kaum zu geben –, werden die meisten Leser*innen darin übereinstimmen, dass die Weihnachtszeit für die deutsche Gesellschaft wie für die deutsche Wirtschaft von essentieller Bedeutung ist. Wer daher also mutmaßte, dass es auch viele deutsche Weihnachtsfilme geben müsste, irrt jedoch zumindest teilweise gewaltig. Im deutschen Kinofilm sucht man nach Weihnachtsfilmen nahezu vergeblich. Im deutschen Fernsehen wird man jedoch schnell fündig, wo es unter anderem Spezialfolgen zu Weihnachten in Serien wie beispielsweise Frühling: Weihnachtswunder (D 2019, R: Michael Karen) oder etliche Weihnachts-Tatortfolgen wie Väterchen Frost (S 2011, R: Claudia Rehli), Weihnachtsgeld (D 2014, R: Zoltan Spirandelli) oder Klingelingeling (D 2016, R: Markus Imboden) und auch Fernsehfilme wie Weihnachten für 8

Vgl. https://www.welt.de/wirtschaft/article235018864/Weihnachten-In-Deutschland-w erden-die-Gaense-knapp.html?icid=search.product.onsitesearch vom 13.11.2021 (zuletzt aufgerufen am 06.07.2022).

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Einsteiger (D 2014, R: Sven Bohse) oder Weihnachten im Schnee (D 2019, R: Till Franzen) gibt. Diese Diskrepanz zwischen deutschem Kinofilm einerseits und Fernsehfilm andererseits legt nahe, dass ein Grund dafür in den Produktionsbedingungen zu suchen ist: Auf der einen Seite kann man beim deutschen Kinofilm mit Ausnahme von Komödien und Kinderfilmen kaum von einer industriellen Serienproduktion von Filmen sprechen, sondern Kinofilme entstehen in Deutschland aufgrund der deutschen Filmförderkultur zumeist als langjährige Einzelprojekte.9 Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland jedoch eine Fernsehindustrie, die seriell Fernsehsendungen und damit auch Fernsehfilme produziert. Diese serielle Produktion erlaubt auch die Planung und Vermarktung von saisonspezifischen Sendungen wie ›Weihnachtsfilmen‹.10 Man muss somit resümieren: Der Weihnachtsfilm ist in Deutschland aktuell mithin ein Phänomen der Fernsehfilme. Wie oben bereits festgehalten, geht es hier mitnichten um eine Bestandsaufnahme11 davon, wie deutsche Filme der letzten Jahre12 Weihnachten verhandeln, sondern es werden gezielt solche Filme gedeutet, die die Christmas Effects verhandeln, aber durch eine Vielstimmigkeit durchkreuzen, parodieren und kritisieren. Der so verstandene Begriff ›Queering‹ wird also deutlich 9

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Scheinpflug, Peter: »Vom Multikulti-Witz zur Genre-Politik: Noir und Fremdheit im Neuen Deutschen Genrefilm«, in: Irina Gradinari/Ivo Ritzer (Hg.), Genre und Race. Mediale Interdependenzen von Ästhetik und Politik, Wiesbaden: Springer VS 2021, S. 217241, hier S. 214. Dies wird überdeutlich in Joachim G. Staabs Aufarbeitung der Weihnachtsserien, die das ZDF seit Timm Thaler (D 1979, R: Sigi Rothemund) jährlich als Mehrteiler an den Weihnachtsfeiertagen ausstrahlte. Vgl. Staab, Joachim G.: »Alle Jahre wieder! Die Weihnachtsserien des ZDF«, in: Hans Dieter Erlinger et al. (Hg.), Handbuch des Kinderfernsehens, Konstanz: Ölschläger 1995, S. 205-216, hier S. 205f. Eine umfängliche Bestandsaufnahme wird auch dadurch erschwert, dass – wie die Fernseh- und Rundfunkforschung bestens weiß – das Fernsehen trotz Mediatheken und Zweitverwertungen durch Streaming, DVD oder Bluray-Disk noch immer insofern ein überaus flüchtiges Medium ist, da es zum einen weit mehr Programm sendet, als ein Mensch rezipieren kann, und zum anderen die meisten Sendungen nur kurzzeitig verfügbar sind, wenn sie nicht sogar nur live während der Ausstrahlung verfügbar gemacht werden. Aufgrund fehlender Forschung zu Weihnachtsfilmen im deutschen Fernsehen beruht meine Auswahl der hier vorgestellten Filme daher auf meiner eigenen Kenntnis von für meine Fragestellung relevanten Filmen und deren Verfügbarkeit während der Vorbereitung und Abfassung dieses Aufsatzes. Dieser Fokus auf aktuelle(re) deutsche Filme ist nicht argumentativ begründet, sondern resultiert schlechterdings aus meiner aktuellen Forschung zum Neuen Deutschen Genrefilm.

Subversionen von Weihnachten im deutschen Gegenwartsfilm

weiter gefasst als bei Eve Kosofsky Sedgwick, wo der Fokus noch allein auf sexual identity liegt. Entsprechend sind weder alle der hier behandelten Filme dem Queer Cinema zuzurechnen, noch geht es ihnen oder den vorgestellten Lektüren forciert um sexual identity. Im Folgenden werden drei Lektüren13 dargelegt, die voneinander unabhängig sind und jeweils eigene Strategien des Queerings von Christmas Effects verfolgen: Den Auftakt macht der Kinofilm Wenn Ediths Glocken läuten – der Film (D 2016, R: Ades Zabel, Nicolai Tegeler und Biggy van Blond), der Weihnachten als Drag entlarvt.14 Im Anschluss daran wird am Beispiel des Fernsehfilms Hit Mom – Mörderische Weihnachten (D 2017, R: Sebastian Marka) beispielhaft aufgezeigt, wie totalitär die Christmas Effects sind und wie sie eine paranoische Wahrnehmung und Lektüre bedingen.15 Den Abschluss bildet die Tatortfolge Wir kriegen Euch alle (D 2018, R: Sven Bohse), die sowohl die Funktion des Weihnachtsmanns in familiären und staatlichen Beziehungen als auch den Zusammenhang von Weihnachten und Tatort-Kommissaren verhandelt.16

Wenn Ediths Glocken läuten – Der Film Bei Wenn Ediths Glocken läuten – der Film handelt es sich um die Filmadaption des kultigen Bühnenstückes gleichen Titels, das seit 2004 alljährlich zu Weihnachten in der Berliner Kabarett Anstalt (kurz: BKA-Theater) aufgeführt wird. Wenn Ediths Glocken läuten – der Film erzählt von den drei

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Diese drei Lektüren repräsentieren in keiner Weise die vielen verschiedenen Queerings von Weihnachten im aktuellen deutschen Film. Beispielsweise geht es um ganz andere Verhandlungsfiguren in der Münsteraner Tatortfolge Väterchen Frost, in der das populärkulturelle, mit den USA assoziierte Weihnachtsmannbild mit dem Bild eines monströsen russischen Nikolaus kontrastiert wird, oder in der saarländischen Tatortfolge Weihnachtsgeld, in der die Geburt von Jesus Christus als transkulturelle Patchworkfamilie nacherzählt wird. Die hier präsentierten Lektüren, die sich ja bereits deutlich voneinander unterscheiden, unterstreichen eher die Pluralität der Queerings von Christmas Effects in aktuellen deutschen Filmen. Der Analyse und den Screenshots (Abb. 1-2) lag die folgende DVD-Edition zugrunde: Wenn Ediths Glocken Läuten – der Film (2 Discs), Edition Salzgeber, D 2016. Die nachfolgende Analyse und der Screenshot (Abb. 3) beruhen auf einer privaten Aufzeichnung der Ausstrahlung des Films im hr-Fernsehen am 24.12.2021 um 20:15 Uhr. Ausgangsbasis dieser Analyse und des Screenshots (Abb. 4) ist eine private Aufnahme der Erstausstrahlung in der ARD am 02.12.2018 um 20:15 Uhr.

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Freundinnen Edith (Adel Zabel), die gerade ihre Anstellung als Kaufhausweihnachtsmann bei Karstadt verloren hat, der Boutiquenbesitzerin Biggy (Biggy van Blond) sowie der Kneipenwirtin Jutta (Bob Schneider), die gemeinsam Weihnachten feiern wollen. Zuvor gilt es jedoch noch, einen Vibrator als Weihnachtsgeschenk für Jutta bei Karstadt zu klauen, wobei Edith und Biggy vom Kaufhausdetektiv erwischt und zum Sex miteinander gezwungen werden. Jutta hingegen will ihren griechischen Klempner vernaschen, was in einer Sex-Orgie mit allen drei Freundinnen und dem Klempner endet. Nach diesen sexuellen Eskapaden steht schließlich das gemeinsame Weihnachtsfest an, bei dem alles schiefgeht. Die drei Hauptfiguren, wie überhaupt alle Frauenfiguren, werden von Männern in Frauenkleidern und Make-Up und mit humorvoll überzogenen Manierismen gespielt, was den Film dem Queer Cinema zurechnen lässt – vertrieben wurde er von Edition Salzgeber, Deutschlands erster Adresse für Queer Cinema. Drag, das hat Judith Butler prominent dargelegt, zeichnet das subversive Potenzial aus, naturalisierte Körper-, Identitäts- und Geschlechterpolitiken in ihrer gesellschaftlichen Gemachtheit und als Performance offen zu legen.17 In Wenn Ediths Glocken läuten – der Film stehen diese subversiven Performances jedoch im Kontext der Weihnachtszeit, einem ganz eigenen Ausnahmezustand mit eben jenen in der Einleitung bereits behandelten Christmas Effects. Diese Kombination aus Drag und Christmas Effects hat im Film besondere Effekte, die im Folgenden herausgestellt werden.18

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Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. With an Introduction by the Author, London/New York: Routledge 2007, S. 186-188. Es gilt zu betonen, dass die nachfolgende Lektüre allein auf dem Film beruht, da dessen Unterschiede zur alljährlich iterierten Bühnenshow im BKA-Theater gravierend sind: Während die Kulisse auf der Bühne deutlich reduzierter ist, fällt das Schauspiel sehr viel expressiver aus. Der Film kommt also im Vergleich stilistisch eher naturalistisch daher, was laut Adel Zabel auch so intendiert war. Darüber hinaus ist die Bühnenshow mit Musical-Nummern versehen, weshalb das Stück als »Neuköllnical« beworben wird. Für die Bühnenshow müsste das Verhältnis von Christmas Effects und Drag also eigens untersucht werden. Einen Eindruck davon geben: Making-Of auf der Bonus-DVD von Wenn Ediths Glocken Läuten. Und: Bazinger, Irene: »Weihnachten ohne Soßenbinder. ›Wenn Ediths Glocken läuten‹ im BKA-Theater«, in: Berliner Zeitung vom 08.12.2015, S. 21.

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Läuten I: der Widerstreit zweier Drag-Systeme Der Film beginnt mit einer Titelsequenz, die Neukölln zur Weihnachtszeit bei Nacht zeigt. Das Bild wird dominiert von greller Weihnachtsdekoration wie unzählbar vielen Lichterketten, Rentier- und Weihnachtsmannfiguren aus Licht, güldenen Sternen und hell erleuchteten Buden eines Weihnachtsmarktes mit in Großaufnahme vor der Kamera baumelnden Lebkuchen sowie regem Treiben, während sich die Hauptfigur Biggy mit etlichen Einkaufstüten abmüht. Diese ersten Einstellungen des Films zeichnen das Bild der Weihnachtszeit, das Eve Kosofsky Sedgwick mit Christmas Effects bezeichnet hat: Absolut alles von der Straßenbeleuchtung bis zum Verhalten der Menschen ist von Weihnachten bestimmt und bildet ein sehr homogenes Weihnachtsbild. Ganz anders verhält es sich jedoch gleich darauf in Biggys Boutique: Diese ist zwar nicht weniger schrill eingerichtet, jedoch herrschen hier die Leopardenfelle, bunten Kleider und pompösen Accessoires für die Drag-Queen von Welt vor. Im Bild sind zwar auch einige wenige rote Weihnachtsmannmützen zu finden, die anzeigen, dass die Christmas Effects auch vor Biggys Boutique nicht halt machen. In der schrillen Dekoration, etwa neben dem pinken Telefon mit Plüsch, gehen sie allerdings heillos unter. Die Lichterketten und das Rot, die im ganzen Laden zuhauf vorhanden sind, fügen sich so nicht in eine Weihnachtsdekoration, sondern in das bunte und schrille Ambiente der Boutique, in der gleich die nicht minder schrillen Hauptfiguren auftreten werden. Plötzlich betritt ein Weihnachtsmann die Boutique (Abb. 1): Aufgrund des Brustumfangs muss davon ausgegangen werden, dass dieser Weihnachtsmann von einer Frau, also gleichsam cross-dressend gegeben wird. Als er demaskiert wird, kommt unter der roten Kutte jedoch die Hauptfigur Edith zum Vorschein, die ihrerseits bereits eine offensichtliche Drag-Performance ist. Die Drag-Performance Edith19 mit Kleid, Schmuck, Stimmveränderung und stereotypen Manierismen entlarvt die Weihnachtsmann-Performance mit rotem Rock, falschem Bart, verstellter Stimme und stereotypen Manierismen als nicht weniger Drag. Durch diese Parallelisierung wird Weihnachten als künstliche und exzessive Performance und damit in der Logik des Films auch

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Man könnte hier einwenden, dass Adel Zabel mehrere Frauenrollen performiert, die auch nicht alle Drag sind, und daher ein Travestie-Künstler und keine Drag-Queen ist. Jedoch hat die Kunstfigur Edith durch ihren Erfolg ein so umfassendes Eigenleben entwickelt, tritt in etlichen Bühnenshows auf und bietet sogar Führungen durch Neukölln an, dass man getrost von einer eigenen Drag-Identität sprechen kann.

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als eine verwandte Form von Drag ausgewiesen, durch die allerdings heterosexuelle und patriarchale Ideale als gesellschaftliche Konstrukte und Performances zur Kenntlichkeit entstellt werden.

Abbildung 1: Der Weihnachtsmann als doppeltes Drag.

Wenn Ediths Glocken Läuten – Der Film (2016)

Zu Filmbeginn werden so zwei Welten kontrastiert, die durch Biggys Einkaufsbummel in der Erzählwelt nebeneinandergestellt werden, aber vom Film beide als totalitär und unversöhnlich gezeichnet werden: Denn Biggy will den Weihnachtsmann sogleich als Störung ihres Drag-Paradieses aus ihrer Boutique schmeißen und das Publikum erfährt nach dessen Demaskierung, dass Edith gerade ihre Anstellung als Weihnachtsmann bei Karstadt aufgrund ihres Verhaltens verloren hat. Edith hat nämlich, ganz Drag-Queen und nicht Bad Santa, die ›Normalität‹ aller anderen und ihrer Weihnachtsrituale in Frage gestellt. Daraus resultiert in Wenn Ediths Glocken läuten – der Film ein Widerstreit20 beider Drag-Systeme um die kulturelle Vorherrschaft.

