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German Pages 221 [228] Year 1982
de Gruyter Studienbuch
Mazzino Montinari
Nietzsche lesen
w DE
1982
Walter de Gruyter · Berlin · New York
CIP-Kurztitelaufitahme der Deutschen Bibliothek
Montinari, Mazzino: Nietzsche lesen / Mazzino Montinari. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1982. (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3-11-008667-0
©
1980 by Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Gutentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30 · Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Hildebrand, Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
meiner Frau
Vorwort Die hier gesammelten Aufsätze und Vorträge sind Gelegenheitsprodukte einer besonderen Art und Weise, Nietzsche zu lesen: der des Herausgebers seiner Werke. Dieser ist sich der Tatsache bewuß, daß seine Lese-Übungen, deren Resultate er hier mitteilt, vor allem durch einen Gesichtspunkt bestimmt sind. Der Herausgeber bleibt in jenen Übungen — zumindest vorläufig — im Netz seiner historischphilologischen Vor- und Rücksichten gefangen: so sehr, daß er die Nietzsche-Interpretation, die sich hinter diesem Band vielleicht verbirgt und der er gleichsam ausgewichen ist, selber noch gar nicht entdeckt hat. Lauter Präliminarien, lauter Warnungen, lauter Bereinigungen erhält man hier im Hinblick auf eine mögliche NietzscheLektüre; die Sache aber, um die es eigentlich geht oder gehen sollte, die direkte Auseinandersetzung mit Nietzsche selbst, scheint aufgeschoben zu werden, in die Ferne gerückt. Sei's drum! Der Verfasser möchte mit diesen Versuchen ein Gespräch mit Lesern Nietzsches beginnen. Der Titel — „Nietzsche lesen" — soll auf einen (langsamen) Prozeß der Annäherung an den gewaltigen Fluß seines Denkens deuten. Wenn jeder, der in ihn eintaucht, zum Scheitern bestimmt ist, dann ist doch der Versuch berechtigt, nach allen möglichen Künsten des Schwimmens — auch nach solchen gegen den Strom — zu greifen. Wissenschaftskolleg zu Berlin, Anfang März 1982
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Nietzsche lesen Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken . . . Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879 Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe . Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" . . . Zarathustra vor A Iso sprach Zarathustra Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo" Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács
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Abkürzungen Nachweise Namenregister Werk- und Briefregister
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1. Mit Recht wird man erwarten, daß ein Herausgeber der neuen kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefwechsel einiges zum Thema „Nietzsche lesen" zu sagen habe. Zumal er sich seit genau 20 Jahren fast ausschließlich mit Nietzsche beschäftigt, und das Wenige, was er außerhalb der Ausgabe veröffentlicht — wie die hier gesammelten Aufsätze, — keinen anderen Zweck hat als den einer Anleitung zur Lektüre Nietzsches. Die Ausgabe selbst, was ist sie letzten Endes, wenn nicht der Vorschlag, Nietzsche neu und anders zu lesen? Wir erleben heute eine seltsame, bedenkenswerte aber auch bedenkliche Wiederkehr Nietzsches. Ja man kann sagen, daß sich heute ein neuer Mythos um Nietzsche bildet, innerhalb eines gigantischen kulturellen Synkretismus, in dem Elemente der konservativen Ideologie mit solchen der marxistischen oder linken und anarchistischen Theorie koexistieren. Zu dieser Wiederkehr hat unsere Ausgabe beigetragen. Ich glaube und hoffe, daß sie, als ein Vorschlag zur kritischen Lektüre der Nietzscheschen Philosophie, noch nicht alle ihre Früchte hat reifen sehen. Gewiß kann die Ausgabe allein eine verzerrte Nietzsche-Lektüre nicht verhindern, so wenig übrigens wie die alten unvollständigen Ausgaben bedeutende und nicht außer acht zu lassende Nietzsche-Lektüren verhindert haben (Löwith, Jaspers, Heidegger, Fink, Andler, Salin). Viele heutige Arbeiten (wie z.B. die von Wolfgang Müller-Lauter) weisen auf eine tiefgreifende philosophische und historische Erneuerung der Nietzsche-Forschung hin; neue wichtige Bausteine zur Rekonstruktion von Nietzsches Vor-, Mit- und Nachwelt werden geliefert. Das alles geschieht zum Teil mit der neuen Gesamtausgabe und durch sie, kann aber nicht verhindern, daß sich auch in Deutschland (wie schon in Frankreich und Italien) ein neuer Nietzscheanismus bilde (einige Anzeichen davon werden seit einiger Zeit sichtbar), und zwar aus dem ganz einfachen
