Weihnachtsfilme lesen II: Von Krisengeschichten und Wunschszenarien 9783839469170

Weihnachtsfilme lesen lohnt sich! Im zweiten Band der Genreanalyse geht es um Krisengeschichten. Entgegen dem Klischee,

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Weihnachtsfilme lesen II: Von Krisengeschichten und Wunschszenarien
 9783839469170

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Andrea Geier, Irina Gradinari, Irmtraud Hnilica (Hg.) Weihnachtsfilme lesen II

Film

Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft/Gender Studies an der Universität Trier. Irina Gradinari (Dr. phil.) lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Genderforschung an der FernUniversität in Hagen. Irmtraud Hnilica (PD Dr. phil.) lehrt Literatur- und Kulturwissenschaft an der FernUniversität in Hagen.

Andrea Geier, Irina Gradinari, Irmtraud Hnilica (Hg.)

Weihnachtsfilme lesen II Von Krisengeschichten und Wunschszenarien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Justin Campbell / Unsplash Korrektorat: Silvana Dorothea Schmidt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469170 Print-ISBN: 978-3-8376-6917-6 PDF-ISBN: 978-3-8394-6917-0 Buchreihen-ISSN: 2702-9247 Buchreihen-eISSN: 2703-0466 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

Weihnachten als Krise? Zur Einleitung Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica ....................................7

Wunderbare Zeitlichkeit Der Weihnachtsmann des Volkes Miracle on 34th Street und das populistische Kino Hollywoods Johannes Pause ................................................................... 25 Engel (in) der Krise It’s a Wonderful Life (USA 1946) Nils Jablonski ...................................................................... 53 Mars macht mobil Abduktion und Aberration in Santa Claus conquers the Martians (1964) Nikolas Immer ...................................................................... 71

Reflexion des Seriellen Tanzend von der Krise ins Glück Bewegte, behinderte und begabte Körper in der ZDF­Weihnachtsserie Anna Andrea Geier ....................................................................... 89

Weihnachten im amerikanischen Fernsehen Der Hallmark Channel und die Krisen der Frau in der Weihnachtsromanze Lena Koseck .......................................................................109 Weihnachten in Gefahr Heimatliches und Un-›heim‹-liches in der Netflix­Serie Hjem til jul Daniela Schulz .....................................................................129 Weihnachten im Weißen Haus Politische, gesellschaftliche und private Krisen in The West Wing Dana Steglich ......................................................................155

Zerstörung der Zeit Weihnachten im Slapstick Michael Niehaus................................................................... 183 »Wir können nicht anders« Der Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats im aktuellen deutschen Film Peter Scheinpflug ..................................................................201 Über die Krise als transmediales Genrenarrativ Better Watch Out (2016) und Silent Night (2021) Irina Gradinari .................................................................... 227

Anhang Autor:innen .......................................................................251

Weihnachten als Krise? Zur Einleitung Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica

Krisen und Weihnachten Spätestens seit dem epochalen Verbrechen des 11. Septembers erleben wir eine neue Konjunktur der Krisen:1 Terrorismus, Börsencrash 2003 und 2008, Europa als Krisenprojekt, Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine, der israelisch-palästinensische Konflikt und die Klimakrise, um einige wenige globale Krisenphänomene zu benennen.2 Auch wenn sich die Zeitdimensionen der Krisenhaftigkeit stark unterscheiden und einzelne dieser Krisen eine lange Vorgeschichte haben, tragen sie alle dazu bei, dass die Gegenwart als besonders krisenhaft wahrgenommen wird. Krise stellt diskurshistorisch allerdings ein relativ junges Phänomen dar. Einst im medizinischen Bereich verwendet – als Schnittpunkt im Krankheitsverlauf, als Wendung zum Schlechten, also zum Tod, oder zum Guten, zur Genesung – erscheint der Begriff der Krise laut Reinhart Koselleck im Sinne einer Diagnose gesellschaftlicher Zustände etwa in der Sattelzeit und wird zu einer prominenten Figur der Moderne, mit der soziale Veränderungen wie Beschleunigung, Industrialisierung und Vervielfältigung der Sinnkontexte beschrieben3 und zugleich Kritik an Ge1 2

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Z.B. Morgan, Matthew J.: The Impact of 9/11 on the Media, Arts, and Entertainment: The Day That Changed Everything? New York: Palgrave Macmillian 2009. In Bezug auf Europa werden vor allem der Untergang des Warschauer Paktes, De-Industrialisierung und Post-Demokratie als Krisenerscheinungen diskutiert, vgl.: Austin, Thomas/Koutsourakis, Angelos (Hg.): Cinema of Crisis. Film and Contemporary Europe, Edinburgh University Press 2022. Koselleck, Reinhart: »Krise«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650. Vgl. auch Koselleck, Reinhard: »›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, in: ders. (Hg.), Industriel-

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sellschaften geübt werden konnte.4 Von Krise war dann die Rede, wenn ein Phänomen Unbehagen bereitete, dysfunktional erschien oder durch seine Komplexität überforderte. Neben der Anwendung auf intuitiv krisenhafte Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Kriege hat sich der Krisenbegriff also vor allem in abstrakten, sinnlich schwer greifbaren Bereichen etabliert. Von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Wirtschaft, der Klimaforschung, der Kriminalität bis hin zur Beschreibung von Migrationsbewegungen und der Pandemie handelt es sich um Phänomene, die die menschliche Erfahrung übersteigen und die individuell nicht lösbar sind.5 Gleichzeitig erscheinen sie jedoch in alltagslebensweltlicher Perspektive oftmals ereignisarm. Den Wandel von Ökosystemen nennt Eva Horn beispielsweise eine Katastrophe ohne Ereignis,6 er stellt also einen langwierigen, schleichenden Prozess dar, der nicht ohne Weiteres zu beschreiben und zu antizipieren ist.7 In einer globalisierten Welt können solche globalen Prozesse nur durch Medien (Nachrichtendienste, Soziale Medien, Filme, Serien usw.) in den Fokus geraten oder umgekehrt: erst Medien formieren neue epistemologische Objekte wie globale Krisenphänomene. So unterschiedlich die genannten Phänomene dabei auch sind, charakteristisch ist, dass sie gleichzeitig gesellschaftlich hoch relevant und brisant erscheinen, wobei sie (immer wieder) Teil einer dramatisierenden Krisenkommunikation werden und so politischen Handlungsdruck ausüben. Krise wird somit als Erklärungsmodell bevorzugt, das grundsätzlich medientechnisch mitkonstituiert wird. Zum Beispiel wird die Krise in Genres wie Kriegsfilmen, Epidemie- und Naturkatastrophenfilmen, Postapokalypse- und Wirtschaftskrisenfilmen prominent, also in Genres, die mögliche gesellschaftliche Gefahren durchspielen. Das Erzählen von Krisengeschichten ermöglicht es in diesem Zusammenhang, globale Phänomene zu vereindeutigen und damit die Wirklichkeit in eine kognitiv zugängliche Form zu bringen. Die

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le Welt, Bd. 20: Studien zu Beginn der modernen Welt, Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 264–300. Koselleck, Reinhart (1973): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Berlin: Suhrkamp 2023. Vgl. Balint, Iuditha/Wortmann, Thomas: »Die Schönheit der Tulpe. Oder: Krisen erzählen«, in: dies. (Hg.), Krisen erzählen, Paderborn: Wilhelm Fink 2021, S. 1–19. Vgl. Horn, Eva: »Katastrophen – Der Traum vom Einfachen und die Herausforderung des Komplexen«, in: Martin Dürnberger (Hg.), Die Komplexität der Welt und die Sehnsucht nach Einfachheit, Innsbruck 2019, 29–50, S. 41. Vgl. ebd., S. 44.

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Ausrufung einer Krise stellt zugleich eine spezifische performative Sprechaktform im Sinne von John L. Austin dar, drängt sie doch zu Handlungen in der sozialen Realität. Die Konjunktur der Krise kann man mit Walburga Hülk daher grundsätzlich als Reaktion auf gesellschaftliche Wandlungs- und Verunsicherungsprozesse sehen – globale Prozesse übersteigen eben individuelle Kapazitäten –, wobei häufig schwer zu entscheiden ist, ob die Krise vor dem Narrativ da war oder erst das Narrativ der Krise als solche erkennen ließ oder gar konstituiert hat: »Das Narrativ ›Krise‹ reagiert auf ein unerwartetes, unübersichtliches Geschehen, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind.«8 Krise als Erklärungsmodell leistet also Komplexitätsreduktion, Konkretisierung und Orientierung im Datenfluss.9 So stellt die Krise eines der beliebtesten Narrative der Gegenwart dar, das von der Historiografie über die Politik bis hin zum Kino reicht und als ein bevorzugter Zugang zur aktuellen politischen Wirklichkeit dient. Die Krise durchzieht also längst die Gesellschaften und avanciert zu einem gängigen Kommunikationsmodus, wie die Herausgeber:innen der Studie Krise als Erzählung festhalten: Ist die Krise möglicherweise längst zu einem intermittierenden, symbolisch generalisierten Kommunikationscode der Massenmedien geworden? […] Zu beobachten ist, dass etliche mediale Gattungen oder Formate von Krisen leben, dass sich ganze Diskursfelder und Wissenschaften überhaupt erst aus der Wahrnehmung von Krisen herausbilden.10 Krise zu analysieren ist daher immer schon ein kulturwissenschaftliches, interdisziplinäres und intermediales Unterfangen, wobei die Form der Krise und die Medien, in denen die Krise erzählt wird, eine zentrale Rolle spielen.11

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Hülk, Walburga: »Narrative der Krise«, in: dies./Uta Fenske/Gregor Schuhen (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld: transcript 2013, S. 113–132, hier S. 118. Dazu auch J. Balint/T. Wortmann: Die Schönheit der Tulpe, S. 1–19. Fenske, Uta/Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor: »Vorwort«, in: dies., Die Krise als Erzählung, S. 7–8, hier S. 7f. Vgl. dazu Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper: »Krisengeschichte(n). ›Krise‹ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung«, in: dies. (Hg.), Krisengeschichte(n), Stuttgart: Steiner 2013, S. 9–23.

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Was dies für die Kommunikation über komplexe Phänomene bedeutet und welche Effekte dabei entstehen, ist zeitdiagnostisch interessant, aber auch kritisch zu befragen. Erzählen Filme, Serien oder berichten Nachrichtendienste von Krisen, verhandeln oder entwerfen sie auch Erklärungen für deren Entstehung und ggf. Lösungsangebote? Zweifelsohne können etwa dystopische Szenarien, in denen die weitere Entwicklung von Klimakatastrophen oder problematische Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens nach einer apokalyptischen Situation (z.B. Pandemie) ausgestaltet werden, zu einer Kommunikation über Probleme beitragen. Betrachtet man jedoch beispielsweise Endzeitszenarien, wird deutlich, dass deren Erzählbarkeit immer auch bedeutet, dass sie in gewisser Weise als erfolgreiche Überlebensgeschichte präsentiert werden. Dies gilt unabhängig davon, welchen Modellen von Apokalypse sie innerfiktional folgen. Auch deshalb lassen sich solche Krisenerzählungen und überhaupt Krisengenres mit angenehmem Schauer konsumieren. Wie passt nun Weihnachten in die Reihung globaler Krisenphänomene und Überlegungen zu öffentlicher Kommunikation und (genrespezifischer) Erzählbarkeit von Krisen? Eigentlich ist Weihnachten in der Bibel ebenfalls eine Krisengeschichte, jedoch wird dieses Fest heutzutage vor allem mit Neuanfang und Hoffnung assoziiert – erscheint also zunächst intuitiv als Gegenteil der Krise und als eine Art Antidot. Auch wird Weihnachten zwar global in allen christlich geprägten Ländern gefeiert und ist öffentlich als zentraler Motor der Konsumkultur präsent, wird jedoch primär als ein Familienfest verstanden – also auf Individuen zugeschnitten, klein eingerichtet und in Bezug auf die Feierlichkeiten als übersichtlich gezeichnet. Letztendlich scheinen sich mit Weihnachten weder Verunsicherung noch Wandel zu verbinden. Gerade weil Weihnachten stark ritualisiert ist, verspricht es in erster Linie Stabilität. Dieses Fest ist eher eine Struktur, die sich dem Wandel widersetzt, indem nur ein kleiner Variationsraum für die Gestaltung von Weihnachten zugelassen wird. Weihnachten hat jedoch gerade im Film (auch) eine Krisenform angenommen. Die Krise hat sich in verschiedene Erfahrungs- und Lebensbereiche hinein verbreitet. Nach Reinhard Koselleck ist der Krisenbegriff aufgrund seines metaphorischen Potenzials überall anwendbar: Aufgrund seiner metaphorischen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit beginnt der Begriff zu schillern. Er dringt in die Alltagssprache ein und wird zum Schlagwort. In unserem Jahrhundert gibt es kaum einen Lebensbereich, der nicht mit Hilfe dieses Ausdrucks seine entscheidungsträchtigen Akzente er-

Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica: Weihnachten als Krise?

hält. […] [D]er Ausdruck bleibt so vielschichtig und unklar wie die Emotionen, die sich an ihn hängen.12 Möglicherweise trägt gerade der Film, der sich durch die Krise durchaus ästhetisch profiliert und zugleich immer schon alle Probleme individuell be- und verhandelt, zu diesem Schillern bei. Darauf verweisen auch Iuditha Balint und Thomas Wortmann,13 wenn sie anmerken, dass sich im Spielfilm immer mehrere Krisen überlagern, und zwar in der Regel individuelle mit gesellschaftlichen, nicht selten sogar globalen. Denn im Film steht (zumeist) eine Figur im Zentrum, durch die die gesellschaftlichen Bereiche angegangen werden. Die Individualisierung der Krisen wirkt subjektivierend und emotionalisierend – eine Perspektive, auf die bereits Koselleck hingewiesen hat, indem er die Verbreitung der Krise im Alltag hervorhob. Auch entfaltet der Film die Handlung allein über die diegetisch eingeleitete Destabilisierung, die letztendlich selbst Krisenphänomen ist. Vor diesem Hintergrund wird die Ambivalenz der Krise sichtbar, die Armin Nassehi mit der Liebe zur Krise14 ebenso eindrücklich beschrieben hat, wie es in der Spiegel-Ausgabe 2009 unter der Überschrift Wir Krisenkinder 15 verhandelt wurde. Krise als Erklärungsmodell ist produktiv – sie eröffnet neue Perspektiven, erschafft neue Zugänge. Nach Rolf Parr besteht ihre Funktion darin, Bedeutung zu stiften. So wirkt die Krise zugleich stabilisierend: in der Konstitution von Bedeutungen, die es ermöglichen die Krisen zu verstehen und diskursiv-ästhetische Strategien zu etablieren, die dann in Medien zirkulieren.16 In eben dieser Funktion wird die Krise auch in populäre Weihnachtsgeschichten integriert: Einerseits kommen zu Weihnachten verschiedene Akteur:innen in einem engen Raum zusammen, womit sich eine emotionale, strukturelle und generische Aushandlung von Konflikten anbietet, die über das Jahr akkumuliert wurden. Die Krise ermöglicht so, eine Erzählung dramaturgisch und dramatisch zu entfalten. Andererseits sollen alle Krisensituationen gemäß kultu12 13 14 15

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R. Koselleck: Krise, S. 617. I. Balint/T. Wortmann: Die Schönheit der Tulpe, S. 10. Nassehi, Armin (Hg.): Krisen lieben. Kursbuch 170 (Februar 2012), Hamburg 2012. Oehmke, Phillipp/Rohr, Mathieu von/Schulz, Sandra: »Die Krisenprofis«, in: Der Spiegel 25 (2009): Wir Krisenkinder: Wie junge Deutsche ihre Zukunft sehen, https:// www.spiegel.de/politik/die-krisenprofis-a-8dffc0a3-0002-0001-0000-000065717404 ?context=issue (zuletzt aufgerufen am 19.06.2023). Parr, Rolf: »Krisen und/oder Katastrophen erzählen?«, in: Balint/Wortmann, Krisen erzählen, S. 21–34, hier S. 23.

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rellen Vorstellungen gelöst werden, schließlich geht es um Weihnachten und somit um die Zeit, die sich mit der Erwartung verknüpft, dass Konflikte beigelegt werden sollten oder zumindest zeitweise stillgestellt werden könnten. Individuelle Lösungen werden hier im Hinblick auf ein gesellschaftsumfassendes Programm gefunden und gewinnen dadurch überindividuelle Bedeutung. Die generischen Elemente des Weihnachtsfilms verlangen also vom Krisennarrativ einen positiven Ausgang: Das Wunschszenario Weihnachten soll sich als stärker erweisen als die Bedrohung, die das Fest zu stören droht.

Weihnachten als Decknarrativ Im Weihnachtsfilm verbinden sich aktuelle Krisengeschichten mit dem versöhnlichen Narrativ der Weihnacht, weswegen die Krise oftmals nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Aufgrund seiner diskursiv-generischen Konfiguration (Familienfest, wiederkehrende Rituale, Harmonie/Versöhnung) etabliert der Weihnachtsfilm vor allem ein Narrativ, das in Analogie zu Deckerinnerungen bei Sigmund Freud durch Genre-Konventionen Krisen mit Weihnachtsdekoration und Ritualen überblendet. Feierlichkeiten rahmen die Krisen, die sich nur teilweise und punktuell entfalten können. Krise erscheint im Kontext von Weihnachten daher strukturell mit dem Trauma verwandt, auch in Bezug auf die Wiederholung.17 Denn weihnachtliche Krisen holen die Figuren/die Zuschauenden jedes Jahr ein und vergehen nie: Nächstes Weihachten ist die Krise wieder da, wobei Genre-Elemente die Krise am Ende erneut verdecken, indem das Publikum mit scheinbaren Wunschlösungen vertröstet wird. Und da es um ein zentrales westliches Ritual wie Weihnachten geht, bei dem wiederholt christlich-bürgerliche Gesellschaftsstrukturen performativ reetabliert werden, bekommt die Krise eine strukturelle, ontologische Dimension. Krisen, die zu Weihnachten verhandelt werden, können nicht gelöst werden. Sie können höchstens ebenfalls rituell ausgehandelt werden, denn sie sind systemimmanent. Familie als grundlegender Bestandteil bzw. Bauteil der Gesellschaft birgt in sich potenziell die Generationskrise, Ehe- und Liebeskrise(n), die Krise der Geschlechterordnung sowie Krisen der

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Vgl. dazu die nach wie vor aktuelle Studie von Bronfen, Elisabeth/Erdle, Birgit R./ Weigel, Sigrid (Hg.): Trauma: Ein Konzept zwischen der Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau 1999. Mehr filmisch gedacht in Bronfen, Elisabeth: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood, Berlin: Volk und Welt 1999.

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Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit. Krise macht somit Grenzen bürgerlicher Ideologie sichtbar. Zugleich ist Krise ein produktives Mittel, um erstarrte Strukturen in Bezug auf gültige kulturelle Diskurse aktiv auszuhandeln, neu zu justieren und sie ein Stück weit zu aktualisieren. Krise thematisiert also Probleme der westlichen Gesellschaft und legitimiert dadurch zugleich Erneuerungen, die notwendig sind und die zugleich ritualisiert aufgefangen werden. Die Krise kommt aber – und das ist unser interessanter Befund – vor allem durch die Zeitstruktur mit Weihnachten zusammen. Für Koselleck ist die Krise primär ein Zeitphänomen, das zur Entscheidung drängt, was an der Kippoder Wendefigur (zum Guten oder zum Schlechten) sichtbar wird. Krise, so könnte man aufgrund der Spezifik des Decknarrativs festhalten, ist zugleich ein Symptom, das auf die Störungen, Diskontinuitäten und Dysfunktionen der Gesellschaft hinweist,18 die eine Lösung und somit (gesellschaftliches) Handeln einfordern. Weihnachten ist ein wiederholbares Fest, dabei aber zum einen von kurzer Dauer und zum anderen eine Art Zäsur, die das Jahr in die Zeit vor und nach Weihnachten aufteilt. Als Feier zum Jahresende drängt es so gerade innerhalb neoliberaler Gesellschaften – gemeinsam mit Silvester und Neujahr – zu einer Art Resümee der Leistung des vergangenen Jahres. Weihnachten ist somit durch die Herausforderung geprägt, individuelle Errungenschaften vor dem Hintergrund bürgerlicher Ideale demonstrieren und perfekt vor anderen im Fest in Szene setzen zu müssen. In dieser Logik des Schlusses zielt Weihnachten zugleich auf eine Disziplinierung der Zeit, durch die das Ende ritualisiert zum Ausdruck kommt, aber vielleicht auch die Schmerzen des Schlusses, in denen immer auch die Erfahrung genereller Endlichkeit mitschwingt und wiederum durch Feierlichkeiten verdeckt wird – mit Adventskalender, Countdown und Kerzen auf dem Adventskranz, die durch unterschiedliche Taktungen und Zählungen das Ende performativ nahebringen. Dazu gehören auch Fernsehprogramme, die gleiche Formate, Shows und Filme zu Weihnachten zeigen.19 Zu Weihnachten wird somit die Zeit selbst als Struktur bewusst gemacht und gelebt – im Zählen, in der Wiederholung, Ende und Anfang, wobei zu Weihnachten selbst durch die Referenz zur Ewigkeit eine kurze Aufhebung der Zeit an Heiligabend ihren Ausdruck findet. Die Krise thematisiert daher zugleich die Problematik des Endes und 18 19

Dazu z.B. Gradinari, Irina/Niehaus, Michael (Hg.): Störung, Verunsicherung, Destabilisierung. Filmanalysen, Hagen: University Press 2022. Vgl. Niehaus, Michael: Was ist ein Format? Hannover: Wehrhahn 2018.

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des Anfangs, die in dieser verkehrten Reihenfolge gerade die Hoffnung auf das Weitergehen schenkt und Krise notwendig mit der Vorstellung einer Lösung (im christlichen Sinne: Heilserlösung) beendet. Krise kommt, das machen die hier versammelten Beiträge deutlich, bevorzugt in drei möglichen Varianten zum Ausdruck: Als eine wunderbare Zeitlichkeit, als Reflexion des Seriellen und als Zerstörung der Zeit. Die wunderbare Zeitlichkeit bedeutet ein zeitliches Experiment, bei dem die Krise durch die Einmischung höherer Instanzen in den Verlauf der Zeit sichtbar wird. Zur Inszenierung dieser Zeit bieten sich biblische Referenzen an, aber auch aus medienspezifischen Gründen liegt diese Variante nahe – Filme mögen Zeitexperimente,20 haben grundsätzlich das Zeitverständnis21 verändert. In Weihnachtsfilmen können ein paralleler Zeitverlauf entstehen oder sich göttliche und irdische Zeit kreuzen, wie zum Beispiel in den Hollywood-Klassikern It’s a wonderful life (USA 1946, R: Frank Capra), Miracle on 34th Street (USA 1947, R: George Seaton) oder The Bishop’s Wife (USA 1947, R: Henry Koster). Auch ist es möglich, Weihnachten zu ›stehlen‹, also den Zeitverlauf auszusetzen, wie der Alien-Film Santa Claus conquers the Martians (USA 1964, R: Nicholas Webster) durchspielt. Die Filme wenden sich gewissermaßen gegen das im 20. Jahrhundert herausgebildete historische Bewusstsein,22 sehnen sie sich doch mit der Inszenierung der ›ewigen‹ Zeit nach der Aufhebung des (oft als Last erfahrenen) Geschichtsverlaufs, wobei Weihnachtsfilme zugleich die Zeit durch die eigene medientechnologische Beschaffenheit, aber auch durch die Form der Einmischung in die Menschheitsgeschichte, in das Weihnachtsritual wieder einschreiben. Diese Einmischung wird als weihnachtliches Wunder eines göttlichen oder außerirdischen Eingriffs deutlich, der eine oder mehrere jeweils aktuelle Krisen voraussetzt, sonst wäre eine solche Intervention nicht nötig. In diesem Zusammenhang werden solche Figuren wie Weihnachtsmann, Engel oder Alien öfters gleichgesetzt – sie sind Boten (selten: Botinnen) höherer Ordnung, die eine Lösung bringen, wobei damit weitere diskursive Kri20

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Z.B. Lim, Bliss Cua: Translating time. Cinema, the fantastic, and temporal critique. Durham: Duke University Press 2009; Mroz, Matilda: Temporality and film analysis. Edinburgh: Edinburgh University Press 2012. Zeitbilder, typisch für das spätere Erzählkino, entstehen nach Gilles Deleuze durch die Krise des klassischen Erzählkinos in der Nachkriegszeit. Sie bringen ihm zufolge neue Formen des Denkens hervor. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Dazu mehr bei Pause, Johannes: Texturen der Zeit: Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Köln: Böhlau 2012.

Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica: Weihnachten als Krise?

sen jener Zeit verhandelt werden. Solche Zeitexperimente verdecken zugleich die politische Natur des Weihnachtsfestes. Durch das Ringen historischer und ewiger Zeitachsen wird das Weihnachtsfest selbst zur Epiphanie, zum Erlebnis reiner Präsenz außerhalb des Zeitlichen23  – ein Phänomen, das filmischaffektiv durch die wunderbare Zeitlichkeit erreicht wird. Johannes Pause interessiert sich in diesem Zusammenhang für die Aufdeckung historischer Zeitlichkeit hinter dem Paradigma des Wunderbaren. Er zeigt in Der Weihnachtsmann des Volkes. Miracle on 34th Street und das populistische Kino Hollywoods, wie bekannte Weihnachtsfilme des klassischen Hollywoods sich eines populistischen Paradigmas bedienen, um Amerika unter christlichen, Gott gegebenen Werten erneut zu vereinigen. Der Weihnachtsfilm ist daher vor allem visuell politischer Herkunft, führt er doch christliche Symbolik mit politischer Technologie zusammen, um das ›Volk‹ zu konstituieren, zu verhandeln und rituell jährlich allen Krisen zum Trotz über das Weihnachtswunder zu vereinigen. Der Weihnachtsfilm der 1940er Jahre entstammt daher einer Krise der Repräsentation des Volks, auf die der populistische Film in den 1930er Jahren erstmals reagierte. In Engel (in) der Krise: It’s a wonderful life (USA 1946) widmet sich Nils Jablonski ebenfalls den Repräsentationsformen, allerdings aus der Perspektive eines sog. Krisen-Begehrens. Am Weihnachtsklassiker zeichnet er das Wirken metaphorischer, säkularer und himmlischer Engel in der Geschichte nach und untersucht, wie über verschiedene Zeitlichkeiten und Zeitstrukturen auf der Ebene des Plots filmisch eine Krisenerzählung mit Happy End für Individuen wie Gemeinschaft inszeniert wird. Engel sind somit Verkörperungen von Krisen und wunderbaren Lösungen zugleich – also selbst narrative Wendefiguren. Die narratologische Perspektive auf Krise(n) und Krisenhaftigkeit wird dabei durch den Blick auf die US-amerikanische Zeitgeschichte ergänzt. Nikolas Immer betrachtet mit Mars macht mobil. Abduktion und Aberration in Santa Claus conquers the Martians (1964) einen weitgehend vergessenen Trashfilm, der im Kontext des Kalten Krieges mit seinen Raumfahrtprogrammen und Systemkonkurrenzkämpfen eine Art Kulturkampf um das Weihnachtsfest entwirft. Die Entführung von Santa Claus auf den Mars ist

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In der Literatur vgl. J. Pause: Texturen der Zeit; Kühn, Ralf: TempusRätsel zum TempusWechsel. Moderne Zeitdiskurse und Gegenwartsliteratur zwischen Berechnung und Verrätselung der Zeit, Freiburg: Universität Tübingen 2005; Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Carl Hanser 2013.

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eine Krise, in der, typisch für Kulturkontaktszenarien, die Kultur der Anderen zum Verhandlungsraum für das Wesen (eigener) kultureller Identität und (nicht-)menschlichen Verhaltens wird. Dabei werden das Spielen ebenso wie das Weihnachtsfest selbst in wörtlichem und übertragenem Sinn gerettet und bestätigt: Die Marsianer:innen werden zu einer »festkulturell kolonialisierten Gemeinschaft«, und Santa Claus wird schließlich erlaubt zurückzukehren. An der Serialität und der Rhythmizität von Weihnachten setzen Krisen an, die nicht durch ein Wunder gelöst werden können. Unter der Bedingung der Reflexion des Seriellen ist Krise sowohl die Wiederholung selbst als Struktur des Immergleichen als auch die Gefahr der Aufhebung der Wiederholung, scheint diese doch eine Ordnung hervorzubringen. Wiederholung korreliert dabei mit etablierten medialen Repräsentationssystemen wie Genres, Serien, Fernsehformaten, Remakes, Intertextualität und mit psychischen individuellen und kollektiven sozialen Strukturen wie Stereotypen, Mustern, Traditionen, Ritualen, die die Welt sinnhaft und kognitiv erfahrbar machen. Zu Weihnachten scheint dieses basale Funktionsprinzip von Medien-, Ästhetik-, Industrie-, Technik- bis hin zu Herrschaftsstrukturen24 einer Revision ausgesetzt zu sein – als ob man nun erneut entscheiden könnte, ob die Wiederholung weiter stattfindet oder beendet werden soll. Auch stehen die Einmaligkeit der Geburt Christi und die Wiederholung des Festes einander gegenüber. In den Fokus der Weihnachtsfilme geraten vor allem Formen von Relationen, etwa Prototypen und Differenzen, Homogenitäten und Diversitäten, Taxonomien und Hierarchien, die Serialität nach Christine Blättler verwaltet und entfaltet.25 So wird die Wiederholung unterschiedlich als Synthese der sich sukzessiv entwickelnden Elemente (Anna), als Repetition (Hallmark Weihnachtsfilme), Wiederholung mit gleichzeitiger Differenzierung (The West Wing) oder als innere Entfaltung und zugleich gewaltsamer Prozess (Hjem til jul/Weihnachten zu Hause) durchgespielt. Auch hier kreuzen sich die Krisennarrative mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, wobei die 24

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Vgl. die Klassiker Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Zweite Fassung), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 350–380 und Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1997. Dazu z.B. Blättler, Christine: »Serial Sixties auf Französisch«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 7, H. 2 (2012), S. 70–79. Blättler, Christine: »Überlegungen zur Serialität als ästhetischem Begriff«, in: Weimarer Beiträge 49/4 (2003), S. 502–516; Blättler, Christine: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München: Wilhelm Fink 2010, S. 7–15.

Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica: Weihnachten als Krise?

Zeitstruktur selbst als krisenhaft erfahren wird. Nach der Logik der Aufschiebung und der Differenzierung,26 die der Serie zugrunde liegt, ringen die Serien vor allem um den Sinn von Weihnachten. Die Wiederholung scheint die Erinnerung an die Geburt Christi wachzuhalten und diese zugleich zu entzaubern, zu automatisieren und ihr den Sinn zu rauben, wenn die Serie sich verselbständigt und in den Vordergrund rückt. Zugleich aktualisiert die Wiederholung das ›Urereignis‹, ohne jedoch seinen ›ursprünglichen‹ Sinn verschieben zu dürfen. Die Aktualisierung und die damit erzeugten Differenzen dürfen nur den Kontext des Festes und des Rituals verändern, nicht die Geburt Christi selbst, der als ein ›ewiger‹ Signifikant in der Struktur der Sinnproduktion als eine leere Hülle verharrt, um wiederholt durch neue Signifikate aufgefüllt zu werden. Die Geburt Christi scheint also im Sinne von Slavoj Žižek als eine Art des Herrensignifikanten zu fungieren,27 der der westlichen christlichen Kultur über die Jahrhunderte eine historische Kontinuität ermöglichte und der durch die Wiederholung und die damit evozierten Differenzen aktualisiert und paradox entleert wird. Die Krisenchoreografie in einer TV-Weihnachts- und Ballettserie untersucht Andrea Geier in ihrem Beitrag Tanzend von der Krise ins Glück. Bewegte, behinderte und begabte Körper in der ZDF-Weihnachtsserie Anna. Ausgehend von einem Unfall als existenzieller Krise wird in der Serie ein Spannungsfeld von krisenhaften Ereignissen und Lösungen entwickelt, in dem Wiederholungsund Wiedererkennungseffekte eine zentrale Rolle spielen. Andrea Geier arbeitet die Konstruktionen von Dis/Ability im Kontext der inszenierten Krisenbewältigungen heraus und untersucht, welche Vorstellung von Lebenszielen und Lebensglück im Rahmen der Coming of Age-Geschichte entwickelt werden. Im Vergleich mit dem Jugendbuch von Justus Pfaue, das als Vorlage diente, wird die mediale Inszenierung von Bewegung, Behinderung und Tanzen – auch mit

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Frei nach Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 71–76. Žižek, Slavoj: Disparitäten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, S. 28f. In Anlehnung an Lacans Überlegungen definiert der slowenische Philosoph einen Herrensignifikanten als »den reflexiven Signifikanten, der ebenjenen Mangel des Signifikanten auffüllt« und somit eine Bedeutung konstituiert, indem er unsere »Unkenntnis der wahren Zusammenhänge und Kausalitäten« verschleiert. Interessant ist dabei, dass Žižek in diesem Zusammenhang u.a. Gott als Verkörperung eines solchen Herrensignifikanten diskutiert. Gott, wie auch andere abstrakte moderne Begriffe wie »postindustrielle Gesellschaften« oder »asiatische Produktionsweise« sind »scheinbar mit Inhalt gefüllt«, in Wahrheit lassen sie aber »bloß unser Unwissen erkennen«.

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Blick auf populäre Tanzfilme und verschiedene Tanzstile – betrachtet und gezeigt, wie dadurch Stimmung und Emotionslenkung erzeugt werden. Lena Koseck skizziert in Weihnachten im amerikanischen Fernsehen – Der Hallmark Channel und die Krisen der Frau in der Weihnachtsromanze zunächst Produkt(ions)konzepte der Hallmark-Filme und veranschaulicht anschließend an vier Weihnachtsfilmen aus den Jahren 2014 bis 2022 nicht nur, dass Serialität und Wiederholung als Erfolgsrezepte funktionieren, sondern wie im Rahmen von bestimmten Mustern und Merkmalsclustern – Ort, Setting und Konflikte – »Krisen standardisiert und gebändigt werden können«. Einer limitierten Varianz bestimmter Krisenszenarien, die Frauenfiguren im Beruf wie im Privaten erleben, korrespondieren dazu passende Lösungen. Um das – klassischerweise heterosexuelle – Liebesglück zu finden, werden dabei allerdings durchaus unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen an Männer- und Frauenfiguren gestellt. Im Beitrag Weihnachten in Gefahr: Heimatliches und Un-›heim‹-liches in der Netflix-Serie Hjem til jul leuchtet Daniela Schulz ausgehend vom adventlichen Countdown einer Partnersuche die Genre-Zuordnungen der Serie aus. Sie bezieht die erzählte Zeitdimension des Plots auf die Kalendergeschichte, die sich mit der Aufgabe verbindet, Weihnachten zu retten, beschreibt die Rhythmen von Störung und Lösung in den familien- und partnerschaftsbezogenen Turbulenzen der beiden Staffeln vor dem Hintergrund der skandinavischen Heimatserie, Weihnachtskultur und der Ästhetik von ›Nordic Noir‹. Dana Steglich zeigt in Weihnachten im Weißen Haus. Politische, gesellschaftliche und private Krisen in The West Wing, wie die Serie ihre Struktur mit der Arbeit der Regierung synchronisiert. Politische Arbeitsprozesse sind nicht zu stoppen – auf diese Weise konstituiert die Serie das serielle Prinzip als neues Gesetz gegenüber dem Göttlichen, das das Individuelle weit übersteigt. Weihnachten bleibt daher in dieser Struktur etwas Anachronistisches und Überflüssiges, das das Sich-Ablenken von ›wichtigen‹ Problemen und das Absteigen der Machthabenden von der Höhe ihrer Position zum Publikum erfordert. Die analysierten Weihnachtsfolgen der ersten und zweiten Staffel sollen das Publikum auf die Feierlichkeit einstimmen. So gehen die Politiker:innen aus dem Weißen Haus zu sogenannten einfachen Menschen, oder die Serie wendet sich individuellen Problemen zu, etwa einem Trauma nach erlebter Gewalt, um danach weiterhin die Aufopferung individueller Interessen zugunsten des Politischen und Gesellschaftlichen zu feiern. Krisen sind hier grundsätzlich globale, politische Krisen, die individuelle Probleme in den Hintergrund rücken lassen und so letztlich abwerten.

Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica: Weihnachten als Krise?

Der Rhythmizität und vor allem den wunderbaren Zeitexperimenten setzen manche Weihnachtsfilme eine regelrechte Zerstörung der Zeit entgegen. Was ist denn, wenn nach dem Ende kein neuer Anfang folgt und ein kulturelles Weihnachtsritual die Endlichkeit des menschlichen Lebens verdeckt? Der Zeit wohnt somit selbst eine gewaltsame Dimension inne, die die Filme über verschiedene Strategien zum Ausdruck zu bringen versuchen, wobei diese der Medien- und Genrelogik entsprechend gestaltet werden. Die Zerstörung der Zeit kann komisch – wie im Slapstick – geschehen oder aber grausam durch die Überbietung der Gewalt und den Exzess der Morde im Thriller (Wir können nicht anders), Kriminal- (Väterchen Frost), Horror- und Apokalypsefilm (Better Watch Out und Silent Night), im Endzeitgenre also. Der Tod erscheint als das letzte und wirksamste Mittel, Zeitlichkeit aufzuheben. Krise und Zerstörung werden dabei in Bezug auf Ordnungs- und Herrschaftssysteme miteinander verschaltet, wobei Weihnachten zu einem Symbol verkommt, das der Gewalt gleichwohl eine ontologische Dimension verleiht – auch hier bleibt es ein Herrensignifikant der westlichen Zivilisation, allerdings seiner Signifizierungskraft beraubt und so in seiner ›reinen‹ Symbolhaftigkeit entlarvt. Weihnachten wird zur Dekoration, die weder die Zerstörung aufhalten noch die Versöhnung oder den Anfang initiieren kann, wodurch die christliche Welt mitsamt den darauf aufgebauten bürgerlichen Werten in Frage gestellt oder gar ganz beseitigt wird. Durch die Entkräftung von Weihnachten als zentralem christlichem Ritual scheint auch das Fundament der westlichen Kultur zu bröckeln. Die Filme entledigen sich allerdings nicht nur zentraler Mechanismen des Zusammenlebens und der bürgerlichen Ideale, sondern die Gewalt ›drängt‹ Weihnachten in den Hintergrund, und die Gewaltdarstellungen verselbständigen sich: Sie nehmen viel Raum in Anspruch und die Gewaltchoreografie spielt eine zentrale Rolle. Sie überwältigen dadurch die Zuschauenden in ihrer vorsymbolischen, somatischen Wirkung, wie es einst Linda Williams28 beschrieben hat, und fungieren so als Quelle jener (Un-)Lust, die die Zeitlosigkeit in Zeitdehnung, Schock und durch Sinnlosigkeit als Kinoerlebnis erfahren lässt. Wird die Aufhebung der Zeit durch die Inszenierung der wunderbaren Zeitlichkeit als Epiphanie erlebt, so nähert

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Williams, Linda: »Filmkörper: Gender, Genre und Exzess«, in: montage AV 18, 2 (2009), S. 9–30.

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sich hier die Erfahrung der Zeitlosigkeit dem sinnlosen Realen im Sinne von Lacan, das eher traumatischer Natur ist.29 Es scheint naheliegend anzunehmen, dass ein Slapstick-Film über Weihnachten das Weihnachtsfest »mehr oder weniger zwangsläufig zerlegen« wird. In Weihnachten im Slapstick untersucht Michael Niehaus differenziert an einer Reihe von Beispielen, darunter Big Business (USA 1929) mit Stan Laurel und Oliver Hardy, wie dies im Slapstick-Film pars pro toto am Gegenstand des Weihnachtsbaumes geschieht. Der Beitrag gibt material- und detailreich Einblicke in verschiedene Varianten komödiantisch-gewaltsam-anarchischer bis blasphemischer Weihnachtsbaum-Zerlegungen. Denn es ist nicht nur zu beobachten, dass mit der (trügerischen) Hoffnung auf ein gutes Ende gespielt wird. Vielmehr wird das Weihnachtsfest keineswegs immer notwendig ruiniert, und es ist sogar last but not least im Slapstick auch deshalb in der Krise, damit es gerettet werden kann. In seinem Beitrag »Wir können nicht anders«: Der Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats im aktuellen deutschen Film erarbeitet Peter Scheinpflug zunächst genretheoretische Überlegungen zu Eigenlogiken unterschiedlicher Genres, in denen sich die (weihnachtlichen) Krisen finden, und der genrekonstitutiven Kraft des Weihnachtsfilms. In den Einzelinterpretationen erweist sich dann die Weihnachtsmann-Maskerade als Dreh- und Angelpunkt unterschiedlicher Krisenerzählungen, in denen patriarchale Beziehungsgefüge vorgeführt und Konflikte innerhalb aktuell bestehender Ordnungen gewaltsam geklärt werden, aber ebenso ein Weihnachtswunder präsentiert wird. Zu Weihnachten wird die Krise des Patriarchats mit der Krise von Männlichkeit kurzgeschlossen und letztendlich auf diese Weise stabilisiert, gehört doch Krise konstitutiv zu prominenten Erzählweisen über Männer. Irina Gradinari zeigt in ihrem Beitrag Über die Krise als transmediales Genrenarrativ. Better Watch Out (2016) und Silent Night (2021), wie die Wiederholung durch Zerstörung eines Kreises von Jugendlichen und gar der ganzen Menschheit aufgehoben wird. Zeitgleich zu Weihnachten droht das ultimative Ende – der Tod, wobei die Filme damit die prominenten Figuren des Horrors

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Lacan, Jaques: Die Ethik der Psychoanalyse: Das Seminar VII (1956 – 1960), Weinheim/ Berlin: Quadriga 1986, S. 61. Für eine genrespezifische Reflexion des Realen im Psychothriller und Horrorfilm vgl. Gradinari, Irina: »Genre, Gender und Lust an der Gewalt: Zum Serienmordfilm«, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für die Filmforschung 10 (2016): Gender und Gender, hg. Ivo Ritzer/Peter Schulze, S. 45–61, https://www.rabbiteye.de/2016 /10/gradinari_serienmordfilm.pdf.

Irina Gradinari, Andrea Geier und Irmtraud Hnilica: Weihnachten als Krise?

und der Weihnachtskomödie, das Final Girl und die Kevin-Figur, entsorgen. Es scheint, dass das bestehende Repräsentationssystem einen fundamentalen Wandel durchläuft und politische Symbole der 1980er und 1990er Jahre nicht mehr braucht. In Horrorfilmen überkreuzen sich in der Regel mindestens zwei Krisen – eine genrespezifische und eine diskursive Krise –, wodurch grundsätzlich ein transmediales Genrenarrativ etabliert wird. Zusammenfassend scheinen Weihnachtsfilme eine Vielfalt von Krisennarrativen zu entfalten, die über die Beschaffenheit der westlichen Kultur und deren Repräsentationssystem Aufschluss geben und diese über ihr zentrales Gründungsritual auf dessen Aktualität und Sinnhaftigkeit befragen. Die Breite solcher kulturellen Verhandlungen konnte in dieser kleinen Studie nur partiell veranschaulicht werden. Der Band dokumentiert Beiträge aus der Sequel-Tagung Weihnachtsfilme lesen II: Krisengeschichten, die durch eine Kooperation des Centrums für Gender und Postcolonial Studies der Universität Trier und der Forschungsgruppe »Gender Politics« der FernUniversität in Hagen im November 2022 in Hagen zustande kam. Für die Organisation bedanken wir uns besonders bei der wissenschaftlichen Koordinatorin von »Gender Politics«, Carolin Rolf, sowie bei Silvana Schmidt und Anna Spener. Für die Korrektur des Bandes geht unser Dank an Silvana Schmidt und für die Hilfe bei der Einrichtung des Manuskripts an Julia Proost.

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Der Weihnachtsmann des Volkes Miracle on 34th Street und das populistische Kino Hollywoods Johannes Pause

Der Glaube an die Institutionen Was könnte ein besseres Beispiel für die leeren Versprechen der kapitalistischen Konsumkultur abgeben als ein Mann in einem Weihnachtskostüm, der während der Adventszeit vor der sich massenhaft durch die Straßen wälzenden Einwohnerschaft einer amerikanischen Großstadt Werbung für ein Kaufhaus macht? In den großen Weihnachtsfilm-Klassikern des Hollywoodkinos sind es jedoch gerade solche eigentlich entwerteten, rein formellen Zitate des ›Festes der Liebe‹, die eine wahrhaftige Weihnachtserfahrung möglich machen:1 Die korrumpierte Inszenierung wird unvermittelt zum ›authentischen‹ Erlebnis nicht nur des Festes selbst, sondern auch eines besseren Amerikas, das sich – ganz im Geiste des Kinos dieser Zeit – durch nachbarschaftliche Gemeinschaft2 und gesellschaftlichen Konsens3 auszeichnet. Der Weihnachtsfilm des Classical Hollywood erzählt so von der Transsubstantiation kollektiver Imaginationen in lebendige gesellschaftliche Wirklichkeit. Mal mehr, mal weniger subtil stattet er sich im Zuge dessen auch selbst mit einer politischen Mission aus: Fiktionen wie jene, die das Kino erzeugt, werden als wirkmächtige Agenten gesellschaftlicher Erneuerung vorgestellt.

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Vgl. Žižek, Slavoj: The Plague of Fantasies, London: Verso 2009, S. 192. Vgl. Richards, Jeffrey: »Frank Capra and the Cinema of Populism«, in: Bill Nichols (Hg.), Movies and Methods. An Anthology, Berkeley: University of California Press 1984, S. 65–78. Vgl. Maltby, Richard: Harmless Entertainment. Hollywood and the Ideology of Consensus, Metuchen, NJ: Scarecrow Press 1983.

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Die 1940er Jahre gelten nicht nur als Höhepunkt des Classical Hollywood, sondern auch als große Zeit des Weihnachtsfilms. In diesem Jahrzehnt entstanden unter anderem die MGM-Produktionen The Shop Around the Corner (USA 1940, R: Ernst Lubitsch), Meet Me in St. Louis (USA 1944, R: Vincente Minnelli) und 3 Godfathers (USA 1948, R: John Ford) und die Warner Brothers-Komödien The Man Who Came to Dinner (USA 1942, R: William Keighley) und Christmas in Connecticut (USA 1945, R: Peter Godfrey). Paramount landete 1940 mit Remember the Night (USA, R: Mitchell Leisen) und 1942 mit Holiday Inn (USA, R: Mark Sandrich) frühe Erfolge, und RKO vertrieb The Bells of St. Mary’s (USA 1945, R: Leo McCarey), It’s a Wonderful Life (USA 1946, R: Frank Capra) und The Bishop’s Wife (USA 1947, R: Henry Koster). Mehrere dieser Titel finden sich heute in populären Listen der ›besten Filme aller Zeiten‹, viele wurden mit Oscars ausgezeichnet, und die meisten waren in ihrer Zeit kommerziell erfolgreich und werden bis heute im Fernsehen gezeigt und auf DVDs vertrieben. Fast alle sind zudem unterschwellig politisch insofern, als dass sie mit Fragen der Gemeinschaftsbildung, der gesellschaftlichen Krisen Amerikas und der Erneuerung seiner politischen oder geistigen Führerschaft verbunden sind. Während dies einerseits durch einen »Bedarf an internem sozialen Zusammenhalt«4 in der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt werden kann, wird in den Filmen andererseits der Anschluss an eine explizit politische Tradition des Hollywood-Kinos erkennbar, der erklärungsbedürftig erscheint: Einige der Regisseure des neuen Weihnachtskinos, namentlich Capra, Ford und McCarey, gelten auch als Protagonisten des populistischen Films,5 einer erfolgreichen Strömung des Hollywood-Kinos der 1930er Jahre, die für ihre offensive und idealistische Auseinandersetzung mit politischen Themen bekannt wurde. In den Weihnachtsfilmen der 1940er Jahre erfährt eben diese Auseinandersetzung eine Fortsetzung, doch lässt sich hier nun eine Sublimierung des Politischen ins Fantastische feststellen, die wesentlich durch die Einführung der traditionell ins Übersinnliche tendierenden Weihnachtsmotivik geleistet wird. Die unterschwellige Kontinuität des filmischen Populismus wird, so soll im Folgenden zunächst plausibel gemacht werden, insbesondere an der politischen Ikonographie des klassischen Weihnachtsfilms kenntlich: In beiden

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Geier, Andrea/Gradinari, Irina/Hnilica, Irmtraud: »Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Weihnachtsfilme lesen. Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023, S. 7–19, hier S. 8. Vgl. Richards, Jeffrey: Visions of Yesterday, London: Routledge 2016.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

dominiert die Frage nach dem Zusammenhalt der Gemeinschaft, dessen Stiftung in der Regel als Problem und daher Krise der Repräsentation gefasst und auf visueller Ebene verhandelt wird.6 Untersucht wird dabei am Beispiel der 20th Century Fox-Produktion Miracle on 34th Street (USA 1947, R: George Seaton) – einem der erfolgreichsten Filme der 1940er Jahre, in dem sich das eingangs beschriebene Wunder eines zur ›echten‹ Weihnachtserfahrung werdenden Konsumexzesses ereignet –, wie das Verhältnis von Staat und Volk, wie Herrschaft, Souveränität und politische Teilhabe in einer bereits entwickelten Bildsprache gefasst werden. Mit Blick auf das populistische Kino interessiert sich der vorliegende Text dabei insbesondere für die Frage, wie der verschobene Fokus des populistischen Projekts, seine vermeintliche Entschärfung durch eine Verschiebung ins Fantastische und Ikonographische erklärt werden kann.7 Argumentiert wird, dass diese ›Entschärfung‹ tatsächlich von einem neuen Verständnis der konstitutiven Rolle von Mythos, Fiktion und Fantasie für die politische Wirklichkeit zeugt: Der Weihnachtsmann wird zur Personifikation einer imaginären Dimension der Politik, der Konflikt der Handlung zum Aushandlungsprozess ihrer Bedeutung. Dies wird überblickshaft am Beispiel einer Reihe von Weihnachtsfilmen verdeutlicht, an denen sich die Merkmale des Hollywood-Populismus besonders gut zeigen lassen. Abschließend wird dann Miracle on 34th Street als direkte Auseinandersetzung mit dem vielleicht größten Klassiker des populistischen Kinos gelesen: Mr. Smith Goes to Washington (USA 1939, R: Frank Capra). In einem Beitrag für The Nation hat Melissa Harris-Perry die politische Bedeutung von Miracle on 34th Street hervorgehoben, indem sie den Film mit dem realen Fall der ehemaligen Bürgerkriegskorrespondentin Francis Church in Beziehung setzte, die, obgleich eigentlich für schonungslosen Realismus bekannt, im Jahr 1897 der jungen Autorin einer Leserzuschrift im Editorial der Sun offiziell versicherte, es gäbe Santa Claus tatsächlich. Die Anekdote illustriere, so Harris-Perry, dass der Glaube an den Weihnachtsmann in der ame6

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Zum Konzept der politischen Repräsentation im populistischen Kino vgl. Pause, Johannes: Populismus und Kino. Politische Repräsentation im Hollywood der 1930er Jahre, Bielefeld: transcript 2023. Dass diese »Verschiebung« freilich nicht harmlos, sondern vielmehr ziemlich »unheimlich« ist, deutet Irina Gradinari an, wenn sie die Faszination des klassischen Weihnachtsfilms für den Tod und die »Vorstellung des Nicht-Geboren-Werdens« herausarbeitet. Vgl. Gradinari, Irina: »Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten. Black Christmas (1974) und Silent night, deadly night (1984)«, in: dies./Geier/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 173–193, hier S. 174.

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rikanischen Kultur schon immer so etwas wie einen »litmus test of Americans’ faith in our own institutions« dargestellt habe: Santa exists only if we make him real through belief. The American project in democracy is similar. Even as we challenge it to be better, fairer and more honest, we still have to believe that democratic governance by the people, through their institutions, can and should exist. Like Santa Claus, democracy requires us to believe that collective faith can be greater than our individual doubts.8 Der Weihnachtsmann ist mithin nicht nur eine Art Gott für Kinder,9 er repräsentiert regelrecht das göttliche Element, das seit der Zeit der ersten Siedler dem Projekt der amerikanischen Gesellschaft und später den demokratisch vereinigen Staaten der Neuen Welt zugeschrieben wird. Wie bereits Carl Schmitt erkannte, ist den USA eine politische Theologie eingeschrieben, kraft welcher »die Stimme des Volkes« stets mit »Gottes Stimme« überblendet wird.10 Das Glaubensgebot des Christentums überträgt sich dabei auf die politischen Institutionen Amerikas, die immer von Neuem als vom Volk für das Volk geschaffen und zugleich als von Gott beseelt erkannt werden müssen – in Miracle on 34th Street namentlich auf Justiz, Post und das Kaufhaus als Inbegriff einer eigentlich durch Zerstreuung und den Verlust von Gemeinschaft gekennzeichneten Moderne. Indem diese modernen Institutionen mit einem – hier gar als kindlich-naiv markierten – Glauben beseelt werden, erweist Hollywood sich nicht nur als Produzent von Ideologien, sondern auch als jener Ort, an dem die Wirkmacht von Ideologie selbst – freilich affirmativ – zur Anschauung gebracht wird. Die phantasmatische Verschiebung der politischen Thematik zeugt so von einem fiktionstheoretischen Verständnis von Staat und Macht, in dem der Glaube an neue und alte Gründungsnarrative wichtiger erscheint als die rechtliche Konstitution des Staatsgebildes oder die nüchterne Diagnose einer von jedem Glauben befreiten Wirklichkeit. Gemeinsames Merkmal eines großen Teils der Weihnachtsfilme der 1940er Jahre ist die Vorstellung, dass der Glaube nicht nur Berge versetzen, sondern auch 8 9 10

Harris-Perry, Melissa: »The Santa Claus Test«, in: The Nation vom 21. Dezember 2011, S. 10. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Wir sind alle Kannibalen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2018, S. 24. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker et Humblot 2015, S. 53.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

politische Ordnung stiften oder, dem Geist des Populismus entsprechend, eine in die Krise geratene Ordnung revitalisieren kann.11 Diese auratische Fiktionalisierung der Institutionen geht, wie ferner gezeigt werden soll, mit einer Neubewertung des Medialen für die Politik einher. Bürger:innen der USA bedürfen einer von allen Individuen des Staates geteilten Imagination des Gemeinsamen, die Benedict Anderson zufolge durch Massenmedien organisiert werden muss, welche allein in der Lage sind, einen geteilten Ereignishorizont bereitzustellen, gegenüber dem sich der Einzelne als Mitglied einer zur Nation homogenisierten Gesellschaft erfahren kann.12 Gleichzeitig bezieht sich diese Imagination im Falle Amerikas aber immer auch auf etwas Höheres, auf eine quasi-göttliche Form der Repräsentanz, die das reale Amerika und sein Ideal, »the ›ought‹ of the good ethical or political order« und »the ›is‹ of human nature or the nature of society« aufeinander beziehen.13 Dieses ideale Amerika, das im 20. Jahrhundert gerne in John Winthrops oft missverstandenen Worten als »city upon a hill« gefasst wird,14 muss im realen Amerika stets erkennbar bleiben – und dazu bedarf es einer himmlischen Vermittlung, eines Mediums des Imaginären, das die technischen Medien beseelt. Wo Massenmedien im klassischen Hollywood-Kino thematisiert werden, wohnt ihnen daher oftmals ein Doppelcharakter inne: Erscheinen sie einerseits als zentrale Agenten einer aus dem Ruder gelaufenen Moderne, die das amerikanische Volk durch Falschinformationen spalten und gesellschaftliche Probleme eher erzeugen als darstellen, besitzen sie andererseits immer auch das Potenzial zu einer im Kern spirituellen Gemeinschaftsstiftung. In seiner Doppelrolle als quasi-religiöse Identifikationsfigur wie als imaginäres Medium einer Botschaft, deren Inhalt wie Adressat die Gemeinschaft ist, werden Weihnachtsmann und andere Geister der Weihnacht – insbesondere handelt es sich um Engel, die als himmlische Funktionäre oder Geister der im Krieg Verstorbenen zu den Menschen auf der Erde stoßen – im Kino der 1940er Jahre mit den Massenmedien der Moderne, mit Zeitung, Brief und Rundfunk

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Vgl. J. Pause: Populismus und Kino, S. 52–62. Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 2010. Ankersmit, Franklin R.: Aesthetic Politics. Political Philosophy Beyond Fact and Value, Stanford: University Press 1997, S. 32. Vgl. Rodgers, Daniel T.: As a City on a Hill. The Story of America’s Most Famous Lay Sermon, Princeton: University Press 2020.

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überblendet. Sie werden so Chiffren der spezifischen Form gemeinschaftlicher Imagination, die die USA von anderen Nationen unterscheidet: Mediale, moderne und institutionalisierte Gesellschaft auf der einen, verschworene und einem höheren Schicksal entgegenstrebende religiöse Gemeinschaft auf der anderen Seite. Bestand im klassischen populistischen Kino zwischen diesen Konzepten noch ein unlösbarer Widerspruch, erlaubt es die Weihnachtsthematik, sie zur Deckung zu bringen.

Der charismatische Kris Kringle Wie aber wird die politische Bedeutung des Weihnachtsmanns in den Filmen offenbar? Ein Beispiel findet sich am Ende des ersten Drittels von Miracle on 34th Street: Das Kaufhaus Macy’s hat als Weihnachtsmann-Darsteller einen gewissen Kris Kringle angeheuert, einen offensichtlich obdachlosen Mann, der durch weißen Bart und unwiderstehliche Gutmütigkeit unmittelbar für den Job geeignet erschien. Kringle glaubt jedoch nicht nur, der tatsächliche Weihnachtsmann zu sein, sondern liefert kraft seiner magischen Wirkung auf ›das Volk‹ und insbesondere die Kinder auch reichlich Indizien für diese Behauptung. Nachdem er zum Star einer großen Parade durch die Straßen der Stadt geworden ist, zeigt ihn der Film in erhabener Position über der versammelten Menschenmasse, die in das Kaufhaus strömt (Abb. 1). Die Szene hat in der zeitgleich mit dem Film erschienenen Erzählung Miracle on 34th Street keine Entsprechung,15 kann also als ›genuin‹ filmische Zutat begriffen werden, die durch die Ökonomie der Erzählung nur bedingt begründbar ist. Auch wenn er nicht spricht, sondern nur mit einladenden Gesten die Menge steuert, ist die ikonographische Tradition, die der Film hier zitiert, doch unverkennbar: Kringle ist ein Mann des Volkes, ein »homme peuple«,16 der zwar anders als die politischen Volkstribune des frühen 20. Jahrhunderts nicht das Wort an die Menschen richtet, kraft seiner Präsenz jedoch das Volk lenkt und durch die Untiefen der modernen Welt steuert. Die Darstellung des Volkes als unüberschaubarer Masse findet sich im frühen 20. Jahrhundert immer wieder – im amerikanischen Film einflussreich etwa in King Vidors The Crowd

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Vgl. Davies, Valentine: Miracle on 34th Street, New York: Harcourt, Brace and Company 1947. Rosanvallon, Pierre: Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte – Theorie – Kritik, Hamburg: Hamburger Edition 2020, S. 44.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

(USA 1928). Die Ornamentik der Masse steht dabei dem sich seiner selbst bewussten Volk entgegen: Als Symptom einer entfremdeten Moderne formt sie ihre Muster unbewusst und erlaubt zudem keinem Individuum eine erhobene Stellung.17 Gleichwohl erscheint diese Ornamentik als Produkt eines höheren Willens, als Schöpfung einer camoufliert bleibenden Macht, als die Siegfried Kracauer – ebenso wie die Handlung von Miracle on 34th Street – den Kapitalismus identifiziert, der in der Erscheinung der Masse eine gefährliche Naturalisierung erfährt: »Der Rückfall in die Mythologie ist dem Ornament der Masse eingeschrieben«, verbindet sich doch mit diesem der Glaube an eine höhere Organisation, an »eine Art verborgenen gnostischen Gott«,18 der als naturwüchsiger Schöpfer Existenz und Bewegung der Masse rechtfertigt.

Abbildung 1: In Miracle on 34th Street steuert der Weihnachtsmann die Massen.

Miracle on 34th Street (1947)

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Vgl. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 51. Bei Vidor scheitern die Protagonisten so auch mit ihrem Versuch, sich in der modernen Großstadt aus eigener Kraft aus der verarmten Masse herauszuarbeiten. Koch, Gertrud: »Die monströse Figur: Das Ornament der Masse. Zu Siegfried Kracauers Konzeption der Selbstrepräsentanz«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 61–70, hier S. 67.

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Wenn der Film den Weihnachtsmann also als Führerfigur in erhabener Position über einer großen Menschenmenge darstellt, ist bereits der Kontext politischer Theologie aufgerufen. Der verborgene Gott der Moderne wird dabei ikonographisch durch einen traditionellen Gott mit weißem Rauschebart ersetzt, mit dem das populistische Versprechen einer Rückkehr zu alter Ordnung einhergeht. Der populistische Mann des Volkes leistet, in anderen Worten, eine magische Rückverwandlung der Masse in ein Volk, das sich von ersterer eben dadurch unterscheidet, dass es sich eine Repräsentation verleiht und sich in dieser zu erkennen vermag.19 Er tritt dem bewusstlosen Strom der Menschen als Wegweiser und Reflexionsfigur gegenüber, indem er ein Bild dessen vermittelt, was die Individuen, die die Masse bilden, zusammenführt und -hält. Ein ähnliches Versprechen der Rückkehr vermitteln vergleichbare Inszenierungen politischer Ereignisse dieser Zeit, etwa die fotografischen Darstellungen der Massenkundgebungen Lenins oder Mussolinis, die der kurzen Szene aus Miracle on 34th Street ähneln und die einem Publikum der 1940er Jahre in lebhafter Erinnerung gewesen sein dürften. In der amerikanischen Tradition finden sich weitere Parallelen etwa in den Darstellungen der öffentlichen Auftritte Lincolns (Abb. 2) oder Theodore Roosevelts (Abb. 3), die beide für ihre wirkungsvollen Reden bekannt waren. Lincolns Gettysburg Address ist so auch eine der zentralen Referenzen des populistischen Kinos, die zahlreiche wirkungsvolle Reinszenierungen erlebt. Gleichzeitig fällt jedoch auf, dass Kris Kringle eben keine politische Botschaft zu übermitteln hat, ja: dass er gar nicht spricht, sondern nur gestisch den Weg weist. Hier verbindet sich die politische mit der religiösen Ikonographie, erinnert Kringle auf diese Weise doch eher an populäre Darstellungen religiöser Führer wie Moses (Abb. 4). Im Hollywoodfilm wirbt der Weihnachtsmann zwar nur für ein Kaufhaus, doch wird er auf visueller Ebene als politischer wie religiöser Repräsentant, als Lenker der Massen und Segensbringer vorgestellt.

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Vgl. Manow, Philip: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 156.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

Abbildung 2: Lithografische Darstellung von Lincolns Gettysburg Address aus dem Jahr 1905.

Abbildung 3: Teddy Roosevelt in Haverhill, Massachusetts.

Quelle: Library of Congress.

Quelle: Wikicommons.

Abbildung 4: Das Volk Israel flieht aus Ägypten. Illustration einer Bibelkarte der Providence Lithograph Company (1907).

Quelle: Wikicommons.

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Abbildung 5: Detail des Frontispizes von Hobbes’ Leviathan.

Quelle: Wikicommons.

Die Werte, für die Kringle im weiteren Verlauf des Films in erster Linie einsteht, sind entsprechend nicht konkret politischer, sondern eher allgemein ethischer und mithin grundsätzlicher Natur. So sucht der freundliche alte Mann vor allem Menschlichkeit, Fantasie, die Wichtigkeit der Familie und ein generelles Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Gleichwohl hat sein Auftauchen einen disruptiven Effekt für die moderne amerikanische Gesellschaft: Allein durch seine Persönlichkeit wird Kringle, dem charismatischen Führer Max Webers vergleichbar, zu einem Fixpunkt der Masse, die sich der Krise, in der sie sich bis dato gleichsam unbemerkt befunden hat, auf einmal gewahr wird. Diese Krise hat in Miracle on 34th Street eine ganze Reihe von Gesichtern: Sie aktualisiert sich vor allem in der familiären Situation der weiblichen Hauptfigur, die als alleinerziehende Mutter für den Verlust gesellschaftlicher Normen der Vorkriegszeit steht,20 sowie in der Überbetonung des Konsums als Erfahrung der Entwertung und Entsolidarisierung. Einen dezidiert politischen Zuschnitt erhält sie aber auch durch den Auftritt Kringles selbst, der nur deshalb angeheuert wird, weil der reguläre WeihnachtsmannDarsteller betrunken und daher unfähig ist, seine Rolle zu spielen. Die Krise

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Vgl. Hnilica, Irmtraud: »Nachbarvaterschaft. Das mythische Eigenheim und Familienmodelle in Miracle on 34th Street«, in: dies./Geier/Gradinari (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 77–91.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

der Moderne erweist sich hier als Krise der Repräsentation, muss Kringle doch als quasi-göttlicher Gesandter das leere Zentrum der Macht neu besetzen, das die moderne Gesellschaft strukturiert21  – ein im Hollywood-Kino insbesondere durch den vieldiskutierten Film Gabriel Over the White House (USA 1939, R: Gregory La Cava) bereits etabliertes Narrativ.22 Im Anschluss an Horst Bredekamp wäre die Szene vor diesem Hintergrund auch in den Kontext der Wirkungsgeschichte des Frontispizes von Thomas Hobbes’ Leviathan zu stellen (Abb. 5). Wie der künstliche Mann bei Hobbes zeigt das Filmbild Kopf und Körper eines politischen Organismus’,23 die zusammenwirken müssen, um einen Staat zu formen. Das Volk gewinnt seine Form durch die Unterordnung unter ein gemeinsames Gesetz, das in der Darstellung die Form eines übermächtigen Repräsentanten annimmt. Auch Kringle ist ein künstlicher Mann insofern, als dass er als notwendige Imagination erscheint, deren Funktion darin besteht, das Volk zu formen. Freilich geschieht dies hier anders als bei Hobbes gewaltlos, ist die Epiphanie des Weihnachtsmanns doch ausreichend, um die Amerikaner:innen an ihre gemeinsamen Werte und damit an den inneren Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft zu erinnern. Anders als bei Hobbes sind die Hände des Weihnachtsmanns in Miracle on 34th Street so auch leer: Kein Attribut verweist darauf, worin seine Macht genau besteht. Mag der Weihnachtsmann, wie Peter Scheinpflug in diesem Band argumentiert, viele Attribute des klassischen westlichen Herrschers vereinigen – er ist weiß, männlich, paternalistisch großzügig, weise und mit göttlicher Legitimation ausgestattet –, so bleibt er als politischer Repräsentant doch auffällig leer. Gerade diese Leere jedoch macht ihn – das ist, im Anschluss an Ernesto Laclau,24 einer der Kerngedanken der folgenden Argumentation – zum Paradebeispiel eines populistischen Repräsentanten.

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Vgl. Lefort, Claude: Democracy and Political Theory, Cambridge: Polity Press 1988, S. 17. Vgl. Pause, Johannes: »Die zwei Geister des Präsidenten. Lincoln-Mythos und politische Theologie im Hollywood-Kino während der Great Depression: Gabriel over the White House (1933)«, in: Irina Gradinari/Michael Niehaus (Hg.), Störung, Verunsicherung, Destabilisierung: Filmanalysen, Hagen: University Press 2022, S. 33–61. Vgl. Bredekamp, Horst: Thomas Hobbes – Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651–2001, Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 83. Vgl. Laclau, Ernesto: On Populist Reason, London: Verso 2005.

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Der idealistische Jefferson Smith Die Überführung eines konkret politischen Diskurses in einen eher allgemein moralisierenden Werte-Diskurs ist bereits Merkmal des populistischen Kinos der 1930er Jahre. Dieses bezieht sich zwar in vielen seiner Motive auf eine ins 19. Jahrhundert zurückreichende populistische Tradition in den USA, ist aber insbesondere als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise zu beschreiben, die mit dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 ihren Anfang nahm und als Periode des wirtschaftlichen Niedergangs, der Deflation, der Massenarbeitslosigkeit und der sich verkettenden Katastrophen die gesamten 1930er Jahre prägte. Die Great Depression stellte den Anlass für die Wahl von Präsident Franklin D. Roosevelt dar, der in seiner Politik des New Deals versuchte, Amerika grundsätzlich zu reformieren. Das Kino Hollywoods unterstützte diese politische Entwicklung maßgeblich, indem es – vor allem im populistischen Film, der immer wieder ganz ausdrücklich auf Roosevelt verwies – eine wirtschaftliche wie politische Erneuerung Amerikas in Szene zu setzen suchte. Die Filmemacher dieses Kinos entwickelten dabei ihre jeweils eigenen Formen eines filmischen Populismus, der gleichwohl stets von der Idee einer Erneuerung der amerikanischen Demokratie im Geiste der Gründerväter und der mythischen Urtexte, also etwa der Declaration of Independence, getragen wird. Der Begriff Populismus war im Amerika dieser Zeit mithin kein negativ konnotierter Begriff. Im Geiste der politischen Theologie Amerikas verband er sich im Kino Hollywoods vielmehr mit dem Glauben an einen quasi-heilsgeschichtlichen Auftrag Amerikas. Die zentrale Referenz des populistischen Kinos stellt dabei zwar ›das Volk‹ dar, doch handelt es sich bei diesem Volk stets um ein idealistisches Konzept, um ein theoretisches Volk also, das sich durch kollektive Einstimmigkeit in grundsätzlichen Fragen, durch ein Bewusstsein der nationalen Besonderheit und einen klaren Sinn für das moralisch Richtige auszeichnet. Wo dieses ideale Volk als Entscheidungsinstanz auftritt, ist es mithin durch Dezisionismus charakterisiert, was bedeutet: Politische Einstellungen und Interessen sind gegeben. Welche Ziele des Volkes Willen sind und wie diese erreicht werden können, wird nicht im Dialog und in der Auseinandersetzung mit anderen konstituiert oder verändert. Legitimen Streit über Ziele oder über den besten Weg, diese zu erreichen, kann es nicht geben, da das Richtige von vornherein fixiert ist. Es braucht daher

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

auch keine komplizierten Verfahren, um die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen.25 In den Fiktionen des Kinos setzt sich so immer wieder der Common Sense der einfachen Menschen gegen die komplizierten Verfahren institutionalisierter Politik durch, die nur den Sinn zu haben scheinen, die Privilegien einer moralisch verlotterten Elite zu schützen. Der Populismus ist zwar grundsätzlich demokratisch, da er das Volk als eigentlichen Souverän ins Recht zu setzen sucht; er ist aber auch antidemokratisch, da er die Verfahren der Willens- und Kompromissbildung, durch die Demokratien operieren, rundheraus für überflüssig erklärt. Das amerikanische Subjekt besitzt einen natürlichen Instinkt für den höheren Sinn der USA, weshalb sich aus der Summe der subjektiven Standpunkte, so lange diese unverfälscht geäußert werden, automatisch die richtige Entscheidung ergibt. An dem in Wahrheit unbestechlichen, durch die Eliten immer nur zeitweise vernebelten Gemeinsinn der Amerikaner ist dabei nicht entscheidend, dass er ›vernünftig‹ ist, sondern dass er die Subjekte aneinander bindet, die Gesellschaft mithin als Gemeinschaft reformatiert.26 Eines der Probleme, die im Zentrum des populistischen Kinos stehen, besteht nun in der Frage, wie sich das ideale Volk, das der Populismus als existent voraussetzt, zu der real feststellbaren Vielstimmigkeit und Uneinigkeit der Bürger:innen der USA verhält. Im Kino der 1930er Jahre ist es eben diese Vielstimmigkeit, die für die Great Depression verantwortlich gemacht wird: Amerika hat seine Einheit verloren, ist von seinem Weg abgekommen, hat seinen historischen Auftrag aus den Augen verloren, und taumelt eben deshalb von einer Katastrophe in die nächste. Der Auftrag des populistischen Repräsentanten, des Helden der Filme, besteht daher darin, eine Rückbesinnung, ja

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Schäfer, Armin/Zürn, Michael: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin: Suhrkamp 2021, S. 56f. Dieser aufgeladene Gegensatz geht auf Ferdinand Tönnies zurück. Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010. Vgl. zu Capra ferner Grotkopp, Matthias: »Look at that face! Expressivität und demokratisches Pathos bei Frank Capra«, in: ders./Hermann Kappelhoff/Benjamin Wihstutz (Hg.), Geschmack und Öffentlichkeit, Zürich: diaphanes 2019, S. 181–206, hier S. 185.

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Konversion27 des Volkes herbeizuführen, es an seine eigentliche Bestimmung zu erinnern. Er kann und muss dem tatsächlichen Volk also widersprechen. Exemplarisch wird dieser Konflikt in einer Szene aus Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington (1939) verhandelt.28 Smith, ein junger Senator, ist gerade in Washington angekommen und findet sich mit einer gut geölten Maschine aus Korruption konfrontiert. Durch seine tiefe innere Verbundenheit zum amerikanischen Projekt scheint er dazu auserkoren, das selbstvergessene Amerika wieder auf den rechten Weg zu führen. In der Schlüsselszene des Films hält Smith einen sogenannten Filibuster, also eine Dauerrede, die von den anderen Senatoren nicht unterbrochen werden kann. Darin klagt er den übermächtigen Medienmogul Taylor an, ein eigentlich für ein Pfadfinderlager vorgesehenes Land illegal für kapitalistische Bauprojekte nutzen zu wollen, was ihm nur durch die Korruption des Senats selbst gelingen kann. Die Menschen auf den Rängen des Senats erkennen zwar, dass Smith die Wahrheit sagt, doch durch die Reichweite seiner Zeitungen ist Taylor in der Lage, den Rest des Landes gegen Smith aufzuhetzen. Die Stimmen der empörten Bürger:innen erreichen Smith in Form eines Korbes voller Briefe (Abb. 6), also durch ein Distanzmedium, das den Graben zwischen Politik und Volk, den Smith schließen möchte, besonders hervorhebt. Die Briefe scheinen zu beweisen, dass das Volk gegen Smith steht. Nach den Prinzipien der Demokratie hat er also verloren. Wie jeder populistische Repräsentant weiß Smith jedoch, was das Volk eigentlich will, und so kann er sich sicher sein, dass das Land hinter ihm stehen würde, wäre es nicht durch Desinformation auf den falschen Weg gebracht worden. Da es für Smith jedoch keine Möglichkeit gibt, das Volk aufzuklären, bricht er im Senatssaal zusammen. Capra führt somit das Problem vor Augen, an dem das populistische Projekt grundsätzlich krankt: Die an eine politische Präsenzkultur gebundene Gemeinschaft kann sich in einer medialisierten Gesellschaft nicht durchsetzen, da ihr die nötige Reichweite fehlt. Während Smith auf das Ereignis des Auftritts und die daraus resultierende Inspiration seiner Zuhörer:innen setzt, kontrolliert Taylor die Gesellschaft durch den Einsatz von Mediensystemen, die ›Fake News‹ verbreiten, welche von anonymen Stimmen beantwortet werden. Dass ausgerechnet die Post, also ein theoretisch sehr altes Medium,

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Zur »Ästhetik der Konversion« im Hollywood-Kino vgl. Decker, Christoph: Hollywoods kritischer Blick. Das soziale Melodrama in der amerikanischen Kultur 1840–1950, Frankfurt a.M./New York: Campus 2003, S. 15. Vgl. zum Folgenden J. Pause: Populismus und Kino, S. 118–128.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

die moderne Entfremdung schließlich sichtbar macht, darf nicht verwundern, wird die Post nach Bernhard Siegert doch erst in der Neuzeit zum modernen Instrument der Biomacht, das Individuen mit der Apparatur der Gesellschaft verschaltet.29

Abbildung 6a-f: In Mr. Smith Goes to Washington sind die Massenmedien Instrumente einer Verblendung des Volkes, die durch das Distanzmedium des Briefs offenbar wird.