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Vgl. Lyotard, Jean-Francis: Der Widerstreit, München: Fink 1989 (2., korrigierte Auflage), insbesondere S. 9-11.

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Läuten II: die Synthese des ganz ›normalen‹ Weihnachtstrubels Wenn Edith, wie oben beschrieben, die Weihnachtsmannverkleidung ablegt und dann in der Boutique nicht nur geduldet, sondern als Freundin sogar gern gesehen wird, kann dieses Ablegen der Zeichen von Weihnachten als starke Lektüre-Anweisung verstanden werden, dass das Drag der drei queeren Freundinnen kein Weihnachten als Drag der heteronormativen Heterosexualität und des Patriarchats duldet. Und insofern ist es nur konsequent und folgerichtig, dass tatsächlich alles in den weiteren Sequenzen – sowohl bei Ediths und Biggys Einkaufstour, um für Jutta als Geschenk einen Vibrator zu kaufen, als auch in den bewusst künstlich gehaltenen ›Sex‹-Szenen mit dem Kaufhausdetektiv und später dem ›griechischen‹ Klempner – allein unter dem Vorzeichen ihres Drag steht: So wird alles forciert mit dem Themenkomplex Sexualität enggeführt und ausnahmslos parodistisch übersteigert performiert, so dass alle Rollen durch klischeehafte Übererfüllung der Stereotypen in ihrer Künstlichkeit zur Schau gestellt werden. Die Weihnachtszeit jedoch spielt bei alle dem kaum eine Rolle mehr. Dies ändert sich erst in der letzten Sequenz des Films, als bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier der drei Freundinnen die beiden Welten synthetisiert werden: Waren die Szenen vor der Weihnachtsfeier noch demonstrativ überdreht sowie überspitzt und dadurch in ihrer Künstlichkeit forciert vorgeführt, so bietet das Weihnachtsfest der drei Freundinnen zwar allerlei Chaos und Exzesse. Diese sind jedoch für eine komische Darstellung von Weihnachtsfesten überaus konventionell: Entrüstungen über beleidigende Geschenke, missratene Festbraten, Streit über den Christbaumschmuck, unerwünschter Besuch und eskalierende Spannungen, die zuvor nur schwelten – alles das ist aus bekannten Klassikern von Weihnachtskomödien wie Loriots Weihnachten (D 1978, R: Vicco von Bülow), Familie Heinz Becker: Alle Jahre wieder (D 1994, R: Marco Serafini) oder Hilfe es weihnachtet sehr bestens bekannt. Während die abenteuerlichen Eskapaden der drei Freundinnen zuvor vor Exzess und Übertreibung strotzten, worin ein gehöriges subversives Potenzial lag – man denke nur an die abstrusen, offensichtlich gespielten ›Sex‹Szenen, die jede Vorstellung von ›natürlichem‹ Körper und ›natürlicher‹ Sexualität verballhornen –, ist bei ihrer Weihnachtsfeier das Verhalten der drei Neuköllnerinnen zwar gleich geblieben, wirkt in diesem Kontext jedoch überaus konventionell. Das bedeutet allerdings den Verlust des subversiven Potenzials und, ehrlich gesagt, auch eine ermüdend gewohnte Farce, die man schon etliche Male

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so ähnlich gesehen hat. Dies kann man zum einen selbstverständlich weihnachtskritisch so deuten, dass die Christmas Effects so stark normalisierend wirken, dass sie letztlich auch das Drag der Figuren unterdrücken und sich unterordnen. Das am Anfang eingeläutete queere Aufbegehren gegen die Weihnachtszeit wäre also gescheitert – wobei Weihnachten ja sowieso eine recht queere Angelegenheit im Christentum ist, da eine Jungfrau das Kind eines Gottes, von dem man sich kein Bild machen darf, gebiert und mit Josef eine Patchworkfamilie bildet. Dieser Siegeszug der Christmas Effects kulminiert im zweiten Auftreten von Weihnachtsmännern, die mit Ediths Auftreten als Weihnachtsmann zu Filmbeginn eine dramaturgische und motivische Klammer bilden. Die Weihnachtsmänner zu Filmende werden jedoch nicht mehr von Edith gespielt, wodurch das Drag gedoppelt worden war, sondern geschlechterkonform von den zwei männlichen ›Tunten‹ Enrico-Norman (Nicolai Tegeler) und Kevin-Adriano (Stefan Kuschner). Am Filmende kann daher kein Zweifel daran vorherrschen, dass die übermächtigen Christmas Effects jedes andere Drag verdrängt haben.

Abbildung 2: Der ganz ›normale‹ Weihnachtstrubel.

Wenn Ediths Glocken Läuten – Der Film (2016)

Jedoch hat gerade die Dominanz der Christmas Effects zum anderen auch den Effekt, dass die ansonsten überzogene Drag-Performance der drei Hauptfiguren normalisiert wird. Denn beim Weihnachtsfest wirkt ihr

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Drag in keinem Moment exaltierter als der ganz ›normale‹ Weihnachtstrubel, der in Weihnachtskomödien wie den oben genannten sonst von heterosexuell inszenierten Cis-Figuren veranstaltet wird. Das birgt jedoch gehöriges (gender-)politisches Sprengpotenzial. Indem die exaltierten Drag-Performances zum ›normalen‹ Weihnachtstrubel werden, werden die vollkommen entgegengesetzten politischen Agenden deutlich: Während die Queer Culture Pluralität, Heterogenität und Diversität feiert, die keinerlei Konstruktion von Normalität zulässt, ebnen die Christmas Effects, wie Eve Kosofsky Sedgwick so treffend festgehalten hat, alle Unterschiede ein und machen alles gleich ›weihnachtlich‹. Wenn Ediths Glocken Läuten zur Weihnachtsfeier, werden so beide widerstreitenden Drag-Systeme zur (weihnachtlichen) ›Normalität‹ von Drag und Queerness synthetisiert. Und zumindest für den noch immer vorrangig von Heterosexualität bestimmten deutschen Kino- und Fernsehfilm kann das insofern als überaus subversiv gelten,21 als damit unmissverständlich festgehalten wird, dass Drag und Queerness vollkommen ›normal‹ sind.

Hit Mom – mörderische Weihnachten Bei diesem reißerischen Titel muss leider gleich zu Beginn eingewandt werden, dass er zumindest teilweise irreführend ist: Der Film handelt von einer Putzfrau (Anneke Kim Sarnau)22 , die durch Zufall entdeckt, dass ein Nachbar (Vincent Krüger) ein Auftragsmörder ist. Nach einigen Missgeschicken wird sie von seinem Komplizen, einem alle Beweise vertuschenden Polizisten (Jürgen Tarrach), dazu gezwungen, selbst Auftragsmörderin zu werden. Im

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Besonders deutlich wurde das jüngst wieder durch die Debatte rund um das #actoutManifest. Vgl. #ActOut-Gruppe: »Manifest #ActOut«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 05.02.2021, S. 13, für das begleitende Interview mit einigen der Unterzeichner*innen siehe S. 8-21. Durch die Besetzung ergeben sich freilich nicht nur weitere intertextuelle Bezüge, sondern auch weiteres humoristisches Potenzial für diese Thrillerkomödie, da beispielsweise Anneke Kim Sarnau vor allem als integre Ermittlerin im Rostocker-Polizeiruf bekannt und in Hit Mom damit gegen ihr Starimage besetzt ist oder auch Jürgen Tarrachs Rolle als korrupter Polizist als Persiflage des naiven und idealistischen Polizisten verstanden werden kann, die Jürgen Tarrach in den drei Musterknaben-Krimikomödien (D 1997, 1999 und 2003; R: Ralf Huettner) gespielt hat.

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Englischen bedeutet »hit man« Auftragsmörder, was bei dieser Thrillerkomödie zu »Hit Mom« abgewandelt wurde. Jedoch muss dies mehr als Wortspiel, denn als Lektüreanweisung verstanden werden, da glücklicherweise weder die Protagonistin auf ihre Rolle als Mutter reduziert wird, noch der Film forciert den Themenkomplex Mütterlichkeit verhandelt. Das unterscheidet ihn auch maßgeblich von John Waters bitterböser Satire Serial Mom (Serial Mom – Warum läßt Mama das Morden nicht?; USA 1994, R: John Waters), die beim Titel Hit Mom ebenfalls eher irreführend anklingt. John Waters Film hat nämlich mit Hit Mom inhaltlich wenig gemein, da die titelgebende Serial Mom aus voller Überzeugung und ohne Skrupel alle Menschen ermordet, die ihre heile bürgerliche Vorort-Ordnung bedrohen, wohingegen die Hit Mom gegen ihren Willen zu Auftragsmorden erpresst wird, die sie zunehmend emotional belasten und denen sie sich letztlich verweigert. Vor allem aber ist die Serial Mom tatsächlich allein auf ihre Rolle als devote und aufopferungsvolle Ehefrau, Mutter und Hausfrau festgelegt, was von John Waters aber freilich satirisch karikiert wird. In Hit Mom hingegen sind die Genderstereotype von Anfang an durchkreuzt, da die Hit Mom zwar Mutter und Putzfrau, aber eben auch Ernährerin und Oberhaupt der Familie ist, während ihr Ehemann als Hausmann und wiederholt als exaltierte Diva inszeniert wird. Das ist jedoch nicht das irreführende am Titel, sondern der Untertitel »mörderische Weihnachten«: Denn der Fernsehfilm spielt zwar zur Weihnachtszeit, die Handlung hat ansonsten jedoch keine besonderen Bezüge zu Weihnachten.23 Weder die Geldnot der Familie der Protagonistin ist durch Weihnachten bedingt oder verschärft, noch wird ihre Beobachtung des mörderischen Nachbarns durch Weihnachten ermöglicht und überhaupt lässt sich die Handlung kaum als Kommentar zu Weihnachten deuten. Die Weihnachtszeit als Handlungszeit wirkt vollends willkürlich, da die gesamte Handlung auch genau so zu jeder anderen Jahreszeit hätte stattfinden können. Aber die Weihnachtszeit verleiht dem Thrillergeschehen selbstverständlich eine besonders makabre Note. Aus dieser Friktion zwischen überkodierter Weihnachtszeit einerseits und davon unabhängiger Handlung andererseits ergeben sich einige wenige subversive Moment, die aufzeigen, wie wirkmächtig die Christmas Effects sind. 23

Das kommt beim deutschen Weihnachtsfilm öfter vor. Beispielsweise hätte auch die Tatortfolge Klingelingeling, in der es um osteuropäische Bettel-Banden geht, zu jeder beliebigen Jahreszeit mit derselben Handlung spielen können.

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Paranoische Lektüre I: rot, rot, rot sind alle… Dass die Weihnachtszeit als Handlungszeit keine besondere Bedeutung für die Handlung hat, zeigt sich auch daran, dass in Hit Mom nur wenige Szenen – wie ein Weihnachtsbaummarkt oder eine Weihnachtsparty – von der Weihnachtszeit bestimmt sind. Das ist insofern überraschend, da der Fernsehfilm mit einer Szene in einem festlich geschmückten, in Lichterketten erstrahlenden Kaufhaus samt einlullendem Weihnachtslied beginnt. Das Publikum wird dadurch sehr forciert auf die Weihnachtszeit als Handlungszeit eingestimmt und sollte deshalb auch erwarten dürfen, dass die Weihnachtszeit im weiteren Verlauf des Fernsehfilms sehr dominant sein wird. Der Bruch mit der so durch die Eröffnungsszene geschürten Erwartung kann zum einen als bissige Kritik an Weihnachten gedeutet werden: In Hit Mom wird Weihnachten vor allem als kommerzielles Fest vorgeführt, dessen ausladender Schmuck und Glücksversprechen wenig mehr als Marketing für den Absatz von Waren ist. Der Alltag der meisten Menschen ist hingegen nur geringfügig, meistens nur durch ein wenig saisonale Dekoration davon beeinflusst. Allein das Kaufhaus erstrahlt und ertönt in Hit Mom als pompöses Weihnachtsparadies. Zum anderen kann durch den Bruch mit der Erwartung, der Fernsehfilm würde wie die Eröffnungsszene deutlich von Weihnachten bestimmt sein, aber auch die Aufmerksamkeit des Publikums auf Zeichen von Weihnachten fokussiert werden. Und hierbei eröffnet der Film ein erstaunliches Erlebnis: Denn in den meisten Szenen sind Spuren von Weihnachten wie Weihnachtsschmuck, Adventskerzen oder Lichterketten kaum zu finden. Die meisten Szenen könnten, wie bereits erwähnt, zu jeder Jahreszeit genau so spielen (Abb. 3). Gerade vor der Folie dieses Fehlens von für Weihnachten typischen Farben, Formen und Symbolen fällt jedoch auf, dass sich die Farbe Rot sehr deutlich in den Bildkompositionen abhebt und den ganzen Fernsehfilm in dramaturgisch wichtigen Momenten durchzieht: von den knallroten Kaffeemaschinen, die der arbeitslose Ehemann der Protagonistin als neues Geschäftsmodell vom letzten Ersparten gekauft und die Familie damit an den Rande des Ruins geführt hat, über den rot lackierten Roller, mit dem die Protagonistin zunächst von Putzjob zu Putzjob und später zu den Auftragsmorden eilt, und die rot schimmernden Putzhandschuhe, mit denen sie die Spuren ihrer Taten wegputzt, bis hin zum leuchtend roten Rettungswagen, mit dem ihr der finale Coup gelingt.    

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Abbildung 3: Weihnachten… verzweifelt gesucht.

Hit Mom – Mörderische Weihnachten (2017)

In einem Thriller, der nicht zur Weihnachtszeit spielte, würde dieser ›rote Faden‹ gewiss als Mahnung der Gefahr ob des neuen blutrünstigen Jobs der Protagonistin gedeutet werden. Im Kontext des Weihnachtssettings und gerade aufgrund des Mangels an deutlichen Zeichen der Christmas Effects fallen diese roten Akzente im Bild nicht nur sofort auf, sondern werden regelrecht zu willkommenen Fundstücken auf der Suche nach Weihnachten in Hit Mom. Allerdings verläuft dieser Bezug ins Leere, denn der Farbcode, der so viele Verweise beispielsweise zum roten Rock des Weihnachtsmanns oder zu Wärme und Geborgenheit eröffnen könnte, verweist an keiner Stelle auf Weihnachten und erhält durch einen erzwungenen Weihnachtsbezug auch kein nennenswertes Surplus an Sinnstiftung. Dem Publikum kann so vor Augen geführt werden, wie wirkmächtig die Christmas Effects sein können, da man aufgrund der Überkodierung von Weihnachten und der Gewohnheit, dass zur Weihnachtszeit alles unter einem weihnachtlichen Vorzeichen steht, dazu verleitet werden kann, geradezu paranoisch24 alle Zeichen auf Weihnachten zu beziehen und ihnen einen weih24

Mit »paranoisch« ist hier eher umgangssprachlich gemeint, dass alle Zeichen allein auf einen Sinn hin bezogen und gedeutet werden, und nicht das »paranoid reading« in der Tradition von Eve Kosofsky Sedgwicks Verwendung des Begriffs. Vgl. Sedgwick,

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nachtlichen Sinn zuzuschreiben, obwohl sie sich kohärenter konventionell deuten lassen. Oder zugespitzter formuliert: Hit Mom gleicht einer Übung für das Publikum in der selbstkritischen Erkenntnis: Rot ist rot ist rot – und nicht weihnachtlich rot.