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Grunde, weil sich die Massenbedürfnisse und die Modeerscheinungen unserer Zeit nach eigenen Gesetzen und Ursachen entwickeln, gegen die — so lange sie am Werke sind — der kritische Geist und der historische Sinn ohnmächtig bleiben. 2. Was meine persönliche Nietzsche-Lektüre betrifft, so geschah sie kurz vor meiner Zusammenarbeit mit meinem Freund und Lehrer Giorgio Colli, jener Zusammenarbeit, aus der, Anfang der 60er Jahre, das Projekt einer neuen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken entstand. Die persönliche philosophische und politische Ernüchterung jenes unruhigen Endes der 50er Jahre ließ mich auf Nietzsche zurückgreifen, den ich seit meiner Gymnasialzeit nicht mehr gelesen hatte. Ohne Nietzscheaner zu werden, ließ ich mich durch Nietzsche befreien. Dieses geschah allerdings mit Hilfe Thomas Manns, der geschrieben hat: „Wer Nietzsche .eigentlich' nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren". 1 Tatsächlich wird Nietzsche, mehr als andere Autoren, für seine Leser zu einem persönlichen Erlebnis: er fordert uns zu radikalen Fragestellungen, zu engagierter Auseinandersetzung mit seinen Gedanken, zur Entlarvung unserer eigenen moralischen Tartüfferie, zur Loslösung von liebgewordenen Vorurteilen, aber auch zu resolutem Widerspruch heraus. In diesem Sinne wirkt die Lektüre seiner Schriften befreiend. Die Radikalität und Redlichkeit seines Denkens sagen gerade denjenigen seiner Leser zu, die nicht bereit sind, sich als seine sogenannten Verehrer zu bekennen, so wie der einzigartige und geistig gleichrangige Freund Nietzsches, der Freigeist und Theologe Franz Overbeck in Basel, bei aller persönlichen Liebe und Achtung, niemals zu einer Jüngerschaft kondeszendierte. Dieser Freund schrieb bei Gelegenheit von Nietzsches Tode: „Nietzsche ist der Mensch, in dessen Nähe ich am freiesten geatmet und demgemäß auch meine Lungen für den Gebrauch im Bereich menschlichen Daseins, zu dem in Beziehung zu treten mir überhaupt beschieden gewesen ist, am erfreulichsten geübt habe. Seine Freundschaft ist mir im Leben zu viel wert gewesen, als daß ich noch Lust verspürte, sie 1
Th. Mann, Nietzsche Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947) in: Gesammelte Werke, Berlin (DDR) 1956, Bd. 10, S. 669.
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mir durch irgendwelche posthume Schwärmerei zu verderben." 2 Wer in Nietzsches Nähe nicht freier zu atmen vermag, dem ist es abzuraten, Nietzsche zu lesen. Mit anderen Worten: man darf Nietzsche nicht dogmatisieren, denn, wenn es erlaubt sein mag, irgend einem alten Dogmatismus als Buddhist, als Christ, als Marxist, als Freudianer usw. zu dienen, so ist es unerlaubt, ja beinahe unanständig, Nietzscheaner zu sein, oder mit Jaspers zu reden: „Wer an alten Dogmatismen festhält, ist immer noch wahrer, als wer Nietzsches Gedanken dogmatisiert". 3 Man kann in der Tat einen Autor, der wie Nietzsche von Uberzeugungen wie als gefährlicheren Feinden der Wahrheit als Lügen und wie als Gefängnissen gesprochen hat,4 nicht schlechter lesen, als indem man aus seinem gewaltigen und beunruhigenden Gedankenfluß ein starres Dogma zurechtmacht. Das gilt allerdings sowohl für die literatenhaften Nietzscheaner der Jahrhundertwende und die braunen aus den Dreißiger Jahren als aber auch für ideologisch-stumpfe Antinietzscheaner à la Rudolf Augstein, um einen der allerneusten und -letzten dieser Art namentlich zu nennen. 3. Wenn aber Nietzsche lesen — wiederum nach Thomas Mann — eine Kunst ist: „und keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschlagenheit, Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre"; 5 so darf die Befreiung durch Nietzsche nicht im Sinne einer überheblichen und behaglichen Unverbindlichkeit in unserer geistigen Haltung gegen alles und jeden verstanden werden. Nietzsche lesen, und gut lesen, heißt demnach, sich nicht verengen lassen durch isolierte Formeln, durch Radikalismen, durch das Wörtlichnehmen seiner Aussagen, gleichzeitig aber nicht sophistisch-unverbindlich werden (Jaspers).6 Nach diesen allgemeinen Prämissen stellt sich die Frage: inwiefern vermag die neue kritische Gesamtausgabe,
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C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena 1908, Bd. 2, S. 423. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 21947, S. 456. Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 483; Antichrist § 54. Th. Mann, ebda. K. Jaspers, ebda.