Mr. Smith Goes to Washington (1939)

Taylor steht somit für die Moderne, die kein Kollektiv mehr kennt, sondern nur noch untereinander unverbundene, zerstrittene Kleingruppen und manipulierbare, da ideell entwurzelte Individuen, sprich: Gesellschaft. Die Massenmedien sind jedoch nur einer der Bausteine dieser Moderne. In der Szene sichtbar wird zudem eine Politik, die sich zu stark institutionalisiert hat, das heißt: ihrer Spontaneität beraubt worden ist, und die von einer Elite betrieben wird, die sich dem Volk gegenüber nicht mehr verantwortlich fühlt. Drittens existiert eine ökonomische Dimension, nämlich die zunehmende Macht einer 29

Erst im 17. Jahrhundert begann die Post, Privatbriefe zuzustellen, wodurch nach Siegert Diskurse »unterhalb aller Zunft- und Standesschranken« kontrollierbar werden: »Der Absolutismus stellt den Leuten Wörter und den Wörtern ein Medium zur Verfügung, um die Leute erstens von sich reden zu machen, zweitens ihre Reden kontrollieren zu können und drittens durch das auf ihre Reden erhobene Porto den Aufwand des Staates für diese Kontrolle finanzieren zu können.« Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post, Berlin: Brinkmann & Bose 1993, S. 13f.

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Klasse der Unternehmer und Superreichen, gegen deren Einfluss das verarmte Volk nichts ausrichten kann. Geld, Medien und Institutionen sind also die übermächtigen Kräfte der Distanz, denen das präsentische Ereignis – hier der Filibuster – als letztes Aufgebot der amerikanischen Gemeinschaft entgegengehalten wird. Die Übermacht ist jedoch zu stark: Smiths Sache wird zur »lost cause«, für die er gleichwohl weiterkämpft, da er weiß, dass das amerikanische Volk letztlich die Lüge durchschauen wird. Die Lösung der Probleme der Moderne kann mithin nur in einem Wunder bestehen, und zwar in einem Wunder der Präsenz, das den Sieg des wahren Amerikas gegen jede Wahrscheinlichkeit doch Wirklichkeit werden lässt. Es ist eben jenes Wunder der Präsenz, das auch den Weihnachtsfilm der 1940er Jahre kennzeichnet: Weihnachten wird hier als Augenblick einer Verwandlung inszeniert, die – anders als in den früheren Capra-Filmen – die Gemeinschaft nicht gegen die Gesellschaft ins Feld führt, sondern letztere in erstere zurückverwandelt, indem sie Institutionen, Medien und Moderne selbst mit dem Geiste Amerikas beseelt.

Das Wunder der Präsenz Bereits in seinem letzten explizit populistischen Film, dem 1941 erschienenen Meet John Doe (USA), stellt Capra selbst diese Verbindung von Populismus und Weihnachtsthematik her. Unter dem Namen John Doe erscheint in einer Zeitung ein – tatsächlich von einer entlassenen Mitarbeiterin aus Frust verfasster – Leserbrief, der in klassisch populistischer Manier die Sorgen und Nöte der ›kleinen Leute‹ artikuliert und einen öffentlichen Selbstmord des Autors aus Protest ankündigt. Der Brief findet große Resonanz, und so muss ein tatsächlicher John Doe gefunden werden, der der Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Der arbeitslose Baseballspieler ›Long John‹ Willoughby (Gary Cooper) akzeptiert den Job, tritt öffentlich auf und schafft es in einer Reihe von Radioansprachen, die Menschen zu begeistern. Die Radioübertragung, bei der John teilweise vor Live-Publikum spricht, wird von Capra mit Präzision inszeniert: Es sind Momente der Verwandlung zunächst des anwesenden Publikums, dann aber auch der Radiozuhörer:innen, der Mitarbeiter:innen hinter den Kulissen und – vielleicht am wichtigsten – John Wolloughbys selber, der sich von den Reden, die er nicht selbst geschrieben hat und die er während des Vortrags erstmals liest, ebenfalls mitreißen lässt. Die Wirkmacht moderner Medien, in Mr. Smith Goes to Washington noch einseitig als Bedrohung

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

der Demokratie vorgeführt, wird hier bereits mit dem Potenzial der Erneuerung von Gesellschaft versehen, wobei vor allem durch die Reaktionen des Publikums auf Franklin D. Roosevelts berühmte Fireside Chats verwiesen wird: Das Distanzmedium wird zu einem neuen Medium der Präsenz, das Doe den Menschen nahebringt und sie in den Glauben versetzt, in der Rede ihre eigenen Meinungen und Ansichten gehört zu haben.30 Wie John selbst, so sind auch seine Anhänger:innen, die bald im ganzen Land in John-Doe-Clubs tätigen Durchschnitts-Amerikaner:innen, durch eine medialisierte Erfahrung zu sich selbst gekommen. Gleichwohl wohnt den Massenmedien weiterhin eine Gefahr inne: Zu spät erkennt John, dass hinter der Bewegung der Medienmogul und faschistische Politiker Norton (Edward Arnold) steckt, der die John-Doe-Begeisterung gezielt anfacht, um sie sich selbst zunutze zu machen. Sein Ziel ist die Präsidentschaft, die er nutzen möchte, um die USA faschistisch neu zu ordnen. Die Funktionalisierung der populistischen Bewegung kann ihm gelingen, weil John tatsächlich für keine konkreten politischen Forderungen steht, sondern nur für ein vages Versprechen von Eigentlichkeit und Rückkehr zu ursprünglichen Werten, die in seinen Reden jedoch niemals in konkrete Forderungen übersetzt werden.31 Diese Vagheit verbindet sich mit einem klaren Freund-Feind-Schema, das sich der Faschismus zunutze machen kann. Der Film reagiert somit auf die in seiner Zeit viel diskutierte Frage, ob der Nationalsozialismus sich auch in den USA hätte durchsetzen können.32 Ähnlich wie in Mr. Smith Goes to Washington wird der Protagonist in Meet John Doe von einer symbolischen Vaterfigur enttäuscht – war es dort ein korrupter Senator, ist es nun der Initiator der populistischen Kampagne selbst. Die aus der Entschleierung der Vaterfigur resultierende »Dysfunktion kultureller Sinnstiftung«, die für den Weihnachtsfilm bis in die Gegenwart typisch ist,33 führt bei Capra nun jedoch zu einem Ausweichen ins Übersinnliche: Johns Versuch, den Putsch zu verhindern, scheitert wie schon im Vorgängerfilm an der Macht des Großkapitalisten, dem es auch hier gelingt, die Menge

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Das war der vielfach kolportierte Effekt der Reden. Vgl. Maney, Patrick J.: The Roosevelt Presence. The Life and Legacy of FDR, Berkeley: University of California Press 1998, S. 71f. S. Žižek: The Plague of Fantasies, S. 197. Vgl. insbesondere Lewis, Sinclair: It Can’t Happen Here, New York: P.F. Collier & Son 1935. I. Gradinari: Zu einer anderen Tradition, S. 192.

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durch falsche Zeitungsnachrichten aufzuhetzen. Der resignierte John, der erkennen muss, dass auch er selbst nichts als ein Medienprodukt ist, trifft daher die Entscheidung, sich tatsächlich umzubringen. Als Termin gibt er den nächsten Weihnachtsabend bekannt, an dem er jedoch von einigen treuen Anhängern und der Journalistin, die seine Reden schrieb, im letzten Moment von der Tat abgehalten wird. War schon Smiths Sieg offenkundig unwahrscheinlich, so wird derjenige Johns nun filmisch als Weihnachtswunder inszeniert: Auf dem verschneiten Dach des Redaktionsgebäudes wird John durch die Liebe einer Frau geläutert, während im Hintergrund die Kirchenglocken schlagen.34 Wie in diesem frühen populistischen Weihnachtsfilm, so finden sich in einer Vielzahl von Weihnachtsfilmen dieser Zeit die Leitmotive des populistischen Kinos wieder. Holiday Inn, jener Film, für den der Song White Christmas geschrieben wurde, liefert ein weiteres anschauliches Beispiel: Der Film handelt von der Konkurrenz eines Tänzers (Fred Astaire) und eines Sängers (Bing Crosby), die sich regelmäßig in dieselbe Frau verlieben. Der Sänger schwört dem Showbusiness und damit den Verlockungen einer entfremdeten Moderne ab und bewirtschaftet ein Landhaus, in dem er nur an Feiertagen Aufführungen für ein ausgewähltes Publikum gibt. Der Land-Stadt-Gegensatz, ein typisch populistisches Narrativ, wird – ähnlich wie bei Capra – als letztlich unlösbar vorgeführt: Der Konkurrent tritt in den Shows des Sängers auf, verliebt sich in dessen neuste Flamme, die sowohl tanzen als auch singen kann, und bringt schließlich Hollywood-Funktionäre mit in die Provinz, die das Landhaus detailgetreu im Studio nachbauen und dort die Geschichte der drei Hauptfiguren noch einmal erzählen. Es gibt also auch hier kein richtiges Leben im falschen – und doch werden die von den Schauspieler:innen dargestellten Gefühle in der letzten Szene des Films ›echt‹, da die filmische Inszenierung mit der Erlebniswirklichkeit zur Deckung kommt: Die wahrhaft Liebenden finden vor einer weihnachtlich dekorierten Landhauskulisse – und freilich rechtzeitig zum Fest – wieder zueinander.

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In der Forschung sind Capras Filme immer wieder als ambivalent, wenn nicht gar unlogisch wahrgenommen worden: Der in der Regel glückliche Ausgang der Geschichte steht in keinem Verhältnis zur brutalen Analyse der realen Machtverhältnisse, die einem einzelnen Individuum keine Chance lassen. Vgl. etwa: Phelps, Glenn Alan: »The ›Populist‹ Films of Frank Capra«, in: Journal of American Studies 13, 3 (Dezember 1979), S. 377–392. Der vermeintliche Widerspruch wird erklärbar, wenn Capras Filme, wie hier vorgeschlagen, mit der Tradition der politischen Theologie in den USA in Verbindung gebracht werden.

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Der Film führt das zuvor als Handlungsort etablierte ›echte‹ Landhaus selbst als Kulisse vor, indem er es unverändert für die Darstellung der Filmproduktion im Film benutzt, und baut so qua Mise-en-Scène eine augenzwinkernde selbstkritische Pointe ein.35 Wie Roxanne Phillips festgestellt hat, problematisieren sich die Weihnachtsfilme der 1940er Jahre immer wieder autoreflexiv als Produktionsorte eines »endlos perpetuiert[en]«, zugleich aber »unerfüllbare[n] und damit beständig Krisen hervorrufende[n] Begehren[s]« nach Echtheit und Gemeinschaft und geben damit auch den Anstoß zu späteren Rekonstruktionen des Genres.36 Reflektiert wird dabei vor allem das Problem der Vermarktbarkeit eines Traums der Unabhängigkeit von den Gesetzen der Masse, die der Markt hervorbringt. Dieses Problem kennzeichnet ebenso das populistische Kino und findet vergleichbare Reflexe in den Werken Capras.37 In Holiday Inn wird die Lösung dieses Konflikts durch eine Verwandlung des Kapitalismus selbst herbeigeführt, welche nur durch ein weihnachtliches Wunder als möglich erscheint. Dass die Liebesgeschichte in Holiday Inn einen politischen Subtext hat, macht der unmittelbar nach dem amerikanischen Kriegseintritt vollendete Film schon durch die Auswahl der Feiertage deutlich, die den Weg zum finalen Weihnachtswunder bilden: Lincolns Geburtstag, Washingtons Geburtstag, Independence Day. An jedem dieser Tage finden spektakuläre Shows in dem Landhaus statt, die in der Regel mit einer visuellen Apotheose eines US-Präsidenten enden – im Falle des Independence Days ist es Franklin D. Roosevelt selbst. Das Problem empfundener Zugehörigkeit wird mit dem Problem politischer Repräsentation wenn nicht argumentativ, so doch visuell-assoziativ verknüpft. Was die Imagination des Landhauses auf diese Weise heraufbeschwört, ist nicht »der Traum von einem Zuhause, sondern die symbolische

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Solche Formen der Selbstreflexivität sind für das Genre des Musicals, zu dem sich der Film rechnen lässt, generell typisch. Vgl. bereits Feuer, Jane: »The Self-Reflective Musical and the Myth of Entertainment«, in: Quarterly Review of Film Studies 2, 3 (1977), S. 313–326. Vgl. Phillips, Roxanne: »Wiederholung, Differenz, Exzess. Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life«, in: Geier/Gradinari/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 257–279, hier S. 279. Vgl. Carney, Raymond: American Vision. The Films of Frank Capra, Hannover, New England: Wesleyan University Press, S. 354.

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Fiktion einer imaginären Gemeinschaft, für die es sich lohnt, in den Kampf zu ziehen.«38 Auch das Thema der Institutionen, die Menschen voneinander trennen, findet sich immer wieder im klassischen Weihnachtsfilm. Schon an Capras populistischen Filmen war die Nähe zum Genre des Gerichtsfilms auffallend; dieselbe Verbindung lässt sich auch für den Weihnachtsfilm nachweisen. Gerichtsszenen finden sich nicht nur in Miracle on 34th Street, sondern auch in Remember the Night, I’ll be Seeing You (USA 1944, R: William Dieterle), Christmas in Connecticut und 3 Godfathers. In Remember the Night etwa wird eine junge Frau (Barbara Stanwyck) dafür angeklagt, eine teure Kette gestohlen zu haben, doch da der Prozess kurz vor Weihnachten stattfindet, wird das Urteil aus vorgeschobenen Gründen vertagt und der in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten Ausgang gewährt. Richter (Fred MacMurray) und Angeklagte verbringen infolge einer Reihe von Zufällen Weihnachten zusammen und verlieben sich. Am Ende tritt die Angeklagte ihre gerechte Strafe an, ist jedoch innerlich geläutert. Ein Weihnachtswunder verbindet sich mit den herzlosen Institutionen Amerikas, doch hebt es die Entscheidung des Gerichts nicht auf, sondern ›revitalisiert‹ diese, indem sie dem Urteil durch die Läuterung der Verurteilten Sinn verleiht. Immer wieder findet sich auch das Thema der sozialen Unterschiede, indem etwa Millionäre dazu gezwungen oder davon überzeugt werden, ihren Reichtum mit den verarmten Menschen zu teilen. Wieder erscheint Weihnachten als Wunder, das den Kapitalismus nicht abschafft, sondern in einen menschlichen verwandelt. In der erfolgreichen Allied Artists-Produktion39 It Happened on 5th Avenue (USA 1947, R: Roy Del Ruth) wird diese Verwandlung nicht nur mit dem sozialen Experiment einer Kommune verbunden, die hier von einer Reihe Obdachloser im leerstehenden Haus eines Millionärs eingerichtet wird, sondern erneut mit Fragen politischer Repräsentation, ist der Gründer und Sprecher der Kommune, der alte Aloysius T. McKeever (Victor Moore) trotz Bartlosigkeit doch eine Art Weihnachtsmann, der als Anführer fungiert.

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Bronfen, Elisabeth: Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 197. Dieses ›kleine‹ Studio von der sogenannten ›Poverty Row‹ wählte ein Weihnachtsthema, um sich mit diesem Film erstmals an eine teure Produktion zu wagen. Der Film kostete über eine Million Dollar und damit mehr als das Zehnfache dessen, was das Studio ansonsten in Filme investierte.

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Und immer wieder werden im Weihnachtsfilm des Classical Hollywood Massenmedien thematisiert, die als eher trennende denn vermittelnde Boten zwischen die Menschen treten, die räumliche Distanz zu überbrücken helfen, dabei aber die Wärme der echten Begegnung zunichte machen und den Menschen auferlegen, eine Rolle zu spielen, die dann in Form medialer Imagos in Briefen oder Zeitungen zirkuliert. Das Problem der medial entfremdeten Kommunikation steht etwa am Beginn von Leo McCareys Film Love Affair (USA 1939), in dessen ersten Einstellungen mehrere Radiosprecher in die Handlung einführen, indem sie von der Reise des betuchten Protagonisten (Charles Boyer) über den Atlantik berichten, bevor dann ein Steward ein Telegramm auf einem Silbertablett über das moderne Passagierschiff trägt und nach dem Adressaten Ausschau hält. Es handelt sich um eine Nachricht der Verlobten des Protagonisten und somit erneut um einen Brief, der vor allem von der Distanz zwischen den Menschen berichtet, welche er überbrückt. Diese Distanz zwischen Liebenden wird im Folgenden zentrales Thema des Films bleiben, und nur das Weihnachtsfest hält die Aussicht auf ihre Überwindung bereit. Zu einer tatsächlichen Aufhebung medial hergestellter Distanz kommt es im Weihnachtsfilm nur durch eine weitere mediale Intervention, bei der Engel und Geister und damit Medien höherer Art in die technische Medienlandschaft eingreifen und diese verwandeln. Wie Lena Zschunke gezeigt hat, ist der Engel des Kinos dabei keine nostalgische Figur; vielmehr steht er für das utopische Versprechen einer anderen, besseren Moderne.40 So ist der Engel in Capras It’s a Wonderful Life an durchaus irdische Karrierelogiken gebunden, muss er sich doch durch seinen Einsatz seine Flügel ›verdienen‹. Auch in Filmen der Zeit, die nicht von Weihnachten handeln, treten Engel immer wieder als moderne Männer in Uniform oder Anzug auf: So kehren in Beyond Tomorrow (USA 1940, R: A. Edward Sutherland) drei verstorbene Industrielle als Engel zurück, um die Liebe eines jungen Paars zu retten; in Here Comes Mr. Jordan (USA 1941, R: Alexander Hall) begegnet einem entgegen Gottes Plan zu früh verstorbenen Boxer eine ganze Hierarchie von Engeln, wobei ein elegant gekleideter Funktionär dem Piloten seines Flugzeugs Anweisung gibt, per Funk in Kontakt mit der ›Zentrale‹ im Himmel zu treten, um auf dem kurzen Amtsweg eine Lösung für das Problem herbeizuführen; und in A Guy Named Joe (USA 1943, R: Victor Fleming) kehrt ein ehemaliger Kampfpilot als Engel auf 40

Vgl. Zschunke, Lena: Der Engel in der Moderne. Eine Figur zwischen Exilgegenwart und Zukunftsvision, Berlin/Boston: de Gruyter 2022.

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die Erde zurück, um nach seinem Tod junge Soldaten auf ihrer Mission zu unterstützen.41 Der Engel der 1940er Jahre telefoniert und funkt, recherchiert in Listen und Akten, gibt und empfängt Anweisungen, beginnt in seinem ›Job‹ als blutiger Anfänger und macht dann Karriere. Der Himmel spiegelt die Verhältnisse auf der Erde, mit der er in einer losen Verbindung steht: Die Lebenden können die Engel oftmals nicht hören oder vergessen, dass sie sie getroffen haben, doch reagieren sie dennoch unwillkürlich auf deren Botschaften, die sie als ihre eigenen Ideen missverstehen. Die Wahrheit Amerikas kommt seinen Bürger:innen in Form der inneren Stimme zur Erscheinung, die gleichzeitig »intimer Kern der Subjektivität« und »Gewebe des Sozialen« ist.42 Der Engel beseelt dabei immer wieder auch ganz direkt die modernen Medien: In dem Weihnachtsfilm The Bishop’s Wife kommt ein Engel (Cary Grant) auf die Erde, um einen Bischof (David Niven), der nur mit dem Prestigeprojekt einer neuen Kathedrale und den steinreichen Mäzenen beschäftigt ist, die den Bau finanzieren sollen, an seine Pflicht der Nächstenliebe zu erinnern. Auch hier ist der Engel modern gekleidet und erfüllt zunächst die Aufgabe eines Sekretärs, fügt sich also in die moderne Lebenswelt ein. In einer Schlüsselszene des Films wirft der Engel eine Reihe von Briefen – auch hier erscheinen sie als Medien einer entfremdeten, unpersönlichen Kommunikation –, die der Bischof an seine Geldgeber verfasst hat, ins Feuer, um stattdessen eine Predigt zu schreiben, die vom vergessenen Wunder der Präsenz handelt und die der Bischof in der letzten Szene des Films – ein wenig verdutzt, da er sich nicht erinnern kann, sie geschrieben zu haben – während eines weihnachtlichen Gottesdienstes vortragen wird. Die wieder wahrhaft gewordene Gemeinschaft verlässt der Engel daraufhin mit mildem Blick von außen, einem Blick der göttlichen Souveränität, der nicht nur den aus verschiedenen Dickens-Verfilmungen (A Christmas Carol, USA 1938, R: Edwin L. Marin) bekannten Blicken aufs eigene Leben ähnelt, sondern auch noch

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Ein herausragendes nicht-amerikanisches Werk dieses Minigenres der 1940er Jahre, das eine Kompensation für die vielen Toten des Zweiten Weltkriegs anzubieten versucht, ist die britische Produktion A Matter of Life and Death (USA 1946) von Michael Powell und Emeric Pressburger, in der ein britischer Kampfflieger von einem himmlischen Gericht für seine Rückkehr ins Leben kämpft. Dolar, Mladen: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 22.

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einmal die Geste des christlichen Souveräns spiegelt, die sich im ebenfalls 1947 erschienenen Miracle on 34th Street findet.43 Die Schreibmaschine, die der Engel in The Bishop’s Wife benutzt, wird von diesem nicht per Hand, sondern durch die Macht des Geistes betrieben. Der Film zeigt, wie sie ohne menschliches Zutun die Worte schreibt, die der Engel diktiert. Die Szene lässt sich als Reflex auf die Technisierung der Medien lesen, die hier in Analogie zu ihrer religiösen Vergeistigung gebracht wird. Es war Michel Serres, der diese Analogie in seinem Buch La légende des anges zuerst entwickelt hat: Wie die Engel, so überbringen die modernen, technisierten Massenmedien Botschaften durch die Luft; wie diese erzeugen sie Präsenz, wo eigentlich Distanz herrscht, indem sie das Wort hörbar, die fremde Person sichtbar machen; wie diese existieren sie, bevor die Botschaft überhaupt entstehen kann.44 Im Kern des populistischen Weihnachtsfilms wirkt mithin eine mediale Utopie: Medien, wenn sie himmlisch inspiriert wären, könnten Botschaften und Nachrichten so steuern, dass die Menschen sich wirklich verstünden, dass aus Gesellschaft wieder Gemeinschaft würde. Das beseelte Medium ist dabei selbst das Wunder der Präsenz, das in der Handlung als Wunder der Weihnacht eingeführt wird: Zu Weihnachten, und wenn auch nur dann, funktionieren Massenmedien, aber auch Institutionen, Kapitalismus und künstlerische wie politische Repräsentation im Classical Hollywood so, wie sie es ›eigentlich‹ sollten. Die Lösung, die das Kino der 1940er Jahre für die Probleme findet, die es sich in den 1930er Jahren stellte, besteht, anders gesagt, also darin, dass die Institutionen und Medien der Moderne, die diese Probleme hervorgebracht haben, nicht bekämpft, sondern beseelt und selbst ›innerlich‹ gewandelt werden.

Die Leere des Repräsentanten Die im vorangegangenen Kapitel aufgelisteten Elemente des Weihnachtsfilms finden eine paradigmatische Verdichtung in dem dreifach oscarprämierten Weihnachtsklassiker Miracle on 34th Street. Er handelt nicht nur von dem geheimnisvollen Kris Kringle (Edmund Gwenn), der den Weihnachtsmann darstellt und zugleich behauptet, dieser tatsächlich zu sein, sondern auch von 43 44

Vgl. Caston, Emily: Celluloid Saviours. Angels and Reform Politics in Hollywood Film, Newcastle-upon-Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2020, S. 79f. Vgl. Serres, Michel: Die Legende der Engel, Frankfurt a.M.: Insel 1995.

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der geschiedenen Mutter Doris (Maureen O’Hara), die mit ihrer modern und rational eingestellten Tochter Susan (Natalie Wood, damals 8 Jahre alt, in ihrer ersten Rolle) in New York lebt. Doris arbeitet als Special Events Director für das Kaufhaus Macy’s, und sie ist es, die Kringle engagiert. Die Verwicklungen beginnen, als der gutmütige Alte der skeptischen Tochter erzählt, er sei der echte Weihnachtsmann, und auch nach mehrfacher Aufforderung nicht von dieser Behauptung abweicht. Doris sieht die Früchte ihrer rationalistischen Erziehung in Gefahr und schaltet einen Arzt ein. Als dann noch deutlich wird, dass sich Kringle während seiner Arbeit eher an Konzepte christlicher Nächstenliebe als an die Vorgaben seines Managements gebunden fühlt – so empfiehlt er etwa den Kund:innen rundheraus, zur Konkurrenz zu gehen, wenn Macy’s eine bestimmte Nachfrage nicht erfüllen kann –, spitzt sich die Lage zu: Auch das Management des Kaufhauses wird nun skeptisch, und obgleich sich Kringles selbstlose Art auszahlt, lässt es den alten Mann schließlich für verrückt erklären. Dagegen erhebt ein junger Anwalt (John Payne), der Nachbar von Doris und Ersatzvater in spe von Susan, gemeinsam mit Kringle Einspruch. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, bei der Kringle für unzurechnungsfähig erklärt werden soll. Da Kringle darauf beharrt, der Weihnachtsmann zu sein, droht er den Prozess zu verlieren. Die inzwischen von ihrem Skeptizismus ›geheilte‹ Susan (»I believe, I believe. It’s silly, but I believe«) schickt ihm daher einen rührenden Brief, in dem sie versichert, dass sie nun an ihn glaubt, und den sie direkt ans New Yorker Gericht adressiert. Ein gewitzter Postbeamter, der in einem hochtechnisierten und damit ostentativ als ›modern‹ markierten Postamt arbeitet, kommt auf die Idee, sämtliche an den Weihnachtsmann von Kinderhand verfassten Briefe, die sich im Lauf der Jahre im Keller des Postamtes angehäuft haben, gleich mitzuschicken. Parallel dazu verlangt vor Gericht der anklagende Staatsanwalt, der Kringle für verrückt erklärt haben will, nach einer Bestätigung von dessen Identität durch eine offizielle amerikanische Institution. Der Anwalt nutzt die Gunst der Stunde und setzt die von Kinderhand verfassten Briefe als Beweisstücke ein: Wie in Mr. Smith Goes to Washington werden massenhaft Umschläge in eine laufende Verhandlung getragen (Abb. 7). Wieder enthalten sie Zeugnisse eines Irrtums, repräsentieren sie doch den naiven Glauben der Kinder an den Weihnachtsmann. Anders als in Capras populistischem Klassiker steht die Lüge, oder besser: die Fiktion nun jedoch nicht mehr im Gegensatz zur amerikanischen Idee, sie stiftet ganz im Gegenteil eine neue Gemeinschaft zwischen den Menschen: Die Öffentlichkeit jubelt, als der Richter die Identität des Weihnachtsmanns bestätigt.

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Abbildung 7a-d: In Miracle on 34th Street sind Briefe als moderne Medien nicht mehr Agenten der Distanzierung, sondern bringen die Menschen zueinander, da sie selbst vom Geist der Weihnacht beseelt sind.

Miracle on 34th Street (1947)

Der wahre Charakter Amerikas muss sich in Miracle on 34th Street anders als bei Capra nicht gegen ein übermächtiges illusorisches Bühnenspiel behaupten, er wird durch die Kulissen des kapitalistischen Kaufhauses, durch die Institution des Gerichts und das Mediennetzwerk der Post hindurchkommuniziert. Letztlich besteht er in einer Verwandlung der Instrumente der Moderne in Agenten einer höheren, christlichen Wahrheit.45 Während der Coup vor Gericht noch als Trick abgetan werden kann, lässt der Film im Anschluss daran noch ein tatsächliches Wunder geschehen, um jeden Zweifel an seinem eigenen Glauben in die Wirk- und Heilkräfte der Fiktion zu beseitigen: Die neue Familie entsteht tatsächlich und zieht in eben jenes Haus, von dem Susan immer geträumt, das sie sich zu Weihnachten gewünscht und das Kringle

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Kris Kringle, daran sei erinnert, ist eine englische Verballhornung des deutschen »Christkinds«.

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für sie gefunden hat. Der Film, der »Adoption, Mutter-Tochter-Familie, weiche[] Männlichkeit und Stiefelternschaft« in die amerikanische Nachkriegsgesellschaft zu integrieren sucht,46 macht eine Patchwork-Familie zur neuen Urzelle der amerikanischen Gemeinschaft. Dass sich Susan das Haus aus einem Katalog herbeigeträumt hat, der neue amerikanische Traum also von der Stange ist, ändert an seiner Kraft nichts. Auch die Traumfabrik Hollywood selbst, so ließe sich hier schlussfolgern, kommuniziert einen theologischen Auftrag, der die Kraft enthält, die amerikanische Ordnung immer wieder zu begründen – egal, wie schematisch das einzelne Werk erscheinen mag. Die fantastische Unentscheidbarkeit, die der Film hinsichtlich der Frage entstehen lässt, ob Kringle wirklich der Weihnachtsmann ist oder nicht, ist dabei signifikant: Für das amerikanische Projekt ist es fortan unerheblich, ob es auf Wahrheit basiert oder nicht, solange sich nur das Ereignis der Verwandlung, der Konversion des Volkes von voneinander isolierten Konsument:innen in eine Gruppe mit geteilten Werten vollzieht. Dafür bedarf es keines talentierten und ehrlichen Repräsentanten mehr, sondern allein einer Einigung derer, die an ihn glauben wollen. Wenn Laclau von einem leeren Signifikanten spricht, der das Gebäude populistischer Repräsentation zusammenhält, indem er unterschiedlichste Anliegen und Standpunkte unter einem einzigen Begriff (›das Volk‹) fasst, der aber eben aus diesem Grund selbst nichts bezeichnen kann47  – dann bestünde der Clou der Weihnachtsfilme der 1940er Jahre darin, dass sie einen leeren Repräsentanten erfinden, der es den durch Weltwirtschaftskrise und Zweiten Weltkrieg erschütterten Amerikaner:innen wieder ermöglicht, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft, als Kämpfer:innen für dieselbe Sache zu fühlen. Dieser Zweck-Repräsentationalismus wird im Film dadurch noch hervorgehoben, dass die im Prozess auftretenden Zeugen wie auch der Richter eigentlich wissen, dass es sich bei Weihnachten um eine Fiktion handelt, und dass sie trotzdem entscheiden, daran zu glauben oder zumindest so zu tun. Die Figur des Richters (Jerome Cowan) ist hier entscheidend, wird dieser doch als gutmütiger Familienvater gezeigt, der es sich nicht mit seinen eigenen Kindern verscherzen möchte, indem er den Weihnachtsmann für verrückt erklärt. Da er andererseits auf ein politisches Amt hofft, darf er sich jedoch auch nicht lächerlich machen. Dieser Nebenkonflikt, den Cowan durch sein subtiles Spiel zu einem Höhepunkt des Films werden lässt, bringt auf den Punkt, worum 46 47

I. Hnilica: Nachbarvaterschaft, S. 90. Vgl. E. Laclau: On Populist Reason, S. 69–72.

Johannes Pause: Der Weihnachtsmann des Volkes

es dem Film eigentlich geht: um die Etablierung einer falschen Überzeugung, die die Wirklichkeit strukturiert, obwohl alle sie durchschauen. Der Richter nimmt das Alibi, das der Anwalt ihm anbietet, dankbar an: Der Post wagt er nicht zu widersprechen, weshalb er offiziell beglaubigen kann, woran er selbst doch eindeutig nicht glaubt. Der Weihnachtsfilm des Classical Hollywood, so könnte man es pointiert auf den Punkt bringen, stellt die Behauptung auf, dass Amerika eine Ideologie benötigt, um die moderne Gesellschaft wieder in eine Gemeinschaft verwandeln zu können, und dass der Motor dieser Ideologie nicht politische Repräsentation, sondern Fiktion ist, wie sie von großen Konzernen und neuen Massenmedien, vor allem aber von Hollywood selbst in Umlauf gebracht wird. Das Fiktionsbewusstsein steht der Ideologie dabei nicht entgegen: Auch wenn der Glaube – wie durch den Richter – nur gutmütig simuliert wird, ermöglicht er doch eine wahrhaftige Verwandlung Amerikas. Kringle verschwindet am Ende aus dem Leben derer, die er verändert hat, und gibt sich so selbst als göttliches Medium zu erkennen. Wie die Engel Hollywoods hat er epiphanischen Charakter, doch zielt diese Epiphanie auf Wiederholung: Das Weihnachtsfest kommt immer wieder, und so wird es in einigen der Filme, etwa in Holiday Inn, auch mehrfach gezeigt. Liebe, Nähe und Glaube verwirklichen sich im Modus der Wiederholung, den der amerikanische Philosoph Stanley Cavell bereits für die »Comedy of Remarriage« – ein anderes Genre dieser Zeit – als zentral hervorhob: Diese habe ihre »conclusion not in a future, a beyond, an ever after, but in a present continuity of before and after«.48 Ebenso bleibt die Idee Amerikas, seine ideale Wirklichkeit, die in Epiphanien aufscheint, in der Ideologie der Filme immer die gleiche. Das Hollywood-Kino erzählt von der stetigen Möglichkeit der Rückbesinnung, der immer wieder neu zu vollziehenden Verwandlung verstreuter Menschen in jenes Volk, das sie eigentlich immer schon waren. Ein solches Zeitmodell schließt Entwicklung aus, es beschreibt Geschichte als Dynamik der Entfernung und Annäherung an ein zeitloses Ideal – ebenso wie der Populismus Pluralismus ausschließt, indem er die eigentliche Einigkeit aller wahren Amerikaner:innen voraussetzt und sich selbst das Ziel gibt, die höhere Vernunft des Volkes wieder in ihr angestammtes Recht zu setzen. Das Versprechen des Classical Hollywood ist eine politische Botschaft, die wie die frohe Botschaft der Weihnacht zur reinen Präsenz wird. In der Logik der

48

Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1981, S. 240.

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Filme ist sie den modernen, technischen Medien selbst eingeschrieben: »In aller Welt verbreiten die Kommunikationsnetze den Schrei nach Inkarnation«.49 Durch die Kanäle der von Engeln beseelten Massenmedien träumt das populistische Kino so von der »Parusie«50 einer höheren politischen Wahrheit.

49 50

M. Serres: Die Legende der Engel, S. 285. F. Ankersmit: Aesthetic Politics, S. 34.

Engel (in) der Krise It’s a Wonderful Life (USA 1946) Nils Jablonski

Fernsehen als kollektive Weihnachtspraktik: Genretheoretische (Vor-)Überlegungen Woran würde ein extraterrestrisches Wesen, das im Dezember – durch welche Umstände auch immer – auf der Erde landet, jenes »kollektiv[e], tradiert[e] zentral[e] Ritual der westlichen Kultur« erkennen, das gemeinhin als Weihnachten bekannt ist und die »Schnittstelle von Religion, Familie, Ökonomie, Gemeinschafts- und Subjektbildung« darstellt?1 Die Antwort ist einfach: anhand der verschiedenen kulturellen Praktiken, durch die man sich im individuellen oder gemeinsamen Vollzug spätestens in der Adventszeit, mit der das Kirchenjahr beginnt, in ein virtuelles Kollektiv der Weihnachtfeiernden einschreibt. Man denke etwa an den nicht nur bei Kindern beliebten Brauch des täglichen Konsums eines qualitativ meist minderwertigen Schokoladenplättchens, das aus einem alles andere als nachhaltig produzierten, pappummantelten Plastikkalender gefriemelt werden muss; oder man denke an das mittels rauer Mengen alkoholhaltigen, aromatisierten warmen Zuckerwassers bekämpfte Frieren auf dem Weihnachtsmarkt; oder aber an das Aufstellen und Schmücken eines zum langsamen Dahinsiechen verurteilten Nadelgehölzes im heimischen Wohnzimmer – und das meist zu den eingängigen Melodien besinnlicher bis stimmungsvoller Musik, die von klingenden Glöckchen, weißer Weihnacht oder dem Vorsatz kündet, in diesem Jahr nicht schon wieder leichtfertig sein Herz zu verschenken. 1

Gradinari, Irina: »Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten. Black Christmas (1974) und Silent Night, Deadly Night (1984)«, in: Andrea Geier/Irina Gradinari/ Irmtraud Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen. Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023, S. 173–192, hier S. 190.

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Diese Aufzählung an Weihnachtspraktiken ist nicht vollständig und in ihrer Darstellung zutiefst polemisch, weshalb dem Besuch aus den Weiten der Galaxis zu empfehlen wäre, einfach den Fernseher einzuschalten. Denn wie es in dem Monty-Python-Film The Meaning of Life heißt, gibt es ein untrügliches Zeichen, an dem Weihnachten zu erkennen ist: »There are great films on TV.«2 Der Song »Christmas in Heaven« nennt als Beleg für diese Behauptung The Sound of Music (USA 1965, R: Robert Wise) und die Filme der Jaws-Reihe (USA 1975, R: Steven Spielberg; USA 1978, R: Jeannot Szwarc; USA 1983, R: Joe Alves) – vier Hollywoodproduktionen, die zumindest inhaltlich nicht zu jener Gruppe sogenannter holiday-themed bzw. seasonal films zu rechnen sind, die also durch die präsentierte Handlung bzw. ihr Setting das Weihnachtsfest thematisieren. Trotzdem können sie dem Genre der Weihnachtsfilme zugeordnet werden, wenn man den programmlogischen Überlegungen von Allison Cacich folgt, die mit Blick auf die vorweihnachtlichen und dann tatsächlich festtäglichen Fernsehpraktiken in den USA und damit metonymisch für den gesamten televisionierten globalen Westen feststellt: Before DVDs and streaming services became the norm, the general population had to gather around a TV set at a specific hour in order to watch their favorite movies. Because families traditionally spend more time together during the holidays, networks would air family-friendly films in the lead-up to Christmas.3 Nun sind die Weiße-Hai-Filme wohl alles andere als familientauglich – auch wenn sie vielleicht ein heimliches Begehren zum Ausdruck bringen, das Mütter und Väter während des Familienurlaubs sommers am Meer hegen mögen … Gleichwohl verweisen die Beispiele aus dem Monty-Python-Song auf eine erste Möglichkeit, das Genre der Weihnachtsfilme näher zu umreißen: Formal bzw. programmlogisch betrachtet, sind Weihnachtsfilme diejenigen Filme, die zu Weihnachten im Fernsehen oder auch in den Kinos (wiederholt) gezeigt werden. Dass gerade das Fernsehprogramm mit Blick auf die Heterogenität seiner Rezipient*innen über die Feiertage ganz verschiedene Genres anbietet, liegt auf der Hand – genauso wie der Umstand, dass auch an den Festtagen 2 3

Monty Python’s The Meaning of Life (UK 1983, R: Terry Jones). Vgl. Cacich, Allison: »How ›The Sound of Music‹ Became a Christmas Movie Alongside ›It’s a Wonderful Life‹ and ›Home Alone‹« vom 23.04.2020, https://www.distractify.co m/p/why-is-the-sound-of-music-a-christmas-movie (zuletzt aufgerufen am 7. November 2022).

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

bestimmte Genres zu bestimmten Uhrzeiten privilegiert werden. Jaws wird, genauso wie etwa die 5 Filme der Die-Hard-Reihe (Teil 1: USA 1988, R: John McTiernan), nicht im vormittäglichen Programm zu finden sein, während die Kinderlein gespannt vorm Fernseher aufs Christkind warten. Es ist aber diese alljährliche Aufnahme ins Weihnachts-TV-Programm, die dazu führen kann, dass auch gänzlich ›unweihnachtliche‹ Filme – irgendwann – zur Gruppe der Weihnachtsfilme gerechnet werden können. In einem engeren Sinn ist das Genre der Weihnachtsfilme wesentlich eindeutiger bestimmbar, wenn es sich um Filme handelt, deren Saisonalität sich dadurch begründet, dass die präsentierte Handlung zu oder zumindest um Weihnachten herum angesiedelt ist und sie in der Regel in direktem Bezug steht zu den zahlreichen kulturellen Praktiken des festtäglichen Treibens. Trotz einer solch ›streng‹ eng gefassten Bestimmung, erweist sich das Genre der Weihnachtsfilme so üppig wie ein gedeckter Festtagstisch, zumal ihm eine extensive Hybridität eignet: Es gibt wohl kein Filmgenre, das sich nicht – wie Ebenezer Scrooge in Charles Dickens Erzählung A Christmas Carol von 1843 – vom Geist der Weihnacht beseelen lassen kann. Das ist kulturspezifisch bedingt und hat sowohl strukturell-formale als auch thematisch-inhaltliche Gründe: Irina Gradinari stellt fest, dass Weihnachtsfilmen die »normativ[en] Strukturen westlicher kultureller Sinnstiftungsprozesse« nicht nur zugrunde liegen, sondern dass sie sie ostentativ postulieren, ja, überhaupt erst hervorbringen, und zwar durch den Appell zur »Familiengründung und Paarbildung«.4 Dabei liegt neueren Filmen aber nicht mehr nur ausschließlich die heteronormative Matrix zugrunde, sehr wohl aber weiterhin deren bürgerlich, mithin konservativ zu nennende Werte. Annette Keck etwa bemerkt, »dass mit Weihnachtsfilmen rudimentäre Phantasmen des Christentums aufgerufen werden«,5 zu denen einerseits die Heilige Familie und andererseits der Heilsbringer gehören. Besonders auffällig sei dabei, dass »[f]ast alle Weihnachtsfilme im Modus der Krise [beginnen]«.6 Der Umstand, dass Weihnachtsfilme grundlegend als Krisengeschichten gelesen werden können, liegt an deren struktureller Disposition, die Roxanne Philipps anhand einer intertextuellen Analyse von Gremlins (USA

4 5

6

I. Gradinari: Zu einer anderen Tradition, S. 190. Keck, Annette: »›All by myself‹: Weihnachten mit Bridget Jones oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz«, in: Geier/Gradinari/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 39–56, hier S. 41. Ebd.

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1984, R: Joe Dante) herausarbeitet: Weihnachtsfilme sind »kulturell hochwirksame Konstruktionen […], die Begehren medial evozieren, aber nie zu erfüllen in der Lage sind«.7 Daraus zieht Philipps das Fazit: Wie die entsprechenden filmischen Artefakte ist auch Weihnachten selbst als eine – durch diese Filme mit erzeugte – mediale Konstruktion zu verstehen, der »ein unerfüllbares und damit beständig Krisen hervorrufendes Begehren eingeschrieben ist.«8

Der ›godfather‹ der Weihnachtsfilme: It’s a Wonderful Life Von einem Begehren, das aus einer Krise erwächst, handelt auch Frank Capras It’s a Wonderful Life (USA 1946). Die »aufwendige Produktion aus dem US-amerikanischen Studiosystem, die während dessen Blütezeit gedreht wurde«,9 gilt als einer ›der‹ Klassiker des Weihnachtsfilmgenres. Die Handlung des Films – genauer: ein Teil der Filmhandlung – spielt zur Weihnachtszeit, und zur Weihnachtszeit im Jahr 1946 kam It’s a Wonderful Life in die Kinos.10 Es ist wohl keine Übertreibung, diesen Film als ›godfather of christmas movies‹ zu bezeichnen, da er inzwischen zu einem festen »Bestandteil des vorweihnachtlichen Fernsehprogramms in den USA und der BRD« avanciert ist,11 wie Michaela Krützen in ihrer Vätern, Engeln und Kannibalen gewidmeten Untersuchung von Figuren des Hollywoodkinos betont. Capras Film ist eine Adaption der Kurzgeschichte The Greatest Gift von Philip van Doren Stern, die der US-amerikanische Autor 1943 im Privatdruck in Höhe von 200 Stück auflegte und als Weihnachtsgruß an Familie und Freunde verschickte; ein Jahr später wurde sie schließlich als Buch veröffentlicht.12 Capras filmische Umsetzung, die mal als ›Komödie‹, mal als ›Melodrama‹ kategorisiert wird, ist als »sentimental film for a sentimental season«, wie Donald R. Riccomini feststellt, ganz eindeutig ein Weihnachtsfilm – eben weil 7

8 9 10 11 12

Philipps, Roxanne: »Wiederholung, Differenz, Exzess. Lektüreverfahren des Weihnachtsfilms, oder: Gremlins liest It’s a Wonderful Life«, in: Geier/Gradinari/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 257–279, hier S. 257. Ebd., S. 279. Krützen, Michaela: Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des Hollywoodkinos, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 224. Ebd. Ebd., S. 225. Vgl. Stern Robinson, Marguerite: »Afterword«, in: Philip van Doren Stern: The Greatest Gift. A Christmas Tale [1943], New York u.a.: Simon & Schuster 2014, S. 37–55, hier S. 39.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

er zur entsprechenden Jahreszeit spielt und neben dem Thema der »Christian spiritual redemption« zudem eine »dramatic depiction of angels« bietet.13 Krützen zählt It’s a Wonderful Life deshalb neben The Bishop’s Wife (USA 1947, R: Henry Koster) zu einem der beiden paradigmatischen »Engelfilme« des Hollywoodkinos.14 Laut Matthew Costello hat It’s a Wonderful Life inzwischen den Status einer »cultural icon« inne,15 und das nicht zuletzt deshalb, weil der für fünf Oscars nominierte (aber in keiner der Kategorien ›Bester Film‹, ›Beste Regie‹, ›Bester Hauptdarsteller‹, ›Bester Schnitt‹ und ›Bester Ton‹ ausgezeichnete) Film vom American Film Institute unter den 100 »best American films ever made« gelistet wird und auf Platz 1 seiner Liste der »most inspirational American films of all times« steht.16 Die nachfolgende Lektüre des Films erfolgt anhand der 2007 von Legend Films veröffentlichten kolorierten Fassung, auch wenn das Original in Schwarzweiß gedreht wurde und so in die Kinos kam. In den 1980er Jahren wollte Regisseur Frank Capra die Kolorierung des Films vornehmen lassen, was aber durch Urheberrechtsstreitigkeiten verhindert wurde. 1986 und 1989 wurden dann ohne Capras Mitwirken kolorierte Fassungen veröffentlicht;17 die 2007er-Kolorierung für den BluRay-Release des Films kann als die technisch versierteste und ästhetisch ansehnlichste gelten. Der Lektüre von It’s a Wonderful Life liegt die These zugrunde, dass sich der Film insofern als Krisengeschichte lesen lässt, als er das Ereignis einer ›englischen‹ Intervention, also das Eingreifen eines Schutzengels ins irdische Geschehen, in besonderer Weise narrativ funktionalisiert, um eine Krise 1. nicht nur erzählbar zu machen, sondern sie 2. in ihrer stets doppelten Dimension, die sich einerseits auf das Individuum und andererseits auf die Gemeinschaft richtet, filmisch zur Anschauung zu bringen. 13 14 15

16 17

Riccomini, Donald R.: »Christian Signature and Archetype in Frank Capra’s It’s A Wonderful Life«, in: Journal of Religion & Film 13,1 (2009), S. 1–12, hier S. 1. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 224. Costello, Matthews: »The Pilgrimage and Progress of George Bailey: Puritanism, It’s a Wonderful Life, and the Language Community in America«, in: American Studies 40,3 (1999), S. 31–52, hier S. 32. Vgl. American Film Institute 2005, https://prdaficalmjediwestussa.blob.core.window s.net/images/2019/08/cheers100.pdf (zuletzt aufgerufen am 7. November 2022). Vgl. Kubincanek, Emily: »The Evolution of ›It’s a Wonderful Life‹ Over 75 Years«, in: www.filmscoolrejects.com vom 7.12.2021, https://filmschoolrejects.com/its-a-wonder ful-life/ (zuletzt aufgerufen am 7. November 2022).

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Ein Engel in der Krise: George Bailey Der Protagonist von It’s a Wonderful Life ist George Bailey, der von James Stewart gespielt wird. Mit Fug und Recht lässt sich sagen: George Bailey ist ein wahrer Engel. Das ist aber selbstredend metaphorisch gemeint, und zwar ganz im Sinne der Redensart ›jemand erweist sich als ein wahrer Engel‹. Damit sollen, so ist es in Lutz Röhrichs Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten unter dem Lemma ›Engel‹ verzeichnet, die besonders guten Eigenschaften eines Menschen mit denen der Engel verglichen werden.18 Die hyperbolische Konstruktion ist eine contradictio in adiecto, denn das Beiwort ›wahr‹ entlarvt die Redensart als Metapher: Ein Engel ist entweder ein Engel oder er ist es nicht. George Bailey ist kein Engel, sondern ein Mensch, aber seine charakterlichen Eigenschaften und seine selbstlosen Taten, mit denen er sich für seine Mitbürger*innen in der US-amerikanischen Kleinstadt Bedford Falls einsetzt, verleihen ihm eine nachgerade engelshafte Aura des Guten: Auch wenn George, der nach der High School einige Jahre gearbeitet hat, um Geld anzusparen, damit er die Welt bereisen kann, eigentlich zum College möchte – um dann irgendwo fernab der idyllischen Beschaulichkeit von Bedford Falls ein prestigeträchtiges Auskommen als Ingenieur oder Architekt zu finden und so seinen American Dream zu leben –, hält das Schicksal ihn in der Kleinstadt fest. Nach dem Tod seines Vaters übernimmt er dessen Firma, die Building and Loan – eine Baugenossenschaft, die einfachen Bürger*innen der Unter- und Mittelschicht den Erwerb eines Eigenheims ermöglicht. Die Übernahme der väterlichen Geschäfte verhindert nicht nur Georges Weltreisepläne; aus finanziellen Gründen verzichtet er zugunsten seines jüngeren Bruders Harry auf den Collegebesuch. Dieser kehrt nicht nur mit akademischen Ehren und einer Ehefrau von der Universität zurück, sondern auch mit der Aussicht auf eine Anstellung im Betrieb des Schwiegervaters, fernab von Bedford Falls. Damit ist der brüderliche Deal, dass George nach Harrys Graduierung nun endlich auch aufs College gehen kann, hinfällig. Die Forschung hat mit Blick auf die strukturelle Disposition von Weihnachtsfilmen – nach Philipps: das Erzeugen eines unerfüllbaren und deshalb ständig Krisen hervorrufenden Begehrens – das (unerfüllte) Begehren der Figur George Bailey in It’s a Wonderful Life als einen Verweigerungs- und Kompensationsmechanismus beschrieben: Im Film werde 18

Vgl. Stichwort ›Engel‹, in: Lutz Röhrich (Hg.), Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten [1991], 5 Bd.e, Bd. II: Easy – Holzweg, 2. Aufl., Freiburg i.Br. u.a.: Herder 1994, S. 385–387, hier S. 387.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

der Subjektivierung entsagt, allerdings erfolgt eine Kompensation durch eine Ersatzbefriedigung. Nichts, von dem die Hauptfigur träumt – und er möchte ja gar keine Familie gründen, kein Unternehmen leiten und keine Kinder erziehen –, kann er verwirklichen, aber er wird mit diesen bürgerlichen Werten versöhnt, indem diese als eine bereits realisierte Signifikation – Konsolidierung der Familie und der Gemeinschaft als das eigentliche ›wahre‹ Lebensziel – ausgestellt [werden].19 Diesen von Irina Gradinari beschriebenen Mechanismus der Kompensation deutet Michaela Krützen in Bezug auf das Figurenmovens, wie es klassisch narrativen Hollywoodfilmen als Opposition von mode und need eingeschrieben ist, denn im Fall von George »besteht eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten […] zu Beginn [des] Films (mode) und [seinen] wahren Bedürfnissen, die im Verlauf des Geschehens weiter offengelegt werden (need)«.20 George erkennt, dass er sein Leben in Bedford Falls wird zubringen müssen – was bleibt ihm also anderes übrig, als seine von Donna Reed gespielte Jugendliebe Mary Hatch zu ehelichen und mit ihr eine Familie zu gründen. Die beiden sind erfolgreich – als Ehe- wie auch als Geschäftspaar: Mit ihren Kindern leben sie in einem von Mary eigenhändig renovierten Stadthaus und zusammen gründen sie das von der Building and Loan finanzierte Wohnquartier Bailey Park. In jeder Hinsicht sind George und Mary ein zentraler Pfeiler der kleinstädtischen Gemeinde. Und alles könnte so idyllisch schön sein, gäbe es nicht den fiesen, alten Henry Potter. Anders als George ist Potter kein vitaler Bestandteil der Gemeinschaft von Bedford Falls – was der Film allein schon in der Miseen-Scène dadurch veranschaulicht, dass Potter im Rollstuhl sitzt –, sondern die alles und alle mittels seiner Finanzkraft kontrollierende Verkörperung eines profitorientierten Kapitalismus. Die Forschung hat das antagonistische Figurenpaar religiös gedeutet und George als Christus und Potter als Satan gelesen.21 Nicht zu Unrecht, denn während George das Wohl der Gemeinschaft am Herzen liegt, sind Potters finstre Pläne so egoistisch wie diabolisch – und das im Großen wie im Kleinen: Er will die Abhängigkeit der Bürger*innen in Bedford Falls von seinen heruntergekommenen Mietshäusern durch die Liquidierung der Building and Loan forcieren und festigen, indem er George in einen Finanzskandal verwickelt. Ausgerechnet an Heiligabend erfährt George, dass

19 20 21

I. Gradinari: Zu einer anderen Tradition, S. 191. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 231. Vgl. D.R. Riccomini: Christian Signature, S. 9f.

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nicht nur sein Lebenswerk, sondern auch das seines verstorbenen Vaters zunichte gehen wird, wenn er nicht bis Tagesende 8.000 Dollar aufbringen kann.

Abbildung 1

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Das Auftreiben dieser für die 40er Jahre, die auch die Gegenwart der Filmhandlung sind, hohen Summe erscheint als eine unmögliche Aufgabe, wie George abends bei einem Drink in einer Bar bewusst wird (Abb. 1): Das Close-up seines tränenvollen Gesichts, das aus einem low angle gefilmt ist, während George in größter Verzweiflung ein Stoßgebet gen Himmel richtet, unterstreicht die existenzielle Krise, in der er sich befindet. Vielleicht eine der stärksten Einstellungen des gesamten Films; in jedem Fall aber eine der melodramatischsten, da George hier in einer emotionalen Ergriffenheit dargestellt wird, die in starkem Kontrast steht zu seiner ansonsten stets Fröhlichkeit und Zuversicht ausstrahlenden Präsentation im Film. George, der ›wahre Engel‹ von Bedford Falls, der anderen Menschen in ihren Krisen beisteht, gerät so zum Engel in der Krise. Und als solcher gleicht er Goethes Werther: Dieser stellt bekanntlich schon im Sommer nach seiner Begegnung mit Lotte fest: »Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab.«22 Nur um sich im Winter des folgenden Jah22

Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther [Brief vom 30. August 1771], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, 14 Bd.e, Bd. VI: Romane und Novellen I, München: dtv 1998, S. 7–124, hier S. 55.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

res – am Abend des 22. Dezember – eine Pistolenkugel in den Kopf zu jagen. Es scheint, als wäre Weihnachten die bevorzugte Zeit, in der sich Männer in der Krise umzubringen pflegen, denn ähnliche Pläne wie Goethes Protagonist hegt auch George in It’s a Wonderful Life: Er beschließt, von einer Brücke in die eisigen Fluten eines Flusses zu springen und so seinem Leben ein Ende zu setzen. Dieser – geplante – Selbstmord ist nicht als Krise zu klassifizieren, sehr wohl aber als deren Symptom und als – zu diesem Zeitpunkt des Entschlusses zum Freitod – einziger Weg aus der Krise. Wie Carla Meyer, Katja PatzelMattern und Gerrit Jasper Schenk in der Einleitung ihres Sammelbandes Krisengeschichte(n) feststellen, herrschen Krisen immer dann vor, »wenn nicht absehbar ist, ob sich alles zum Guten oder Schlechten kehrt«.23 Der Selbstmord stellt also insofern einen Ausweg aus der Krise dar, als die Frage danach, ob sich etwas zum Guten oder Schlechten wendet, obsolet wird – zumindest aus der Perspektive der von eigener Hand dahingeschiedenen Person. In diesem Sinne kann die Krise aus narratologischer Perspektive mit Ansgar Nünning als »eine ganz besondere Art des Ereignisses bzw. eigentlich des Nicht-Ereignisses« aufgefasst werden, weil sie »genau den kritischen Punkt bezeichne[t], an dem sich entscheidet, welcher von mehreren möglichen Verläufen des Geschehens eintreten wird«.24 Im Kontext einer Narration laufen Krisen also auf einen »Wendepunkt«25 zu und damit auf ein besonderes Ereignis, das die Dramaturgie als Peripetie bezeichnet. Krisen selbst sind also keine Ereignisse, gehen aber aus meist mehreren, spätestens in der Retrospektive als negativ zu klassifizierenden Ereignissen hervor, und führen ihrerseits, gerade wenn Krisen erzählt werden, zu mindestens einem weiteren und für den weiteren Verlauf der Handlung zentralen Ereignis. Betrachtet von diesem Ereignis aus, zu dem die Krise hinführt, erscheint sie als ein sich konsequent aufbauender und sukzessiv unbequemer werdender Zustand. Insofern ist Nünning zuzustimmen: Eine Krise kann erzähltheoretisch als »eine Latenzperiode« aufgefasst werden, der

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24

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Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper: »Krisengeschichte(n). ›Krise‹ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung«, in: dies. (Hg.), Krisengeschichte(n), Stuttgart: Steiner 2013, S. 9–23, hier S. 9. Nünning, Ansgar: »Krise als Erzählung und Metapher: Literaturwissenschaftliche Bausteine für eine Metapherologie und Narratologie von Krisen«, in: Meyer/Patzel-Mattern/Schenk (Hg.), Krisengeschichte(n), S. 117–144, hier S. 122. Ebd., S. 124.

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»in der Regel eine Phase sehr ereignishaften Geschehens voraus[geht].«26 All das trifft auf die Krisengeschichte um George Bailey in It’s a Wonderful Life zu. Doch: George bringt sich nicht um. Sein Selbstmord wird somit nicht Ereignis; vielmehr wird er durch das Eintreten eines anderen Ereignisses verhindert, man könnte sagen: ›ent-ereignet‹ und zwar durch das Eingreifen von Georges Schutzengel, der sich damit insofern als ein (echter) Engel der Krise erweist, als diese durch seine Intervention abgewendet wird.

Der Engel der Krise: Clarence Oddbody Clarence Oddbody (Henry Travers) ist der persönliche Schutzengel von George Bailey, der George zu Hilfe kommt und ihn durch einen Trick von seinem Selbstmord abbringt: Er beobachtet, wie George im nächtlichen Schneetreiben auf einer Brücke über einem Fluss das Geländer erklimmt. Doch bevor dieser zu seinem Sprung in die Tiefe ansetzen kann, ist es Clarence, der sich in die reißenden Fluten stürzt und lautstark um Hilfe ruft. Das nimmt George wahr, der kurzerhand ebenfalls springt, das aber nun nicht mehr in selbstmörderischer Absicht, sondern um Clarence zu retten. Dies inszeniert der Film nachgerade theatralisch, wenn eine Totale zeigt, wie Clarence und George von der – enorm Lux starken – Taschenlampe des Brückenwärters unten im Wasser treibend angestrahlt werden (Abb. 2). Bereits der trickreiche Sprung von Clarence Oddbody hat deutlich gemacht, dass er kein ›klassischer‹ Engel ist, wie man ihn aus der biblischchristlichen Tradition kennt – zumindest ist sein Name nicht im Dictionary of Angels verzeichnet,27 auch nicht im Lexikon der christlichen Ikonographie.28 Sein Name ist dennoch bedeutsam, denn offenbar verweist Oddbody auf den vielleicht groteskesten Engel der Literaturgeschichte – seinerseits Namensgeber der 1844 veröffentlichten Erzählung »The Angel of the Odd« von Edgar Allen Poe, die einen Engel präsentiert, dessen Körper aus verschiedenen Fässern, Kisten und Flaschen besteht, und der seinem menschlichen ›Schützling‹ nicht

26 27 28

Ebd. Davidson, Gustav: A Dictionary of Angels: Including the fallen angels [1967], New York: The Free Press 1971. Lexikon der christlichen Ikonographie [1968], 8 Bd.e, hg. von Engelbert Kirschbaum sj., Darmstadt: WBG 2015.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

helfend beiseite steht, sondern diesen bei jeder Gelegenheit piesackt und malträtiert.29

Abbildung 2

It’s a Wonderful Life (1946)

Clarence erweist sich als ein Vertreter jener säkularen Engel, die mit dem Beginn des Zeitalters der ›beschleunigten medientechnischen Reproduzierbarkeit‹30 auftreten und die ihren theologischen ›Ballast‹ weitgehend abgeworfen haben. Diese, etwa ab dem Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmend massierter auftretenden säkularen Engel lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: als erster Typus der aus der biblischen Tobias-Geschichte hervorgegangene Schutzengel und als zweiter Typus der unter Rückgriff auf die Genien der Antike in der Kunst von Renaissance und Barock entwickelte Putto. Während der Schutzengel als ›Engel der Narration‹ in erzählerischen Zusammenhängen auftritt, avancieren die kleinen Kinderengel zu reinen

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Vgl. Poe, Edgar Allen: »Der Engel des Sonderbaren – Eine Extravaganz [The Angel of the Odd, 1844]«, in: ders.: Werke, 2 Bd.e, Bd. II: Erste Erzählungen, Grotesken, Arabesken, Detektivgeschichten, Olten: Walter-Verlag 1967, S. 353–368. Vgl. Jablonski, Nils: Idylle. Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen, Berlin: J.B. Metzler 2019, S. 64f.

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›Engeln der Dekoration‹. Clarence verbindet aufgrund seines kauzigen Auftretens und seines kindlich-naiven Gemüts einerseits und seiner Funktion als tatsächlicher Helfer in der Not andererseits beide ›säkularen Engeltypen‹ in sich. Das wird besonders augenfällig in einer Einstellung aus der Halbnahen, die Clarence und George hinter einer Wäscheleine zeigt, während sie miteinander reden und im Brückenwärterhäuschen nach der Rettung aus dem Fluss ihre nasse Kleidung trocknen (Abb. 3): Im Gespräch offenbart Clarence seine himmlische Herkunft und Mission, die darin besteht, dass er durch seine Hilfe für George zum Engel erster Klasse aufsteigen kann und endlich seine Flügel bekommt.

Abbildung 3

It’s a Wonderful Life (1946)

Clarences divine Intervention ist so trickreich wie grotesk: Er fingiert einen Selbstmord, um George durch einen Sprung von der Brücke von diesem ursprünglich geplanten Sprung von der Brücke abzuhalten. Wirksam ist das ›englische‹ Einschreiten allemal und Clarences Auftreten muss wahrhaft als Ereignis bewertet werden, zumindest wenn man darunter mit Slavoj Žižek »eine Veränderung des Rahmens« versteht, »durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen«.31 Ein solches Ereignis, das die eigene Wahrnehmung

31

Žižek, Slavoj: Was ist ein Ereignis? [2014], Frankfurt a.M.: Fischer 2016, S. 16.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

verändert, inszeniert der Film im Folgenden durch das Wirken des Engels: Clarence gewährt George nämlich den Wunsch, niemals geboren zu sein. Wie schon der letztlich ›ent-ereignete‹ Selbstmord erscheint diese Vorstellung für George als alternativer Weg aus der Krise, in der er sich (noch immer) befindet. Zusammen mit Clarence wandert er durch das winterliche Bedford Falls, das nun gänzlich frei ist von den Spuren seines Wirkens. Doch was sich ihm zeigt, ist eine buchstäbliche Höllenvision. Aus diesem Grund hat die Forschung George mit dem aus dem antiken Mythos bekannten Teiresias32 und Clarence mit der Figur des Vergil aus Dantes Göttlicher Komödie verglichen, schließlich begleitet er George bei seinem Abstieg in diese Unterwelt:33 Die idyllische Kleinstadt heißt nun Pottersville, das der skrupellose Henry Potter unter seine Kontrolle gebracht und in einen Moloch des Glücksspiels verwandelt hat. Weder seine ehemaligen Freunde und Weggefährten, noch seine Mutter und Mary erkennen George – seine Kinder haben nie existiert. Diese Einsicht führt George letztlich zu jener Erkenntnis, die Capras Film den Titel gibt: ›It’s a Wonderful Life‹ – und George fleht Clarence an, seinen Wunsch, nicht geboren zu sein, rückgängig zu machen. Damit entscheidet sich George also für jenen Krisenausweg, den er durch das erstmalige Betreten der Brücke eigentlich ausgeschlossen hatte.

It’s a Wonderful Life als filmisch erzählte Krisengeschichte Der Engel ist gnädig und gewährt seinem Schützling den finalen Wunsch, alles wieder so herzustellen, wie es vor dem Sprung von der Brücke gewesen ist. Clarence hat – nicht ohne Eigennutz – auf die Einsicht von George spekuliert: Indem er ihn dazu bringt, sich für das Leben zu entscheiden, erfüllt sich die Mission des Schutzengels – Clarence bekommt seine Flügel und kann in der himmlischen Hierarchie der Engel aufsteigen. Die Zuschauer*innen des Films haben von Beginn an von dieser Mission des Engels gewusst, denn: Bis zu dem Zeitpunkt, als George mit dem Plan des Selbstmords die Brücke betritt, ist die gesamte filmische Narration ein einziger, umgerechnet in die Erzählzeit 99 Minuten dauernder Flashback – einer der wohl längsten der Filmgeschichte.

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Vgl. Leonard, Garry: »What Grows in This Stony Rubble?«, in: Film international 14,1 (2016), S. 68–82, hier S. 77. Vgl. Garbowski, Christopher: »Community and Comedy in Frank Capra’s It’s a Wonderful Life«, in: Logos 10,3 (2007), S. 43–47, hier S. 39.

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Es ist aber nicht seine Dauer, die diesen Flashback so bedeutsam macht, sondern die durch ihn erfolgende filmische Veranschaulichung von George Baileys ereignisreichem Leben, weshalb sich It’s a Wonderful Life als Krisengeschichte lesen lässt. Zu deren notwendigen Elementen gehört nämlich neben der Lösung der Krise auch die erzählerische Darstellung ihres Zustandekommens. Das ist die Leistung des Flashbacks in Capras Film. Flashbacks bzw. Rückblenden sind, wie Irina Gradinari und Michael Niehaus in ihrem Sammelband zur Ästhetik und Funktion filmischen Erinnerns feststellen, ein typisches »Element des klassischen Erzählkinos«, weil die Rückblende »die Erinnerungen in etwas Erzählbares« verwandelt.34 Nun ist das, was die ersten drei Viertel der Laufzeit von It’s a Wonderful Life präsentieren, aber keine Erinnerung, weil keine der handelnden menschlichen Figuren als deren eindeutiger Fokalisator ausgewiesen wird. Diese narrative Funktion übernehmen die Engel – neben Clarence treten im Film noch zwei weitere auf. Aus diesem Grund ließe sich statt von Nullfokalisierung von ›himmlischer Fokalisierung‹ sprechen; in jedem Fall lässt sich aber der Flashback konkreter klassifizieren: In Abgrenzung zum klassischen Erinnerungsflashback kann mit Bezug auf David Bordwells Unterscheidung von internal und external flashbacks vom sogenannten Narrationsflashback gesprochen werden.35 Ein solcher liegt auch in It’s a Wonderful Life vor. Das macht die Eröffnungssequenz des Films deutlich, die Michaela Krützen zusammenfasst: Der Film beginnt mit einem Blick von der Erde in den Himmel. Ein verschneiter Ortseingang bei Nacht. Man sei in »Bedford Falls«, verkündet ein Schild. Eine Hauptstraße mit Weihnachtslichtern ist zu sehen, schließlich einzelne Häuser. Zu jedem Haus gehört eine Stimme, die ein Gebet für einen Mann namens George Bailey spricht. Da weitet sich der Ausschnitt, und nach einer Überblendung scheint die Kamera dem Schall der Gebete zu folgen. Vorbei am Mond endet die Fahrt bei zwei Sternen, die sich im Gespräch miteinander

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Gradinari, Irinia/Niehaus, Michael: »Flashbacks im Film. Ästhetik – Theorie – und Formen«, in: dies. (Hg.), Filmisches Erinnern. Zur Ästhetik und Funktion der Rückblende, Dortmund: readbox unipress 2020, S. 7–30, hier S. 17. Vgl. Jablonski, Nils: »Flashback-Cues. Markierung und Motivierung filmischer Erinnerungsbilder in Quentin Tarantinos Kill Bill Vol. 1 (2003)«, in: Gradinari/Niehaus (Hg.), Filmisches Erinnern, S. 103–147.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

befinden. […] Von den Bitten der Menschen berührt, beschließen sie, einen Engel auf die Erde zu schicken.36 Durch diese frommen Gebete gerührt, rufen die Engel Clarence herbei, der sich als kleiner Leuchtpunkt zu den Galaxien gesellt und seinen Auftrag erhält:37 Ihm und damit den Zuschauer*innen »wird nun die Lebensgeschichte von George Bailey vor Augen geführt. Zu sehen sind seine Kindheit, Jugend, die Anfänge seiner beruflichen Laufbahn, Familiengründung und Hauskauf«.38 Als Erzähler-Engel hat Joseph (denn nur er spricht und nicht Franklin) die absolute Allmacht über die Narration und damit über die filmischen Bilder. So hält er, nach einer Blende, die den Zeitsprung von Georges Kindheit zu seinem Erwachsenenalter markiert, das Filmbild abrupt an, um Clarence darauf aufmerksam zu machen, dass die nun in einer Halbnahen von der Seite zu sehende Person, die – in ihrer Bewegung eingefroren – in einem Geschäft an der Theke steht und mit den Armen die Breite eines anzuschaffenden Koffers ausmisst, Clarences Schützling George Bailey sei (Abb. 4). Ihn haben sowohl Clarence als auch die Zuschauer*innen bislang nur als Kind gesehen. Die Allmacht der ›englischen‹ Erzähler, die zu Beginn nur als Galaxien und später nur als Stimmen aus dem Off des Weltalls präsentiert werden, erstreckt sich allerdings nicht bloß auf die Verfügung über die Lebensgeschichte eines einzelnen Individuums, sondern auf die ganze Gesellschaft: Das letzte Drittel des Film leitet mit einer weiteren, erzählerisch präsentierten und als Montage gestalteten Zeitraffung ein, die die Familiengründung von George und Mary zusammenfasst, um schließlich zu dem Zeitpunkt zu gelangen, an dem die Filmhandlung initial eingesetzt hat – jener verhängnisvolle 24. Dezember, an dem George sich umzubringen plant. Diese Raffung der erzählten Zeit kommentiert der Engel Joseph durch ein Voice-over. Dabei handelt es sich um das etablierte Verfahren für alle seine erzählerischen Einschaltungen.

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M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 226f. Zum Einsatz dieses Verfahrens einer ›göttlichen Perspektive‹ im narrativen Film vgl. Gradinari, Irina: Kinematografie der Erinnerung. Bd. I: Filme als kollektives Gedächtnis verstehen, Wiesbaden: Springer VS 2020, S. 185–218. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 227.

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Abbildung 4

It’s a Wonderful Life (1946)

Die Montage zeigt sowohl Mary im Kreis ihrer Kinder als auch aufmarschierende US-amerikanische Soldaten und Fliegerangriffe auf dem Meer, was insofern bedeutsam ist, als die Montage so die doppelte Dimension des Krisenbegriffs reflektiert und filmisch inszeniert. Die erste Dimension betrifft das einzelne Individuum, die zweite Dimension eine ganze Gruppe von Individuen in Form einer Gemeinschaft, beispielsweise als Nation. Diese zweite Dimension liegt auch dem modernen geschichtsphilosophischen Begriff der Krise zugrunde, dessen diskursive Genese Reinhart Koselleck im Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland so ausführlich wie minutiös nachzeichnet.39 Die etwa zwei Minuten lange Montagesequenz in It’s a Wonderful Life verflicht beide Dimensionen von ›Krise‹ miteinander, indem das Weltgeschehen des Zweiten Weltkriegs 1. mit dem Geschehen um George Bailey in Bedford Falls während dieser Kriegszeit zusammengebracht und 2. auf Weihnachten bezogen wird, das schließlich das Fest der Gemeinschaft ist, die durch die Ankunft von Gottes Sohn auf Erden Erlösung finden soll.

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Vgl. Koselleck, Reinhart: »Krise«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bd.e, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. III: H – Me, Stattgart: Klett-Cotta 1982, S. 617–650.

Nils Jablonski: Engel (in) der Krise

Entsprechend zeigt das in der Forschung so viel besprochene und als »Eukatastrophe«40 bezeichnete Schlusstableau des Films – nachdem George vom Selbstmord abgebracht wurde und sein Wunsch, nie geboren zu sein, rückgängig gemacht ist – ein gleich mehrfaches Happy End, das die Lösung einer Krise in zwei Dimensionen feiert (Abb. 5): In Close-up-Aufnahme zu sehen sind die Gesichter von George, Mary und ihrer jüngsten Tochter, die der Vater auf dem Arm hält; angeschnitten am linken Bildrand der festlich geschmückte Weihnachtsbaum. Georges Blick ist voll Freude strahlend nach oben und in die Weite gerichtet, während Mary mit geschlossenen Augen den Kopf an die Brust ihres Ehemannes schmiegt – eine säkulare Aktualisierung der Heiligen Familie im bürgerlichen Milieu der USA der 1940er Jahre.

Abbildung 5

It’s a Wonderful Life (1946)

Doch nicht nur das Zusammensein mit seinen Liebsten gibt George allen Grund zur Freude: Der Krieg ist vorbei und sein Bruder Harry kehrt – unverletzt und hoch dekoriert – als Kriegsheld an Heiligabend in die Heimat zurück. Außerdem ist George von seinen Selbstmordplänen abgehalten und findet »the greatest gift« – wie ja der Titel der von Capra verfilmten Kurzgeschichte 40

Vgl. C. Garbowski: Community and Comedy, S. 45.

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heißt – nicht nur im Kreise seiner Familie, sondern in der Gemeinschaft seiner zahlreichen Freunde in Bedford Falls: Diese haben ›zusammengeschmissen‹ und die 8.000 Dollar aufgebracht, die nötig sind, um die Building and Loan vor dem Konkurs und ihren Geschäftsführer vor dem Gefängnis zu retten. Gleichsam bedeutet dies, dass die Kleinstadt vor jenem Ruin durch Henry Potter gerettet ist, wie ihn George in seinem Gang in die Hölle einer Anderswelt an der Seite seines Schutzengels erleben musste. Alle – George und seine Familie mitsamt Bruder Harry und ein paar Kameraden sowie seine vielen Nachbarn und Freunde – haben sich an diesem Heiligen Abend im Wohnzimmer der Familie Bailey eingefunden und dieses Happy End des Films zelebriert Weihnachten als Fest der Freude: Alle Krisen sind abgewendet und die Familie sowie die Bewohner*innen von Bedford Falls kommen zusammen, um sich als Gemeinschaft gleicher Werte selbst zu feiern.