Paranoische Lektüre II: weihnachtliche Hypersensibilität Wenn gegen Ende des Fernsehfilms zunächst die Hit Mom und dann ihr mörderischer Nachbar im Kaufhaus auf dem Stuhl des Weihnachtsmanns Platz nehmen, wird zwar der Bezug eröffnet, dass Auftragsmörder*innen wie auch der Weihnachtsmann Wünsche erfüllen, und die unangenehme Frage aufgeworfen, wie der Weihnachtsmann sich verhalten würde, wenn amoralische Wünsche an ihn gerichtet würden. Jedoch bilden solche Momente, in denen die Handlung enger mit dem Weihnachtssujet verbunden wird, eben die Ausnahme in Hit Mom. Während die Kombination aus amoralischer Thrillerkomödie und Weihnachtssujet in solchen raren Momenten ein Potenzial für subversive Reflexionen über Weihnachten eröffnet, kippt diese Konfiguration in anderen Szenen ins Geschmacklose. Besonders deutlich wird dies beim vorletzten Auftrag der Protagonistin, für den sie sich auf eine Feier der Zielperson schmuggeln muss, bei der das Weihnachtsthema vor allem zur Vorführung von nackter Haut genutzt wird. So treten beispielsweise die Kellner als halbnackte Weihnachtselfen auf oder die Zielperson spielt einen Golfball von der nackten Brust einer Frau. Dieses herabwürdigende Verhalten der Zielperson wird später – im Sinne einer poetic justice – mit dem Tod durch Erhängen ›bestraft‹, wozu ausgerechnet, passend zu Weihnachten, Jingle Bells ertönt. Diese Sequenz wirkt geschmacklos, da zum einen das sexistische Treiben auf der Party wenig weihnachtlich, nämlich friedlich, heimelig oder romantisch, anmutet und da zum anderen die heitere musikalische Begleitung zum Bild des wie eine Glocke baumelnden Erhängten überaus zynisch und regelrecht gewaltverherrlichend ist. Ohne den Weihnachtsbezug fiele dieselbe Inszenierung jedoch eher konventionell aus: Ein Opfer von Gewalt wird als dekadenter und diskriminierender Sexist inszeniert, um dadurch die spätere Gewalt durch eine Frau zu

Eve Kosofsky: »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You«, in: dies., Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham und London: Duke University Press 2003, S. 123-151.

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legitimieren. Vor dem Hintergrund des Weihnachtssujets erscheint diese Inszenierung jedoch aufgrund der Überkodierung von Weihnachten als Fest der Liebe und des Friedens sehr viel amoralischer. Dadurch wird dem Publikum letztlich die unangenehme Frage an den Kopf geworfen, ob es zu Weihnachten höhere moralische und ethische Werte annimmt und damit entweder zur Weihnachtszeit oder aber sogar den Rest des Jahres verlogen ist.

Tatort: Wir kriegen euch alle Das Motiv des Weihnachtsmanns als monströsem Eindringling in das eigene Heim, der das Vertrauen und den Glauben an seine Gutmütigkeit auch missbrauchen könnte, ist vor allem aus Horrorfilmen wie den Silent Night, Deadly Night-Filmen (Stille Nacht – Horror Nacht; USA 1984, 1987, 1989, 1990 und 2012, R: diverse), You Better Watch Out (Böse Weihnachten; USA 1980, R: Lewis Jackson), 36.15 code Père Noël (Deadly Games – Stille Nacht… Tödliche Nacht…; F 1989, R: René Manzor), Santa’s Slay (Santa’s Slay – Tödliche Weihnachten; USA, CAN 2005, R: David Steimann) oder auch der Tales from the Crypt-Folge And All Through the House (USA 1989, R: Robert Zemeckis) bestens bekannt. In der Tatortfolge Wir kriegen euch alle gewinnt dieses inzwischen durch seine Iteration zum Klischee verkommene Motiv jedoch eine besondere Wendung dadurch, dass es mit dem Themenkomplex sexualisierte Gewalt gegen Kinder zusammengebracht wird. Wir kriegen euch alle handelt von einem Serienmörder (Leonard Carow), der mittels einer Smart-Puppe, die über Mikrophon und Lautsprecher samt Internetverbindung verfügt, Vertrauen zu Kindern aufbaut und zugleich Beweise dafür sammelt, dass sie Opfer sexualisierter Gewalt ihrer Väter sind.25 Wenn entsprechende Beweise auf Tonband vorliegen, kündigt 25

In dieser Tatortfolge sind, ohne dass dies weiter thematisiert würde, alle pädosexuellen Täter ausnahmslos Väter. Dieser Befund ist insofern eine besondere Erwähnung wert, als auch Weihnachten als exzessives Fest des Patriarchats verstanden werden kann: Gefeiert wird die Geburt des Sohnes des göttlichen Vaters, der allen Menschen das Leben geschenkt hat, die an Weihnachten ihrerseits beschenkt werden von einem wohlwollenden alten weißen Mann. Dass der Serienmörder, der selbst als Kind ein Opfer der väterlichen sexualisierten Gewalt war, sich ausgerechnet als Weihnachtsmann maskiert, kann daher auch so gedeutet werden, dass ein Opfer des Patriarchats eine von dessen Gallionsfiguren gegen die Väter und damit gegen das Patriarchat selbst als

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die Puppe den Besuch des Weihnachtsmanns an, den das Kind ins Haus lassen soll (Abb. 4). Als Weihnachtsmann verkleidet erscheint der Mörder, gibt dem Kind mit Schlafmittel versetzte Plätzchen und ermordet dann dessen Eltern mit einer Machete. Der Mutter durchschneidet er im Schlaf die Kehle und dem gefesselten sowie geknebelten Vater schneidet er die Genitalien ab, so dass beide verbluten. Am Tatort hinterlässt er im Bett einen Kinderschlafanzug und an der Wand die mit Blut geschriebenen Schriftzüge »25 – II« – ein Verweis auf den Paragraphen im Strafgesetzbuch zur Mittäterschaft – sowie »Wir kriegen euch alle«, um die Tat als Bestrafung für die sexualisierte Gewalt des Vaters und deren Duldung durch die Mutter erkennen zu lassen.

Abbildung 4: Der Weihnachtsmann als der letzte Vertraute missbrauchter Kinder.

Tatort: Wir Kriegen Euch Alle (2018)

Dies alles offenbart die Tatortfolge jedoch bereits nach rund 13 Minuten und der Serienmörder tritt auch nur zu Beginn und ganz zum Ende mit der Maske des Weihnachtsmanns auf. Dazwischen verhandelt die Tatortfolge über verschiedene Plotstränge Fragen zu Vertrauen und zum Missbrauch von Vertrauen, die in der Figur des vigilanten Weihnachtsmannes kulminieren.

Waffe einsetzt. Insofern ist auch die Machete als Tatwaffe weniger reißerischer ›Overkill‹, als vielmehr ein Einsatz einer überbordend phallisch überkodierten Waffe gegen die Vorherrschaft der Väter.

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Mit Jean Baudrillards »Logik des Weihnachtsmanns« lässt sich Wir kriegen euch alle als clevere Entfaltung von Vertrauensverhältnissen deuten.

Die Logik des Weihnachtsmanns I: das Vertrauen in die elterliche Fürsorge Mit Blick auf die von dieser Tatortfolge praktizierte Gegenüberstellung des Weihnachtsmanns als Rächer der Kinder, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, einerseits und der das Vertrauen der Kinder missbrauchenden Väter andererseits sind die Ausführungen zur »Logik des Weihnachtsmanns« aufschlussreich: Jean Baudrillard geht davon aus, dass Kinder durchaus die reale Existenz des Weihnachtsmanns bezweifeln und auch die Weihnachtsgeschenke nicht auf ihn kausal zurückführen mögen. Dem zum Trotz erlaube der gemeinsame »Glaube an den Weihnachtsmann«26  – genauer träfe es vielleicht: die gemeinsame Performanz von Weihnachtsmann-Ritualen von der Wunschliste bis hin zum Beschenkt-Werden – es Kindern und Eltern, weiterhin an einer besonders innigen und persönlichen Beziehung festhalten zu können, die von dem bedingungslosen Vertrauen des Kindes in die ebenso bedingungslose Fürsorge der Eltern und die Wunscherfüllung geprägt ist: Was das Kind mit diesem Bild [des Weihnachtsmanns, P.S.], mit dieser Funktion, mit diesem Alibi konsumiert und an das es glauben würde, selbst wenn es nicht mehr glaubte, ist diese wunderbare elterliche Fürsorge und Pflege, mit der es Vater und Mutter umgeben, um Komplizen dieses Weihnachtsmärchens bleiben zu können, wobei die Geschenke diesen Kompromiß bloß sanktionieren.27 Unabhängig davon, ob man Jean Baudrillards eher skizzenhafter Darlegung der »Logik des Weihnachtsmanns« zustimmt, kommt darin doch zum Ausdruck, dass der »Glaube an den Weihnachtsmann«, der gemeinhin nicht als Störung im eigenen Heim, sondern als vertrauter Wunscherfüller gilt, zur Aushandlung eines grundlegenden Vertrauens von Kindern wie von Eltern in die elterliche Fürsorge und in das Vertrauen des Kindes darin dient. Denn, so zynisch das klingen mag, auch die Eltern wollen in das Vertrauen des Kindes vertrauen, gerade wenn sie ihr Kind für sexualisierte Gewalt missbrauchen 26 27

Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 205-207, hier S. 206. Ebd.

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wollen. Mit diesem Lektüreschlüssel lässt sich der Tatort Wir kriegen euch alle so deuten, dass der Weihnachtsmann als Ausdruck der bedingungslosen Fürsorge der Eltern ein Eigenleben entwickelt und Eltern wegen deren Missbrauchs des Vertrauens des Kindes wie des Kindes selbst bestraft. Die Tatortfolge Wir kriegen euch alle setzt vor allem das Bedürfnis der Kinder, jemandem bedingungslos zu vertrauen und von dieser Instanz umsorgt zu werden, wiederholt in Szene, wenn die Kinder den Smart-Puppen alle Qualen und Ängste anvertrauen. Besonders deutlich wird dieses Bedürfnis in der Figur des Mädchens (Lilly Walleshauser), das den Mörder zu seiner letzten Tat ins Haus der Eltern (Stephan Schad und Elisabeth von Koch) lässt: Denn obwohl das Kind zuvor gegenüber anderen Kindern behauptet hat, dass es keinen Weihnachtsmann gäbe, und es dies sogar dem als Weihnachtsmann maskierten Täter noch ins Gesicht sagt, gehorcht es doch seinen Anweisungen. Nach der Demaskierung des Täters betritt in der finalen Sequenz des Films Kommissar Batic, gespielt von Miroslav Nemec, das Kinderzimmer, und das aufgeweckte Kind fragt ihn nur, ob er der echte Weihnachtsmann sei. Die Frage des Mädchens mag zunächst skurril anmuten, da der Kommissar in seiner Alltagskleidung und ohne Bart, wenn überhaupt, durch sein weißes Haupthaar vage an den Weihnachtsmann gemahnen mag. Doch mit Jean Baudrillard lässt sich die ernsthafte Frage des Kindes, die keiner Realitätsprüfung standhielte, als Kulminationspunkt der Verhandlungen des Films deuten, dass eben auch aufgeklärte Kinder an den Weihnachtsmann glauben wollen bzw., dies mit Jean Baudrillard gewendet, am bedingungslosen Vertrauen in eine Instanz, die ebenso bedingungslose Fürsorge garantiert, festhalten wollen.

Die Logik des Weihnachtsmanns II: das Vertrauen in die staatliche Fürsorge Die bittere Pointe dieser Tatortfolge besteht letztlich darin, dass das ältere, mehrheitlich mutmaßlich erwachsene Zielpublikum dieses Formats selbst wohl kaum mehr an den Weihnachtsmann glauben wird. Dennoch glaubt es nicht weniger, denn nach Jan Philipp Reemtsma beruht die Gemeinschaftsfähigkeit der Menschen in der Moderne auf dem Vertrauen in die Fürsorge

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des Staates, der seine Bürger*innen vor jeglicher Gewalt schützen soll.28 Die Tatortfolge hat zuvor jedoch genau dieses Vertrauen forciert untergraben, indem sie vorführt, dass bei Verdachtsfällen Institutionen wie Opfervereine und sogar die Polizei im Regelfall – wenn sie keine illegale Abhörung durchführt, wie es in Wir kriegen euch alle geschieht, aber auch problematisiert wird – die Kinder vor der sexualisierten Gewalt nicht schützen können.29 Wer also nicht an den Weihnachtsmann glaubt, darf nach diesem Tatort auch nicht an einen staatlichen Schutz der Kinder vor sexualisierter Gewalt glauben. Und eben diese bittere Erkenntnis, dass das Vertrauen in die Fürsorge des Staates ebenso fragil ist wie das in den Weihnachtsmann, konfrontiert das Publikum damit, ob es nicht auch – allem zum Trotz, was die Tatortfolge bis zuletzt erzählt hat – an einen Weihnachtsmann, an eine übergeordnete, fürsorgliche – und womöglich auch strafende – Instanz glauben will.30 Allerdings wird auch das Vertrauen des Vigilanten im Weihnachtsmannkostüm, der selbst als Kind Opfer der sexualisierten Gewalt seines Vaters war, von einem jungen Mann (Jannik Schümann) missbraucht. Dieser belügt ihn, er sei auch Opfer der sexualisierten Gewalt seines Vaters gewesen, um ihn ohne Beweise zum Mord an seinen Eltern und an seiner Schwester im Kindesalter anzustiften, damit er – was er aber freilich verschweigt – Alleinerbe ist. Bis in die Instanz des Vigilanten hält die Tatortfolge Wir kriegen euch alle damit dem Publikum vor, dass alle Figuren jemandem vertrauen wollen, wodurch sie für Manipulation oder sogar Missbrauch anfällig werden. Das happy ending der Tatortfolge ist damit hochgradig trügerisch, da zwei unschuldige Eltern tot sind und der Serienmörder zwar verhaftet wird, dadurch jedoch andere Kinder weiterhin schutzlose Opfer von sexualisierter Gewalt sein werden, wie die Tatortfolge zuvor unmissverständlich proklamierte. Wer das alles dennoch als happy ending annimmt, will an ein happy ending allem zum Trotz glauben. Wir kriegen euch alle gewinnt damit meta-, selbst- und medienkritische Qualitäten, da dem Publikum sein Wunsch nach 28

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Reemtsma, Jan Philipp: »Gewalt und Vertrauen. Grundzüge einer Theorie der Gewalt in der Moderne«, in: ders., Gewalt als Lebensform. Zwei Reden, Stuttgart: Reclam 2016, S. 29-55, hier S. 40-43. Dieses Problem wird in vielen Filmen über Kinder als Opfer von sexualisierter Gewalt wie beispielsweise Miss Violence (G 2013, R: Alexandros Avranas) oder Operation Zucker (D 2012, R: Rainer Kaufmann) eingehend behandelt. Dies ist ja der Reiz vieler Vigilantismuserzählungen wie Dirty Harry (USA 1971, R: Don Siegel) oder Death Wish (Ein Mann sieht rot; USA 1974, R: Michael Winner) als zeitweise Partizipation an der Fantasie einer illegal erwirkten poetic justice.