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uns zu einer richtigen Lektüre Nietzsches zu verhelfen? In dreifacher Hinsicht: 1. indem sie jedes Werk Nietzsches als die jeweilige philosophische und künstlerische Ausformung bestimmter Gedankengänge aus einer bestimmten Zeit seines Lebens und Schaffens hinstellt; 2. indem sie die Werke in eine innere Beziehung zum Nachlaß und somit zu Nietzsches eigener Entwicklung im ganzen setzt; 3. indem sie Nietzsche, vor allem durch Erschließung seiner Quellen, in einen fruchtbaren Zusammenhang mit seiner historischen Vor-, Mit- und Nachwelt bringt. Mit anderen Worten: die kritische Gesamtausgabe ermöglicht eine philologisch-historisch fundierte Lektüre der Werke Nietzsches, die als Voraussetzung jeder philosophischen Interpretation gelten muß. 4. Die drei von mir genannten Gesichtspunkte lassen sich am besten durch konkrete Beispiele belegen. Zu 1. Dieser Punkt betrifft insbesondere die Entstehungsgeschichte von Nietzsches Werken; diese ergibt sich aus der Lektüre des kritischen Apparates. So ist es gewiß von nicht geringer Bedeutung, durch die im Kommentar verzeichneten Vorstufen zu erfahren, daß Zarathustra lange vor der Entstehung von Also sprach Zarathustra (1883) der ursprüngliche Protagonist von einer ganzen Reihe Aphorismen in der Fröhlichen Wissenschaft war, die Nietzsche im Herbst 1881 verfaßte.7 Unter diesen findet sich der bedeutende Aphorismus 125 über Gottes Tod. In der endgültigen Fassung ist die Rede von einem „tollen Menschen", der Gottes Tod verkündet, in der Vorstufe ist es Zarathustra. Zarathustra wird gleichsam aufgehoben für das spätere gleichnamige Werk, in dem der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen, in dessen unmittelbare Nähe die Gestalt Zarathustra entstand (August 1881), zu seinem vollkommenen dichterischen und philosophischen Ausdruck gelangen wird. Uberhaupt zeigen auch die weniger bedeutenden Varianten, wie es Nietzsche ernst war in der Wahl der Wörter, in der Akzentuierung und Nuancierung seiner Gedanken. Kein Bild, kein Wort, auch kein Interpunktionszeichen ist bei Nietzsche zufällig. Dies geduldig zu berücksichti7
Vgl. in diesem Band S. 80ff.