Mars macht mobil Abduktion und Aberration in Santa Claus conquers the Martians (1964) Nikolas Immer

In Nicholas Websters Science-Fiction-Komödie Santa Claus conquers the Martians (USA 1964) bildet die Entführung von Santa Claus durch eine Gruppe von Marsianer:innen das zentrale Krisenmoment. Trotz der ausgiebig inszenierten militärischen Reaktion liegt der Fokus des Films auf den kulturellen Herausforderungen, die der Kontakt und Austausch zwischen Santa Claus und den Marsianer:innen mit sich bringt. Neben der Frage nach der zeitgeschichtlichen Deutung dieser Gegenüberstellung von ›Aliens‹ und ›Americans‹, als deren Symbolfigur Santa Claus fungiert, soll es insbesondere darum gehen, die krisenhaften Konsequenzen dieser Konfrontation zu diskutieren.

Mars attacks? Die unglaubliche Abduktion des friedfertigen Santa Claus Spätestens seit 1898 weiß man, dass vom Mars selten etwas Gutes kommt. Denn in diesem Jahr erschien Herbert George Wells einflussreicher ScienceFiction-Roman The War of the Worlds, in dem der englische Schriftsteller schildert, wie Marsianer:innen in dreibeinigen Kampfmaschinen das Vereinigte Königreich von Großbritannien angreifen.1 Als Reaktion auf die deutsche Übersetzung von 1901 forderte ein zeitgenössischer Rezensent: »Nun gilt es, künftig besser auf den Mars zu achten.«2 Tatsächlich wurde dem roten 1 2

Vgl. Wells, H. G.: The War of the Worlds, London: William Heinemann 1898. Fürst, Rudolf: Rez. »Wells, H.G.: Der Krieg der Welten. Autorisierte Übersetzung von G.[ottlieb] A.[ugust] Crüwell, Wien: Perles 1901«, in: Das litterarische Echo 4 (Februar 1902), H. 10, S. 718f., hier S. 719. Zur frühen Rezeption von Wells in Europa vgl. Parrin-

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Planeten bereits in der Ära des Stummfilms vermehrt Beachtung geschenkt, wie etwa Ashley Millers A Trip to Mars (USA 1910) oder J. Wallet Wallers A Message from Mars (UK 1913) belegen.3 Besonders nachhaltig wirkte die 1938 vom amerikanischen Sender CBS ausgestrahlte Hörbuch-Adaption, die Orson Welles und Howard Koch auf der Grundlage des Romans von Herbert George Wells gestaltet hatten. Das langlebige Gerücht einer Massenpanik, die das Hörspiel angeblich ausgelöst haben soll, ist inzwischen als Mythos entlarvt worden.4 Darüber hinaus sind seit der Mitte des 20. Jahrhunderts mehrere gleichnamige Filmadaptionen von The War of the Worlds entstanden, wie etwa die von Byron Haskin (USA 1953), die von Steven Spielberg (USA 2005) oder die dreiteilige BBC-Serie von Craig Viveiros (UK 2019).5 Bereits im Trailer zu Haskins erfolgreicher Verfilmung wird die enorme Dimension des dargestellten Mars-Angriffs hervorgehoben: Im Kino werde »the biggest story« präsentiert, die sich jemals auf unserer Erde zutragen könne und die schließlich in einer »earth-shaking Fury« kulminiere.6 Von der akuten Bedrohung, die dabei von den Marsianer:innen ausgeht, handeln in den 1950er und 1960er Jahren auch Filme wie Invaders from Mars (USA 1953, R: William Cameron Menzies) oder Robinson Crusoe on Mars (USA 1964, R: Byron Haskin). In dieser Phase der ausgeprägten Dämonisierung der Marsbewohner:innen entschließt sich der amerikanische Regisseur Nicholas Webster gewissermaßen zu einer Gegenoffensive: Im Jahr 1964 bringt er den Weihnachtsfilm Santa Claus conquers the Martians heraus, der auch unter dem Titel Santa Claus defeats the Aliens vertrieben wird. Doch anders als beide Titel suggerieren, erweist sich der darin auftretende Santa Claus als derart harmlos, dass er ohne Komplikationen von den Marsianer:innen entführt werden kann.

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der, Patrick/Partington, John S. (Hg.): The Reception of H. G. Wells in Europe, London: Bloomsbury 2005. Vgl. Miller, Thomas Kent: Mars in the Movies. A History, Jefferson, NC: McFarland & Company 2016, S. 18–20. Vgl. Strupp, Christoph: »Mediale Massenpanik? Orson Welles’ Radio-Hörspiel War of the worlds (1938)«, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), H. 2, S. 322–327, https://zei thistorische-forschungen.de/2-2011/4723. Vgl. Beck, Peter J.: The war of the worlds. From H. G. Wells to Orson Welles, Jeff Waynes, Steven Spielberg and beyond, London: Bloomsbury 2016. War of the Worlds. Theatrical Trailer (USA 1953, R: Byron Haskin); https://www.youtu be.com/watch?v=vL1BKHUOn_U (zuletzt aufgerufen am 12.05.2023).

Nikolas Immer: Mars macht mobil

Websters Weihnachtsfilm wird innerhalb von zwei Wochen in den Michael Meyerberg Studios in New York gedreht und am 14. November 1964 in Chicago uraufgeführt.7 Wie später werbewirksam mitgeteilt wird, ist die damals zehnjährige Pia Zadora dabei erstmals in einem Kinofilm zu sehen. Bei den zeitgenössischen Kritiker:innen findet Santa Claus conquers the Martians allerdings nicht sonderlich viel Anklang, wie beispielsweise die Einschätzung Howard Thompsons in der New York Times belegt: »the picture seem[s] like a children’s television show enlarged on movie house screens«.8 Auch der Filmproduzent Joseph E. Levine, der schon bald die Vertriebsrechte für sein Filmstudio Embassy Pictures erwirbt, hat keine hohe Meinung von diesem Weihnachtsfilm. In einem Interview, das er im Jahr 1966 gibt, betont er, dass Santa Claus conquers the Martians und seine jüngste Produktion Romeo and Juliet (UK 1966, R: Paul Czinner) in qualitativer Hinsicht keinesfalls miteinander zu vergleichen seien.9 Gleichwohl erweist sich der Film als durchaus profitabel: zum einen aufgrund des als Audio-Single verkauften Titelsongs Hooray for Santa Claus, der am Anfang und Ende des Films gesungen wird; und zum anderen aufgrund von Levines erfolgreichem Vertrieb des Films über sein Filmstudio.10 Mit der Aufnahme in das von Harry Medved und Randy Dreyfuss verfasste Kompendium The fifty worst Films of all Time (1978) beginnt Santa Claus conquers the Martians allmählich Kultstatus zu erlangen. Am 21. Dezember 1991 wird der Weihnachtsfilm als Folge 321 der amerikanischen Comedy-Fernsehreihe Mystery Science Theater 3000 (Idee: Joel Hodgson) ausgestrahlt11 und 2011 von der Atlantic City Weekly auf Platz 2 der ›Schlechtesten Weihnachtsfilme aller Zeiten‹ gesetzt – und damit noch unmittelbar vor

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Zum Produktionsverlauf vgl. Medved, Harry and Dreyfuss, Randy: The fifty worst Films of all Time (and how they got that way), New York: Popular Library 1978, S. 200–205. Thompson, Howard: »Santa Claus Conquers the Martians«, in: New York Times vom 17. Dezember 1964, https://www.nytimes.com/1964/12/17/archives/santa-vs-martians. html. Vgl. McKenna, A.T.: Showman of the Screen. Joseph E. Levine and His Revolutions in Film Promotion, Lexington (KY): The University Press of Kentucky 2016, S. 63. Vgl. H. Medved/R. Dreyfuss: The fifty worst Films, S. 204. Vgl. Mystery Science Theater 3000 (MST3K), Nr. 321: Santa Claus conquers the Martians (USA 1991), https://www.youtube.com/watch?v=QgcclbBmdEY (zuletzt aufgerufen am 12.05.2023).

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die drittplatzierte Weihnachtskomödie Santa with Muscles (USA 1996, R: John Murlowski), in der Hulk Hogan die Hauptrolle spielt.12

Abbildung 1: Die allmähliche Verfertigung der Weihnachtsgeschenke beim Reden.

Santa Claus conquers the Martians (1964), TC 04:35

Webster lässt seinen Weihnachtsfilm am Nordpol beginnen, wo der dort ansässige Santa Claus (John Call) ein Interview mit dem Reporter Andy Henderson (Ned Wertimer) von Kid-TV führt (Abb. 1). Trotz der vielfältigen Vorbereitungen, die Santa Claus zu treffen hat, ist er außerordentlich gut gelaunt und betont im Hinblick auf die bevorstehende Auslieferung der Geschenke selbstbewusst: »We have never disappointed a kid yet.« (SCM 04:07)13 In der 12

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Vgl. Billow, Craig/Kinney, Josh: »Atlantic City Weekly’s Weekend Hot Tub Party – Best & Worst Holiday Movies«, in: Atlantic City Weekly vom 2. Dezember 2011, https://w eb.archive.org/web/20141208050538/www.atlanticcityweekly.com/arts-and-enterta inment/features/ACWs-Weekend-Hot-Tub-Party---Holiday-Movies-134917833.html (zuletzt aufgerufen am 12.05.2023). Im Folgenden wird die amerikanische Originalfassung von Santa Claus conquers the Martians zitiert, die 2014 als DVD in der Reihe American Pop Classics erschienen ist. Zitate aus dem Film werden mittels der Abkürzung ›SCM‹ und dem Timecode (TC) nachgewiesen.

Nikolas Immer: Mars macht mobil

Werkstatt begegnet der Reporter zudem Mrs. Santa Claus (Doris Rich), die das erste Mal in der Kinogeschichte als eine Leinwandfigur in Erscheinung tritt. Während sie ihren Gatten zur Fortsetzung der vielfältigen Arbeiten ermahnt, will Santa Claus dem Reporter zunächst die Spielzeuge präsentieren, die in der Weihnachtswerkstatt hergestellt werden. Dazu gehört erstaunlicherweise auch die Figur eines Marsmenschen, die der Elf Winky (Ivor Bodin) gestaltet hat und die den Reporter zu folgender Aussage veranlasst: »I hope they have someone like you up there, Santa, to bring joy and good cheer to all the Martian children.« (SCM 06:03) Ohne es zu wissen, hat der Reporter damit genau auf den Mangel aufmerksam gemacht, der bei den Marsianer:innen herrscht: Über einen eigenen Santa Claus verfügen sie nämlich nicht. Vielmehr ist es so, dass die Marskinder Bomar (Chris Month) und Girmar (Pia Zadora) diese Fernsehsendung schauen und erst über die mediale Vermittlung von der Existenz des Weihnachtsmanns erfahren (Abb. 2).

Abbildung 2: Der Fernsehkonsum als Ursache einer Santa Claus-trophilie?

Santa Claus conquers the Martians (1964), TC 07:44

Aufgrund ihres weitgehend unkontrollierten Fernsehkonsums haben die Marskinder allerdings ihren Antrieb und ihren Appetit verloren, was wiederum ihren Vater Kimar (Leonard Hicks) erzürnt. Als Anführer der

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Marsianer:innen hat er die Betreuung der Kinder ausgerechnet seinem Untergebenen Dropo (Bill McCutcheon) übertragen, der es – da er den Typus der lustigen Figur verkörpert – mit solchen Dienstpflichten nicht sonderlich genau nimmt. In dieser Situation vermag nur noch der weise Chochem (Carl Don) Rat zu geben, der zum einen deutliche Kritik an der bestehenden Erziehungspraxis übt. Zum anderen empfiehlt er die Entführung von Santa Claus, denn schließlich hätten die Erdlinge ihn lange genug für sich gehabt. Damit beginnt die Erdmission der Marsianer:innen, die sich ein wenig komplizierter gestaltet als gedacht. Schon bald mokiert sich Voldar (Vincent Beck), der Gegenspieler Kimars, über dieses Vorhaben: »All this trouble over a fat little man in a red suit.« (SCM 20:08) Weil sie nicht wissen, wo sie nach Santa Claus suchen sollen, steuern die Marsianer:innen zunächst den Großraum New York an, wo sie auf die Kinder Betty Foster (Donna Conforti) und Billy Foster (Victor Stiles) treffen, denen bekannt ist, dass Santa Claus am Nordpol lebt. Um die Ankunft der Außerirdischen nicht verraten zu können, werden die Kinder gezwungen, mit an den Nordpol zu reisen. Dort gelingt Betty und Billy zwar die Flucht, jedoch werden sie schon nach kurzer Zeit von dem Marsroboter Torg gestellt. Auch wenn Santa Claus anschließend Torg in ein Spielzeug zu verwandeln vermag, muss er sich den eintreffenden Marsianer:innen ergeben, die ihn sogleich in Gewahrsam nehmen. Dieser Vorgang entspricht gewissermaßen dem Phänomen der ›alien abduction‹, d.h. jenen vermeintlichen Entführungen durch Außerirdische, die seit den 1960er Jahren verstärkt in den USA gemeldet werden.14 In Websters Film geht es jedoch nicht um die Abduktion beliebiger Durchschnittsbürger:innen, sondern um die einer mythischen Symbolfigur. Daher erscheint sofort eine Extra-Ausgabe der Daily Tribune, auf deren Titelseite zu lesen ist: »Martians Kidnap Santa Claus!« (SCM 40:03) Angesichts dieses transnationalen Verbrechens werden sofort weitreichende Maßnahmen ergriffen: Newscaster. Never in the history of mankind have the nations of the world reacted with such unanimity and cooperation. Tonight, the lights will burn until dawn in the United Nations building as the leaders of the world map a course of action. And, at Cape Kennedy, our correspondent interviewed Werner von Green, the man in charge of America’s Starshot program.

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Vgl. Pritchard, Andrea u.a. (Hg.): Alien Discussions – Von Außerirdischen entführt. Forschungsberichte und Diskussionsbeiträge zur Konferenz am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge/Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1996.

Nikolas Immer: Mars macht mobil

Correspondent. Mr. von Green, what is the space agency doing about this? Von Green. Well, we have mobilized all the men and equipment in our Starshot project. And we have rushed our astronauts into an extensive program for the final phase of their training. Now, our Starshot ship is supposed to undergo six months of test flights. But we are going to forget about the testing, and go after those Martian monkeys. Correspondent. Isn’t that risky? Von Green. Of course it is risky. But everyone of our astronauts is begging for the chance to go after the Martians. Who wouldn’t give everything to bring Santa back to our children? (SCM 40:08) Der zeitgeschichtliche Bezugskontext für das selbstbewusst gepriesene »Starshot program« ist das sogenannte Space Race, d.h. der ›Wettlauf ins All‹, der Mitte der 1950er Jahre zwischen den USA und der Sowjetunion beginnt. Am Anfang der 1960er Jahre und insbesondere nach Juri Gagarins Weltraumflug am 12. April 1961 entwickelt sich aus diesem Wettstreit zunehmend ein Moon Race.15 Webster seinerseits geht in seinem Film noch einen Schritt weiter, indem er ein Mars Race zur Befreiung von Santa Claus ankündigt. Die Krise, die dessen Entführung auslöst, ist so außergewöhnlich und gravierend, dass sie nicht die Konkurrenz, sondern die Kooperation der Vereinten Nationen befördert. Gleichwohl wird die amerikanische Führungsrolle deutlich akzentuiert: zum einen über das »Starshot Program« und zum anderen über die Nennung von »Cape Kennedy«, mit der die Cape Canaveral Space Force Station gemeint ist, die 1964 zu Ehren von John F. Kennedy für einige Jahre in ›Cape Kennedy‹ umbenannt wurde.16 Um die vollmundig angekündigte Vergeltungsaktion gegenüber den »Martian monkeys« auch visuell zu bekräftigen, wird im direkten Anschluss ein Raketenstart gezeigt. Dieser Vorgang bildet den Kulminationspunkt von drei vorangehenden Sequenzen, in denen die Schlagkraft und Leistungsfähigkeit der amerikanischen Luftwaffe vorgeführt wird. Webster hatte dafür auf Originalaufnahmen der US Air Force zurückgegriffen und dieses Material ein wenig

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Vgl. Collins, Martin J.: Space race. The U.S.–U.S.S.R. competition to reach the moon, San Francisco, CA: Pomegranate Communications 1999; Kulke, Ulli: 69 – Der dramatische Wettlauf zum Mond, Stuttgart: LangenMüller 2018. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Cape_Canaveral_Space_Force_Station vom 22.04. 2023 (zuletzt aufgerufen am 12.05.2023).

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willkürlich in seinen Film einmontiert.17 Besonders befremdlich wirkt auf den ersten Blick eine Szene, in der eine Luftbetankung gezeigt wird, die knapp 30 Jahre später im Mystery Science Theater 3000 ironisch kommentiert wird: »And now for your enjoyment some suggestive scenes of jets refuel.«18 Die Darbietung der Luftbetankung ist jedoch weniger zur Unterhaltung gedacht, sondern soll vielmehr die technische Überlegenheit des amerikanischen Militärs sichtbar machen. Wie gefährlich solche aerial refuelings zu dieser Zeit noch waren, belegt etwa das Nuklearunglück von Palomares, das sich am 17. Januar 1966 infolge einer missglückten Luftbetankung ereignen wird.19 Darüber hinaus ist festzustellen, dass exakt dieses Bildmaterial bereits im Vorspann eines anderen Kinofilms verwendet worden war, der am 29. Januar 1964 Premiere hatte: Gemeint ist Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (UK/USA, R: Stanley Kubrick), in dem der Kalte Krieg und die Bedrohung durch nukleare Abschreckung satirisch überzeichnet wird. Möglicherweise zielte Webster mit der Implementierung dieser Sequenzen in eine ähnliche Richtung: Zwar dienen sie der heroischen Inszenierung der amerikanischen Luftwaffe, jedoch bleiben die dargebotenen militärischen Handlungen überraschend folgenlos. Denn Santa Claus wird keineswegs durch etwaige Kampfhandlungen der Menschen gerettet; vielmehr darf er dank der Güte der Marsianer:innen schließlich auf die Erde zurückkehren.

Red planet versus blue planet. Marsianische Pädagogik und menschliche Aberration Auch wenn es so scheint, als sei die Entführung von Santa Claus letztlich nur durch den übermäßigen Fernsehkonsum der Marskinder verursacht worden, sind die Verhältnisse doch ein wenig komplexer. Wie an späterer Stelle gesagt wird, lässt sich der Gemütszustand der Marskinder als »quiet, remote and very unhappy« (SCM 53:59) beschreiben. Hinzu kommt ihr mangelnder Appetit, der daran sichtbar wird, dass sie die Essenspillen, die es auf dem Mars in verschiedenen Geschmacksrichtungen gibt, nicht mehr anrühren wollen. Zudem ist

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Vgl. H. Medved/R. Dreyfuss: The fifty worst Films, S. 204. MST3K, Nr. 321, TC 30:32. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearungl%C3%BCck_von_Palomares vom 01. 04.2023 (zuletzt aufgerufen am 12.05.2023).

Nikolas Immer: Mars macht mobil

das Schlafbedürfnis der Kinder gestört, sodass ihre Mutter Momar (Leila Martin) keine andere Lösung sieht, als ihnen mithilfe eines Sprays zum Einschlafen zu verhelfen. Doch auf diese Weise werden nur die Symptome, nicht aber die Ursachen der Krise bekämpft, welche die Marskinder durchleiden. Erst der weise Chochem (Abb. 3) führt Kimar und seinem Gefolge vor Augen, wo das wahre Problem liegt: We have no children on Mars. They have children’s bodies, but with adult minds. They do not have a childhood. I’ve seen this coming for centuries. They are born. Our electronic teaching machines are attached to their brains while they are in their cradles. Information is fed into their minds in a constant stream. And by the time they can walk – they are adults. They’ve never played, they’ve never learned to have fun! (SCM 13:30)

Abbildung 3: Der weise Weißbärtige als Befürworter ludischer Lebensfreude.

Santa Claus conquers the Martians (1964), TC 14:03

Die permanente Einspeisung von Wissen in die kindlichen Gehirne verläuft vollkommen technisiert und ohne soziale Interaktion. In diesem Vorgang, der als Allegorie auf die Angst vor zunehmender Technisierung und

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sowjetischer Medienpropaganda gelesen werden kann, wird das Entwicklungsstadium der Kindheit übersprungen, das die Marskinder mithilfe ihres Fernsehkonsums zumindest rudimentär nachzuholen versuchen. Chochem rät daher zu einer strikten Änderung der pädagogischen Maßnahmen, da auch die Marskinder Freiräume benötigen, um zu lernen, wie man spielt und Freude hat. Die Entführung von Santa Claus dient folglich dem alleinigen Ziel, die Marskinder zu therapieren. Dabei erkennt Chochem trotz seiner Weisheit nicht, dass die Lösung der pädagogischen Krise eine kulturelle Krise befördern kann. Deutlich wird dieser Zusammenhang vor allem an dem Verhalten des Marsianers Voldar, der zwar dem Anführer Kimar unterstellt ist, der aber ansonsten seinen Gegenspieler verkörpert. Im Gegensatz zum besonnenen Kimar ist Voldar nicht nur verschlagen und gewalttätig, sondern auch von einer ausgeprägten Abneigung gegenüber den ›Erdlingen‹ erfüllt. So malt er sich bei der Annäherung an New York aus, wie man die Stadt zerstören könne; am Nordpol gibt er dem Roboter Torg den Befehl, die Kinder Billy und Betty zu zermalmen; im Raumschiff lockt er Santa Claus, Billy und Betty in eine Druckluftschleuse, um sie in den Weltraum zu katapultieren; und auf dem Mars versucht er, Santa Claus gefangen zu nehmen, um ihn anschließend öffentlich zu diskreditieren. Nachdem jedoch sämtliche Bemühungen Voldars gescheitert sind, wird er in einer anarchischen Sequenz von den Mars- und Erdenkindern sowie von dem lebendig gewordenen Weihnachtsspielzeug endgültig besiegt. Dass die Figur des Bösewichts schließlich unschädlich gemacht wird, entspricht der prototypischen Struktur eines weihnachtlichen Kinderfilms mit einem Happy End. Gleichwohl ist es lohnenswert, Voldars Überzeugungen etwas genauer in den Blick zu nehmen (Abb. 4). Schon frühzeitig lehnt er das menschliche Weihnachtsfest, das von Chochem genauer beschrieben wird, ausdrücklich als »nonsense« (SCM 13:25) ab. Als Kimar am Nordpol gegenüber Billy und Betty Gnade walten lässt, spricht sich Voldar deutlich gegen dieses humane Verhalten aus: »What has happened to the great warriors of our planet? Mars used to be the planet of war. Mark my words, Kimar: Your softness will destroy us!« (SCM 36:42) Voldar steht der menschlichen Kultur, die in seinen Augen das Fremde verkörpert, distanziert bis ablehnend gegenüber. Selbstbewusst erinnert er an die Tradition der Marsianer:innen, schon immer ein Volk von Krieger:innen gewesen zu sein. Die vermeintlich menschliche Friedfertigkeit hingegen erscheint Voldar als soziale Aberration, d.h. als eine Abweichung bzw. Verirrung, deren Ausdruck jene ›Weichheit‹ ist, die er bei Kimar diagnostiziert. In dieser unterstellten Ver-

Nikolas Immer: Mars macht mobil

weichlichung sieht er eine akute Bedrohung für die Kultur der Marsianer:innen, die – wie er befürchtet – vor allem durch Kimars vermeintlich menschliche Handlungsweise zerstört werde. Daher opponiert Voldar konsequent gegen das menschliche Weihnachtsfest und gegen das damit verbundene Ritual des Verschenkens von Spielzeug.

Abbildung 4: Martialische Verteidigung marsianischer Zivilisation.

Santa Claus conquers the Martians (1964), TC 20:09

Nachdem auf dem Mars eine Spielzeug produzierende Maschine errichtet worden ist und Voldar anschließend wähnt, den echten Santa Claus gefangen genommen zu haben, sieht er sich in der Machtposition, um gegenüber Kimar drei Forderungen aufzustellen: »First: Destroy the toy machine! Second: We will release Santa Clause if you promise to send him and the earthlings back to their planet. Third: No more ›joy through toys‹-nonsense on Mars.« (SCM 01:11:01) Mit seinen drei Forderungen versucht Voldar vergeblich, den Status quo wiederherzustellen, denn er bemerkt zu spät, nicht den echten Santa Claus, sondern den verkleideten Dropo entführt zu haben. In seinem kulturkonservativen Eifer übersieht Voldar, dass er sich das weihnachtliche Ritual des Beschenkens durchaus hätte zunutze machen können. Denn in der Szene, in der die Kinder Voldar überwältigen, wird auffällig viel menschentypisches Kriegsspielzeug gezeigt (SCM 01:14:04-01:16:07). Diese Beobachtung hätte Vol-

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dar als Indiz dafür werten können, dass die Erdenmenschen und Marsmenschen im Hinblick auf ihren Hang zur Martialität offenbar gar nicht so unähnlich sind.

Mission on Mars. Santa Claus und die Tücken der Technik Da sich Santa Claus geradezu mühelos auf den Mars entführen lässt, entsteht der Eindruck, als habe Nicholas Webster den falschen Filmtitel gewählt. Hätte der Film nicht vielmehr The Martians conquer Santa Claus heißen sollen? Tatsächlich entspricht die Titelfigur in keiner Weise dem Typus eines martialischen Bezwingers, sondern strahlt vielmehr Heiterkeit und Harmlosigkeit aus. Zudem wird Santa Claus bereits in der Anfangsszene als gutmütige und leicht vergessliche Großvaterfigur eingeführt, als ihn der Reporter danach fragt, wie er die Geschenke verteilen wolle: »We’re going out the good old-fashioned way, with my reindeer Prancer and Dancer and Thunder and Blitzen and Vixen and Nixon … Nixon, now where did I get that? … well, I always get those names mixed up, but the kids know their names!« (SCM 04:21) Santa Claus gelingt es nicht, sämtliche Namen seiner Rentiere aufzuzählen, die Clement Clark Moore bereits 1823 in seinem äußerst populären Gedicht A Visit from St. Nicholas etabliert und die Robert L. May 1939 um das Rentier Rudolph erweitert hatte.20 Bei der Aufzählung werden nicht nur mehrere Namen ausgelassen, auch kommt es zur Verwechslung mit Richard Nixon, der bis 1961 Vizepräsident unter Dwight D. Eisenhower gewesen war. Zugleich werden die zuschauenden Kinder, die Santa Claus gestisch in seine Rede einbezieht, zum interaktiven Mitmachen aufgefordert. Darüber hinaus wirkt die Methode, mit der Santa Claus die Marskinder Bomar und Girmar glücklich machen will, ein wenig eigenwillig. Denn als er das erste Mal zu ihnen geführt wird, stellt er sich gar nicht erst vor, sondern stimmt sogleich ein überschwengliches Lachen an (SCM 55:26). Aufgrund der unheimlichen Wirkung dieser Lachorgie ist das Verhalten von Santa Claus im Mystery Science Club 3000 als pathologisch gekennzeichnet worden: »Dad,

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Vgl. Moore, Clement Clark: »Account of a Visit from St. Nicholas«, in: Troy Sentinel (23. Dezember 1823); May, Robert L.: Rudolph the red-nosed Reindeer [Manuskript] 1939, https://www.npr.org/2013/12/25/256579598/writing-rudolph-the-original -red-nosed-manuscript.

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get him out of here! Santa left his medication at all.«21 Darüber hinaus lässt der überbordend lachende Santa Claus an einen nicht minder heiteren Vorgänger denken: nämlich an die Titelfigur aus René Cardonas mexikanischer Weihnachtsgroteske Santa Claus (MEX 1959).22 In Websters Weihnachtsfilm hat das Lachen durchaus Erfolg: Es wirkt so ansteckend, dass Bomar und Girmar auf diese Weise aus ihrer Lethargie befreit werden. Weil nun Santa Claus nicht alle Marskinder glücklich lachen kann, wird ihm von den Marsianer:innen eine Werkstatt eingerichtet, in der die Spielzeugproduktion automatisch vonstatten geht. Doch die Technisierung der Arbeitsabläufe hat zur Folge, dass sich Santa Claus auf die Ausführung einer äußerst monotonen Tätigkeit beschränken muss: Betty: Two dolls. Santa Claus: Two dolls. Yes, Betty. Betty: Three baseball bats. Santa Claus: Three baseball bats. … Look at me. Santa Claus, the great toy maker, pressing buttons. That’s automation for you. Technology. Weak: Well, that’s enough for the day. (SCM 59:25) In diesem Moment zeigt der Weihnachtsfilm einen fast schwermütigen Santa Claus, der die ursprüngliche Verbindung zu seiner Arbeit verloren hat.23 Er entspricht folglich dem Typus des entfremdeten Arbeiters, den Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) beschrieben hat. Charakteristisch für diesen Arbeiter sei, dass ihm die Arbeit »äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist rui-

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MST3K, Nr. 321, TC 01:02:26. Vgl. Immer, Nikolas: »Lupita Gloriosa. Tugendrigorismus in René Cardonas Weihnachtsgroteske Santa Claus (1959)«, in: Andrea Geier/Irina Gradinari/Irmtraud Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen. Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023, S. 115–129. Vgl. Stanley, O’Brien u.a.: Martian Pictures. Analyzing the Cinema of the Red Planet, Jefferson, NC: McFarland & Company 2018, S. 182.

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niert.«24 Die Gefahr, dass Santa Claus »seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert«, besteht zwar noch nicht, jedoch bleibt unklar, wie er ohne einen äußeren Impuls aus diesem Krisenmodus wieder herausfinden können soll. Einen solchen Impuls bildet nun die Sabotage Voldars, der die Spielzeugmaschine geschickt manipuliert, um Santa Claus in Verruf zu bringen. Im Anschluss erzeugt der Apparat Hybridfiguren wie Teddybären mit Puppenköpfen bzw. Puppen mit Teddybärköpfen. Erstaunlicherweise weiß Santa Claus genau, wie die Spielzeugmaschine zu reparieren ist, sodass er sie mit wenigen Handgriffen wieder instand setzen kann. Nachdem Voldar besiegt ist und Betty und Billy allmählich Heimweh nach der Erde zu verspüren beginnen, erlauben ihnen die Marsianer:innen, zurück in ihre Heimat zu reisen. Während Santa Claus und die Kinder sofort aufbrechen, um noch rechtzeitig zu Christmas Eve auf der Erde anzukommen, bleibt die funktionierende Spielzeugmaschine auf dem Mars zurück, damit auch dort künftig Weihnachten gefeiert werden kann. Diese Übernahme einer extramarsianischen Festkultur verdeutlicht, dass Santa Claus die Marsianer:innen letztlich doch ›bezwungen‹ hat. Der anschließende Titelsong Hooray for Santa Claus, der das Happy End musikalisch einleitet, verdeckt allerdings die latenten Brüche, die dem Filmende eingeschrieben sind. Zu berücksichtigen ist hier zunächst, was Santa Claus sagt, nachdem er festgestellt hat, dass die Spielzeugmaschine nur noch fehlerhaft arbeitet: »This never happened when we made toys by hand.« (SCM 01:08:37) Auch wenn es Santa Claus in diesem Moment nur um die Fehleranfälligkeit der Spielzeugherstellung geht, unterscheidet er doch bewusst zwischen manueller Einzelanfertigung und maschineller Massenproduktion. Dass im Zuge individueller Handarbeit äußerst kreative Figuren entstehen können, hatte eingangs der Elf Winky demonstriert, der die Puppe eines Marsmenschen gebastelt hatte. Die Spielzeugmaschine dagegen, sofern sie im regulären Modus läuft, arbeitet nur nach vorgegebenen Objektmustern und produziert: Bälle, Schläger, Puppen, Autos sowie Züge und Werkzeuge. Zudem trägt die maschinelle Hervorbringung des Spielzeugs erheblich dazu bei, Weihnachten auf einen Vorgang des Geschenkeverteilens zu reduzieren. Diese Vereinseitigung kann auch Santa Claus nicht mehr korrigieren, denn er muss eilig zur Erde zurückkehren, um die dortigen Kinder noch rechtzeitig zu beschenken. Dass es ausgerechnet Dropo gelingen soll, die Rolle von 24

Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Ergänzungsband: Schriften bis 1844, Erster Teil, Berlin 1968, S. 514.

Nikolas Immer: Mars macht mobil

Santa Claus fortan adäquat auszufüllen, darf aufgrund seiner ausgeprägten Tollpatschigkeit bezweifelt werden. Zudem ähnelt er in seiner Santa-ClausVerkleidung jenen Hybridwesen, die von der sabotierten Spielzeugmaschine hervorgebracht worden sind. Wie sich schließlich herausstellt, scheint das Weihnachtsfest im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und kosmischen Exportierbarkeit die Aura seiner Ursprünglichkeit offenkundig eingebüßt zu haben. Die Marsianer:innen müssen sich nicht nur mit einer Schwundstufe dieses christlichen Fests begnügen, sondern avancieren auch zu einer festkulturell kolonialisierten Gemeinschaft. Dass in diesem Horizont die bereits thematisierte ›Verweichlichung‹ der Marsianer:innen und der Verlust ihrer Identität als Kriegsvolk eine nicht unwahrscheinliche Konsequenz darstellt, dürfte auf eine gravierende Krise vorausdeuten, die der weitsichtige Voldar zumindest ansatzweise antizipiert hat. Möglich ist durchaus, dass diese offene Frage in dem angekündigten Remake von Santa Claus conquers the Martians (USA 2023) thematisiert wird, bei dem bemerkenswerterweise Cynthia Webster, die Tochter von Nicholas Webster, Regie geführt hat.25

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Vgl. https://www.imdb.com/title/tt13286000/?ref_=nm_ov_bio_lk3 (zuletzt aufgerufen am 12.05.2023).

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Tanzend von der Krise ins Glück Bewegte, behinderte und begabte Körper in der ZDF­Weihnachtsserie Anna Andrea Geier

Lebenskrise und krisenhafte Ereignisse in einer Coming of Age-Geschichte Will man die sechsteilige ZDF-Weihnachtsserie Anna (D 1987, R: Frank Strecker) streamen, stößt man in der Mediathek des Senders auf diesen Teaser: »Annas großer Traum, Balletttänzerin zu werden, droht durch einen Unfall zu zerplatzen. Das Programm ist auch ein historisches Zeitdokument, das gesellschaftliche Themen aus damaliger Sicht spiegelt.«1 Das Publikum wird damit auf die Erzählung einer konkreten existenziellen Krise im Leben der vierzehnjährigen Hauptfigur Anna Pelzer (Silvia Seidel) eingestimmt. Ein Autounfall ruft eine plötzliche, unerwartete Lebenskrise hervor, die Lebensziele und -wünsche in Frage zu stellen droht. Im Verlauf der weiteren Entwicklung führt diese erste Krise zu einer grundlegenden Suche nach privater und beruflicher Orientierung im Leben oder präziser: verbindet sich damit. Denn der Unfall ist weniger alleiniger Auslöser denn verstärkendes Element in einer Coming of AgeNarration: Passend zur Adoleszenzphase der Protagonistin nehmen Freundschaft, Verliebtheit, Liebe und familiäre Beziehungen, Verhandlung von individuellen Entwicklungsperspektiven und -chancen breiten Raum ein, und in all diesen Themenfeldern begegnen weitere unterschiedlich dramatische Vorkommnisse. Manche Krisen korrelieren offensichtlich nur zufällig mit dem lebensverändernden Unfall – unerwiderte Liebe, der Tod der Ballettlehrerin –, manche sind indirekt damit verbunden.

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https://www.zdf.de/serien/anna (zuletzt aufgerufen am 4.7.2023).

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Die Erzählung der großen (Lebens-)Krise und der weiteren Entwicklung über etwa drei Jahre wird narrativ als Dreischritt entfaltet – von Gefährdung über Überwindung bis zum Happy End. Damit wird einerseits ein langer Bogen vom Unfall bis zur erfolgreichen Ausbildung zur Balletttänzerin und Aufnahme als Ensemblemitglied geschlagen, andererseits beschränkt sich das Happy End keineswegs auf die Bewältigung der ersten Ausgangskrise und die Erfüllung des ursprünglichen Lebenstraums. Anna hat schließlich in ihrem besten Freund Rainer Hellwig (Patrick Bach) ihren Lebenspartner gefunden und hätte die Möglichkeit, als Tänzerin Karriere zu machen, legt sich darauf jedoch noch nicht fest. Damit zeigt sich in Anna ein Spannungsfeld von Krisenszenarien und Lösungen, das für ein weiteres Thema bedeutsam ist: verschiedene Dimensionen von zeitweiliger und dauerhafter körperlicher Behinderung. Nach dem Unfall ist zunächst unklar, ob Anna gelähmt bleiben könnte und sich damit vor allem auch vom Tanzen verabschieden müsste. Diese Angst erweist sich bald als unbegründet. In welchem Verhältnis steht diese als krisenhaft präsentierte Behinderung zur wichtigsten Nebenfigur der TV-Serie, dem als Folge eines Skiunfalls querschnittsgelähmten Rainer? Der vorliegende Beitrag untersucht ausgehend von der Figurenkonstellation AnnaRainer Repräsentationslogik(en) körperlicher Behinderung in Anna.2 Welche Behinderungsnarrative und welche Vorstellungen von Behinderung finden sich hier? Welche Perspektiven auf Dis/Ability, also das Motivpaar Behinderung/Befähigung, bietet die Serie im Rahmen ihrer Krisenerzählungen an? Und welche Rolle spielt dabei das Tanzen? Vom Tanzen und insbesondere von Balletttraining und -aufführungen erzählt auch schon das Jugendbuch Anna. Schritt für Schritt ins neue Leben (1987) von Justus Pfaue, das der TV-Serie hinsichtlich Plot, Figuren, Motiven und Dialogen als Vorlage diente. In der Mini-TV-Serie hat dann das Tanzen als 2

Behinderung wurde in der Literatur über einen langen Zeitraum vorwiegend negativ dargestellt, vgl. z.B. Helduser, Urte: »Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies«, in: Anne Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden: Springer VS 2022, S. 219–233, hier S. 224. Matthias Luserke-Jaqui spricht von einer »Ästhetik der Binarität als Diskursmuster«, die von Literatur und Literaturwissenschaft geschaffen worden sei. Luserke-Jaqui, Matthias: »Ein Krüppelstück von Krüppeln für Krüppel. Behinderung als kulturelles Deutungsmuster in Literatur und Literaturwissenschaft?«, in: David Brehme et al. (Hg.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Weinheim/Basel: Beltz 2020, S. 196–202, hier S. 197.

Andrea Geier: Tanzend von der Krise ins Glück

klassisches Ballett und moderner Tanz einen hohen Anteil, dazu kommen Referenzen auf bekannte Tanzfilme. Im Vergleich mit der Vorlage wird es zu einem mindestens eigenständigen, sich zum Teil verselbstständigenden ästhetischen Themenkomplex. Daraus ergibt sich ein genrehybrider Charakter der Serie: Krisenszenarien sind in einer Coming of Age-Geschichte angesiedelt, die als Tanzserie und als TV-Weihnachtsserie präsentiert wird. Beide Zuordnungen werden nun genauer untersucht. Zunächst die Weihnachtsserie, anschließend die Krisendramaturgie mit Fokus auf die Figurenkonstellation Anna-Rainer und die visuelle Inszenierung von Behinderung, Bewegung und Tanz.3 Die Frage nach der Funktion, die der Darstellung von Rainers Behinderung für Annas Entwicklung auf der Ebene des Plots und für das Erzählen im Rahmen eines Tanzfilms zukommt, wird dabei mit grundsätzlichen Überlegungen zu Repräsentationslogiken kontextualisiert.

Anna als Weihnachts- und als Tanzserie damals und als Kult(tanz)serie heute Als Anna erstmals vom 25. bis 30. Dezember 1987 im ZDF, dem Zweiten Öffentlich-Rechtlichen Fernsehsender der BRD, ausgestrahlt wurde, war das Format ZDF-Weihnachtsserie bereits etabliert. Auf die Erstausstrahlung von Timm Taler oder Das Verkaufte Lachen (D 1979, R: Sigi Rothemund) folgte jährlich bis 1995 und zuletzt 1998 eine ZDF-Weihnachtsserie. Anna war damit auf einem bereits einschlägig etablierten Sendetermin platziert. Bekannt aus der Weihnachtsserienreihe waren vor Anna nicht nur der Drehbuchautor Justus Pfaue (Pseudonym von Norbert Sellmann), der bereits mit Regisseur Sigi Rothemund zusammengearbeitet hatte, sondern vor allem der Schauspieler Patrick Bach, der mit den Weihnachtsserien seinen Durchbruch als 3

Der Text von Justus Pfaue wird hier nur punktuell zu Zwecken des Vergleichs herangezogen. Eine eigenständige Interpretation müsste weitere Aspekte genauer betrachten u.a. die Geschlechterrollen und vielfachen klischeehaften Beschreibungen wie etwa folgende: »Die Ballettmeisterin Sonja Kralow hatte das Gesicht eines alt gewordenen Diwanpüppchens mit Porzellankopf: zart, weiß, zerbrechlich. Ihr mimosenhafter Körper wurde in unterschiedlichen Abständen von Asthmaanfällen geschüttelt, die sie mit einem Aerosolspray linderte.« Pfaue, Justus: Anna. Schritt für Schritt ins neue Leben. Illustrationen von Janos Zsigmond von Lemheny, Bindlach: Loewe 1987, S. 97. Eine weitergehende Analyse könnte auch vielfache Veränderungen zwischen Original- und Neuauflage (2012) betrachten, die für diese Untersuchung aber nicht relevant sind.

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Teenagerstar erlebte. Nach der Serie Silas (D 1981, R: Sigi Rothemund) wurde er für die Hauptrolle in Jack Holborn besetzt (D 1982, R: Sigi Rothemund), es folgten die Nebenrollen in Anna (1987) sowie in Laura und Luis (D/F/Ö/ CH/I 1989, R: Frank Strecker). Rainer Hellwig ist die wichtigste Nebenfigur in Anna, und gemessen an Präsenz und Funktion für das Erzählen könnte man ihr den Status einer zweiten Hauptfigur zuerkennen. Die Freundschaftsund Liebesgeschichte zwischen Anna und Rainer erstreckt sich ausgehend vom Klinikaufenthalt über alle Folgen der Serie hinweg und wird mit vielen emotionalen Höhen und Tiefen ausgemalt. Die prominente Besetzung mit einem Teenager-Publikumsliebling konnte zweifelsohne Aufmerksamkeit schaffen. Es mag ein Anreiz für diejenigen Zuschauer*innen gewesen sein, die Interesse an einer familientauglichen Weihnachtsserie hatten, aber weniger oder gar nicht am Thema Tanz, speziell Ballett. Als Ballettserie präsentiert sich Anna wiederum über den hohen Anteil des klassischen Tanzes sowie das Intro: In allen sechs Folgen ist die Stimme der Ballettlehrerin Irena Kralowa (Milena Vukotic; im Jugendbuch heißt die Figur noch Sonja Kralow) zu hören, die Anweisungen für Tanzschritte gibt.4 Die hybriden Genre-Angebote erlauben es, rezeptionsseitig unterschiedliche Akzente zu setzen. Weihnachtsfilme und -serien lassen sich grundsätzlich als transgenerisches, hybrides Genre beschreiben – ein Weihnachtsfilm kann z.B. zugleich eine romantische Komödie sein –, und der Bezug auf Weihnachten kann daher in unterschiedlicher Weise hergestellt werden. Letzteres bedeutet z.B., dass auch ein Werk, das dominant einem anderen Genre zuzurechnen ist, auf der Basis eines konventionalisierten Ausstrahlungstermins als Weihnachtsfilm oder -serie kategorisiert werden kann. Letzteres gilt auch im Fall von Anna, doch wird der Bezug zu Weihnachten zusätzlich fiktionsintern motiviert. Wie in anderen Filmen und Serien,5 in denen Weihnachten ebenfalls weder als Ereignis vorkommt noch in anderer Weise dominanter Bezugspunkt 4

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Anna ist kein Ballettfilm bzw. keine Ballettserie in einem engeren Verständnis des Genres, da Ballett Teil der Narration ist, es sich aber nicht um Aufnahmen von Balletttänzer*innen oder gar die Verfilmung eines bestimmten Balletts handelt. Siehe dazu den Artikel »Ballettfilm« in: Liz-Anne Bawden (Hg.), Buchers Enzyklopädie des Films, Luzern, Frankfurt a.M.: Bucher 1977, S. 64. Das prominenteste Beispiel im deutschsprachigen Raum (jenseits der ZDF-Weihnachtsserien) ist der deutsch-tschechische Märchenklassiker Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (ČSSR/DDR 1973, R: Václav Vorlíček). Siehe hierzu die ausführliche Diskussion in Andrea Geier: »Vom Wunder der Liebe im populären Genre. Märchenhafte Ordnungen in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, in: dies./Irina Gradinari/

Andrea Geier: Tanzend von der Krise ins Glück

für das Erzählen ist, findet sich konkret adventlich-weihnachtliche sowie assoziativ passende Motivik. Im Jugendbuch stellt die jahreszeitliche Referenz eher eine allgemeine Markierung dafür dar, dass Zeit vergeht. Für die Serie wurde dagegen eine plotspezifische Funktion entwickelt: Weihnachtliche Motive werden mit dem Tanzen und der Entwicklungsgeschichte der Protagonistin sinnstiftend verknüpft.6 Für die Interpretation ist es daher interessant zu betrachten, wie die Themenfelder verbunden werden. Während des ersten Balletttrainings nach Autounfall und Genesung ist als – dissonanter – Hintergrund die musikalische Probe des Weihnachtsliedes »Tochter Zion, freue dich« zu hören. Anna ist nun nicht mehr im Kinderballett, in dem sie vor dem Unfall noch trainierte, sondern in Jacobs (João Ramos) Tanzgruppe. Diese musikalische Szenenuntermalung schlägt eine Brücke zur dritten Folge, in der eine für Annas weiteren Lebensweg entscheidende Ballettaufführung in der Weihnachtszeit stattfindet: Jacobs Ballettlehrerin Irena Kralowa hatte Anna bereits bei einem Besuch in ihrem Ballettstudio kurz geprüft, aber in Bezug auf ihre Tanzambitionen nicht ermutigt. Auf erneutes Drängen ihres Schülers besucht sie nun die Schulaufführung, in der Jacob und Anna zusammen tanzen. Anna hat die lang ersehnte Hauptrolle: das Aschenputtel.7 Die Aufführung ändert Kralowas Meinung. Sie rät den Eltern, Anna eine professionelle Ausbildung zukommen zu lassen, wird selbst ihre Lehrerin und einflussreiche Fürsprecherin, die ihr schließlich sogar einen karriereentscheidenden Aufenthalt in Paris ermöglicht. Das Gespräch mit den Eltern findet statt, während das Publikum gemeinsam »Tochter Zion,

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Irmtraud Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen. Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte. Bielefeld: transcript 2023, S. 57–76. Im Jugendbuch wird eine geplante Ballett-Pantomime, »Die Puppenfee«, in der Ballettschule von Frau Breuer erwähnt, die zur Weihnachtszeit stattfinden soll (J. Pfaue: Anna, S. 13), sowie ein Ballettmärchen mit dem Titel »Cinderella« zur Weihnachtszeit (ebd., S. 96 u.ö.). In der TV-Serie ist »Die Puppenfee« zwar als Ballettprobe zu sehen, in dieser Szene wird allerdings weder der Titel des Balletts genannt noch ein Bezug zu Weihnachten hergestellt, denn der Akzent liegt darauf, zum ersten Mal Anna tanzen zu sehen. Im Jugendbuch handelt es sich um eine sehr kurze Szene, und das nicht nur, weil die Tanzszenen nur erwähnt werden und nicht zu sehen sind. Es fehlen das Schnee-Motiv sowie die einschlägige weihnachtliche Musik. Dass Anna ein »Aschenbrödel-Kostüm« trägt, verweist auf das getanzte Ballett und ist im Kontext der Entwicklungsgeschichte (synonym verwendet mit Cinderella) auch als ein Verweis auf die weitere, märchenhaft anmutende Entwicklung lesbar. Vgl. J. Pfaue: Anna, S. 101.

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freue dich« singt. Neben dem weihnachtlichen Gesang erzeugt zusätzlich der Schneefall vor der Schulaufführung ein wenig winterliche Atmosphäre. Das (vor-)weihnachtliche Ereignis ist also mit großer Bedeutung aufgeladen. Erst ab diesem Zeitpunkt eröffnet sich die Chance, dass sich mit hartem Training und Zielstrebigkeit Annas Traum, Ballerina zu werden, erfüllen könnte, es ermöglicht weitere (Tanz-)Schritte ins Glück oder eben ins »neue Leben«, wie es im Untertitel des Jugendbuches heißt. Von diesem (adventlichen) Höhe- und Wendepunkt aus kann dann das Ende der Serie als überaus harmonische Lösung aller verschiedenen Krisenszenarien – der Unfall und seine Folgen, Freundschaft und Liebe, Entfaltung des Talents als Tänzerin – und damit zumindest atmosphärisch als Erfüllung einer Genreerwartung an die familientaugliche Weihnachtsserie wahrgenommen werden. Einem Publikum, das die Serie zur Weihnachtszeit ansah, musste der Weihnachtsbezug auffallen – auch wenn es sich (wie auch in meinem Fall) um Zuschauer*innen handelte, die Anna vor allem als Tanzserie rezipiert haben.8 Wer die sechs Folgen der Serie heute streamt, wird dem Thema Weihnachten wahrscheinlich weniger bis keine Bedeutung beimessen, und zwar unabhängig davon, ob ein Wissen darüber vorhanden ist, dass es sich ursprünglich um eine Weihnachtsserie handelte. Sie dürfte eher als kultige Tanzserie attraktiv wirken, und so wird sie auch vermarktet. Eine »Retroserie«, wie in der ZDFMediathek zu lesen, ist sie übrigens eindeutig nicht, schließlich handelt es sich weder um eine Reinszenierung noch um eine Neuinszenierung im Retrolook. Die irreführende Rubrizierung in der Mediathek-Auswahl »Kultserien, Filmklassiker, Retros« kann aber noch einmal den Blick zur eingangs zitierten Teaser-Formulierung, Anna sei ein »Zeitdokument, das gesellschaftliche Themen aus damaliger Sicht spiegelt«, zurücklenken. Eine Erklärung, was als »gesellschaftliche Themen« angesehen werden sollte, fehlt, erkennbar ist aber die Funktion der vagen Beschreibung: Sie soll eine Distanz zur Gegenwart herstellen. Im Durchgang durch mögliche Themenfelder scheiden Weihnachten, das Coming of Age-Szenario, die Liebesgeschichte, die Familienverhältnisse oder das Tanzen aus. In Frage kommen Geschlechterbilder, vor allem aber die Darstellung körperlicher Behinderung. Die Distanzierung im Teaser soll also

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Zur Begeisterung junger Mädchen für die TV-Serie als Ballettserie siehe z.B. Hoch, Jenny: TV-Ballerina Anna. Heldin in Strumpfhose, in: Der Spiegel vom 8.6.2014, https://ww w.spiegel.de/geschichte/helden-unserer-jugend-anna-a-972943.html (zuletzt aufgerufen am 17.7.2023).

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möglicherweise darauf hinweisen, dass diese aus heutiger Sicht als problematisch erachtet und andere Repräsentation von Behinderung erwartet werden könnten.

Krisen-Motive, Krisen-Häufung und Krisen-Dramaturgie Das erwähnte dreiteilige Erzählmuster in Anna lässt sich noch etwas genauer so beschreiben: 1) Gefährdung: Anna besucht das Kinderballett und hat Ambitionen, Ballerina zu werden, dann wird durch den Autounfall ihre Wirbelsäule verletzt, sodass ihre Zukunft ungewiss wird. 2) Krisen-Bewältigung: Physische und psychische Genesung (Klinik, Sanatorium, Entlassung nach Hause), beides dank der Freundschaft zu Rainer, sowie eine Neuorientierung durch professionelles Balletttraining, das zunächst vor allem durch Jacob, dann durch Frau Kralowa befördert wird. 3) Erste Erfolge und Anerkennung als Tänzerin durch Tanztraining (Paris), Stipendiengewinn und Auftritt, schließlich Happy End als eigenständige Idee vom Lebensglück. Innerhalb der drei Phasen durchziehen einzelne Krisen, teilweise inszeniert als dramatische Szenen – z.B. der Autounfall und traumatische Flashbacks, die Anna erlebt – jeweils mehrere Folgen. Auffälliger noch ist, dass die zentrale Krise, der Unfall und die möglicherweise dauerhafte Behinderung, alle Beziehungsdimensionen erfasst: Familie: Die körperliche und physische Krise Annas wird vom Autounfall ausgelöst, den Annas Bruder Philipp (Ronnie Janot) durch verantwortungsloses Verhalten verursacht, und dies wirkt sich auf die familiären Beziehungen aus: Der Vater Stefan Pelzer (Eberhard Feik) zieht kurzzeitig aus, versöhnt sich dann aber wieder mit seinem Sohn. Freundschaft und Liebe: Da sich Annas Prioritäten nach ihrer Gesundung verändern und sie sich zunächst in Jacob verliebt, fühlt sich Rainer vernachlässigt und kompensiert dies durch problematische Verhaltensweisen wie Mutproben, die ihn selbst und andere in Gefahr bringen. Er verwandelt sich damit kurzzeitig von einem lebenslustigen jungen Mann in eine verzweifelte Figur; nicht die Krankheit, sondern eine durch Annas Gesundung hervorgerufene Veränderung wird damit kurzzeitig als krisenhaftes Ereignis sichtbar. Erst in diesem Kontext und damit vergleichsweise spät werden Rainers eigene familiäre Situation und die Sorgen,

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die sich Rainers Mutter um seine Gesundheit macht, beleuchtet.9 Anna wiederum muss verarbeiten, dass ihre Verliebtheit in Jacob unerwidert bleibt und, bestärkt durch die freundlich beratende Mutter (Ilse Neubauer), ihre Beziehung zu Rainer neu definieren. Wenn Krisen wie die zeitweise körperliche Beeinträchtigung Annas oder der erste Liebeskummer überwunden werden, steht dabei weniger das bloße Hinter-sich-lassen als das Moment der Bewältigung im Zentrum. Alle krisenhaften Ereignisse werden in einer geradezu pädagogisch anmutenden Ausführlichkeit in Dialogen reflektiert, jedes Vorkommnis, ob unveränderlich (wie der Tod Kralowas) oder übergangsweise (die unerwiderte erste Liebe) erscheint als Anlass für eine charakterliche Bewährung. Entsprechend heißt es im Jugendbuch: »›Manchmal gibt es Krisen und die kann man meistern. Das wirst du später auch noch durchmachen‹, antwortete Ute und wollte ihre eigenen Worte so gerne glauben.«10 Dies vermittelt sich ebenso für das Publikum der Serie: Ute Pelzer als pragmatische, praktische und lebenszugewandte Figur, die z.B. eine Feier zu Philipps 18. Geburtstag ausrichtet, während Anna noch im Krankenhaus liegt, wird die Familie zusammenhalten und alle bei der Bewältigung der Krise unterstützen. Auch wenn es schwierig ist, wenn man selbst fast die Hoffnung verliert, werden Eigenverantwortlichkeit und darüber hinaus Selbstwirksamkeit betont. Es kommt darauf an, einen angemessenen Umgang mit größeren und kleineren Krisen zu finden. Deren Häufung lässt die TV-Serie zunächst einmal äußerst ereignisreich erscheinen, während zugleich der Fokus auf Bewältigung bewirkt, dass keine negative Grundstimmung entsteht. Dies anzumerken ist mit Blick auf das Element des Tanzens wichtig, denn es bedeutet, dass die Freude am Tanz (und an dessen Betrachten) für sich steht und nicht allein auf die Funktion reduziert ist, ein positives Gegengewicht zu den Krisenszenarien zu bilden. Nicht nur die Häufung der Krisen, auch die Dynamik ihrer Inszenierung ist bemerkenswert: In Rainers Mutproben im Straßenverkehr, mit denen er sich selbst und andere Personen gefährdet, wiederholt sich das verantwortungslose Verhalten Philipp Pelzers, das zum Autounfall führte. Der durch das

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Dies führt vor Augen, dass die Krisen dieser Figur denen der Protagonistin funktional untergeordnet werden – was wiederum rechtfertigt, von Rainer trotz der zeitlichen und funktionalen Bedeutung in der Serie als Nebenfigur statt als zweite Hauptfigur zu sprechen. J. Pfaue: Anna, S. 48.

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Ereignis geläuterte Bruder kümmert sich nun um Rainer. In dieser Art variierender Wiederholung wird das Publikum keineswegs nur mit immer neuen Krisen konfrontiert, vielmehr erhält es umgekehrt Gelegenheit, an vielfachen Bewährungen und Lösungen teilzuhaben. Im Licht der vielen bewältigten kleineren Krisen – und ebenso im Wissen um das Genre Weihnachtsserie – darf das Publikum hoffen, dass auch die großen Krisenerzählungen in ein Happy End münden. Dass Anna am Ende eine eigenständige Entscheidung für ihr weiteres Leben trifft, baut konsequent auf diesen vielen Lösungen auf. Stimmig wirkt im Rahmen der Coming of Age-Geschichte insbesondere, dass nicht die am Ende als realistisch erscheinende Ballettkarriere, sondern Annas Entwicklung zu einem selbstbestimmten Charakter, der Zukunft eigenständig gestalten möchte, das eigentliche Happy End darstellt. Dies entspricht den familiär vermittelten Werten, da die Familie die Ballett-Karriere nicht förderte, weil sie eine Karriere versprach, sondern weil darin Talent, Ehrgeiz und Anstrengung zusammenkamen und Anna ihr Glück zu finden schien. Das macht das harmonische Ende von Anna aus: Vermittelt wird die Vorstellung, dass Glück weniger im Festhalten an einem bestimmten Traum und/oder dessen Erfüllung bestehe, sondern eher in einer grundlegenden positiven Orientierung und im Meistern von Herausforderungen.

Behinderungen im Film Wie wird das Thema Behinderung innerhalb dieser Krisen(bewältigungs)choreografie inszeniert? In welcher Weise erscheint Behinderung erklärungsbedürftig und wie wird sie zwischen Krankheit, Schicksalhaftigkeit bzw. Unfall und Alltag betrachtet? Wie werden dabei Körperlichkeit, Beweglichkeit, Lebenswille, -ziele, -glück und -krisen verhandelt? Aus heutiger Sicht ist erwähnenswert, dass mit Patrick Bach ein prominenter, nicht-behinderter Schauspieler einen durch einen Skiunfall querschnittsgelähmten Jugendlichen spielt. Zur Entstehungszeit der Serie in Deutschland gab es noch keinen kritischen Diskurs über die Darstellungen behinderter Figuren durch nicht-behinderte Schauspieler*innen, wie er in jüngerer Zeit zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit erhält. Zentrale Argumente lauten: Erstens: Behinderten Schauspieler*innen würden Rollen vorenthalten, die sie mit mehr Expertise als nicht-behinderte Kolleg*innen spielen könnten. Die Qualität der Darstellung ist so bedeutsam, weil medialen Repräsentationen und Behindertennarrativen in Literatur, Film und Fernsehen, insbesondere wenn nicht-

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behinderte Menschen in ihrem Alltag wenig bewussten Kontakt mit behinderten Menschen haben, ein besonderes Gewicht zukommt: »Schlussendlich erschließen sich nicht-behinderte Personen ihr vermeintliches ›Wissen‹ über Behinderung oftmals anhand dieser Medien.«11 Doch statt diesen Qualitätszuwachs zu sehen, werde es, zweitens, immer noch sogar als eine besonders herausfordernde schauspielerische Leistung betrachtet, wenn Schauspieler*innen ohne Behinderung behinderte Figuren verkörperten: Oscars are bestowed on actors who play these roles: for example, Jane Wyman for Johnny Belinda (1948), Patty Duke for The Miracle Worker (1962), and Dustin Hoffman for Rain Man (1988). Tom Hanks won his back-to-back Oscars playing disabled people – for Philadelphia in 1993 and Forrest Gump in 1994. Russel Crowe was nominated but failed to win for A Beautiful Mind in 2001. The industry clearly admires the skill it takes to change bodily, transform at will, and to portray a way of being that is so strongly associated with the opposite of skill, choice, and ability, underlining the freedom of the nondisabled actor. Disability (often played as tragic, confining, and negative) is a foil to narratives of nondisabled achievements.12 Nicht nur die Besetzungspraxis, sondern diese Wertungen werden also als diskriminierend empfunden. Der Kritik des cripping up13 wird zumeist entgegengehalten, dass zur Schauspielkunst selbstverständlich die Verwandlung in Figuren gehöre, die man nicht selbst ›sei‹. Dies trifft grundsätzlich zu, als Gegenargument ist es jedoch verkürzt. Denn die Kritik richtet sich eben nicht gegen jedwede Art von Verwandlung, sondern gegen damit verbundene problematische, wenig informiert wirkende Repräsentationspraxen sowie, mindestens ebenso wichtig, gegen Ungleichheit in Arbeitsbedingungen. Jenseits der Fragestellung, wer wen spielen sollte, wollen kritische Einsprüche auf (eingeschränkte) Rollenangebote für behinderte Schauspieler*innen 11

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Wegner, Gesine: »Erzählungen vom ›behindert Werden‹. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Behinderung«, in: Brehme et al. (Hg.), Disability Studies, S. 189–195, hier S. 190. Kuppers, Petra: »The Wheelchairs Rhetoric: The Performance of Disability«, in: TDR: The Drama Review Volume 51, Number 4 (T 196) 2007, S. 80–88, hier S. 81. Siehe z.B. Kasch, Georg: Bloß nicht auffallen! Cripping up – Was problematisch daran ist, wenn Schauspieler ohne Behinderung Rollen mit Behinderung spielen, in: nachtkritik.de vom 21.11.2018 https://nachtkritik.de/recherche-debatte/cripping-upwas-problematisch-daran-ist-wenn-schauspieler-ohne-behinderung-rollen-mit-behi nderung-spielen (zuletzt aufgerufen am 27.7.2023).

Andrea Geier: Tanzend von der Krise ins Glück

hinweisen, für fehlende Normalität behinderter Menschen in medialen Repräsentationen sensibilisieren und über verbreitete Vorurteile und Stereotype über Behinderung aufklären. Diese Themen sind auch für die Untersuchung der TV-Serie Anna relevant. Welche Vorstellungen von – in diesem Fall körperlicher – Behinderung werden also in Anna präsentiert und welchen Konzepten lassen sie sich zuordnen?

Beweglichkeit und Beziehungsdynamik Werden Anna und Rainer in Bezug auf ihre Beweglichkeit einander ähnlich oder unähnlich inszeniert? Geht man von einer differenzlogischen Perspektive – behindert/nicht-behindert – und einer darauf aufruhenden Normalitätserwartung an Körperlichkeit in einer Tanz-Serie aus, scheint eine eindeutige Antwort nahezuliegen. Und obwohl Anna diesbezüglich nicht allzu sehr aus dem Rahmen fällt, ist doch auffällig, wie in der Serie sowohl mit klaren Differenzierungspraktiken als auch mit Ähnlichkeitsbeziehungen gearbeitet wird. Die Ausgangssituation im Anna-Plot zeichnet zunächst ein diametral verkehrt wirkendes Bild von Unähnlichkeit: Anna liegt apathisch und nach eigener Aussage bewegungsunfähig im Bett, Rainer wirkt dagegen fröhlich, lebenszugewandt und dynamisch. Durch einen Skiunfall seit zwei Jahren querschnittsgelähmt und wegen Nierenproblemen erneut im Krankenhaus, bewegt er sich schnell im Rollstuhl und notiert persönliche Geschwindigkeitsrekorde, und diese Art Agilität fügt sich zu seinem Charakter. Als er sieht, dass Anna ihre physischen Fähigkeiten in der Reha nicht nutzt, neckt er sie nicht nur beim »Wasserballett«. Durch einen Trick lockt er sie aus der Reserve, und als sie überrascht feststellt, dass sie beweglicher ist, als sie selbst dachte, beginnt ihre Heilung. Rainer feiert anschließend, dass Anna ihn nun nach Monaten endlich beachtet hat, indem er auf dem Krankenhausflur tanzt. Musikalisch untermalt ist der Rollstuhl-Tanz mit dem Song »My Love Is a Tango« von Guillermo Marchena, der zum Nr. 1-Hit in den deutschen Charts wurde. Der tanzende Rainer lässt sich als ein Vorblick darauf lesen, dass auch Anna wieder tanzen wird, nur dass sie es dann eben auf zwei Beinen tut. Die freundschaftliche Annäherung der beiden Figuren wird im Krankenhaus anfangs visuell dadurch in Szene gesetzt, dass beide in ihren Rollstühlen nebeneinander platziert Rainers Videos von Annas Fortschritten und von einer Ballettaufführung ansehen. Der visuellen Ähnlichkeit stehen hier allerdings schon

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Annas Genesungsfortschritte entgegen. Sie werden entsprechend als Wechsel zwischen Rollstuhl (mit dem sie als Neuling notwendig deutlich ungelenker umgeht als Rainer) und Krücken inszeniert, und als zentrales Problem erscheint dabei eher ihre Ungeduld – ein im Vergleich mit der anfangs befürchteten Lähmung eher geringfügiges Problem. Betrachtet man diese Entwicklung im Rahmen des Tanzfilms, ergibt sich eine Kontinuitätslinie: Auch wenn Anna kurz mit der Schauspielerei liebäugelt, entwickelt sie bald wieder den Ehrgeiz, Ballerina zu werden. Genesungsübungen und Ballett als leistungsorientiertes Körpertraining gehen in Anna so ineinander über. Die Serie propagiert als Ideal, dass man hart an sich selbst arbeiten muss. An Therapie ebenso wie am Balletttraining ist erkennbar, dass dabei physische und psychische Aspekte zusammenwirken sollen. Das Ballett als Höchstleistungssport wird in Anna geradezu zur Metapher eines lebenslangen Arbeitens an sich selbst. Im Kontrast zu Rainer wirken Annas körperliche Probleme von Beginn an geringer als ihre psychischen. Ausgehend von einer durchaus positiven Diagnose scheint sie zu wenig mitzuhelfen bei ihrer Gesundung: »Du musst nur wollen!« lautet nach zwei Monaten der Appell des Arztes.14 Indem Rainer sie psychisch unterstützt und ihr hilft, Lebensmut zurückzugewinnen, entdeckt Anna, dass sie genesen will – und mehr. Annas Gesundung bestätigt ein Ideal der Selbstwirksamkeit. Der vergleichende Blick auf dauerhafte und zeitweilige körperliche Behinderung schafft dafür jedoch eine pragmatische Rahmung: Der Skiunfall ist eine tragische Hintergrundgeschichte Rainers, an der nichts beschönigt wird. Das Changieren zwischen Fröhlichkeit, Lebenslust, Trauer und Sarkasmus bildet gleichzeitig von Anfang an ein Gegengewicht zu einer ausschließlich auf Leiden fixierten Einstellung zu Behinderung. Alle harte Arbeit an sich selbst ist an die gegebenen Möglichkeiten gebunden. Weder Schicksalsschläge noch Krisen sind vermeidbar, man ist aber dafür verantwortlich, einen psychischen wie lebensweltlichen Umgang damit zu finden und sein Leben zu gestalten. In diesem Kontext demonstriert der schwarze Humor Rainers zumindest punktuell im Verlauf der Serie, dass seine Fröhlichkeit auch als Gegenwehr begriffen werden kann. Er ist immer wieder mit dem Bedauern der Anderen konfrontiert, ja muss dieses emotional managen, und dies signalisiert, 14

Dies wird im Jugendbuch durchaus drastisch formuliert: »Anna entwickelte sich innerhalb der nächsten drei Wochen zur schwierigsten Patientin von Professor Happe.« J. Pfaue: Anna, S. 36.

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dass nicht nur das Behindert-Sein, sondern das Behindert-Werden durch die Umwelt Kraft kostet. Entsprechend lässt es sich als sarkastische Reaktion auf Fremdbilder verstehen, wenn Rainer von sich selbst einmal als »Krüppel« spricht. Strukturell betrachtet erscheint Rainers Existenz für kurze Zeit als ein möglicher Vorblick auf Annas Zukunft. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen hierbei der situativ bedingte Schock auf Seiten von Annas gesamter Familie über möglicherweise radikal veränderte Lebensumstände: Zunächst vermittelt vor allem der Vater dem Publikum dramatische Zukunftsaussichten. Als der Arzt erklärt, dass Anna im Augenblick gelähmt sei, bricht aus dem Vater eine Ein-Wort-Frage heraus: »Rollstuhl?«, und er ist besorgt, dass sie ein »Krüppel« bleiben könnte – als Fremdbezeichnung eine eindeutig diskriminierende Zuschreibung. Während im Film an dieser Stelle drastischere Worte gewählt werden als im Jugendbuch,15 wird in Letzterem herausgearbeitet, dass sich der Vater gegen jede Parallelisierung von Rainer und Anna wehrt: »Warum erzählt er uns das?‹, überlegte Stefan. Warum hat er uns dieses ›Paradepferd‹ vorgeführt? Will er uns beruhigen? Will er uns zeigen, wie lebenswert für Anna ein Dasein im Rollstuhl sein kann?«16 Die Serie verzichtet auf eine solche ausführliche Abwertung. Dies kann allerdings ebenso als ein funktionales Element gesehen werden, um von Beginn an den Leidens- in einem Bewältigungsdiskurs aufzufangen.

Körperliche Behinderung: Rollstuhl-Beweglichkeit Im Kontrast von zeitweiliger und dauerhafter körperlicher Behinderung werden zwei Perspektiven auf den Rollstuhl angeboten: Während es für Anna ein Zeichen der Genesung ist, laufen und auf einen Rollstuhl verzichten zu können, ist die Nutzung eines Rollstuhls für Rainer alltägliche Normalität. Als Philipp Anna im Krankenhaus besucht, sagt sie, im Bett liegend: »Ich werd’ mein ganzes Leben lang so bleiben.« Das »so« bezieht sich auf die Lähmung. Im Jugendbuch wird an dieser Stelle der Rollstuhl zum dramatisierten Sinnbild einer solchen Zukunftsperspektive: »Ich werde mein ganzes Leben im

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Der Begriff fehlt in der Textvorlage an dieser Stelle: »Anna im Rollstuhl, ja? Das soll es doch bedeuten, oder? Vielleicht ihr Leben lang, ja? So ein junger Mensch…«. J. Pfaue: Anna, S. 28. Ebd., S. 31.

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Rollstuhl verbringen.«17 Dass im Film der Begriff Rollstuhl nicht vorkommt, muss kein Zeichen besonderer Diskriminierungssensibilität sein. Es kann schlicht als unnötig erachtet werden, den Rollstuhl immer wieder sprachlich zu evozieren, da er im Unterschied zum Text in der Serie ein häufiges visuelles Element ist. Die innerfiktional inszenierte Normalität fügt sich außerdem gut zum Fokus auf Anna. Eine solche Repräsentation von Behinderung wirkt über weite Strecken jedoch wie eine Vortäuschung von Normalität: Es findet sich keine einzige Situation, in der die Figur, die den Rollstuhl nutzt, Einschränkungen durch fehlende Barrierefreiheit erlebt, und dies betrifft alle Lebensbereiche von der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel bis zum Besuch des Opernhauses oder eines Eiscafés. Und in der Figurenrede gibt es ebenfalls nur wenige entsprechende Hinweise wie etwa einzelne sarkastische Anmerkungen. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass die plotbezogene Funktionalisierung Rainers für die Geschichte von Anna innerfiktional gespiegelt erscheint: Von Beginn an wird vor allem Rainers sozialer Wert betont, d.h. wie hilfreich er in der Klinik sei, indem er andere Patient*innen motiviert, und sehr bald sind alle um Anna bemühten Figuren froh, dass er sich Annas in besonderer Weise annimmt. Trotzdem ist es vor allem die Aussicht auf Heilung, die insbesondere den Familienmitgliedern hilft, mit der belastenden Situation umzugehen. Für sich genommen wirken beide angebotenen Reaktionsweisen auf Behinderung plausibel: Die Unsicherheit, ob Anna gelähmt bleiben könnte, ist eine unerwartete Krisensituation, während gleichzeitig erzählt wird, dass eine tatsächlich querschnittsgelähmte Figur mit der ungewollten Veränderung ihres Lebens zwar haderte, aber sie nach einiger Zeit aktiv gestaltete.18 Die Beziehungsdynamik, Freundschaft und schließlich Liebesbeziehung, verstärkt das scheinbar reibungslose Zusammenspiel von krisenhafter und normalisierter Körper-Behinderung. Rainer unterstützt Anna bedingungslos 17 18

Ebd., S. 49. Da Anna in dieser Szene im Bett liegt, fungiert der Rollstuhl nicht als deiktischer Verweis, sondern als Sinnbild für ein Leben mit körperlicher Behinderung. Das Publikum ist eingeladen, mit beiden mitzufühlen und zu sympathisieren. Rainers Hobby, das Filmen mit der Videokamera, wird in diesem Zusammenhang explizit als gestaltendes Element seiner Lebenswirklichkeit vorgestellt. Gleichzeitig macht er sich darüber lustig, wie andere Menschen mit seiner Behinderung umzugehen versuchen. Im Jugendbuch wird an einer Stelle auch thematisiert, dass Rainer nicht nur damit hadert, dass er einen Rivalen hat, sondern einen, den mit Anna die Liebe zum Tanzen verbindet. Entsprechend weist er darauf hin, dass er selbst nicht tanzen könne. J. Pfaue: Anna, S. 196.

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in ihrer Genesung und Anna sieht zu keinem Zeitpunkt in Rainer nur die Verkörperung eines drohenden eigenen Schicksals. Sie reagiert allmählich auf seine fordernde, motivierende, dabei im Ton oft ironische Fürsorge und überwindet, indem sie sich auf ihn einlässt, ihre Lethargie und auch die Flashbacks des Unfalls, im Text wesentlich drastischer als im Film »Todesvision« genannt.19 Dass Annas Psyche von Seiten des Krankenhauses vollkommen unbeachtet bleibt und ganz in die Verantwortung der Patientin gelegt wird, ist, nebenbei bemerkt, an gegenwärtigen Maßstäben gemessen umso auffälliger, als die Unfallszene, unterlegt mit dissonant klingenden Tönen, als Traumatisierung Annas vorgeführt wird. Ihre Rettung durch Rainer wird in der Serie von mehreren Figuren gewürdigt, aber ebenso, dass Anna sich letztlich gewissermaßen revanchiert: Rainer hatte sich in einem Leben in der Klinik zu sehr eingerichtet, und erst auf Annas nachdrücklichen Impuls verlässt er die Reha. Diese gegenseitige Unterstützung und Hilfe erlaubt es, dass die Beziehung zwischen beiden nicht als thematisierungsbedürftig erscheint, sondern als stimmige Annäherung zweier verwandter Charaktere. Betrachtet man die Repräsentation von körperlicher Behinderung in Anna vor der Folie verschiedener Modelle von Behinderung,20 ist diese am ehesten einem medizinisch-gesundheitlichen bzw. individualistischen Modell zuzuordnen: Die körperliche Behinderung wird dominant oder sogar ausschließlich als individuelle Herausforderung behandelt, der Fokus liegt auf dem einzelnen behinderten Subjekt. Im Fall von Rainer und auch (zeitweise) Anna ergibt sich als positiver Effekt, dass die Darstellung der Behinderung nicht auf Tragik konzentriert ist. Negativ ist jedoch zu bewerten, dass das gesellschaftliche Behindert-Werden, das im sozialen und kulturellen Modell von Behinderung in den Vordergrund rückt,21 fast vollständig ausgeblendet wird.