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Kriminalerzählungen vorgehalten wird, deren happy ending das Gewaltmonopol des Staates und seine Fürsorge in Form des Schutzes vor weiterer Gewalt reproduziert und damit schlussendlich das Vertrauen des Publikums in die staatliche Fürsorge stärkt. Dass Kommissar Batic am Ende der Tatortfolge seiner unweihnachtlichen Erscheinung zum Trotz gefragt wird, ob er der echte Weihnachtsmann sei, bringt nur auf den Punkt, dass die Figur des Kommissars in konventionellen Kriminalerzählungen mit happy ending tatsächlich wie der Weihnachtsmann ist, da er einer stetigen Aushandlung des Vertrauens in die staatliche Fürsorge dient, wie es der Weihnachtsmann nach Jean Baudrillard für das Vertrauen in die elterliche Fürsorge ist. Wir kriegen euch alle hält dem Publikum so einen Spiegel vor, auf dass es erkenne, dass die Logik des Weihnachtsmanns,31 der bedingungslose Wunsch, an eine bedingungslose Fürsorge glauben zu können, es selbst noch als Erwachsene (die ja freilich einst auch Kinder waren) bestimmt und manipulierbar macht für vertraute Personen, staatliche Institutionen und kollektive »Märchen«32 wie den Tatort selbst.

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Jean Baudrillard nutzt diese Logik des Weihnachtsmann auf eine ähnliche Weise, um zu erklären, wie Placebos und vor allem Werbung funktionieren, und kommt zu dem Schluss: »Das ist die Erklärung für die sehr reale Wirksamkeit der Werbung, die zwar nicht gemäß der Logik des Reiz-Reflex-Systems arbeitet, aber dennoch nach einer folgerichtigen Logik verläuft: nach der Logik des Glaubens [an das Versprechen der Sorge und Wunscherfüllung, P.S.] und der Regression [in ein Stadium des kindlichen Vertrauens in die elterliche, v.a. mütterliche Fürsorge, P.S.].« (Ebd., S. 207) Jean Baudrillard bezeichnet den Weihnachtsmann explizit als »Märchen« in: J. Baudrillard: System der Dinge, S. 206.

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Wiederholung, Differenz, Exzess. Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life Roxanne Phillips

Im Folgenden gilt es, dem Titel des Projekts Weihnachtsfilme lesen in seiner produktiven Doppeldeutigkeit nachzuspüren. Einerseits werden Lektüreverfahren entfaltet, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Weihnachtsfilmen zum Tragen kommen, andererseits ist danach zu fragen, welche Strategien Weihnachtsfilme selbst entwerfen, um sowohl das Weihnachtsfest als auch das eigene Genre zu lesen und zu etablieren. Hierfür setzt der Beitrag das Melodrama It’s a Wonderful Life (USA 1946, R: Frank Capra) in Bezug zu der postmodernen Horror-Komödie Gremlins (USA 1984, R: Joe Dante). Es handelt sich dabei um zwei Weihnachtsfilme, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, aber genau deshalb Einsichten in das Genre bieten. In den Filmen entwickelte Lektüre- und Interpretationsverfahren, die strukturelle Bezüge zum Weihnachtsfest aufweisen, werden unter Betrachtung von Plot, Darstellungsverfahren und medialer Selbstreflexivität konturiert. Diese Verfahren richten ihre Aufmerksamkeit auf Wiederholungen, auf Differenzstrukturen und/oder auf spektakuläre Exzesse. Herausgearbeitet wird, dass Gremlins die auf Ähnlichkeiten fokussierte Lesestrategie von It’s a Wonderful Life aufgreift und entstellt: Mit Horror- und Komikelementen durchkreuzt Gremlins die Sentimentalität des Melodramas, um die affektiven Wirkungen des Genres und des Mediums kenntlich zu machen. Darauf aufbauend kann It’s a Wonderful Life einer Relektüre unterzogen werden, die zeigt, wie bereits das Melodrama sowohl Weihnachten als auch Weihnachtsfilme als kulturell hochwirksame Konstruktionen verhandelt, die Begehren medial evozieren, aber nie zu erfüllen in der Lage sind.

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Alle Jahre wieder kommt das Christuskind (Wiederholung) Neben Meet Me in St. Louis (USA 1944, R: Vincente Minnelli) oder Miracle on 34th Street (USA 1947, R: George Seaton) gehört Frank Capras It’s a Wonderful Life heute zu den unumstrittenen Klassikern des USamerikanischen Weihnachtsfilms. Dabei war das Melodrama bei Erscheinen weder besonders erfolgreich noch als Christmas movie vorgesehen; ursprünglich hätte es Ende Januar 1947 in die Kinos kommen sollen.1 Nichtsdestotrotz greift bereits die Titelsequenz auf ein im anglophonen Raum verbreitetes Ritual der Adventszeit zurück. In Kalligrafie präsentiert der Vorspann die Namen der Schauspieler*innen und Filmstabmitglieder auf Karten mit weihnachtlichen Motiven, zu sehen sind schneebestäubte Landschaften und Schlittenfahrten, Santa Claus und glitzernd dekorierte Tannenbäume. Das im Filmtitel angekündigte ›wundervolle Leben‹ bezieht sich dennoch weniger auf diese symbolisch verdichtete wunderbare Weihnachtszeit. Wie die Weihnachtskarten im Vorspann indizieren,2 geht ein wundervolles Leben aus Praktiken der Reziprozität hervor. Über das Verschicken und Empfangen von Weihnachtskarten erkennen sich Menschen wechselseitig an und versichern sich gegenseitig ihr Wohlwollen, worüber alle Jahre wieder Gemeinschaft konstituiert wird. Erst wenn Individuen in eine solche Gemeinschaft eingebettet sind, wird das Leben auch wundervoll, wie der Film erzählt. Wundervoll sieht es in It’s a Wonderful Life aber lange nicht aus. Jahrzehnte der Aufopferung werden nicht belohnt, sondern treiben den Protagonisten George Bailey (James Stewart) in den Ruin, weshalb er sich an Heiligabend zu ertränken droht. Schutzengel Clarence (Henry Travers) kann das zwar abwenden, doch George besteht auf dem Wunsch, nie geboren worden zu sein. Clarence versetzt ihn deshalb in eine alternative Realität, in der George tatsächlich nie existierte. Für seine Nächsten erweist sich diese Welt als ein Albtraum. Georges Bruder Harry verstarb als Kind, weshalb seine finanziell 1

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Da die Arbeiten an einem anderen Film stockten, erhielt It’s a Wonderful Life dessen Erscheinungstermin und wurde auf Dezember 1946 vorgezogen. Die Einnahmen konnten die hohen Produktionskosten nicht wettmachen. Vgl. dazu die mit vielfältigem Archivmaterial ausgestattete Publikation von Basinger, Jeanine: The It’s a Wonderful Life Book, New York: Alfred A. Knopf 1986, S. 52-60. Vgl. zu dieser Praxis in den USA den ebenso informativen wie reich bebilderten Ausstellungskatalog von Ames, Kenneth L. (Hg.), American Christmas Cards. 1900-1960, New York: Bard Graduate Center 2011.

Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life

auf sich gestellte Mutter das Familienheim untervermieten muss; der tatterige Onkel wurde ins Irrenhaus abgeschoben; Georges Bekannte Violet verdingt sich in einem schäbigen Tanzclub und aus Ehefrau Mary wird eine kinderlose Spinster-Bibliothekarin. Sie alle leben nicht mehr in der idyllischen Kleinstadt Bedford Falls, sondern in einem anonymen, von Sex, Alkohol und sinnlosem Konsum geprägten urbanen Raum namens Pottersville. Dazu kommt es, weil sich primär George gegen die ausbeuterischen Geschäftspraktiken des rücksichtslosen, nur an Profit interessierten Mr. Potter wehrte – eine Figur, die an Ebenezer Scrooge aus Charles Dickens’ A Christmas Carol (1843) angelehnt ist. Viele seiner Bekannten leben aber nun in Potters Slums, anstatt ihren Traum vom bescheidenen Eigenheim mit Unterstützung von Bailey Brothers Building and Loan, Georges auf Wohlfahrt ausgerichtetem Kreditinstitut, zu verwirklichen. Mit der düsteren Welt von Pottersville konfrontiert, versteht George, dass sein Dasein positiven Einfluss auf das Wohlergehen der Menschen in Bedford Falls ausübt. Er erkennt seinen Wert für die Gemeinschaft, wird aus der alternativen Realität entlassen und kehrt, wundersam transformiert, in sein wirkliches Leben zurück. Hier tragen am Weihnachtsabend alle Personen, denen er zuvor half, ihr Erspartes zusammen, um George vor Bankrott und Gefängnis zu bewahren. Dieser Bescherungsakt wird als ein Weihnachtswunder gerahmt, Ehefrau Mary (Donna Reed) nennt ihn ausdrücklich »a miracle«. It’s a Wonderful Life begreift die mit Pathos inszenierten Gesten der Mitmenschen dabei nicht als ein göttliches Wunder, sondern als das Wunder kommunaler Reziprozität, als ein anerkennendes Aufgreifen und Wiederholen der gemeinnützigen Taten, die George im Leben vollbringt. Am Weihnachtsabend wird der Protagonist, der dem Leben bereits abgeschworen hatte, wieder in die Gemeinschaft integriert, die wie zur Selbstvergewisserung Auld Lang Syne singt. Spätestens mit Georges erneuter Menschwerdung durch seine Rückkehr in den kommunalen Zirkel kann der Film ihn mit Jesus alliieren und seine (für das Melodramatische relevante)3 moralische Lesbarkeit sichern. Denn zu seinem wundervollen Leben gelangt George, indem er für Familie und Gemeinschaft Sorge trägt. Seine Aufopferung ist eine selbstlose, er gibt sogar den langgehegten Wunsch auf, die Welt zu bereisen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Das kurz nach dem Zweiten 3

Vgl. dazu Williams, Linda: »Melodrama Revised«, in: Nick Browne (Hg.), Refiguring American Film Genres. History and Theory, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1998, S. 42-88.

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Weltkrieg produzierte Melodrama stellt so dem soldatischen Helden (Bruder Harry) den ebenbürtigen Alltagshelden George an die Seite. Anhand von Lektüren, die den Plot in ein christliches Licht rücken oder George als figura Christi entwerfen, hat die Forschung Capras Film häufig zu entschlüsseln gesucht.4 Damit folgt sie einem Leseverfahren, das It’s a Wonderful Life in einer autoritativen, ja nahezu göttlichen Direktive selbst anbietet. Zu Beginn des Films erreichen den Himmel zahlreiche Gebete, Gott möge George helfen. Daher rufen zwei Figuren namens Joseph und Franklin wiederum Clarence herbei, der schützend intervenieren und George vom Suizid abbringen soll. Um Clarence auf die Aufgabe vorzubereiten, zeigen sie ihm in einem medial selbstreflexiven Manöver eine filmische Retrospektive ausgewählter Höhe- und Tiefpunkte aus Georges Leben. Schutzengel Clarence wird damit in eine Situation versetzt, die derjenigen der Zuschauenden im Kinosaal ähnelt. In der ersten Szene der Analepse rutschen Kinder einen verschneiten Hang herab und gleiten über den teilweise gefrorenen Fluss. Joseph weist Clarence im Voiceover an, die Augen aufzusperren, und fügt zur Aufmerksamkeitssteuerung hinzu: »Something happens here you’ll have to remember later on.« Georges Bruder Harry rutscht über die Eisfläche hinaus und fällt in das gefährlich rauschende Wasser. Ohne sich zu bedenken, springt der junge George hinterher, zieht seinen Bruder aus der Tiefe und koordiniert seine Freunde zur Menschenkette; gemeinsam retten sie Harry vor dem Tod. Wie sich später herausstellt, hat Clarence aufgepasst und die himmlische Anweisung befolgt. Nach dem Ende der langgezogenen Retrospektive steht der nun erwachsene, niedergeschlagene und betrunkene George auf einer Brücke. Sein Onkel verliert kurz zuvor die Gelder ihres Kreditinstituts, es läuft ein Verfahren wegen Veruntreuung, das George ins Gefängnis bringen und seine Familie mittellos hinterlassen könnte. Verstirbt er aber, erhielte sie aufgrund seiner Lebensversicherung zumindest ein Einkommen. Als Hintergrundmusik wird Dies Irae angespielt, eine Folge von vier düster wirkenden 4

Vgl. exemplarisch Leonard, Garry: »What Grows in This Stony Rubble? Melodrama in It’s a Wonderful Life and The Waste Land«, in: Film International 75 (März 2016), S. 6882, hier S. 72-77; Riccomini, Donald R.: »Christian Signature and Archetype in Frank Capra’s It’s a Wonderful Life«, in: Journal of Religion & Film 13/1 (2009), o.S.; Garbowski, Christopher: »Community and Comedy in Frank Capra’s It’s a Wonderful Life«, in: Logos 10/3 (2007), S. 35-47; Costello, Matthew: »The Pilgrimage and Progress of George Bailey: Puritanism, It’s a Wonderful Life, and the Language of Community in America«, in: American Studies 40/3 (1999), S. 31-52.

Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life

Tönen, die in Metropolis (D 1927, R: Fritz Lang) und später in Horrorfilmen wie The Shining (USA 1980, R: Stanley Kubrick) besonders beklemmende Szenen begleitet.5 Wie in der Kindheitsszene ist es Winter und der Fluss hochgefährlich. Clarence erkennt diese Ähnlichkeiten, erinnert sich an den Mut und die Selbstlosigkeit des jungen George, als Bruder Harry im Wasser unterzugehen drohte, und setzt auf Wiederholung: Er springt selbst in die Fluten, ruft um Hilfe, George hechtet hinterher und zieht ihn an Land. Damit kommt Clarence dem Selbstmord Georges zuvor; insofern rettet er den Protagonisten, während dieser ihn – in einem Akt der Gegenseitigkeit – vor dem Ertrinken rettet. Die himmlische Leseanweisung, die Lebensgeschichte Georges bzw. den Film nach strukturellen Wiederholungen zu durchsuchen, kann als eine Variante der Figuraldeutung begriffen werden. Nach Erich Auerbach etabliert die frühchristliche Realprophetie hierfür komplexe zeitliche Relationen: Elemente des Alten Testaments werden als verschleierte Verkündigungen – als figurae – von Ereignissen verstanden, die sich später im Neuen Testament erfüllen, so erscheint der alttestamentliche Moses als Verheißung Christi oder die Arche Noah als figura der späteren christlichen Kirche.6 Aus der Position einer Retrospektive also werden die zeitlich ›vor‹ dem Neuen Testament gelegenen Geschehnisse des Alten Testaments als Vorausdeutungen des Neuen Bundes gelesen. Augustinus erweitert dieses Zeitgefüge um die noch ungeschehene Zukunft und konstruiert damit »einen dreistufigen Vollzug: das Gesetz oder die Geschichte der Juden als prophetische figura für Christi Erscheinen; die Inkarnation als Erfüllung dieser figura, und zugleich als neue

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Vgl. zu Dies Irae im Horrorfilm Donnelly, K. J.: The Spectre of Sound. Music in Film and Television, London: British Film Institute 2005, S. 47f. Als Stummfilm verfügt Metropolis nicht über eine Tonspur, allerdings komponierte Gottfried Huppertz, der bereits die Dreharbeiten am Klavier begleitete, einen orchestralen Soundtrack sowie eine Klavierversion, auf die bei Aufführungen zurückgegriffen werden konnte. Vgl. zu Dies Irae in Huppertz’ Soundtrack Audissino, Emilio: »Gottfried Huppertz’s Metropolis: The Acme of ›Cinema Music‹«, in: K. J. Donnelly/Ann-Kristin Wallengren (Hg.), Today’s Sounds for Yesterday’s Films. Making Music for Silent Cinema, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan 2016, S. 45-63, hier S. 53. Auerbach, Erich: »Figura« [1938], in: Friedrich Balke/Hanna Engelmeier (Hg.), Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des Figura-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 121-188, hier S. 149.

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Verheißung von Weltende und Jüngstem Gericht; und schließlich das künftige Eintreffen dieser Ereignisse als endgültige Erfüllung«,7 so Auerbach. Es liegt auf der Hand, dass manche Weihnachtsfilme mit christlichen Referenzen operieren. Häufig nehmen sie hierüber die dreistufige Zeitrelation und die Lektürestrategie der Figuraldeutung in sich auf: Advent und Heiligabend erinnern schließlich rückblickend an die Menschwerdung Gottes bzw. die Geburt Jesu, kündigen aber zugleich eine noch ausstehende Wiederkunft des Messias an (adventus Domini). Im Fall von It’s a Wonderful Life mag George der historischen Person Jesu zeitlich nachgeordnet sein, doch aufgrund der Gemeinschaft der Nächstenliebe, die er mit seinen aufopfernden Tätigkeiten hervorbringt, ist er als figura des kommenden, zukünftigen Messias lesbar. Das lädt den Protagonisten und seine Lebensgeschichte mit Bedeutung auf, insbesondere, wenn das Publikum die mit autoritativer Stimme geforderte Lektürepraxis des Himmels eingeübt hat und wie Clarence in der Lage ist, Ähnlichkeiten in Momenten der Wiederholung zu erkennen, um Schlüsse zu ziehen und Sinn zu generieren. Das, worauf es wirklich ankommt, so legt es dieses Lektüreverfahren nahe, bleibt trotz etwaiger Abweichungen gleich. Innig scheint dies selbst mit einem säkularisierten Weihnachtsfest verbunden zu sein. Zwar interessiert sich ein solches womöglich weniger für religiöse Ereignisse, es wird aber doch anhand eines Bündels ritualisiert wiederkehrender kultureller Gebräuche und Praktiken hervorgebracht. Ob bei der Bescherung en famille oder unter Freunden, ob beim Austausch von Weihnachtskarten im Bekanntenkreis, wie oft in Weihnachtsfilmen inszeniert, die wechselseitigen Akte der Jahreszeit tragen dazu bei, dass sich Gemeinschaften immer wieder neu festigen. An der Konstitution von Gemeinschaften sind populäre Unterhaltungsmedien wie Weihnachtsfilme ebenfalls beteiligt, wie sich mit Lauren Berlant argumentieren lässt. Berlant bezieht sich zwar auf Genres der women’s culture wie Melodrama oder chick lit, die Grundannahmen lassen sich aber auf andere Artefakte der Populärkultur übertragen, v.a. wenn diese ihre Aufmerksamkeit auf soziale Anerkennungsmechanismen richten. Zunächst, so Berlant, weisen die Erfahrungen und Krisen der Figuren, ihre manchmal scheiternden Versuche, ambige Situationen zu navigieren, identifikatorisches Potenzial auf, womit sich Zuschauenden das Gefühl vermittelt, dass sie wie andere auch, d.h.

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Ebd., S. 152.

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›normal‹ sind.8 Zugleich erzeugen die Genres der women’s culture – und das gilt m.E. analog für Weihnachtsfilme – eine gewisse Intimität, betreffen die darin verhandelten Belastungen doch häufig nachbarschaftliche und kollegiale, freundschaftliche, familiale und amouröse Beziehungen. Diese sind zwar im größeren Gefüge des Politischen verankert, sie werden aber, wie Berlant festhält, vorrangig als privat-persönliche, intime Angelegenheiten inszeniert.9 Personen wie man selbst, so die Suggestion, ringen mit vergleichbar komplexen Situationen und indem deren Anstrengungen in fiktionalen Plots dargestellt, wahrgenommen und gewürdigt werden, erfahren Rezipient*innen implizit Anerkennung für die eigenen Mühen und Bewältigungsmechanismen. Für Berlant geht hieraus eine diffuse Zugehörigkeit zu und emotionale Bindung an die anonyme Gruppe ähnlich empfindender Zuschauer*innen hervor, die sie als intimate public fasst.10 Dieser Prozess könnte als ein reziproker Akt der Anerkennung zwischen Film und Rezipient*innen verstanden werden, im Zuge dessen eine Gemeinschaft entsteht. Zurückgewendet auf It’s a Wonderful Life als Weihnachtsfilm adressieren Diegese und bereits das Darstellungsverfahren im Vorspann wechselseitige, sich wiederholende Akte der Nächstenliebe, die durch den melodramatischen Modus des Films sowie die Lektüre Georges als figura Christi moralisch aufgewertet werden. Der Protagonist zeichnet sich nicht durch große Heldentaten aus, sondern bewerkstelligt das Gute kontinuierlich mit kleinen Handlungen in seinem sozialen Umfeld, wobei er viele persönliche Rückschläge und Leiderfahrungen bewältigen muss, die jedoch zum Schluss, an Weihnachten, kompensiert werden. Als bisweilen scheiternder Alltagsheld bietet George identifikatorisches Potenzial, die affektive Bindung zu ihm und zum Film bringt eine Gemeinschaft/intimate public hervor. It’s a Wonderful Life thematisiert derartige Bindungen über Clarence, der nach wenigen Szenen der Retrospektive äußert: »I like George Bailey«. Anhand des ihm gezeigten Films baut er eine affektive Beziehung auf und legt sie dem Publikum, dessen Reflexionsfigur er darstellt, gleichfalls nahe. Der im Advent häufig im US-amerikanischen Fernsehen gesendete Film, der 1974 in die Public Domain überging, erfreut sich beachtlicher Einschalt-

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Berlant, Lauren: The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham/London: Duke University Press 2008, S. 2-5. Ebd., S. xii, 2f. Ebd., S. viii–xi, 9f.

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quoten und gehört für viele zu Weihnachten dazu:11 Ohne It’s a Wonderful Life kein Weihnachten. In dieser Gemengelage gründet der Kultstatus des Melodramas für jene eingeschworene Gemeinschaft, wobei das Schauen von It’s a Wonderful Life inzwischen fast so ritualisiert ist wie das Weihnachtsfest selbst. Mehr noch, der für das Genre konstitutive Film, dem zunächst wenig Erfolg beschieden war, »experienced a resurrection as an ontological guarantee of Christmas itself«,12 so Jonathan Munby. Capras Melodrama etabliert sich letztlich als figura des Festes: Der Film verweist in der Inszenierung Georges und formal durch seine Lektürestrategie auf Weihnachtsgeschichte und Christentum, darüber hinaus kündigen er und in seiner Nachfolge das Weihnachtsfilmgenre aufgrund der Fernseh- und Kinoausstrahlungen im Advent das heranrückende Weihnachtsfest an, alle Jahre wieder.

Now, Dasher! now, Dancer! now, Prancer and Vixen! (Iteration als Differenz und Exzess) Dass unter der Regie von Joe Dante eine postmoderne, von Steven Spielberg produzierte Horror-Komödie wie Gremlins ihr Wissen um die Zitathaftigkeit kultureller Produktionen exzessiv und selbstreflexiv ausstellt, dürfte nicht verwundern. Vom gefährlichen Eigenleben unkontrolliert wuchernder Kopien handelt der ganze Plot. Rand Peltzer (Hoyt Axton) schenkt seinem Sohn Billy (Zach Galligan) einige Tage vor Weihnachten, womit sich das familiale Bescherungsritual bereits als gestört erweist, ein niedliches, ätherisch singendes Mogwai-Haustier namens Gizmo. In einer Profanierung Weihnachtens vereint Gizmo Attribute des Christuskindes in sich: Wie dieses ist es »süß, engelhaft, himmlisch, unschuldsvoll, als überirdisches Wesen von Gott unter die Menschen gesandt.«13 Mitgeliefert werden drei Regeln, um sein Wohlergehen zu sichern, Gizmo muss vor Sonnenlicht geschützt, von Wasser 11

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Munby, Jonathan: »A Hollywood Carol’s Wonderful Life«, in: Mark Connelly (Hg.), Christmas at the Movies. Images of Christmas in American, British and European Cinema, London/New York: I.B.Tauris 2000, S. 39-57, hier S. 53f. Ebd., S. 56. So Albrecht Koschorke über die Sakralisierung von Kindheit in: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, Frankfurt a.M.: Fischer 2 2000, S. 164. Siehe zur Profanierung Weihnachtens vor diesem Hintergrund Giuriato, Davide: »Das Weihnachtsfest«, in: Grenzenlose Bestimmbarkeit. Kindheiten in der Literatur der Moderne, Zürich: Diaphanes 2020, S. 41-49, hier S. 42f.

Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life

ferngehalten und darf niemals nach Mitternacht gefüttert werden. Bald aber führt ein umgestoßenes Glas mit Wasser zur rapiden ungeschlechtlichen Vermehrung Gizmos, hernach tricksen die fünf neu entstandenen Mogwai Billy aus, sie zu später Stunde zu füttern. Daraufhin verpuppen sie sich in widerlichen, schleimüberzogenen Kokons, schlüpfen als reptilienartige Gremlins und bringen Unmengen weiterer Nachkommen zur Welt, die sich daran machen, die Kleinstadt Kingston Falls zu zerstören. Die neuen Mogwai/Gremlins sind Kopien von Gizmo, aber sie ähneln weder ihm noch dem Christuskind, sondern entpuppen sich als böswillig, gefährlich und somit als different.

Abbildung 1: Film-im-Film: Kinematografische Konstitution von Weihnachten als Familienfest.

Gremlins (1984)

Was hat das mit It’s a Wonderful Life zu tun? Gremlins stellt seine filmischen Intertexte implizit wie explizit aus, darunter insbesondere Capras Weihnachtsfilmklassiker. In einer frühen Szene des Films, bevor Gizmo als Haustier in die Familie eingeht, trifft Billy seine Mutter Lynn (Frances Lee McCain) in der Küche an. Es grenzt an ein Klischee, dass sie das Abendessen

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zubereitet, während sie auf die Rückkehr ihres Ehemanns wartet und auf dem Fernseher It’s a Wonderful Life verfolgt.14 Der Film berührt sie emotional, sie seufzt; auf Billys Nachfrage hin, ob etwas los sei, formuliert sie: »No, no… it’s a sad movie.« Als Film im Film ist auf dem Küchenfernseher zu sehen, wie der in sein echtes Leben zurückgekehrte George die verschneiten Straßen von Bedford Falls entlang rennt, Menschen und sogar Gebäuden mit großer Freude »Merry Christmas!« wünscht, schließlich seine Kinder und Ehefrau abküsst. Dass der ikonische SchwarzWeiß-Film mittels eines modernen Fernsehgeräts übertragen wird, betont die technischen und medialen Neuerungen sowie den zeitlichen Abstand der 1980er Jahre (und Gremlins) zum Nachkriegsfilm Capras. Doch die Diegese zieht zugleich eine Linie der Kontinuität. Hier wie dort steht in ähnlicher Weise die freudige Rückkehr zur Familie im Fokus: Während die weihnachtlichen Abschlussszenen von It’s a Wonderful Life laufen, hören Billy und Lynn die Haustür ins Schloss fallen, gefolgt von Vater und Ehemann Rand, der die Melodie des Christmas Carols Deck the Halls singt. Auch hier: herzliche Umarmungen. Nicht nur deshalb könnte der Eindruck entstehen, dass die Lesestrategie von Capras Melodrama kopiert wird, zitiert doch schon der Beginn von Gremlins den Film visuell in der mise en scène. Das verschneite und weihnachtlich geschmückte Kingston Falls greift das Setting von Bedford Falls auf, wobei ein für Weihnachtsfilme relevanter Special Effect, der es ermöglicht, Szenen in vermeintlich echtem Schneegestöber zu drehen, auf It’s a Wonderful Life zurückgeht.15 In beiden Filmen laufen die Protagonisten zudem durch die verschneite Kleinstadt und am Kino vorbei, ja sogar die von rechts nach links ziehende Kamerafahrt, die Billy hierbei begleitet, stellt diejenige Capras nach, die den rennenden George verfolgt.     14 15

Diese mitleidende und fürsorglich kodierte Femininität wird aufgebrochen, sobald Lynn diverse Küchenutensilien gegen die im Haus geschlüpften Gremlins einsetzt. J. Basinger: The It’s a Wonderful Life Book, S. 23-27. Zuvor setzte die Branche weiß bemalte Cornflakes als Schneeflocken ein, darunter litt aber der Ton. Insbesondere bei Nahaufnahmen knisterten die am Boden liegenden Flocken bei jedem Schritt, sodass Figurenrede nachträglich eingesprochen werden musste. Capras Special-Effects-Team ersann ein Gemisch aus Löschschaum, Seife und Wasser, das durch Windmaschinen auf das Set geblasen werden konnte, und erhielt hierfür bei der Oscar-Preisverleihung auch eine Auszeichnung.

Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life

Abbildung 2: Weihnachtliche Erlösung: George rennt durch Bedford Falls.