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gen macht den Leser reicher, es macht ihn auch tiefer, aufmerksamer, mißtrauischer (Nietzsche und sich selber gegenüber). Zu 2. Uberlassen wir den Spekulanten und Prinzipienreitern die langweilige Frage, was bei Nietzsche wichtiger sei, ob sein Werk oder sein Nachlaß, und stellen wir in aller Ruhe fest: Werke und Nachlaß stehen zueinander in einer ergänzenden und erklärenden Beziehung — vorausgesetzt allerdings, daß der Nachlaß chronologisch, wie in der neuen kritischen Gesamtausgabe, gelesen wird.8 Ich gebe hierzu drei Beispiele: I. Man kann in der Geburt der Tragödie zwei voneinander getrennte Gedankengänge verfolgen: einerseits die Ausführungen über das Gegensatzpaar „apollinisch-dionysisch", andererseits die über den Tod der Tragödie am Sokratismus, an der „bewußten Ästhetik" des Euripides. Wenn man die Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie hinzunimmt, so entdeckt man, daß der ältere Kern des Tragödienbuches (bis in das Jahr 1868 zurück) das Motiv des Verfalls der griechischen Tragödie und die Auseinandersetzung mit dem sogenannten Sokratismus war, und daß erst in der Dionysischen Weltanschauung von Sommer 1870 das berühmte Paar apollinisch-dionysisch auftaucht. Die Verschmelzung der zwei Gedankengänge ist Nietzsche in der endgültigen Fassung nicht restlos gelungen. Doch ich will nicht verhehlen, daß das ganze Problem der Interpretation von Nietzsches philosophischem Erstling noch ganz offen ist. Vielleicht, daß eine aufmerksame, langsame Lektüre des überreichen Nachlaßmaterials einige Früchte in dieser Beziehung zeitigen wird, zumal wichtige Quellen Nietzsches, die in den Fragmenten erwähnt werden, noch gar nicht von der Forschung berücksichtigt wurden. II. Der Nachlaß vom Herbst 1882 bis Winter 1884/85 bildet den unumgänglichen, ergänzenden Hintergrund der vier Teile von Also sprach Zarasthustra. Besser als irgend ein Kommentar zu diesem Werk verdeutlichen die Zarathustrafragmente und -pläne Nietzsches Intentionen, wie z.B. bei den Gestalten des vierten Teils. Und das ist kein Zufall. Wenn Nietzsche nämlich in Ecce homo von den vier Teilen seines Werks als von „Zehn-Tage-Schöpfungen" spricht, so gilt das nicht für das Auftauchen der Grundgedanken und ihrer Ausfüh8
Vgl. in diesem band S. 92.
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rung, der verschiedenen Parabeln, Gleichnisse, Sprüche, der dichterischen Einfalle und erzählerischen Einrahmungen, der einzelnen Personen usw., die im Nachlaß längst vor der Abfassung eines jeweiligen Teils des Zarathustra vorhanden sind. Nietzsche trug ständig, beinahe täglich (oft während seiner Spaziergänge), seine Aufzeichnungen in Notizbücher ein; er schrieb sie dann in größere Hefte ab, ohne sich zunächst an einem bestimmten Plan zu orientieren, bzw. nach einer Disposition seines Materials suchend oder schon umrissene Anordnungen ändernd. (Das gilt nebenbei gesagt für den ganzen Nachlaß, als Nietzsches Denken im Werden.) Wenn er dann zur Abfassung eines Teils von Also sprach Zarathustra schritt, so konnte er ihn deshalb so rasch vollenden, weil er sich darauf vorbereitet hatte, ohne den literarischen Ausgang seiner Arbeit im voraus zu wissen. 9 III. Hätte man Nietzsches letzte Schriften Götzendämmerung und Antichrist zusammen mit dem chronologischen Hintergrund der nachgelassenen Fragmente 1887/88 gelesen, so wie das heute möglich ist, so wäre die noch langweiligere Diskussion um den Willen zur Macht niemals entstanden: dem möchte ich wahrlich nichts hinzufügen! Zu 3. Wir sollten nie vergessen, daß unsere Lektüre Nietzsches eine „verschobene, verspätete Lektüre" ist. 10 D.h. die Fragen, auf die Nietzsche durch seine Schriften und Meditationen antwortete, sind nicht mit unseren Fragen identisch. U m ihn wirklich zu verstehen, muß man somit den Versuch machen, jene Fragen (und Fragestellenden) zu erkennen. Man muß Nietzsche auch (nicht nur: Zusatz für Spekulanten) historisch verstehen können. Deshalb ist es notwendige Aufgabe der Nietzsche-Forschung: nach seinen Quellen zu suchen, seine ideale Bibliothek zu rekonstruieren, die Zeitgenossen, mit denen er sich auseinandersetzte, kennenzulernen, sowie auch die realen Bindungen Nietzsches mit Individuen und Kreisen seiner Zeit, die entscheidend für seine spätere Wirkung werden sollten: Vor-, Mit- und Nachwelt Nietzsches. Diese historische Arbeit ist nur zum Teil geleistet worden, sei es durch die Kommentare der Kriti'
Vgl. K G W VII 1, S. VIf.(Vorbemerkung der Herausgeber). Zu den in diesem Band verwandten Abkürzungen vgl. S. 207.