19 20

21

Ebd., S. 74 u.ö. Zum gesundheitlich-medizinischen Modell siehe Renggli, Cornelia: »Behinderung ausstellen. Un-/Möglichkeiten der Re-/Präsentation«, in: Beate Osner/Anne Greber (Hg.), Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 249–260, hier S. 252. Verschiedene Modelle von Behinderung diskutiert instruktiv G. Wegner: Erzählungen vom ›behindert Werden‹. »Behinderung wird in diesen Modellen unterschiedlich hergestellt. Bei den unter dem sozialen Modell versammelten Ansätzen liegt die Betonung auf gesellschaftlichen Faktoren, die behindern und daher zu beseitigen sind. Im kulturellen Modell hingegen wird nach den Rollen gefragt, die Behinderung in der Gestaltung unserer Leben und damit unserer Kultur spielt. Gemeinsam ist den beiden Modellen, dass sie von einer

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Man kann daher auch von einer problematischen ›fröhlichen Affirmation‹ sprechen.22

Tanz: Themen und Genres Da in den Tanzszenen der Serie Bewegung und Musik zusammenwirken, ergeben sich ebenso selbstverständliche wie aufschlussreiche Ähnlichkeiten und Unterschiede zur Funktion des Tanzes zwischen Serie und Jugendbuch. Im Jugendbuch werden Tanzszenen kurz erwähnt, und wenn dies z.B. in Form von Kommandos der Ballettlehrerin geschieht, sind lediglich Kenner*innen in der Lage, Bewegungen der Tanzenden gedanklich nachzuvollziehen. Dies gilt auch für die folgende Szene, obwohl sie eine Tanzbewegung beschreibt: »Sonja hörte die Auftrittsmusik der Kleinen Schwäne, vernahm das Pizzicato Tschaikowskys, sah die vier Mädchen dicht nebeneinander auf Spitzen und weißen Tütü aus der Kulisse in der Mitte der Bühne gleiten.«23 Die Ballettlehrerin imaginiert, kurz bevor sie stirbt, den Schwanensee-Auftritt, den Anna erst noch meistern wird: Im Jugendbuch liegt die Einfühlung ganz auf der Figur, die einen so großen Einfluss auf die (bevorstehende) Karriere Annas hatte, nicht auf der Anschaulichkeit des Tanzens. In der Serie dagegen sieht das Publikum eine Szene aus Annas Auftritt. Wie das Beispiel der Ballettkommandos zeigt, bedeutet die Sichtbarkeit des Tanzens zunächst einmal, dass es als Bewegung erfahrbar wird und die Zusehenden nichts über Ballett oder Modern Dance wissen müssen. Der Einsatz populärer Referenzen, insbesondere auf den Musicalfilm A Chorus Line (USA 1985, R: Richard Attenborough), zielt dagegen analog zum Text auf einen (freudigen) Wiedererkennungswert beim Publikum.24 Gleichzeitig

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23 24

Kritik an der individuumszentrierten Sichtweise ausgehen.« C. Renggli: Behinderung ausstellen, S. 253. Mit Saerberg lässt sich hier von einem ›fröhlichen Verflachen‹ sprechen: »Jedoch darf das affirmative Modell nicht auf eine ›fröhliche Verflachung‹ von Behinderung reduziert werden, denn es bezieht durchaus Erfahrungen von Ausschluss, Unterdrü ckung und die Leidenskomponente von Beeinträchtigungen mit ein.« Saerberg, Siegfried: »Disability Culture & Disability Arts«, in: Anne Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden: Springer VS 2022, S. 235–254, hier S. 238. J. Pfaue: Anna, S. 240. »Im großen Ballettsaal probte ein Tanzensemble unter Leitung seines Choreografen den Schlußtitel ›One‹ aus dem Musical ›Chorus Line‹. Anna blieb einen Augenblick vor

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bleiben auch diese Bezugnahmen analog zum Text eingebunden in die Figurencharakterisierung. Kralowa nennt die Popmusik, die die junge Tanzcrew begeistert, »barbarisch«, nur um dann die strenge Lehrerin etwas zurückzunehmen und einen Hauch von Verständnis zu zeigen. Entsprechend können die Schüler*innen, als Kralowa erkrankt, als widerständische Geste gegen ihre Vertretung eine Szene des Musicals A Chorus Line tanzen. Die Verliebtheit Annas wird unter anderem dadurch in Szene gesetzt, dass von einer Tanzaufführung im Fernsehen direkt in einen Tagtraum Annas übergeblendet wird, in dem sie mit Jacob tanzt. In den Tanzszenen herrscht mehrheitlich eine gute Stimmung vor, begleitet durch kurze Szenen des Misslingens (einer Probe, einer Bewerbung) und scheinbar vergeblicher Anstrengungen. Dadurch vermittelt sich insgesamt dominant eine Faszinationskraft des Tanzens. Spürbar wird, wie Tanzende konzentriert auf den Moment performen und dabei die harte Arbeit am eigenen Körper den Schein der Leichtigkeit gewinnen kann. Die auffällige Mischung der Tanzstile spiegelt einerseits Annas Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit wider, andererseits wird damit auch ein Diskurs über das Tanzen geführt, mit dem die Serie auf ein Publikum zielt, das nicht nur klassisches Ballett liebt. Anna wertschätzt die klassische Ausbildung und ist ihren Ausbilder*innen zugetan, sie zeigt sich aber von Beginn an ebenso neugierig auf Modern Dance und Improvisation. Anna durchzieht ein Flirt mit dem modernen Tanz, dem Jazz Dance, aber auch mit dem Showbusiness und eben Tanzfilmen als Unterhaltungsgenre. Wie programmatisch diese Offenheit gemeint ist, zeigt sich in einer Szene, in der ein Paar, das Ballett sehr goutiert, lächerlich gemacht wird, weil ihm eine avantgardistische Tanzinszenierung missfällt. Im offensichtlichen Gegensatz dazu feiern Anna und das übrige junge Publikum die Tanzenden (darunter Jacob) begeistert. Das Musical A Chorus Line hat nicht nur, weil es mehrfach vorkommt, eine besondere Bedeutung in Anna. Es unterstützt zum einen den Tanz-StilMix, da beim Vortanzen auch bewiesen werden muss, dass man klassisch ausgebildet wurde. Zum anderen bringt es in den Tanzdiskurs in mehrfacher Hinsicht eine Reflexion über Erfolg/Misserfolg ein: Im Musical wird vielfach vorgeführt, wie schwierig es ist, für ein Musical besetzt zu werden. Anna überschätzt dagegen immens Jacobs Chancen, im Showbusiness Fuß zu fassen und

dem breiten Gangfenster stehen, summte die Melodie und deutete einige Jazz-Tanzschritte an.« J. Pfaue, S. 139. Leser*innen, die das Musical kennen, können die Musik und entsprechende Tanzschritte imaginieren.

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ist höchst erstaunt, dass seine Bewerbung um einen Platz im Londoner A Chorus Line scheitert. Die enge Verbindung zwischen der Serie und dem Musical wird noch durch zahlreiche andere Aspekte unterstrichen: So diskutieren etwa Anna und ihre Freundin über ihre Eignungen als Solo- und Gruppentänzer*innen – ein Thema, das im Musical über Cassies Bewerbung um einen Platz in der Gruppe thematisiert wird. Annas Aufstiegsgeschichte verhält sich dazu komplementär, da sie weniger das harte Business als das Talent betont: Annas Auftritt als Schwan in der Vierergruppe ist eine große Chance, die als Übergang zu einer Solo-Karriere inszeniert wird. Ihr Talent wird sich zwar nicht von selbst durchsetzen, aber es reicht dazu. Sigrid dagegen rechnet sich grundsätzlich nur Chancen als Gruppentänzerin aus und begründet dies gerade auch mit ihrem gegenüber Anna geringeren Talent. Weitere Tanzfilme wie Fame – Der Weg zum Ruhm (USA 1980, R: Alan Parker) werden demgegenüber weniger diskursiv als atmosphärisch aufgegriffen. Die Aufbruchsstimmung und Experimentierfreude junger Tänzer*innen, Musiker*innen und Schauspieler*innen in einer Musikschule wird in Annas Ballettklasse gespiegelt, sowie während des Trainings in Paris, bei dem sie auf eine Jazz-Dance-Gruppe trifft. Ein direktes intermediales Zitat ist die Improvisationsszene, die mit dem Pfeifen auf einer Flasche, dem einsetzenden Rhythmus und anschließendem improvisiertem Tanz beginnt. In Fame beginnt dies in der Cafeteria, in der gegessen, gelesen, getanzt wird: Es ist die berühmt gewordene »Hot Lunch Jam«-Szene. Tanzen und Musik machen verbindet sich hier zum Bild reiner, im wörtlichen Sinne ansteckender Lebensfreude, die sich auch auf das Publikum übertragen soll. Dass Fame neben A Chorus Line eine besonders wichtige Rolle in Anna spielt, wirkt passend, weil auch Fame nicht nur von Talent und unbedingter Begeisterung handelt, sondern schwierige ökonomische Lebensbedingungen der (angehenden) Künstler*innen ebenso in den Blick nimmt wie Rückschläge und Scheitern und, last but not least, den Umgang damit. Auf der Ebene des Tanzfilms und der intermedialen Referenzen gelingt es Anna damit, trotz der über das Ballett entfalteten Leistungsideologie eine vom Klassischen her gedachte Hierarchie der Tanzstile aufzubrechen und Tanzen nicht einseitig als Traumberuf zu idealisieren. Dies fügt sich in einen Plot, in dem das Happy End auf Lebenschancen und -glück, auch als Beziehungsglück, liegt. Es führt noch einmal vor Augen, wie sehr die Funktion des rollenden Rainers darin besteht, die beim Tanzen ›abhebende‹ Anna zu ›erden‹. Dass sich schließlich privates Glück mit offenen, positiven Zukunftsaussichten verbindet, darf auch das Publikum am Ende der Weihnachtszeit und kurz vor dem nahenden Jahresabschluss

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als Versprechen verstehen, dass sich im Übergang ins Neue durch das Zusammenwirken von Talent, Glück, Leistungs- und Gestaltungswille Wünsche erfüllen können.

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Weihnachten im amerikanischen Fernsehen Der Hallmark Channel und die Krisen der Frau in der Weihnachtsromanze Lena Koseck

Hallmark-Weihnachtsfilme als populärkulturelles Phänomen Wer in der Zeit vor Weihnachten die gängigen Streaming-Plattformen aufruft, wird sie schnell entdecken: Bilder von heterosexuellen Paaren, gekleidet in Rot und Grün vor Weihnachtsbäumen.1 Diese gehören zu US-amerikanischen Fernseh-Weihnachtsfilmen, die inzwischen jedes Jahr auch in Deutschland in größerer Zahl bei diversen Anbietern verfügbar sind. Bereits im Oktober wird das Fernsehen in den USA weihnachtlich. Sender wie der Hallmark oder der Lifetime Channel zeigen jedes Jahr ab Ende Oktober eigens produzierte Weihnachtsromanzen, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen. Die wachsenden Zuschauendenzahlen resultieren in immer mehr Originalproduktionen. Während beispielsweise der Hallmark Channel im Jahr 2016 nur 21 neue Weihnachtsfilme produzierte, waren es im darauffolgenden Jahr bereits 33 und im Jahr 2018 weitere 37 Originalproduktionen.2 Den bisherigen Höhepunkt an Produktionen erreichte der Channel zur Weihnachtszeit 2021 – im Pandemiejahr –, mit 41 neuen Weihnachtsfilmen, die auf dem Hallmark Channel oder auf Hallmarks zweitem Sender Hallmark Movies & Mysteries

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Vgl. beispielsweise die Letterboxd-Liste: https://letterboxd.com/ricomcpato/list/chris tmas-movie-posters-with-white-heterosexual/(zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). Vgl. McClanahan, Andi: »Too White, Too Heterosexual, Too Christian but Still Watching. A Critical Analysis of Social Media Posts Surrounding Hallmark’s Christmas Programming«, in: Emily L. Newman/Emily Witsell (Hg.), The Hallmark Channel. Essays on Faith, Race and Feminism, Jefferson: McFarland 2020, S. 122–141, hier S. 122.

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ausgestrahlt wurden.3 2022 hat der Channel 31 neue Weihnachtsfilme auf seiner Countdown-to-Christmas-Liste verbucht, die von Thanksgiving an auf den beiden Sendern ihre Premieren feierten.4 Diese Filme erfreuen sich inzwischen großer Beliebtheit und einer breiten Fanbase. In der Weihnachtszeit 2022 hat der Hallmark Channel über 36,2 Millionen Zuschauende erreicht und war die meistgesehene Senderkette bei Gesamtzuschauer:innen, Haushalten, und in den Altersgruppen bei Frauen zwischen 25 und 54, Frauen zwischen 18 und 49 sowie Personen 18+.5 Der Hallmark Channel ist in den USA zum »Big Player« auf dem Gebiet der Weihnachtsfilme geworden und dient anderen Sendern und Streaming-Anbietern als Vorbild. »While Lifetime and Netflix both ventured into the holiday television movie space, neither has made the same cultural impact as Hallmark«.6 Hallmarks Weihnachtsfilme sind inzwischen ein populärkulturelles Phänomen, das auch in der Forschung immer mehr Beachtung erhält, da es sich gerade durch sein Reihen-Format und die breite Rezeption zur Analyse anbietet. Um die Strukturen zu verstehen, hilft eine kurze Betrachtung der Geschichte, der Produktionsbedingungen und des Erfolgs des Senders. Der Schwerpunkt der Analyse wird – wie in den Filmen selbst – auf der Darstellung der Protagonistin liegen: Welche Krisen muss sie im Laufe des Films durchleben, wie werden diese bewältigt und welche Rolle spielt der Mann dabei? – Das sind die zentralen Fragen bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Hallmark-Filmen. Im Fokus stehen Christmas Under Wraps (Peter Sullivan, 2014), A Shoe Addicts Christmas (Michael Robison, 2018), Christmas Town (David Weaver, 2019), Christmas at the Plaza (Ron Oliver, 2019) und A Maple Valley Christmas (Paul Ziller, 2022).

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Vgl. Robinson, Tom et al.: »› They’re so predictable … but, I love them‹: Analyzing the appeal of Hallmark Christmas movies«, in: Journal of Popular Television. Volume 10 Number 3 (2022), S. 286. Vgl. Hallmark Channels Countdown to Christmas 2022: https://www.hallmarkchanne l.com/christmas/movie-guide-countdown-to-christmas-2022 (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). Vgl. Crown Media Press vom 13.12.2022: https://cm-press-site-2021.s3.amazonaws.c om/12.13.22_Hallmark+Holiday+Ratings+Week+8_FINAL.pdf (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). Ford, Jessica: »Popular Feminism and Female Television Stardom in Hallmark Original Made-for-Television Movies«, in: Newman/Witsell (Hg.), The Hallmark Channel, S. 32–49, hier S. 32.

Lena Koseck: Weihnachten im amerikanischen Fernsehen

Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Hallmark Channels Der Hallmark Channel debütierte im August 2001 im US-amerikanischen Kabelfernsehen und brachte im Oktober desselben Jahres seinen ersten OriginalFilm The Royal Scandal heraus. Der Schwesterkanal Hallmark Movies & Mysteries ging 2004 an den Start.7 2017 kam zudem der Sender Hallmark Drama hinzu. Betrieben werden die drei Fernsehsender von Hallmark Media, dem Entertainmentzweig der Hallmark Cards Inc., welche 1910 gegründet und mit dem Verkauf von Grußkarten bekannt wurde. Das Familienunternehmen expandierte schnell, erweiterte stetig sein Grußkartensortiment und brachte unter anderem auch Geschenk- und Briefpapier, Souvenirs und Partyzubehör heraus.8 Hallmark setzte früh auf das Fernsehen als neueres Medium – sowohl als Werbemaßnahme, um Kund:innen zu erreichen, als auch um neue Wege für das Unternehmen zu erschließen. So startete an Weihnachten 1951 mit der Hallmark Hall of Fame eine von Hallmark gesponserte Reihe von Sondervorstellungen im Fernsehen. Zu sehen an diesem Tag war Amahl and the Night Visitors, die erste Oper, die speziell für das Fernsehen in Auftrag gegeben wurde.9 Das Unternehmen zeigte sich stets bemüht, sowohl mit seinen Produktreihen, als auch mit seinen Werbemaßnahmen eine emotionale Bindung zu seinen Kund:innen aufzubauen: »The values that formed the foundation of the Hallmark greeting card business – emotional connection, quality products, and savvy business sense – are evident today in the ways that Hallmark presents its television networks to the public«.10 1998 erwarb Hallmark Anteile am Odyssey Network, einem TV-Sender, der einen Mix aus religiösen und familienfreundlichen Inhalten zeigte. Damit ebnete sich das Unternehmen den Weg

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Vgl. u.a. Lipsett, Joe/Clarke Grey, Brenna: The »›White‹ Christmas Problem. Analyzing Representations of Race in Hallmark Holiday Films«, in: Newman/Witsell (Hg.), The Hallmark Channel, S. 105–121, hier S. 106 und Newman, Emily L./Witsell, Emily: »Introduction«, in: dies. (Hg.), The Hallmark Channel (2020), S. 1–14, hier S. 4. Vgl. Braithwaite, Andrea: »From Brand to Genre. The Hallmark Movie«, in: Television & New Media, 0 (2023), S. 3. Vgl. u.a. E.L. Newman/E. Witsell: Introduction, S. 6 und Hallmark Hall of Fame; https://web.archive.org/web/20110913062304/http://corporate.hallmark.com/Co mpany/Hallmark-Hall-Of-Fame (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). E. L. Newman/E. Witsell: Introduction, S. 4.

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auf den nordamerikanischen Fernsehmarkt und platzierte 2001 den Hallmark Channel auf dem ursprünglichen Sendeplatz von Odyssey.11 Nach dem Start des Senders brachte der Hallmark Channel zur Weihnachtszeit 2002 seinen ersten originalen Weihnachtsfilm Santa Jr. heraus.12 Bis November 2009 hatte der Sender genug Weihnachtsfilme produziert, um seinen bis heute laufenden »Countdown to Christmas«, »the network’s acclaimed destination for 24/7 holiday original programming«13 ins Leben zu rufen. Eine der bedeutendsten Entwicklungen für die Senderkette war die Gründung von Crown Media Productions (jetzt Hallmark Media), einer eigenen Produktionsfirma im Jahr 2015. Zwar hatte Hallmark bereits in den 1990ern Produktionsfirmen für die Produktion seiner Hall-of-Fame-Filme aufgekauft, mit dieser Gründung erreichte Hallmark nun aber wirtschaftliche und kreative Kontrolle über alle Prozesse der Filmherstellung und entwickelte weitere thematische Filmblöcke, die sich über das Jahr verteilen ließen. So wurden die Weihnachtsfilme mit dem Programm-Schwerpunkt »Christmas in July« wiederholt. Ab Anfang 2016 wurde das Programm unter anderem mit den Themenbereichen »Winterfest«, »Loveuary«, »Spring Fling«, »Summer Nights« und »Fall Harvest« erweitert.14 The history of Hallmark Media and Hallmark’s television channels is one of determined movement toward full control over both production and distribution. Unlike the wider transnational media landscape, in which massive take-overs and buy-outs are the more common strategy for vertical and horizontal integration, Hallmark is expanding from within and using the momentum of its »emotion marketing«.15 Ergänzt wird das Hallmark-Konzept inzwischen mit der Abonnement-basierten Streaming-App Hallmark Movies Now und dem Verlagshaus Hallmark Publi-

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Katz, Richard: Hallmark into Odyssey. https://variety.com/1998/tv/news/hallmark-int o-odyssey-1117478004/(zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). Vgl. E.L. Newman/E. Witsell: Introduction, S. 4. Hallmark Media: https://corporate.hallmarkmedia.com/#/careers/history (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). Vgl. u.a. A. Braithwaite: From Brand to Genre, S. 3 und Lippman, John: »Hallmark to Buy TV Movie Producer RHI Entertainment«, in: Los Angeles Times vom 27.04.1994, https:/ /www.latimes.com/archives/la-xpm-1994-04-27-fi-50828-story.html (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). A. Braithwaite: From Brand to Genre, S. 3.

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shing, welches Bücher zu den Filmen veröffentlicht, sowie einer App, um die bereits gesehenen Weihnachtsfilme des Jahres zu tracken.

Produktion und Auffassung der Hallmark-Filme Hallmarks Wachstum hat den Sender zu einer immer größeren und breiteren Zuschauendenschaft gebracht, sodass die Sender das ganze Jahr (Publikums-)Erfolge verbuchen können. Es ist jedoch vor allem die Weihnachtszeit, die für Hallmark die wichtigste und lukrativste Season darstellt und die Publikumszahlen in die Höhe steigen lässt. Das resultiert in regelmäßigen Kopf-anKopf-Rennen mit den großen Newssendern wie Fox News und ESPN um den Titel des meistgesehenen TV-Senders im Kabelnetz.16 McFarland beschreibt den Wert der Weihnachtszeit für Hallmark und beruft sich auf eine Quelle im Unternehmen: Christmas is by far the most lucrative time of year for Hallmark’s channels, generating 30 percent of their annual revenue. To give you an idea of how much cash that yields, both Hallmark Channel and Hallmark Movies & Mysteries raked in more than $400 million in ad revenue this year.17 Der Erfolg geht auch zurück auf eine breite Fanbase, die der Sender mit den Jahren aufgebaut hat. Diese Fans ködert der Sender zum Beispiel mit erwartbaren Narrativen und immer wiederkehrenden Schauspielenden. Durch Multiproduktionsdeals bindet der Sender die Schauspielenden langfristig an sich und hat sich damit sein eigenes Star-System erschaffen. Dazu gehören etwa Candace Cameron Bure18 und Lacey Chabert, die jedes Jahr mehrere Filme und Serien für Hallmark drehen und die Drehbedingungen loben. Für

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Vgl. Long, Heather: »The feel-good Hallmark Channel is booming in the age of Trump«, in: The Washington Post vom 21.08.2017, https://www.washingtonpost.com/news/wo nk/wp/2017/08/21/the-feel-good-hallmark-channel-is-booming-in-the-age-of-trump /# (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). McFarland, Melanie: »A super white Christmas: The Hallmark Channel gives us TV’s most homogeneous view of the holiday«, https://www.salon.com/2016/12/09/a-super -white-christmas-hallmark-channel-gives-us-tvs-most-homogeneous-view-of-the-h oliday/(zuletzt aufgerufen am 30.05.2023). Bure ist im letzten Jahr aus dem Hallmark-Universum ausgestiegen und arbeitet nun für den christlichen Konkurrenten Great America Media.

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Chabert ist es auch die Beziehung zu den Fans, die sie immer wieder zu Hallmark zurückkommen lässt: »The Fans of the Hallmark movies are incredibly loyal and devoted, and it’s actually enabled me to connect more with them and the people that enjoy the movies«.19 Hallmark setzt bei seinen Darstellenden vor allem auf bereits bekannte Gesichter aus Serien der 1990er oder 2000er20 und kreiert damit einen nostalgischen Effekt in seinen Filmen. »Through such casting choices, the movies deliberately invoke the viewers adolescence – the years when they typically watched shows like Full House, Party of Five, The Wonder Years, and One Tree Hill«.21 Hallmarks Star-System wird durch geringe Produktionsaufwände ergänzt. Die Buchung von gleichen Produktionsteams und Regisseur:innen ermöglicht zusammen mit wenigen Locationwechseln und einer maximalen Länge der Filme von 90 Minuten eine schnelle Arbeit am Filmset. »Hallmark Media knocks out a made-for-TV movie in fifteen days, and the tight timeline is made easier when you have a creative team accustomed to the company’s routine.«22 Neben der Häufung immer wiederkehrender Stars zeichnen sich die vom Hallmark Channel produzierten Filme über die Jahre unter anderem durch sehr ähnliche Plotstrukturen aus. Ford beschreibt: »There’s very little that distinguishes Hallmark movies from one another in terms of narrative, theme, aesthetics, or tone. The characters are generic and their actions are formulaic and predictable; therefore, the stars are a key element of each movie’s appeal«.23 Diese Ähnlichkeiten haben die Filme in den letzten Jahren immer wieder zum Gegenstand von Spöttereien beispielsweise auf Twitter oder in Serien24 und 19

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Lacey Chabert in: Rosa, Christopher: »There’s a Reason You See the Same Women in All Those Hallmark Christmas Movies«, in: Glamour vom 23.11.2018, https://www.glamour.com/story/hallmark-christmas-movie-actresses (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Chabert spielte zum Beispiel in Mean Girls (2004) und Party of Five (FOX, 1994–2000), Bure erlangte Bekanntheit durch ihre Rolle in Full House (ABC, 1987–1995). E. L. Newman/E. Witsell: Introduction, S. 24. A. Braithwaite: From Brand to Genre, S. 6. J. Ford: Popular Feminism and Female Television Stardom in Hallmark Original Madefor-Television Movies, S. 33. Zum Beispiel steht in der 13. Staffel von RuPaul’s Drag Race (2021) die vierte Episode unter dem Namen »RuPaulmark Channel«, in der es um verschiedene Schauspiel-Aufgaben geht und die Figur Ted Lasso vergleicht die Offensive seiner Fußballmannschaft mit Hallmarkfilmen, um aufzuzeigen, wie harmlos seine Mannschaft ist (Ted Lasso (GB 2020–2023, P: Jeff Imgold et al.), Staffel 3, Episode 2).

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Sketchen25 gemacht. Lipsett und Clarke Gray beschreiben Hallmark-Filme z.B. wie folgt: Imagine a Christmas scene: a cul-de-sac of perfectly decorated middle to upper class homes, a small town with an impossibly fake seasonal name, a harried businesswoman in town to close a mom and pop factory/ski resort/bakery caught up in fake snow, thematically-appropriate activities and competitions, slowly but inexorably intertwined with a single bachelor, a cute dog and possible an even cuter child (dead wife and/or parents optional). This is the world of Hallmark Christmas movies.26 Das Interessante daran ist, dass ein Großteil des Spotts vor allem aus den Reihen der Zuschauenden und der Fans kommt. In ihren Ausführungen wird dabei jedoch stets beteuert, dass sie, trotz all der Ähnlichkeiten und negativen Aspekte, die ihnen auffallen, sich immer mehr dieser Filme anschauen wollen. So wurden beispielsweise auf Twitter im Jahr 2018 während des Countdown-toChristmas-Zeitraums 1057 Tweets zu den Filmen veröffentlicht. Hinzu kommen inzwischen zahlreiche Hallmark-Fanpodcasts,27 in denen ausgedachte Auszeichnungen verliehen oder Trinkspiele zu den Filmen veröffentlicht werden. Der Fokus liegt dabei auf den bewährten Mustern der Filme. Der standardisierte Produktionsprozess und die sehr ähnlichen und wiederkehrenden Plotstrukturen, auch wenn jeder Film eine abgeschlossene Handlung präsentiert, lassen von einem Reihen- oder auch seriellen Format ausgehen, bei dem die einzelne Handschrift der jeweiligen Regieführung nicht erkennbar wird. Hallmark-Filme sind in erster Linie als Filme des Senders zu verstehen und demnach nicht auf einzelne Personen – ob vor oder hinter der Kamera – zurückzuführen. Das System der immer wiederkehrenden Schauspielenden in Kombination mit der geringen narrativen Komplexität und dem immer gleichen Look der Filme zeigt die Austauschbarkeit der Darsteller:innen (und aller anderen Beteiligten am Film) in den einzelnen Filmen auf. Unterstützt werden diese Austauschbarkeit und das serielle Prinzip der themenbezogenen Programmreihen – allen voran dem Countdown to Christmas als erfolgreichstes Ereignis des Senders – da dadurch die Rezeptionsmöglichkeit entsteht, eine hohe Anzahl der Filme hintereinander zu sehen oder jederzeit 25 26 27

Hallmarks Filme waren beispielsweise Gegenstand der Ausgabe von Saturday Night Live vom 15.12.2019. J. Lipsett/B. Clarke Grey: The White Christmas Problem, S. 105. Als Beispiele wäre hier u.a. die Podcasts Deck The Hallmark oder Hallmarkies zu nennen.

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in einen Film einschalten zu können. Gerade diese Rezeptionsstruktur lässt aber nach den narrativen Differenzen in den einzelnen Produktionen fragen, da dadurch Krisen standardisiert und gebändigt werden können.

Merkmale der Hallmark-Weihnachtsfilme Bei den weihnachtlichen Fernsehromanzen des Hallmark Channels stehen in der Regel weibliche Figuren im Fokus.28 Was Lipsett und Clarke Gray im bereits erwähnten Zitat so humoristisch aufarbeiten, trifft einen wahren Kern: Wir folgen den Protagonistinnen in diesen Filmen regelmäßig von der Großstadt in die unbekannte oder heimatliche Kleinstadt, in die sie lange nicht zurückgekehrt sind. Sie müssen verschiedene Krisen bewältigen – auf die später eingegangen wird –, nehmen an Back-, Koch- oder Kunstwettbewerben teil und lernen Männer kennen, mit denen sie jede Menge weihnachtliche Aktivitäten – wie zum Beispiel das Trinken von heißer Schokolade, das Backen von Weihnachtskeksen oder das Aussuchen und Schmücken von Weihnachtsbäumen – vollführen können. Am Ende der Filme kommt es zwischen den Protagonist:innen zum Kuss im Lichterschein diverser Weihnachtsbäume, was den gemeinsamen Gang in die Zukunft besiegelt. Nicht selten geben diese Frauen ihren Job, für den sie hart gearbeitet haben, am Ende der Filme auf. Ihre wahre Bestimmung liegt in der Verwirklichung alter Leidenschaften wie dem Cello spielen oder dem Malen und in der heterosexuellen Partnerschaft. Was diese Filme zudem meist gemeinsam haben, ist, dass Geld gewöhnlich keine Rolle spielt bzw. nicht thematisiert29 wird. Neben den Analogien in der Plotgestaltung zeichnen sich die Filme auch durch formale und gestalterische Gemeinsamkeiten aus. Der Handlungsort

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Diese Regel wird selbstverständlich von einigen wenigen Ausnahmen durchbrochen: So folgt zum Beispiel der Film The Perfect Christmas Present (USA 2017, R: Blair Hayes) Tom alias Mr. Christmas, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, das perfekte Geschenk für jeden zu finden und der sich bei einem seiner Aufträge in die zu Beschenkende verliebt. 2022 gab es gleich zwei Filme, die die männlichen Protagonisten in den Fokus rückten: Three Wise Men and a Baby (USA, R: Terry Ingram) und The Holiday Sitter (USA, R: Ali Liebert) (Hallmarks erster Film, in dem es um ein homosexuelles Paar geht). Eine Ausnahme wäre hier z.B. der noch später besprochene Film A Maple Valley Christmas (USA 2022, R: Paul Ziller), in dem es über bereits vorhandenes Kapital zum Konflikt zwischen Schwestern kommt.

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wird zu Beginn oftmals durch mehrere Establishing Shots vorgestellt, bevor in die Filmhandlung eingetaucht wird. In Christmas at the Plaza (2019) wird uns beispielsweise die Großstadt New York als Handlungsraum in insgesamt fünf Panoramaaufnahmen präsentiert: Wir fliegen auf die Stadt zu, über sie hinweg, umkreisen die Freiheitsstatue und sehen Leute durch den Central Park spazieren. Untermalt wird das Ganze vom Song It’s the most wonderful time of the year von Andy Williams. Die Großstadt wird uns hier als belebter, in Bewegung versetzter Raum vorgestellt. Als Zuschauende nähern wir uns dem titelgebenden Haupthandlungsort, dem Plaza-Hotel, immer weiter an, einem Schwenk vom Central Park aus auf das Plaza folgt das erste Bild, in dem keine Bewegung stattfindet: Eine Untersicht auf das Hotel. Diese dient hier der direkten Verortung, da danach der Einstieg in die Handlung folgt. Auch in den weiteren Filmverläufen dienen regelmäßige Totalen oder Panoramaaufnahmen der Verortung in den Filmen und werden häufig zwischen einzelne Szenen geschnitten. In der Regel sind dieselben Totalen mehrfach im Film zu sehen. Die Protagonist:innen haben zudem einen sehr kleinen Bewegungskreis. Oftmals findet die Handlung in der nordamerikanischen Kleinstadt statt. Spielt die Filmhandlung in der Großstadt, werden sehr wenige Handlungsorte gezeigt, sodass außer den zwischengeschnittenen Totalen kaum ein Bezug zur Stadt aufkommt. In der Regel dient die Arbeitsstätte – wie ein Kaufhaus, Hotel oder eine Bäckerei – als zentraler Handlungsort und lässt die Stadt völlig in den Hintergrund rücken.30 Alternativ stehen sich Groß- und Kleinstadt in den Filmen auch direkt gegenüber: Indem die Protagonistin z.B. von der Großstadt zurück in die heimatliche Kleinstadt kommt, merkt sie, dass sich das Leben im ländlicheren Raum als lebenswerter erweist, als es das in der anonym dargestellten Großstadt je war. So beschreibt Walter Metz die Hallmark-Filme mit den Worten: »the big city is always a place of evil, while small towns in rural America are the only locations where the true meaning of Christmas can be discovered«.31 Egal ob Groß- oder Kleinstadt, worauf bei den weihnachtlichen Romanzen von Hallmark immer Verlass ist, ist Schnee. Dieser wird in jeder Außenauf-

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So zum Beispiel in den Filmen Christmas at the Plaza (USA 2019, R: Ron Oliver), der im New Yorker Plaza-Hotel spielt, oder A Shoe Addict’s Christmas (USA 2018, R: Michael Robison), der in einem Kaufhaus spielt. Metz, Walter: »A Hallmark of the Classical Holiday Cinema, or Meeting Two Christmas Queens«, in: Film Criticism, Volume 42, Issue 4 (2018), online: https://doi.org/10.3998/ fc.13761232.0042.410 (zuletzt aufgerufen am 30.05.2023).

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nahme drapiert und dient der winterlichen Zuordnung und zum weihnachtlichen Stimmungsaufbau. Kombiniert wird dieser künstliche Schnee in den einzelnen Shots mit üppiger Weihnachtsdeko. Die großzügig weihnachtlich geschmückten Umgebungen, Straßen, Fassaden etc. und die exzessiv durchdekorierten Innenräume sorgen dafür, dass permanent viele Lichter in den einzelnen Shots zu sehen und zu einem zentralen Markenzeichen der Filme geworden sind. »Hallmark Channel movies are famous for their almost parodically exaggerated seasonal decorating, which invokes viewers’ nostalgia for their excitement as children to help decorate the house for an upcoming holiday«.32 Die Dekorationen und ihre Farben können darüber hinaus auch als unterschwellige Hinweise gedeutet werden. Der Film Christmas Town (2019) setzt zum Beispiel die Farbe Rot – die Farbe der Liebe – symbolisch in den Fokus. Die Protagonistin des Films ist die Lehrerin Lauren (Candace Cameron Bure), die für einen Job von Boston in die Kleinstadt Grandon Falls zieht, sich zuvor aber noch von ihrem Partner trennt, da die Beziehung keine Zukunft mehr hat. In der Trennungsszene ist die mit Schnee und einer weihnachtlichen Girlande geschmückte Treppe und die mit einem weihnachtlichen Kranz verzierte Eingangstür des Hauses von Laurens Freund zu sehen. Gerahmt wird das Bild durch weiße Schneeberge an den Bildrändern. In der weihnachtlichen Deko dominiert blauer und weißer Schmuck auf Grün, und es finden sich nur sehr wenige Lichter. Das gesamte Bild wirkt hier also eher unterkühlt, was sich auch in der Beziehung zwischen Lauren und Erik (der ebenfalls in Weiß und Blau gekleidet ist) widerspiegelt. Daraus entsteht ein starker Kontrast zu den nachfolgenden Orten im Filmverlauf. Bereits der Zug, in dem Lauren sich in der nächsten Szene befindet, ist in seinem Wagoninneren weihnachtlich geschmückt. Hier dominiert Rot als warme Farbe sowohl in den Sitzen als auch in der Kombination mit Gold und Grün in den Tannenzweig-Girlanden um die Fenster und oberhalb des Ganges. Im Laufe ihres Gesprächs mit dem Schaffner ist im Schuss-Gegenschuss-Verfahren in jedem Bild weihnachtliche Deko zu sehen. Während im vorangegangenen Filmverlauf alles eher kalt dargestellt wurde, kommt nun die Wärme in Laurens Leben, und den Zuschauenden wird somit suggeriert, dass Lauren sich auf dem richtigen Weg befindet beziehungsweise ihre Entscheidung, die Großstadt Boston für den neuen Job zu verlassen, die richtige war. 32

Tyler, Lisa: »›Embrace the Community‹. Hallmark Channel Movies and Childhood Nostalgia«, in: Newman/Witsell, The Hallmark Channel (2020), S. 17–31, hier S. 18.

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Die Farbkomposition Rot, Grün und Gold dominiert nicht nur die Miseen-Scene in den Filmen, sondern wird vor allem in den Kostümen aufgegriffen und kann wichtige Momente in den Filmhandlungen markieren. »All of the characters (or at least all of the sympathetic, likable characters) in a Hallmark Christmas movie wear red, green, or gold«33 schreibt zum Beispiel Lisa Tyler. In Christmas Town markiert die Farbe Rot wichtige Ereignisse bzw. Personen auf Laurens Weg. Rob, bei dem Lauren wohnen wird, trägt ebenso wie die Café-Besitzerin Betty und deren Teilhaberin Gloria, die zu Laurens Freundinnen werden, bei ihren ersten Begegnungen eine Kombination aus Grün und Rot. Auch Lauren trägt die Farbe im Filmverlauf. Dies jedoch immer nur dann, wenn sie mit Travis (Tim Rozon), dem Love Interest im Film, zusammen ist – beispielsweise beim gemeinsamen Tannenbaumschlagen im Wald oder beim Ball, zu dem sie mit Travis und seinem Pflegekind Dylan fährt. Laurens Kleid für den Ball wird mit einem Schwenk entlang ihres Körpers in Szene gesetzt: Dies ahmt Travis’ Blick nach und lässt die Zuschauenden damit an einem wichtigen Moment in der Beziehung der beiden aus seiner Perspektive teilhaben. Zum Ende von Christmas Town wird die Farbe Rot zudem symbolisch eingesetzt. Dylan (Jesse Filkow), das Kind, das Lauren adoptieren wird, wird bei der Treelightning-Zeremonie durch seine rote Jacke in einer Menge Menschen mit weitestgehend dunklen Kleidungsstücken hervorgehoben. Dieser klare Fokus zeigt uns hier Laurens Bestimmung und suggeriert das Ankommen, noch bevor die Gespräche, die die Familiengründung beschließen, stattgefunden haben. Es sind demnach vor allem der formelhafte Aufbau mit vielen Establishing Shots und die Gestaltung durch Deko und Farben in Kombination mit den bewährten Plotstrukturen, die diese Filme auszeichnen. Der Plot wird dabei in der Regel von der Protagonistin als handlungstreibender Figur bestimmt. Wie angekündigt, soll nun ein genauerer Blick auf die Darstellung der Frau in den Hallmark-Filmen geworfen werden und aufgezeigt werden, mit welchen Konflikten sie im Filmverlauf konfrontiert wird. Da die Frauen in diesen romantischen Filmen immer auch einen Mann an ihrer Seite haben, soll außerdem berücksichtigt werden, welche Rolle diese dominant-heterosexuelle Konstellation für die Wendungen zum Happy End spielt.

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L. Tyler: Embrace the Community, S. 18.

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Frauenfiguren und Krisenszenarien Die ersten Bilder der Hauptfiguren zeigen uns Frauen, die fest im Leben zu stehen scheinen. Lauren (Candace Cameron Bure) in Christmas under Wraps kommt mit Kittel, Haube und Maske aus dem OP, an ihrer Seite der Oberarzt, der ihr zur gelungenen Operation gratuliert; Erica (Peyton List) in A Maple Valley Christmas wird uns reitend auf einem Pferd präsentiert, sie erzählt einer Gruppe Tourist:innen die Geschichte, wie ihre Urgroßeltern die familiäre Ahornfarm aufgebaut haben; Noelle (Candace Cameron Bure) in A Shoe Addicts Christmas schmückt im überfüllten Kaufhaus Weihnachtsbäume, um andere Mitarbeitende zu entlasten, und Jessica (Elizabeth Henstridge) freut sich in Christmas at the Plaza voller Elan auf ihren neuen Job. Die erste Begegnung mit den Frauen findet demnach häufig in der Kombination mit ihrer Arbeit statt, sie werden uns als fleißige und freundliche Frauen vorgestellt, die ihren Job lieben. Obwohl diese Frauen zu Beginn ein scheinbar gutes Leben führen, wird schnell klar, dass die Hallmark-Filme in einem Modus der Krise starten oder auf eine Krise zulaufen. Dabei liegen die Hauptkrisen und Probleme im Privaten und/oder auf der Ebene des Jobs.

Der Job als Krisenfeld im Leben der Frau Eine beliebte Thematik ist die des neuen Jobs. Im bereits erwähnten Christmas Town muss Protagonistin Lauren Boston verlassen und für ihren neuen Job umziehen. Das wird in diesem Fall als erstrebenswerter Neuanfang definiert, da Lauren sich eine solche Stelle schon lange gewünscht hat. Es wird erst dann zum Problem, als Lauren in Grandon Falls bleiben möchte, der Stadt, in der sie auf dem Weg zu ihrem neuen Wohn- und Arbeitsort gestrandet ist und sich sowohl in die Kleinstadt als auch deren Bewohner Travis verliebt hat. Dieses Problem kann jedoch schnell aus der Welt geschafft werden, da sie einen Job in der Schule vor Ort bekommt und diese spontane Entscheidung keine weiteren Folgen hat. Während die Arbeit in Christmas Town also nur bedingt eine Rolle spielt, zeigen uns andere Filme die Protagonistinnen bei ihrer Arbeit. So beginnt Jessica in Christmas at the Plaza direkt zu Filmbeginn einen neuen Job und kämpft damit, sich mit ihrer neuen Aufgabe zu identifizieren und im Plaza zurechtzufinden. Das liegt jedoch nicht an den Angestellten des Hotels – diese empfangen sie mit viel Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft –, sondern an ihrem eigenen Anspruch an diese Arbeit. Jessica ist verantwortlich für eine Ausstellung, die die weihnachtliche Geschichte des Plaza-

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Hotels fokussiert. Im ungeordneten Archiv des Hotels denkt sie daran aufzugeben, entdeckt aber schließlich, dass es jedes Jahr unterschiedliche Tree Topper für den Weihnachtsbaum der Eingangshalle gab und macht diese zu ihrem Ausstellungs-Gegenstand. Unterstützt wird sie dabei vor allem vom Hausdekorateur Nick (Ryan Paevey) und dem obersten Pagen Reginald Brookwater. Während Jessicas Partner Denis wenig Interesse an ihrer Arbeit zeigt und diese immer wieder ins Lächerliche zieht, lässt sich Nick von Jessicas Begeisterungsfähigkeit immer mehr einnehmen. Letztendlich kann auch das größte Problem – der Tree Topper aus einem Jahr fehlt – bewältigt werden und die Ausstellung wird zu einem Erfolg. Dass Probleme im neuen Job aber auch zu neuen Lebensmodellen führen können, zeigt Christmas Under Wraps (2014) – der bis heute erfolgreichste Hallmark-Film.34 Der Film folgt Lauren, einer jungen Ärztin, die das angestrebte Fellowship in Boston nicht bekommen hat, in eine Kleinstadt nach Alaska, wo sie als einzige Ärztin im örtlichen Krankenhaus arbeiten wird. Der Umzug nach Alaska und die dortige Arbeit stimmen überhaupt nicht mit Laurens Vorstellungen und Plänen für ihr Leben überein. Bereits zu Anfang wird zweimal der Fokus auf ihre durchorganisierte Karriere- und Lebensplanung gelenkt. So beschreibt ihr Freund, nachdem er die Beziehung beendet hat: »You plan everything. […] I feel you’re checking off a to do list, it’s not what love is«. Und ihre Mutter entgegnet Lauren, nachdem sie das Fellowship nicht erhalten hat: »Perhaps you plan things in your life a little too much […] there are other things in life and how will you ever discover them if you are unwilling to look outside your original plan?« Nachdem Lauren ihre Sachen bereits wieder gepackt hatte und zurück nach Hause wollte, merkt sie, dass sie in der Stadt gebraucht wird und wie sehr ihr die Arbeit und die Menschen dort ans Herz gewachsen sind und entschließt sich zu bleiben. Sie findet ihr Glück im Zufälligen und in der Arbeit, die zwar in ihrem Berufsfeld liegt, aber nicht ihrem eigentlichen Wunsch entspricht. Die Frauen in diesen Filmen haben demnach alle einen Job und sind hervorragend in dem, was sie tun. Sie sind ehrgeizig bei der Arbeit, haben einen hohen Anspruch an sich selbst und planen, wie im Falle von Lauren in Christmas Under Wraps, ihre Karrieren schon weit im Voraus. Krisen in der Arbeitswelt lassen sich allerdings meist schnell bewältigen, dies aber nur durch 34

A. McClanahan: Too White, Too Heterosexual, Too Christian but Still Watching. A Critical Analysis of Social Media Posts Surrounding Hallmark’s Christmas Programming, S. 122.

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die Hilfe von Freund:innen,35 die sie in den neuen Orten/Arbeitsstätten gefunden haben, und/oder dem männlichen Protagonisten. Während die Frauen in den bereits genannten Filmen alle in ihrem Wunsch-Berufsfeld arbeiten und diesen Beruf gerne ausführen, gibt es eine Reihe an Filmen, in denen die Protagonistinnen in einem Job arbeiten, der nicht ihrer Leidenschaft entspricht, in dem sie jedoch viel Anerkennung erhalten. Noelle in A Shoe Addicts Christmas arbeitet z.B. seit Jahren als HR-Managerin in einem Kaufhaus und soll ein Event ausrichten. Dieser Job sollte nur eine temporäre Überbrückung sein – Noelle ist eigentlich Fotografin, geht dieser Leidenschaft aber nicht mehr nach. Neben der neuen Liebesbeziehung ist das Ziel dieser Filme,36 die Protagonistinnen zurück oder auf einen neuen Weg dahin zu bringen, wo sie ihren Leidenschaften folgen und gegebenenfalls einen Beruf daraus machen können.

Familiäre Krisen Den Krisen im Job stehen die Krisen im Privatleben der Frauen gegenüber. Diese können auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Bei Erica in A Maple Valley Christmas zeigen die Krisen im familiären Umfeld auch die Krisen in ihr selbst auf: Zusammen mit ihrer Schwester übernimmt sie die Ahornfarm der Mutter, und als das Nachbarland, das einst ebenfalls zur familiären Farm gehörte, zum Verkauf steht, sind die Schwestern sich uneins darüber, was mit dem zur Verfügung stehenden Kapital gemacht werden soll. Während Erica das Land kaufen möchte, ist ihre Schwester dafür, das Geld anders zu verwenden. Hinzu kommt, dass der Freund von Ericas bisher alleinstehenden Mutter zu Besuch kommt und sie den Kindern eröffnet, dass sie mit ihm nach Italien gehen wird. Erica kann den Wandel, der um sie herum passiert, nur schwer akzeptieren und möchte alles so machen, wie es immer war oder geplant wurde. Sie fällt ihrer Familie in den Rücken, bietet auf das Land und kann den Freund der Mutter nicht akzeptieren. Erica steckt in ihren Verhaltensmustern fest und

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Es ist zum Beispiel Reginald in Christmas at the Plaza, der den vermissten Tree Topper fertig stellt, und in Christmas Town (USA 2019, R: David Weaver) geht die Lehrerin Gloria in Frührente, um Lauren zu ermöglichen, an der Schule in Grandon Falls zu arbeiten und somit in der Stadt zu bleiben. Ein weiteres Beispiel dafür wäre unter anderem der Film Write Before Christmas (USA 2019, R: Pat Williams), in dem die Protagonistin Jessica wieder zum Cello spielen gebracht und schließlich in ein Orchester aufgenommen wird.

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kann sich nur schwer von ihnen lösen. Der familiäre Zwist eskaliert beim Weihnachtsbaumschmücken, da nun auch die Ornamente des Freunds der Mutter an die Zweige gehängt werden. Erica kann mit diesen Veränderungen und dem ständigen Streit nicht mehr umgehen und argumentiert: »It’s the way things are, it’s the way things have always been, the way things are supposed to continue being.« Erst als ihre Schwester nicht mehr mit ihr die Farm leiten möchte, erkennt sie, wie wichtig ihr die Zusammenarbeit und die familiäre Verbindung sind und akzeptiert, dass sie nicht alles allein machen kann. Der Ausbruch aus ihrem Strukturkonservatismus führt neben der familiären Versöhnung auch zum Glück in der Liebesbeziehung mit Aaron (Andrew W. Walker), der in diesem Film ebenfalls familiäre Differenzen mit seinem Vater überwinden muss.

Probleme der (vorherigen) Partnerschaft Eine weitere populäre Krise ist die, in der falschen Partnerschaft zu stecken. Viele der Frauen sind zu Beginn der Filme vergeben und werden entweder direkt am Filmanfang (zu ihrer eigenen Überraschung) von ihren Partnern verlassen oder werden im Laufe der Filme wieder Single. In den beiden Filmen von 2019, Christmas Town und Christmas at the Plaza, erkennen die Protagonistinnen selbst, dass die Partnerschaft, in der sie sich befinden, nicht die (erhoffte) große Liebe ist, sondern sie in einer Zweckgemeinschaft stecken. Sie sind diejenigen, die sich von ihren Partnern trennen. Die Darstellung der Partnerschaft wirkt, wie im bereits beschriebenen Beispiel von Christmas Town, unterkühlt. Zwischen den Partner:innen wird keine Nähe dargestellt und es herrscht Unverständnis für die bereits getroffenen Lebensentscheidungen. Dabei werden die Männerfiguren durch Aussagen und Handlungen als unsympathisch inszeniert. In Christmas at the Plaza macht sich Denis beispielsweise mehrfach über Jessicas Job lustig, suggeriert ihr, dass ihm dieser peinlich ist, kommt zu spät zu Verabredungen, hört ihr nicht zu und stellt seine Probleme und seinen Job über Jessicas. Das größte Problem dieser Partnerschaften scheint die Kommunikation zu sein. Jessica vergisst, dass Denis und sie für die Weihnachtsfeier seines Instituts verabredet sind, und Lauren (Christmas Under Wraps) denkt, ihr Freund werde ihr einen Antrag machen, obwohl er die Beziehung beenden möchte. Jessica erkennt selbst, was die Zuschauenden bereits beobachten konnten: Ihr Leben passt nicht mehr mit ihren früheren Vorstellungen und damit mit der Beziehung zu Denis zusammen und die Zuschauenden erfahren, dass ein Verhalten wie das von Denis in einer Partnerschaft nicht

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akzeptabel ist. Durch die persönliche Erfüllung, die Jessica in ihrer Arbeit findet, und die neuen Freundschaften, die sie im Plaza-Hotel erfährt, hat sie sich verändert. Hinzu kommt, dass sie bereits jemand anderen gefunden hat, der kompatibler ist – den Hausdekorateur Nick. Die Frauenfiguren befinden sich also im Job und/oder privat in einem Zustand der unterschwelligen Unzufriedenheit, und es ist erkennbar, dass sie sich von sich bzw. ihrem Leben entfremdet haben. Sie stecken fest in Verhaltensmustern, Partnerschaften und/oder Jobs, von denen sie sich nur schwer lösen können und die ihnen nicht guttun. Die Hauptkrise der Hallmark-Filme findet demnach in den Frauen selbst statt, ist diesen aber nicht zwangsläufig bewusst. Dabei stehen sich Realität und Wunschbild vom Leben oftmals gegenüber. Im Laufe der Filmhandlung sollen die Protagonistinnen ihre Situation erkennen, aus ihren Verhaltensmustern ausbrechen, ihren Leidenschaften nachgehen und so den Entfremdungsprozess rückgängig machen. Einen wesentlichen Teil zu diesem Wandel im Selbstbild der Frau trägt die (neue) heterosexuelle Paarbeziehung bei, wenngleich auch hier Probleme auf dem Weg zur neuen Partnerschaft bestehen.

Probleme auf dem Weg zur (neuen) Partnerschaft Der Mann bei Hallmark ist in der Regel ein »Macher«, er ist Feuerwehrmann, Handwerker, Immobilienmakler oder Geschäftsmann, kann gelegentlich Flugzeuge fliegen oder macht Extremsport. Er wird als in sich selbst gefestigt dargestellt, ist spontan, kennt jeden in der Kleinstadt und ist im Job sehr erfolgreich und damit glücklich. Er hat ein festes soziales Umfeld, in dem er eine hohe Anerkennung genießt und das ihn motiviert immer weiterzumachen. In der Regel ist er seit langem ohne eine Partnerin. Während einige Frauen in den Filmen alten Beziehungen regelmäßig nachtrauern, hat der männliche Hauptprotagonist vergangene Beziehungen verarbeitet – es sei denn seine Ex-Freundin ist die Hauptfigur. Erst durch die weibliche Figur erkennt der Mann, was ihm in seinem Leben bisher gefehlt hat – die Paarbeziehung. Die Zuschauenden können oft schon bei der ersten Begegnung der Frauenfigur mit dem männlichen Protagonisten erkennen, dass dieser der zukünftige Lebenspartner sein wird – auch wenn die beiden Figuren es selbst nicht erahnen. Dem Publikum erschließt es sich zum einen daraus, dass es oft keine weiteren männlichen Protagonisten gibt, die als potenzieller Partner (z.B. durch Alter oder sexuelle Orientierung) in Frage kommen (abgesehen vom Ex-Freund oder momentanen Partner, von dem die Zuschauenden aber

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schon wissen, dass er nicht der Richtige ist). Zum anderen wird es durch die Inszenierung des ersten Aufeinandertreffens deutlich: So kann es schonmal sein, dass der Mann beim ersten Treffen, wie in A Maple Valley Christmas (2022), auf dem ausgerissenen und eigentlich unbändigen Pferd angeritten kommt; dass die Protagonistin ihn mit dem Taxifahrer verwechselt, er aber zu nett ist, um sie zu korrigieren, und sie daher fährt (Christmas Town); oder dass er als Pilot eines Kleinflugzeugs die Frau nach Alaska in ihr neues Leben fliegt (Christmas under wraps). Diese Männer kommen also regelmäßig als Retter in der »Not« daher, die Frauen sind auf sie angewiesen oder zumindest wäre es für die Frau ohne den Mann erheblich schwerer, an ihr Ziel/Pferd etc. zu kommen. Allen diesen Männern ist gemein, dass sie oft die erste Person sind, der die Frauen zu Beginn ihres neuen Lebens- und Storyabschnitts – wie z.B. in der neuen Stadt – begegnen. Die Protagonistin hat nicht selten am Anfang eine grundlegend ablehnende Haltung dem Mann gegenüber. So möchte Jessica in Christmas at the Plaza am Anfang nicht mit Dekorateur Nick zusammenarbeiten, weil sie bei ihrer ersten Begegnung einen kleinen »Disput« hatten (seine Leiter stand mitten im Weg und sie hatte das Hinweis-Schild übersehen), und Lauren lässt ihre grundlegende Abneigung, nach Alaska zu ziehen, an Andy aus, der sie mit Flugzeug und Auto in die Stadt bringt. Allerdings sind es die Männer, auf deren Hilfe sie angewiesen sind oder denen sie immer wieder über den Weg laufen. So ist Andy in der Kleinstadt der Mann für alles, repariert den Stromkasten, begegnet Lauren zufällig im Café oder nimmt sie mit dem Auto mit, wenn der Weg zu lang ist. Bei den vielen weihnachtlichen Begegnungen, die im Filmverlauf folgen, wird der Frau langsam klar, dass sie sich getäuscht hat bzw. sich selbst im Weg stand. Die Erkenntnis, welcher Mann der richtige für sie ist, erfolgt unter anderem auch dadurch, dass sie mit ihm tiefe Gespräche über Vergangenes oder Probleme führen kann und beide durch diese emotionsgeladene Kommunikation und die weihnachtlichen Aktivitäten einen Zusammenhalt aufbauen konnten. Diese entstandene Verbindung und die Attribute des Mannes, wie zum Beispiel seine Spontanität, sorgen dafür, dass die Frau aus ihren Verhaltensmustern ausbrechen kann und vermitteln den Eindruck, dass sie sich in einer Partnerschaft mit dem Mann als nicht-entfremdetes Individuum entfalten kann. Die Frau ist hier also rein von der Dramaturgie her zur permanenten Veränderung angehalten, während sich die Männer in diesen Filmen oftmals nicht oder nur wenig verändern müssen. Diese Inszenierungen sorgen dafür, dass

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das Publikum den Frauenfiguren gegenüber in eine paternalistische Position gerät. Es kann schnell erkennen, was besser und richtig für die Protagonistin ist und möchte sie animieren, ihr Leben neu zu gestalten. Die angehende Partnerschaft zwischen den beiden Hauptfiguren wird allerdings immer wieder durch z.B. Missverständnisse verzögert. Jessica (Christmas At The Plaza) sieht beispielsweise Nick mit seiner Ex-Freundin (die Beziehung liegt Jahre zurück), schließt daraus, dass beide wieder zusammenkommen und bekommt nicht mehr mit, wie Nick die Frau abweist. Er hat erkannt, dass er und Jessica zusammengehören. Es braucht aber bis zum Filmende, bis beide sich finden und das Missverständnis endgültig aus der Welt geschafft werden kann. In Christmas Town wird zum Beispiel der erste Kuss zwischen Lauren und Travis immer wieder vereitelt, da sie zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Figuren in ihrer Annäherung unterbrochen werden. Hier findet sich das Paar allerdings bereits vor dem Filmende. Das Ende fungiert als Familienzusammenführung am Weihnachtsbaum mit Dylan. Christmas Town zeigt demnach am Ende nicht nur die glückliche heterosexuelle Partnerschaft, sondern auch das Glück in der Familie.

Krisenbewältigung Die Krisenbewältigung in Hallmark-Filmen kann demnach nur mithilfe der Paarbeziehung stattfinden. Die Filme arbeiten darauf hin, dass das Paar ein glückliches Leben führen kann. Dabei wird der Mann von der Frau komplettiert, da sein Leben bereits vorher in den richtigen Bahnen war, die Frau muss jedoch erst mit Hilfe des Mannes zu sich selbst finden. Zwar zeigen diese US-amerikanischen Fernsehweihnachtsfilme Frauen, die mitten im Leben stehen, einen Job haben und vorgeben/denken glücklich zu sein. Die Filme vermitteln durch die gezeigten Krisen jedoch auch, dass die Frau erst mithilfe des Mannes bzw. mithilfe der (richtigen) Paarbeziehung vervollständigt ist – dass nur der Mann ihr zu ihrem universellen Glück verhelfen kann – auch wenn ein Mann gelegentlich die Krise erst ausgelöst hat und sie ohne die richtige Partnerschaft nur eine entfremdete Hülle ihrer selbst in der modernen Welt ist. Die heterosexuelle Partnerschaft steht demnach über allen Dingen des Films, damit einher geht auch das familiäre Glück. Filme wie Christmas Town zeigen auf, dass erst mit der Gründung der eigenen Familie das Leben als vollkommen gesehen werden kann. Dieses in unseren heutigen Vorstellungen veraltet wirkende Weltbild wird dadurch durchbrochen, dass beide Beteiligten der Liebesbeziehung auf der

Lena Koseck: Weihnachten im amerikanischen Fernsehen

gleichen Ebene stehen – der Mann unterstützt die Frau auf ihrem Weg zum Erfolg, fordert dafür nichts ein und freut sich mit ihr und andersherum. Die vorangegangenen Beziehungen, in denen sich der Mann über die Frau gestellt hat, wurden bereits beendet und den Zuschauenden somit vermittelt, dass ein solches Verhalten nicht in Ordnung ist. Schlüsselpunkt in den neuen Partnerschaften ist die Kommunikation; die Gespräche über eigene Wünsche und Empfindungen und Vergangenes oder Zukünftiges schweißen beide zusammen. Probleme auf dem Weg sind dann ein Zeichen dafür, dass nicht genug kommuniziert wurde. In dieser Kommunikation liegt auch einer der romantischen Aspekte der Liebesbeziehung in den Filmen. Romantik besteht durch die Zweisamkeit in nicht kommerziellen bzw. konsumorientierten Aktivitäten – abgesehen vom Trinken heißer Schokolade in Cafés –, den dabei geführten Gesprächen und dem Lichterglanz der Weihnachtsdeko oder dem Schimmern des Schnees. Indes zeigen diese Filme ein sehr einfaches Leben – fern der Zuschauendenrealitäten – auf. Geld oder Existenzängste spielen kaum bis gar keine Rolle. Zwar werden die Frauen an der Schnittstelle verschiedener Lebensbereiche gezeigt, die Probleme, die sie erleben, sind jedoch universal und werden lediglich in unterschiedlichen Variationen präsentiert. Das Richtige und das Falsche ist klar konnotiert und daher leicht verständlich. Ein wirklich »Böses« gibt es nicht und alle Probleme können schnell gelöst werden. So wird dem Publikum die Identifikation leicht gemacht. Durch die Einfachheit der Probleme und den Mangel an Variationen werden die Filme zu einem sicheren Hafen für die Zuschauenden. Alles ist erwartbar und eine Überraschung kann nur darin liegen, wenn es zwischen den Hauptfiguren bereits nach 17 Minuten zum ersten Kuss kommt (A Maple Valley Christmas). Hallmarks Weihnachtsfilme zeigen uns sowohl perfektionierte, mit Deko überladene Orte als auch die Vorstellungen eines perfektionierten Lebens. Durch die immer glänzenden und/oder die durch Tiefenschärfe verschwommenen Lichter der weihnachtlichen Dekoration und die romantischen, weihnachtlichen und nostalgischen Aktivitäten bieten die Hallmark-Filme einen Fiebertraum an Romantik. Die serielle Produktion und die geringe narrative Komplexität führt zusammen mit den Rezeptionskontexten zu einer Wiederholung der Muster. Durch diese permanente Wiederholung können sich Hallmark-Filme zu einer Fantasie entwickeln. In der heutigen Welt, in der eine permanente Überflutung durch Nachrichten etc. herrscht und Negatives oft dominiert, bieten diese Filme demnach eine Flucht aus dem Alltäglichen. Die Weihnachtszeit als Setting fungiert hier zu-

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dem als Vermittlerin für die Lösung der Krise: Das Streben nach Harmonie, die Rückbesinnung auf das, was wichtig ist, und die Besinnung auf Familie, Partnerschaft und sich selbst vermittelt Festlichkeit, bietet damit das optimale Setting für Hallmarks Filme und kann sich auf das Publikum übertragen. Die Erinnerung an nostalgische Momente zum Beispiel durch die weihnachtlichen Handlungen, die an die Kindheit zurückdenken lässt, oder die Auswahl des bekannten Casts, unterstützen einen familiären Charakter in den Filmen und laden zum Wiedereinschalten ein. Die formalen Ähnlichkeiten bieten dabei den klaren Vorteil, dass die Zuschauenden jederzeit in Filme einsteigen können, da die Seherfahrungen und die Story es zulassen, dass eine Verortung in der Filmhandlung schnell stattfinden kann und man immer weiß, dass hier die große Liebe gefunden wird. Hallmarks serielle Produktion zeigt den Erfolg der Filme auf, trotz der Gleichförmigkeit ist in diesen Filmen aber auch eine Entwicklung, die sich an gesellschaftlichen Kontexten orientiert, erkennbar. So sind die Filme zum Beispiel in den letzten Jahren ethnisch vielfältiger geworden (was nicht bedeutet, dass regelmäßige mixed-race Paarbeziehungen thematisiert werden), und mit dem ersten Film, der ein homosexuelles Paar in den Blick nimmt, hat Hallmark seine eigene Affirmation der Heterosexualität durchbrochen. Es bleibt dennoch spannend, wie lange Hallmark an den bis hierhin bewährten Mustern festhalten kann und ob der Erfolg der Filme irgendwann einbrechen wird.

Weihnachten in Gefahr Heimatliches und Un-›heim‹-liches in der Netflix­Serie Hjem til jul Daniela Schulz

Eins der schönsten Komplimente kommt von Jan Freitag, Autor eines deutschen Online-Medienmagazins: Weihnachten zu Hause, »was unterm Originaltitel Hjem til jul sogar noch ein bisschen flauschiger klingt«, sei ein »Serienjuwel im wachsenden Wust neuer Netflix-Serien«.1 Mehr noch: Es sei »die schönste Lovestory in liebloser Zeit«.2 Mit Letzterem ist die Corona-Pandemie gemeint, die im Dezember 2019 mit einem ersten bestätigten Infektionsfall in China mutmaßlich ihren Anfang nimmt und dazu führt, dass das öffentliche Leben schon wenige Wochen später weltweit zum Erliegen kommt. Die erste Staffel von Weihnachten zu Hause (N 2019/2020, R: Per Olav Sørensen) feiert nahezu parallel, am 5. Dezember 2019, beim Streaming-Dienst Netflix Premiere. Darin geht es um Johanne, 30 Jahre alt, die als Krankenschwester arbeitet und seit einiger Zeit Single ist, was weniger für sie selbst ein Problem zu sein scheint als für ihre traditionell-konservativ geprägte Familie: Beim Adventsessen wird Johanne von ihrer Mutter zwischen ihren Zwillingsneffen am Tischende platziert. Von den Erwachsenen isoliert, findet sie sich eingekeilt zwischen den Kleinkindern in Hochstühlchen wieder, fast als sei sie zum Au-Pair oder Kindermädchen der Familie degradiert. Man sitze eben paarweise, erklärt ihre Mutter. Johannes Geschwister Maria und Morten haben beide ihren Partner und ihre Partnerin dabei sowie ihre Kinder. Immerhin: Man hat Johanne ein Glas Rotwein hingestellt. In den Kreis der Erwachsenen am festlich ge1

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Freitag, Jan: »›Hjem til jul‹. Die schönste Lovestory in liebloser Zeit«, in: DWDL vom 28.08.2022, https://www.dwdl.de/madeineurope/89416/hjem_til_jul_die_schoenste _lovestory_in_liebloser_zeit/?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm _term= (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Ebd.

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schmückten Tisch werde sie aber erst aufrücken, wenn sie auch jemanden mit nach Hause bringe an Weihnachten, heißt es. Johanne fühlt sich in die Enge getrieben und bloßgestellt und erfindet in ihrer Not eine Lüge: »Ich habe jetzt einen Freund«, platzt es aus ihr heraus. Schon bevor sie es ausspricht, ahnt sie, dass sie damit eine Lawine an Erwartungen lostritt, denen sie sich nun wohl oder übel stellen muss. Für Johanne folgt nach dieser überstürzten Schwindelei eine Dating-Katastrophe auf die nächste, einige interessante Flirts und viel Herzschmerz. Sie findet sich in einem schnell rotierenden Liebeskarussell wieder, das sich kaum stoppen lässt. Soweit, so unspektakulär die Ausgangslage für die nachfolgende Handlung. ›Singlefrau sucht Mann fürs Leben‹ ist ein dramaturgisches Rezept, das sich seit Jahrzehnten in zahlreichen Film- und Serienstoffen bewährt hat. So kann man durchaus auf den Gedanken kommen, Johanne sei ein »Bridget-Jones-Ersatz für alle, die mit Instagram und Tinder erwachsen geworden sind«.3 So einfach ist es aber nicht. Anders als die 1990er-Jahre-Heldin aus Helen Fieldings Erfolgsgeschichte Bridget Jonesʼs Diary (1996) raucht Johanne zum Beispiel nicht. Anders als Bridget Jones denkt sie nicht über ihr Gewicht nach. Mutmaßliche Probleme würden sie als eine Vertreterin der Millennial-Generation nicht stören, denn als solche dürfte sie heute mit den Gedanken von body positivity bestens vertraut sein.4 Ein Hauptunterschied ist aber, dass Johanne zunächst keine klare Vorstellung äußert, wie ein potenzieller Freund sein müsste. Es gibt anders als bei Bridget keinen Daniel Cleaver auf ihrem Radar, auch wenn ihr Arbeitskollege, der Arzt Henrik (Oddgeir Thune), sich große Mühe gibt, ihr zu gefallen. Es gibt erst recht keinen Mark Darcy, den es zu jagen lohnt.5 Seit ihrer Trennung von ihrem langjährigen Freund Christian (Sti-

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Hackober, Julia: »Diese Weihnachtsserie ist wie ›Bridget Jones für Millennials‹«, in: Die Welt vom 19.12.2020, https://www.welt.de/iconist/article222821006/Weihnachte n-zu-Hause-Diese-Weihnachtsserie-ist-wie-Bridget-Jones-fuer-Millennials.html (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Der eigene Körper oder Äußerlichkeiten im Allgemeinen sind für Johanne kein Thema. In Folge zwei der zweiten Staffel lässt sie sich in einem Kosmetikstudio den Intimbereich rasieren. Dazu wurde sie allerdings von ihrer Freundin Jeannette (Iselin Shumba) überredet. Vgl. zur Filmheldin Bridget Jones auch Keck, Annette: »›All by myself‹: Weihnachten mit Bridget Jones oder die krisenhafte Metaphysik der familiären Substanz«, in: Andrea Geier/Irina Gradinari/Irmtraud Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen. Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023, S. 39–56.

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

an Blipp) scheint sich Johanne mit dem Thema Männer nicht mehr ernsthaft beschäftigt zu haben. Erst das bevorstehende Weihnachtsfest und der Druck ihrer vom Heile-Welt-Gedanken besessenen Familie wirft die Frage nach einer Partnerschaft bei Johanne wieder auf. Ob es dabei um die Partnerschaft zu einem Mann oder möglicherweise auch zu einer Frau geht, bleibt an einigen Stellen offen. So antwortet Johanne in Folge fünf der ersten Staffel zum Beispiel frustriert auf die Nachfrage ihrer Freunde, was sie denn suche: »Ich glaube einen Freund. Aber ich weiß es nicht.«6 Dass schon in 24 Tagen Weihnachten ist, das Datum des offenbar wichtigsten Familientreffens des Jahres, verleiht der Sache Dringlichkeit und der Handlung die Dynamik: Für Johanne läuft ab sofort der Countdown, einen Partner zu finden. Oder – und das macht die Spannung der Serie aus – ihn vielleicht auch nicht zu finden und ihrer Familie eine andere, unkonventionelle Lösung zu präsentieren. Weihnachten zu Hause besteht aus zwei Staffeln zu jeweils sechs Folgen. Jede Folge ist etwa 30 Minuten lang. Die Hauptrolle der Johanne hat die norwegische Schauspielerin Ida Elise Broch übernommen, die das Netflix-Publikum bereits aus einzelnen Folgen der norwegischen Serie Lilyhammer (N 2012–2014, R: Simen Alsvik u.a.) kennt. Was die Besetzung der weiteren Rollen betrifft, bedient sich Weihnachten zu Hause auch bei anderen skandinavischen Ländern: So ist unter anderem der schwedische Sänger Felix Sandman als Johannes Schwarm Jonas, genannt fuckboy, in beiden Staffeln zu sehen. In Staffel eins nimmt zudem die dänische Schauspielerin Ghita Nørby als renitente, aber wortwitzige Patientin Trine teil. Während andere Figuren in der Serie Norwegisch sprechen, bleibt sie dem Dänischen treu. Es unterstreicht den Charakter ihrer exaltierten Rolle als ältere Dame, die sich vieles erlauben darf und der man vieles verzeiht. Die Serie deutet in diesem Punkt bereits an, dass sie sich nicht als rein norwegisches Produkt begreift, sondern den gesam-

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Auf eine »kurzzeitige Offenheit für Queerness« verweist auch Kristina Bedijs und nennt als Beispiel den gescheiterten Flirtversuch von Johannes lesbischer Kollegin auf der Weihnachtsfeier. Bedijs, Kristina: »Lebkuchen, Lichterglanz, Lametta… und Liebe: das gelingsichere Weihnachtsfilmrezept«, in: 54books vom 05.12.2021, https://www.5 4books.de/lebkuchen-lichterglanz-lamettaund-liebe-das-gelingsichere-weihnachtsf ilmrezept/(zuletzt aufgerufen am 24.06.2023).

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ten skandinavischen Raum anspricht.7 Sie verhandelt weihnachtliche Traditionen, die dort allgemein gültig und weitläufig bekannt sind. Die Außenszenen von Weihnachten zu Hause wurden im verschneiten Røros gedreht, einer Kleinstadt in Mittelnorwegen. Sie zählt mit ihren pittoresken Holzhäusern zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist berühmt für ihren Wintermarkt im Februar und ihren Weihnachtsmarkt im Dezember.8 Der Ort bildet die perfekte Kulisse für eine Weihnachts- und Winterserie, weil sie alleine schon durch das romantische Setting immer wieder darauf verweist, dass sie als solche gelesen werden möchte. Schnee und Kälte sind omnipräsent, hin und wieder fallen leichte Flocken. In den Straßen von Røros ist Johanne oft mit einem so genannten Spark unterwegs, einem für Røros typischen Tretschlitten. Manchmal fährt sie auch Auto. Meist stapft sie jedoch zu Fuß durch den Schnee. Es mag auf den ersten Blick lediglich ein fun fact sein, dass in Røros in den 1960er Jahren ausgerechnet ein Pippi-LangstrumpfFilm gedreht wurde: Pippi geht von Bord (SWE 1969, Regie: Olle Hellbom). In dem Kinderfilm feiert auch die Astrid-Lindgren-Heldin Pippi wie Johanne das Weihnachtsfest. Sie reitet auf ihrem Pferd, dem Kleinen Onkel, durch die Straßen des verschneiten Städtchens. Couragiert verjagt sie zwischen den Häuserzeilen die beiden Ganoven Blom und Donner-Karlsson und flüchtet auf dem Markt vor dem penetranten Fräulein Prusseliese, das sie immer wieder ins Kinderheim bringen möchte, weil sie Pippi für eine bedürftige Halbwaise hält.

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Lea Gamula und Lothar Mikos weisen darauf hin, dass skandinavische Serienproduktionen ihr Schauspiel-Personal gerne untereinander platzieren, weil sie auf den Bekanntheitsgrad bauen können. Vgl. Gamula, Lea/Mikos, Lothar: Nordic Noir. Skandinavische Fernsehserien und ihr internationaler Erfolg, Konstanz/München: Herbert von Halem 2014, S. 123. Røros ist ein beliebter Drehort für Filmproduktionen in Norwegen. Auf der Internetseite der Kommune finden sich Informationen zu den Dreharbeiten unter anderem zu Hjem til jul 2, die im März 2020 stattfanden. https://roros.kommune. no/aktuelt/nyheter/hjem-til-jul-sesong-2-filmes-i-kjerkgata/ (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Aufschlussreich ist auch die Pressemitteilung der Gemeinde zum Aufwand von Dreharbeiten im Allgemeinen, einem geplatzten Filmdeal und dem großen Erfolg der ersten Staffel von Hjem til jul, der sich auf den Tourismus in der Stadt auswirkt. https://roros.kommune.no/aktuelt/nyheter/tre-notter-til-askepott-pressemeld ing-fra-destinasjon-roros/ (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023).