It’s A Wonderful Life (1946)

Abbildung 3: Weihnachten als Zitat: Billy rennt durch Kingston Falls.

Gremlins (1984)

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Gremlins begreift, wie im Anschluss an Mark Connelly formuliert werden kann, Weihnachten grundlegend als ein durch kinematografische Techniken16 bzw. durch das Genre Weihnachtsfilm hervorgebrachtes Fest. Dieses Genre – und damit Weihnachten selbst – zeichnet sich allerdings nicht primär durch Ähnlichkeit und Kontinuität aus. Ausgehend davon, wie Gremlins den Weihnachtsfilm It’s a Wonderful Life liest, um seine eigene Lektürestrategie zu entwickeln, schreibt sich das Genre stattdessen über ein Formprinzip fort, für das Differenz und Entstellung, Exzess und Spektakel maßgeblich sind. Hierüber erweist sich der Film als eine breit angelegte kinematografische Reflexion von Genreprozessen. Dantes Horror-Komödie verhandelt in der Küchenszene, die It’s a Wonderful Life als populären Weihnachtsfilm zelebriert, der Weihnachten selbst einläutet, dass Iterationen grundlegend instabil und Wiederholungen notwendig Differenzen eingeschrieben sind. Billy unterstützt Lynn bei der Essenszubereitung, wofür ein von Rand gebautes, höchst störanfälliges Küchengerät zum Einsatz kommt. Der manuelle ›Aufwand‹, Eier aufzuschlagen, wird an ein Elektrogerät übertragen, das dabei versagt, Eiklar und Dotter von der Schale zu trennen. Darüber hinaus sorgt es, wie alle väterlichen Erfindungen im Film, für weitflächige Verschmutzung und Unordnung. Lynn, den Blick von It’s a Wonderful Life abwendend, kommentiert: »Dad’s machines… they work so well the first couple of weeks«. Demnach funktionieren die technischen Geräte kurz wie intendiert, nach einiger Zeit aber schlagen die repetitiven mechanischen Abläufe fehl, weshalb die Maschinen ominös gurgelnde, pfeifende und ratternde Geräusche von sich geben, zu explodieren drohen, Dreck im Raum verteilen und ein unvorhersehbares, bisweilen gefährliches Eigenleben entwickeln. Mit anderen Worten: Iterationen werden von Störungen heimgesucht, Differenz schleicht sich ein. Wenn Gremlins also die Lektürestrategie von It’s a Wonderful Life aufgreift, Ähnlichkeiten in zitathaften Wiederholungen zu finden, dann um sie zu parodieren und postwendend zu destabilisieren. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von Gremlins zu Weihnachten und Weihnachtsfilm als Iterationen.17 Zu den hervorgehobenen Praktiken der

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Connelly, Mark: »Film and Television«, in: Timothy Larsen (Hg.), The Oxford Handbook of Christmas, Oxford: University Press 2020, S. 411-420, hier S. 417, mit Bezug auf Woody Allens Annie Hall (USA 1977): »›Real Christmas‹ is one of snow, frost, and cutting winds, which, ironically, is largely a cinematic construction.« Vgl. dazu auch den Beitrag von Claudia Liebrand im vorliegenden Band.

Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life

Adventszeit im Film zählen ausgelassen im Schnee spielende Kinder, der Verkauf von Tannenbäumen, die mit Tannenzweigen, Glocken und Lichtern geschmückten Straßen und Familienhäuser, Weihnachtsliedsänger*innen oder das Backen von Lebkuchenmännern. Gremlins’ Darstellung von Weihnachten, die Capras Film zitiert, bringt eine sentimental konfigurierte Suburbia hervor, allerdings nur, um Differenz einbrechen zu lassen und diesen Ort unheimlich, ja unbewohnbar zu machen.18 Die ritualisierten und nostalgisch besetzten Weihnachtspraktiken erfahren durch die zerstörungswütigen Gremlins eine unheilsame Verkehrung: Ein im Weihnachtsbaum versteckter Gremlin würgt Lynn mit der Girlande, einer im Postkasten wartet auf eine Weihnachtskarten-einwerfende Hand, um diese anzunagen, und etliche als caroler verkleidete Gremlins erschrecken die Menschen, sorgen aber auch für Todesfälle. Beim Anblick des grotesk zwischen Horror und Komik oszillierenden Tumults in der Stadt schreit ein Polizist, der sich selbst in Sicherheit bringt, völlig panisch: »It’s supposed to be Christmas, what the hell’s going on?« Quittiert wird sein fehlender Einsatz für die Gemeinschaft mit »cartoon justice«,19 Gremlins verursachen seinen von zirkusartiger Musik begleiteten Autounfall. Der verzweifelte Ausruf zeigt an, dass der Polizist mit Weihnachten nicht Mord und Totschlag, sondern eher Freude und Frieden verknüpft. Zuvor auf der Wache machen sich die Polizisten dementsprechend einen feucht-fröhlichen Abend, knabbern Süßigkeiten, öffnen Geschenke und betrinken sich. Die Erwartung eines freudigen, geselligen, aber ruhigen Weihnachtens wird u.a. geformt von unzähligen visuellen und auditiven Repräsentationen dessen, was Weihnachten ist oder vielmehr sein soll – durch bebilderte Karten, Filme, Weihnachtslieder.20 Dabei stellt Weihnachten nicht nur im Film häufig ein krisenhaftes Setting dar, sei das aufgrund von Konsumstress, von terminlicher Überwältigung oder von ungewohnter familialer Nähe. An Weihnachten kommen Konflikte nahezu ritualisiert zum Ausbruch. Gremlins intensi18

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Vgl. McFadzean, Angus: »The suburban fantastic. A semantic and syntactic grouping in contemporary Hollywood cinema«, in: Science Fiction Film and Television 10/1 (2017), S. 1-25. So zu einer anderen Szene im Film Rabin, Nathan/Tobias, Scott: »Gremlins’ giddy anarchy and grisly Christmas spirit«, in: The Dissolve vom 02.12.2014, https://thedissolve.com/features/movie-of-the-week/836-gremlins-giddy-anarchy-andgrisly-christmas-spirit/ (zuletzt aufgerufen am 10.06.2022). Mundy, John: »Christmas and the Movies: Frames of Mind«, in: Sheila Whiteley (Hg.), Christmas, Ideology and Popular Culture, Edinburgh: University Press 2008, S. 164-176, hier S. 164f.

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viert Konflikte, lokalisiert sie im Gesellschaftlichen und führt im Zerrspiegel des Fantastischen eindrücklich die Fragilität, ja das Zerbrechen sozialer Kohäsion an und um Weihnachten vor Augen. Weder liefern die Gremlins der Kleinstadt noch der Film seinen Zuschauenden jene besinnlich-geselligen Gefühle und Verhaltensweisen, die der Polizist an Weihnachten für gesetzt hält. Um die beschauliche Adventszeit weiter zu destabilisieren, lässt Gremlins filmische Traditionen parodistisch aufeinanderprallen,21 insbesondere den sentimentalen Weihnachtsfilm, Slapstick und den Horrorfilm. Lynn, die Lebkuchenmänner glasiert, wird von Geräuschen aus dem oberen Stockwerk verunsichert. Sie lauscht; ihre Finger greifen langsam nach dem Küchenmesser. Mit ihrem Fußtritt auf die Stufen setzen leicht dissonante Tremolo-Streicher ein, die sukzessive eine angespannte, angstvolle Atmosphäre aufbauen. Sie entladen sich in einer kleinen Klimax (in das musikalische Gremlin-Leitmotiv), als Lynn oben ankommt und die leeren Gremlin-Kokons erblickt. Das Telefon läutet schrill. Am Apparat drängt Billy sie, das Haus zu verlassen; kaum hat sie seine Worte vernommen, wird die Verbindung jäh gekappt. Just hier setzt Johnny Mathis’ Weihnachtslied Do You Hear What I Hear? (1969) ein, wobei zunächst unklar ist, ob nur die Zuschauenden es hören oder Lynn ebenfalls. Aufgerufen ist damit das Subgenre Horrorweihnachten, das die Düsterkeit von It’s a Wonderful Life steigert und vorfreudige Adventsstimmung mit bedrückenden Handlungsund Darstellungselementen verkoppelt.22 Etwa im Horror-Slasher Silent Night, Deadly Night (USA 1984, R: Charles E. Sellier Jr.), wo eine Szene mit fröhlich singenden Christmas carolers direkt auf die Gräueltaten des als Santa Claus verkleideten Mörders folgt, die mit psychotisch-dissonanten Synthesizerklängen einhergehen. Der in Abwandlungen wiederkehrende

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Es treffen noch weitere Filmtraditionen aufeinander u.a. film noir, action movie, romantic comedy und science ficition. Film-im-Film-Sequenzen zeigen u.a. Clark Gable als Rennfahrer in To Please a Lady (USA 1950, R: Clarence Brown), was Gizmo antreibt, den letzten Gremlin im ferngesteuerten rosa Plastikauto zu jagen, und den Science-FictionFilm Invasion of the Body Snatchers (USA 1956, R: Don Siegel). Hier werden pulsierende seed pods eingeblendet, die gefährliche Menschenkopien in die Welt entlassen und ominös auf die Transformation der Mogwai in Gremlins vorausweisen. Newman, Kim: »You Better Watch Out: Christmas in the Horror Film«, in: Mark Connelly (Hg.), Christmas at the Movies. Images of Christmas in American, British and European Cinema, London/New York: I.B.Tauris 2000, S. 135-142, hier S. 137. Horror sei außerdem in der blutigen Weihnachtsgeschichte schon angelegt, ebd., S. 135f. Vgl. zu Horrorweihnachten auch den Beitrag von Irina Gradinari im vorliegenden Band.

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Refrain des Mathis-Lieds in Gremlins – »Do you hear what I hear?« und »Do you see what I see?« – potenziert in ähnlicher Weise die unheimlichen Vorgänge und die Angst vor dem Unbekannten, da Lynn die Gremlins weder hören noch sehen kann. Lynn kehrt zurück ins Erdgeschoss, wo die versteckten Gremlins den Plattenspieler in Gang gesetzt hatten. Sie schaltet das Gerät aus, um besser lauschen zu können, und kennzeichnet den Mathis-Song so als diegetische Musik. Umso deutlicher stechen nun, während Lynn mehrere Gremlins mit Elektromixer, Mikrowelle und Küchenmesser in einer der Splatter-Ästhetik verpflichteten Weise abschlachtet, die Effekte der wiedereinsetzenden extradiegetischen Filmmusik hervor, die nur Zuschauende wahrnehmen können. Wie die körperliche Bewegung Lynns beim Zustechen mit dem Messer und wie die zahlreichen Schnitte zwischen z.T. extremen Nahaufnahmen zitieren die schrillen Streicher (sogenannte stinger) Hitchcocks brutale Duschszene aus Psycho (USA 1960). Gremlins Kinematografie des cuts lenkt die Sympathie des Publikums allerdings auf die Täterin Lynn. Neben der Inszenierung der bösartigen Gremlins ist hierfür die Filmmusik verantwortlich. Langgezogene Streicher, punktiert von erschreckenden stinger-Tönen, getragen von einer tieferen, nahezu pulsierenden Melodie und vereinzelten Trommelklängen, spannen die Zuschauenden zuvor emotional und physisch an,23 was dem Zustand Lynns ähnelt, die mit erhöhtem Puls sichtbar schnell atmet. Gremlins evoziert anhand der mit Gewalt und spritzenden Körperflüssigkeiten inszenierten ›exzessiven‹ Körperlichkeit Reaktionen des Publikums; die Horrorelemente des Films erregen Zuschauende physisch und bringen Grusel hervor.24 Genrezitate (und, wie noch auszuführen ist, Komik) dienen in Diegese und Filmtechnik aber auch dazu, das, was zitiert wird, in Einzelteile zu zerlegen, affektive Wirkungsweisen auszustellen und diese schließlich entgleisen zu lassen. Wenn Billys Nachbar erzählt, dass Gremlins sich in technische Geräte einnisten und Fehlfunktionen auslösen, so beschreibt er damit letztlich das Verhältnis zwischen Genretechniken und dem Film Gremlins selbst. 23

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Vgl. zu Elementen und Effekten von Horrorfilmmusik das Kapitel »Demonic Possession: Horror Film Music« in K. J. Donnelly: The Spectre of Sound, S. 88-109; vgl. zu Sound Effects Whittington, William: »Horror Sound Design«, in: Harry M. Benshoff (Hg.), A Companion to the Horror Film, Malden, MA/Oxford/Chichester: Wiley Blackwell 2014, S. 168-185. Vgl. zum Horrorfilm als gross body genre Williams, Linda: »Film Bodies: Gender, Genre, and Excess« [1991], in: Leo Braudy/Marshall Cohen (Hg.), Film Theory and Criticism. Introductory Readings, New York/Oxford: Oxford University Press 7 2009, S. 602-616.

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Das Publikum dürfte Lynns körperlich-emotiven Zustand kopieren, es könnte aber ebenfalls distanziert über das Hitchcock-Zitat schmunzeln. Der Film ermöglicht derartige Positionswechsel, weil er, unterschiedliche Traditionen und Darstellungstechniken vermengend, beständig zwischen Horror, Sentimentalität und Komik changiert. Bspw. macht die Unentscheidbarkeit, ob das Mathis-Lied diegetisch oder extradiegetisch eingespielt wird, Zuschauende auf die Filmmusik aufmerksam; kombiniert mit dem Refrain, der weihnachtliche Sentimentalität und Grusel zeitgleich hervorbringt, wird die Wahrnehmung für das ebenso auditive wie visuelle Medium Film und seine affektiven Wirkungen geschärft. Insofern damit die ggf. vom Publikum zuvor überhörten und übersehenen Darstellungstechniken enthüllt werden, präsentiert sich den Zuschauenden ein Moment der Distanzierung, eine Möglichkeit, aus der filmischen Illusion herauszutreten. In derartigen Momenten kann die Wirkung von Horrorverfahren oder von übermäßigem Pathos entgleisen und Gelächter hervorrufen. Etwa wenn Billys Freundin Kate erzählt, auf welche fürchterliche Art und Weise sie herausgefunden habe, dass Santa Claus nicht existiert – nämlich indem ihr Vater beim Versuch, den Kamin an Weihnachten hinabzuklettern, abgerutscht sei und sich das Genick gebrochen habe. Sie weint, schüttet ihr Herz aus, die Stimmung ist düster und melancholisch, sie trauert um ihre kindliche Unschuld. Doch die Sentimentalität wird zweifach gebrochen und der Lächerlichkeit preisgegeben: Erstens hört Billy ihr überhaupt nicht zu, er lässt sich nicht affizieren, während sie ihr schlimmstes Weihnachtserlebnis und ihren tiefen Schmerz ausbreitet. Zweitens zeigt eine Film-im-Film-Sequenz zuvor eine slapstickartige, von Cartoon-Musik und Lachkonserven begleitete Szene, in der ein als Santa Claus verkleideter Mensch auf einem Dach steht, fast seine Hose verliert und hernach ausrutscht. Das Zitieren des Pathos sentimentaler Weihnachtsfilme schlägt hier in eine makabre Komik um, die nicht nur die affektiven Wirkungen des Genres irritiert, sondern damit auch die affektiven Bindungen, die Menschen zum Weihnachtsfest haben, hinterfragt. Dementsprechend aufgebracht waren die Diskussionen beim Filmstart; die Beunruhigung über Gremlins führte sogar dazu, dass ein neues Jugendschutz-Rating (PG-13) etabliert wurde.25 Die negative Beurteilung

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Neben Gremlins waren hieran auch Poltergeist (USA 1982, R: Tobe Hooper) und Indiana Jones and the Temple of Doom (USA 1984, R: Steven Spielberg) beteiligt. Vgl. Kendrick, James: Hollywood Bloodshed. Violence in 1980s American Cinema, Carbondale: Southern Illinois University Press 2009, S. 182-198.