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Vgl. M. Montinari, Su Nietzsche, Roma 1981, S. 106ff.
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sehen Studienausgabe, sei es durch die Veröffentlichung von Nietzsches Briefwechsel, sei es durch das Bekanntwerden von wichtigen Dokumenten aus der Nietzsche-Zeit (wie die Tagebücher Cosima Wagners), sei es endlich durch monographische Untersuchungen, sowie auch durch biographische Werke wie die von Curt Paul Janz, Werner Ross oder die Wagner-Biographie von Martin GregorDellin. 11 Dem guten Nietzsche-Leser wird dadurch bewußt, daß eine „erbauliche" Lektüre seines Autors kaum möglich ist. Indem er nun Nietzsche „historisiert", setzt er ihn in die große Tradition der deutschen Klassik und Romantik, der europäischen, vor allem französischen Kultur; er nimmt an seiner Auseinandersetzung mit Stendhal, Emerson, Dostojewskij und Tolstoi konkret teil; er erfährt, daß Nietzsches Gesprächspartner in den 80er Jahren bis zum Schluß seines geistigen Schaffens in Paris waren: Gebrüder Goncourt, Turgeniew, Sainte-Beuve, Renan, Baudelaire, Astolphe de Custine, Balzac, Flaubert, George Sand, Maupassant, Paul Albert, Ferdinand Brunetiere, Edouard Scherer, Paul Bourget und viele andere, mehr oder weniger bedeutende, noch; er stellt fest, daß Nietzsches naturwissenschaftliche Lektüre von großer Bedeutung ist, z.B. für seine Meditationen über die Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen und über den Willen zur Macht als philosophisches Prinzip. 5. Vielleicht werden mir philosophische Nietzsche-Forscher und -Leser vorwerfen, daß eine solche Lektüre, wie ich sie hier vertrete, auf eine Historisierung und Philologisierung seiner Philosophie hinausläuft. Diesen möchte ich zum einen das ins Gedächtnis rufen, was Nietzsche zum „historischen Sinn" geschrieben hat, zum anderen — und schließlich — das, daß er sich eine philologische Lektüre der eigenen Schriften gewünscht hat. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem historischen Sinn erschöpft sich fürwahr nicht in dem, was er 1874 in seiner zweiten Unzeitgemäßen geschrieben hatte. Das hat er selber 12 Jahre später in
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Zur Geschichte der Nietzsche-Forschung nach 1945 vgl. Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980 (insbesondere Salaquardas Einleitung); zur jetzigen Situation: Bernhard Lypp, Nietzsche: ein Literaturbericht, „Philosophische Rundschau" 1982, H. 1-2.
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der Vorrede zum zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches gesagt: „was ich gegen die ,historische Krankheit' gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht willens war, fiirderhin auf »Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte". Daß aber die Philosophie der Historie verfallen war, glaubte Nietzsche seit spätestens 1878, im Aphorismus 10 der Vermischten Meinungen und Sprüche, behaupten zu müssen:12 Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, daß es mit dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer Schmerzen wegen, zu verzeihen, daß sie nach Jenem, der so spricht mit Steinen und Unflath werfen: die Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren.
Doch noch einmal in der Fröhlichen Wissenschaft (Aph. 337) kommt Nietzsche 1882 auf den historischen Sinn zu sprechen. Dieser ist die „eigenthümliche Tugend und Krankheit" des gegenwärtigen Menschen: Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Gerüche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied, — wir wissen kaum, was wir thun.
In diesem durchaus offenen Aphorismus drückt sich die beste Eigenschaft von Nietzsches Denken aus, seine Disponibilität für die noch ungeahnten Möglichkeiten der Menschheit nach Gottes Tode, in der Immanenzwelt der ewigen Wiederkehr. Das göttliche Gefühl, in sich die ganze Geschichte einverleiben zu können, wird zum Schluß das Abzeichen der „zukünftigen Menschlichkeit". Ich kehre nun zu meinem Hauptthema — Nietzsche lesen — zurück und ich tue es, indem ich Nietzsche selber zur Frage der philo12
Vgl. in diesem Band S. 41.