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

Abbildung 1+2: Pippi und Johanne in Røros.

Pippi geht von Bord (1969), Weihnachten zu Hause (2019)

Bewusst oder zufällig: Weihnachten zu Hause zitiert durch die Wahl der Kulisse Pippi Langstrumpf und macht Johanne zu einer erwachsen gewordenen Fortschrift der beliebten Lindgren-Figur – unabhängig, mutig, selbstbestimmt. Als im Laufe der ersten Staffel immer klarer wird, dass die langjährige Ehe von Johannes Eltern bröckelt und die Krise in Staffel zwei schließlich in einer temporären Trennung mündet, leidet auch Johanne immer mehr. Ihr Vater Tor (Dennis Storhøi) ist gesundheitlich angeschlagen. Ihre Mutter Jorid (Anette Hoff) brennt mit Jugendfreund Bengt-Erik (Bjørn Skagestad) durch. Johanne muss sich dem Thema Einsamkeit stellen, auf das sie an Weihnachten, dem Fest der Liebe und der Familie, besonders stark zurück geworfen wird. Damit befindet sie sich in einer ähnlichen Situation wie Pippi, die am Ende in Pippi geht von Bord alleine in ihrer Villa Kunterbunt am Kamin sitzt und ein Zwiegespräch mit ihrem abwesenden Vater und der verstorbenen Mutter führt. Ihre Melancholie überwindet sie erst, als die Kinder aus dem Dorf kommen und ihre Geschenke abholen, die Pippi für sie in einen Baum im Garten gehangen hat. Es ist für sie ein Moment purer Freude. Johanne schreibt diese »Pippi-ness« im Jahr 2019 in Weihnachten zu Hause weiter: Ihre größte Sorge ist, dass sie Weihnachten niemanden hat, der die Festtage mit ihr verbringt. Besonders deutlich wird das am Ende der zweiten Staffel, als ihre Geschwister andeuten, dass sie wegen der Differenzen ihrer Eltern das Weihnachtsfest diesmal woanders feiern wollen. Damit lösen sie bei Johanne, die sich bereits als alternative Gastgeberin angeboten hatte, einen Weinkrampf aus. »Ich habe sonst nichts«, schreit sie Maria (Helga Guren) und Morten (Christian Ruud Kallum) in ihrer Verzweiflung an. Als Zuschauerin oder Zuschauer hofft man in dieser Szene, dass Johannes Wunsch, anderen an Weihnachten etwas zu geben, in Erfüllung geht und sie so wie Pippi am Ende glücklich ist.

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Weihnachten zu Hause verortet sich also hinsichtlich der Historie und den Produktionsbedingungen im skandinavischen Kontext: Die Serie war ursprünglich als so genannter julekalender konzipiert.9 Gemeint ist ein Genre, das typisch für die Medienkultur in Nordeuropa ist. One unique Scandinavian phenomenon is the televised »Christmas calendar« (julekalender or adventscalender). The concept originated in Sweden in the late 1950s (on radio) and in the early 1960s (on TV).10 Dahinter verbergen sich in der Regel Mehrteiler mit 24 Folgen, von denen täglich vom 1. Dezember an bis Heiligabend eine Folge im Fernsehen ausgestrahlt wird. Wie Schweden startet auch Dänemark mit dieser Tradition in den 1960ern, Norwegen zog 1970 nach. Bis heute wird das Genre in Skandinavien auf vielen Fernseh- und Radiokanälen bedient. Es gilt als einzigartig in der europäischen Serienkultur und existiert in dieser Form und in großem Umfang bisher nur in Skandinavien.11 Anfangs besaßen die julekalender kein zusammenhängendes Narrativ, es sei mehr darum gegangen, den Countdown bis Heiligabend zu zählen.12 Über die Jahrzehnte hat sich aber ein Genre ent9

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Das berichten Kristian Andersen und Amir Shaheen, zwei junge Norweger von denen die Idee zur Serie stammte. Sie hatten für die Produktionsfirma The Oslo Company einen Pitch eingereicht, in dem es nach eigener Aussage um eine Adventskalendergeschichte ging, die sie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk anbieten wollten. Vgl. Andersen, Jacob: »Reklamestudentene Kristian og Amir fikk ideen til den første norske Netflix-serien«, in: kampanje.com vom 03.12.2019, https://kampanje.com/medie r/2019/12/netflix-lagde-serie-av-skoleoppgaven-til-kristian-og-amir/(zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Oxfeldt, Elisabeth: »The Fairy-Tale Film in Scandinavia«, in: Jack Zipes/Pauline Greenhill/Kendra Magnus-Johnston (Hg.), Fairy-tale films beyond Disney. International Perspectives, New York/London: Routledge 2016, S. 109–123, hier S. 110. »The Nordic countries have to patiently await the magic moment when other countries join them in exploring and celebrating all the possibilities and wonders inherent in the Christmas calendar genre«, bemerkt die dänische Forscherin Gunhild Agger dazu, die sich in mehreren Studien mit den dänischen TV-Weihnachtskalendern befasst hat. Agger, Gunhild: »The Magic of the Danish Christmas Calendar«, in: https://cstonline.net /the-magic-of-the-danish-christmas-calendar-by-gunhild-agger/vom 18.12.2020 (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Zitat von Gunhild Agger in Faigh Larsen, Johanne: »Tv-julekalenderen er gået fra almanak til dramaserie«, in: Kristeligt Dagblad vom 30.11.2019, https://www.kristeligt-dag blad.dk/importfallback/tv-julekalenderen-er-gaaet-fra-almanak-til-dramaserie) (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023).

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wickelt, das Kinder wie Erwachsene anspricht, immer wieder dem Zeitgeist angepasst wird und sich heute im Allgemeinen als »meeting place for different traditions – the almanac combined with elements from folklore and cultural history«13 präsentiert. Weihnachten zu Hause hätte als Kalendergeschichte im Fernsehen durchaus an skandinavische Sehgewohnheiten anknüpfen können. Netflix hat diese Idee allerdings nicht übernommen. Der Streaming-Dienst hat die Serie wie bereits erwähnt auf sechs Folgen pro Staffel reduziert. Trotzdem bleibt der Countdown des Adventskalenders in beiden Staffeln visuell erhalten, indem wechselnde Kalenderblätter bzw. das Datum immer wieder grafisch eingeblendet werden. So werden Szenen innerhalb einer Folge immer wieder einem bestimmten Tag zugeordnet. Die Grafik suggeriert, dass Johannes Zeit, einen Freund zu finden, bis Heiligabend abläuft und verstärkt damit visuell den Gedanken des Countdowns. Zudem hat das Publikum stets eine Orientierung, an welchem Dezembertag die Handlung angekommen ist. Dabei werden allerdings auch Tage übersprungen, nicht jeder Tag wird abgebildet. Endpunkt ist in jeder Staffel der 24. Dezember, also Heiligabend, wobei Staffel zwei das Weihnachtsfest im darauffolgenden Jahr verhandelt: zwei Staffeln, zwei unterschiedliche Feste, zwei Dezembermonate in Johannes Leben. Weihnachten zu Hause kann somit als »Dezemberserie«14 bezeichnet werden. Sie spielt ausschließlich an Weihnachten und in der Adventszeit und wird zudem vorrangig in der Adventszeit gestreamt. Das belegen die Top-10-Ranglisten von Netflix.15

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Agger, Gunhild: »Danish Christmas TV calendars: Folklore, myth and cultural history«, in: Journal of Scandinavian Cinema, Vol. 3, Nr. 3 (2013), S. 267–280, hier S. 277. Diesen Genrebegriff schlägt auch Marie Scøtt Jensen in ihrer Masterthesis als besonders treffend für den julekalender vor. Vgl. Skøtt Jensen, Marie: »Tv-julekalenderen – Ahvaffor en genre?«, 2021 in: https://curis.ku.dk/ws/files/272770673/Marie_speci ale_vht680.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Netflix veröffentlicht seit Juli 2021 Top-Ten-Ranglisten im Internet, global und nach Ländern sortiert. In Deutschland hat es Weihnachten zu Hause seit Publikation der Tabellen in keiner Woche in die Top Ten der Serien geschafft. In Norwegen dagegen schafft sie es jedes Jahr im November und Dezember unter die besten Zehn, zuletzt in der Woche vom 5. bis 11. Dezember 2022. Staffel eins hat seit dem Start 2019 damit in Norwegen schon insgesamt fünf Wochen in den Top Ten verbracht. Staffel zwei seit Veröffentlichung 2020 vier Wochen. Vgl. https://top10.netflix.com/norway/tv?week=2 022-12-11 (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023).

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Als Kalendergeschichte übernimmt Weihnachten zu Hause aber nicht nur den zeitlichen Rahmen, sondern auch das narrative Konzept, das in skandinavischen TV-Adventskalendern zu finden ist: Weihnachten ist in Gefahr und muss gerettet werden.16 Unter dieser Überschrift lassen sich im Prinzip jeweils beide Staffeln zusammenfassen. Das Konzept bestimmt die Dramaturgie: Die Serienwelt erfährt zu Beginn eine Störung, es wird dann Folge um Folge nach einer Lösung gesucht, bis am Ende eine Ordnung hergestellt ist. Weihnachten zu Hause schafft in Staffel eins die Möglichkeit einer doppelten Perspektive und bietet damit zwei Interpretationen an: Johanne wird von ihrer Familie quasi in ihrem Single-Dasein gestört und daran erinnert, dass sie sich als 30-jährige nun endlich um eine eigene Familie kümmern sollte. Möglich wäre aber auch die umgekehrte Lesart, dass Johanne diejenige ist, die die Ordnung ihrer Familie durch ihr Single-Dasein stört und diese sich nun überlegen muss, wie sie mit Johanne umgeht. In Staffel zwei bedroht der Konflikt der Eltern die vorweihnachtliche Freude von Johanne und ihren Geschwistern und bringt das traditionell gemeinsam verbrachte Weihnachtsfest in Gefahr. Johannes eigene Befindlichkeit, dass sie immer noch bzw. schon wieder Single ist, rückt in den Hintergrund. Während sie in Staffel eins von ihrer Freundin bei der (fiktiven) Dating-App Lovematch angemeldet wird, an einer Speed-Dating-Veranstaltung teilnimmt, beinahe ein Techtelmechtel mit dem Jugendfreund ihrer Mutter beginnt und sich schließlich unglücklich in ihr Lovematch-Date Jonas verliebt, fällt ihre Dating-Bilanz in Staffel zwei schon überschaubarer aus: Von Arzt Henrik trennt sie sich nach einer kurzen Beziehung. Sie trauert immer noch ihrem Ex-Freund Christian hinterher, genau wie ihrem Schwarm Jonas, dessen Interesse offenbar nur sexueller Natur war. Als ihr neuer Nachbar Nick zum Speed-Dating geht, bleibt Johanne als Zuschauerin an der Bar sitzen. Sie wirkt ernüchtert von ihren Erfahrungen, ist aber dennoch bestrebt, das Vergangene hinter sich zu lassen, indem sie mit Knut anbandelt, den sie zufällig an der Theke kennenlernt.

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Vgl. Maak, Diana/Spaniel-Weise, Dorothea: »Behind the scenes: TV-Weihnachtskalender in Dänemark«, in: Julia Ricart Brede/Günter Helmes (Hg.), Vielfalt und Diversität in Film und Fernsehen. Behinderung und Migration im Fokus, Münster/New York: Waxmann 2017, S. 213–240, hier S. 214. Der Text ist einer der wenigen deutschsprachigen Publikationen zum skandinavischen TV-Adventskalender.

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

Abbildung 3: Johanne beim Adventsessen mit ihrer Familie.

Weihnachten zu Hause (2019)

Das narrative Konzept liefert der Serie einen durchgängigen Cliffhanger. Wird Johanne den Wettlauf mit der Zeit gewinnen und es schaffen, ihrer Familie bis Heiligabend einen Freund zu präsentieren? Oder geht es für sie eher darum, ihren Seelenfrieden zu finden und grundsätzlich zu überlegen, was sie im Leben will? Damit verbunden wäre zum Beispiel die Frage, ob eine Partnerschaft wirklich immer ein Garant für Glück ist und – im Sinne von Johannes Familie – auch Garant für ein harmonisches, weil aus Paarsicht ›vollständiges‹ Weihnachtsfest? Die inszenierte Idylle beim Adventsessen ganz zu Beginn der Serie lässt schon erahnen, dass der gemütliche Schein der vielen Kerzen und Lichtelemente im Raum hochgradig trügerisch ist.

Hjem, Home, Zuhause Weihnachten zu Hause lässt sich als skandinavische Heimatserie lesen. Auf den ersten Blick ist das ein Gedanke, der forciert erscheint, zumindest wenn das Heimatsujet auf röhrende Hirsche, idyllische Berglandschaften und eine heterosexuelle Liebesgeschichte mit Happy End reduziert wird. Doch in der Forschung beschränkt sich ›Heimat‹ längst nicht mehr primär auf die klischeeträchtigen Bilder, die deutsche Filme der 1950er Jahre vermitteln. Das Genre hat sich in der Medienkultur in den letzten Jahrzehnten von starren Interpretationen emanzipiert und von negativen Assoziationen befreit. »Rejected as formulaic and stale for the most of the second half of the twentieth century,

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the genre has survived in adaptions and transformations to express an innate human desire for grounding.«17 In ›Heimat‹ steckt das Wort ›Heim‹, mit dem sich wiederum das norwegische hjem aus dem Serientitel übersetzen lässt. Insofern gibt bereits der Originaltitel Hjem til jul eine Lesart vor, die zumindest in den meisten Übersetzungen erhalten bleibt. Im deutschen Titel Weihnachten zu Hause spielt das ›Heim‹ eine Rolle, ebenso wie im englischen Serientitel Home for Christmas. Auch im Spanischen bleibt die Verbindung erhalten: Navidad en Casa. Ausnahmen gibt es natürlich: Auf Französisch heißt die Serie zum Beispiel Noël en Bonne Compagnie (Weihnachten in guter Gesellschaft) oder auf Italienisch Navidad con uno Sconosciuto (Weihnachten mit einem Unbekannten). In manchen Sprachen streicht der Titel das Heimische, den privaten Raum. Bleibt man jedoch beim Original, der englischen und der deutschen Übersetzung, dann ist das ›Heim‹, das Zuhause, eine Kategorie, die eng mit einem positiven Heimatgedanken verbunden ist. Heimat erscheint als »a place or state of complete self-assurance, of harmony with one’s self and surroundings.«18 Zugleich erweist sich ein vermeintlich harmonischer Ort aber immer auch als besonders störanfällig. Weihnachten zu Hause verhandelt zunächst viele Bräuche und Traditionen, die als typisch skandinavisch gelten. Weihnachten ist das Fest der Familie, der gemeinsame Weihnachtsbaumkauf, der in beiden Staffeln thematisiert wird, gilt neben dem Advents- und Weihnachtsessen zum Beispiel als Ritual. Im Krankenhaus wird in Staffel zwei das Lucia-Fest gefeiert, der Gedenktag an die Heilige Lucia am 13. Dezember, bei dem Johanne und das Klinikteam eine Lichterprozession im Flur veranstalten und das traditionelle ›Lucia-Lied‹ singen. Johannes Kollegin Bente (Hege Schøyen) geht, weil sie Dienstälteste ist, als ›Lucia‹ mit der Lichterkrone voran. Henrik läuft als ›Sternknabe‹ neben Johanne her. Beide tragen ebenfalls einen beleuchteten Stern. Bente hat in ihrem Kittel Lussekatter (Luciakatzen) versteckt, ein Safran-Hefegebäck, das sie heimlich Johannes Vater zusteckt, der zu diesem Zeitpunkt als Patient im Krankenhaus ist.19

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Ludewig, Alexandra: Screening Nostalgia. 100 Years of German Heimatfilm, Bielefeld: transcript 2011, S. 434. Ebd., S. 10. Bente tut das Lucia-Fest und den Umzug zunächst als albern ab. Erst als Johannes Vater sagt, Lucia sei die Schönste aller Heiligen, fühlt sie sich besonders motiviert, mit der Lichterkrone voranzuschreiten.

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

Abbildung 4: Lucia-Fest im Krankenhaus, Bente und Henrik.

Weihnachten zu Hause (2019)

Skandinavische Weihnachts-Köstlichkeiten werden in vielen weiteren Folgen präsentiert: Immer wieder wird in der Serie gløgg getrunken, skandinavischer Glühwein. Vor allem aber an den Feiertagen gewinnt die Kulinarik an Stellenwert. So will Johannes Freundin und Mitbewohnerin Jørgunn (Gabrielle Leithaug) an Heiligabend zum Beispiel Pinnekjøtt kochen, ein norwegisches Schmorgericht, das traditionell an Weihnachten gegessen wird. In Staffel zwei dreht sich an Heiligabend alles um die perfekte Kruste für den Weihnachtsbraten, die Johanne unbedingt so gut hinbekommen will wie ihre Mutter. Der Plan geht schief. Aus Unachtsamkeit brennt ihr das Fleisch an. Als noch schlimmer empfindet es Johanne allerdings, dass sie die Mandel für den Nachtisch, den süßen Milchreis, Risengrød, vergessen hat. Die Mandel wird im Milchreis versteckt, wer sie findet, dem winkt das Glück. Dass Johanne der Milchreis ebenfalls anbrennt, fasst sie als persönliche Niederlage auf. Lediglich angedeutet wird die in Skandinavien verbreitete und sehr populäre Weihnachtskultur der Wichtel, nisser.20 Johanne und Jørgunn besitzen einen Stoffwichtel, eine Figur zum Kuscheln, erkennbar an seiner langen roten Zipfelmütze. Er liegt auf dem Sofa und wird von beiden in mehreren Szenen

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Vgl. G. Agger, Danish Christmas, S. 270f. Sie beschreibt die Tradition der Wichtel und den Glauben an Trolle als das Herzstück der skandinavischen Folklore. Immer wieder sind sie auch Thema in skandinavischen Serien oder Filmen.

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in die Hand genommen.21 Mehr als Wichtel sind es jedoch die Kerzen, Lichterketten und andere blinkende Leuchtmittel, die in Weihnachten zu Hause zur Ausstattung nahezu aller Szenen gehören, die sich in privaten Innenräumen abspielen. Die übertriebene Lust auf Licht wird teilweise parodiert: So provoziert Johannes Vater Tor bereits in Staffel eins einen Kurzschluss, als er eine überdimensionale, blinkende Rentier-Figur im Vorgarten installieren will. Er rechtfertigt den Kauf damit, dass sein Nachbar, ein Texaner, in Sachen Weihnachtsbeleuchtung aufgerüstet hat. Später installiert er sogar noch weitere Rentier-Leuchten im Garten – erneuter Kurzschluss inklusive – bis ihm Johanne einen Generator besorgt. Zuhause in der Wohnung von Johanne und Jørgunn ist das Licht immer gedämpft und gemütlich, es brennen stets viele Kerzen. Auch das bleibt nicht ohne Zwischenfall. Jørgunn setzt kurz vor Heiligabend in Staffel eins den Esstisch der Wohnung in Brand, weil sie einen Moment lang nicht auf die Kerzen geachtet hat. Trotz dieses Brandunfalls: Das Zuhause der beiden jungen Frauen ist der Inbegriff von hygge, dem Lebensgefühl der Skandinavier, das gerade zur Weihnachtszeit durch die winterliche Dunkelheit und den Wunsch nach Gemeinschaft eine besondere Bedeutung erfährt. Hygge signifies a safe, low-key intimate form of socialization. For many people, the notion of ›having a hyggelig time‹ would refer to being with good friends or with one’s family or partner, having fun in an easy-going yet not overly exciting way (not a party, as such), […]. The home seems to be the most common setting for hygge, although social encounters in other locations can also easily be seen as hyggelig.22 Johanne und Jørgunn zelebrieren dieses Lebenskonzept, wenn sie in RentierSchlafanzügen und Pantoffeln auf der Couch sitzen, zusammen Eis essen und über Beziehungen reden. Ihr Zuhause ist für die beiden Freundinnen ein sogenannter safe space, ein Rückzugsort oder auch »a sheltered sphere«,23 in dem

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Netflix liefert dazu in den deutschen Untertiteln eine falsche Übersetzung. Während im Original von nisser die Rede ist, wird der Stoffwichtel im Untertitel als »Santa« bezeichnet. Linnet, Jeppe Trolle: »Money Can’t buy me Hygge. Danish Middle-Class Consumption, Egalitarianism, and the Sanctity of Inner Space«, in: Social Analysis. The International Journal of Anthropology, Vol. 55, Issue 2, New York: Berghahn Books 2011, S. 21–44, hier S. 23. Ebd., S. 35.

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

sie ohne Bewertung oder Ablenkung intime Dinge besprechen können. Dieser Fokus auf den hyggelig gestalteten, sicheren, gemütlichen Innenraum als Gegenpol zur (unsicheren) Außenwelt ist für beide Staffeln typisch und von zentraler Bedeutung. Johanne liebt die Gemütlichkeit zu Hause ebenso wie die Geselligkeit mit Freundinnen und Freunden, die sie zu allen Gelegenheiten in Bars trifft, aber auch mal zum Essen im Einkaufszentrum. Mit ihrem Vater (dessen Kopf ein klischeeträchtiger Wikingerhelm aus Plastik ziert) besucht sie außerdem eine Biathlon-Veranstaltung am Holmenkollen, ein berühmtes und beliebtes Skizentrum in der Nähe von Oslo. Auch bezüglich anderer Sport- und WohlfühlAktivitäten thematisiert Weihnachten zu Hause skandinavische Vorlieben: Mit ihrem Lovematch-Flirt Stein, genannt ›Sporty-Stein‹ (Mads Sjøgård Pettersen) steigt Johanne zum Beispiel auf Langlauf-Skier. Mit Knut, ihrer Bar-Bekanntschaft, macht sie eine Schlittenfahrt in der Pferdekutsche.24 Mit BengtErik, einem Studienfreund ihrer Mutter, besucht sie eine FKK-Sauna.25 Johanne ist stets bereit, ihr Traditionsbewusstsein, zu dem nicht nur die Liebe zu Weihnachten gehört, zu verteidigen: Zum norwegischen Nationalfeiertag und einem zugehörigen Volksfest im Mai (das allerdings in der Serie nicht näher gezeigt wird) spaziert sie in Tracht und mit norwegischem Fähnchen in der Hand. Henrik, ihr Kollege aus dem Krankenhaus, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt eine Beziehung führt, ist nicht mit Johanne und ihrem Freundeskreis unterwegs. Es heißt, er lehne die Monarchie ab.26 Dass Henrik es zudem bevorzugt, sich an Weihnachten nichts zu schenken, ist für Johanne ein Riesenproblem. Sie selbst liebt es, anderen eine Freude zu machen. So

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Damit die Szene nicht zu kitschig wird, sieht das Drehbuch vor, dass Knut einen allergischen Ausschlag von der Rentierdecke bekommt, wodurch das Date frühzeitig beendet ist. Bengt-Erik wird als früherer Gesundheitsminister vorgestellt. Um den angegrauten Best Ager hatte sich Johanne im Krankenhaus gekümmert, als dieser mit Herzproblemen eingeliefert wurde. Kurioserweise ist es der spanische Krankenhaus-Clown Raul (Francisco Jonathan Carrasco), der in dieser Szene, das Norweger-Fähnchen schwenkend, am lautesten von allen »Hurra« schreit. Er versteht eigentlich kein Norwegisch, erhebt aber am Nationalfeiertag bewusst seine Stimme.

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besorgt sie zum Beispiel ständig Wolle für Häkelarbeiten. Allerdings sieht man sie in der Serie nie häkeln.27 Traditionen sind in der Serie jedoch nicht zwangsläufig skandinavisch: Zu Johannes vorweihnachtlichen Ritualen gehört es, den Film Love Actually (UK, USA, F 2003, R: Richard Curtis) anzuschauen. Er ist mehrmals Thema in der Serie, immer wieder wird daraus zitiert.28 In Staffel eins wird der Film, der wegen seines internationalen Erfolges inzwischen als Klassiker gelten kann, zudem im Kino gezeigt. Johanne lädt ihre Bekanntschaft Johannes (Ole Christoffer Ertvaag) zu einem Besuch ein. Johannes redet den Film schlecht, bewertet ihn unter anderem als unglaubwürdig. Das Date scheitert logischerweise. Die Szene schafft hier ein selbstreferentielles Moment: Für Johanne genügt es, dass Love Actually nicht mehr und nicht weniger als eine romantische Liebeskomödie ist.29 Dasselbe will Weihnachten zu Hause in der Sequenz über sich sagen: Ich bin eine Wohlfühlserie, wie geschaffen für einen gemütlichen Winterabend auf dem Sofa. Allerdings: Immer wenn sie Gefahr läuft, zu viel Weihnachtstüdelei, zu süßliche Klischees und zu viel Skandinavien-Verliebtheit zu versprühen, wird eine Portion Realismus in Form von Gesellschaftskritik eingestreut, zum Beispiel das Thema Personalmangel im Krankenhaus oder Johannes Benachteiligung als Single bei der Vergabe der Dienste. So driftet die Serie niemals in Kitsch oder Eskapismus ab – Eigenschaften, die am Heimatgenre früher oft bemängelt wurden.30 27

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Eine bunte Decke aus gehäkelten Quadraten, die sie dem heroinsüchtigen Patienten Sebastian (Arthur Hakalahti) zu Weihnachten schenkt, hat sie beim Tischbrand gerettet. So verweist Henrik in einem Dialog mit Johanne zum Beispiel auf das Lied Love is all around, woraufhin sie Henrik mitteilt, dass er ein toller Mann sei. Die Serie nimmt zudem mehrfach Bezug auf Drei Haselnüsse für Aschenbrödel: In Folge zwei der ersten Staffel ermuntert Jørgunn ihre Freundin Johanne, in Sachen Liebe nicht so schnell aufzugeben. Selbst Aschenbrödel sei proaktiv gewesen, als es um den Prinzen ging. Vgl. auch Geier, Andrea: »Vom Wunder der Liebe im populären Genre. Märchenhafte Ordnungen in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, in: dies./Gradinari/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 57–76. Vgl. zum Thema Liebe in diesem Film auch Liebrand, Claudia: »Christmas uncovered. Liebesdispositive in Richard Curtis’ Love Actually«, in: Geier/Gradinari/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 23–37. Einen guten Überblick über die Kritik am Heimatgenre und seiner vermeintlichen Rückwärtsgewandtheit, seinen standardisierten Formeln und seiner mitunter schwierigen Historie liefert die Analyse von Wolfgang Kaschuba. Er sucht auch nach internationalen Parallelen. Vgl. Kaschuba, Wolfgang: »Der Deutsche Heimatfilm – Bildwel-

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Alte Wunden, neue Wunden Netflix kennzeichnet Weihnachten zu Hause im Auswahlmenü als romantische Comedyserie. Dabei handelt es sich um eine Kategorisierung, die auf den ersten Blick recht treffend erscheint: Nach Tamar Jeffers McDonald definiert sich die romantic comedy als ein Film (oder in diesem Fall als eine Serie) »which has as its central narrative motor a quest for love, which portrays this quest in a light-hearted way and almost always to successful conclusion.«31 Diese Beschreibung mag auf Weihnachten zu Hause in den genannten Punkten zutreffen. Bei genauerer Betrachtung bleibt sie jedoch unvollständig. Natürlich treibt die Frage nach einer Partnerschaft und das bevorstehende Weihnachtsfest die Handlung vordergründig voran. Vor allem zu Beginn der ersten Staffel drückt Johanne mächtig aufs Tempo, indem sie sich zum Speed-Dating anmeldet und mehreren kuriosen Männern gegenübersitzt: Einem Kaffeehändler, der unappetitliche Nasengeräusche macht, einem Aktionskünstler, einem Mann, der ihr sagt, sie erinnere ihn an seine Mutter. Ihren komischen Höhepunkt erreicht die Szene, als einer ihrer skurrilen Dating-Partner sagt, er habe Sex mit Drachen. Im Laufe der Handlung wird allerdings deutlich, dass unter dem RomComMantel in Weihnachten zu Hause weitere, auch ernstere Themen und Motive verborgen liegen, die Johannes romantische Jagd nach Mr. Right überlagern und sich mit ihr durchmischen. Die Serie präsentiert sich als Genre-Mix,32 der sich nicht nur mit Liebe, sondern auch ernsteren Themen wie Einsamkeit, Trennung, Angst oder Sucht auseinandersetzt. Sie offeriert je nach Perspek-

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ten als Weltbilder«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Schriftenreihe Bd. 294/I., Bonn: Selbstverlag 1990, S. 829–851. Vgl. dazu auch grundsätzlich A. Ludewig, Screening Nostalgia, S. 9ff. McDonald, Tamar Jeffers: Romantic Comedy. Boy meets girl meets genre, Short Cuts. Introductions to Film Studies, London/New York: Wallflower Press 2007, S. 9. Dass Weihnachtsfilme (wie Filme generell und auch Serien) keine stabilen Größen sind, sondern auf vielfältige Weise durchlässig sind und unterschiedliche Merkmale mixen, darauf verweist der erste Sammelband zum Thema. Vgl. Geier, Andrea/ Gradinari, Irina/Hnilica, Irmtraud: »Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 7–19, hier S. 11.

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tive auch andere Lesarten als von Netflix vorgegeben oder von mir in diesem Text vorgeschlagen.33 Das Heimatgenre kommt der Serie insgesamt sehr nahe, besonders, wenn man auf die antithetische Motivlage schaut: den Gegensatz zwischen Stadt und Land, Tradition und Fortschritt, Alter und Jugend.34 Zur Einordnung ist zu sagen, dass die Forschung den Heimatfilm in den vergangenen Jahrzehnten hinsichtlich seiner Themen und Motive seziert und einen Merkmalskatalog erarbeitet hat.35 Dabei muss jedoch der Hybridität des Genres Rechnung getragen werden: Auch Weihnachten zu Hause lässt sich keinesfalls in eine Heimatschablone pressen. Nicht alle Motive, die klassischerweise dem Heimatfilm zugeschrieben werden, sind in der Serie vorhanden. So gibt es zum Beispiel keinen offen ausgetragenen Generationenkonflikt.36 Andere Motive des Heimatgenres sind in der Serie dagegen deutlich erkennbar und fallen bei der Lektüre ins Gewicht: Die Verhandlung von Brauchtum und Tradition wurde bereits erwähnt. Eine nähere Betrachtung fordert vor allem der Stadt-LandGegensatz. Ebenso gehört auch die Musik als emotionalisierendes Element dazu, genau wie das ›große Fest‹ als ein mögliches Happy End. Für Johanne ist das glückliche Ende in Gefahr, als sie zusätzlich zu ihrer eigenen Situation feststellt, dass die Ehe ihrer Eltern zerbricht und man – so erzählt es Staffel eins – möglicherweise das letzte Weihnachten gemeinsam als Familie feiert. In Staffel zwei, ein Jahr später, spitzt sich die Lage weiter zu, denn Johannes Mutter ist mit Bengt-Erik (den Johanne in Staffel eins verschmäht hatte) in Paris. »Weihnachten fällt aus«, kündigt ihr Vater betrübt an. Johanne zögert keine Sekunde und teilt der Familie mit, sie werde übernehmen und das Fest ausrichten. Hier wird nochmal die Verbindung zum skandinavischen TV-Adventskalender deutlich: Die Gefahr, dass Weihnachten nicht statt-

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So könnte man Weihnachten zu Hause zum Beispiel als Arztserie lesen, weil große Teile im Krankenhaus spielen und Johannes Job als Krankenschwester immer wieder ihr Privatleben bestimmt. Zu diesem Ergebnis kommt bereits eine der ersten und umfassendsten Heimatfilmstudien. Vgl. Höfig, Willi: Der deutsche Heimatfilm 1947–1960, Stuttgart: Enke 1973, S. 337ff. Vgl. Trimborn, Jürgen: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster, Köln: Teiresias 1998. Auch wenn Johanne von ihrer Mutter zu Beginn zwischen den Zwillingen am Tisch platziert wird, ist das kein Ausdruck eines Generationenkonflikts, sondern eher Ausdruck unterschiedlicher Wertvorstellungen. Dass Johanne einen Partner finden sollte, das wünschen sich nicht nur die Eltern, sondern auch Johannes Geschwister.

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finden könnte wie gewohnt, ist eine Krise, die eine Lösung erfordert. Weihnachten wird in der Serie als eine Tradition beschrieben, die Gemeinschaft stiftet und auf Ritualen beruht, die nicht gebrochen werden dürfen. Es ist das Band, das alles zusammenhält und verteidigt werden muss. Nur als Familie oder im Kreis von Menschen, die sich nahestehen, kann die Tradition so richtig gelebt werden. Abweichungen verursachen tiefe Verunsicherung. So sorgt sich Johannes Schwester in Staffel zwei nach Johannes Ankündigung, für die abwesende Mutter einzuspringen, in erster Linie um das Essen und wirft Johanne vor, sie könne doch gar nicht kochen. Auch der Plan der Eltern am Ende der ersten Staffel, erst mal eine offene Beziehung zu führen und nach Weihnachten zu entscheiden, wie es weiter geht, löst bei Johanne und ihren Geschwistern großes Unbehagen aus. Gefühle werden in Weihnachten zu Hause häufig durch Musik gelenkt und verstärkt. Wie in Heimatfilmen und vielen anderen Genres dient sie dazu, die Handlung zu harmonisieren und sie um eine Bedeutungsebene zu erweitern. »Je sentimentaler das Lied, desto schöner die Heimat«,37 lautet eine klassische Formel des Heimatfilms. In einer Weihnachtsserie erwartet das Publikum stimmungsvolle Musik. Diesem Anspruch wird die Serie gerecht, indem sie moderne Weihnachtslieder oder Cover von traditionellen Weihnachtsliedern mit Popsongs vorrangig junger, norwegischer Künstlerinnen und Künstler vermischt. Einzelne Folgen werden damit gerahmt, immer wieder werden die Songs – sowohl englische als auch norwegische – in die Handlung eingestreut. 17 Lieder wurden in Staffel eins identifiziert.38 20 Lieder sollen es in Staffel zwei sein.39 Nicht jedes Lied hat inhaltlich mit Weihnachten zu tun. Meist geht es um Liebe und Liebeskummer, das Hauptthema der mitwirkenden Singer-Songwriter*innen, die überwiegend weiblich sind und nahezu alle in den 1990er Jahren geboren wurden. Exemplarisch erwähnen möchte ich das Acoustic-Cover des Weihnachtsklassikers Silent Night, gesungen von Gabrielle Leithaug. Es bildet quasi einen roten Faden in Staffel eins und eröffnet auch Staffel zwei. Die norwegische Sängerin Dagny (Dagny Norvoll Sandvik) übernimmt in Staffel zwei die Rolle von Krankenschwester Lisa, Johannes Kollegin.

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W. Höfig: Der deutsche Heimatfilm, S. 381. Vgl. https://popkultur.de/weihnachten-zu-hause-staffel-1-alle-songs/ (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Vgl. https://popkultur.de/weihnachten-zu-hause-staffel-2-alle-songs/ (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023).

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Auch sie trägt zwei Lieder bei. Singend sieht man sie in der Serie allerdings nicht. Sängerin Astrid S (Astrid Smeplass)40 steuert in beiden Staffeln insgesamt vier englischsprachige Popsongs bei, darunter das Lied Years, das Johannes Kummer nach ihrem ersten Dating-Marathon untermalt: »It’s a mistake and my heart’s gonna break, it’ll probably take me years to get over«, so heißt es im Refrain. Es geht um unerfüllte Liebe oder auch eine unmögliche Liebe, um die Gefahr, sein Herz an jemanden zu verlieren, der unerreichbar ist. Johanne hat diesbezüglich gleich zwei emotional belastende Baustellen: Zunächst leidet sie unter einer backstory wound,41 die sich um ihren Ex-Freund Christian dreht. Er hat sie vor Jahren verlassen, was Johanne nicht verkraftet hat. Beim alljährlichen Weihnachtsbaumkauf begegnen sich die Familien: Johanne trifft samt ihrer Eltern und Geschwister auf Christian und sein neues Familienglück, Frau und Baby. Es ist ein schmerzhafter Moment, der in Staffel zwei noch dadurch gesteigert wird, dass Christian Johanne die eigentliche Schuld an der Trennung gibt, weil sie mit 27 noch keine Kinder wollte. Und: In Abwesenheit von Christians Frau kommt es sogar zu einem Kuss und einer Beinahe-Affäre. Permanent betrauern Johannes Familie und ihr Freundeskreis die Trennung von Christian. Das gute Verhältnis zueinander wird von beiden Seiten immer wieder betont. Christian hat sogar ein Weihnachtsgeschenk für Johannes Eltern besorgt. Eine weitere, im Laufe der Serie wachsende Hürde ist Johannes zweite Gefühls-Baustelle: ihr Flirt mit Jonas, den sie über die Dating-App kennenlernt und der im Liebestrubel schnell zum Favoriten aufsteigt. Der Haken: Jonas ist erst 19 Jahre alt. Der Altersunterschied wirft das ständige Hinterfragen dieser vorrangig sexuellen Beziehung auf, in die sich beide mit Leidenschaft und Eifer begeben. Johanne würde sie gerne in etwas Ernstes transferieren, wird jedoch von Jonas abgewiesen. Er küsst längst eine andere. Schon beim ersten Date im Club deutet das Lied Strangers von Popsängerin Sigrid (Sigrid Solbakk Raabe) die schicksalhafte Begegnung an. »Like strangers, perfect pretenders. We’re falling head over heals, for something that ain’t real, it could never be

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Die Sängerin bleibt dem Weihnachtsgenre erhalten: Sie hat 2021 die Hauptrolle des Aschenputtels in der Neuverfilmung des Märchen- und Weihnachtsfilmklassikers Tre Nøtter til Askepott (N 2021, R: Cecilie Mosli, dt.: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel) bekommen. Vgl. Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 25ff.

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us. Just you and I«, heißt es darin. Die Serie bietet somit eine Bühne für junge Stimmen, die jenseits von Norwegen noch nicht so bekannt sind. Zudem kreiert sie einen ruhigen, weihnachtlichen Soundtrack, der das Hygge-Gefühl transportiert. Sie schafft somit auch auf der Audio-Ebene einen Bezug zum Heimeligen, Heimatlichen – eine Playlist, die man gerne zu Hause in den eigenen vier Wänden anhört.

Das Gegenteil von Zuhause Der Stadtmensch, der aufs Land kommt und dort die Ordnung stört, ist ein klassisches und immer wiederkehrendes Motiv im Heimatgenre. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land sorgt für Konflikte zwischen Fortschritt und vermeintlichem Rückschritt, oft begleitet von Differenzen zwischen den Generationen, zwischen Jung und Alt. Werte und Lebensentwürfe werden in Frage gestellt. Das Ziel ist, die Heimat gegen das, was von außen hereindringt, zu verteidigen. Dieses dramaturgische Modell der »antithetischen Motivpaare«42 findet sich in auch in Weihnachten zu Hause, zum Beispiel auf der Ebene der Handlungsorte. Jürgen Trimborn hat für den Heimatfilm festgestellt: Die in der Stadt spielenden Sequenzen im Heimatfilm, die genrebedingt grundsätzlich nur einen geringen Anteil an den Handlungsorten der Filme ausmachen, sind fast immer Innenaufnahmen, die nur die städtische, meist bewußt modern gewählte Architektur sichtbar machen.43 Diese Beobachtung trifft auch auf Weihnachten zu Hause zu: So wird das Krankenhaus, in dem Johanne arbeitet, als städtischer Raum dargestellt, in dem Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammentreffen. Trotz dezenter Weihnachtsdeko, zum Beispiel in Form eines leuchtenden Tannenbaums auf dem Flur, und der Feier des Lucia-Festes ist das Krankenhaus kein hyggeliger Ort, es ist das Gegenteil von Zuhause. Die Klinikszenen spielen bis auf einige wenige Situationen, in denen zum Beispiel eine Balkontür geöffnet wird, fast ausschließlich innen. Zu keinem Zeitpunkt gibt es in der Serie einen Moment, der erkennen ließe, dass das Krankenhaus in Norwegens Hauptstadt

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J. Trimborn: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre, S. 54. Ebd., S. 57.

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Oslo liegen würde, so wie in manchen Serienkritiken immer wieder behauptet wird. Dasselbe gilt für die Bars und Clubs, die Johanne besucht, auch diese werden lediglich innen gezeigt. Einen Hinweis auf städtisches Milieu liefert nur eine Fahrt in einer Straßenbahn nach der Weihnachtsfeier in der ersten Staffel, die im Hintergrund Lichter einer Stadt aufschimmern lässt. Aber auch diese Fahrt ist aus der Innenperspektive zu sehen. Das verschneite Røros ist dagegen in den Außenszenen durch seine einfache Häuserbebauung und wenig Autoverkehr als ländlicher Raum markiert, ebenso Johannes Elternhaus, ein Einfamilienhaus, das in einer verschneiten, dörflich anmutenden Straße liegt. Johanne muss ihre Komfortzone, ihr ›Heim‹ verlassen, wenn sie einen neuen Freund finden will. Auch wenn sie potenzielle Kandidaten gemütlich auf dem Sofa per Handy-App kontaktiert, muss sie ihnen real begegnen, zum Beispiel in einer Kneipe oder Bar, einem Fitnessstudio oder einem Escape Room. Diese Treffen, die mal mehr, mal weniger glücklich verlaufen, werden in den einzelnen Episoden immer wieder durchexerziert. Laut Trimborn hat diese Gegensätzlichkeit im Heimatfilm die Funktion, das Publikum möge sich zugunsten des harmonisch-heimeligen Umfelds entscheiden.44 Das Städtische scheint nicht erstrebenswert. Besonders deutlich wird der Stadt-Land-Antagonismus am Beispiel der Wohnung des Arztes Henrik: Er bewohnt ein modern und minimalistisch eingerichtetes Penthouse im achten Stock, das per Aufzug und Code-Karte erreichbar ist. Das Wohnhaus wird – entsprechend der Heimatfilm-Formel – nur von innen gezeigt. Es gibt dort kaum Dekoration, auch keine weihnachtliche, ganz anders als in der Wohnung von Johanne und Jørgunn oder zu Hause bei Johannes Eltern. Henrik spricht gegenüber anderen davon, dass Johanne bald zu ihm ziehen werde und sie sich dann an seine Regeln halten müsse: Besteck immer ordentlich in die Spülmaschine räumen, Kleidung falten. Beides liegt Johanne fern, sie vereinbart mit Henrik eine Beziehungsauszeit. Weil sie aber noch nicht sicher ist, ob die Pause endgültig ist, besucht sie ihn in seiner Wohnung und erwischt ihn in flagranti beim Flirt mit der Woll-Verkäuferin vom Weihnachtsmarkt: Diese tanzt in einem roten Wollbikini vor Henrik, der bis auf eine Unterhose entblößt aus einem Sessel zuschaut. Die Nacktheit der beiden vor weißen, kahlen Wänden des Apartments bildet einen starken Kontrast zu der Wärme und Gemütlichkeit, die bei Johanne zu Hause herrscht. In der Apartment-Szene wird

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zudem der moralische Aspekt hinzugefügt: Johanne fühlt sich von Henrik hintergangen. Er verkörpert nicht ihre Werte, in diesem Fall Treue. Das Ländliche (Johanne) tritt dem Städtischen (Henrik) in dieser Passage gegenüber. Das Publikum wird durch Henriks Betrug auf Johannes Seite gezogen. Die Kälte des Handlungsortes verstärkt den Effekt. Zwischen beiden Figuren herrschen trotz anfänglicher Anziehung unüberbrückbare Differenzen, die schließlich zum Bruch führen. Gesteigert wird der Gegensatz von Innen- und Außenwelt in Johannes Liebschaft mit fuckboy Jonas. Nachdem sie über die Dating-App Kontakt aufgenommen haben, lernen sie sich bei flackerndem Neonlicht in einem Club kennen. Sie tanzen miteinander und beginnen sofort eine Affäre. Jonas ist in beiden Staffeln präsent und bleibt dabei fast immer Teil der als unbehaglich konnotierten Außenwelt. Dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte, dazu liefert schon einer der ersten Dialoge der beiden beim Kennenlernen einen Hinweis. Johanne fragt Jonas bei einem Drink an der Bar, welches Sternzeichen er sei. Er antwortet »Skorpion« und schießt das Wort »Serienmörder« hinterher. Johanne findet das witzig und fragt kichernd: »Wirst du mich umbringen?« Wer diese Szene zum ersten Mal sieht, wird den Sätzen kaum Beachtung schenken. Doch hier wird eine erste Fährte gelegt, dass in der vermeintlichen Weihnachtsserie eine zweite, düstere Ebene versteckt liegt. Zu dieser Anti-Welt gehört auch Jonas’ minimalistisch-modernes Elternhaus, in dem sich beide nach der durchtanzten Nacht treffen und miteinander Sex haben. Die Eltern sind verreist, Jonas wohnt noch in seinem Kinderzimmer. Bis auf einen beleuchteten Stern im Fenster gibt es keine weihnachtliche Deko. Das Licht am Morgen nach der ersten Liebesnacht in Staffel eins wirkt kalt, bläulich und steril. Bei ihrer zweiten Begegnung wird diese Farbgebung sogar noch deutlicher betont: Johanne schläft in blauem T-Shirt in blauer Bettwäsche. Jonas sitzt in blauer Sporthose neben ihr auf der Bettkante. Zwei Mal versucht Johanne, Jonas Teil ihrer Welt werden zu lassen. Beide Male geht es schief. Zum Ende der ersten Staffel hat sie zu Hause einen Herzkuchen gebacken und fährt diesen mit dem Tretschlitten in den Club, wo Jonas Geburtstag feiert. Sie trägt ihr Herz symbolisch in Händen, bringt den Kuchen bis zur Tanzfläche, wo sie schließlich mitansehen muss, wie Jonas ein anderes Mädchen küsst. Jonas erklärt Johanne, dass er sich nicht mehr gemeldet habe, weil er Angst hatte, dass sie vielleicht Kinder wolle. Und: dass er ohnehin zum Studieren nach Bali wolle, eine Beziehung also keinen Sinn ergebe.

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Abbildung 5: Johanne bringt Jonas einen Herzkuchen in den Club.

Weihnachten zu Hause (2019)

Staffel eins endet an Heiligabend in Johannes Elternhaus. Als alle beim Essen sitzen, klingelt es an der Tür. Johanne öffnet und lächelt. Es bleibt offen, wer gekommen ist. Erst in Staffel zwei wird die Szene aufgelöst: Eine Person, von der nur die Hand zu sehen ist, ein Bote vielleicht, überreicht Johanne einen überdimensionalen Strauß roter Rosen. Einen Absender gibt es nicht, nur eine Karte, auf der ›Johanne‹ steht. Wieder beginnt das Rätselraten. Die Auflösung – Achtung Spoiler – folgt erst gegen Ende der zweiten Staffel. Johanne hat den Strauß an die Küchenwand gehangen und getrocknet. Sie dachte immer, die Blumen seien von Henrik, aber sie waren von Jonas. Das Rätsel löst Jonas selbst, als Johanne ihn nach einem zufälligen Wiedersehen zum geselligen Weihnachts-Bastelabend zu sich nach Hause einlädt, einem weiteren hyggeligen Moment der Serie und ein Versuch Johannes, ihn in ihre Welt zu holen. Jonas sieht die verwelkten, aber immer noch schön gebundenen Rosen an der Wand. Wir erfahren, dass es 100 Stück sind. Er sagt beinahe beiläufig: »Du hast sie behalten.« Er erklärt Johanne schließlich, er habe sich damit entschuldigen wollen. Noch während Jonas diese Worte spricht, macht sich beim Zuschauen ein unangenehmes Gefühl breit. Diese Szene ist ein Kipppunkt: Weihnachten zu Hause hört in diesem Moment auf, eine romantische Komödie zu sein. Die Serie wird beinahe gruselig. So wie die verwelkten, ›toten‹ Rosen, ein VanitasSymbol des Barockzeitalters, so gar nicht in die weihnachtlich geschmückte Wohnung passen, wird Jonas trotz seiner Offenheit zum mysteriösen und undurchsichtigen Eindringling in Johannes Heim. Jørgunn hat die Rosen stets als

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

Analogie zu Aschenputtel gesehen: sie erinnern Johanne daran, den Prinzen zu finden. Doch Johanne empfindet anders. Sie stellt bei diesem Bastelabend fest, dass sie offensichtlich Opfer einer speziellen Art von Ghosting wurde, einem plötzlichen Kontaktabbruch ohne Ankündigung: Jonas ist nach ihrer gemeinsamen, intensiven Zeit abrupt aus ihrem Leben verschwunden. Es gab zwar eine kurze Aussprache und für Johanne einen unmissverständlichen Korb, aber durch den Rosenstrauß ohne Absender hat Jonas Johanne fast ein Jahr lang im Unklaren gelassen. Er ließ sie permanent grübeln, wer ihr diesen anonymen Gruß geschickt haben könnte. Psychologische Theorien würden dieses Verhalten vermutlich als Orbiting oder Bread-Crumbing einordnen.45 Im Handlungsstrang um Jonas liebäugelt Weihnachten zu Hause immer wieder mit der Ästhetik von ›Nordic Noir‹. Der Genrebegriff wird für dunkle, aber sehr realitätsnahe, skandinavische Serien gewählt, in denen es nicht zwangsläufig nur um Kriminalfälle geht.46 Diese Strategie ist in der Serie als »Kampfansage an das Hygge-Prinzip«47 zu verstehen. Mit dem Gedanken, dass die heile Weihnachtswelt immer auch das Gegenteil in sich tragen und herausfordern könnte, kommt die beschriebene Wende in Staffel zwei womöglich gar nicht so überraschend. Jonas hat bewusst mit Johannes Gefühlen gespielt und den Verrat selbst aufgedeckt. Durch den Satz »Du hast sie behalten« relativiert er seine Verantwortung. Jonas wird in diesem Moment – ganz im Sinne Sigmund Freuds – zu einem ›unheimlichen‹, düsteren Gast in Johannes Haus.48 45

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Derjenige, der den Kontakt abbricht, kreist quasi immer noch um den anderen herum und hinterlässt Spuren, ohne wirklich greifbar zu sein. Vgl. Schrader, Jessica: »The Terms of Noncommitment: Ghosting, Breadcrumbing, More. Disappearing acts and being strung along in careers and relationships«, in: Psychology Today vom 17.05.2021, https://www.psychologytoday.com/us/blog/400-friends-who-can-i-c all/202105/the-terms-noncommitment-ghosting-breadcrumbing-more (zuletzt aufgerufen am 24.06.2023). Vgl. L. Gamula/L. Mikos : Nordic Noir, S. 97. So bewertet Christoph Bartmann 2017 in einem Vortrag beim Philosophicum Lech, einem geisteswissenschaftlichen Symposium in Österreich, den Zusammenhang zwischen Nordic Noir und Hygge. Vgl. Bartmann, Christoph: »Mut zur Faulheit. Die Arbeit und ihr Schicksal«, nachzuhören unter: https://vorarlberg.orf.at/v2/radio/stories/2889 204/ Audiofile ab 00:25:25 min (zuletzt aufgerufen am 31.05.2023). Sigmund Freud geht in seinem berühmten Text von 1919 davon aus, dass »unheimlich« und »heimlich, heimisch, vertraut« nicht zwangsläufig Gegensätze sind, sondern denselben Ursprung haben und damit zusammenfallen. Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919), Stuttgart: Reclam 2020, S. 7ff.

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»Nicht jeder hat euer Glück« – gestörte Ordnungen Dass sich ein hyggeliges, heimeliges Gefühl erst so richtig entfalten kann, wenn draußen etwas »unhyggeliges« passiert, zum Beispiel ein Sturm tobt, ist eine der Grundideen, auf die sich die Glücksforschung beruft.49 Weihnachten, so könnte man dementsprechend argumentieren, wird erst so richtig schön, wenn verborgene Probleme im Glanz der Lichter endgültig überwunden werden. In Weihnachten zu Hause wird die Ordnung der Figuren auf mehreren Ebenen gestört und muss – wie die Logik des Heimatgenres vorgibt – wieder hergestellt werden. Auf den ersten Blick ist es Johannes gut organisiertes Single-Dasein, welches das vermeintliche Familienglück in Schieflage bringt und traditionelle Verbindungen wie die Ehe als Garant für Sicherheit und Stabilität in Frage stellt. Johannes Familie, ihre Freundinnen und Freunde setzen alles daran, Johanne von der (heteronormativen) Partnerschaft als einzig sinnvollem Lebensziel zu überzeugen. Doch wie sich herausstellt, existiert die Ehe der Eltern nur noch auf dem Papier, und auch ihre beste Freundin Jeannette und ihr Mann Trym (Audun Sandem) trennen sich. Ebenso ist Johannes Ex-Freund Christian bereit, sich auf ein Tête-à-tête mit Johanne einzulassen, weil es Differenzen mit seiner Frau gibt. Johanne fühlt sich massiv unter Druck gesetzt, weil sie der gesellschaftlichen Anforderung als Singlefrau über 30 offenbar nicht gerecht wird. »Nicht jeder hat euer Glück«, kommentiert sie verzweifelt das permanente Nachhaken ihrer Familie nach ihrem Status beim Weihnachtsbaumkauf in Staffel eins. In Staffel zwei manifestiert sich dann jedoch, dass Johanne einem Trugschluss aufgesessen ist: Nahezu jeder in ihrem Familien- und Freundeskreis hadert mit der Angst, nicht gebraucht oder nicht beachtet zu werden. An Weihnachten kumulieren sich diese Ängste. Zwei Mal erleben wir Johanne jedoch glücklich an Weihnachten, versammelt mit ihren Liebsten am Tisch. Die Lebenskonzepte scheinen versöhnt. Weihnachten ist (vorerst) gerettet. In Staffel eins ist Johanne als Single-Tochter mit großem Freundeskreis akzeptiert. In Staffel zwei akzeptieren Johanne und ihre Geschwister, dass ihre Eltern vermutlich bald getrennte Wege gehen. Alle verbringen zusammen den Heiligabend. Jonas kommt nicht zur Feier. Er wacht im Krankenhaus am Bett eines Freundes. Johanne macht sich auf den Weg dorthin, um – ermutigt von ihrer Familie – Jonas erneut ihr Herz 49

Vgl. Bartmann (2017) via Audiofile ab 00:03:31. Er zitiert darin den dänischen Glücksforscher Meik Wiking, der dieses Bild in seinen Hygge-Theorien ursprünglich entwickelt hat.

Daniela Schulz: Weihnachten in Gefahr

offen zu legen. Staffel zwei endet mit einer Liebeserklärung der beiden auf dem Krankenhausflur. Das Happy End scheint damit ganz im Sinne der Heimatfilmtradition an einem symbolischen Ort besiegelt: Jonas ist in Johannes Welt, das Krankenhaus, eingetreten. Dort beschließen beide, dass sie trotz des Altersunterschieds zusammen sein wollen. Mit dieser Szene endet Weihnachten zu Hause. Obwohl die Fragen der Fans in den sozialen Medien nicht abreißen, wann es denn endlich eine dritte Staffel gebe, hat sich Netflix bisher weder offiziell zu einer Fortsetzung noch zu einem endgültigen Abschluss geäußert. Stattdessen veröffentlicht der Streaming-Dienst am 7. Dezember 2022 ein italienisches Remake der Serie mit dem Titel Odio Il Natale (I 2022, R: Davide Mardegan, Clemente de Muro), zu Deutsch Ich hasse Weihnachten. Aus Johanne wird Gianna, die Handlung wandert aus dem verschneiten Norwegen ins häufig regennasse Chioggia bei Venedig an die italienische Adriaküste. Statt Tretschlitten fährt die Protagonistin nun Fahrrad. Die Grundidee bleibt erhalten: Auch Gianna arbeitet als Krankenschwester und hat ihrer Familie eine Notlüge aufgetischt: sie habe jetzt einen Freund. Anders als Johanne schlägt sie selbst vor, ihn Weihnachten mitzubringen und agiert in der Serie als Ich-Erzählerin. Zum ›Fest der Liebe‹ offenbart Gianna eine andere Einstellung als Johanne: »Ich hasse Weihnachten, weil es mich auch hasst«, stellt sie gleich zu Beginn klar. Worte, die Johanne niemals benutzen würde, weil sie das Weihnachtsfest mit all seinen Facetten liebt. Fans von Weihnachten zu Hause dürfte das Remake irritieren, denn die Geschichte verändert durch den Umzug nach Italien ihren Charakter und die Atmosphäre grundlegend, auch wenn der Plot nahezu identisch bleibt. Es kommt zu einem kulturellen Transfer – weg von Wichtel, Rentier und LuciaLicht – hin zu einem stärker christlich-religiösen Tenor, in dem Krippenbau und Kirchenbesuche in den Fokus rücken. In Ich hasse Weihnachten fehlen die Hygge-Momente der norwegischen Variante. Wer enttäuscht ist, dass der Streaming-Dienst Johanne keine Fortsetzung gönnt, wird dennoch Freude daran finden, Gianna eine Chance zu geben und das norwegische Original einer Re-Lektüre zu unterziehen.

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Weihnachten im Weißen Haus Politische, gesellschaftliche und private Krisen in The West Wing Dana Steglich

In amerikanischen Fernsehserien, besonders denen, die konzipiert wurden, bevor Streaming der neue Standard wurde, haben Weihnachtsfolgen eine lange Tradition.1 In der letzten Woche vor Weihnachten, bevor das gewöhnliche Fernsehprogramm eine Pause nimmt, fallen dabei in vielen TV-Genres die Kalender in und außerhalb der Diegese zusammen. Parallel zur Welt der Zuschauenden wird es auch in der Welt der Serie Weihnachten – und mit Weihnachten hält eine Reihe von spezifischen Elementen Einzug in diese Welt: Weihnachtsmusik ersetzt die sonst üblichen Popsongs, Schnee, Tannenbäume und Geschenke füllen die Kulissen, und auf Plotebene geht es mit großer Wahrscheinlichkeit um Familie, Liebe und Harmonie. Generell können Zuschauer:innen von Weihnachtsfolgen auch mit einem guten, eventuell bittersüßen Ende rechnen. Auf Ranglisten, welche die Weihnachtsfolgen von Fernsehserien miteinander vergleichen, finden sich häufig auch eine oder zwei Folgen des Politdramas The West Wing (1999 – 2006), doch in den Kommentaren dazu schwingt meist gleich eine Warnung an potenzielle Weihnachtsfans mit: Katerina Daley weist in ihrer Auswertung des IMDb-Rankings der Folgen für ScreenRant beispielsweise darauf hin, dass »[n]ot every holiday-themed (or at least, holiday-set) episode is necessarily filled with jolly wishes or warm and fuzzy fee-

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Die Tradition der Weihnachtsfolge geht bis in die 1950er Jahre zurück, hatte ihre Höhepunkte jedoch in den 1990er und frühen 2000er Jahren; ein guter Überblick über die Weihnachtsfolgen von U.S.-Produktionen kann auf Wikipedia gefunden werden: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_United_States_Christmas_television_episodes (zuletzt aufgerufen am 18.05.2023).

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lings«.2 Joe Reid kommentiert in seinem Artikel für Decider eine der Folgen mit dem Satz: »As far as Christmas episodes go, it’s pretty much a bummer.«3 Und Alexis Rhiannons Bustle-Artikel spezifisch über die Weihnachtsfolgen von The West Wing enthält nicht nur die Warnung, dass dies generell keine gewöhnlichen Weihnachtsfolgen sind, sondern gibt auch für jede einzelne Folge eine Empfehlung ab, wer diese Folge schauen sollte. So heißt es stets vor der jeweiligen Inhaltsangabe »Watch if you like your christmas …« und die Adjektive, die zur Beschreibung der Folgen genutzt werden, sind »Watch if you like your christmas: depressing«, »unstable«, »anxious«, »suspicious«, »aggravating« und »cataclysmic«.4 Der Grund für diese wenig weihnachtlich klingenden, aber durchaus zutreffenden Beschreibungen der Weihnachtsfolgen von The West Wing ist die zentrale Stellung, welche Krisennarrative in der Serie generell einnehmen. Kriege, Naturkatastrophen, Attentate, wirtschaftliche Zusammenbrüche ganzer Nationen – all dies sind Handlungselemente, mit denen The West Wing sich intensiv beschäftigt. In der Konfrontation mit diesen überindividuellen, niemals endenden und zeitgleich unlösbar erscheinenden Problemen rücken die privaten Krisen der Protagonist:innen – ihre psychischen und physischen Erkrankungen sowie Ehe-, Familien- und Liebeskrisen – automatisch in den Hintergrund. Diese Rückstellung des Privaten zugunsten des Politischen beeinflusst sämtliche Figuren von The West Wing. Sie alle vereint ihr Pflichtgefühl sowie eine daraus resultierende Aufopferungsbereitschaft, die von der Serie selbst romantisiert wird. In einem Interview aus dem Jahr 2005 führte Aaron Sorkin, der Serienschöpfer von The West Wing, seine Wahl des Weißen Hauses als Schauplatz für die Serie auf die Möglichkeit zurück, in diesem Setting seinem persönlichen Stil als Drehbuchautor freien Lauf geben

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Daley, Katerina: »The West Wing: Every Holiday Episode, Ranked (According to IMDb)«, in: ScreenRant vom 12.12.2020, https://screenrant.com/west-wing-every-holiday-epis ode-aaron-sorkin-political-drama-ranked-imdb/#the-indians-in-the-lobby-season-3 -episode-9---8-2 (zuletzt aufgerufen am 18.05.2023). Reid, Joe: »Ranking Every West Wing Christmas Episode«, in: Decider vom 24.12.2015, https://decider.com/2015/12/24/ranking-every-west-wing-christmas-episode/(zuletzt aufgerufen am 18.05.2023). Rhiannon, Alexis: »Your Guide To West Wing’s Christmas Episodes«, in: Bustle vom 07.12.2015, https://www.bustle.com/articles/127127-your-guide-to-every-west-wi ng-christmas-episode-to-get-you-in-the-holiday-spirit (zuletzt aufgerufen am 18.05. 2023).

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

zu können: »the possibility to be Romantic and idealistic is huge«,5 sagte Sorkin. Die Darstellung der Aufopferungsbereitschaft sowie die Romantisierung des Idealismus der Protagonist:innen erreichen ihren Höhepunkt dabei, so die These dieses Beitrags, in den Weihnachtsfolgen der Serie, gerade an dem Feiertag, der wie kein zweiter in der westlichen Welt mit Romantik und Idealismus verknüpft ist. Die sechs Weihnachtsfolgen der sieben Staffeln The West Wing haben allesamt gemein, dass sie kurz vor Weihnachten oder direkt an Weihnachten spielen, dass sie vor weihnachtlichen Kulissen oder zur einer Zeit spielen, in der weihnachtliche Dekorationen angebracht werden, und dass in ihnen Weihnachtsmusik eine zentrale Funktion übernimmt. Sie vereint außerdem die Tatsache, dass in diesen Folgen die Sphären des Politischen und des Privaten vermischt werden. Durch die Interaktion mit geläufigen Elementen des Weihnachtsfilms werden dabei die Ideale der Protagonist:innen von The West Wing explizit gemacht und das Ethos der Serie offengelegt: die Überzeugung, dass Individuen gerade im Angesicht von Krisen handeln müssen. Im Folgenden wird daher anhand der genaueren Analyse von zwei der Weihnachtsfolgen gezeigt, auf welche Weise die Serie die für einen Weihnachtsfilm genretypischen Elemente auf thematischer sowie auf Ebene des audiovisuellen Designs mit dem üblichen auf Krisen fokussierten Handlungsverlauf der Serie kombiniert und dass diese Mischung für eine Betonung des ethischen Bewusstseins der Figuren von The West Wing sorgt.

Weihnachtliche Krisen in The West Wing The West Wing, deutscher Titel The West Wing – Im Zentrum der Macht, feierte am 22. September 1999 auf dem US-amerikanischen Sender NBC Premiere und lief dort für sieben Jahre, die letzten drei davon ohne den ursprünglichen Serienschöpfer sowie hauptverantwortlichen Drehbuchautor und Produzenten der Serie Aaron Sorkin. Wie alle anderen Serien aus der Feder Sorkins – Sports Night (1998 – 2000), Studio 60 on the Sunset Strip (2006 – 2007) und The Newsroom (2012 – 2014) – fällt auch The West Wing in das Genre der workplace dramedy. Sorkin-Serien sind, wie Simon Rothöhler 5

Fahy, Thomas: »An Interview with Aaron Sorkin«, in: ders. (Hg.), Considering Aaron Sorkin. Essays on the Politics, Poetics and Sleight of Hand in the Films and Television Series, Jefferson, N.C./London: McFarland & Company 2005, S. 11–17, hier S. 14–15.

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zusammenfasst, stets »Hinterbühnenserien, Serien über die Fabrizierung von Vorderbühnen«.6 In The West Wing ist die Bühne, hinter die Zuschauer:innen blicken, dabei nicht die einer Fernsehserie, wie es in Sorkins anderen drei Serienschöpfungen der Fall ist. Stattdessen sehen Zuschauer:innen hier hinter die Kulissen der politischen Bühne. Der in The West Wing porträtierte Arbeitsplatz ist das Weiße Haus in Washington D.C., die Protagonist:innen der Serie sind die engsten Berater:innen um den US-amerikanischen Präsidenten und die Plots der Serie kombinieren interpersonale mit politischen Konflikten. Die Verbindung der Serie zur Politik Amerikas besteht dabei nicht nur in der Diegese: Während der Laufzeit von The West Wing arbeiteten ehemalige Mitarbeiter:innen aus dem Weißen Haus als Berater:innen für die Drehbuchautor:innen; Schauspieler:innen der Serie wurden während Bill Clintons Amtszeit ins Weiße Haus eingeladen und wurden sowohl bei den Präsidentschaftswahlen 2000 als auch im Wahlkampf der Demokratischen Partei 2012 aktiv.7 Martin Sheen, der den Präsidenten in The West Wing verkörpert, setzte sich für Barack Obamas Medicare-Initiative ein;8 für den Wahlkampf der Schwester von Schauspielerin Mary McCormack warben eine Auswahl von »The West Wing«-Alumni; und zur Wahl 2020 kam die gesamte Originalbesetzung der Serie zur Unterstützung der »When We All Vote«Initiative zusammen. Diese Verschmelzung von fiktiven Figuren und tatsächlich politischem Personal lässt sich auf den enormen Erfolg der Serie, gerade im Bereich linksliberaler Zuschauer:innen zurückführen, in deren Kreisen die Figuren aus The West Wing zum Teil bis heute als idealisierte Politiker:innen angesehen werden.9 Neben zahlreichen Auszeichnungen für einzelne Darsteller:innen

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Rothöhler, Simon: The West Wing, Zürich: diaphanes 2012, S. 38. Pompper, Donnalyn: »The West Wing. White House Narratives The Journalism Cannot Tell«, in: Peter C.Rollins/John E. O’Connor (Hg.), The West Wing. The American Presidency as Television Drama, Syracuse, NY: Syracuse University Press 2003, S. 17–31, hier S. 24. Lörke, Melanie: »›What’s Next?‹ The West Wing als positive Gegenwelt«, in: Claudia Lillge et al. (Hg.), Die neue amerikanische Fernsehserie. Von Twin Peaks bis Mad Men, Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 229–252, hier S. 243. Zur Präsidentschaftswahl 2000 waren Umfragen beliebt, die neben den realweltlichen Kandidaten Al Gore und George W. Bush auch Jed Bartlet, den fiktiven Präsidenten aus The West Wing, mit ins Rennen schickten; bis heute verfassen demokratische Wähler:innen Rückschauen wie diese zum »Rewatching The West Wing in the Age

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

sowie das Produktionsteam gewann die Serie an sich drei Television Critics Association Awards, zwei Peabody Awards sowie vier Mal in Folge den Emmy für die Beste Serie in der Kategorie Drama – wobei sie u.a. Seriengrößen wie The Sopranos ausstach. Neben diesem Auszeichnungserfolg erreichten auch gerade die frühen Staffeln der Serie hohe Einschaltquoten, die allen Vorurteilen gegen Serien mit explizit politischem Setting und Inhalt widersprachen.10 Während ihrer Laufzeit wurde die Serie dabei nicht nur von Publikum und Kritik hoch gelobt, sondern ihre Annäherung an realpolitische Probleme auch gerade von Politikwissenschaftler:innen und Journalist:innen breit diskutiert. Eine Standardfolge von The West Wing etabliert mindestens drei parallel verlaufende, meist nicht zu gleichen Teilen gewichtete Handlungsstränge rund um den Präsidenten Jed Bartlet, dessen Stabschef, Pressesprecherin, Kommunikationsdirektor und weitere Assistent:innen sowie gelegentlich die Familie des Präsidenten, die im Laufe der Folge thematisch – man könnte auch sagen: ideologisch – miteinander verknüpft werden. Internationale Konflikte müssen entschärft, innenpolitische Verbesserungen angestoßen und politische Gegner:innen überlistet werden. Die beteiligten Protagonist:innen der jeweiligen Handlungsstränge lernen dabei häufig parallel funktionierende Lektionen oder inspirieren sich gegenseitig zu Meinungs- oder Strategiewechseln. So tragen Entwicklungen oder Erkenntnisse aus dem B- oder C-Plot der jeweiligen Folge häufig zur entscheidenden Aktion im A-Plot der Folge bei.11 Schauplatz der Handlung sind dabei, abgesehen von gelegentlichen Außenaufnahmen, in erster Linie die labyrinthartigen Gänge, welche die Büros im Weißen Haus miteinander verbinden und ideale Kulissen für die Sorkins Stil charakterisierenden walk-and-talks12 der Figuren bieten.

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of Trump«, vgl. https://www.criticsatlarge.ca/2017/05/rewatching-west-wing-trump.h tml (zuletzt aufgerufen am 18.05.2023). Vgl. Parry-Giles, Trevor/Parry-Giles, Shawn J.: The Prime-Time Presidency. The West Wing and U.S. Nationalism, Urbana und Chicago: University of Illinois Press 2006, S. 12; Dyson, Stephen Benedict: Imagining Politics. Interpretations in Political Science and Political Television, Ann Arbor: University of Michigan Press 2019, S. 21. T. Parry-Giles/Sh. Parry-Giles: The Prime-Time Presidency, S. 10. »Even if unrelated, subplots may frame major plotlines and offer cues and clarity about the primary plot of an episode, sometimes complicating narratives through their constructed interrelationships. Thus, a drama frame will often bolster the ideological meaning of a particular narrative.« Walk-and-talks sind Besprechungen, die stattfinden, während sich die Figuren in Bewegung befinden. In The West Wing werden diese Dialoge meist zusätzlich dadurch verkompliziert, dass während der Szene Figuren hinzukommen oder ausgetauscht

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In sechs der sieben Staffeln von The West Wing lässt sich eine Folge finden, die Weihnachten thematisiert: Staffel 1, Folge 10 In Excelsis Deo; S2F10 Noël; S3F10 Bartlet for America; S4F11 Holy Night; S5F9 Abu el Banat; S6F9 Impact Winter. Insbesondere in den ersten vier Staffeln, die noch von Aaron Sorkin und Regisseur Thomas Schlamme geleitet wurden, fällt diesen Folgen eine besondere Rolle zu, die im späteren Verlauf der Serie immer schwächer wird. Die titelgebende Hochzeit von S7F9 The Wedding findet so zwar ebenfalls an Weihnachten statt, aber inhaltlich thematisiert wird das Datum nicht – daher wird diese Folge hier aus der Reihe der Weihnachtsfolgen ausgeklammert. Das zentrale Element der Weihnachtsfolgen von The West Wing ist stets ein Krisennarrativ, wobei sich auch hier die für die Serie typische Verknüpfung unterschiedlicher Handlungsstränge zu einem Thema beobachten lässt: In der Folge In Excelsis Deo treffen eine Rekordzahl unterschiedlicher Plotstränge aufeinander, die jedoch zu einem großen Teil Fragen der Verantwortung thematisieren. In Noël geht es um Trauma und die Frage, wie die Vergangenheit die Gegenwart belastet. In Bartlet for America steht um Weihnachten die langjährige Freundschaft zweier Figuren im Vordergrund und mit ihr der Ausweg aus der Krise durch das Annehmen von Hilfe. In Holy Night werden erneut ganz unterschiedliche Handlungsstränge miteinander verwoben, die allesamt das Thema Schuld umkreisen und mit ihm Konfliktbewältigungen durch Vergebung bzw. Sühne andenken. In Abu el Banat werden durch eine Konfrontation des Präsidenten mit seiner Familie die Setzung von Prioritäten ausgehandelt, und das explizit vor dem Hintergrund von Krankheit und Tod. In Impact Winter reist der Präsident zu einem wichtigen Staatsbesuch nach China und erleidet auf dem Weg dahin einen akuten Anfall seiner Multiple-Sklerose-Erkrankung. Die Folge kreist hier sowie in einer der Nebenhandlungen, in der die NASA meldet, dass ein Asteroid auf die Erde zustürzt, um das Thema Machtlosigkeit. Alle sechs Weihnachtsfolgen von The West Wing machen dabei die die Serie charakterisierende Romantisierung der idealistischen Handlungsweisen ihrer Protagonist:innen explizit. Um dies genauer zu analysieren, wird im Folgenden zunächst die Weihnachtsfolge der ersten Staffel und deren Darstellung einer im Widerspruch mit sich selbst lebenden Nation genauer betrachtet.

werden. So kollidieren häufig die zentralen Handlungsstränge einer Folge in einem walk-and-talk, auf dem bspw. die Pressesekretärin von drei bis vier anderen Figuren nacheinander darüber informiert wird, welche Informationen sie an die Presse herausgeben kann. Diese informations- und bewegungsreichen Szenen tragen zu einem großen Teil zu der gefühlten Atemlosigkeit des Sorkin’schen Dialogstils bei.

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

In Excelsis Deo – Krisendarstellung durch Kontraste Ein Extrembeispiel für die »West Wing«-typische Verflechtung mehrerer Handlungsstränge und Krisennarrative findet sich in In Excelsis Deo: Im B-Plot der Folge sind Informationen über die Alkohol- und Drogenvergangenheit des Stabschefs des Präsidenten, Leo McGarry (John Spencer), in die Hände der politischen Opposition geraten und drohen nun in der Öffentlichkeit gegen ihn verwendet zu werden. Der Assistent des Stabschefs, Josh Lyman (Bradley Whitford), will seinen direkten Vorgesetzten und sein berufliches Vorbild beschützen. Daher versucht Josh, die Namen der Republikaner im Kundenregister einer ihm bekannten Prostituierten zu erfahren, um einen Präventivschlag gegen die Opposition durchführen zu können. Damit hofft er, Leo vor dem Karriereende zu bewahren. Leo und andere Figuren müssen Josh im Verlauf der Folge wiederholt daran erinnern, dass ›ihre Seite‹ nicht mit derartigen Mitteln kämpft. Dieser Plotstrang kombiniert so die private Krise Leos (Konsequenzen seiner Abhängigkeit) mit der moralischen und durchaus politischen (Verhaltens-)Krise Joshs, wobei letztere eindeutig stärker fokussiert wird. So diskutiert In Excelsis Deo die Verantwortung, die Menschen mit Idealen dazu anspornt, aber auch dazu zwingt, sich ihren Idealen gemäß zu verhalten: »All I’m saying is, we don’t do these things«,13 erklärt Leo und wiederholt am Ende der Folge: »It’s not what we do.« (33:39-33:34) Die Prostituierte fordert Josh derweil auf: »You’re the good guys. You should act like it.« (32:00-32:07) Im C-Plot der Folge argumentieren Präsident Bartlet und seine Pressesprecherin, C.J. Cregg (Allison Janney), über neue Gesetze gegen Hasskriminalität. Der Anlass für ihre Debatte ist der Tod eines homosexuellen Highschoolschülers, der von seinen 13-jährigen Mitschülern verprügelt, gefesselt und mit Steinen beworfen wurde. Die Folge verarbeitet hier den realweltlichen Fall um Matthew Shepard, dessen Ermordung in den USA zur Aufstellung des Matthew Shepard and James Byrd Jr. Hate Crimes Prevention Act führte.14 Die Verantwortung des Staates gegenüber Schutzbedürftigen,

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In Excelsis Deo, The West Wing Staffel 1, Folge 10, R: Alex Graves, D: Aaron Sorkin und Rick Cleveland, NBC, Erstausstrahlung 15.12.1999, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 07:06-07:10 (im Folgenden nur durch Angabe des Timecodes zitiert). Smith, Greg M.: »The Left Takes Back the Flag. The Steadicam, the Snippet, and the Song in The West Wing’s ›In Excelsis Deo‹«, in: Rollins/O’Connor, The West Wing, S. 125–135, hier S. 126.