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des Films überrascht nicht, bedenkt man, wie seine Komik mit der Zerstörungslust der Gremlins bzw. von Gremlins verkoppelt ist, die sich gegen »cherished American values surrounding idyllic small towns, close-knit nuclear families, and, most of all, the Christmas season« richtet.26 Mit parodistischen Mitteln verhandelt die Horror-Komödie zudem mediale Techniken des Weihnachtsfilms und zugehörige Genreprozesse; sie macht diese erkennbar und durchkreuzt sie in einer ebenso lustvollen wie unterhaltsamen Feier des Mediums Film.

All I want for Christmas (Relektüre) Gremlins übt ein Lesen ein, das Unterschiede wahrnimmt, und dies produziert postwendend Ambiguitäten. Wie bei den Gremlins im Film, die sich unkontrolliert in einer musikalisch wie visuell eindrucksvollen Licht-und-NebelShow reproduzieren, kommt es mit jener Lektürestrategie zur unendlichen Vermehrung, diesmal von Bedeutung. Gremlins, so Jonathan Rosenbaum, seems to break up like the gremlins themselves into an infinity of possible meanings. The marauding beasties can be plausibly read at various points as adolescents, preadolescents, blacks, rednecks, Native Americans, cowboys, Walt Disney fans, chainsaw killers, bums, bikers – anyone can add to the list. It is important to stress, however, that they are true-blue American.27 Die Mehrdeutigkeit der Gremlins und damit auch des Films schlägt sich in der Forschung nieder: Der physische Angriff der Bösewichte und der satirische des Films richte sich gegen kinematografisch vermittelte Vorstellungen von weihnachtlicher Suburbia;28 afroamerikanische Kultur werde darin als monströs gezeichnet und aus der Position einer weißen Mittelklasse verspottet;29 die kapitalistische Konsumkultur werde vor dem Hintergrund des

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Ebd., S. 191. Rosenbaum, Jonathan: »We Monsters«, zuerst in: Chicago Reader, 29.06.1990, https:// jonathanrosenbaum.net/2019/10/we-monsters/ (zuletzt aufgerufen am 14.05.2022). K. Newman: You Better Watch Out, S. 138, und A. McFadzean: The suburban fantastic, S. 8. Turner, Patricia A.: Ceramic Uncles & Celluloid Mammies. Black Images and Their Influence on Culture, New York: Anchor Books 1994, S. 147-153.

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Weihnachtsfestes als zerstörerisch vorgeführt.30 Gremlins bringt eine endlose Pluralisierung des Sinns hervor, was eindeutige und abgeschlossene Bedeutungsgenesen problematisiert. Das erfasst auch die fast schon penetrante Moral am Ende des Films, wonach der unachtsame Umgang mit Gizmo zeige, dass die westliche Welt noch lernen müsse, ein Verantwortungsbewusstsein für die Folgen des eigenen, konsumorientierten Handelns zu entwickeln. Vermeintlich wird hier eindeutig Position bezogen. Dies bricht aber so extrem mit dem restlichen Film, dass der erzieherische Appell nur als Parodie auf Weihnachtsfilme lesbar ist, die moralistische Abschlussformeln oder -tableaus präsentieren. Gremlins verweigert derartiges und feiert stattdessen das Genre des Weihnachtsfilms als ein aufsehenerregendes und kinematografisch versiertes Spektakel, das einen Exzess von Deutungsangeboten erzeugt. Die Mehrdeutigkeit des Films kann aber nicht nur als eine Respondenz auf die Lektürestrategie von It’s a Wonderful Life verstanden werden, die in ihr Gegenteil verkehrt wird. Vielmehr eröffnet Gremlins die Möglichkeit einer auf Dissonanzen fokussierten Relektüre des Melodramas. Wie abschließend gezeigt werden soll, stören gerade zwei zitathafte Szenen bei Capra die eigene/himmlische Lektüreanweisung, die sentimentale Immersion und insbesondere das weihnachtliche Abschlusstableau. Gremlins zitiert anfangs die weihnachtliche mise en scène des Melodramas und Capras Kamerafahrt, als George an Heiligabend durch das verschneite Bedford Falls eilt. Wie George kommt auch Billy hierbei am kleinstädtischen Kino vorbei. Später im Film werden er, Kate und Gizmo das Gebäude mit einer imposanten Gasexplosion in die Luft sprengen, um Horden von Gremlins zu eliminieren,31 die gerade in die Welt von Disneys Snow White and the Seven Dwarfs (USA 1937, R: David Hand) eintauchen und sich der Völlerei wie dem filmischen Spektakel hingeben. Zu Beginn des Films prangen allerdings andere Titel auf der Anzeigetafel des Kinos in Kingston Falls: A Boy’s Life und Watch the Skies. Es handelt sich um Referenzen auf die Arbeitstitel von zwei Science-Fiction-Filmen: Spielbergs sentimental angehauchtem Kassenschlager E.T. (USA 1982) und seinem eher unheimlichen Streifen Close

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Holbrook, Morris B./Hirschman, Elizabeth C.: The Semiotics of Consumption. Interpreting Symbolic Consumer Behavior in Popular Culture and Works of Art, Berlin/New York: Mouton de Gruyter 1993, S. 265f. Ob es gelingt, alle Gremlins zu töten, hinterfragt das abschließende Voiceover. Dass Gizmo überlebt, beschwört letztlich eine zukünftige Krise herauf – und damit einen weiteren Film, Gremlins 2: The New Batch (USA 1990, R: Joe Dante).

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Encounters of the Third Kind (USA 1977). Als entstellte Zitate gehen nicht nur die Titel, sondern auch die Darstellungsverfahren der beiden Filme in Gremlins ein, als dessen Executive Producer Spielberg verantwortlich zeichnete. Die Aufmerksamkeit, die Dantes Horror-Komödie dem Kino als Institution widmet, strahlt auf die entsprechende Szene von It’s a Wonderful Life zurück. In Capras Melodrama ziert das örtliche Kino eine Reklame für die im Advent 1945 erschienene RKO-Produktion The Bells of St. Mary’s (USA 1945, R: Leo McCarey). Eine Lektürestrategie, die nach Ähnlichkeiten sucht, wie sie der Himmel in It’s a Wonderful Life favorisiert, könnte wie folgt skizziert werden: In The Bells of St. Mary’s überzeugen Pfarrer und Nonnen einen Scrooge-artigen Unternehmer, ihnen sein neubebautes Grundstück kostenfrei für Bildungszwecke zu überlassen. Bei Capra ist der am Kino vorbeikommende George gerade einer kapitalistisch verlotterten alternativen Realität entflohen, gegen die er sich stets mit dem Bau von günstigem Wohnraum gestemmt hat. In beiden Fällen triumphiert, im Rückgriff auf Dickens’ A Christmas Carol, die Nächstenliebe über das unmenschliche und gesellschaftsschädigende Profitstreben. Eine solche Lesart wird allerdings zunächst von einem Text verunsichert, den Capra während der Arbeit an It’s a Wonderful Life publizierte. Im Mai 1946 lanciert er in The New York Times einen Artikel mit dem bemerkenswerten Titel: Breaking Hollywood’s ›Pattern of Sameness‹. Hier wettert er gegen die ›maschinenartigen‹ Produktionsabläufe der großen Filmstudios, aus denen man ausbrechen müsse,32 die also der Störung bedürfen. Fast könnte man meinen, Capra sehne Gremlins herbei, jene koboldartigen Wesen, die, Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg zufolge,33 Fehlfunktionen in allerlei Maschinen auslösen. Capra moniert weiter: »We writers, directors and producers began to get ideas not from real life, but from each other’s pictures. 32 33

Capra, Frank: »Breaking Hollywood’s ›Pattern of Sameness‹«, in: The New York Times vom 05.05.1946, S. 18 u. 57, hier S. 18. Vgl. den Artikel von Merrill Mueller: »Plane Pixilators«, in: Newsweek 20/10 vom 07.09.1942, S. 24, https://archive.org/details/sim_newsweek-us_1942-09-07_20_10 (zuletzt aufgerufen am 19.05.2022). Mueller notiert: »First reports of ›Gremlins‹ reached the United States last week. Gremlins are exasperating pixies, often clad in caps, ruffled collars, tight breeches, and even spats, who delight in raising hell in Allied planes by jamming guns at critical moments, getting into carburetors, deranging instruments etc.« Weiter popularisiert wurden diese Erzählungen u.a. durch Roald Dahls Kinderbuch The Gremlins (1943).

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Hollywood was isolating itself with a wall of mirrors.«34 Gegen patterns of sameness, anders gewendet: gegen zitathafte, filmische Intertextualität stemmten sich selbstständige Filmemacher, die sich von den gigantischen Produktionsstudios lösten.35 Zu den problematischen Studios zählt Capra RKO, also jene Produktionsfirma, die mit The Bells of St. Mary’s Rekordgewinne verbuchte. Angesichts des filmischen Lektüreverfahrens aus It’s a Wonderful Life, das aus Ähnlichkeiten bzw. aus patterns of sameness Sinn generiert, und angesichts des Zitats von The Bells of St. Mary’s, d.h. des Aufgriffs eines anderen Films im Film, bildet Capras Text zunächst eine Art Lapsus. Beim Wort genommen, muss jedoch der ein halbes Jahr später erschienene Film It’s a Wonderful Life auf Störungen hin gesichtet und nochmals auf sein Verhältnis zu Weihnachten und Weihnachtsfilm(genre) befragt werden. Zur Weihnachtszeit 1945 angelaufen, gewann The Bells of St. Mary’s zahlreiche Oscar-Nominierungen, holte den Preis für Best Sound Recording und war auch kommerziell enorm erfolgreich. Hierzu trug nicht zuletzt die hochkarätige Besetzung bei: Bing Crosby, der in Holiday Inn (USA 1942, R: Mark Sandrich) das Lied White Christmas popularisierte, und Ingrid Bergman. Beide waren zuvor bereits mit Academy Awards ausgezeichnet worden. The Bells of St. Mary’s wäre einem zeitgenössischen Publikum bekannt gewesen, die Schauspieler*innen ebenso. Zu diesen zählt in der Rolle des Scrooge-Unternehmers Horace Bogardus niemand anders als Henry Travers, der in It’s a Wonderful Life ausgerechnet den Schutzengel Clarence verkörpert. Damit dringt seine den Zuschauenden bekannte Starpersona in die Diegese ein und durchkreuzt die Immersion. Über den Schauspieler Henry Travers wird das Publikum auf die Differenz zwischen Figuren und Darstellenden, zwischen Filmwelt und eigener Lebenswelt gestoßen. In dieser Lebenswelt ist Schauspielerei zugleich Lohnarbeit und wirtschaftliche Interessen bestimmen die Produktion und den Vertrieb von Filmen mit. Im besten Fall, wie bei The Bells of St. Mary’s, handelt es sich um ein ertragreiches Geschäft. Dass It’s a Wonderful Life diesen Filmtitel prominent ausstellt, macht insofern sogar auf die kommerziellen Ambitionen Capras aufmerksam – und das inmitten des weihnachtlichen Schneegestöbers, durch das George, dem inhumanen, nur an Konsum und Profitmaximierung interessierten Pottersville entkommen, freudig rennt.

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F. Capra: Breaking Hollywood’s ›Pattern of Sameness‹, S. 18 u. 57. Ebd., S. 57.

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Umringt von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten, die ihr Erspartes aufopfern, steht George bald vor dem festlich geschmückten Tannenbaum. Präsentiert wird eine Gemeinschaft der Nächstenliebe, deren Stabilität durch die Analogie zur Heiligen Familie nahegelegt wird, denn George hält eines seiner Kinder auf dem Arm und Mary (!) befindet sich an seiner Seite. War er zuvor mit Jesus alliiert, so ist er es hier mit Joseph. Doch das Abschlusstableau geht nicht in einer Wiederholung der Weihnachtsgeschichte auf. Da der Schutzengel Clarence George seine Engelsflügel verdankt, schenkt er ihm in einer Geste der Reziprozität Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer (1876). Munby erkennt hierin primär »a nostalgic gift from Clarence that links George to Twain’s pastoral world«.36 Die Gremlins-Lesebrille erblickt im Geschenk hingegen ein weiteres Zitat und mit diesem: ein potenziell gefährliches Eigenleben.

Abbildung 4: Tom Sawyer: Störung der Weihnachtsidylle durch literarisch evoziertes Begehren.

It’s A Wonderful Life (1946)

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J. Munby: A Hollywood Carol’s Wonderful Life, S. 45.