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die durch die Krise (den Tod des Schülers) politisch aktuell geworden ist, spielt dabei nicht nur in der Diskussion von Präsident Bartlet und C.J., sondern auch im Hauptplotstrang der Folge eine zentrale Rolle. Das A-Plot der Folge kreist um Toby Ziegler (Richard Schiff), den Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses, der von der Polizei kontaktiert und in die National Mall, einen Park im Herzen Washington D.C.s gerufen wird. Dort verstarb in der Nacht auf den 23. Dezember, dem ersten Tag der Folge, der obdachlose Walter Hufnagel. Toby wird an den Tatort beordert, weil der Tote einen von ihm gespendeten Mantel trägt, in dessen Innentasche sich eine Visitenkarte Tobys befand. Diese Sachlage kann schnell aufgeklärt werden und die Polizei lässt Toby gehen, doch der erkennt noch ein Tattoo des Toten, das diesen als Veteranen auszeichnet. In der National Mall, zwischen Kriegsdenkmälern und den Statuen der Gründungsväter der Nation, erfriert eine Nacht vor Weihnachten ein Veteran, den die Nation im Stich gelassen hat. Für den Polizisten am Tatort ist dies ein Fall wie viele andere, doch Toby lässt das Schicksal des Toten, in das der Zufall ihn verwickelt hat, nicht mehr los. Er beginnt dem Büro für Veteran Affairs hinterher zu telefonieren und wird dabei von seiner eigentlichen Arbeit eingeholt, die aufgrund des Datums darin besteht, die Kostüme der Weihnachtsfeier im Weißen Haus abzusegnen: Mandy: (knocking on Toby’s office door) Are you busy? Toby: (pacing, a telephone in hand) I’m holding. Mandy: What’s going on? Toby: A homeless Korean War vet died of exposure in the Mall last night. I don’t know if his family has been contacted, I don’t know what kind of burial … Mandy: How do you know him? Toby: I don’t. Mandy: Hm. Then what does it matter to … Toby: Don’t worry about it. What do you need? Mandy: This might seem trivial under the circumstances … Toby: (sighs) What? Mandy: The Santa hats do clash with the Dickensian costumes. Toby: (pauses) It might seem trivial? (08:50-09:17) Der Trivialität der mit Weihnachten einhergehenden Elemente, wie die Kostümierung in Weihnachtsmannmützen, wird hier die tragische, aber alltägliche Illoyalität der USA gegenüber ihren Veteranen entgegengesetzt. Mit Toby und Mandy (Moira Kelly) sind in dieser Szene zwei hochqualifizierte Personen, die

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

beide wichtige Funktionen im Weißen Haus ausüben, damit beschäftigt, Kostüme aufeinander abzustimmen. Gleichzeitig zeigt sich niemand dafür zuständig, die Beerdigung Walter Hufnagels zu organisieren. Diese von ihm als ungerecht empfundene Situation bringt den Idealisten Toby dazu, auf eigene Faust nach den Verwandten des Verstorbenen zu suchen. In der Nacht auf den 24. Dezember findet Toby den ebenfalls obdachlosen Bruder Walter Hufnagels auf den Straßen Washingtons, gibt ihm erst sein gesamtes Bargeld und verspricht ihm dann, eine Beerdigung für Walter zu organisieren. Toby übernimmt in In Excelsis Deo als Privatmensch somit in vielfältiger Hinsicht die Verantwortung, die eigentlich dem Staat obliegt. Parallel zu Toby ist auch Mrs. Landingham (Kathryn Joosten), die Hauptsekretärin des Präsidenten, in dieser Folge nicht in Weihnachtsstimmung: In einer Nebenhandlung erzählt die mittlerweile alte Frau vom Schicksal ihrer Zwillingssöhne, die beide vor ihrem Einzug ins Militär Ärzte waren und Weihnachten 1970 im Kriegseinsatz gestorben sind. In der letzten Szene wird Toby von Mrs. Landingham ins Gespräch mit dem Präsidenten gerufen, weil Toby dessen Namen benutzt hat, um die kurzfristige Bestattung Walter Hufnagels zu organisieren, die zudem als Ehrenbestattung auf dem Veteranenfriedhof stattfinden soll. »Did you use the president’s name to arrange a military funeral for a homeless veteran?«, fragt Mrs. Landingham Toby. »You shouldn’t have done that«, ermahnt sie ihn und wiederholt dies noch einmal: »You absolutely shouldn’t have done that.« (37:25-37:32) Und dennoch ist es Mrs. Landingham, die Toby nach seinem Gespräch mit Präsident Bartlet bittet, ihn auf die Beerdigung begleiten zu dürfen. Ab dem Moment, in dem Mrs. Landingham Toby mütterlich maßregelt und ihm zugleich moralisch Recht gibt, beginnt ein Jungenchor in langen roten Roben in der Lobby des Weißen Hauses das Weihnachtslied The Little Drummer Boy zu singen. Während im Hintergrund die ersten Strophen über den armen Jungen gesungen werden, der zu Jesus’ Geburt reist und ihm dort als einziges seine Musik als Geschenk geben kann, treffen Präsident Bartlet und Toby in der letzten Dialogszene der Folge zusammen: Bartlet: What’s going on? Toby: A homeless man died last night, a Korean War veteran who was wearing a coat I gave to the Goodwill. It had my card in it … Bartlet: Toby, you’re not responsible … Toby: An hour and twenty minutes for the ambulance to get there, a lance

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corporal, United States Marines Corps, Second of the Seventh. I got better treatment at Panmunjom. Bartlet: Toby, if we start pulling strings like this, you don’t think every homeless veteran will come out of the woodwork? Toby: I can only hope, sir. (38:36-39:02) Ähnlich wie die Konfrontation mit Mrs. Landingham endet auch diese Szene damit, dass der Präsident Toby zwar maßregelt, ihm letztlich aber stolz (und väterlich) die Schulter drückt. Die Aussage beider Interaktionen ist dieselbe: Als Staatsdiener hat Toby die Macht seines und des Amtes des Präsidenten missbraucht, aber als Person mit Idealen hat er das ihm einzig Mögliche getan, um eine Krise zu lösen. Einem Weihnachtswunder gleich hat der Zufall (die Visitenkarte) Toby an einen Ort geführt, an dem er helfen konnte. Aber wie die Folge durch das Gespräch mit Mandy (»what does it matter to [you]«) und mit dem Präsidenten (»you’re not responsible«) mehrfach deutlich macht, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Toby geholfen hat. Weder seine Jobbeschreibung noch seine Staatsangehörigkeit verpflichteten ihn zu seiner Tat. Seine moralische Überzeugung allein ist es, die ihn in dieser Krise aktiv werden lässt. Und wie die Folge zeigt, ist auch dieser rührende Moment schnell wieder vorbei: Präsident Bartlet wird sogleich wieder zu seinen Verpflichtungen gerufen. Und während der Präsident sowie der Rest der Protagonist:innen kurz in ihrer Arbeit innehält, um dem Auftritt des Chores zuzusehen, fahren Toby, Mrs. Landingham und Walter Hufnagels Bruder auf den Friedhof, wo eine Ehrengarde Salutschüsse abfeuert und die Flagge der Vereinigten Staaten über dem Sarg des toten Veteranen zusammengefaltet wird. Die Montage-Sequenz am Ende der Folge präsentiert durch die Gleichzeitigkeit beider Momente eine Fülle an bittersüßen Parallelen und Kontrastpunkten: Der Kontrast zwischen dem warmen, weihnachtlichen Kerzenlicht, in dem sich die Mitarbeiter im Weißen Haus nacheinander wie Superhelden in einer Reihe aufstellen, und dem kühlen, bläulichen Licht draußen, in dem die Soldaten der Ehrengarde aufgereiht stehen; die schmerzhafte Parallele zwischen dem Chor aus präpubertären Jungen in ihren uniformen Roben und den ›großen Jungs‹ in ihren Militäruniformen, welche noch durch die Parallele zwischen den Trommeln in The Little Drummer Boy und den Blechtrommeln der Soldaten verstärkt wird; und letztlich der Kontrast zwischen dem Lächeln auf den

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Gesichtern derjenigen, die dem Chor zuhören, und den Tränen bzw. der Anspannung im Gesicht der Personen, darunter Mrs. Landingham und Toby, die beide beim Salutschuss auf der Beerdigung zusammenzucken.

Abbildung 1: Links der Kinderchor im Weißen Haus, rechts die Ehrengarde auf dem Veteranenfriedhof.

The West Wing (1999 – 2006), Staffel 1, Folge 10: In Excelsis Deo

Man könnte mit Greg Smith annehmen, dass die Gegenüberstellung der beiden kontrastierenden Momente in der Montage-Sequenz, welche die letzten zwei Minuten der Folge füllt, eine ungebrochen positive Botschaft transportiert: »The intercutting makes the formal point that both groups [die Soldaten auf dem Friedhof und die Angestellten im Weißen Haus, D.S.] are soldiers serving the same higher good: the nation.«15 Und tatsächlich spricht vieles in der ersten Weihnachtsfolge von The West Wing dafür, dass, wie Smith sagt, »the lyrical coda salutes the notion of national service, that people who sacrifice for the nation – in the military or in government – are engaged in a noble endeavor. […] The West Wing links the personal with the political, and it drapes the flag around both.«16 Doch beobachtet man gerade die Flagge, die für Smiths Argument zentral ist, so verweist die Montage zugleich erneut auf eine Bruchstelle in der präsentierten Gleichzeitigkeit: Die über dem Sarg des

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G. Smith: The Left Takes Back the Flag, S. 134. Ebd., S. 135.

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mit Ehren bestatteten Walter Hufnagel zusammengefaltete Flagge wird während der Beerdigung zuerst Toby angeboten; Toby, der gut gekleidete, Autorität repräsentierende Macher, der die Beerdigung arrangiert hat und auf dem auch die Augen der Zuschauer:innen liegen – natürlich wird ihm die Flagge angeboten. Und zum zweiten Mal wird damit in dieser Folge, auch nach Einschreiten eines der Protagonisten und nach den Zusprachen von Mutter- und Vaterfiguren (Mrs. Landingham und Präsident Bartlet), ein Obdachloser erst nachträglich bedacht bzw. überhaupt erst wahrgenommen. Durch die Offenlegung von Bruchstellen wie dieser illustriert In Excelsis Deo die in der amerikanischen Nation selbst existierenden Widersprüche. Im Fokus steht dabei der innere Widerspruch einer Nation, die zugleich mit Stolz auf ihre militärische Übermacht blickt und ihre eigenen Veteranen völlig ignoriert. Verstärkt wird dies durch den Widerspruch zwischen Weihnachtsfeierlichkeiten und Realpolitik. Der Kontrast zwischen der Inszenierung von Weihnachten in den USA – »The Santa hats do clash with the Dickensian costumes« – und der harschen Wirklichkeit – »An hour and twenty minutes for the ambulance to get there« – bleibt bis zum Ende der Folge bestehen. Mit einem letzten Kontrast endet die Folge dann auch: Das letzte Bild, das die Zuschauer:innen sehen, zeigt den Friedhof, nicht die warmen, weihnachtlichen Held:innen im Weißen Haus, sondern die Beerdigung des in der Kälte des amerikanischen Systems erfrorenen Obdachlosen. Der letzte Ton, den die Zuschauer:innen hören, ist jedoch die Auflösung des Kontrasts zwischen Weihnachtslied und Blechtrommeln in wortwörtlicher Harmonie.

Noël – Zum Einsatz von Weihnachtsmusik Musik ist generell ein zentrales Element für die Dramaturgie von The West Wing. Wichtige Momente der Serie, gerade bedeutungsschwere Monologe, können Zuschauer:innen, auch ohne auf die Dialogspur zu achten, kommen sehen, weil die Musik im Hintergrund auf sie in pathetischer Weise vorausdeutet. Und auch in den Montagesequenzen der Serie, durch welche die zahlreichen Figuren des Ensembles und ihre jeweiligen Handlungsstränge einer Folge zusammengebracht werden, sorgt stets die eigens von W.G. Snuffy Walden für die Serie komponierte Instrumentalmusik für eine emotionale Verbindung. Popsongs oder generell Musik mit Gesangselementen ist hingegen nur selten in The West Wing zu hören. Dies liegt zum einen daran, dass Stimmen im Hintergrund die Aufmerksamkeit der Zuschauenden von den ohnehin sehr

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

schnellen, aufmerksamkeitsintensiven Dialogen ablenken würden. In dialoglosen Montagesequenzen würden Gesangselemente ebenfalls von der bewussten Kontrastierung der schnellen Dialoge durch den Einsatz von verbaler Stille, von Wortlosigkeit, ablenken. Ein zweiter Grund für den spärlichen Einsatz von Gesang in The West Wing ist die Tatsache, dass das Skript selbst lyrische Qualität hat und die Funktion von Musik mit erfüllt. Aaron Sorkins Ziel beim Schreiben von Dialogen ist »to imitate the rhythm, tone and pitch of music.«17 Seine Drehbücher funktionieren wie Partituren: Die Regie folgt ihnen durch die Inszenierung von Bewegung ebenso wie die Darsteller:innen, denen Improvisation, zum Beispiel die spontane Auswechslung von Begriffen durch Synonyme, an einem Sorkin-Set schnell ausgetrieben wird. Vor diesem Hintergrund wird es besonders auffällig, dass gerade die Weihnachtsfolgen von The West Wing nicht nur regelmäßig Gesang in die Serie integrieren, sondern diese Gesangselemente auch durch die intradiegetische Anwesenheit der Sänger:innen auf besondere Weise fokussieren. In den Weihnachtsfolgen wird, wie In Excelsis Deo bereits gezeigt hat, die ansonsten im Hintergrund zur Unterstützung der Dialoge auftretende Musik in den Vordergrund der jeweiligen Szene gerückt. Weihnachtsmusik ist das zentrale audiovisuelle Mittel, mit dem die Folgen sowohl ihr kalendarisches Setting ankündigen als auch das storytelling von Dialog und Kameraführung unterstützen. Eine besonders elementare Stellung nimmt Weihnachtsmusik in Noël, der Weihnachtsfolge der zweiten Staffel ein. Anders als der Großteil der »West Wing«-Folgen konzentriert sich Noël auf eine zentrale Figur und deren momentane Krise: Josh Lyman wurde in einer der früheren Folgen während eines Attentatsversuchs auf den Präsidenten angeschossen und lebensgefährlich verwundet. Physisch ist er zum Zeitpunkt von Noël genesen und zurück auf der Arbeit, sein psychisches Trauma ignoriert Josh jedoch bis zum Höhepunkt dieser Folge. Andere Handlungsstränge kommen nur im Hintergrund vor. Der wesentliche Wechsel findet hier nicht zwischen unterschiedlichen Handlungs-, sondern zwischen zeitlichen Ebenen statt. Ausgangspunkt der Folge ist, dass Josh am Weihnachtsabend von seinem Vorgesetzten gezwungen wird, mit einem Therapeuten (Adam Arkin) zu sprechen. In Rückblenden werden seine – teilweise falschen, sein Trauma leugnenden – Aussagen über die

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Crawley, Melissa: Mr. Sorkin Goes to Washington. Shaping the President on Television’s The West Wing, Jefferson, N.C./London: McFarland & Company 2006, S. 75–76.

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Vorweihnachtszeit inszeniert, in der Joshs Trauma erstmals von seinen Kolleg:innen bemerkt wurde und in der Josh sich unter Umständen, die die Folge aufklären wird, seine Hand verletzt hat. Durch diese anachronistische Erzählweise werden den Zuschauer:innen »durch Prolepsen Rätsel aufgegeben, die erst am Ende der Episode gelöst werden«.18 Das Rätsel um Joshs verletzte Hand ist dabei das Schlüsselereignis, dessen Enthüllung zum Eingeständnis von Joshs Trauma führt. Erneut ist es kein Zufall, dass dieses Eingeständnis am Weihnachtsabend erfolgt. Anders als in In Excelsis Deo gibt es hier keinen kältebedingten Tod, welcher die Erkenntnis über die Kälte der amerikanischen Nation auslöst, sondern die Präsenz von Weihnachtsglocken bringt Joshs Kolleg:innen dazu, die Warnglocken zu läuten. Einer der Nebenplots mit Auswirkungen auf Joshs Handlungsstrang ist dabei Tobys Versuch, durch Musik Weihnachtsstimmung im Weißen Haus zu verbreiten. Toby, generell der größte Grinch des Ensembles, erklärt Josh so in der ersten Szene des Rückblicks seine Mission: Toby: (speaking over the sound of an increasingly loud brass quintet) Let me tell you something. For the last two Christmases in this White House, I’ve been accused of not being in the proper spirit. I was called names … Not this year! For the next three weeks, I will be filling this lobby with music, from the morning to the evening, so that we may all experience this season of … (turns to the musicians). Would you people stop playing for one damned minute?! … this season of (sighs) peace and joy.19 Tobys Mission, sein Image als Weihnachtsmuffel zu verbessern, bewirkt, dass die gesamte Folge voller Musik ist – und dass in Noël über zwanzig Musiker:innen auftreten: In der ersten Rückblende in die Vorweihnachtszeit spielt ein Blechblasquartett in der Eingangshalle des Weißen Hauses, später wird dieses von Dudelsackspielern und noch später von einem Oboentrio ersetzt, am Ende der Folge tritt schließlich der weltberühmte Cellist Yo-Yo Ma persönlich auf und gibt auf der Weihnachtsfeier des Präsidenten ein Konzert. In jeder der Szenen, in denen die Protagonist:innen um die Musiker:innen herum ihre walk-and-talks durchführen, ist die Musik dabei etwas zu laut.

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M. Lörke: ›What’s Next?‹, S. 236. Noël, The West Wing Staffel 2, Folge 10, R: Thomas Schlamme, D: Aaron Sorkin, NBC, Erstausstrahlung 13.12.2000, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 06:17-06:40 (im Folgenden nur durch Angabe des Timecodes zitiert).

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Besonders wenn Josh durch die Gänge der Büroräume läuft, hören die Zuschauer:innen die auffallend laute Weihnachtsmusik aus der Halle zu ihm vordringen. Diese Geräuschüberwältigung wird anfangs noch humoristisch inszeniert, wie in der zitierten Passage, in der die Lautstärke Toby dazu bringt, seinen Gedankengang zu unterbrechen. Im Verlauf der Folge geht der Humor jedoch zunehmend verloren und die laute Musik wird durch Joshs physische Reaktionen zunehmend als unangenehm dargestellt. Als die Dudelsackspieler in der Rückblende auftreten, beginnt Joshs Fassade zu bröckeln und der Grund dafür, dass er die Weihnachtsmusik anders als seine Kolleg:innen wahrnimmt, wird von ihm erstmals – unbewusst – benannt. Auf einem walk-and-talk mit Toby versucht Josh diesen davon abzubringen, die Dudelsackspieler weiterhin im Weißen Haus auftreten zu lassen: Josh: They are pretty loud. Toby: The bagpipes? Josh: Yeah. […] These guys can’t play in the lobby. […] Toby, I’m not kidding. Toby: These guys have a fourteen song repertoire … Josh: I can hear the damn sirens all over the building! [Pause. Both stop walking.] Josh: … the bagpipes. Toby: Josh? Josh: (walking away) The bagpipes. They can’t play in the lobby. (18:35-19:07) Die Verwechslung von Sirenen und Dudelsack wird von Josh nach einer kurzen Pause, in der er dem sorgenvollen Blick seines Kollegen ausweicht, korrigiert, aber für den Rest der Folge gelingt es Josh immer weniger, seine traumatischen Erinnerungen zu unterdrücken. Als der Therapeut in der PräsensZeitebene der Folge Josh seine Diagnose verkündet, sind die Zuschauer:innen längst zu derselben Schlussfolgerung wie er gekommen: »You have Post-Traumatic-Stress-Disorder« (30:26-30:30) – das kommt hier wenig überraschend. Im Interview mit den Machern des »West Wing Weekly«-Podcasts, der Schauspieler:innen und Crew über ihre Erlebnisse während der Produktion der Serie reflektieren lässt, kommentiert Bradley Whitford (der Schauspieler, der Josh darstellt) fünfzehn Jahre später die Naivität der Folge und auch der Zeit im Umgang mit posttraumatischen Belastungsstörungen: »The whole idea of PTSD, it almost seems naive the way it is presented in the episode. […]

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As if it was an insight that I had PTSD.«20 Whitford hat mit seiner Feststellung völlig Recht; Trauma und posttraumatische Belastungsstörungen sind in den fünfzehn Jahren seit der Erstausstrahlung von Noël weit stärker ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Was die Folge jedoch trotz der heutzutage vorhersehbaren Diagnose überzeugend darzustellen vermag, ist Joshs Blindheit der eigenen Erkrankung gegenüber. Selbst auf die Diagnose des Therapeuten hin antwortet Josh weiterhin mit Unglauben und Ausflüchten: »Well … That doesn’t really sound like something they let you have if you work for the president. [Pause. Laugh.] Sorry. Can we have it be something else? [Pause.] Seriously, I … I … I think you might be wrong about that.« (30:31-30:49) Zwei weitere Nebenhandlungen der Folge thematisieren ebenfalls die Auswirkungen einer traumatischen Vergangenheit auf die Gegenwart.21 In einer der Rückblenden in die Vorweihnachtszeit hat Josh die Aufgabe, die Personalakten eines Armeepiloten einzusehen. Der Pilot ist während einer militärischen Übung vom geplanten Kurs abgewichen und im Cockpit herrscht Funkstille. Präsident Bartlet muss daher kurzfristig entscheiden, ob der Pilot absichtlich agiert, ohnmächtig ist oder das Flugzeug einen Schaden hat und – letztlich – ob das Flugzeug in der Luft abgeschossen wird oder nicht. Joshs Aufgabe in dieser Notsituation ist es, sich in den Personalakten des Piloten über seine psychische Gesundheit zu informieren. Bei Einsicht der Akten stellt Josh fest, dass der Pilot dasselbe Geburtsdatum hat wie er und dass er – zweite Parallele – ebenfalls in einem vorherigen Einsatz angeschossen wurde. Die Notlage endet letztlich, bevor der Präsident eine Entscheidung treffen kann: Der Pilot fliegt sein Flugzeug in einen Berg und verstirbt, vor seinem Tod schickt er einen einzigen Funkspruch zur Zentrale: »It wasn’t the plane.« (16:55-17:00) Während alle anderen im Weißen Haus nach dieser Tragödie erneut ihre Arbeit aufgreifen, lässt Josh der Suizid des Piloten nicht los. Tage später noch

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Bradley Whitford im »West Wing Weekly«-Podcast, Folge 2.10 »Noël«, 30.11.2016, http:/ /thewestwingweekly.com/episodes/210 (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023). Der Handlungsstrang um C.J. Cregg, mit dem Josh als einziges in der Folge nicht direkt in Berührung kommt, dreht sich um eine Besucherin im Weißen Haus, die während einer Tour beim Anblick eines Gemäldes emotional wurde. C.J. findet im Verlauf der Folge heraus, dass das Gemälde ursprünglich der Familie der Besucherin gehörte: Ihr Vater war ein jüdischer Sammler in Nazi-Deutschland, dem das Gemälde enteignet wurde. Das Ende des Handlungsstrangs sieht die Besucherin mit dem Gemälde wiedervereinigt.

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konfrontiert er eine seiner Kolleginnen und verlangt mehr Informationen über die Sachlage: Josh: Why has there been no new information [about the pilot]? C.J.: Because there’s no new information. Josh: (scoffs) Okay. C.J.: There isn’t. Josh: You accept that? C.J.: Yeah. Josh: A perfectly healthy air force pilot kills himself and nobody’s asking why? C.J.: A lot of people are asking why, we just don’t know why, except that he obviously wasn’t perfectly healthy any more. Josh: Alright. […] I need information. (20:32-21:09) Auf der Suche nach einer Erklärung wird Josh immer gereizter, er streitet sich zunehmend mit Kolleg:innen, ignoriert die Bitten seiner Sekretärin, beim Konzert von Yo-Yo Ma anwesend sein zu dürfen, und wird selbst dem Präsidenten gegenüber aggressiv. Seine Hand verletzt er schließlich selbst – in einer letzten Parallele zu dem selbstzerstörerischen Akt des Piloten –, nachdem die Musik im Weihnachtskonzert Josh dazu bringt, seine traumatischen Erinnerungen erneut zu durchleben. In die Montage von Cello-Konzert und Therapiesitzung, in der Josh sein Erlebnis rekonstruiert, werden Szenen aus der vorherigen Folge hineingeschnitten.22 Gemeinsam mit Josh erleben die Zuschauer:innen so den Attentatsversuch, bei dem er angeschossen wurde, ein zweites Mal, und dieses Mal wird aus Joshs Perspektive deutlich, wie für ihn Musik und Sirenen ineinander übergehen. Diese Montage ist die zentrale Szene der Folge, hier werden die durch das anachronistische Erzählen aufgegebenen Rätsel von Noël gelöst: Die Weihnachtsmusik in der Folge ist deshalb zu laut, zu dominant, weil Josh ihr nicht entgehen kann. Für ihn klingen das Blechblasquartett und die Dudelsackund Oboenspieler und Yo-Yo Ma mit seinem Cello wie die Sirenen von Polizei und Krankenwagen. Die Weihnachtsmusik, der er aufgrund der Jahreszeit und der erneuten Überinszenierung der »season of peace and joy«, wie Toby sagt, nicht entgehen kann, transportieren Josh an den Tag zurück, an dem 22

Für mehr Kontext zur Funktion der Rückblende, s. Gradinari, Irina/Niehaus, Michael: »Flashback im Film. Ästhetik – Theorie – Formen«, in: dies. (Hg.), Filmisches Erinnern. Zur Ästhetik und Funktion der Rückblende, Dortmund: redbox unipress 2020, S. 7–30.

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er angeschossen wurde und beinahe gestorben wäre. Nach dieser Rätsellösenden Montage, welche die Vergangenheits- sowie die Präsens-Ebene (die Therapiesitzung) abschließt, fehlt nur noch eine Perspektive auf die Zukunft. Josh selbst fordert diese von seinem Therapeuten ein: Josh: Hang on. What happens if tomorrow some pilot with my birthday decides to kill himself? Therapeut: No, that wasn’t what started it. Josh: What started it? […] Therapeut: The brass quintet. Josh: Why would the music have started it? Therapeut: Well, I know it’s gonna to sound like I’m telling you that two plus two equals a bushel of potatoes. But at this moment, in your head, music is the same thing as … Josh: … as sirens. Therapeut: Yeah. [Pause.] Josh: So that’s gonna be my reaction anytime I hear music? Therapeut: No. Josh: Why not? Therapeut: Because … we get better. (36:38-37:34) Die Simplizität dieser Krisenbewältigung wird im Anschluss an das Gespräch mit dem Therapeuten noch einmal infrage gestellt. Denn die Folge endet nicht mit der naiven Idee des »we get better« und auch nicht mit dem darauf folgenden Hilfsangebot von Joshs Vorgesetztem. Der Süße beider Aussagen wird in der allerletzten Szene der Folge noch eine leicht bittere Note entgegen gesetzt. Joshs Sekretärin bringt ihn am Ende der Folge ins Krankenhaus, um seine verletzte Hand professionell verbinden zu lassen, und auf dem Weg aus dem Weißen Haus begegnen die beiden den letzten physisch anwesenden Musiker:innen der Folge: Vor dem Zaun des Weißen Hauses singt ein Chor Carol of the Bells. Dieser Klassiker für A-capella-Gruppen ist nicht nur eines der Lieder, das gänzlich mit der für The West Wing typischen Ausblendung von Stimmen in Montageszenen bricht, es ist durch seinen versetzten Stimmkanon auch eines der wohl hektischsten Weihnachtslieder. Das im Lied durch einander überlagernde Stimmen imitierte »Ding Dong« wird in Noël noch durch Glocken in den Händen der Sänger:innen verdoppelt. Dieses Läuten der Weihnachtsglo-

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

cken wird im ursprünglichen Liedtext wiederholt als »joyful«23 bezeichnet, als Erinnerung an Zuhörende, dass mit Weihnachten eine sorgenfreie Zeit anbricht, aber mit Josh zusammen hören die Zuschauer:innen von Noël im Läuten der Glocken nun auch etwas bedrohliches. »From ev’rywhere, filling the air; Oh, how they pound, raising the sound«,24 singt der Chor während die Kamera über die Gesichter der Sänger:innen schwenkt und dann zurück zu Josh gleitet, der in Erinnerungen versunken erscheint.

Abbildung 2: Der Chor vor dem Weißen Haus, die letzte Einstellung der Folge.

The West Wing (1999 – 2006), Staffel 2, Folge 10: Noël

Während seine Sekretärin ihn am Arm greift, atmet Josh ein letztes Mal tief durch, dann verlassen beide Protagonist:innen die Szene und zurück bleiben einzig der Chor und das Weiße Haus dahinter. Zeitgleich mit Joshs Abgang werden die Stimmen der Sänger:innen aus- und das Heulen von Sirenen eingeblendet. Sie werden lauter und lauter und lösen zu Beginn des Abspanns schließlich die Weihnachtsmusik gänzlich ab. Tobys Versuch, »the season of peace and joy« zu feiern, wird von Joshs Trauma überdeckt.

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Vgl. den Liedtext auf bspw. Genius: https://genius.com/Christmas-songs-carol-of-thebells-lyrics (zuletzt aufgerufen am 28.05.2023). Ebd.

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Idealismus und Aufopferungsbereitschaft – Zum Ethos der Serie Das Ende von Noël ist keine Ausnahme für die Weihnachtsfolgen von The West Wing. Wie bereits beschrieben, endet die Weihnachtsfolge der ersten Staffel mit dem Gegenschnitt der Beerdigung des Veteranen und dem Auftritt des Kinderchores im Weißen Haus. Die Weihnachtsfolge der vierten Staffel, die um das Thema Schuld und Vergebung kreist, endet ebenfalls mit dem Auftritt eines Chores, der im Weißen Haus Oh Holy Night singt, und einer Montage, die von einem seit Jahrzehnten zum ersten Mal versöhnten Vater-Sohn-Duo (Toby und sein Vater), zu einem seit Jahren im Einklang arbeitenden Chef-VizeDuo (Josh und Leo) und dem isolierten, schuldbeladenen Präsidenten im Oval Office überleitet. In der fünften Staffel, in der die Familie des Präsidenten und dessen Prioritätensetzung, die Wahl zwischen Arbeitszeit und Zeit mit der Familie, thematisiert werden, sind es Präsident Bartlets Töchter, die vereint einem Chor lauschen, der What Child is This singt. Die Pressesprecherin telefoniert derweil mit dem Pflegepersonal ihres kranken Vaters, den sie aufgrund ihrer Arbeit selbst an Weihnachten nicht besuchen kann. Die Kombination von Montage und Weihnachtsmusik ist so ein zentraler Bestandteil der Hälfte aller »West Wing«-Weihnachtsfolgen. Sie ist das geeignete Mittel, um die Ambivalenzen der Plots, aber auch das ambivalente Weihnachtsgefühl der jeweiligen Folge zusammenzubringen und die Zuschauenden aufzufordern, sich ihre eigenen Gedanken zu dem Gesehenen zu machen. Was diese Montagen neben der Weitergabe der Urteilssprechung über das in der jeweiligen Folge fokussierte Thema – Verantwortung, Trauma, Schuld und Prioritätensetzung – zum Ausdruck bringen, ist dabei zeitgleich auch wieder und wieder das (Arbeits-)Ethos der Serie. Nicht nur die Folge, in der die Wahl zwischen Familien- und Arbeitszeit direkt thematisiert wird, zeigt den Automatismus in der Entscheidung, welche die Protagonist:innen von The West Wing tagtäglich treffen. Ihnen bleibt gerade an Weihnachten keine Zeit für Besinnlichkeit. Von Urlaubs- und Essensplänen wird zwar gelegentlich gesprochen, gezeigt werden diese Momente aber nie. Die Arbeit im Weißen Haus stoppt nicht, weil es Weihnachten wird. »Go back to work«, weist Leo seine beiden Untergebenen in der ersten Staffel an, nachdem diese versucht haben, seine Karriere zu retten. »It’s Christmas Eve!«, beschwert sich einer der beiden kurz, doch Leo entgegnet sofort spöttisch: »The country isn’t open on Christmas Eve?« (In Excelsis Deo, 33:56-34:03) In derselben Folge bekommt Präsident Bartlet die Nachricht, dass der aufgrund seiner Homosexualität von Mitschülern attackierte Junge gestorben ist,

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während Bartlet gerade eine Klasse jüngerer Kinder im Weißen Haus begrüßt. Er bricht den Termin nicht ab, sondern atmet tief durch und geht zurück zu den Schulkindern, die er mit Scherzen unterhält. »Then he goes back to entertaining them«, kommentiert Richard Schiff (der Schauspieler, der Toby darstellt) diese Szene im »West Wing Weekly«-Podcast: »He goes back and it’s one of a recurring theme of The West Wing, which is no matter what happens, you gotta go back. You gotta keep working. […] [B]ecause no matter what, you gotta keep going, you’re still the President of the United States.«25 Die Überzeugung, dass schlichtweg weitergearbeitet werden muss, dass die Arbeit nicht getan ist, durchzieht die gesamte Serie. Deutlich wird dies zum Beispiel in dem für die Serie charakteristischen Ausspruch »What’s next?«, der zum ersten Mal am Ende der Pilotfolge von Bartlet geäußert wird. Hier ruft der Präsident die Frage seiner Sekretärin, die im Vorzimmer sitzt, zu, nachdem alle anderen Anliegen der Folge von ihm abgearbeitet wurden und die anderen Figuren das Oval Office verlassen haben. Mit Lösung sämtlicher der in 40 Minuten zuvor etablierten Probleme kehrt keine Ruhe ins Weiße Haus ein, die Folge endet nicht mit einem zufriedenen Blick des Präsidenten, stattdessen geht Bartlet an seinen Schreibtisch und seine Sekretärin kommt mit einer langen Liste von neuen Anliegen ins Zimmer. »What’s next?« kommt im Verlauf der sieben Staffeln The West Wing immer wieder vor und wird von zahlreichen Figuren aufgegriffen: Als Josh, nachdem er lebensgefährlich angeschossen wurde, aus dem Koma erwacht, fragt er den sorgenvoll über ihn gebeugten Präsidenten »What’s next?«; und als am Ende der letzten Staffel ein neuer Präsident ins Weiße Haus einzieht, fragt er hinter demselben Schreibtisch, hinter dem in der ersten Folge Bartlet stand, seinen Stabschef »What’s next?«. Die Frage signalisiert somit zugleich »das serielle Prinzip potenziell unendlicher Fortsetzbarkeit«,26 wie Melanie Lörke argumentiert, und die Unendlichkeit der Krisen, mit denen der Präsident – und mit ihm sein Mitarbeiter:innenstab – tagtäglich konfrontiert wird. Damit dient »What’s next?« der Serie selbst als Motto. Das aus der Feststellung, dass die Arbeit kein Ende hat, gefolgerte Ethos von The West Wing zeigt sich in besonderer Weise in den Weihnachtsfolgen. Die ersten beiden wurden hier bereits ausführlich analysiert, aber auch

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Richard Schiff im »West Wing Weekly«-Podcast, Folge 1.10 »In Excelsis Deo« vom 25.05.2016, http://thewestwing weekly.com/episodes/110 (zuletzt aufgerufen am 29.05.2023). M. Lörke: ›What’s Next?‹, S. 229.

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die anderen vier Weihnachtsfolgen haben Szenen, in denen die häufig unausgesprochene Grundüberzeugung der Serie explizit gemacht wird: Gerade weil die Flut von Krisen kein Ende hat, ist die einzig moralische Handlung, sich ihr zu stellen und weiter zu arbeiten. In der dritten Staffel kommt es zu einem humoristischen Austausch zwischen Bartlet und seinem Stabschef Leo, in dem der Präsident seinen besten Freund erinnern muss, dass es Weihnachten ist. »I forgot. And you don’t work then, right?«,27 spottet Leo daraufhin. In der Weihnachtsfolge der vierten Staffel sitzen Leo und sein Stellvertreter Josh am Telefon und versuchen, israelische und palästinensische Politiker:innen so lange zu beschwichtigen, dass Reparaturarbeiten an der Geburtskirche in Bethlehem durchgeführt werden können. »It’s four years later«, klagt Leo und bezieht sich damit auf die bisherige Amtszeit des Präsidenten. »And there are things that are worse and things that are exactly the same. Where do you start?« »By fixing a roof?«, schlägt Josh vor, der sich damit der unlösbaren Aufgabe stellt, Frieden im Nahen Osten zu stiften – zumindest bis das Dach der Kirche repariert ist. »I’m staying on the phones, you wanna stay with me?«28 In der fünften Staffel sitzen der Präsident und seine Frau, nachdem das gemeinsame Weihnachtsessen mit der ganzen Familie wieder und wieder verschoben werden musste, alleine am Esstisch. »Last Christmas, Ellie wasn’t around. The year before it was Tennessee and the calls to Belarus. I can’t remember when it was just the five of us and weather and everybody in their slippers«, beschwert sich der Präsident. »We don’t do that«, antwortet seine Frau. »I was on call three straight Christmas’ Eves when Ellie was little. We’ve never been Currier & Ives.«29 In der sechsten Staffel hat der Präsident einen MS-Anfall und NASA meldet einen Asteroiden, der auf die Erde zustürzt. Josh, der im Weißen Haus aktuell der ranghöchste Mitarbeiter ist, macht sich derweil Sorgen, dass keiner der demokratischen Kandidaten, die nach dem Präsidenten zur Wahl antreten, den republikanischen Kandidaten schlagen kann. Den Vorschlag seines 27

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Bartlet for America, The West Wing Staffel 3, Folge 10, R: Thomas Schlamme, D: Aaron Sorkin, NBC, Erstausstrahlung 12.12.2001, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 04:36-04:38. Holy Night, The West Wing Staffel 4, Folge 11, R: Thomas Schlamme, D: Aaron Sorkin, NBC, Erstausstrahlung 11.12.2002, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 41:27-41:44. Abu el Banat, The West Wing Staffel 5, Folge 9, R: Lesli Linka Glatter, D: Debora Cahn, NBC, Erstausstrahlung 03.12.2003, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 37:29-37:50.

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

ehemaligen Chefs und Mentors, Leo, eigenhändig einen besseren Kandidaten zu rekrutieren, weist er ab: »I can’t pick up and leave the White House to go run a campaign for some dark horse I pulled out of a corn field«, erklärt er Leo. »The President can’t move his legs. NASA is wondering if the next ice age starts on Tuesday. I gotta stay here. Finish what I started.« Und Leo, mit dem Blick über die Amtszeit des aktuellen Präsidenten hinaus, antwortet: »It doesn’t finish, Josh. It keeps going.«30 Dass der von Josh ausgewählte neue Präsident am Ende der letzten Staffel Bartlets »What’s next?« übernimmt, zementiert somit nicht nur sein Recht, dessen Erbe anzutreten, sondern auch die Fortsetzung der Grundeinstellung der Protagonist:innen über die Laufzeit der Serie hinaus. Eine neue Administration mag am Ende der letzten Staffel ins Weiße Haus eingezogen sein, aber ihre Ideale sind dieselben geblieben. Selbst die allerletzte Einstellung der Serie betont das Ethos noch ein letztes Mal: Während der neue Präsident im Oval Office mit der Arbeit beginnt, fliegt Präsident Bartlet mit seiner Frau nach Hause. Im Flugzeug fragt sie ihn, worüber er nachdenke, und seine Antwort lautet »Tomorrow.«31 Selbst am Ende der letzten Folge von The West Wing ist der Blick somit immer noch »ins Morgen und in die Zukunft gewandt.«32 Nahezu jede Folge von The West Wing zeigt die weit über simple Überstunden hinausgehende und von der Serie idealisierte und romantisierte Aufopferungsbereitschaft der Protagonist:innen für ihren Job. »These characters aren’t human beings – they’re noble soldiers in a noble cause, and they have been washed clean of every impurity because of it«,33 so kritisiert ein Rezensent aus dem Jahr 2000 die Figuren der Serie. Der Edelmut der Protagonist:innen, gerade ihre Selbstlosigkeit in dem notorisch narzisstischen Berufsfeld der Politik, ist eines der wohl am wenigsten realistischen und damit am häufigsten kritisierten Elemente von The West Wing.34 Zwischen 30 31

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Impact Winter, The West Wing Staffel 6, Folge 9, R: Lesli Linka Glatter, D: Debora Cahn, NBC, Erstausstrahlung 15.12.2004, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 24:16-24:52. Tomorrow, The West Wing Staffel 7, Folge 22, R: Christopher Misiano, D: John Wells, NBC, Erstausstrahlung 14.05.2006, DVD Warner Bros. Entertainment 2009, 40:3340:35. M. Lörke: ›What’s Next?‹, S. 231. Podhoretz, John: »The Liberal Imagination, (Reprint eines Artikels in The Weekly Standard Review, März 2000)«, in: Rollins/O’Connor, The West Wing, S. 222–231, hier S. 223. Vgl. ebenfalls »Apparently, in Sorkin’s vision of the White House, staff members are selfless; their dedication to their own achievement is second to their commitment to a common cause.« Ezell, Pamela: »The Sincere Sorkin White House, or, the Impor-

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Macht und Pflicht entscheiden sich die Protagonist:innen der Serie stets für ihre Pflicht35  – und nicht nur sie: Aus den Reihen der politischen Gegner:innen der Regierung werden wiederholt Figuren ins Rampenlicht gerückt, deren Selbstverständnis dem Ethos der Serie entspricht. Die republikanische Anwältin Ainsley Hayes beginnt in der zweiten Staffel für das demokratische Weiße Haus zu arbeiten, der republikanische Berater Cliff Calley hält den Protagonist:innen in der dritten Staffel mehrmals juristisch den Rücken frei und arbeitet ab der sechsten Staffel ebenfalls für das demokratische Weiße Haus und Senator Arnold Vinick, der im Wahlkampf in der sechsten und siebten Staffel gegen den demokratischen Präsidentschaftskandidaten antritt, nimmt nach seiner Niederlage sogar einen Job in der neuen Administration an. Kurzum, auch politische Gegner:innen werden »in die politische Heterotopie aus Intellekt und Aufopferungsbereitschaft integrier[t]«.36 Der Idealismus der Serie ist daher weniger in der Politik zu verorten, welche die Figuren machen, als in der Art und Weise, wie sie dabei vorgehen: »The overriding narrative of the Bartlet administration is about pursuing a course of action for a noble cause. It is about selfless politics. It is about giving the audience faith that the men and women who work in the White House are good people trying to do the right thing.«37 Die »Tugend des Einzelnen«38 mündet hier in eine Art »collective heroism«39 und überkommt damit zwar nicht alle Übel der Welt – dass die Bartlet Administration in ihren acht Jahren tatsächlich politisch viel ›geschafft‹ hat, ist am Ende der Serie höchst zweifelhaft –, aber tut in jedem Fall ihr Bestes, alles nur Menschenmögliche.

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tance of Seeming Earnest«, in: Rollins/O’Connor, The West Wing, S. 159–174, hier S. 167. Melanie Lörke stimmt zu: »Der Anspruch der Serie, eine positive Gegenwelt zur politischen Realität zu konstruieren, ist ein Hauptanlass für Skepsis. In der Kritik und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden Gutmenschentum und idealistisches Gegenbild zu den Clinton- und Bush-Jahren kritisch gesehen: Die Serie scheint an der Verarbeitung realer Probleme zu scheitern.« M. Lörke: ›What’s Next?‹, S. 236f. S. dazu auch: »The West Wing argues […] that power and duty must be firmly tied to one another and that power must be subordinate to duty.« Paxton, Nathan A.: »Virtue from Vice. Duty, Power, and The West Wing«, in: Fahy (Hg.), Considering Aaron Sorkin, S. 147–177, hier S. 166. M. Lörke: ›What’s Next?‹, S. 237. M. Crawley: Mr. Sorkin Goes to Washington, S. 81. S. Rothöhler: The West Wing, S. 39. T. Parry-Giles/Sh. Parry-Giles: The Prime-Time Presidency, S. 32.

Dana Steglich: Weihnachten im Weißen Haus

Weihnachten wird vor diesem Hintergrund daher weder zum Anlass für Entlastung noch zum Symbol für Harmonie, sondern lediglich zu einem zusätzlichen Punkt auf der to do-Liste des niemals endenden Arbeitsalltags: Der Präsident und sein Stabschef müssen neben ihren üblichen Aufgaben an Weihnachten Grußkarten aus dem Weißen Haus verschicken, Josh muss das Besorgen von Geschenken an seine Sekretärin delegieren, Toby muss, um gegen sein Grinch-Image vorzugehen, zusätzlich zu seinen sonstigen Verpflichtungen Weihnachtskostüme und musikalische Auftritte koordinieren. Gleichzeitig ist es gerade die mit Weihnachten eng verknüpfte Konfrontation mit den eigenen (oder auch nationalen und kulturellen) Idealen,40 welche die über die Sphäre des Politischen hinausgehenden Überzeugungen der Figuren zu Tage bringt: Nach seinen Bemühungen um die Ehrenbestattung des Veteranen in der ersten Staffel kann Toby sein gutes Herz nicht länger hinter einem mürrischen Gesichtsausdruck verstecken. In der vierten Staffel vergibt Toby an Weihnachten, kurz bevor er selbst Vater wird, seinem eigenen Vater. Josh beginnt in der zweiten Staffel an Weihnachten sein Trauma zu verarbeiten und tritt am Ende der sechsten Weihnachtsfolge das Erbe seines großen Vorbilds Leo an, indem er persönlich Bartlets Nachfolger zur Kandidatur auffordert. In der dritten Staffel bedankt sich Präsident Bartlet ausgerechnet in der Weihnachtsfolge bei Leo dafür, dass dieser ihn einst ermuntert hat, zu kandidieren; in der fünften Staffel beginnt der seit Jahren an MS leidende Bartlet an Weihnachten seinen Tod zu akzeptieren und in der sechsten Staffel erkennt Bartlet an Weihnachten auch endlich an, dass seine Tage im Amt ein Ende haben werden. Weihnachten ist für die Figuren von The West Wing so zwar kein Urlaub, aber zumindest ein kurzes Innehalten, ein Reflexionsmoment, für die Dauer eines Liedes, einer Montage-Sequenz, dann geht ihre Arbeit weiter. Die Weihnachtsfolgen der Serie bringen damit nicht nur den Kontrast zwischen dem besinnlichen, heiteren Schein des Festes und der harten Arbeit an politischen Verbesserungen zum Ausdruck, sie zementieren auch wieder und wieder die 40

»Christmas remains the most important holiday on our nation’s calendar […]. The holiday continues as always to cross the fluid boundaries between the realms of the sacred, secular, and profane. Sooner or later, on television or in church, its arrival brings individuals and culture into direct confrontation with ideals. It causes us to examine relationships with our families, our community, and our faith. At Christmastide, we must, directly or even by omission, set our priorities, establish our tolerances, and square our hopes with reality.« Restad, Penne L.: Christmas in America. A History, New York/Oxford: Oxford University Press 1995, S. 172.

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Reflexion des Seriellen

Botschaft der Serie: dass, obwohl – oder gerade weil – die Welt voller Krisen ist, gute Menschen nicht aufgeben dürfen, zu versuchen, diese zu bewältigen.

Weihnachten im Slapstick Michael Niehaus

Vorbemerkung Unter Slapstick ist im Folgenden genauer die auf Slapstick-Elementen basierende, vor allem in den USA beheimatete Stummfilmkomödie zu verstehen, deren Format bis zum Aufkommen des Tonfilms vor allem der Kurzfilm war.1 Bis in die späten 1920er Jahre hinein waren Slapstick-Komödien in Amerika – im Paratext meist als farce comedy ausgewiesen – das beliebteste Genre im Kino. Die meisten der in großer Zahl produzierten Slapstick-Filme sind allerdings nicht erhalten. Slapstick ist laut Simon Born nicht nur »die erste und ureigenste Form der Filmkomik«,2 Slapstick ist auch der erste Modus, in dem das Kino ›volkstümlich‹ ist. Slapstick ist zunächst einmal Komik, die am menschlichen Körper orientiert ist. Man hat den »Körper in Schwierigkeiten« als die »Essenz des Slapsticks« bezeichnet.3 Freilich ist ein Körper in Schwierigkeiten nicht immer komisch, und komische Körper in Schwierigkeiten gibt es nicht nur im Stummfilm-Slapstick. Insofern ist Slapstick ein universales Phänomen.4 Darauf, dass die Wurzeln des modernen Slapsticks neben Variété, Zirkus und Vaudeville in

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Die dominierende Form war, nachdem sich die Filmrolle als Standard durchgesetzt hatte (vgl. Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München: edition text & kritik 2002, S. 111), zunächst der one-reeler (Filme im Umfang einer Filmrolle und einer Spielzeit von 10 bis 12 Minuten) oder kürzer, dann – ab etwa 1914 – der two-reeler (mit einer Spielzeit von 20 bis 24 Minuten). Born, Simon: »Komödie«, in: Marcus Stiglegger (Hg.), Handbuch Filmgenre, Stuttgart: Springer VS 2020, S. 557–591, hier S. 570. Ebd. Vgl. Malakaj, Ervin/Lyons, Alena E. (Hg.): Slapstick: An Interdisciplinary Companion, Berlin/Boston: De Gruyter 2021.

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der Commedia dell’ Arte liegen, verweist schon das Wort (so nannte man nämlich die Holzstöcke, mit denen dort die Schläge zwischen den sich prügelnden Darstellern akustisch untermalt wurden). Und es versteht sich von selbst, dass Slapstick-Elemente auch nach dem Ende der eigentlichen Slapstick-Ära Filme fast aller Filmgenres bevölkern können (solange in den Filmen Körper gezeigt werden).5 Ein Slapstick-Film, der sich dem Weihnachtsfest zuwendet, wird es mehr oder weniger zwangsläufig zerlegen. Das Weihnachtsfest hat in der abendländischen Moderne keinen Bezug zur Komik und erst recht kein Verhältnis zur bloßen Körperlichkeit. Andererseits ist der Slapstick-Film als wesentlicher Bestandteil der Populärkultur des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts nicht in dem Sinne subversiv, dass er das gemeinschaftliche Weihnachtsfest mit seinen Ritualen irgendwie außer Kraft setzen wollte. Es verwundert daher nicht, dass das Weihnachtsfest ein eher seltenes Sujet im Slapstick-Film ist, während es schon im ganz frühen Film mehr oder weniger rührende Weihnachtsfilmdramen gibt, die das Weihnachtsfest affirmieren. Hier eine Auswahl: Schon 1901 erfolgt mit Scrooge, or Marley’s Ghost (GB 1901, R: Walter R. Booth) die erste Verfilmung von A Christmas Carol von Charles Dickens. In Le Noël du chemineau (FR 1911, R: Camille de Morlhon) bricht ein entkräfteter Landstreicher in der Weihnachtsnacht in eine reiche Stadtvilla ein, landet im Weihnachtszimmer, wird von der erwachten frommen Tochter für den Weihnachtsmann gehalten, sodass er ganz gerührt, obwohl zunächst mit Messer mordbereit, am Ende wieder unverrichteter Dinge verschwindet. In dem verschollenen Film A Counterfeit Santa Claus (USA 1912, R: Hardee Kirkland) entschließt sich ein verzweifelter arbeitsloser Familienvater schweren Herzens dazu, in der Weihnachtsnacht bei einer reichen Familie einzubrechen, wird dann von deren Kindern, weil er der Versuchung, sich als Weihnachtsmann zu verkleiden, nicht widerstehen konnte, ebenfalls für den Weihnachtsmann höchstpersönlich gehalten, darauf vom Familienvater gestellt, schließlich jedoch mit Geschenken für die arme Familie sowie mit einem Jobangebot für sich selbst entlassen. In The Bad Man’s Christmas

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Interessanter Weise sind Slapstick-Elemente im Film nicht auf Genres des Komischen beschränkt; gerade die Betonung des Körperlichen (jenseits von Sprache) macht es möglich, solche Elemente in jedes beliebige Genre (aus welchen Gründen auch immer) als einen Fremdkörper einzuführen. Dies spielt auch für die Frage, welche Bedeutung Slapstick in einem Weihnachtsfilm – also außerhalb des Slapsticks – haben kann, eine wichtige Rolle.

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

Gift (USA 1910, R: Gilbert M. Anderson), einem Weihnachtswestern, möchte ein als Santa Claus verkleideter Mann beim Weihnachtsfest der Cowboys seinen glücklicheren Kontrahenten in der Liebe umbringen, bringt es aber wegen der feierlichen Atmosphäre nicht übers Herz, und schließlich wird ihm, obzwar seine bösen Absichten entlarvt werden, verziehen. In L’Ange de Noel (FR 1905, R: George Méliès) droht eine Familie mit kranker Mutter am Weihnachtsabend in der kargen Dachkammer zu erfrieren; die Tochter, die in der Kälte um Almosen gebettelt hat und überall abgewiesen wurde, bleibt im Schnee liegen; da erscheint ein motorgetriebener Schlitten mit reichen Leuten und sammelt sie auf, während dem verzweifelten Vater in der Dachkammer der titelgebende Engel erscheint; kurz darauf geht die Tür auf und es gibt Speis und Trank und reiche Geschenke. So endet der Film in der für die USA und Großbritannien gedrehten Variante; das französische Ende lässt das Mädchen erfrieren, worauf sie vom Weihnachtsengel in den Himmel gebracht wird.6 Alle diese ›unkomischen‹ Kurzfilme spitzen, wie man sieht, das Weihnachtsfest auf verschiedene Weise – aber stets sehr zügig – auf ein Moment der Krise zu, die so oder so ausgehen kann. Als umso signifikanter dürfen die farce comedies gelten, die sich des Weihnachtsfestes gleichwohl annehmen. Sie tun es, indem sie jeweils einen Bestandteil aus diesem Motivkomplex herausgreifen. Das heißt: Es wird nicht die Geschichte der Begehung eines Weihnachtsfestes erzählt, und es wird auch nicht eine Geschichte erzählt, in der dem Weihnachtsfest eine tiefere Bedeutung zugeschrieben wird, sondern ein Bestandteil des Weihnachtsfestes wird sozusagen pars pro toto zerlegt. Am einfachsten geht das, wenn dieser Bestandteil wirklich ein Gegenstand ist. Das ist der Weihnachtsbaum.

Einige Weihnachtsbaum-Zerlegungen In Big Business (USA 1929, R: James W. Home, Leo McCarey) geraten Stan Laurel und Oliver Hardy bei ihren erfolglosen Versuchen, Weihnachtsbäume in einem Wohngebiet in Kalifornien an den Mann zu bringen, an einen hartnäckigen Kaufunwilligen, gespielt von James Finlayson. Der Versuch, ihm gleichwohl einen Weihnachtsbaum aufzudrängen, führt zu einer der schönsten Eskalationen der Filmgeschichte, in deren Verlauf nicht nur die Weihnachtsbäu6

Vgl. Ezra, Elizabeth: Georges Méliès, Manchester: Manchester University Press 2000, S. 61f.

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me, sondern auch das Model T von Laurel und Hardy und das adrette Einfamilienhaus ihres Gegners Zug um Zug (und unter zunehmender Anteilnahme eines gaffenden Publikums) der Zerlegung zum Opfer fallen. Als alles kaputt ist, schreitet der Hüter des Gesetzes (der zuvor nur alles in sein Notizbuch eingetragen hat) endlich ein und fragt streng, wer angefangen hat. Die eine wie die andere Partei bricht bei ihrer Darstellung der Geschehnisse in Tränen aus, der Polizist wird von Rührung übermannt, die Gaffer zücken ihre Taschentücher. Die große Versöhnung gipfelt darin, dass Stan seinem Kontrahenten eine Zigarre überreicht: »Merry Christmas«. Aber der Weihnachtsfest-Ersatz fällt dann doch aus. Stan und Ollie haben die Rührung nur simuliert und lachen sich eins, der Polizist ist empört und verfolgt die beiden. In der mit Weihnachtswünschen überreichten Zigarre befand sich ein kleiner Sprengsatz. An die Stelle des Weihnachtsfestes können eine Zerstörungsorgie und diabolisches Ausnutzen sentimentaler Befindlichkeiten treten, weil es nicht das Weihnachtsfest selbst ist, das zerlegt wird. Bis zum Fest könnte alles noch gut werden. Wie alle Weihnachtsfilme befasst sich auch der Slapstick in erster Linie mit den Vorbereitungen zum Fest. Nur wird der Schwerpunkt auf die profane Seite gelegt (nicht auf die freudige Erwartung oder gar die innere Einkehr). Dabei spielt der Weihnachtsbaum eine besondere Rolle. Denn der Weihnachtsbaum steht einerseits pars pro toto für das Fest, ist aber andererseits ein materielles Ding, an dem sich der Slapstick vergreifen kann, ohne das Weihnachtsfest selbst – das ja immer zugleich als immateriell aufgefasst werden muss – in unmittelbare Mitleidenschaft zu ziehen. Deshalb gibt es das Phänomen der Weihnachtsbaum-Anarchie in der farce comedy, die das folgerichtige Gegenstück ist zur heiligen Scheu, mit welcher der Weihnachtsbaum in den nichtkomischen Weihnachtsfilmen bedacht wird. Ein extremes Beispiel für die Weihnachtsbaum-Anarchie liefert der Film Il Natale di Cretinetti aus dem Jahr 1909, zu Deutsch: Cretinettis Weihnachten (ITA 1909, R: N.N., D: André Deed). Cretinetti (abgeleitet offensichtlich von »Kretin«) ist der nom de guerre des französischen Schauspielers André Deed in seiner italienischen Periode. Der Film – er ist kaum 6 Minuten lang – folgt dem Muster der französischen Filmkomik vor dem Ersten Weltkrieg, die teilweise einen stark anarchischen, d.h. destruktiven Einschlag hatte. Zu Beginn sieht man, wie Cretinetti im großbürgerlichen Salon von seiner Frau mit einem kaum handhabbaren Stapel Weihnachtspost beladen wird. Nachdem er seine schwierige und zeitraubende Aufgabe am Briefkasten auf Kosten eines aufgebrachten Menschenauflaufs erledigt hat, begibt er sich

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

zum Weihnachtsbaumverkäufer. Den kleinen, handlichen Weihnachtsbaum lehnt er ab – stattdessen will er einen überdimensionierten Baum, mit dem er dann verschiedene Verwüstungen anrichtet, die erste bei einem Abstecher in ein Bierlokal, wo er sämtliche Tische abräumt und sich eine Horde von Verfolgern zuzieht.

Abbildung 1: Cretinetti mit vollständig entnadeltem Weihnachtsbaum vor seinem zusammengebrochenen Haus inmitten seiner Verfolger und seiner Gäste.

Cretinettis Weihnachten (1909)

Derweil – Parallelmontage! – treffen die ersten großbürgerlichen Gäste bei ihm zuhause ein. Während die den Weihnachtsbaumträger verfolgende Meute durch dessen immer neue Zerstörungen wächst, nimmt auch die Zahl der geladenen Gäste bedenklich zu. Weihnachten wird in diesem Film als ein Fest des Übermaßes konzipiert: zu viel Weihnachtspost, zu viele Gäste, zu großer Weihnachtsbaum. Letzterer wird durch die Ereignisse natürlich zunehmend in Mitleidenschaft gezogen. Als dann auch noch vier Polizisten von Cretinetti umgerannt werden und sich an seine Fersen heften, gelangt der Film auf die Zielgerade. Vor seinem Haus angekommen, präsentiert Cretinetti stolz seinen kümmerlichen Baum-Rest wie eine Trophäe und wendet sich zur Tür. Drinnen ist man noch ahnungslos. Da konfundieren Innen und

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Außen. Das gesamte Haus bricht beim Versuch, es mit dem Weihnachtsbaum zusammen zu betreten, in sich zusammen: Es bedurfte offenbar nur noch dieses rudimentären Weihnachtbaums, um es zum Einsturz zu bringen. Es konfundieren auch die Meute von der Straße und die feine Versammlung im Salon. An seiner Trophäe (gewissermaßen dem gerupften Symbolon) hält Cretinetti gleichwohl unerschrocken bzw. starrköpfig fest. Zusammengefasst: Die Weihnachtsbaum-Anarchie vereitelt das Fest, bevor es beginnt. Das Fest missrät nicht, sondern es fällt aus. Il Natale di Cretinetti nimmt Weihnachten in Form einer Groteske ins Visier. Diese frontale Zerlegung ist aber die Ausnahme. Im amerikanischen Slapstick vollzieht sich die Zerlegung eher en passant. Das Thema ist ein anderes. Der Film His New Mamma aus dem Jahr 1924 mit Harry Langdon in der Hauptrolle (USA, R: Roy Del Ruth) spielt nur im ersten Drittel seiner etwas mehr als 15 Minuten Laufzeit im vorweihnachtlichen Ambiente. Wir befinden uns in einem trauten ländlichen Heim mitten im Schnee, in dem es allerdings mangels guter Isolierung recht unwirtlich zugeht. Harry ist der Sohn des Hauses, ein »farmer boy«, wie die Credits ausweisen. Auch werden wir vorab informiert, dass der rauschebärtige Vater dem milchgesichtigen Sohn zu Weihnachten eine neue Mama spendiert (die es in Wahrheit natürlich nur auf das Geld des Alten abgesehen hat). Das interessiert den Sohn am Vorweihnachtsabend aber nicht. Der ist vielmehr »too excited«, um Schlaf zu finden und schleicht sich in die Stube, die von einem nach allen Regeln der Kunst geschmückten Weihnachtsbaum dominiert wird. Der Weihnachtsbaum hat Ausmaße, die für das bescheidene Farmgebäude mit reduzierter Bewohnerzahl gänzlich unpassend sind (und für die Kadrierung auch: er passt gar nicht in toto auf die Leinwand). Ein solcher Weihnachtsbaum bedarf eindeutig einer Villa mit Kinderschar. Derart deplatzierte und aufgeblasene Symbole sind wie in Il Natale di Cretinetti ein sicheres Indiz dafür, dass es mit ihnen nicht gut ausgehen wird. Entscheidend für das Verständnis dieser Sequenz ist der Schauspieler Harry Langdon. Langdon stieß erst 1923 zum Film, wo er bald für einige Jahre zum Star wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits knapp vierzig Jahre alt. Er spielte jedoch nicht nur viel jüngere Männer, sondern jüngere Männer, die Milchbuben sind, und zwar Milchbuben, deren Mimik und Gebaren etwas Larvenhaftes an sich haben. Kurz gesagt: Ihm eignet etwas Axolotlhaftes, das allen seinen Filmen eine abgründige Dimension verleiht. Wie ein Milchbube verhält sich der »farmer boy« auch im Weihnachtszimmer. An den Kamin heftet er einen längeren Wollstrumpf, in dem mehr Platz für Geschenke ist, und versieht

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

ihn mit einer vorbereiteten »note for Santa«. Die Regression verdient auch aus strukturellen Gründen Aufmerksamkeit. Entgegen dem, was man heute denken mag, ist Slapstick eben kein Kinderkino, sondern Erwachsenenkino. Es kommen auch selten Kinder in Slapstickfilmen vor (Filme wie The Kid (1921) von Chaplin sind eine große Ausnahme). Das nimmt nicht wunder, der Platz der Kinder ist gewissermaßen von den männlichen Erwachsenen besetzt, deren Tun und Gebaren ja kindlicher und kindischer Art ist. Dies ist es, was Langdons Filme in einer extremen Variante konzeptualisieren. Hier ist der »farmer boy« so kindlich schreckhaft, dass er sich von einem Luftballon, der sich durch einen Luftzug vom Weihnachtsbaum gelöst hat, aus der Fassung bringen lässt. Der Vater wacht auf, wähnt den Sohn im Einverständnis mit der jungen »new Mamma« im Nebenzimmer (schließlich sind Axolotls geschlechtsreif), und nimmt die Verfolgung auf – einmal durch den Schnee und wieder zurück. Dann wird der Weihnachtsbaum mehrfach umrundet – freilich nicht wie ein goldenes Kalb, sondern als bloßes Ding, das im Weg steht. Am Ende verfängt sich der väterliche Rauschebart in dessen Zweigen und der Baum geht zu Boden. Noch nicht einmal in der Horizontalen passt er ganz ins Bild. Es ist also der Vater, welcher der Weihnachtsillusion en passant den dinglichen Todesstoß verpasst. Weihnachten entfällt auch hier: Die Episode endet damit, dass der Vater den Sohn auf immer und ewig verstößt. Der wird freilich im weiteren Verlauf des Films seine »Mamma« am sonnigen Strand im Kalifornien wiedersehen – mit einem anderen Heiratskandidaten. Zum Abschluss der Beispiele für Weihnachtsbaum-Anarchien ein Film, dessen Attacke auf das Fest recht besehen schon das Blasphemische streift. Derlei geschieht freilich wiederum nicht in den USA, sondern in Europa. Der Held ist erneut Cretinetti (alias Gribouille – so lautet sein Name im Französischen). Das Weihnachtsfest lag André Deed offenbar besonders am Herzen. Unter seiner Regie entstand im Jahr 1910 ein weiterer Weihnachtsfilm. Dessen Titel lautet auf Deutsch: Wie es kam, dass die Gier Cretinettis Weihnachtsfest ruinierte (Come fu che l’ingordigia rovinò il Natale a Cretinetti). Cretinetti ist hier aber nicht wie im Film zuvor ein Herr aus großbürgerlichen Verhältnissen, sondern ein Bub aus großbürgerlichen Verhältnissen: der verhätschelte Sohn eines schon etwas ältlichen Ehepaars. Auch André Deed mimt also ein Kind. Und was für eins! Wie in His New Mamma steht das Fest unmittelbar bevor, und die liebenden Eltern erklären dem Sohnemann in seinem Kinderzimmer, dass seine Schuhe nun zwecks Geschenkbefüllung in den Salon gestellt werden. Dann geht es ins Bett. Aber auch der kleine Cretinetti ist »too excited« und findet keinen ruhigen Schlaf.

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Also schleicht er sich in den Salon, wo der Weihnachtsbaum auf ihn wartet. Anders als der »farmer boy« hat Cretinetti aber keinerlei Scheu vor dem Baum. Vielmehr macht er sich über die Süßigkeiten her, die als Schmuck daran hängen, und stopft sie sich schließlich völlig haltlos in den Mund. Eine weitere Version der Weihnachtsbaum-Anarchie: Hier fungiert der Weihnachtsbaum als Beute, die gleichsam ausgeweidet wird. Denn hernach schleift der böse Bube, der nur seinen Genuss im Sinn hat, den Baum in sein Zimmer, erntet ihn ganz ab und zerstört Nichtessbares wie ebenfalls anhängendes Kinderspielzeug. Ermattet und überfüllt schläft er neben dem Baum ein. Aber nun sehen wir, was er träumt: Der Weihnachtsmann erscheint höchstpersönlich, zieht ihn an den Ohren, zaubert ihm seinen Matrosenanzug auf den Leib, und auf geht’s in den Himmel, wo anscheinend über seinen Fall verhandelt werden soll. Der Himmel gleicht allerdings der Spielzeugabteilung eines Warenhauses, zuzüglich einer Schar von Engeln. Binnen kurzem richtet Cretinetti jedoch – kaum passt man nicht auf ihn auf – auch hier mittels Einverleibungs- und Destruktionstriebs eine Verwüstung an. Zunächst wird das himmlische Warenhaus zerlegt und dann der ganze Pappmaché-Himmel in Mitleidenschaft gezogen. Die Renitenz Cretinettis auch angesichts höchster Autoritäten kennt keine Grenzen. Erst der Auftritt des »Tout-Puissant« (mit Krummstab) stellt die Ordnung wieder her, und der Junge wird dem herbeizitierten Teufel übergeben. In der Hölle wirft man ihn in einen Riesenkessel mit kochendem Wasser, die Teufelsgehilfen tanzen drum herum und pieksen den Delinquenten hin und wieder mit ihrem Dreizack. Entsprechend perturbiert wacht der Junge wieder auf. Der Rest ist schnell erzählt. Mama und Papa eilen herbei und sehen die ›schöne Bescherung‹ – dass man dieses Wort ebenso für die ruinierte wie für die geglückte Weihnachtsfeier verwenden kann, macht zur Genüge deutlich, dass der für ersteres verantwortliche Slapstick strukturell gesehen als ›Gegensinn‹ in jedem Weihnachtsfest lauert. Der Sohnemann erklärt seinen Traum, der Vater ist aufgebracht und will handgreiflich werden. Da meldet sich anscheinend schweres Bauchgrimmen ob der stattgehabten Gier. Die Mutter besänftigt den Vater und geleitet ihren Sprössling ins Bett. Dort soll er ruhen und ein Abführmittel nehmen, ein »purgatif«, also gewissermaßen das schauderhafte Purgatorium als Durchschnittswert von Himmel und Hölle. Diese letzte Einstellung ist vom Rest des Films deutlich abgesetzt. Es gibt einen Schnitt und Cretinetti alias Gribouille liegt im Bett. Zum ersten Mal sieht man ihn in Nahaufnahme. Und man sieht zum ersten Mal so richtig, dass der Sohnemann ein Mann ist. Er agiert in Richtung Kamera und hat eine Botschaft

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

für uns: Wie schrecklich ist es, ein solches Abführmittel zu nehmen, um das Bauchgrimmen ob der Gier loszuwerden! Wie dumm ist es, das Fest schon vor dem Fest zu begehen, ganz alleine und nur auf unmittelbare Wunscherfüllung bedacht, ohne daran zu denken, dass Weihnachten ein Fest der Gemeinschaft und der Familie ist, auf dessen Höhepunkt man warten können muss! Aber dann dreht Cretinetti alias Gribouille den Topf um 180 Grad und gibt uns lächelnd etwas ganz anderes zu lesen: Gribouille wünscht ein schönes Weihnachtsfest. Ob er sich selbst in diesen Wunsch einschließt? Auf jeden Fall steht das Weihnachtsfest am Ende des Films (mit einer vielleicht schönen Bescherung) noch bevor. Insofern stimmt der Titel des Films vielleicht nicht: Ruiniert ist nur der Weihnachtsbaum, das Fest selbst muss deshalb noch keineswegs ruiniert sein. Denn dieses – so die These, die hier vorgetragen und erhärtet werden soll – entgeht als immaterielles Gebilde allen materiellen Zerlegungen durch den Slapstick.

Abbildung 2+3: Cretinetti alias Gribouille muss ein Abführmittel nehmen und wünscht uns ein frohes Weihnachtsfest.

Wie es kam, dass die Gier Cretinettis Weihnachtsfest ruinierte (1910)

Weihnachtliche Gefühle Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, wie der Slapstick Weihnachten gründlich ruinieren kann. Hierfür ist zum dritten Mal auf André Deed bzw.

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Cretinetti zurückzugreifen.7 Im Jahr 1911 gibt es eine Neuauflage von Il Natale di Cretinetti, diesmal mit dem Untertitel Les Trois Flacons de Gribouille. Diesmal ist Cretinetti wieder ein Herr, der auf eher großem Fuße lebt. Zu Beginn sehen wir ihn, wie er sich eine Unmenge Geschenke (und einen Weihnachtsbaum) auflädt, um damit die bereits versammelte Weihnachtsgesellschaft in einer Stadtvilla zu beglücken. Wieder sind die profanen Tücken der Weihnachtsfestvorbereitung der Ausgangspunkt: Auf dem Weg stößt Cretinetti mit einem anderen Vielbepackten zusammen. Beim Auflesen der zu Boden gefallenen Geschenke kommt es zu einer Vertauschung (auch das ist ein Topos, der erst einmal für den Film entdeckt werden muss). Ein Zwischentitel und eine Großaufnahme informieren uns darüber, was Cretinetti nunmehr im Gepäck hat: ein Fläschchen mit Äther der Angst, ein Fläschchen mit Äther der Fröhlichkeit und ein Fläschchen mit Äther der Wut. Das sind also die Gefühlsingredienzien, die sich der großbürgerlichen Weihnachtsgesellschaft – diesmal wieder eine Veranstaltung ohne Kinder – bemächtigen werden. Beim Eintritt in den großen Salon kommt Cretinetti zu Fall und die drei Flakons zerbrechen. Cretinetti schiebt sie heimlich unter eine Kommode. Aber die Dämpfe treten aus, verbreiten sich nach und nach im ganzen Haus – und, wie man nun exzessiv zu sehen bekommt, neutralisieren sich nicht gegenseitig, sondern stürzen die Gesellschaft der Feiernden in ein wahres Wechselbad der Gefühle. Stellvertretend sei das Verhalten des Priesters herausgegriffen, dessen Rede anfangs noch als weihnachtskonform aufgenommen wird, dann aber völlig aus dem Ruder läuft. Was er da von sich gibt, erfahren wir natürlich nicht, aber auf jeden Fall zücken die Anwesenden ihre Taschentücher, und plötzlich schwenkt der Priester frenetisch eine Fahne. Dann gibt es kein Halten mehr. Die einen beginnen zu tanzen, dem anderen schlottern die Beine, in der Küche lacht man sich erst kaputt, um sich dann ordentlich zu prügeln usw. Auch Neuankömmlinge (ein Postbote, Polizisten)

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Der heute weitestgehend vergessene André Deed (1879–1940) ist nicht irgendwer, sondern (vor Max Linder) der erste Stummfilmstar seines Landes. Er gilt als Begründer der Starkomödie überhaupt, nämlich als der erste Komiker mit Markenzeichen (zunächst in Frankreich als Kunstfigur Boireau, dann für einige Jahre in Italien als Kunstfigur Cretinetti (vgl. Gubern, Roman: »Boireau/Cretinetti, padre del cine cómico«, in: Nosferatu. Revista de cine 4 (1990), S. 46–51)). Deed war übrigens zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei dem Filmpionier Georges Méliès in die Lehre gegangen. Seine Filmkarriere endete mehr oder weniger mit der Vorherrschaft des amerikanischen Slapsticks.