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Als Kind träumt George davon, Bedford Falls zu entfliehen, die Welt allein zu bereisen, ein Abenteurer zu sein. Es sind Wünsche, die von den Medien, die er konsumiert, insbesondere The National Geographic Magazine, genährt werden. Einer jungen Mary vertraut er an, dass er sogar einige Harems haben wird und »maybe three or four wives«. Sein als fantastisch markiertes Begehren insistiert den gesamten Film hindurch, nicht zuletzt, weil er gezwungen wird, sich mit Ersatzobjekten zufrieden zu geben. Deutlich wird das spätestens, als der erwachsene George mit Mary in karibische Flitterwochen aufbrechen möchte, aber selbst dieses reichlich domestizierte Abenteuer aufgeben muss, weil ein Börsencrash sein Kreditinstitut in den Abgrund zu reißen droht. Das für die Hochzeitsreise gesparte Geld wird an Bedürftige verteilt, als Substitut erwartet George das Familienheim, das Mary mit großformatigen Postern von Übersee dekoriert hat.37 Entlang der rotierenden Spindel des laufenden Schallplattenspielers ist ein dünnes Seil gespannt, das zugleich den Spieß mit zwei Brathähnchen im Kamin wendet. Die Erfindung – eine ungleich nützlichere Maschine als die von Rand Peltzer in Gremlins – wird kurz von einer Störung heimgesucht, die Musik bricht ab. Das trübt zwar nicht unmittelbar die Stimmung der Hochzeitsnacht, markiert aber doch eine Irritation. So niedlich Marys Einfall und so liebevoll die Ausführung, der Ersatz befriedigt George auf Dauer nicht, zumal bereits die Flitterwochen sein zunehmend heftig geäußertes Begehren nach Abenteuer nicht erfüllen können. Noch wenige Jahre zuvor stellt er klar: »I’m shaking the dust of this crummy little town off my feet and I’m gonna see the world!« Jeder Versuch, Bedford Falls zu verlassen, scheitert aber. George wird kein Abenteurer, stattdessen muss er sich mit Arbeit, Familienleben und guter Nachbarschaft zufriedengeben. Derweil bleibt sein Begehren ungestillt bzw. es ist unstillbar und das führt, wie It’s a Wonderful Life eindrücklich zeigt, immer wieder zu Konflikten mit sich selbst und mit der Familie. So wird George seinem Onkel gegenüber physisch grob, und im Beisein seiner Kinder fragt er Mary verärgert, warum sie denn so viel Nachwuchs zeugen mussten. Dass das nächste Zerwürfnis nicht ausbleiben kann, zeigt sich daran, dass George am Ende des Films erneut Substitute offeriert werden: ein Abenteuerroman und ein Weihnachtsidyll. 37

Beuka, Robert: »Imagining the Postwar Small Town: Gender and the Politics of Landscape in It’s a Wonderful Life«, in: Journal of Film and Video 51/3-4 (Herbst-Winter 19992000), S. 36-47, hier S. 44f.

Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life

Das mit Familie und Freunden gefeierte Weihnachtsfest mag zwar eine jährlich wiederkehrende Befriedigung sein, diese bleibt aber doch ein Substitut temporärer Art – womit das Melodrama den nächsten Konflikt ankündigt. Insofern bleibt der Film seiner eigenen Lektürestrategie zwar treu, notiert aber zugleich Ambiguitäten, die für Weihnachten konstitutiv sind. It’s a Wonderful Life betreibt so eine Reflexion des Genres Weihnachtsfilm, die sich hinter Gremlins nicht verstecken muss. Dass Georges insistierendes Begehren nach Abenteuer als romanhaft, als Fiktion, als Fantasieerzählung ausgestellt wird, affiziert den Weihnachtsfilm als ein fiktionales Medium schließlich unmittelbar selbst: Es enthüllt das aufwändig inszenierte und mit Pathos überfrachtete weihnachtliche Abschlusstableau als reine Fantasie, als ein filmisch hervorgebrachtes, auf ein sentimental kodiertes Weihnachten gerichtetes Begehren. Tom Sawyer bildet eine Störung, ist, mit anderen Worten, der Gremlin des Melodramas, und verhandelt, wie jegliches Begehren stets nur verschoben, aber strukturell nie zur Erfüllung gelangen kann, weil es sich auf Imaginäres richtet. Der geschenkte Roman markiert mit Georges medial hervorgebrachtem Begehren nach Abenteuer das Begehren nach einem sentimental gerahmten Weihnachten einerseits als unerreichbar und andererseits als kinematografisch produziert. So gelesen, trägt Capras filmische Fiktion nicht nur selbstreflexiv zur Konstruktion Weihnachtens bei. Vielmehr notiert It’s a Wonderful Life zugleich, dass dieser Konstruktion ein unerfüllbares und damit beständig Krisen hervorrufendes Begehren eingeschrieben ist, das vom Weihnachtsfilmgenre endlos perpetuiert oder, mit Gremlins gesprochen, immer exzessiver, immer spektakulärer reproduziert wird.

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Autor:innen

Sandra Beck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Neuere Germanistik I der Universität Mannheim. Sie promovierte zu Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschen Gegenwartsliteratur (Heidelberg: Winter 2017). Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der deutschsprachigen Literaturen des 18. bis 21. Jahrhunderts, mit Schwerpunkten auf Kriminalliteratur, Genregeschichte und -theorie, Cultural Memory Studies sowie kulturwissenschaftlichen Arbeiten u.a. zu Literaturadaptionen, Kanonisierungs- und Rezeptionsprozessen und zur Nachkriegskultur. Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschlechterforschung an der Universität Trier. Sie promovierte an der Universität Tübingen über »Gewalt« und »Geschlecht«. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Gegenwartsliteratur, kultur- und literaturwissenschaftliche Gender Studies, Interkulturalitätsforschung und Postcolonial Studies, Antisemitismusforschung, Erinnerungsdiskurse sowie Literatur im Medienwechsel. Sie ist im Vorstand der FG Geschlechterstudien und des Trierer CePoG und engagiert sich in der Wissenschaftskommunikation. Irina Gradinari ist Juniorprofessorin für literatur- und medienwissenschaftliche Genderforschung an der FernUniversität in Hagen. Dissertation zu Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (2011), Habilitation zu Kinematografie der Erinnerung, 2 Bde. (2022/21). Forschungsschwerpunkte: Feministische Blicktheorien, Genre und Gender, Genre und Intersektionalität, Genre Studies, kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung. Publikationen u.a.: Störung – Verunsicherung – Destabilisierung (2022) (hg. mit Michael Niehaus), Genre und Race. Mediale Interdependenzen von Ästhetik und Politik und Ästhetik (2021) (hg. mit Ivo Ritzer), Europas

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Weihnachtsfilme lesen

Außengrenzen: Interrelationen von Raum, Geschlecht und »Rasse« (hg. mit Yumin Li und Myriam Naumann), ZiG: Meer als Raum transkultureller Erinnerungen (2020) (hg. mit Elisa Müller-Adams), Filmisches Erinnern. Zur Ästhetik und Funktion der Rückblende (2020) (hg. mit Michael Niehaus). Irmtraud Hnilica ist akademische Rätin a.Z. am Institut für neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen. Promoviert wurde sie an der Universität zu Köln mit Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags »Soll und Haben« (Heidelberg: Synchron 2012). Aktuell beschäftigt sie sich mit ihrem Forschungsprojekt zu den Funktionen von Entführungen im bürgerlichen Trauerspiel, Abolitionsdrama und Singspiel des 18. Jahrhunderts. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literatur- und Kulturtheorie, Genderforschung und Film.  Helen-Dominique Höstlund studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in Mainz sowie Ethik der Textkulturen in Augsburg. Ihre Masterarbeit über Fluchtliteratur wurde 2017 mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien (Förderpreis) ausgezeichnet. Aktuell schreibt sie ihre Doktorarbeit, die mit dem bayerischen Landesgraduiertenstipendium gefördert wurde, zu Menschenwürde, Identität, Performativität. Eine Ethik des engagierten Theaters über Fluchttheater. Forschungsschwerpunkte: Transkulturalität, Fluchtgeschichten, Narration und Identität, Narration und Würde, Engagement und Ethik. Publikation: »Würdeverlust auf der Flucht. Möglichkeiten der Literatur an den Grenzen des Humanen«, in: Non-Person. Grenzen des Humanen in Literatur, Kultur und Medien, hg. von Stephanie Catani und Stephanie Waldow, Wilhelm Fink: Paderborn 2020, 111-129. Nikolas Immer ist Nachwuchsgruppenleiter im DFG-Kolleg Lyrik in Transition an der Universität Trier. Dissertation zu Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (2008), Habilitation zu Mnemopoetik. Erinnerung und Gedächtnis in der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jahrhunderts (2017; Druck in Vb.). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Aufklärung und des Weimarer Klassizismus, Ästhetik des Heroismus, Nachkriegs- und Reiselyrik, deutsch-französische Kulturtransfers. Publikationen u.a.: Nachkriegslyrik. Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965, Stuttgart 2020 (mit Thomas Boyken); Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgart 2020 (hg. mit Johannes Görbert); Wiederkehr des Subjekts? Perspektiven auf Philosophie,

Autor:innen

Poetik und die Lyrik der Gegenwart, Frankfurt a.M. u.a. 2022 (hg. mit Matthias Fechner und Henrieke Stahl). Annette Keck ist seit 2006 Professorin für Gender Studies, Kulturtheorie und neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Forschungsfelder sind u.a. Autorschafts- und Körperkonstruktionen zwischen Avantgarde und feministischer Theorie, literarische Anthropologien, groteske Kunsterzeugungen, populäre Unterhaltungen der ›Working Girls‹ und Figurationen der Un/Schuld. Sie arbeitet derzeit zs. mit Ralph J. Poole (Univ. Salzburg) an einem Projekt zum österreichischen Heimatfilm. Jüngere Publikationen: »Das Abenteuer und der Sex: Anmerkungen zu einer intrikaten Verbindung mit Christoph Martin Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio«. In: Triebökonomien des Abenteuers. Hg. v. Elisabeth Hutter u.a. (München: Fink 2021), S. 209-32; zs. mit Manuela Günter (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Gender Studies (Berlin: Kadmos 2018). Claudia Liebrand ist Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. 1989 Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg über das Romanwerk Fontanes; 1995 Habilitation ebenfalls an der Universität Freiburg zu den Texten E.T.A. Hoffmanns. Gastprofessuren, -dozenturen und Fellowships u.a. an der Washington University in St. Louis, in Petersburg, Seoul, Shanghai und an der Universität von Pavia. Seit 2010 Mitherausgeberin des E.T.A. Hoffmann-Jahrbuchs; Forschungsschwerpunkte: Literatur des langen 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne, Gender Studies und Film Studies. Zahlreiche Publikationen umfassen die europäische Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Geschlechterdifferenz, Psychoanalyse und Film; zuletzt: Lauschen und Überhören. Literarische und mediale Aspekte auditiver Offenheit, hg. zus. mit Stefan Börnchen, Paderborn: Fink 2020; Zur Wiedervorlage. Eichendorffs Texte und ihre Poetologien, hg. zus. mit Thomas Wortmann, Paderborn: Fink 2020. Michael Niehaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Medienästhetik an der Fernuniversität in Hagen. Habilitation 2003 mit der Untersuchung Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Literatur und Institution, Erzählliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Interpretationstheorie, intermediale Narratologie, Genretheorie, Filmanalyse. Letzte Buchveröffentlichungen: Was ist ein Format? (2018), Erzähltheorie und Erzähltech-

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Weihnachtsfilme lesen

niken zur Einführung (2021), Erfolg. Institutionelle und narrative Dimensionen von Erfolgsratgebern (1890-1933) (Co-Autoren Wim Peeters, Horst Gruner und Stefanie Wollmann) (2021), Erzählen ohne Worte. Eine Erkundung (2022). Roxanne Phillips ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. Studium der Neueren deutschen Literatur, Philosophie und Neueren und neuesten Geschichte in München und Amsterdam. 2017 Visiting Scholar am German Department der NYU, 2020 Promotion an der Graduiertenschule Sprache & Literatur, LMU München, mit einer Arbeit über die Verzahnung von Regierungskünsten und Erzählverfahren (Die Regierung der Menschen erzählen. Figurationen der Gouvernementalität bei Streeruwitz, Meinecke und Mora, Würzburg: Königshausen & Neumann 2022). Ihre kulturtheoretisch und kulturgeschichtlich orientierte Forschung zu Literatur und Film beschäftigt sich u.a. mit politischer Ökonomie, medizinischem Wissen, Kontingenzerfahrungen sowie mit Geschlechts- und Autorschaftskonstruktionen seit dem 18. Jahrhundert. Aktuell arbeitet sie an einem Projekt zum komischen Stolpern, Stürzen und Fallen zwischen Aufklärungskomödie und Slapstick. Simon Sahner ist Literatur- und Kulturwissenschaftler und freier Autor und lebt in Freiburg i. Br. Er promovierte 2021 am GRK1767 ›Faktuales und fiktionales Erzählen‹ zur deutschsprachigen Beat- und Undergroundliteratur von 1960-1980 (transcript 2022) und war danach wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Greifswald. Er arbeitet freiberuflich als Lehrbeauftragter, Autor und Moderator in den Bereichen Wissenschaft und Feuilleton und ist seit 2020 Mitherausgeber des feuilletonistischen Online-Magazins 54books. Seine Forschungs- und Interessenschwerpunkte sind Gegenwartskultur und -literatur, digitale Kultur, Literatursoziologie und der Einfluss von Erzählungen und Narrativen. Zu letzterem Thema sind derzeit mehrere Projekte in Arbeit. www.simon-sahner.de Peter Scheinpflug ist Medienkulturwissenschaftler in Köln. Dissertation zu Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo (2014), Habilitationsprojekt zu Medien begreifen. Eine medienanthropologische Theorie der Taktilität. Forschungsschwerpunkte: Genre, Gender, deutscher Film, Filmgeschichte, Christoph Schlingensief, Taktilität, Digitalkultur, Medien- und Kulturkritik. Publikationen u.a.: Genre-Theorie. Eine Einführung, Berlin 2014; Arbeit am Bild. Christoph Schlingensief und die Tradition, Paderborn

Autor:innen

2022 (hg. mit Thomas Wortmann); Schlingensief Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2023 (hg. mit Teresa Kovacs und Thomas Wortmann). Thomas Wortmann ist seit 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und qualitative Medienanalyse an der Universität Mannheim. Er wurde 2004 mit einer Arbeit zu Annette von Droste-Hülshoffs Geistlichem Jahr an der Universität zu Köln promoviert und war danach Juniordozent und Juniorprofessor an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Universität Mannheim. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Drama und Theater der Gegenwart, Film. Publikationen u.a.: Die Filme Fatih Akıns, hg. von Cornelia Ruhe und Thomas Wortmann, Paderborn: Fink 2021; Arbeit am Bild. Christoph Schlingensief und die Tradition, hg. von Peter Scheinpflug und Thomas Wortmann, Paderborn: Fink 2021; Mannheimer Anfänge. Beiträge zu den Gründungsjahren des Mannheimer Nationaltheaters 1777-1820, hg. von Thomas Wortmann, Göttingen: Wallstein 2017.

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Medienwissenschaft Florian Sprenger (Hg.)

Autonome Autos Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität 2021, 430 S., kart., 29 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-5024-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5024-6 EPUB: ISBN 978-3-7328-5024-2

Tanja Köhler (Hg.)

Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter Ein Handbuch 2020, 568 S., kart., 41 SW-Abbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5025-9 E-Book: PDF: 38,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5025-3

Geert Lovink

Digitaler Nihilismus Thesen zur dunklen Seite der Plattformen 2019, 242 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4975-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4975-2 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4975-8

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Medienwissenschaft Ziko van Dijk

Wikis und die Wikipedia verstehen Eine Einführung 2021, 340 S., kart., 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5645-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5645-3 EPUB: ISBN 978-3-7328-5645-9

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 25 Jg. 13, Heft 2/2021: Spielen 2021, 180 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-5400-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5400-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-5400-4

Anna Dahlgren, Karin Hansson, Ramón Reichert, Amanda Wasielewski (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 6, Issue 2/2020 – The Politics of Metadata 2021, 274 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4956-7 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4956-1

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