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

werden von dem Wechselbad erfasst, das immer weiter ausgreift und niemanden zur Ruhe kommen lässt. Das Haus, wenn nicht sogar die Welt, gerät aus den Fugen. Der Film setzt das durch ein Ende ins Bild, in dem das Groteske noch einmal gesteigert ist. Der Boden, auf dem das Treiben der Gesellschaft überhandnimmt, beginnt zu schwanken – die Kamera und damit das Haus beginnen immer schneller zu wackeln und dann bricht alles zusammen. An Weihnachten ist also nicht mehr zu denken. Das Wechselbad der Gefühle ist alles andere als weihnachtlich, aber in welchem Verhältnis steht es zu den Gefühlen, die uns an Weihnachten beseelen sollen? Diese werden bekanntlich gerne mit den Worten Einkehr, Ruhe und Harmonie umschrieben. Davon ist hier nichts zu spüren. Das heißt aber nicht, dass das Weihnachtsfest in eine Krise gerät, sondern dass es durch etwas anderes ersetzt wird. Man könnte den kritischen Kommentar, den dieser Film für die Zuschauenden bereithält, in der folgenden materialistischen Frage zusammenfassen: Wenn Weihnachten durch Dämpfe außer Kraft gesetzt werden kann, müsste es dann nicht auch Dämpfe geben, die uns eine weihnachtliche Stimmung ›bescheren‹? Wie müsste eine solche Mixtur beschaffen sein?

Krise und Restitution Was zeigt nun Les Trois Flacons de Gribouille? Zeigt der Film, wie das Weihnachtsfest ruiniert wird oder zeigt er wieder nur, wie das Weihnachtsfest ausfällt, weil etwas ganz anderes an seine Stelle tritt? In gewisser Weise scheint es, dass das Weihnachtsfest selbst eine Bastion ist, die der Slapstick nicht zerlegen kann. Daher seien zum versöhnlichen Abschluss als Gegenstück zwei Filme vorgestellt, denen es um die Restitution des Weihnachtsfestes zu tun ist. Erst in dieser Verbindung zur Restitution kann das Weihnachtsfest als ein Moment der Krise aufgefasst werden. In dem Film mit dem programmatischen Titel There Ain’t no Santa Claus aus dem Jahr 1926 (USA, R: James Parrot) – er ist etwa 24 Minuten lang, also ein typischer »two reeler« – spielt Charley Chase wieder einmal den unverdrossenen Durchschnittsamerikaner, dem andauernd Malheurs passieren. Ort der Handlung ist ein kleinbürgerliches Reihenhaus. Natürlich ist es der Tag vor Weihnachten. Charley muss dem Nachbarn, der zugleich sein Vermieter ist, die Miete vorenthalten, um mit seinen letzten 80 Dollar seiner Frau eine schöne Uhr zu kaufen.

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Es herrscht also Knappheit, und die Knappheit steht für die Krise. Damit ist eine grundlegend andere Voraussetzung geschaffen als bei den bisherigen Slapstick-Weihnachtsfilmen. Denn dort spielte Geld keine Rolle und es gab eine Überfülle an Dingen, die zerlegt oder vertilgt werden konnten. Zwar sind der »farmer boy« sowie Stan und Ollie als Weihnachtsbaumverkäufer nicht wohlhabend, aber die Filme zelebrieren ihre Zerlegungen gleichwohl nicht vor dem Hintergrund einer Mangelsituation, und Summen Geldes werden in keinem der Filme genannt, Verluste nicht beziffert. In There Ain’t no Santa Claus hingegen droht das Weihnachtsfest aus pekuniären Gründen zu misslingen. Der Familienvater will Frau und Töchterchen ein schönes Weihnachtsfest bescheren. Mit Glück hat er seinen Vermieter, der mit Frau und Söhnchen nebenan wohnt, schließlich abgeschüttelt, um mit seinem letzten Geld die Uhr kaufen zu können. Voller Freude radelt er – ein Auto kann er sich nicht leisten – mit seinen Weihnachtseinkäufen vollbepackt zurück nach Hause. Auch ein Weihnachtsbaum ist im Gepäck. Der erleidet bei den slapstickhaften Malheurs auf dem Heimweg schwere Verbrennungen. Doch das spielt ebenso wenig eine Rolle wie die eigene Verrußung. Es kommt nur auf die Uhr für 80 Dollar an, die bei der Bescherung überreicht werden soll. Aber leider bekommt der Vermieter die Uhr in die Hände. Er will nun seine eigene Frau damit beschenken. Jetzt steht dem braven Helden ein schwerer Weihnachtsabend bevor. Darin realisiert sich die Krise (also das, was die Katastrophe als reale Möglichkeit erscheinen lässt). Vorher kommt es aber noch zu allerlei Turbulenzen, da sich sowohl Charley wie auch der Vermieter als Santa Claus verkleiden, um zuhause mit dem Sack voller Geschenke aufwarten zu können. Im Streit um den einzigen SantaClaus-Bart bekommt Charley das Etui mit der Uhr wieder in die Hände, verliert es aber erneut, als sein Sack durch den Kamin in des Nachbarn guter Stube landet. Jetzt ist Bescherung. Hüben und drüben wird ausgepackt. Der Sprössling des Vermieters bekommt unter anderem eine Puppe, die etwa dreijährige Tochter von Charley unter anderem einen Baseballschläger. Die Reaktionen sind entsprechend. Aber nicht das ist die Krise. Die Frau des Vermieters packt die unerwartete Uhr aus und ist begeistert. Die Uhr, das Objekt der Begierde, wird in Großaufnahme gezeigt. Darin zeigt sich eine grundlegende Verschiebung des Weihnachts-Materialismus. In keinem der bisherigen Filme gab es eine Großaufnahme (von den drei Flakons einmal abgesehen). Dinge kamen nicht als Fetische vor, sondern als etwas, was von menschlichen Akteuren zerlegt, umher-

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

geworfen oder verspeist werden konnte. Hier aber wird die Warenform in der Großaufnahme zur Geltung gebracht. Charleys Ehefrau hingegen wird nicht die erwartete Uhr überreicht, und sie reibt sich enttäuscht das nackte Handgelenk. Das ist die Krise. Und dann kommt auch noch die Nachbarin hinüber und paradiert mit ihrer Uhr. Auf die Frage, von wem sie die hätte, antwortet sie »Santa Claus«. Das ist eine performativ kindliche Antwort. Der Filmtitel behauptet ja, dass es keinen Santa Claus gibt, und tatsächlich haben wir die ganze Zeit zwei Ehemänner als Santa Claus gesehen, die sich selbst und gegenseitig in ausführlichen Slapstick-Szenen weidlich demontiert haben. Die (unvollkommene) Santa-Claus-Verkleidung ist hier wie so häufig das eigentlich filmische Sujet. Aber die Restitution, das Ende der Krise, klopft schon an die Tür. Es ist nicht Santa Claus, sondern sein funktionales Äquivalent: der Juwelier, der Charley am Morgen nur eine armselige Ein-Dollar-Uhr eingepackt hatte, weil er der Sache misstraute. Nun kommt die echte Uhr – auch sie wird in Großaufnahme gezeigt, damit man vergleichen kann. Und die Frau des Vermieters hat das Nachsehen.

Abbildung 4+5: Die falsche und die richtige Uhr in Großaufnahme zum Vergleichen.

There ain’t no Santa Claus (1926)

Das ist freilich kein Slapstick mehr. Um das Weihnachtsfest als Krise zur Darstellung zu bringen, muss die Filmkomödie die Gefilde des Slapsticks verlassen und zu einer – auch zeitlichen – Erweiterung schreiten. Der Film wurde entsprechend mit der Genrebezeichnung domestic comedy vermarktet. In there ain’t no Santa Claus gibt es zwei falsche Santa Clauses. Wo falsche Santa Clauses die Bühne betreten (und es gibt ja keine anderen), sind Kin-

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der mit von der Partie. Denn die Figur ist nur dazu da, um Kindern etwas vorzumachen – oder um sich vorzumachen, dass man den Kindern etwas vormachen könne, oder gar – wie die Frau des Vermieters – um so tun zu dürfen, als könne man sich etwas vormachen wie den Kindern. Zwar sind in there ain’t no Santa Claus auch Kinder im Repertoire, aber sie sind vor allem – wenn auch sehr komisch – Alibi und Staffage. Während die Weihnachtsfest-Krise für das Ehepaar überwunden ist, sitzen die Kinder am Ende noch mit ihren verkehrten Geschenken da. Um deren Restitution bekümmert sich der Film nicht mehr. Das zweite Restitutions-Beispiel steht ebenfalls unter dem Zeichen des Mangels – aber es steht darüber hinaus auch im Zeichen der Kinder. Mehr noch: Die Kinder nehmen die Restitution des Weihnachtsfestes selbst in die Hand. Während there ain’t no Santa Claus die farce comedy in Richtung domestic comedy überschreitet, versetzt die Serie Our Gang Slapstick-Elemente in das Genre des Kinderfilms, wobei die Serialität verbürgt, dass auf Dauer die gesamte Vielfalt kindlichen sozialen Lebens und mithin auch die Weihnachtszeit zur Darstellung kommt.8 Die Weihnachts-Episode Good Cheers erschien 1926 (Good Cheers. »Our Gang«-Comedies, USA 1926, R: Robert McGowan). Jetzt ist mal wirklich Winter. Schneegestöber in der Großstadt am Tag vor dem Fest. Wie der Name Our Gang bereits andeutet, stellen die Kinder (im Alter von ca. 3 bis 10 Jahren) eine Bande dar – ein Wir, welches die Familienbande weitestgehend ersetzt. Weihnachten ist hier so wenig ein Familienfest wie in Cretinettis Film mit den drei Flakons in der großbürgerlichen Gesellschaft. Stattdessen sind hier die dort gar nicht vorkommenden Kinder zu Gange – und zwar proletarische Kinder, die im Winter frieren. Die Krise besteht in zweierlei: Erstens in der Desillusionierung hinsichtlich

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Our Gang (auch unter dem Titel Little Rascals bekannt) – in Deutschland unter dem Titel Die kleinen Strolche gesendet – hat den Kinderfilm von Grund auf (vor Disney) reformiert und ist eine der erfolgreichsten Serien der Filmgeschichte. Sie wurde 1922 von Hal Roach konzipiert, lange Jahre in seinem eigenen Studio produziert und schaffte auch den Übergang zum Tonfilm (insgesamt gibt es ca. 220 Folgen). Das Innovative bestand unter anderem darin, dass es sich um eine gemischte Truppe handelt: Jungen und Mädchen verschiedenen Alters, unterschiedlicher sozialer Herkunft und unterschiedlicher Hautfarbe. Was der Serie lange Zeit zugutegehalten wurde, steht freilich in letzter Zeit auch in der Kritik; vgl. Weaver, Heather A.: »Together but unequal: Race and Education in Our Gang«, in: The Journal of American Culture, Bd. 34/2 (2011), S. 332–345.

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

Santa Claus und zweitens in der fehlenden Aussicht auf eine Bescherung mit materiellen Dingen. Gleich zu Anfang muss die Bande, die sich bei der Zaubervorführung in einem Konsumtempel mit einem sich seiner Verkleidung entledigenden Santa Claus draußen am Schaufenster die Nasen plattgedrückt hat, feststellen: »There ain’t no real Santa Claus«. Aber wenig später kommt der mittels farbigem Zwischentitel eingeführte »spirit of Santa Claus« (im Film als durchscheinendes Wesen dargestellt) über die beiden Ältesten der Bande, die sich gerade in einem Verschlag an einem mit Ziegelsteinen umgrenzten Feuerchen wärmen. Der »spirit of Santa Claus« fordert zum Handeln auf, zur Selbsthilfe. Mit heißen Ziegelsteinen kann man in frostigen Zeiten Geld machen. Die beiden Kinder werden also zu Entrepreneuren, sie haben eine Geschäftsidee und agieren als self made men. Auf diese Weise sollen die Weihnachtsmann-Glaubenskrise wie die materielle Krise bekämpft werden. Bald stapft man in der Gegend mit Ziegelsteinen an den Füßen durch die verschneiten Straßen (Hunde nicht ausgenommen). In der Folge entfaltet die ganze Bande eine emsige Tätigkeit, um ein veritables Weihnachtsfest von Kindern für Kinder zuwege zu bringen. Auch die Simulation eines Santa Claus gehört natürlich dazu. Verschiedene Zufälle kommen den Kindern dabei zur Hilfe. Sie führen dazu, dass es am Ende eine Überfülle an Geschenken gibt. Unter anderem lässt ein vor der Polizei fliehender falscher Santa Claus seine Geschenk-Beute in der Wohnung des jüngsten Mitglieds der Bande zurück. Der falsche Santa Claus gehört zu einer ganzen Bande betrügerischer Santa Clauses, deren letzter Fluchtweg ein Kamin ist, durch den sie nacheinander mitsamt ihren gefüllten Säcken der Gang vor die Füße fallen. Hier, wo es um die Machenschaften von Erwachsenen geht, werden also reichlich Slapstick-Elemente mobilisiert. Auf ihrer weiteren Flucht werden die falschen Santa Clauses von den beiden Entrepreneurs mit einem Knüppel ausgeknockt und die Treppe heruntergestoßen, sodass sie im Schnee landen. Und der »spirit of Santa Claus« – den es selbstredend nur einmal geben kann – macht persönlich eine Strichliste. Es gibt nicht nur den american way of life – es gibt auch eine amerikanische Art (vorübergehender) Krisenbewältigung. Jedenfalls in einem solchen Märchen.

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Abbildung 6: Der »spirit of Santa Claus« macht eine Strichliste der erledigten falschen Santa Clauses.

Good Cheers. »Our Gang«-Comedies (1926)

Resümee Das Resümee kann kurz ausfallen. Wie zu sehen (und nicht anders zu erwarten) war, bemächtigt sich der Slapstick, zumal die enge zeitliche Taktung von actio und reactio für ihn konstitutiv ist, lediglich bestimmter materieller Aspekte des Weihnachtsfestes, die sich vor allem im Weihnachtsbaum als einem besonders zerlegbaren Gegenstand verdichten (aber auch Weihnachtspostfluten, Geschenkehäufungen und Santa-Claus-Verkleidungen kommen in Frage). Der Slapstick als filmische Form ist materialistisch. Mit dem spirit of Santa Claus hat er nichts zu schaffen, und auf die vollständige Erzählung eines Weihnachtsfestes lässt er sich nicht ein. Daher ist das Weihnachtsfest ein seltenes Sujet im Stummfilm-Slapstick; viel häufiger ist dieses Sujet in anderen Genres dieser Zeit anzutreffen, in denen es möglich ist, die Erzählung von der Begehung eines Weihnachtsfests mit einem bestimmten Sinn zu versehen. Nur in diesen anderen Genres spitzt sich die Erzählung auch auf eine Krise als jenen Punkt zu, an dem die Katastrophe noch abgewendet werden kann, oder auch nicht. Daher ist der Grenzfall der Les Trois Flacons de Gribouille so instruktiv:

Michael Niehaus: Weihnachten im Slapstick

Zwar endet das Weihnachtsfest hier in der Katastrophe, aber dieser Katastrophe geht eben nicht eine Krise, sondern der Exzess voraus, der gar nicht mehr an Weihnachten denken lässt. Die beiden letzten Beispiele – there ain’t no Santa Claus und Good Cheers –, in denen eine Restitution des Weihnachtsfestes ins Werk gesetzt wird, sind folglich keine Slapstick-Filme mehr. In einer domestic comedy kann ein Weihnachtsfest (mit der Bescherung als Höhepunkt) ebenso zu Ende erzählt werden wie in einem Kinderfilm. Erst hier wird das Krisennarrativ zum entscheidenden Modell: Wird das Weihnachtsfest doch noch ein Erfolg werden? Beide Filme enthalten aber eine ganze Menge an Slapstick-Elementen, die im Übrigen vor allem die Santa-Claus-Kostüme betreffen. Das ist kein Zufall: Weil die Verkleidung als solche gleichsam den materialistischen Anteil am Weihnachtsfest repräsentiert, bietet sie sich – sozusagen im Namen des ›wahren‹ Weihnachtsfestes – in besonderer Weise zur Zerlegung an. Freilich erscheint die profane und profanierbare Verkleidung als ein notwendiges Merkmal: Ist nicht auch der spirit of Santa Claus verkleidet? Im Prinzip ist die Körperkomik, für die der Slapstick steht, mit filmischen Darstellungen des abendländischen Weihnachtsfestes nicht kompatibel. Slapstick steht für ganz andere Formen von Narrativität, unter denen die Logik der Eskalation – wie etwa in Big Business – und die mit ihr verwandte Logik der Verkettung – wie in His new Mamma – einen besonderen Rang einnehmen. Nun ist aber das Weihnachtsfest mit seinen raumgreifenden, zeitaufwändigen und materialintensiven Vorbereitungen in besonderer Weise anfällig für jene Eskalationen und Verkettungen von Malheurs, die durch sie ausgeschlossen werden sollen. Und Weihnachtsfilme können sich diesen Umstand zunutze machen, indem sie mit Slapstick-Elementen operieren, die dann aber doch gebannt oder gehegt werden können.

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»Wir können nicht anders« Der Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats im aktuellen deutschen Film Peter Scheinpflug

Männer können nicht anders, vor allem zu Weihnachten? Doch Herrmann ist nicht der einzige problematische Mann im Ort, wo vier Männer auf eine Frau kommen und man es Frauen wie Edda übelnimmt, wenn sie fortgehen. Da hat sich etwas aufgestaut, bei allen komischen Momenten fängt der Film von Detlef Buck das Bedrückende ein, das sich jetzt ein Ventil sucht und handgreiflich Luft macht. Es gibt Tote, am Ende läuft sogar der Weihnachtsmann Amok.1 Dieses Zitat von Frank Arnold bringt das Hauptthema von Detlef Bucks Wir können nicht anders (D 2020)2 auf den Punkt: Männlichkeit und die gewaltsame Behauptung von Männlichkeit. Dass am Ende ein Amoklauf des Weihnachtsmanns nur so lapidar erwähnt wird, ist zugleich passend und unpas-

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https://www.epd-film.de/tipps/2021/streaming-dvd-tipp-wir-koennen-nicht-anders vom 29.10.2022. Der Film sollte ursprünglich im Kino seine Premiere feiern, die dann jedoch in der Vorweihnachtszeit beim Streaming-Anbieter Netflix stattfand – aufgrund der durch die Corona-Pandemie bedingten Schließung von Kinos in Deutschland. Zwar klingt der Titel, folgt man dem auteur-Code, wie eine Anspielung auf Detlef Bucks Wir können auch anders (D 1993) und teilt sich mit diesem auch den Handlungsort der ostdeutschen Provinz und die Handlungsära der Nachwendezeit sowie die Themen wie Männerbünde, Gewalt und Männlichkeit. Dennoch stellt Wir können nicht anders keine Fortsetzung und kein Remake von Wir können auch anders dar oder bezieht sich irgendwie auf dessen Diegese.

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send: Passend, da der Antagonist des Films, Herrmann,3 am Ende des Films tatsächlich in einem Weihnachtsmann-Mantel im kleinen Dorf Amok läuft, in dem der Film vorrangig spielt. Passend auch, da der Film dies in keiner Weise kommentiert und die Weihnachtsmann-Maskerade auch nicht für Herrmanns mörderische Absichten notwendig zu sein scheint, hat er doch zuvor bereits ohne jede Weihnachtsmann-Maskerade sowohl den Liebhaber seiner Ehefrau als auch seinen eigenen Vater erschossen. Unpassend jedoch, da der Film mit einer Szene beginnt, in der Herrmann und seine Feuerwehrtruppe4 eine menschengroße Weihnachtsmann-Figur in einem von Rentieren gezogenen Schlitten auf dem Dorfplatz errichten. Als dramaturgische und motivische Klammer endet der Film sogar mit eben dieser Szene und zeigt als Schlussbild, wie die gesamte Feuerwehrtruppe 3

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Es handelt sich hier unverkennbar um einen wenig subtilen – zumal der Name im Abspann mit zwei »R« ausgewiesen wird – sprechenden Namen, da Herrmann sich forciert als Mann und Herr(scher) im Dorf gibt. Zudem lässt sich der Name in Bezug setzen zum Hermannmythos, der vom NS-Regime als Nationalmythos aufgegriffen wurde und unter anderem als wichtiges Motiv für Inszenierungen Adolf Hitlers als ›Führer‹ diente. Auch der Protagonist von Wir können nicht anders, der immerhin Juniorprofessor für amerikanische Literatur ist, trägt einen sprechenden Namen, da Sam auf Uncle Sam und damit auf die USA als militärische ›Befreier‹ vom und ›Besatzer‹ nach dem NS-Regime verweist. Der Konflikt zwischen Hermann und Sam lässt sich daher auch als spannungsgeladene Gleichzeitigkeit von einerseits germanischen und nationalsozialistischen Traditionen und andererseits politischen und sozialen Institutionen des Nachkriegs-Westdeutschland verstehen. Während auch Protagonistin Edda einen sprechenden Namen hat, lassen sich zu den Namen der anderen Figuren – wie Katja oder Rudi – nur schwer entsprechende bedeutsame Bezüge finden. Siehe einführend zum Hermannmythos und seiner Instrumentalisierung im Nationalsozialismus: Dörner, Andreas: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, insbesondere S. 252–255. Dass sich die krisenhaften Männer des Dorfes in der Freiwilligen Feuerwehr zusammengefunden haben, ist mit Blick auf kulturelle Stereotype wenig verwunderlich, da die Feuerwehr noch immer vorrangig als Bund der starken und heroischen Männer gilt, die anderen, schwächeren Gemeindemitgliedern in größter Not beistehen und deren mächtige Löschwagen und Löschschläuche regelrecht überbordend phallisch konnotiert sind. Dass hingegen die ebenfalls mit der Feuerwehr assoziierte Farbe Rot im Film nicht als Farbe der Feuerwehrmänner vorkommt, lässt sich dadurch erklären, dass zum einen die Feuerwehr-Brigade, die von den Dorfbewohner*innen auch als solche angesprochen wird, durch ihre schwarzen Uniformen als faschistoide Gruppierung inszeniert wird und dass zum anderen die Farbe Rot Herrmanns Weihnachtsobsession vorbehalten zu sein scheint.

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

ausgelassen tanzt und sich schließlich aufmacht – in ihr Verderben, wie das Publikum am Filmende weiß. Diese Weihnachtsmann-Dekoration hat Herrmann dem kleinen Dorf gespendet und davon wird er sich später das Weihnachtsmann-Kostüm nehmen, um Amok zu laufen. Zudem ist es auch Herrmanns Haus, das im Dorf durch seinen exzessiven Weihnachtsschmuck auffällt. Und auch Katja, Herrmanns untreue Ehefrau, fällt gleich zu Filmbeginn durch ihren roten Mantel mit Pelzkragen auf, den ihr fraglos Herrmann geschenkt haben wird, um sie wie die Frau vom Weihnachtsmann aussehen zu lassen. Herrmann will sich so als großer Wohltäter des Dorfes, als neuer Patriarch im Dorf etablieren – scheitert jedoch und läuft als Weihnachtsmann Amok. Um diese Konfiguration des Weihnachtsmanns als Krisenfigur des Patriarchats5 wird es in den nachfolgenden Lektüren zunächst von Wir können nicht anders, dann von der Tatortfolge Väterchen Frost (D 2019, R: Torsten C. Fischer)6 und zuletzt von dem Heimat-Fernsehfilm Frühling: Weihnachtswunder (D 2019, R: Michael Karen) gehen. Diese drei Filme können alle als ›Weihnachtsfilme‹ aufgefasst werden, rufen zugleich aber auch ganz andere populäre Klassifikationen auf wie ›Detlef-Buck-Film‹, ›Krimi‹ oder ›Heimatschmonzette‹ – um nur drei zu nennen. Daher könnte zum einen gefragt werden, ob die Filme ›Weihnachtsfilme‹

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Die hier gelesenen Krisengeschichten über die Weihnachtsmann-Maskerade als Praktik der gewaltsamen (Wieder-)Herstellung einer patriarchalen Ordnung ließen sich mit Walter Erhart als ein spezielles Narrativ der transkulturell tradierten Denkfigur der Krisenerzählung als Verhandlung der Spannungen zwischen gesellschaftlicher Hegemonie der Männer einerseits und der historisch stetig prozessierten Instabilität von Männlichkeit andererseits perspektivieren. Der Weihnachtsmann, der, wie die weiteren Ausführungen noch hervorheben werden, als Patriarch par excellence konzeptualisiert worden ist, gleicht einer extremen Zuspitzung der Krise der Männlichkeit und der Vorherrschaft von Männern. Vgl. Erhart, Walter: »Das zweite Geschlecht: ›Männlichkeit‹, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30/2 (2005), S. 156–232, hier insbesondere S. 173–175. Die Tatortfolge Wir kriegen Euch alle (ARD 2018, R: Sven Bohse), in der ebenfalls eine Weihnachtsmann-Maskerade eine Krise des Patriarchats markiert, wird hier nicht erneut behandelt, da sie bereits eingehend hinsichtlich ihrer Verhandlung des Weihnachtsmanns gelesen wurde: Scheinpflug, Peter: »Queering the Christmas Effects: Subversionen von Weihnachten im deutschen Gegenwartsfilm«, in: Andrea Geier/Irina Gradinari/Irmtraud Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen. Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023, S. 235–255, hier S. 250–255.

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sind oder nur von Weihnachten erzählen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie ›Weihnachtsfilme‹ in Relation zu den anderen Klassifikationen gesetzt werden können. Auf dieses Irritationspotenzial des ›Weihnachtsfilms‹ für gängige Genre-Konzepte und -Taxonomien gehen die Veranstalter*innen der Workshopreihe Weihnachtsfilme lesen in der Einleitung zum Sammelband des ersten Workshops ein und bemerken dazu, dass sich ›Weihnachtsfilm‹ sowohl als Genre fassen lässt,7 aber auch als »transgenerisches und hybrides Phänomen[. ], eine Art Genre-Passage[. ], die über Genrelogik und -traditionen selbst nachdenken lässt.«8 Und so wurde auch beim zweiten Workshop, auf dem die Beiträge dieses Sammelbands beruhen, die Genrefrage des ›Weihnachtsfilms‹ erneut diskutiert. Aus diesem Anlass sind den oben angekündigten Lektüren einige genretheoretische Überlegungen vorangestellt, die um die grundlegende Frage kreisen, ob man den ›Weihnachtsfilm‹ als ein Genre bezeichnen kann, wofür eine Differenzierung und Hierarchisierung von in der filmwissenschaftlichen Genre-Forschung frei flottierenden Begriffen vorgeschlagen wird.

Genretheoretische Vorbemerkung: Ist ›Weihnachtsfilm‹ ein Genre? Die Grundsatzfrage nach dem Genrestatus des ›Weihnachtsfilms‹ ist nicht neu: In den USA wird seit seiner Veröffentlichung heftig debattiert, ob es sich bei dem Actionfilmklassiker Die Hard (Stirb Langsam, USA 1988, R: John McTiernan) um einen ›Weihnachtsfilm‹ handele, sodass sogar Hauptdarsteller*in9 Bruce Willis und Drehbuchautor*in Steven E. de Souza sich genötigt 7 8 9

Vgl. Geier, Andrea/Gradinari, Irina/Hnilica, Irmtraud: »Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 7–19, hier S. 9. Ebd., S. 10. Bei diesem Beitrag wurde auf möglichst sensible und inkludierende Formulierungen geachtet. Im Folgenden wird daher für reale Personen vorrangig deren vollständiger Name genutzt, um keiner Person, v.a. ohne zu fragen, durch Substantive, Artikel, Personal- und Possessivpronomen ein einziges Geschlecht zuzuweisen, das womöglich nicht mit der selbst bestimmten Geschlechtsidentität der Person identisch ist. Zwar ist auch der Name einer Person – zumeist von den Eltern – fremdbestimmt, aber eine Namensänderung ist – wenn auch unter strengen Auflagen – in Deutschland möglich, weshalb hier davon ausgegangen wird, dass eine Person, die sich mit einem Namen selbst bezeichnet, diesen zu ihrer Bezeichnung zumindest toleriert. Von der Nutzung allein des Nachnamens bei der wiederholten Nennung wird hier abgesehen, um eine Person nicht, womöglich ungewollt, mit anderen Personen mit demselben Nach-

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

sahen, sich dazu zu positionieren.10 Lauren Rosewarne bemerkte dazu, wie wenig produktiv ein Grundsatzstreit ist, der eine essentialistische Definition des Genres ›Weihnachtsfilm‹ anstrebt.11 Prinzipiell gilt für alle Genres, dass sie keine natürlichen Eigenschaften von Texten sind, sondern Wissensbestände, die bei der Produktion, Distribution und Rezeption prozessiert werden und mit denen man sich Texte aneignen kann.12 Die Frage lautet also nicht, ob ein Film ein ›Weihnachtsfilm‹ ist, sondern ob es für eine Person sinnvoll und hilfreich ist, sich einen Film als ›Weihnachtsfilm‹ anzueignen. Wollte man dafür dennoch danach fragen, ob es das Genre ›Weihnachtsfilm‹ gibt, so gilt mit dem diskursanalytischen Ansatz, wie er in der filmwissenschaftlichen Genreforschung von Andrew Tudor maßgeblich begründet worden ist: »Genre is what we collectively believe it to be.«13 In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass der Begriff ›Weihnachtsfilm‹ in Diskursivierungen von Filmen etwa in der Werbung oder in Rezensionen so oft vorkommt, dass er von Menschen mit einer vagen Vorstellung, welche Erwartungen hinsichtlich u.a. Handlungszeit, Themen oder Figuren an einen so klassifizierten Film gerichtet werden kön-

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namen zusammenzufassen. Dies führt zwar zu einer womöglich für viele Leser*innen ungewohnten Häufung von Namen, ermöglicht aber einen vergleichsweise konventionellen Lesefluss. Da die realen (!) Freiheiten zur Selbstbestimmung der eigenen Identität und Bezeichnungen bei historischen Persönlichkeiten nur schwer realistisch eingeschätzt werden können, werden auch bei diesen (gender-)inklusive Formulierungen verwendet, um nicht sozial erwünschte oder vorteilhafte, aber eigentlich von den Persönlichkeiten privat abgelehnte Bezeichnungen zu reproduzieren. Bei noch lebenden Personen wurde von einer Abfrage, wie sie bezeichnet werden wollen, abgesehen, um diese nicht zu einem Selbstbekenntnis zu nötigen. Bei Filmfiguren hingegen werden zumeist keine (gender-)inklusiven Formulierungen genutzt, da fiktionale Figuren nicht mit realen Personen verwechselt werden dürfen, die ihre Identität möglichst frei bestimmen können dürfen sollten, sondern immer schon Konstruktionen mithilfe kultureller Codes und in Sinnstrukturen von Erzählungen eingefügt sind, zu denen auch Gender gehört. (Es handelt sich hierbei um eine standardisierte Fußnote, die mit gleichem Wortlaut zu Beginn aller meiner Publikationen steht.) Vgl. https://www.thepioneerwoman.com/holidays-celebrations/a41577637/is-die-har d-a-christmas-movie/ vom 11.10.2022. Vgl. Rosewarne, Lauren: Analyzing Christmas in Film. Santa to the Supernatural, London: Lexington Books 2018, S. xif. Zur Einführung siehe: Scheinpflug, Peter: Genre-Theorie. Eine Einführung, Berlin: Lit 2014, S. 3–16 und 113. Tudor, Andrew: Theories of Film, London: Secker & Warburg/British Film Institute, S. 139.

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nen, aufgegriffen und für ihre eigene Filmaneignung genutzt werden kann. In diesem Sinne zirkuliert der Begriff ›Weihnachtsfilm‹ derzeit als Genre.14 Diese Annahme liegt auch den obigen Lektüren zugrunde. Allerdings handelt es sich bei den hier gelesenen Filmen allesamt um Hybride. Und dieser Einwand ist dann doch kommentarbedürftig, weshalb hier eine kurze genretheoretische Stellungnahme folgt: Die filmwissenschaftliche Genreforschung kennt viele verschiedene Begriffe wie Genre, Gattung oder auch mode, die mal synonym, mal differenzierend verwendet werden. Um Begriffsschärfe herzustellen, wird die folgende Taxonomie von einigen häufig genutzten genretheoretischen Begriffen vorgeschlagen, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben15 :

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15

Was ein Genre sein kann, soll hier nicht wieder grundlegend diskutiert werden. Stattdessen wird Steve Neales diskursanalytischer Ansatz übernommen, nach dem ein Genre aus den folgenden drei Teilen besteht, die in verschiedenen Diskursen unterschiedlich verhandelt werden können: (1) Genre-Bezeichnung, (2) Genre-Korpus und (3) generic image, also dem kulturellen Wissen über Genre-Konventionen und -Geschichte. Das so verstandene Genre kann bei der Produktion, Distribution und Rezeption unterschiedliche Funktionen erfüllen wie Produktionsformel, Kommunikationsbegriff oder Lektüre-Ansatz. Zu Steve Neales Genre-Modell siehe: Steve Neale: »Questions of Genre«, in: Barry Keith Grant (Hg.), Film Genre Reader IV, Austin: University of Texas Press 2012, S. 178–202. Das nachfolgende Modell hat der Autor dieses Beitrags erstmals in einer Grundform den Teilnehmenden des Seminars Neuer Deutscher Genrefilm (Universität zu Köln, Sommersemester 2019) und danach in einer leicht überarbeiteten Version den Teilnehmenden des Workshops digitale_kultur. Genres und Formate im digitalen Zeitalter an der FernUniversität in Hagen am 27.11.2020 vor- und zur Diskussion gestellt. Die hier präsentierte Version wurde erneut geringfügig erweitert. Im Beitrag zum Workshop Weihnachtsfilme lesen 3: Genres und Formate (FernUniversität in Hagen, 10. und 11. November 2023) wird das Modell erneut erweitert werden um den Format-Begriff, wie ihn Michael Niehaus geprägt hat.

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

 

Begriff Medium

(frei) nach --

generic system

Tom Ryall

mode of film practice

David Bordwell

Gattung

Knut Hickethier

mode of narration

Linda Williams Harvey O’Brien

Serie

Tanja Weber und Christian Junklewitz

Genre

Steve Neale

Formel(text)

John G. Cawelti

auteur

John Wollen

Beispiele Film, Fernsehen, Comic … Hollywood, Deutscher Kinofilm, öffentlichrechtliches Fernsehen … Blockbuster, Autorenfilm, Exploitation, Deutscher Förderfilm, QualityTV, Netflix-Produktion, ZDF-NeoNoir … Spielfilm, Dokumentarfilm, Lehrfilm, Werbefilm … Horror, Thriller, Action, Melodrama, Drama, Romance, Musical, Science Fiction … James Bond, Star Wars, Spider-Man … Noir, Western, Slasher, Screwball Comedy … Halloween → Slasher 4 Blocks → Familiye-Zyklus Per un pugno di dollari → Italowestern … Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Jean-Luc Godard, Rainer Werner Fassbinder, Til Schweiger …

Während Gattung, Serie, auteur und Genre bereits eingehend von der Forschung erläutert worden sind16 und »Formel(text)« lediglich den Film/Text meint, der ein Genre, einen Zyklus oder eine Serie als Iterationen von erst dadurch als solche prozessual konstituierten Konventionen initiiert hat,17

16 17

Zur Einführung siehe: P. Scheinpflug: Genre-Theorie, insbesondere: S. 3–29, 52–55, 67–71 und 72–75. Vgl. Scheinpflug, Peter: Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo, Bielefeld: transcript 2014, S. 19f.

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erfordern die zwei mode-Begriffe aufgrund ihrer vergleichsweise selteneren Verwendung in der filmwissenschaftlichen Genretheorie einen knappen Kommentar: Der Begriff mode of film practice, wie er hier benutzt wird, geht auf David Bordwell zurück und meint ein historisch spezifisches Set von interdependenten Bedingungen und Praktiken der Produktion, Distribution und Rezeption, die gravierende Auswirkungen auf die Gestaltung von Filmen haben. David Bordwell führt dies am Beispiel des ›Kunstkinos‹ der 1950er und 1960er Jahre aus, dessen Produktion von einer Industrie für Kunstfilme abhängt und vom Ideal des*der Regisseurs*in als auteur geprägt ist, dessen Distribution stark von Filmfestivals und Arthouse-Kinos bestimmt ist und dessen Rezeption auf den Bruch mit Hollywoodkonventionen zugunsten von Ambiguität fokussiert ist, während jedoch die Handschrift des*der auteur und dessen*deren Œuvre Kohärenz für die Kunstfilme stiften.18 Mode of narration ist hingegen ein Begriff, der von Linda Williams vorgeschlagen wurde, um das transmedial beobachtbare melodramatische Erzählen in Hollywoodfilmen hervorzuheben, die nicht dem Genre Melodrama zugeschrieben werden.19 Der Begriff wurde vor allem in den vergangenen Jahren als Alternative zum Genre-Begriff aufgegriffen: Beispielsweise hat Harvey O’Brien argumentiert, dass man Action nur schwer als Genre fassen könne, da sich dem Begriff keine typischen Figuren, Settings oder Ästhetiken zuschreiben ließen, sondern es sich vor allem dadurch auszeichne, dass das Publikum an spektakulär exzessiven Bewegungen und Destruktionen anteilnehme, weshalb es besser als mode aufgefasst werde.20 In diesem Sinne wird hier als mode of narration die konventionelle Weise verstanden, wie etwas erzählt wird, um das Publikum zu affizieren. Begriffe wie Horror, Thriller, Action, Melodrama, Drama oder Science-Fiction, die bisher vorrangig als Genre verstanden worden sind, sollten in diesem Sinne als modes of narration neu perspektiviert werden. Versteht man, wie es die obige Taxonomie vorschlägt, Genres als mehrdimensionale Sets ganz verschiedener Kategorien von Konventionen wie

18 19

20

Vgl. Bordwell, David: »The Art Cinema as a Mode of Film Practice«, in: Film Criticism 4/1 (1979), S. 56–64. Vgl. Williams, Linda: »Melodrama Revised«, in: Nick Browne (Hg.), Refiguring American Film genres. Theory and History, Berkeley u.a.: University of California Press 1998, S. 42–88. Vgl. O’Brien, Harvey: Action Movies. The Cinema of Striking Back, London/New York: Wallflower Press 2012, S. 1–11.

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

beispielsweise Handlungszeit, Handlungsort, Figurentypen, Themen, Stimmung, Konfliktlösungsstrategien oder Ästhetik, so kann der Weihnachtsfilm als Genre aufgefasst werden, das zumeist während der Weihnachtszeit spielt, in dem häufig Themen wie Familie, Geborgenheit oder Verbundenheit wichtig sind, in dem Figuren wie Nikolaus, der Weihnachtsmann, Engel, Sternsinger*innen etc. auftreten können und in dem oft eine besinnliche Stimmung vorherrscht, erstrebt wird oder gewaltsam gestört wird.21 Die in diesem Aufsatz gelesenen Filme ließen sich mit dieser Taxonomie wie folgt erfassen:

 

Begriff/ Film Medium generic system mode of film practice Gattung(en) mode of narration Serie

Tatort: Väterchen Frost Film deutsches öffentlichrechtliches Fernsehen

Frühling: Weihnachtswunder Film deutsches öffentlichrechtliches Fernsehen

Kino-Koproduktion (= dt. Förderfilm)

Tatort

Primetime-Fernsehfilm

Realfilm + Spielfilm

Realfilm + Spielfilm

Realfilm + Spielfilm

Thriller

Krimi

Melodrama

--

Münsteraner Tatort

Genre(s)

Neon-Noir + Weihnachtsfilm

Weihnachtsfilm

Frühling Heimatfilm + Krankenhauserzählung + Weihnachtsfilm

Formelfilm

--

auteur

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Wir können nicht anders Film Deutsches Kino

Detlef Buck

Tatort: Der dunkle Fleck (2002) -(Regisseur*in Torsten C. Fischer ist noch nicht als auteur diskursiviert worden)

Für immer Frühling (2011) -(Regisseur*in Michael Karen ist noch nicht als auteur diskursiviert worden)

Für eine weiterführende Diskussion der gesellschaftlichen Funktion von Weihnachtsfilmen und ihrer Genealogie siehe: A. Geier/I. Gradinari/I. Hnilica (Hg.): Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung, S. 8–11.

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Diese Tabelle zeigt beispielhaft, wie viele Traditionslinien in einem Text zusammen kommen und miteinander interagieren – und es könnten weitere ergänzt werden, etwa Stile, ›Filmschulen‹/Bewegungen, Stars etc. Es verwundert daher vor allem mit Blick auf ihre sehr verschiedenen Modi kaum, wie unterschiedlich die drei hier zur Diskussion stehenden Filme Weihnachten und Weihnachtskrisen erzählen. Wie jedoch die nachfolgenden Lektüren zeigen werden, darf dabei die Bedeutung des Genres nicht unterschätzt werden, da die Filme trotz all ihrer Unterschiede erstaunlich ähnlich den Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats inszenieren.

Die Krise des Patriarchats in Wir können nicht anders Wir können nicht anders handelt von Sam, Juniorprofessor für amerikanische Literatur, der nach einem One-Night-Stand eine junge Frau namens Edda am Nikolaustag in ihr Heimatdorf in der ostdeutschen Provinz begleitet. Im Wald wird Sam zufällig Zeuge davon, wie Herrmann einen jungen Mann namens Rudi erschießen will, weil dieser Sex mit Katja, Herrmanns Ehefrau, hatte. Sam will Rudi retten, bietet Herrmann die Stirn und muss daraufhin um sein Leben rennen. Auteur Detlef Buck lässt keinerlei Zweifel daran, dass es in Wir können nicht anders vor allem darum geht, wie Männer in der ostdeutschen Provinz ein archaisches Ideal von potenter Männlichkeit gewaltsam behaupten. Der Film lässt diese Agenda explizit im Streitgespräch von Protagonist Sam mit dem gerade von ihm vor dem Tod geretteten Rudi aussprechen und ausagieren: Sam fasst zusammen, dass Herrmann Rudi ermorden wolle, weil dieser Sex mit Herrmanns Ehefrau hatte. Rudi jedoch wirft Sam vor, dass er gar nichts verstehe, sondern dass es um Liebe und Männlichkeit gehe, da gelte: »Ein Mann steht für die ein, die er liebt.« Dann wirft Rudi Sam, der ihm gerade das Leben gerettet hat, vor, er kümmere sich nicht so um Edda, wie Rudi sich um Katja sorge. Gewalt, so belehrt ihn Sam, sei heute keine probate Konfliktlösung mehr, sondern ›mittelalterlich‹. Um Rudi vorzuführen, wie sinnlos die gewaltsame Behauptung von Überlegenheit und Potenz ist, schlägt Sam ihn, was dieser jedoch zu Sams Überraschung als erfolgreichen Lernprozess von Sam lobt. Nachdem Sam Rudi vorgeworfen hat »Ihr seid alle so gefangen in Eurer Männlichkeit«, tobt Rudi vor Wut über die Infragestellung seines Ideals von Männlichkeit und brüllt: »Mit meiner Männlichkeit ist alles in Ordnung!« Dann spricht er Sam jede Männlichkeit ab, um sein Ideal von Männlichkeit als

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

einzig gültiges zu setzen. Und so bleibt Rudis Überzeugung in Erinnerung, die den Filmtitel variiert: »Mann, ich kann nicht anders.« Eine spätere Szene lässt keinerlei Zweifel daran, dass vor allem Mädchen und junge Frauen unbedingt das Dorf verlassen wollen, wenn sie nur können: Als eine junge Frau erfährt, dass Sam aus Berlin kommt, biedert sie sich ihm sofort an, damit er sie dorthin mitnehme – während der ebenfalls in dieser Szene anwesende junge Mann als audiovisuelle Metapher der Resignation der jungen Männer im Dorf regungs- und anteilnahmslos sowie klein und schwach, weil tatenlos im Hintergrund des Bildes am unteren Bildrand sitzen bleibt. Die junge Frau wird vom Film überaus burschikos inszeniert mit Latzhose und Kurzhaarschnitt, was den Eindruck erweckt, als gäbe es im Dorf gar keinen Platz für junge Frauen. Von Protagonistin Edda, die zwar am Nikolaustag in ihr Heimatdorf zurückkehrt, erfährt das Publikum entsprechend gleich zu Beginn durch das Voice-Over ihres Vaters, dass sie – aus seiner patriarchalen Sicht – in der großen Stadt Berlin versagt hätte und nur deshalb unfreiwillig ins Heimatdorf zurückkehre. Damit weist er das Dorf, dessen Bürgermeister und Patriarch er ist, gleich zu Filmbeginn als ein Refugium der ›Versager‹ und ›Verlierer‹ aus. Auch Herrmann spricht explizit an, dass im Dorf nur die »Verlierer« zurückbleiben, die unter Überalterung, Arbeitslosigkeit, Perspektiv- und Sinnlosigkeit leiden. Um dennoch ein imaginäres Ideal von potenter Männlichkeit zu bewahren, werden die Männer im Dorf schnell gewalttätig. Dies muss Protagonist Sam gleich bei seinem ersten Kontakt mit einem Mann des Dorfes lernen, den Edda verspottet hat, weshalb dieser Sam demütigt und verletzt, um seine Überlegenheit und Macht zu demonstrieren. Noch drastischer erfährt dies Edda, als der Dorfpolizist ihr vorwirft, dass junge Frauen wie sie die Provinz verließen, weshalb junge, potente ›Prachtmänner‹ wie er keine für ihn attraktiven jungen Frauen abbekämen. Da Edda keinerlei romantische oder sexuelle Bringschuld ihrerseits anerkennt, will der offensichtlich sexuell frustrierte Dorfpolizist sie kurzerhand vergewaltigen. Als wollte Detlef Buck das kleine 1x1 der feministischen Filmkritik inszenieren, nutzen Männer Frauen zudem auch als Tauschobjekte,22 um potente Männlichkeit zu behaupten: Überdeutlich wird dies bei Katja, die als Schönheit des Dorfes von allen heterosexuellen Männern begehrt zu werden scheint und

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Siehe hierzu den kanonischen Beitrag: Cowie, Elizabeth: »Woman as Sign«, in: E. Ann Kaplan (Hg.), Feminism & Film, Oxford u.a.: Oxford University Press 2004, S. 48–65.

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die als »ultimative Erfolgstrophäe«23 das Alpha-Männchen im Dorf markiert. Aber auch Protagonistin Edda wird später als Tauschobjekt zwischen Männern inszeniert, da Herrmann sie gefangen genommen hat und nur freigeben will, wenn Protagonist Sam sich ihm fügt. Doch wie steht es um die Macht der Patriarchen im Dorf? Herrmann hat dem Dorf nicht nur die Weihnachtsmann-Dekoration beschert, sondern er spekuliert auch auf ein neues Logistikzentrum, das ihn durch den Verkauf von Bauland reich machen und der Region viele neue Arbeitsplätze und dadurch eine Zukunftsperspektive bieten soll. Herrmann gibt sich so als neuer Patriarch des Dorfes, als ›Vater‹ einer glorreichen Zukunft des Dorfes, zu dem alle anderen Männer aufzusehen und dem sie sich unterzuordnen haben. Abweichlern wie Rudi, der Herrmann sein Trophy-Wife abspenstig gemacht hat, drohen Gewalt und Tod. Herrmanns Machtanspruch wird jedoch durch zwei bereits etablierte Patriarchen gefährdet: Zum einen gibt es da den Bürgermeister, den auteur Detlef Buck selbst darstellt. Dieser habe sich, nach Herrmanns Meinung, nicht genug darum bemüht, ein Logistikzentrum in die Region zu holen. Seine Versehrtheit versinnbildlicht, dass er sich als resignierter Kleinbürger im Dorf als Patriarch eingerichtet hat, ohne Veränderungen zu wagen oder zu wollen: Er sitzt nach einer Hüftoperation im Rollstuhl und lässt sich lieber von seiner Ehefrau darin schieben, als auch nur einen einzigen, womöglich schmerzlichen, Schritt zu wagen. Zum anderen tritt Herrmanns Vater im Bademantel mit AK47 als Bewacher einer alten, verlassenen LPG-Anlage auf und trauert der Solidarität und Geselligkeit der DDR-Zeit nach. Das AK47 steht nicht nur für die einstige sowjetische Führung, sondern lässt sich auch als übermächtiger Phallus lesen,24 gegen den sich Herrmann trotz personeller Übermacht mit seiner Feuerwehrtruppe nicht zu erheben wagt. Erst als sein Vater seinen Phallus, das AK47, nicht griffbereit hat, kann Herrmann ihn mit seiner im Vergleich dazu sehr viel kleineren und schwächeren Pistole erschießen. In dieser Szene, in der Herrmann zuerst Rudi und dann seinen eigenen Vater tötet, fällt besonders stark der Kontrast in Herrmanns Emotionalität auf, da

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Vgl. Lukas, Christian: »Die Kino-Kritiker: ›Wir können nicht anders‹«, in: https://www.quotenmeter.de/n/131106/die-kino-kritiker-wir-koennen-nicht-anders (letzter Zugriff: 29.10.2022). Phallus sei hier nach Jacques Lacan als imaginäres Symbol für männliche Stärke und Macht verstanden. Vgl. Bailly, Lionel: Lacan: A Beginner’s Guide, Oxford: Oneworld Publications 2009, S. 75f.

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er Rudi sehr ruhig, kontrolliert und berechnend mit einem Schuss erschießt, während die Schüsse auf seinen eigenen Vater als sehr emotionales, nämlich trotziges und weinerliches Aufbegehren gegen die Übermacht des Vaters inszeniert sind, der über sein Leben bestimmen und urteilen will. Herrmanns Vatermord kommt so als kindliche Rebellion gegen den übermächtigen, leiblichen Vater daher. Danach wird Herrmann schließlich den WeihnachtsmannMantel überwerfen und Amok laufend nicht nur den sozialen Vater, den Bürgermeister, ermorden wollen, sondern sich auch an allen rächen wollen, die seine Wunschposition als Patriarch gefährden, etwa seine untreue Ehefrau, der sich ihm widersetzende Protagonist oder auch der Wirtshausbesitzer, der ihn kontrollieren zu können glaubt. Aber warum greift Herrmann dazu ausgerechnet zum Mantel des Weihnachtsmanns? Matthew C. DuPée hat auf anthropologische Studien dazu hingewiesen, dass sich Menschen im Winter aufgrund der Kälte verletzlicher fühlen und daher stärker ein behagliches, schützendes Heim suchen, und im Anschluss daran argumentiert, dass Weihnachten aufs Engste mit einer Sehnsucht nach Heimat, Schutz, Geborgenheit und familiärer Verbundenheit verbunden sei.25 Zudem sei die Weihnachtszeit bestimmt von Nostalgie, weshalb es gerade Filmen mit Psycho-Santas, wie Matthew C. DuPée Killer im Weihnachtsmann-Kostüm nennt, so leicht fiele, »[to] utilize Christmas tropes to evoke feelings of nostalgia, luring the audience into a deeper sense of peace and comfort, before orchestrating a powerful ensamble of fear and terror with those feelings of wistful affection.«26 Die nostalgische Qualität von Weihnachtsfilmen hat zuvor bereits Mark Connelly wie folgt gefasst: »nostalgia means a lot to these films, they wallow in it in order to help create the image of a golden age, an age that with a little effort can actually be recaptured and resuscitated, that is part of their feel-good-charm.«27 Auch Herrmanns Amoklauf im Weihnachtsmann-Kostüm lässt sich den Psycho-Santas28 zuordnen. Seine Weihnachtsbegeisterung, die sich vor allem im ausladenden Weihnachtsschmuck seines Hauses, in der Bescherung des 25 26 27

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DuPée, Matthew C.: A Scary Little Christmas. A History of Yuletide Horror Films, 1972–2020, Jefferson: McFarland 2022, S. 6. M.C. DuPée: A Scary Little Christmas, S. 5. Connelly, Mark: »Santa Claus: The Movie«, in: ders. (Hg.), Christmas at the Movies. Images of Christmas in American, British and European Cinema, London/New York: I.B. Tauris 2000, S. 115–134, hier S. 25. Für eine kurze Übersicht zur Geschichte dieses Figurentyps siehe: M.C. DuPée: A Scary Little Christmas, S. 11–71.

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Dorfes mit der Weihnachtsmann-Figur und schließlich in seiner Weihnachtsmann-Maskerade äußert, ist insofern zutiefst nostalgisch, als Herrmann sich durch seinen Einsatz für den Bau eines Logistikzentrums erhofft, dass die Region wieder so erfolgreich und belebt werde, wie sie, mutmaßlich zu seiner Kindheit, einmal gewesen sein soll. Wie Svetlana Boym bemerkt, ist die Nostalgie weniger eine Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit, denn Symptom des Leidens an einer mangelhaft empfundenen Gegenwart sowie des Wunsches nach deren zukünftiger Veränderung zum Besseren.29 Nach Matthew C. DuPée ist die Figur des Psycho-Santa zudem »primarily an allegory for the murder of childhood and innocence, representative of the transition from adolescence to adulthood.«30 Im Umgang sowohl mit seinem leiblichen Vater, der kurz vor seinem Tod Herrmann warnt, dass dieser nun endlich Verantwortung für seine Taten tragen müsse, als auch im Streit mit dem Bürgermeister, der Herrmann zur Akzeptanz seines Scheiterns auffordert, wird Herrmann als naiv, ignorant und unmündig, kurz: als kindisch im Vergleich zu den pragmatischen Patriarchen in Szene gesetzt. Als PsychoSanta will Herrmann sich, wie Matthew C. DuPée es modellhaft beschrieben hat, gewaltsam aus dieser Unmündigkeit befreien und zum neuen Patriarchen erheben, indem er sich als Weihnachtsmann alle anderen zwanghaft und gewaltsam unterordnet. Ähnlich versteht auch Claude Lévi-Strauss 1952 in Der gemarterte Weihnachtsmann den Weihnachtsmann als Demarkationsline zwischen Kindheit und Reife: »Der Weihnachtsmann ist also in erster Linie Ausdruck des Statusunterschieds zwischen Kindern einerseits und […] Erwachsenen andererseits.«31 Claude Lévi-Strauss bemerkt darüber hinaus zu Machtfragen 29 30 31

Vgl. Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia, New York: Basic Books 2007, S. XVI. M.C. DuPée: A Scary Little Christmas, S. 12f. In der zitierten Textstelle stellt Claude Lévi-Strauss den Kindern neben den Erwachsenen eigentlich auch noch die Jugendlichen gegenüber. Diese wurden im obigen Zitat jedoch bereits getilgt, da Claude Lévi-Strauss wenig später festhält: »Ein Ritual, das sich einst auf drei Gruppen von Protagonisten verteilte: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, enthält heute nur noch zwei (zumindest was Weihnachten betrifft): die Erwachsenen und die Kinder.« Zwar ist die ›Jugend‹, deren Verschwinden Claude Lévi-Strauss für Frankreich in den 1950er Jahren proklamiert, heute insbesondere durch die Digitalkultur sehr präsent, jedoch nicht an Weihnachten, da die heutige Jugend, die sich sehr über Kommunikation und Konsumption definiert, sich als sehr ›aufgeklärt‹ versteht und damit wie die Erwachsenen trotz möglicher Konsumexzesse zu Weihnachten nicht wie die Kinder an den Weihnachtsmann glaubt. Insofern kann man auch heute zu Weihnachten nur zwischen den Kindern, die an Weihnachten glauben, und den Äl-

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anlässlich der Funktion des Weihnachtsmanns: »[Initiationsriten und -mythen, P.S.] helfen den Älteren, die Jüngeren zur Ordnung und zum Gehorsam zu verpflichten. Das ganze Jahr über berufen wir uns auf den Besuch des Weihnachtsmanns, um unsere Kinder daran zu erinnern, daß seine Großzügigkeit sich nach ihrer Bravheit bemißt.«32 Und in eben diesem Zusammenhang geht Claude Lévi-Strauss schließlich auch auf die patriarchale Aufladung des Weihnachtsmanns ein: »Der Weihnachtsmann ist scharlachrot gekleidet: er ist ein König. […] Man nennt ihn Vater, und er ist ein Greis, das heißt, er verkörpert die freundliche Seite der Autorität der Alten.«33 Man will ergänzen: … ›weißen Männer‹. Denn der Weihnachtsmann ist der ›weiße alte Mann‹ par excellence, da er allwissend und allmächtig alle Menschen zu beurteilen weiß und zu sagen vermag, ob sie ›gut‹ oder ›böse‹ waren. Auch Ian Stronach und Alan Hodkinson betonen in ihrer anthropologischen Studie Towards a Theory of Santa diese übermenschliche Idealisierung des Weihnachtsmanns, den die Attribute »eternal, patriarchal, omniscient, recurrent, absolute«34 auszeichneten. Daher figuriere der Weihnachtsmann den ultimativen Patriarchen: »Santa [is] a generic father as well: he is, after all, Father Christmas and Father with a capital ›F‹ can only mean a god of family.«35 Der Weihnachtsmann steht nach Ian Stronach und Alan Hodkinson für ein spezifisches, weihnachtlich idealisiertes Familienbild, das transkulturell zu beobachten sei: Santa as Father represented a generic celebration of the family as together, united, giving, tokenizing love for each other and idealizing that togetherness. That is the heart of the expressive myth, and it is perhaps significant that when Santa and Christmas go cross-cultural, it is the ›togetherness‹ of a relationship that remains a central force […].36

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teren unterscheiden, die Weihnachten kommerziell nutzen. Siehe: Lévi-Strauss, Claude: »Der gemarterte Weihnachtsmann« (1952), in: ders., Wir sind alle Kannibalen. Mit dem Essay »Der gemarterte Weihnachtsmann«. Vorwort von Maurice Olender, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 11–41, Zitat oben: S. 24, Zitat in dieser Fußnote: S. 34. Ebd., S. 25 Ebd., S. 23. Stronach, Ian/Hodkinson, Alan: »Towards a Theory of Santa. Or, the Ghost of Christmas Present«, in: Anthropology Today 27/6 (2011), S. 15–19, hier S. 16. I. Stronach/A. Hodkinson: Towards a theory of Santa, S. 17. Ebd., S. 19.

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Eben diese Konzeption des Weihnachtsmanns, wie die Forschung sie bisher als transkulturell dominante Vorstellung der Hyperidealisierung des allmächtigen, Gemeinschaft und Glück spendenden Patriarchen herausgearbeitet hat, herrscht auch in Wir können nicht anders und, wie die weiteren Lektüren noch zeigen werden, im aktuellen deutschen Film vor: Es ist nur folgerichtig, dass Herrmann sich für seinen Amoklauf das Weihnachtsmann-Kostüm ausgerechnet von der Figur leiht, die er selbst dem Dorf beschert hat, wie er es auch mit dem neuen Logistikzentrum bescheren will. Nach Herrmann ist derjenige ein idealer Patriarch, der für den Zusammenhalt und das Wohlergehen der Gemeinschaft sorgt. Leisten dies die alten Patriarchen nicht oder nicht mehr, so muss ein neuer Patriarch die Macht ergreifen. In Herrmanns Weihnachts-Wahnlogik hat das Dorf seine Sorge und Bescherung als neuer Patriarch ausgeschlagen, weshalb er es nun dafür bestraft – im Kostüm des ultimativen Patriarchen, des Weihnachtsmanns. Zwar wirft sich Herrmann in Wir können nicht anders den Mantel der Weihnachtsmann-Figur über, jedoch rekurriert seine WeihnachtsmannPerformance auch auf Nikolaus und Knecht Ruprecht,37 da er am Nikolaustag seine Gaben in geputzte Stiefelchen legen will und sich mit Anklängen an Theodor Storms Knecht-Ruprecht-Gedicht wie folgt vorstellt: »Ho, ho, ho. Drauß’ vom Walde komm’ ich her. Ich muss Euch sagen, es weihnachtet sehr. Gibt’s gute Kind, gibt’s böse Kind.« Diese Hybridisierung von Weihnachtsmann-Kostüm und Nikolaus/Knecht-Ruprecht-Performance hebt noch deutlicher hervor, dass auch der so gemütlich und wohlwollend aussehende Weihnachtsmann eine ebenso bescherende wie strafende Instanz ist, da »seine Großzügigkeit sich nach [der] Bravheit [der Kinder] bemißt«, wie Claude LéviStrauss treffend bemerkt.38 Den – seiner Meinung nach, versteht sich – Guten, die ihn als Patriarchen verehren und seine Zukunftspläne tatkräftig unterstützen, verspricht Herrmann als Weihnachtsmann eine Bescherung, den Bösen hingegen die Rute, als die ihm ein Schrotgewehr dient.

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Zu Fragen des kulturellen Austauschs und der kulturellen Hybride am Beispiel von Weihnachten siehe: C. Lévi-Strauss: Der gemarterte Weihnachtsmann, S. 16–23. Zur kulturhistorischen Unterscheidung zwischen Weihnachtsmann und Nikolaus siehe: Macey, Samuel L.: Patriarchs of Time. Dualism in Saturn-Cronus, Father Time, the Watchmaker God, and Father Christmas, Athens/London: University of Georgia Press 1987, S. 144f. und 176f. C. Lévi-Strauss: Der gemarterte Weihnachtsmann, S. 25.

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

Abbildung 1a+b: Herrmann als Trupp-Führer und als Psycho-Santa.

Wir können nicht anders (2021)

Der Weihnachtsmann wird so bei Herrmann zur Instanz, die gewaltsam eine patriarchale Ordnung herstellt, über die allein der Weihnachtsmann selbst entscheiden darf. Patriarch darf nach Herrmanns Logik nur sein, wer sich – zumindest vorgeblich – um die Gemeinschaft kümmert und sie beschenkt. Der Film skizziert so einen Konflikt von drei patriarchalen Ordnungen, die sich drei Ären der deutschen Geschichte zuordnen lassen und alle drei krisenhaft sind: Herrmanns Vater figuriert den Patriarchen der DDRZeit, der jedoch den jungen Männern keine Orientierung und Zukunftsperspektive bieten kann, sondern stets nur nostalgisch verlorene sozialistische Ideale betrauert. Der Bürgermeister steht für den kleinbürgerlichen Patriarchen der Post-Wende-Realpolitik, unter dessen Herrschaft alle begabten jungen Menschen die Region verließen und der den jungen Männern auch keine erstrebenswerte Zukunftsperspektive anbieten mag. Den Frust und die Wut der jungen Männer, die in der Region zurückgeblieben sind, beantwortet Herrmann mit einem faschistoid-kapitalistischen Männerbund, womit auf aktuelle Debatten über rechtsradikale und neo-nationalsozialistische Bewe-

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gungen in der ostdeutschen Provinz angespielt wird (Abb. 1a).39 Der Film ist nicht darum bemüht, Genealogien und Entwicklungsgeschichten für diese drei Ordnungen zu erzählen. Vielmehr scheint es auteur Detlef Buck darum zu gehen, ein Gegenwartsbild zu zeichnen, bei dem man akzeptieren muss, dass es in Ostdeutschland die Gleichzeitigkeit von DDR-Vergangenheit, PostWende-Politik und Neo-Nationalsozialismus gibt. Wie diese drei Ordnungen gegenwärtig miteinander konkurrieren und konfligieren behandelt der Film beispielhaft am Thema Männlichkeit, nicht aber ihre Geschichte. Da Herrmann jedoch mit seinem Männerbund die von ihm angestrebte neue patriarchale Ordnung nicht durchsetzen kann, greift er zum Weihnachtsmann-Kostüm, um als ultimativer Patriarch aufzutreten (Abb. 1b). Oder noch pointierter: Wenn der glatte, schwarze Mantel, der fraglos an ikonische Bilder von SS-Offizieren gemahnen soll, nicht zur Durchsetzung der neuen patriarchalen Ordnung genügt, muss darüber noch ein Weihnachtsmann-Mantel. Herrmann wäre offenbar gerne wie der Weihnachtsmann, ist aber ein Psycho-Santa. Sein Weihnachts-Amoklauf markiert auch die von Herrmann neu angestrebte patriarchale Ordnung als kapitalistisch-faschistoide Gewaltherrschaft eines Möchtegern-Patriarchen, und insbesondere die Maskerade als Weihnachtsmann hebt hervor, dass Herrmann eben kein idealer Patriarch und seine Ordnung von Beginn an krisenhaft ist.

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Als kapitalistisch ist Herrmanns Weltbild zu verstehen, da er auf zukünftige Gewinne spekuliert und seine Gefolgschaft durch Geld bzw. das Versprechen zukünftiger Gewinne an sich bindet. Faschistoid ist Herrmanns Herrschaft, da er eine einzelne Führerfigur zelebriert, die durch Gewalt und Exklusion herrscht. Auch die Uniformen von Herrmanns Feuerwehrtruppe gemahnen an Wehrmachtsuniformen, das rote Abzeichen am Ärmel an Hakenkreuzbinden. Mit dieser Inszenierung werden aktuelle Debatten über das Erstarken rechtsradikaler und neo-nationalsozialistischer Bewegungen in Ostdeutschland aufgerufen. Jedoch muss explizit angemerkt werden, dass Herrmann und sein Trupp von Männern der Freiwilligen Feuerwehr nicht als Neo-Nazis inszeniert werden, da sie weder antisemitisch oder ›ausländerfeindlich‹ noch Verehrer von Adolf Hitler oder des Nationalsozialismus zu sein scheinen. Ihr Männerbund wird allerdings als faschistoid dargestellt, weshalb er sich aufgrund seines Fokus auf Männlichkeitsverhandlungen so lesen lässt, dass faschistoide Ideologien jungen Männern, die sich als »Verlierer« der Wende sehen, wie Herrmann es formuliert, die von ihnen ersehnte Orientierung, Zukunftshoffnung und ein Überlegenheitsgefühl geben.

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Die Krise des Patriarchats im Tatort Väterchen Frost Am 22.12.2019 war die Tatortfolge Väterchen Frost nicht nur die – hinsichtlich der Einschaltquoten – erfolgreichste Prime-Time-Sendung im bundesdeutschen Fernsehen,40 bis zum Ende des Jahres behauptete sich die Tatortfolge auch als drittquotenstärkste Fernsehsendung des ganzen Jahres 2019.41 Rund 12,66 Millionen Zuschauer*innen fieberten an diesem Sonntagabend mit Nadeshka Krusenstern mit: Sie wird kurz vor Heiligabend von einem Russen entführt, der Kommissar Thiel, Nadeshkas Vorgesetzten, damit erpressen will. Thiel soll den Beweis dafür erbringen, dass ein des Mordes angeklagter junger Russe unschuldig sei. Dass der Entführer ausgerechnet als Weihnachtsmann maskiert ist, wird in der Tatortfolge damit begründet, dass Münster in der Weihnachtsvorzeit nur so von ›Weihnachtsmännern‹ wimmelt. Um dem Publikum vorzuführen, wie gut diese Verkleidung für Nadeshkas Entführer funktioniert, lässt die Tatortfolge Kommissar Thiel mehrmals ›Weihnachtsmänner‹ demaskieren, bei denen es sich nie um den Entführer handelt. Dass einmal eine Frau zu Kommissar Thiels Überraschung unter dem Weihnachtsmann-Kostüm hervorkommt, soll die Anonymisierung der Identität durch das Weihnachtsmann-Kostüm unmissverständlich klarstellen. Weitaus auffälliger, signifikanter im Anschluss an die vorherige Lektüre von Wir können nicht anders ist jedoch, dass es sich bei dem Entführer ausgerechnet um den Vater des – tatsächlich unschuldigen – Angeklagten handelt. In einem Dialog mit seinem Entführungsopfer klagt der Entführer, dass er seinen homosexuellen Sohn nach dessen Coming Out verstoßen und ihn im Stich gelassen habe. Um diese Schuld wieder gutzumachen, will der Vater den Sohn nun vor dem Gefängnis retten, wozu er laut Eigenaussage keine andere Wahl gehabt habe als die Entführung und Erpressung – maskiert als Weihnachtsmann. Wie bereits bei Wir können nicht anders geht also die Weihnachtsmann-Maskerade mit einer Krise des Patriarchats einher und soll die patriarchale Ordnung gewaltsam wiederherstellen und in Väterchen Frost den Vater als mächtige, sogar Gerichte und Polizei und damit wichtige

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Vgl. Anonymus: »Fast 13 Millionen sahen weihnachtlichen Münster-›Tatort‹«, in: dpa vom 23.12.2019. Noch etwas mehr Einschaltquote machten im Jahr 2019 nur zwei andere Folgen des Münsteraner Tatorts. Vgl. Anonymus: »›Tatort‹ aus Münster erfolgreichste TV-Sendung des Jahres«, in: Katholische Nachrichten-Agentur vom 23.12.2019.

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Teile der Staatsgewalt übertrumpfende Instanz rehabilitieren. In Väterchen Frost ist es damit im Gegensatz zu Wir können nicht anders der Vater, dem die Weihnachtsmann-Maskerade zur Wiederherstellung seiner patriarchalen Stellung dienen soll. Noch signifikanter für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Konnex von Weihnachtsmann und Patriarchat ist jedoch ein anderes, noch obskureres Detail: In zwei kurzen Sequenzen tritt neben der in dieser Tatortfolge häufiger vorkommenden Weihnachtsmann-Maskerade eine weitere, damit verwandte Figur auf. Zwei Mal in dieser Tatortfolge wird Kommissar Thiel nämlich in seinen Alpträumen von einer Figur geplagt, die wohl sein Bild von Väterchen Frost42 darstellen soll. Im ersten Traum kann er Nadeshka nicht davor retten, dass Väterchen Frost sie misshandelt und ihr ein Ohr abschneidet. Das zweite Mal kann er sich selbst nicht davor schützen, von Väterchen Frost lebendig begraben zu werden. Diese auf Russland-Stereotypen43 beruhende Alptraumfigur mit spitzer Nase, irre aufgerissenen Augen, weißem Rauschebart und Pelzmütze wird dramaturgisch dadurch begründet, dass Kommissar Thiel glaubt, die »Russen-Mafia« habe Nadeshka entführt.44 Allerdings wird nicht näher begründet oder auch nur kommentiert, warum Kommissar Thiel überhaupt seine Ängste auf die Figur Väterchen Frost projiziert. Im Kontext der bisherigen Ausführungen sollte dies allerdings wenig verwundern: Schließlich wird in dieser Tatortfolge Kommissar Thiel als einzige weitere Figur neben dem Entführer in einem patriarchalen Beziehungsgefüge gezeigt: Bereits zu Beginn von Väterchen Frost erfährt das Publikum, dass er sich auf den Besuch seines Sohnes gefreut hatte, der ihn jedoch zugunsten 42

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Zur Einführung zur russischen Figur Väterchen Frost sowie zu dessen Repräsentation im sowjetischen und russischen Film siehe: Beumers, Birgit: »Father Frost on 31 Decemer: Christmas and New Year in Soviet and Russian Cinema«, in: M. Connelly, Christmas at the Movies, S. 185–209. Diese werden auch aufgerufen durch den ›russischen‹ Bären, die von der Tatortfolge im Dialog explizit als ›russisch‹ ausgewiesene Musik und die frostige Kälte in Kommissar Thiels Traum. Während die Alpträume als subjektive Angstbilder von Kommissar Thiel daherkommen, birst die gesamte Tatortfolge vor etlichen rassistischen Stereotypen wie dem stehlenden Polen oder dem schwermütigen, Wodka trinkenden Russen. Tobias Jochheim hat die Tatortfolge daher treffend als »Frohes Fremdschäm-Fest« kritisiert. Vgl. Jochheim, Tobias: »Frohes Fremdschäm-Fest. Im vorweihnachtlichen Münster kämpfen Thiel und Boerne um die entführte Nadeshda. Als Zuschauer ringt man derweil mit einer Handvoll haarsträubender Klischees«, in: Rheinische Post Kernten vom 21.12.2019, S. 33.

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seiner Freundin versetzt. Spätere Szenen mit Thiels eigenem Vater, der als Taxi fahrender Alt-Hippie auftritt, zeigen wiederum, dass er selbst sich ebenso von seinem Vater entfremdet hat wie sein Sohn sich von ihm. Nadeshka wird hingegen wie eine Ziehtochter inszeniert, wenn sie ihm als Weihnachtsgeschenk selbstgebackene Plätzchen bringen will – ausgerechnet in diesem Moment wird sie entführt, weil Kommissar Thiel nicht rechtzeitig zu ihr zur Haustür gegangen ist. Damit hat Thiel als Nadeshkas männlicher Vorgesetzter, als berufliche Vaterfigur in seiner Schutzfunktion versagt. Träumt Kommissar Thiel deshalb danach von Väterchen Frost aus Angst, sie nicht retten zu können, so ist Väterchen Frost wie der Weihnachtsmann auch eine Krisenfigur des Patriarchats.

Die Krise des Patriarchats im Fernsehfilm Frühling: Weihnachtswunder Die bisher gelesenen Beispiele für den Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats können dem Thriller/Krimi zugerechnet werden, weshalb man mutmaßen könnte, dass es sich womöglich um eine krimispezifische Konfiguration handelt. Dass dem jedoch nicht so ist, wird nun zum Abschluss kurz am Beispiel des Fernsehfilms Frühling: Weihnachtswunder vorgeführt. Die Fernsehfilmserie Frühling kann dem im bundesdeutschen Fernsehen noch immer immens beliebten Heimatfilm,45 die hier behandelte Folge Weihnachtswunder zudem der ebenfalls vorrangig im Fernsehen verbreiteten Krankenhauserzählung, zugeordnet werden. Frühling: Weihnachtswunder hat übrigens am 22.12.2019 die zweitbeste Quote für die Primetime im bundesdeutschen Fernsehen nach der Tatortfolge Väterchen Frost erreicht.46 Der Fernsehfilm Frühling: Weihnachtswunder beginnt mit einem Weihnachtsmann, der mit einem Schlitten mit Geschenken und einem prallen Sack durch das idyllisch verschneite Dörfchen Frühling stapft. Es handelt sich dabei um den Dorfpfarrer, der auf dem Weg in die Kinderstation der örtlichen

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Vgl. Scheinpflug, Peter: »Der Heimatwestern, oder: der Chronotopos par excellence des Neuen Deutschen Genrefilms?« (2019), in: Universitätsbibliothek Mannheim 2022, S. 1–23, hier S. 8, https://madoc.bib.uni-mannheim.de/61390/. Vgl. Anonymus: Fast 13 Millionen.

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Klinik ist. Dort besucht er – wie bereits im vergangenen Jahr – ein an Leukämie erkranktes Kind, das mit dem Glauben an den Weihnachtsmann und an das Christkind hadert, da seine Wünsche im letzten Jahr nicht in Erfüllung gegangen waren: Es hatte sich gewünscht, dass seine Mutter weniger weinen müsse, eine Stammzellenspende für es gefunden würde und es noch einmal einen Schneemann bauen könne. Obwohl der Weihnachtsmann für den Hauptplot keine weitere Relevanz hat, ist er auch in Frühling: Weihnachtswunder eine Krisenfigur des Patriarchats, denn im Dörfchen Frühling ist das Patriarchat gleich dreifach in der Krise: Erstens kann der Pfarrer als religiöser Patriarch des Dorfes den kranken Kindern nicht helfen, weshalb diese an ihm und an dem Glauben zweifeln, den er vertritt. Zweitens wird der Hauptplot initiiert durch einen Schreiner, der seine Familie und berufliche Existenz durch eine Spekulation ruiniert hat, weshalb seine Ehefrau ihn aus dem Haus geworfen hat und die älteste Tochter ihn verachtet. Im Suff auf der Suche nach Behauptung seiner männlichen Potenz wird dieser bürgerliche Patriarch bei einem Ski-Unfall ein kleines Mädchen lebensgefährlich verletzen. Und drittens ist der medizinische Patriarch in einer Krise, da er wegen Parkinson seine Position als Leiter der Klinik aufgeben und in den Ruhestand gehen musste. Da jedoch niemand in Frühling davon weiß, ist man in der Klinik überzeugt, dass nur er als unvergleichbare Koryphäe mit seinen (früheren) chirurgischen Fähigkeiten das Leben des Mädchens retten kann. Seine Weigerung zur Hilfe stößt auf Unverständnis, da er verschweigt, dass er an Parkinson erkrankt ist und daher gar nicht helfen kann. Am Ende des Films nach allerlei Überraschungen, Offenbarungen, Geständnissen, Wendungen, Tragödien und Selbsterkenntnissen wird der Weihnachtsmann wieder auftreten und ein Weihnachtswunder vollbringen: Mit einer Schubkarre hat der Dorfpfarrer im Weihnachtsmann-Kostüm Schnee und Utensilien in die Klinik gefahren, damit das leukämiekranke Kind im Klinikzimmer einen Schneemann bauen kann, der Vater und Mutter zum Lachen bringt. Damit ist der Glaube des Kindes und die Position des Pfarrers als geistlicher Patriarch des Dorfes gerettet. Der Schreiner hat sich bei seiner Familie und der Familie des Unfallopfers entschuldigt, ist reuig und besserungswillig geworden und darf als Vater das Weihnachtsfest der Familie mitfeiern. Und der pensionierte Klinikleiter konnte das Mädchen retten – mit der Hilfe seines Schülers, dem ohne den Rat und Beistand des medizinischen Patriarchen der Mut zur überaus riskanten Operation gefehlt hatte. Auch in Frühling: Weihnachtswunder markiert der Weihnachtsmann somit sowohl die Krise des Patriarchats als auch dessen Wiederherstellung.

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

Damit lässt sich festhalten, dass es sich beim Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats um eine transgenerische Konfiguration des aktuellen deutschen Films handelt. Überraschend ist daran jedoch, dass der Fernsehfilm Frühling: Weihnachtswunder eigentlich mit recht starken Frauenfiguren aufwartet: Die Hauptfigur der Frühling-Fernsehfilmreihe ist die »Dorfhelferin« Katja Baumann, gespielt von Simone Thomalla, die allen Männern ins Gewissen redet und sie zum rechten Verhalten anhält. Die neue Klinikleiterin kämpft ihrerseits erbittert und gegen ihre zynischen männlichen Kollegen um das Leben des Mädchens. Dennoch besteht das happy ending vorrangig darin, dass drei Patriarchen nach einer schweren Krise rehabilitiert wurden und wieder Friede, Harmonie und Glück zu Weihnachten in Frühling herrschen. Dieser Befund ist noch signifikanter im Vergleich zu anderen Folgen der Fernsehfilmserie Frühling, in der zumeist Frauen die Hauptrollen stellen und die dramatischen Konflikte eher ›Frauenschicksale‹ wie an Alzheimer erkrankte Mütter oder gemobbte Ehefrauen verhandeln (Abb. 2a-c). Dass in der Folge Weihnachtswunder gleich drei Krisen des Patriarchats erzählt werden, scheint also offenbar durch das Weihnachtssujet motiviert zu sein.

Abbildung 2a-c: Weihnachten ist auch in Frühling Männersache.

Frühling (2022)

Auch in Wir können nicht anders fiel gleich zu Filmbeginn Katja, Herrmanns untreue Ehefrau, durch ihren roten Mantel mit Pelzkragen auf, der sie in Herrmanns nostalgischem Weihnachtswahn zu seiner Mrs. Claus machte.

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Zwar treibt sie die Handlung voran und befeuert die Konflikte der Männer, indem sie sich Herrmann widersetzt. Für das happy ending ist sie jedoch ebenso irrelevant wie Protagonistin Edda, da die beiden Männer Herrmann und Sam es unter sich ausmachen.47 Nicht anders verhält es sich bei Väterchen Frost, in dem das happy ending ebenfalls ganz von der Tatkraft der Männer bestimmt ist, da Kommissar Thiel, mit Hilfe von Rechtsmediziner Boerne, den Fall löst und den tatsächlichen Mörder stellen kann – während Nadeshka dabei reduziert ist auf die dramaturgischen Funktionen der damsel in distress und der Sympathiespenderin für den Entführer, indem sie als Sympathieträgerin durch ihre Zuneigung zu ihm diesen trotz seiner Verbrechen, Entführung und Erpressung, positiver erscheinen lassen darf.48 Insofern ist unbedingt Karal Ann Marling zuzustimmen, dass die populärkulturelle Repräsentation von Weihnachten hochgradig männlich konnotiert ist, und ebenso der Schlussfolgerung: »Studying Christmas would turn anyone into a card-carrying feminist.«49 Mit Blick auf den aktuellen deutschen Film kann darauf erwidert werden: Ja, auch im aktuellen deutschen Film steht Weihnachten ganz unmissverständlich im Zeichen der anhaltenden Vorherrschaft des Patriarchats – zumindest rund um Weihnachten herum –, aber zumindest der ›Weihnachtsmann‹ wird subversiv als Krisenfigur von Männlichkeit und Patriarchat vorgeführt.

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Am Ende des Films sitzen sich Protagonist Sam und Antagonist Herrmann im Schlitten gegenüber, den Herrmann als Teil der Weihnachtsmann-Dekoration dem Dorf geschenkt hat. Herrmann bedroht Sam mit dem Gewehr und hält einen melancholischen Monolog über das von ihm empfundene Unrecht gegenüber Männern wie ihm in der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Edda will sich zwar von hinten an Herrmann heranschleichen, um ihn hinterrücks bewusstlos zu schlagen und so Sam zu retten. Bevor sie ihre Heldinnentat jedoch durchführen kann, wählt Herrmann den Freitod, indem er sich selbst mit dem Gewehr erschießt. Edda ist in dieser Szene zwar für den Spannungsaufbau, nicht jedoch für den gesellschaftskritischen Dialog und die Auflösung des Konflikts zwischen den beiden im Schlitten des Weihnachtsmanns gegenüber-›gesetzten‹ Männlichkeitsidealen, die Sam und Herrmann verkörpern, relevant. Zu dieser Strategie der Sympathielenkung siehe: Smith, Murray: »Gangsters, Cannibals, Aesthetes, or Apparantly Perverse Allegiances«, in: Carl Plantinga/Greg M. Smith (Hg.), Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion, Baltimore/London 1999: Johns Hopkins University Press, S. 217–238, hier S. 226. Marling, Karal Ann: Merry Christmas: Celebrating America’s Greatest Holiday, Cambridge/London: Harvard University Press 2000, S. xi.

Peter Scheinpflug: »Wir können nicht anders«

Fazit: Der Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats im aktuellen deutschen Film Samuel L. Macey hat den Weihnachtsmann, wie er heute maßgeblich durch den US-amerikanischen consumerism geprägt ist, als die kulturhistorisch letzte Figuration der patriarchs of time beschrieben, die zwar wohlwollend erscheinen mag, aber als Personifikation von Weihnachten ebenfalls durch einen Dualismus bestimmt ist wie die kulturgeschichtlich früheren patriarchs of time wie Saturn oder Nikolaus: Zum einen stünde der Weihnachtsmann als Geschenkebringer für einen hochgradig nostalgisch aufgeladenen gegenwärtigen Hedonismus, zum anderen personifiziert er aber auch die Zeit des Heilsbringers Jesus Christus und steht damit für zukünftige Glückseligkeit durch Genügsamkeit.50 In den hier vorgestellten jüngeren deutschen Filmen wird dieser Dualismus, dieses »temporal dilemma«51 , wie Samuel L. Macey es nennt, so aufgelöst, dass der Weihnachtsmann als Krisenfigur des Patriarchats auftritt, der zum einen das Versagen der Patriarchen als Behüter der Gemeinschaft kenntlich macht, während zum anderen die Weihnachtsmann-Maskerade der gewaltsamen Etablierung eines zukünftigen Patriarchats dient, das dem idealisierten, verlorenen, vergangenen Patriarchat entspricht. Während in Wir können nicht anders die Weihnachtsmann-Maskerade von einem Sohn genutzt wird, um die Patriarchen für ihr Versagen zu bestrafen, soll sie im Tatort Väterchen Frost und in dem Heimatfernsehfilm Frühling: Weihnachtswunder den Vaterfiguren dazu dienen, ihr Versagen als Patriarchen zu verarbeiten und sich wieder als schützende Patriarchen zu etablieren. Lauren Rosewarne hat 2017 in Analyzing Christmas in Film eine kleine Typologie der Weihnachtsmann-Figuren samt der an ihn glaubenden Figuren im Spielfilm vorgelegt, die unter anderem den Weihnachtsmann als Christusgleiche oder auch als allwissende Figur behandelt.52 Mit Blick auf aktuelle deutsche Filme müsste die Weihnachtsmann-Maskerade als Krisenfigur des Patriarchats ergänzt werden.

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Vgl. S.L. Macey: Patriarchs of Time, S. 177f. Ebd., S. 178. L. Rosewarne: Analyzing Christmas in Film, S. 42–53.

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Über die Krise als transmediales Genrenarrativ Better Watch Out (2016) und Silent Night (2021) Irina Gradinari

Krise als Narrativ Weihnachten und Krise scheinen einander auszuschließen, jedoch nicht, wenn es um einen Weihnachtshorrorfilm geht, der als Inbegriff der Krise schlechthin fungiert. Der Weihnachtshorrorfilm dekliniert die Dysfunktionalität der Familie, entlarvt patriarchale Subjektivierungsformen als destruktiv und entsagt der Vereinigung von Geliebten1  – zeigt also Gemeinschaft in der Krise. Krise kann jedoch nicht nur für die Lektüre der Weihnachtsfilme produktiv gemacht werden, sondern scheint ein neues Verständnis vom Genre selbst zu liefern. Denn Krise, so mein Vorschlag, kann Genres als soziologisches Modell erfassen – durch eine Krise werden aktuelle Diskurse ins Genre aufgenommen und zugleich das Genre selbst an populäre Erzählformen außerhalb des Kinos angeglichen. Das wird insofern möglich, als dass viele Forscher:innen festhalten, Krise sei vor allem ein Narrativ, so zum Beispiel Rainer Leschke: »Die Krise ist zunächst einmal eine dramaturgische Kategorie und d.h., Krisen werden erzählt.«2 Krise ist also generisch produktiv, da sie eine besonders effektvolle

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Zu den Kategorien des Weihnachtsfilms siehe Geier, Andrea/Gradinari, Irina/Hnilica, Irmtraud: »Weihnachtsfilme lesen. Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Weihnachtsfilme lesen: Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023, S. 7–19. Leschke, Rainer: »Medientheorie und Krise«, in: Ute Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld: transcript 2013, S. 9–32, hier S. 29. Zur Kulturgeschichte des Krisennarrativs im gleichen Band vgl. Hülk, Walburga: »Narrative der Krise«, in: dies./ Fenske/Schuhen, Die Krise als Erzählung, S. 113–131.

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Aufbereitung von Information durch deren dramatische, oft auch hypothetische Zuspitzung ermöglicht. Die Besonderheit von Krise ist nach Iuditha Balint und Thomas Wortmann unter anderem ihre Produktivität in der Narrativierung und Bearbeitung komplexer gesellschaftlicher Bereiche, die sonst kaum greifbar sind.3 Die meisten Krisenerzählungen behandeln globale bis zu planetarischen Phänomenen: Staaten und soziale Ordnungen, Finanzmärkte und Kapitalzirkulation, Biotope und Ökosysteme.4 Krise ist dabei eine Narrationsstrategie der Skandalisierung und Übertreibung, mit der die Aufmerksamkeit gelenkt und eine aktuelle sozialpolitische Agenda generisch verarbeitet wird. Nach Leschke sind nur die Phänomene krisenfähig, die zeitkritisch sind – also zu einem akuten Handlungsbedarf drängen.5 Es ist jedoch auch denkbar, dass die Erzählung selbst erst einen Handlungsbedarf generiert. Krise stellt auf jeden Fall laut Rolf Parr ein zeitliches Phänomen dar, das nicht von Dauer ist – »eine dramatische, situative, kurzfristige Zuspitzung«, die tendenziell reversibel erscheint und sich daher von der Katastrophe als einer »irreversiblen Zäsur« unterscheidet.6 Krise übersetzt also komplexes, abstraktes Geschehen in eine Handlung, die zum einen an Menschen gebunden oder durch Menschen gemacht ist, denn sie sind Beobachter:innen, Empfänger:innen und meistens auch Verantwortliche für die Krise7  – damit wird eine Komplexitätsreduktion angestrebt, wodurch symbolisch der Gewinn an Kontrolle über globale Prozesse (auch durch Handlung der Akteure) inszeniert wird. Ist Krise vor allem eine Erzählung, so konstituieren Krisen in freier Anlehnung an Rolf Parr Bedeutung, bei der es mit Hilfe der Narration um die Veranschaulichung abstrakter sozialer Phänomene geht, weswegen sie Diskursfiguren, Argumentationsmuster und Bilder etablieren, die diese Phänomene zugleich mitkonstituieren, weil sie diese erst vorstellbar und 3 4 5 6 7

Balint, Iuditha/Wortmann, Thomas: »Die Schönheit der Tulpe. Oder: Krisen erzählen«, in: dies. (Hg.), Krisen erzählen, Paderborn: Wilhelm Fink 2021, S. 1–19, hier S. 8. Ebd., S. 8. Vgl. R. Leschke: Medientheorie, S. 10. Parr, Rolf: »Krisen und/oder Katastrophen erzählen?« In: Balint/Wortmann, Krisen erzählen, S. 21–34, hier S. 23. Fehmi Akalin unterscheidet zwischen Verursachern und Geschädigten, Entscheidern und Betroffenen, vgl. Akalin, Fehmi: »›Flirting with desaster‹. Die Krisenerzählungen der Filmforschung am Beispiel des Katastrophen-Films«, in: Il-Tschung Lim/Daniel Ziegler (Hg.), Kino und Krise. Kultursoziologische Beiträge zur Krisenreflexion im Film, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 7–30, hier S. 9.

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

greifbar machen.8 Dadurch werden globale Phänomene allerdings allein als Krise wahrgenommen, wenn sie sonst kein anderes Bild in der Gesellschaft besitzen. Krise etabliert somit eine selektive Wahrnehmung, die die Sicht auf Probleme zuschneidet,9 diese herauspickt oder gar selbst erschafft. Krise ist dabei prognostisch und appellativ, warnt und bewegt zur Handlung, um die Katastrophe zu verhindern.10 Als Narrativ ist der Krise daher mit Rolf Parr auch zugleich das Bestreben nach der Re-Normalisierung eingeschrieben, so konstruieren Krisen nachträglich einen Idealzustand, den es sicher in dieser Form vor der Krise gar nicht gab.11 Deswegen ist Krise höchst ideologisch: Mit ihrer negativen Dramatisierung und ihrem erhöhten Alarmismus wird jedes Thema als Schreckensszenario geformt, so produziert sie eine Atmosphäre ständiger Gefahren, eine Art apokalyptische Gegenwart: kurz vor dem Kippen in eine Katastrophe, was zugleich eine affektive Prägsamkeit zur Folge hat – ein nicht zu unterschätzendes Moment in Informationsgesellschaften mit harter Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Zuschauenden im Wust der Daten. Zugleich wird es möglich, nachträglich verschiedene Normen zu legitimieren, die scheinbar die Krise verhindern könnten. Vor diesem Hintergrund erscheint die Krise als Narrativierungsinstrument und -modell. Die meisten Filme können in Begriffen der Krise beschrieben werden, als eine zeitliche, situative, dramatische Zuspitzung, die gegen Ende in der Regel überwunden wird. In diesem Zusammenhang unterscheide ich zwischen generischen und diskursiven Krisen. Unter generischer Krise können Genreerzählstrategien subsumiert werden. So ist der Weihnachtshorrorfilm, wie jeder Horrorfilm, eine dramatische Zuspitzung von schlechten Zuständen mit Darstellung von extremer Gewalt. In seinem Fokus steht vor allem die Dysfunktionalität der Familie – der Weihnachtshorrorfilm ist somit ein Genre der Familienkrise und der männlichen Subjektivität, die je nach Darstellungsform auf die Gemeinschaft ausgedehnt werden kann. Auch die Entleerung der kulturellen Sinnkonstruktionen kann als eine generische

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Vgl. R. Parr: Krisen, S. 22. Vgl. I. Balint/T. Wortmann: Die Schönheit der Tulpe, S. 8. Daher besteht eine Nähe der Krise zum Szenario, das laut Jules Buchholtz ebenfalls handlungsorientiert ist, vgl. Buchholtz, Jules: Wem gehört die Zukunft? Wissen und Wahrheit im Szenario, Berlin: Neofelis 2019 und Buchholtz, Jules/Schulte, Philipp: »Contaguo cine qua non oder wie Al Gore die Zukunft in Brand steckte«, in: Lim/Ziegler (Hg.), Kino und Krise, S. 87–113. Vgl. R. Parr: Krisen, S. 29.

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Besonderheit der Weihnachtshorrorfilme erfasst werden, wie ich es an einer anderen Stelle ausgeführt habe.12 Weihnachtshorrorfilme unterscheiden sich allerdings voneinander, weil sie noch weitere Krisen aufnehmen – etwa diskursive Krisen, mit deren Hilfe aktuelle Themen in Bilder der Genres transformiert und behandelt werden. Diese produktive Interaktion zweier oder mehrerer Krisenformen im Genre möchte ich anhand von zwei Kammerspielfilmen, den Weihnachtshorrorkomödien Better Watch Out (AUS/USA 2016, R: Chris Peckofer), mit dem ursprünglichen Titel Safe Neighborhood, und Silent Night (dt. Titel Silent Night – Und morgen sind wir tot) (UK 2021, R: Camille Griffin) diskutieren. Beide Filme ähneln sich durch ihren Fokus auf zwei prominente Figuren des Weihnachtsfilms und des Horrorgenres: Die Kevin-Figur, der kleine Junge, den die Eltern zu Weihnachten zu Hause vergessen haben, und das Final Girl (Clover),13 die wehrhafte aktive junge Frau, die das Monster besiegt und so auch als Figur des Feminismus14 verstanden wird.

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Vgl. Gradinari, Irina: »Zu einer anderen Tradition: Horrorweihnachten. Black Christmas (1974) und Silent night, deadly night (1984)«, in: dies./Geier/Hnilica (Hg.), Weihnachtsfilme lesen, S. 173–194. Clover, Carol J.: »Her Body, Himself: Gender in the Slasher Film«, in: Representations, No. 20: Special Issue: Misogyny, Misandry, and Misanthropy (Autumn 1987), S. 187–228; Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws: Gender in Modern Horror Film, Princeton University Press 1992. Das Final Girl ist eine überlebende, kämpferische Frauenfigur am Ende des Horrorfilms, die das Monster überwältigt, wobei sie dadurch ebenfalls monströs wird. Dabei zeichnet es sich durch Androgynität aus und dient laut Clover als eine Cross-Identifikationsfigur für die Identifizierung der männlichen Jugendlichen, die als Adressaten des Horrorfilms fungieren – ein Aspekt, der eine queere Rezeption des Final Girl als Butch durch Halberstam ermöglichte. Vgl. Halberstam, Jack: Skin Shows: Gothic Horror and the Technology of Monsters, Durham: Duke University Press 1995. Das Final Girl wird sowohl als Figur des Feminismus als auch als kritische Trope verstanden, die nun in anderen Genres zu finden ist und die die Debatten zu geschlechtsdifferenter Rezeption und weiblichem Empowerment im Film ermöglichte. Vgl. dazu Paszkiewicz, Katarzyna: »›Just Keep Looking Forward or We’ll Be Stuck Here Forever‹: The Final Girls, Spektatorial Address and Transformations of the Slasher Form«, in: dies./Stacy Rusnak (Hg.), Final Girls, Feminism and Popular Culture, Cham: Palgrave Macmillan 2020, S. 247–270, hier S. 256. Zum Überblick zu aktuellen Debatten um das Final Girl siehe Paszkiewicz, Katarzyna/Rusnak, Stacy: »Introduction: Reimaging the Final Girl in the Twenty-First Century«, in: dies., Final Girls (Hg.), S. 1–37.

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

Better Watch Out (AUS/USA 2016, R: Chris Peckofer) Zu Weihnachten bleibt der 12-jährige Junge Luke (Levi Miller) mit seiner 17jährigen Babysitterin, der Schönheit Ashley (Olivia DeJonge), allein zu Hause, während seine Eltern zu einer Weihnachtsparty gehen. Es ist das letzte Mal, dass Ashley auf Luke aufpasst. In ein paar Tagen möchte sie die kleine Stadt für ein Studium verlassen. Aus einem Gespräch Lukes mit seinem Freund Garret (Ed Oxenbould) erfahren wir, dass Luke in Ashley verliebt ist und einen Plan vorbereitet hat, um sich ihr an diesem letzten Abend anzunähern, was ihm allerdings nicht gelingt. Die Handlung besteht dabei, ähnlich wie ein vorbildhaftes Theaterstück, aus fünf Akten, die jedoch zeitlich unproportional aufgeteilt werden und in denen die Handlung über Täuschungen von Bedrohung doch zur Gewalt eskaliert. Dabei muss der Plan, den Luke hat, im Nachtrag wiederholt revidiert werden. Die Zuschauenden sind nicht in seine Pläne eingeweiht und es sieht zunächst so aus, als ob die Gewalt versehentlich ausbricht und die Situation zufällig außer Kontrolle gerät. Gegen Ende stellt sich jedoch heraus, dass fast alles dem Plan gemäß verlaufen ist – in dieser Planbarkeit der Gewaltaktionen erinnert der Film an Home Alone (dt. Kevin – Allein zu Haus, USA 1991, R: Chris Columbus), der in einer Szene zu Beginn explizit von Luke erwähnt wird. Im Gegensatz zu Home Alone, der selbst in Referenz auf zum Beispiel First Blood (dt. Rambo, USA 1982, R: Ted Kotcheff) die Vorbereitungen der Wehraktionen als Bestandteil der eigenen Spannungsdramaturgie präsentiert, ist die Perspektive der Zuschauenden in Better Watch Out die von Ashley – dem Final Girl – und kommt somit buchstäblich von außen. Wir betreten mit ihr zusammen den Ort der Handlung – das Haus. Die ersten Szenen, in denen Ashley und Luke mit ihren Eltern in Verbindung stehen, stellen eine Art Exposition dar, in der die Figuren in ihrer Umwelt (und so auch psychologisiert) eingeführt werden. In diesem Zusammenhang wird die gewaltsame Entwicklung vorausgedeutet, wenn Ashley auf dem Weg zu Luke fast eine schwarze Katze überfährt oder Lukes Vater (Patrick Warburton) seine rote Weihnachtskrawatte gegen eine schwarze austauscht und somit Black Christmas als ein bereits tradiertes Horror-Szenario aufruft. Der erste Akt bereitet die Zuschauenden auf einen Horrorfilm vor. Der zweite Akt oszilliert zwischen einem Kinderfilm, einer romantischen Komödie und einem Horrorfilm, stellt auf jeden Fall romantische Annäherungsversuche Lukes als lächerlich und naiv dar. Ashley lehnt ihn dezidiert ab. Auch passt ein solcher romantischer Abend genregemäß nicht zu den

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Figuren – sie sind noch zu jung bzw. Kinder. Die generische Diskrepanz wird durch Referenzen auf andere Horrorfilme verstärkt. Zum Beispiel klingelt das Telefon und keiner antwortet – damit referiert der Film auf die Halloweenund Scream-Filmreihe, in der der Mörder seinen Angriff durch den Anruf ›ankündigt‹. Oder eine Pizza wird geliefert, wobei die Jugendlichen sie nicht bestellt haben. An dieser Stelle referiert der Film erneut auf Home Alone, in dem sich Kevin eine Pizza bestellte. Pizza fungiert eher als Kinderessen und macht so auf generische Diskrepanzen aufmerksam, wenn die Kinder einen romantischen Abend arrangieren. Der dritte Akt zeigt den Umschwung von der romantischen Atmosphäre, die sich kaum einstellen konnte, zur Bedrohung als eine dramaturgische Steigerung. Jemand greift das Haus an, wodurch mit typischen audiovisuellen Horrorelementen (etwa hörbare Schritte eines Eindringlings, Schatten am Fenster, Verschiebung der Weihnachtsmannskultpur, eine große Spinne usw.) und dem Spiel mit eingeschränkter Sichtbarkeit Horrorspannung aufgebaut wird. Die Jugendlichen fliehen erst auf den Dachboden – ebenfalls ein prominenter Ort des Schreckens, etwa in Black Christmas (CAN 1974, R: Bob Clark). Daraufhin verstecken sich die Kinder im Schrank, was auch zum Repertoire des Horrorgenres gehört. Die Zuschauenden folgen Ashleys Perspektive und werden, wie sie, verängstigt und somit ebenfalls getäuscht, bis Ashley herausfindet, dass der Eindringling Lukes Freund Garret ist. Damit erreicht der Film erst die Mitte seiner Zeit – es scheint so zu sein, dass alle bedrohlichen Vorausdeutungen Täuschungen von Garret und Luke waren, wodurch der Film eigene Horrorelemente entleert. Denn der Film wechselt durch die Enthüllung des eigenen Illusionsverfahrens von der Inhalts- zur Produktionsebene, was eine selbstreflexive Qualität bekommt: Uns werden tradierte Strategien vorgeführt, wie Angst im Kino produziert wird, und zwar durch Maskierung der Figuren und Manipulation des Sichtbaren, was im Film buchstäblich inszeniert wird. Ashley erkennt am Gesicht des Eindringlings die Maske von Luke, die er nun abnehmen muss: Zwei Jugendliche haben also diese Aktion organisiert, um das Vertrauen der jungen Frau zu missbrauchen und sich eventuell als Helden vor ihr zu inszenieren. Der Film springt an dieser Stelle vom Horrorfilm zum Kinderfilm, indem er den vergeblichen Versuch der Kinder in Szene setzt, Erwachsene nachzuahmen. Der Plan ist daher nicht umsetzbar. Der vierte Akt stellt zeitlich den größten Teil dar. Ab der Mitte geht der Film über sein eigenes, davor gestiftetes Inszenierungsverfahren hinaus – die echte Gewalt bricht aus und wird zunehmend gesteigert. Luke verletzt Ashley und ihren Freund Ricky (Aleks Mikic), der dazu gekommen ist, und fesselt beide

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

an Stühle. Daraufhin bringt er Ricky mit der schwingenden Farbdose (Trick aus Home Alone) um, hängt einen weiteren Freund von Ashley, den er unter einem Vorwand zu sich gelockt hat, im Garten am Baum auf. Er erschießt seinen Freund Garret, als er ihn dabei ertappt, Ashley zu befreien und ersticht Ashley mit einem Messer. Dass hinter alldem der Plan steckte, Freunde, auf die er offensichtlich eifersüchtig war, zu beseitigen, und wenn es sein muss auch Ashley, sollte diese ihn ablehnen, wird gegen Ende deutlich, wenn er mit Genuss – auch hier referiert der Film auf Home Alone, aber auch auf Funny Games (A 1997, R: Michael Haneke) – alle Indizien so manipuliert, dass das Verbrechen auf den aufgehängten Freund zurückzuführen ist, dessen Mord er als Suizid vertuscht. Der Mord an Garret scheint zunächst ungeplant zu erfolgen, doch es besteht die Möglichkeit, dass er ihn als Zeugen beseitigen wollte. Denn es geht um ein perfektes Verbrechen, wie sich am Ende herausstellt. Im letzten Akt, der Auflösung, die nur wenige Minuten dauert, erscheinen noch zwei weitere Wendungen in der Deutung der Gewalteskalation: Im Ausblick sehen wir, wie Luke als Opfer, das das Massaker scheinbar zufällig überlebt hat, in den Armen seiner Mutter getröstet wird. Sein Plan war es also nicht so sehr, sich Ashley anzunähern, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Mutter zu bekommen. Ashley war also eine Ersatzmutterfigur, an der er sich mit Genuss gerächt hat. Die Mutter nimmt ihn in die Arme – die Szene zu Weihnachten stellt die Ikonografie der Mutter Gottes mit ihrem Sohn her und karikiert diese zugleich. Die Mutter umarmt den Massenmörder. Das wird darüber hinaus mit der zweiten Wendung konterkariert – in der letzten Minute erfahren wir, dass Ashley doch überlebt hat (aus dem Krankenwagen erhebt sie den Mittelfinger) und so als Zeugin sein nahezu ›perfektes‹ Verbrechen enthüllen wird. Der Film baut also seine Spannung über den Wechsel der Genres (Weihnachtsfilm – Horrorfilm – romantische Komödie – Kinderfilm – Horrorfilm – Weihnachtsfilm) auf, die offensichtlich alle in ein Weihnachtsszenario integrierbar erscheinen, und produziert die Schaulust aus der Ununterscheidbarkeit von Täuschung und Wahrheit sowie Inszenierung und ›Realität‹, weswegen sich die Zuschauenden mehrmals über die Manipulation der Sichtbarkeitsordnung, die in der Regel im Horrorfilm auch zugleich dem Regime der »maximalen Sichtbarkeit« (etwa bei Gewaltszenen) unterworfen ist,15 durch den Film bewusst werden und die zur mehrfachen Revision des 15

Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm, Bielefeld: transcript 2008, S. 350.

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Gesehenen zwingt. Die Deutungslust wird auch durch absichtliche Darstellungsfehler angetrieben, die den Film als B-Movie stilisieren, der angeblich unsauber geschnitten wurde: So wird etwa Ashley zu Beginn durch ein Auto verfolgt – das wird nicht näher erklärt oder in die Handlung eingebunden. Auch gibt es einen Fehler mit dem Bleistift, den Luke Ashleys Freund Rickey ins Gesicht steckt. Er wird herausgezogen, gegen Ende hat er jedoch wieder den Stift im Gesicht, den Luke noch schnell sauber macht und auf die Türklinke legt, um das eigene Alibi zu sichern – er war ja während des Massakers angeblich in seinem Zimmer. Fehler zwingen zur genauen (Re-)Lektüre des Films.

Abbildung 1: Die christliche Mutter-Sohn-Ikonografie wird zu einer Karikatur, denn die Mutter fürchtet sich vor ihrem Sohn, der eigentlich ein skrupelloser Massenmörder ist.

Better Watch Out (2016)

Better Watch Out schreibt dabei Home Alone um, was ebenfalls die Lust produziert, den Film vor dem Hintergrund des Weihnachtsklassikers zu lesen und die Umdeutungen zu entziffern. Nicht ein Kind bleibt zu Hause, sondern mehrere Jugendliche. Die Eltern vergessen ihr Kind nicht aus Versehen im Stress, sondern lassen es absichtlich allein, um eben ohne es zu feiern. Wieso feiert aber die Familie Lukes nicht zu Hause mit ihrem Sohn Weihnachten und stellt somit performativ keine Vereinigung der Familie in der Geburt Christi her? Wieso ist Garret nicht zu Hause bei seiner Familie? Alle jugendlichen Figuren scheinen nicht mehr in ihre Familien eingebunden zu sein. Lukes Mutter (Virginia Madsen) ähnelt auch optisch Kevins Mutter (Catharine O’Ha-

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

ra), hält allerdings im Gegensatz zu ihrem Vorbild immer eine Distanz zu Luke. Später ahnen wir, wieso – sie hat selbst Angst vor ihrem Sohn, weswegen sie zum Beispiel einen Bleistift auf die Türklinke seiner Zimmertür legt, um zu überprüfen, ob er in der Nacht das Zimmer verlassen hat. Luke als KevinFigur entpuppt sich als kein niedlicher Junge, sondern als skrupelloser Mörder – ein Psychopath, der zugleich Home Alone als Verharmlosung der Gewalt entlarvt. Die Tricks aus diesem Film erweisen sich als tödlich. Und die Gefahr kommt nicht mehr von außen, das Haus ist keine Schutzburg, die vor der Außenwelt schützt, wie es in der Zeit des Kalten Krieges inszeniert wurde, der Home Alone zuzuordnen ist. Das Heim selbst entpuppt sich so als Quelle der Gewalt. Dort sind Jugendliche gefangen, während Erwachsene jede Möglichkeit wahrnehmen, aus einem solchen Haus zu fliehen. Das veranschaulicht auch die Szene mit Ashley, die am Ende mit einer Weihnachtsgirlande gefesselt wird – die Weihnachtsdekoration verhindert, dass sie der Gewalt entkommen kann. Weihnachten als Versöhnungs- und Stiftungsritual, das vor allem der Familie durch einen performativen Anschluss an die Geburt Christi Halt und Revitalisierungskraft gibt, wird in diesem Zusammenhang in seiner Bedeutung entleert – Weihnachten ist nur eine Dekoration, eine geschmückte Oberfläche, die die Gewalt im Herzen der Familie verdeckt. Better Watch Out bedient sich dafür der Tradition eines Serienmörderfilms, indem die Pathologie des Jungen aus der Familienkonstellation hergeleitet wird.16 Diese Tradition ruft er bereits mit seiner Titelreferenz auf You Better Watch Out (USA 1980, R: Lewis Jackson) auf, in dem der künftige Serienmörder zum Zeugen der Verführung seiner Mutter durch einen Weihnachtsmann wird. Das Weihnachtsfest wird so zu einem traumatischen Erlebnis, das Jahre später Mordlust zu Weihnachten auslöst. In Better Watch Out gibt es dieses traumatische Erlebnis nicht, es steht jedoch ebenfalls ein pathologisches Verhältnis des Sohnes zur Mutter im Fokus. Bereits in der ersten Szene zu Hause, in der die ganze Familie in der Interaktion zu sehen ist, zeichnet

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Gradinari, Irina: »Genre, Gender und Lust an der Gewalt: Zum Serienmordfilm«, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 10 (2016): Genre und Gender, hg. v. Ivo Ritzer und Peter Schulze, S. 45–61. Vgl. auch Höltgen, Stefan: Schnittstellen – Serienmord im Film, Marburg: Schüren 2010; Höltgen, Stefan/Wetzel, Michael (Hg.): Killer/Culture. Serienmord in der populären Kultur, Berlin: Bertz + Fischer 2010. Zur bösen Mutter vgl. Brauerhoch, Anette: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg: Schüren 1996.

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sich die Dysfunktionalität dieser Familie ab: Luke ist 12, schläft aber mit einem Gerät, das die Geräusche im Mutterleib imitiert. Das deutet auf seine inzestuöse Bindung zur Mutter hin. Die Mutter ist streng mit ihm, hält penibel Ordnung im Haushalt und dominiert den Vater. Die Mutter weist also sadistische Züge auf und entmachtet den Vater, weil sie ihn durch Witze als lächerlich vorführt. Der Vater nennt sich wiederum metrosexuell, was so viel bedeutet, wie binär-geschlechtliche Differenzen zu missachten: wenn ein heterosexueller Mann feminin erscheint oder stereotype Vorstellungen über Schwule nachahmt (eine Art Männlichkeit als Maskerade17 ). In seinem Erscheinungsbild entspricht er jedoch Vorstellungen von heterosexueller Männlichkeit, und den Begriff metrosexuell kann er nicht einmal richtig aussprechen. Hier werden also humorvoll verschiedene Zeichen zusammengeführt, die vor allem das Profil des Serienmörders erschaffen – ein Junge, der eine pathologische Bindung an die Mutter hat, weil der Vater schwach oder abwesend ist.

Abbildung 2: Das Opfer und sein Täter: Ikonische Verdichtung Weihnachtens als anachronistisches Ritual, das als Dekoration die Gewalt verdeckt und die Familie als heilig zu inszenieren ermöglicht.

Better Watch Out (2016)

Weihnachten als Familienfeier bleibt trotzdem als Gründungstopos bestehen – als Ort, an dem Motive und Figuren in ihrer symbolischen Kraft

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Benthien, Claudia/Stephan, Inge (Hg.): Männlichkeiten als Maskerade: Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln: Böhlau 2012.

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

verhandelt werden bzw. auf ihre generative Kraft hin überprüft und in diesem Fall entsorgt werden. Hier setzt also die eigentliche Krise ein, die im Film erst ab dem vierten Akt in Szene gesetzt wird. Denn die Kevin-Figur als mythologisches wehrhaftes überpotentes Kind der 1990er Jahre wird nun in die Tradition der Serienmörder eingereiht, als unbrauchbarer, gefährlicher Psychopath entlarvt und in diesem Zusammenhang eigentlich entsorgt: Die Kevin-Figur, Erbe des Kalten Krieges und Allegorie des weißen Amerika, die einst die Wehrhaftigkeit der Nation verkörperte und als Signifikant der Zukunft codiert war, die vor allem White Man Supremacy propagierte, erscheint nun als eigentliche destruktive Figur, die es zu bändigen und zu entmachten gilt. Mit Ashley wird eine weitere Figur der 1980er bis 2000er Jahre entsorgt – das Final Girl als Figur des wehrhaften Feminismus, der die Monster des Patriarchats mit dessen eigenen Waffen schlägt. Ashley überlebt das Gemetzel, allerdings ist sie ungewöhnlich passiv. Sie wird zunächst als Hauptfigur etabliert, die als Babysitterin auch Kontrolle über das Kind und somit über die Handlung haben sollte. Diese Macht verliert sie allerdings bald: Erst wird sie verängstigt und dann reißt Luke die Macht der Handlung an sich. So wird Ashley bereits zu Beginn der Gewaltdramaturgie an den Stuhl gefesselt. Einmal gelingt es ihr, sich zu befreien, doch sie wird erneut gefangen und gefesselt. Da alle mit Weihnachten beschäftigt sind, merken die Menschen auf der Straße gar nicht, dass in diesem Haus etwas nicht in Ordnung ist. Sie wird ins Haus zurückgebracht und muss sich alle Verbrechen ansehen, bis Luke auf sie einsticht. Sie überlebt, indem sie sich die Wunde mit Isoband zuklebt. Als Final Girl wird sie jedoch geschlagen, gestoßen, gefesselt und geschnitten, also sichtbar erniedrigt und mit sadistischer Lust für ihre Passivität bestraft, also dafür, dass sie die Gefahr weißer Männlichkeit zu spät erkennt und sich deshalb nicht mehr wehren kann. Wir haben es hier also mit einer Überlagerung zweier Krisenformen zu tun: einer Krise als Genrenarrativ des Weihnachtshorrorfilms, das sich bereits in den 1970er Jahren etabliert, und einer Krise als Intervention aktueller Diskurse ins ästhetische System des Films. Als Horrorfilm funktioniert der Film perfekt – er setzt das krisenhafte Narrativ als tradierte Genrestrategie ein, bei der eine dauerhafte Zuspitzung von Gewalt für die Figuren in einer Katastrophe endet, während für die Hauptfigur eine Normalisierung stattfindet. Lukes Mutter umarmt ihn gegen Ende des Films zum ersten Mal. An dieser Stelle legitimiert der Film nachträglich die bürgerliche Familie als Ideal. Wäre die Familie in ihren als patriarchal bestimmten Rollen intakt (eine schwache schutz-

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bedürftige Mutter und ein wehrhafter Vater), würde Luke nicht zum Massenmörder werden. Weiterhin gewinnt der Film in seiner Kombinatorik von Motiven, dem Spiel mit der Sichtbarkeit und der wiederholten Revision des Gesehenen Schaulust, die durchaus genrereflexive Momente hat – wie also kann der Horror vor dem Hintergrund bestehender Filmtraditionen hergestellt werden? Ausgehend von dieser Perspektive sind Genrestrukturen nicht in der Krise, sie folgen nur einer diegetischen Krise der Familie als Krise der Pubertät, um erzählen zu können. Diesem Krisennarrativ wird eine weitere Krise eingeschrieben, die als eine kategoriale Krise erscheint, indem ikonische Filmfiguren, Final Girl und Kevin, und somit Symbole des Feminismus und der White Supremacy sowie einer wehrhaften Zukunft als dysfunktional entlarvt und gewissermaßen entsorgt werden. Diese kategoriale Krise kann allein vor dem Hintergrund der kulturellen und filmästhetischen Bedeutung dieser Figuren erkannt werden.

Silent Night (UK 2021, R: Camille Griffin) Der Film von Camille Griffin ist in Analogie zu Better Watch Out ein Kammerspiel, greift jedoch beide Figuren unter einem apokalyptischen Vorzeichen auf. Silent Night bedient sich eines Endzeitgenres und ist daher kein ›reiner‹ Horrorfilm, was nicht besonders verwunderlich ist. Es gibt kaum Regisseurinnen, die sich im Horrorgenre betätigen – ein Phänomen, das noch genauer zu erforschen ist.18 Auch dieser Film ist eine Horrorkomödie bzw. eine apokalyptische Komödie mit einzelnen Horrorelementen. Ähnlich wie Better Watch Out funktioniert Silent Night durch Täuschungen, Auslassungen und die dadurch erwirkte Revision des Sichtbaren, wodurch die Evidenz der Zeichen, ja ihre Indexikalität durch die Instabilität ihrer Bedeutungen selbst infrage gestellt wird. Silent Night besteht ebenfalls aus fünf Handlungsakten. Ungefähr ab dem Drittel der Laufzeit nimmt der Film einen neuen narratologischen Strang auf, der die Zuschauenden ebenfalls zur Revision des Gesehenen zwingt. Zu Beginn werden hier und da ebenso Vorausdeutungen einer Katastrophe gelegt, wobei die Zuschauenden diese erst nicht deuten können, wenn zum Beispiel der Vater Simon zu Beginn die Hühner freilässt. Zunächst sieht es so aus, als ob er eines der Hühner zum Kochen fangen will. 18

Mittlerweile gibt es einige wenige Regisseurinnen, die sich Horrorgenres bedienen, etwa Jennifer Kent, Julia Ducournau, Alice Lowe, Karyn Kusama und Susanne Bier.

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

Ein anderes Beispiel ist die Szene, in der sein Sohn Art sich aus Versehen beim Kochen schneidet, wobei Blut auf die Möhren tropft, was ebenfalls eine ›blutige‹ Entwicklung andeutet, wobei der Horrorfilm doch keine richtige blutige Wendung nimmt. Der Titel, der erst nach dem Vorspann erscheint, gibt ebenfalls mit »Silent« in Weiß und »Night« in Rot auf dem schwarzen Hintergrund Hinweise auf eine krude Entwicklung oder zumindest auf Beziehungskrisen, die im Vorspann angelegt werden. Eine letzte Ähnlichkeit besteht in einem Pakt bzw. einem Plan, wobei die Zuschauenden erst ungefähr ab der Mitte realisieren, dass der Pakt darin besteht, gemeinsam einen kollektiven Suizid zu begehen. Im Gegensatz zu Better Watch Out hebt Silent Night viel stärker die Weihnachtsatmosphäre hervor – der Soundtrack bekannter Weihnachtslieder untermalt die ganze Handlung, in der Weihnachten als Familienfest dann doch gefeiert wird und all die Weihnachtselemente, wie das Zusammenkommen und Sich-Versöhnen, aufgerufen werden. Der Vorspann stellt eine Art Exposition dar, die die Handlungsfiguren einführt – es handelt sich dabei um einen engen Freundeskreis. Sie feiern jährlich zusammen Weihnachten, was ihre familiäre Beziehung zueinander verrät und was im Film performativ durch ein altes gemeinsames Foto von einem früheren Weihnachtsfest und das Lied The Christmas Sweater von Michael Bublé, das alle parallel hören, hergestellt wird: Nell (Keira Knightley) und Simon (Matthew Goode) sind mit ihren drei Söhnen Gastgeber:innen im Landhaus der Oma (Mutter von Nell). Anreisende Gäst:innen: Sandra (Annabelle Wallis) und Tony (Rufus Jones) mit ihrer Tochter Kitty, James (Sope Dirisu) und seine viel jüngere Geliebte Sophie, die durch die Tochter von Johnny Depp, LilyRose Depp, gespielt wird, und ein lesbisches Paar, Bella (Lucy T. Punch) und Alex (Kirby Howell-Baptiste). Beim Anreisen werden Spannungen angedeutet, womit die Beziehungskomödie als Rezeptionserwartung aufgerufen wird. Sophie und Alex, die Partnerinnen der Freund:innen, sind zum Beispiel nicht begeistert, dass sie Weihnachten in diesem Kreis verbringen müssen – nicht alle gehören dazu, was ebenfalls auf Konflikte hinweist, die zu Weihnachten ausgetragen werden. Der Vorspann funktioniert dabei über mehrere Establishing Shots – das Haus, in dem die Handlung stattfindet, das Foto der Freund:innen und kleine Momentaufnahmen im Haus und in anreisenden Autos, die die Figuren charakterisieren. Der zweite Akt umfasst ungefähr die ersten 20 Minuten und zeigt die im Vorspann etablierten Genreerwartungen eines stressigen Weihnachtsfestes, das sich in einem gemeinsamen Weihnachtsmahl zuspitzt. Allerdings spitzt es sich nicht in der Enthüllung eines intimen Skandals oder in einem Streit

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zu, sondern in der Tatsache, dass sich alle Freund:innen auf einen kollektiven Suizid vorbereiten. Eine Weltkatastrophe unbekannter Ursache oder eine biologische Waffe verbreitet sich als Giftgas in der Luft, das – so deuten es die Nachrichten in verschiedenen Medien – einen qualvollen Tod verursacht. Ähnlich wie bei der Strahlung einer Atombombe gibt es kein Entkommen vor diesem Gas, weswegen die Regierung allen eine tödliche Tablette ausgeteilt hat, um einen schmerzlosen und schnellen Tod zu ermöglichen. Zum Ende des zweiten Aktes wechselt das Genre von einer Weihnachtskomödie zum Endzeitfilm, wobei Weihnachten symbolisch bedeutend bleibt, wovon gleich noch die Rede sein wird. Im dritten Akt geht es um die Freund:innen, die sich im Angesicht des Todes ihre Untreuen und Lügen gestehen – hier tun sich Abgründe auf, aber eigentlich wird sich hier wieder dem Weihnachtsfilm angenähert, indem die Figuren ehrlich zueinander sind und sich nach einem kurzen Streit miteinander versöhnen. Im vierten Akt feiern nun alle ausgelassen Weihnachten, wobei zwei Figuren Widerstand leisten: Der Sohn Art, den zudem der Sohn der Regisseurin, Roman Griffin Davis, spielt, will keine Tablette nehmen und läuft weg, wobei er Giftgas einatmet, das offensichtlich nicht sofort wirkt und deswegen von den anderen zunächst nicht erkannt wird. Der Sohn widersetzt sich dem Willen der Eltern im Film und zugleich dem Willen der Mutter-Regisseurin, die eigentlich alle ihre Figuren sterben lässt. Sophie ist, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, schwanger, weswegen sie eigentlich ebenfalls die Tablette nicht nehmen möchte, es aber am Ende, durch ihren Partner James gedrängt, doch tut. Dieser Akt spitzt sich in einem kollektiven Suizid zu, dem die Regisseurin jedoch die Erhabenheit nimmt – die Figuren verbringen ihre letzten Minuten mit trivialen Dingen und vergessen, sich voneinander zu verabschieden, was mit Humor dargestellt wird. Hier wird der Film zu einer schwarzen Komödie. Der fünfte Akt ist sehr kurz, noch kürzer als in Better Watch Out, und zeigt nun die Welt ohne Menschen: still, verschneit, ja eigentlich eine perfekte weiße Weihnacht, die zugleich das Ende der Menschheit bedeutet – durch die Kamerafahrt, begleitet durch das Weihnachtslied Stille Nacht, werden nun alle toten Freund:innen gezeigt, bis Art doch die Augen aufschlägt und den ganzen kollektiven Suizid ad absurdum führt. Indem der Junge die Katastrophe überlebt, entleert der Film gleichzeitig die aufgezeigte Gesellschaft, die angeblich gebildet und fortschrittlich ist. Das Zusammenführen von Weihnachten und Apokalypse als Genres typisiert die Figuren. Im Angesicht der Katastrophe werden sie zu Repräsentant:innen der Gesellschaft, die zu Weihnachten zusammenkommen – eine

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

Gemeinschaft wird buchstäblich gestiftet. Die gezeigte englische Gesellschaft wird allerdings nur bedingt über Klassen, Berufe oder den sozialen Status definiert – alle gehören der Mittelklasse an –, sondern vor allem durch Gender, Race und den Familienstatus. Es treten Schwarze und weiße Menschen auf, hetero- und homosexuelle Paare, verheiratet und unverheiratet, mit Kindern und kinderlose. Darunter wird eine Mehrheitsgesellschaft identifiziert – der vorwiegend weiße Freundeskreis, der den Pakt schließt und anderen seinen Willen aufzwingt, etwa Kindern und Partnerinnen von außen, Sophie oder Alex. Sophie kommt unwissentlich zur Feier, wobei sie dann die Tablette doch selbst nimmt (wenn auch unter Druck). Alex scheint die Apokalypse gar nicht richtig wahrgenommen zu haben, sie wird letztendlich durch ihre Partnerin, Bella, erstochen. Unbeachtet von allen betrinkt sich Alex, weswegen sie die Tablette nicht nehmen kann bzw. diese durch Erbrechen ausspuckt. Endzeit bleibt somit also eine bürgerliche Angelegenheit, die sogar vor der Apokalypse stehend weiterhin Schwarze Frauen oder junge weiße Frauen aus der Entscheidungs- und Handlungssphäre ausschließt. James, als Schwarzer Mann, scheint es hauptsächlich deswegen geschafft zu haben, in diesen Kreis aufgenommen zu werden, weil er als Arzt erfolgreich ist und zugleich auch als Objekt des Begehrens der weißen Frauen fungiert. Ihn begehrt nicht nur Sophie, sondern auch Sandra, die Ehefrau von Tony – ihrem gemeinsamen Freund. Über Alex erfahren wir nichts, auch wird sie von den anderen ignoriert. Grundsätzlich wird die englische bürgerliche Gesellschaft als verlogen und kleinkariert sowie auf feine Art rassistisch und neurotisch entlarvt – eine im Kern sozialkritische Tradition, die sich bis zum Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts (Dickens) zurückverfolgen lässt. Das Verhältnis der Zuschauenden zu den Freund:innen wechselt daher – von komischen Momenten der ersten zwei Akte geht der Film zur ›Wahrheit‹ und Versöhnung über, was den Figuren eine Größe verleiht, um sie am Ende doch zu ›erniedrigen‹. Der Film gesteht dem kollektiven Suizid keine Würde zu, stellt Figuren in den letzten Minuten ihres Lebens als lächerlich aus, um sie dann sogar ganz als selbstgenügsame Närr:innen zu entlarven, die nicht mal Mitleid verdient haben. Das Krisennarrativ des Weihnachtshorrorfilms wird durch zwei weitere diskursive Krisen angereichert. Eine Krise kommt über das Endzeitgenre hinein, mit dem Weihnachten als Familienfilm in einen Gesellschaftsfilm transformiert wird. Die Parallelen zur Corona-Pandemie sind eher als zufällig zu betrachten, auch wenn der Film durchaus vor dem Hintergrund der Pandemieerfahrung als Kritik an staatlichen Maßnahmen gelesen werden kann.

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Der Film wurde jedoch vor der Corona-Zeit geplant19  – die Corona-Pandemie scheint umgekehrt den Film eingeholt zu haben – und verhandelt eigentlich grundsätzlich nicht so sehr die Pandemie, sondern die Krise des Glaubens, der ja in der christlichen Tradition dem Weihnachtsfest eingeschrieben ist. In der technologischen Medienkultur der scheinbar wissenschaftlich erfassten Welt gibt es keinen Platz mehr für ein (Weihnachts-)Wunder des Lebens, des Neuanfangs und der Hoffnung. Diese Problematik als Opposition zwischen einer rationalisierten, mediatisierten Welt und einem eher als obsolet entlarvten, irrationalen Glauben wird an der tödlichen Tablette deutlich. Ist es ein Pharmakon à la Derrida, das die Welt als Medizin heilt und Menschen vor Schmerzen rettet oder die Menschheit als Gift zugrunde richtet? Muss jeder Schmerz aus der Welt verbannt werden? Retten die Eltern ihre Kinder oder bringen sie diese um, wie es zum Beispiel einst Magda Goebbels durchgeführt hat? Die Ermordung der eigenen Kinder mit dem folgenden Suizid ist das grausame historische Ereignis, zu dem diese filmische Weihnachtsdarstellung Assoziationen aufruft. Als eine vorstellbare Lektürefolie für diesen Film weist es auf mögliche Gewaltfolgen der scheinbar ephemeren, vor allem virtuell zirkulierenden Informationen für eine Gesellschaft hin – wie die Informationen real werden und Wirklichkeit formen. In diesem Zusammenhang wird die krisenhafte Aufbereitung der Informationen einer Kritik unterzogen, wobei der Film zugleich die vordigitale Gesellschaft nachträglich idealisiert.

Abbildung 3+4: Die Geburt eines neuen Subjektes, das keine Familie braucht und sich durch den Glauben überlebt.

Silent Night (2021)

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Dolkemeyer, Lars: »Silent Night – Und morgen sind wir tot (2021)«, in: Kino-Zeit, https:// www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/silent-night-und-morgen-sind-wir -tot-2021 (zuletzt aufgerufen am 25.05.2023).

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

Dieser Krise des Glaubens ist eine weitere, kategoriale Krise eingeschrieben, die Silent Night mit Better Watch Out eint: die Krise des Final Girls und der Kevin-Figur, die zugleich eine christliche Rekonfiguration der Gottesmutter und ihres Sohnes Jesus darstellen. Auch das Final Girl, Sophie, ist eine Referenz auf Maria, die jedoch gar nicht kämpft. Die Kevin-Figur – Art – ist vom Außen und Innen des Hauses, von der Umwelt und den eigenen Eltern bedroht, sodass es kein Entkommen gibt, wobei Art durch Zufall den Untergang überlebt. Mit ihm wird der Mythos Christi als Schutz und Geborgenheit in der Familie, als Erneuerung der Gesellschaft und Vereinigung der Familie in einen Mythos des Alleinüberlebens trotz aller Zwänge und verfehlter Handlung der vorherigen Generation umgeschrieben. Da sein sprechender Name auf die Kunst verweist, schreibt der Film selbstreflexiv der Kunst in diesem Überlebensakt die Hauptrolle zu, die entgegen den Informationstechnologien und der wissenschaftlichen Rationalisierung der Welt wieder den Glauben an die Wunder des Lebens stärken muss.

Kategoriale Krisen Horror- und Apokalypsefilme sind also als Genres zu identifizieren, die Krise als Erzählung produktiv machen. So entlarven Weihnachtshorrorfilme die Dysfunktionalität der Familie und im Zuge dessen auch die der männlichen Subjektivität. Als transgenerisches Phänomen kann der Weihnachtsfilm diese Krisen sowohl im privaten Kontext verorten als auch auf die Gesellschaft ausdehnen. Die Krise ist aber vor allem ein Erzählmodus, mit dem zwar Tabubereiche der Gesellschaft behandelt,20 jedoch die aufgezählten Krisen nicht als Krisen empfunden werden. Krise fungiert mehr als ein Pendant zur Heldenreise als einer etablierten Formel der Filmgestaltung. Die Heldenreise ist laut dem US-amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell21 eine Narration bzw. ein Monomythos. Dessen Entwicklung wird zwar ebenfalls durch eine Krise initiiert, im Fokus steht jedoch ein Held, der sich bewähren muss, wodurch er zugleich die Gesellschaft zur Umgestaltung bewegt. Allerdings lassen sich solche Genres wie Horrorfilme eben nicht aus der Perspektive eines Helden denken – es gibt oft zahlreiche Figuren, und der eigentliche Held ähnelt

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Vgl. dazu z.B. C. J. Clover: Men, Women. Vgl. Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M.: Insel 1999.

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häufiger dem zu besiegenden Monster und lässt sich nicht in normativen Kategorien erfassen.22 Solche Aspekte wie Bedrohung der Normalität,23 Evokationen von Angst und Ekel,24 das Unheimliche,25 Affizierung der Zuschauenden,26 Entwicklung von Monsterfiguren27 und zunehmend Mechanismen der Terrorisierung der Zuschauenden28 gehören laut bestehenden Theorien zu Erzählstrategien des Horrorgenres.29 In den letzten Jahrzehnten wird dabei der (männliche) Held als gesellschaftliche Repräsentationsfigur grundsätzlich immer mehr infrage gestellt und in diesem Zusammenhang seine Reise insofern verändert, als dass es längst um eine Metapher für verschiedene Formen von Transformationen geht, wie es zum Beispiel Michaela Krützen mit dem Film Das Schweigen der Lämmer (USA 1991, R: Jonathan Demme) diskutiert, allerdings ohne die Heldenreise als Erzählstruktur zu hinterfragen.30 Vor allem können Filme die Heldenreise deswegen nicht mehr aufrechterhalten, weil sie zu Medien der Aushandlung von kulturellen Differenzen (Gender, Race, Klasse) aus Perspektive der davor marginalisierten Gruppen werden, die nicht immer ohne Weiteres tradierte Heldennarrative besetzen können. Auch resultiert die Darstellung von sozial wirksamen Differenzen nicht allein aus der Inszenierung eines Helden, sondern aus der Interaktion zwischen verschiedenen Fi-

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Vgl. dazu zum Beispiel Kappesser, Susanne: Radikale Erschütterungen: Körper- und Gender-Konzepte im neuen Horrorfilm, Berlin: Bertz + Fischer 2017. Vgl. Carroll, Noël: The philosophy of horror or paradoxes of the heart, New York/ London: Routledge 1990. Vgl. Kristeva, Julia: Powers of horror. An essay on abjection, New York: Columbia University Press 1982. Vgl. C. J. Clover: Men, Women und C. Shelton: Unheimliche Inskriptionen. Vgl. Williams, Linda: »Filmkörper: Gender, Genre und Exzess«, in: montage AV: 18,2 (2009): Porno, S. 9–30; Robnik, Drehli: »Ausrinnen als Einübung. Der Splatterfilm als Perspektive auf flexibilisierte medienkulturelle Subjektivität«, in: Julia Köhne/Ralph Kuschke/Arno Meteling (Hg.), Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin: Bertz + Fischer 2005, S. 139–150. Vgl. auch seine politische Theorie des Horrorfilms: Robnik, Drehli: Kontrollhorrorkino, Wien: Turia + Kant 2015. Vgl. Meteling, Arno: Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm, Bielefeld: transcript 2006. Vgl. Stiglegger, Marcus: Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror, Berlin: Bertz + Fischer 2010. Einen guten theoretischen Überblick gibt Podrez, Peter: »Der Horrorfilm«, in: Stiglegger, Marcus (Hg.), Handbuch: Filmgenres, Wiesbaden: Springer VS 2020, S. 539–555. Vgl. Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt a.M.: Fischer 2004.

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

guren, einer bestimmten Raumorganisation, tradierten und neu erschaffenen Symbolen, mit denen zugleich auch Genres mitverhandelt und transformiert werden. Möglicherweise müssen wir mit Ivo Ritzer und Peter W. Schulze über Genre-Passagen sprechen, die variable Genreelemente an der Krisenerzählung als transmediales Narrativ binden.31 Krise kann daher grundsätzlich erstens als ein narrativer Mechanismus beschrieben werden, welcher die Erzählstrategie vom Helden auf Held:innen, von einem Individuum auf die Gruppe, von dem Inneren des Subjektes auf globale Prozesse und so auf die Gesellschaft lenkt. Krisenerzählungen lenken nach Iuditha Balint und Thomas Wortmann die Aufmerksamkeit auf ein Problem,32 oder um sie zu präzisieren: auf ein gesellschaftliches Problem, das durch individuelle Probleme durchaus überlagert werden kann, jedoch allein in seiner sozialen Bedeutung wirksam wird. Krise ist daher, zweitens, im Film immer sozialpolitisch zu betrachten. Für die Krisengestaltung braucht der Film immer eine Gesellschaft, in der oder gegenüber der sich eine Krise zeigen kann. Figuren werden so zu Verkörperungen sozialer Strukturen und deren Krisen zu Symptomen gesellschaftlicher Missstände. Individuelle Krisen verhandeln somit auch metonymisch ein gesellschaftliches Problem. Die intersektionale Problematisierung im Horrorfilm transformiert ihn von einem psychoanalytisch-somatischen Genre33 zu einem soziologisch-historischen Genre, mit dem aktuelle gesellschaftliche Diskurse wie #MeToooder #BlackLivesMatter-Debatten auch selbstreflexiv in Bezug auf die Geschichte des eigenen Genres mitverhandelt werden.34 Das wird zum einen deswegen möglich, weil die intersektionale Codierung der Figur historische und soziale Semantikfelder in den Film hineinbringt (etwa Rassismus oder Misogynie). Krise ist zum anderen zum bevorzugten Zugang in der multimedial und digital präfigurierten Wirklichkeit außerhalb des Kinos geworden. Zum Beispiel bevorzugt die mediale Berichterstattung nach Fehmi Akalin vor allem Krisenerzählungen,35 so scheint die Krise der öffentlichen Wahr31

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Den Begriff entnehme ich Ivo Ritzer und Peter S. Schulze: »Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven«, in: dies. (Hg.), Transmediale Genre-Passagen: Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 1–40. I. Balint/T. Wortmann: Die Schönheit, S. 8. Etwa in der Auffassung von Clover und Williams in C. J. Clover: Men, Women und L. Williams: Filmkörper. Dazu gehören z.B. Get Out (USA 2017, R: Jordan Peele), US (USA 2019, R: Jordan Peele) und das Weihnachtshorrorremake Black Christmas (USA 2019, R: Sophia Takal). F. Akalin: Flirting with desaster, S. 11.

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nehmung längst eingeschrieben zu sein. Daher reiht Krise Filme drittens in die aktuelle Repräsentations- und Sichtbarkeitsordnung ein, macht so das Gezeigte intelligibel und gesellschaftlich aktuell, denn sie passt das Gezeigte an herrschende Wahrnehmungsparameter an. Akalin beschreibt Krisenfilme in diesem Zusammenhang als Medien, die »Realitätskonstruktionen ihrer Umwelt (bevorzugt des journalistischen Systems)« beobachten und für ihren künstlerischen Ausdruck kopieren.36 Filme konstituieren möglicherweise dieses ›Denken in Krisen‹ mit – sind Horrorfilme seit Anfang der Filmgeschichte krisenaffin,37 korrespondieren sie doch schon früh mit den Kolportagetechniken der Zeitungen. Krisen erzählen bedeutet daher eine transmediale Gleichschaltung der Wahrnehmung, die durchaus affektive und ideologische Folgen hat, etwa spektakuläre Gefahren zu imaginieren und die Hypervigilanz als dauerhaft erhöhte Reaktionsbereitschaft38 der Zuschauenden zu erzeugen. Die medial-digitale Herrschaft der Krisenerzählungen modifiziert zugleich, viertens, umgekehrt die Genrelogik, die nun nicht mehr der Stabilisierung verpflichtet ist: Frei in der Setzung der intersektional situierten Held:innen und Themen, erzählen die Genres über Stationen von Destabilisierung und Restabilisierung, durch die nicht so sehr die Transformation der Held:innen im Vordergrund steht, sondern ihr Bezug zur Außenwelt und ihre Teilhabe an der Gesellschaft, die Interaktion zwischen Figuren und verschiedenen (Staats-)Institutionen und deren Funktionsweise in der gezeigten Welt, um auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, denen nun allein im Modus der Bewältigung und Abwehr begegnet werden kann. Einerseits erfordert die Krise so einen breiten gesellschaftlichen Kontext und ermöglicht es, intersektionale Situierung mitzuverhandeln und andere, davor marginalisierte Perspektiven zu gestalten. Andererseits wirken die Filme mit bei der Etablierung eines Krisenbewusstseins.

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Ebd., S. 22. Zum Überblick vgl. Vossen, Ursula (Hg.): Filmgenres: Horrorfilm, Stuttgart: Reclam 2012. Tanja Prokić spricht im Kontext der digitalen Kultur von einem hypertrophierten und gesteigerten Reiz der User:innen, der eine ständig vigilante, also reaktions- und handlungsbereite Haltung erfordert. Eigentlich geht es um eine Überaffektierung der Zuschauenden durch einen diffusen Alarmismus, vgl. Prokić, Tanja: »›The minimally satisfying solution at the lowest cost‹ – Hypervigilanz in der digitalen Gegenwart«, in: Magdalena Butz/Felix Grollmann/Florian Mehltretter (Hg.), Sprachen der Wachsamkeit, Berlin: De Gruyter 2023, S. 237–257.

Irina Gradinari: Über die Krise als transmediales Genrenarrativ

Die Figuren werden daher zu Elementen dieser Problemlösung, dezentriert und in ihrer individuellen Bedeutung infrage gestellt. Das Erzählen erfolgt weniger an der Achse der mythologischen Bauelemente, wie es einst Christopher Vogler anhand von Joseph Campbells Monomythosmodell für den Film als Drehbuchvorlage beschrieben hat,39 sondern in ungefähr drei bis fünf Akten, um die Situation zu einer Krise zuzuspitzen. In diesem Zusammenhang kann zum Beispiel Gustav Freytags Dramatheorie hilfreich sein.40 Denn mit seinem Modell ist es möglich, die dramaturgische Dynamik der Krise zu beschreiben: In der Exposition wird die Ausgangslage geschildert und das gesellschaftliche Problem identifiziert (1), dem dringend begegnet werden muss, um eine Katastrophe abzuwehren. In der Steigerung werden Versuche unternommen, die dramatische Entwicklung aufzuhalten (2), die jedoch in der Zuspitzung zur Krise avanciert – bei Freytag zum Höhe- und Wendepunkt (3), die durch Hoffnung auf eine mögliche Auflösung zuerst noch hinausgezögert oder doch umgekehrt weiterhin gesteigert wird (4), um dann zum Guten oder zum Schlechten – also der abgewendeten oder eingetroffenen Katastrophe – aufgelöst zu werden (5). Diese Kategorien sind also variierbar, so werden zum Beispiel in Better Watch Out in den ersten zwei Akten andere Krisen vorgetäuscht und im vierten Akt die Steigerung der Gewalt vorgenommen, während in Silent Night im vierten Akt hingegen eine fallende Handlung eingebaut wird, die den Apokalypsefilm zugleich zurück in einen Weihnachtsfilm verwandelt. Horror- und Apokalypsefilm sind also Genres der Krise, die sich durchaus den gesellschaftlichen Problemen zuwenden, die sich jedoch mit der Zeit als Erzählung generisch verselbständigt haben, weil sie erfolgreich waren. Denn beide Genres gehören zum Bereich der Science Fiction;41 in beiden werden Lösungen angeboten, um den Film rund zu beenden. Wenn der Horrorfilm die Erzählung einer Krise ist, so können wir die eigentliche, diskursive Krise als kategoriale Krise erkennen, die selbstreflexiv die eigene generische Funktion hinterfragt und so auch die Geschichte des Genres problematisiert. Während die generische Krise sinngemäß beendet oder gar geheilt werden kann, bleibt

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Vgl. Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. 2., akt. u. erw. Aufl., Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1998. Vgl. Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas, Bearbeitete Neuausgabe, Berlin: Autorenhaus Verlag 2003. Allerdings sind bei der Krise die Seelenbewegungen der Figuren, die für Freytag relevant waren, nur weitere Ausdrucksformen gesellschaftlicher Krise. Vgl. dazu z.B. J. Köhne/R. Kuschke/A. Meteling: Splatter Movies.

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die diskursive Krise ungelöst und übersteigt so die narrative Wirkung: In beiden Filmen sind es prominente Figuren des weißen Feminismus und des weißen Amerika als wehrhafter Nation. Beide können nicht mehr als Hoffnungsträger oder als Figuren des Widerstands erfasst werden und so nicht mehr als Identifikationsfiguren dienen. Vor dem Hintergrund von Weihnachten beschäftigen sich Filme mit der eigenen Ontologie und legitimieren neue Figuren, deren Subjektivität nun nicht mehr in der bürgerlichen Familie begründet wird – einmal wegen der Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, einmal aufgrund deren digitaler Transformation, die die bürgerliche Familie als dysfunktional oder gar bedrohlich ausstellt. Das Final Girl scheint nun überflüssig zu werden und mit Art allein zu Hause bricht ein neuer utopischer Anfang an, bei dem die Erde an Marginalisierte und Ausgeschlossene übergeht und alle bestehenden Institutionsstrukturen als dysfunktional entsorgt wurden.

Autor:innen

Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschlechterforschung an der Universität Trier. Sie promovierte an der Universität Tübingen über »Gewalt« und »Geschlecht«. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Gegenwartsliteratur, kultur- und literaturwissenschaftlichen Gender Studies, Interkulturalitätsforschung und Postcolonial Studies, Antisemitismusforschung, Erinnerungsdiskurse sowie Literatur im Medienwechsel. Sie ist im Vorstand der FG Geschlechterstudien und des Trierer CePoG und engagiert sich in der Wissenschaftskommunikation. Irina Gradinari ist Juniorprofessorin für literatur- und medienwissenschaftliche Genderforschung an der FernUniversität in Hagen. Dissertation: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (2011), Habilitation: Kinematografie der Erinnerung, 2 Bde. (2022/21). Forschungsschwerpunkte: Feministische Blicktheorien, Genre und Intersektionalität sowie kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung. Publikationen u.a.: Störung – Verunsicherung – Destabilisierung: Filmanalysen, Hagen University Press 2022 (hg. mit Michael Niehaus) und Weihnachtsfilme lesen: Familienordnungen, Geschlechternormen und Liebeskonzepte im Genre, Bielefeld: transcript 2023 (hg. mit Andrea Geier und Irmtraud Hnilica). Irmtraud Hnilica ist akademische Rätin a.Z. am Institut für neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen. Promoviert wurde sie an der Universität zu Köln mit Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags »Soll und Haben« (Heidelberg: Synchron 2012). Habilitation 2023 zu Funktion und Ästhetik von Entführungen im bürgerlichen Trauerspiel, Abolitionsdrama und Singspiel des 18. Jahrhun-

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derts. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literatur- und Kulturtheorie, Genderforschung und Film. Nikolas Immer ist im Wintersemester 2023/24 Vertretungsprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Braunschweig. Dissertation: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (2008), Habilitation: Mnemopoetik. Formen und Figurationen von Erinnerung in der deutschsprachigen Lyrik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (2018/23). Forschungsschwerpunkte: Heroismusforschung, Literatur und Erinnerung, Nachkriegs-, Reise- und Gegenwartslyrik. Publikationen u.a.: Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 2020 (hg. mit Johannes Görbert); Ähnlichkeit in Lyrik und Poetik der Gegenwart, Berlin: Peter Lang 2023 (hg. mit Frank Kraushaar und Henrieke Stahl). Nils Jablonski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen. Studium der Fächer Germanistik und Kunst sowie der Angewandten Literatur- und Kulturwissenschaft in Dortmund und Zürich; Promotion 2018 mit einer medienästhetischen Arbeit zur Idylle an der TU Dortmund. Mitherausgeber der Reihe Kabinettstücke. Sammlung literarischer Skurrilitäten. Gründungsmitglied des DFG-Netzwerks »Politiken der Idylle«, Mitglied der interdisziplinären Forschungsgruppe »Kulturen des Komischen« und des Hagener Forschungsbereichs »Figurationen von Unsicherheit«. Seit 2023 Stiftungsrat der Stiftung Brückner-Kühner in Kassel. Weitere Forschungsfelder: Komik und Humor, Kitsch, Genretheorie und filmisches Erzählen, das Groteske, Aufzüge, experimentelle Lyrik. Habilitationsprojekt über die »Engel des Grotesken«. Publikationen (Auswahl): Komik der Lüste. Ergebnisse des Kasseler Komik-Kolloquiums (hg. mit Friedrich W. Block und Lutz Ellrich), Bielefeld: Aisthesis 2023; Paradigmen des Idyllischen: Ökonomie – Ökologie – Artikulation – Gemeinschaft (hg. mit Solvejg Nitzke), Bielefeld: transcript 2022; Idylle. Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen, Berlin: J.B. Metzler 2019. Weitere Informationen unter: https:// www.fernuni-hagen.de/literatur/medienaesthetik/team/nils.jablonski.shtml. Lena Koseck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Filmwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promoviert aktuell zu den Weihnachtsfilmen des Hallmark Channels. Ihre Forschungsinteressen umfassen

Autor:innen

neben den Hallmark-Weihnachtsfilmen die Filmtheorie im bzw. des Nationalsozialismus, die Geschichte der Filmtheorie und den Kinder- und Jugendfilm. Neben ihrer universitären Tätigkeit ist sie Teammitglied bei Cuts – der kritische Film-Podcast und regelmäßig in diversen Folgen zu Filmbesprechungen zu hören. Michael Niehaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Medienästhetik an der Fernuniversität in Hagen. Habilitation 2003 mit der Untersuchung Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Literatur und Institution, Erzählliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Interpretationstheorie, intermediale Narratologie, Genretheorie, Filmanalyse. Letzte Buchveröffentlichungen: Was ist ein Format? (2018), Erzähltheorie und Erzähltechniken zur Einführung (2021), Erfolg. Institutionelle und narrative Dimensionen von Erfolgsratgebern (1890–1933) (Co-Autor:innen Wim Peeters, Horst Gruner und Stefanie Wollmann) (2021), Erzählen ohne Worte. Eine Erkundung (2022). Johannes Pause ist Research Scientist am Institut für Germanistik und stellvertretender Studiengangsleiter des Bachelors in Animation an der Universität Luxemburg. Dissertation: Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2012). Letzte Buchpublikation: Populismus und Kino. Politische Repräsentation im Hollywood der 1930er Jahre (2023). Forschungsschwerpunkte: Politisches Kino, Populismus, Medienkulturen des Kalten Kriegs, Zeit in Literatur und Film. Publikationen u.a.: Digitale Praktiken. montage AV 29, 1/2020 (hg. mit Niels-Oliver Walkowski und Patrick Vonderau); Disruptions in the Arts. Berlin/Boston: De Gruyter 2018 (hg. mit Lars Koch und Tobias Nanz). Peter Scheinpflug ist Medienkulturwissenschaftler. Dissertation: Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo (2014), Habilitationsprojekt zu einer medienanthropologischen Theorie der Taktilität. Forschungsschwerpunkte: Genreforschung, deutscher Film, Mediengeschichte der Sinne. Publikationen u.a.: Genre-Theorie. Eine Einführung, Münster: LIT 2014 und Arbeit am Bild. Christoph Schlingensief und die Tradition, Paderborn: Brill 2021 (hg. mit Thomas Wortmann). Daniela Schulz ist Redakteurin bei RTL Deutschland in Köln und Autorin beim Westdeutschen Rundfunk. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln. Promoti-

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on 2011 zum deutschen Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre. Ausbildung an der RTL Journalistenschule für TV und Multimedia. Stipendiatin der RIAS Berlin Kommission. Forschungsinteressen: Nachkriegsfilm, internationaler Musikfilm, Diversität, Kulturerbe. Publikationen u.a.: »Bravo, Roy! Schlager-Inszenierungen im deutschen Film um 1970«, in: Johannes Müske/Michael Fischer (Hg.), Schlager erforschen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein populäres Phänomen, Populäre Kultur und Musik, Band 36, Münster/New York: Waxmann 2023, S. 217–232. Dana Steglich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz/Germersheim in dem DFG- und AHRC-geförderten Forschungsprojekt Spaces of Translation. European Magazine Culture 1945–1965. Dissertation zur Poetik des Eskapismus. Gegenwart und Gegenwelt im Werk Lord Dunsanys (2022). Forschungsschwerpunkte: Zeitschriftenkulturen, fantastische und aleatorische Literatur sowie Rätsel. Publikationen u.a.: Figur(ation)en der Gegenwart, Hannover: Wehrhahn 2023 (hg. mit Giusi Cimmino und Eva Stubenrauch).

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