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logischen Lektüre seiner Schriften zu W o r t kommen lasse. Im Ecce homo
wünscht er sich einen guten Leser, „ein(en) Leser,
wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen". Ein Jahr zuvor, 1887, hatte er es in der Vorrede zur Morgenröte
noch deutlicher und unmißverständlicher
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chen: Diese Vorrede kommt spät, aber nicht zu spät, was liegt im Grunde an fünf, sechs Jahren? Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen ein Lehrer des langsamen Lesens: — endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke — einem boshaften Geschmacke vielleicht? — Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die „Eile hat", zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden —, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nöthiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der „Arbeit", will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich „fertig werden" will, auch mit jedem alten und neuen Buche: — sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen . . . Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! —
Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken
1. Unsere Ausgabe hat eine Vorgeschichte. Es war in der kleinen mittelalterlichen italienischen Stadt Lucca, als wir — eine kleine Gruppe von Gymnasiasten — zum ersten Male den Namen Nietzsche aus dem Mund unseres bewunderten Philosophielehrers Giorgio Colli hörten. Damals — 1943 — war er 26 Jahre alt und versuchte, uns durch die „Stoppelfelder" der Philologie zu führen, um uns ein Bild der klassischen griechischen Philosophie zu vermitteln. Von ihm lernten wir aber auch die Opposition gegen den Faschismus. Der Beste von uns wurde dann zum Freiheitskämpfer. Wir anderen wurden wegen einer antifaschistischen Demonstration aus der Schule ausgeschlossen. Unser Lehrer Colli mußte in die Schweiz fliehen. In der finsteren Zeit 1943-44 versammelten sich die „ausgeschlossenen" Schüler meistens in meiner Wohnung: da wurden neue Streiche zum Arger der Faschisten vorbereitet, wurde mit eigenen Mitteln und mit Hilfe anderer antifaschistischer Lehrer auch ein wenig studiert, da wurde diskutiert und vorgelesen aus Plato, Kant und — Also sprach Zarathustra. Warum ich dies erzähle? Um deutlich zu machen, daß die schlechte (weil ideologische) Gleichung Nietzsche = Faschismus für uns italienische antifaschistische Gymnasiasten damals nicht galt. Unser Verhältnis zu Nietzsche blieb im wesentlichen unbelastet, auch als der Krieg zu Ende war und Nietzsche in Deutschland der Entnazifizierung zum Opfer fiel. Nach vielen Jahren, 1958, nach einer Zeit ziemlich weit auseinandergehender persönlicher Erlebnisse trafen wir, mein ehemaliger Philosophielehrer Giorgio Colli, welcher nun Geschichte der antiken Philosophie an der Universität Pisa lehrte, und ich in Florenz wieder zu einer gemeinsamen Arbeit zusammen. Mein Freund wollte eine neue, möglichst vollständige Ubersetzung der Schriften Nietzsches ins Italienische (Werk und Nachlaß) für den Turiner Ver-
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lag Einaudi zustande bringen; dabei stießen wir auf die durch Richard Roos in Frankreich 1 und Karl Schlechta in Deutschland2 1956 wieder aufgelebte Diskussion über die Zuverlässigkeit der bisherigen Publikation von Nietzsches letzten Schriften, insbesondere also auf die Frage des sogenannten „philosophischen Hauptprosawerks" (so nannte es Elisabeth Förster-Nietzsche), des „Willens zur Macht". 2. Welche war die Lage in der Nietzsche-Edition vor Schlechtas vieldiskutiertem Versuch? Nachdem Elisabeth Förster-Nietzsche Peter Gasts Ansatz zu einer Nietzsche-Gesamtausgabe (1892-93) sistiert hatte, begründete sie zunächst in Naumburg (1894), später (1897) in Weimar das sogenannte Nietzsche-Archiv: das große Archiv der Klassiker in der Klassiker-Stadt wird sie bei der Wahl der neuen Stätte inspiriert haben. Die sogenannte Großoktavausgabe der Werke Nietzsches ist das bedeutendste Ergebnis der gesamten editorischen Tätigkeit des Nietzsche-Archivs: sie erschien in Leipzig in den Jahren 1894 bis 1926 zunächst bei C. G. Naumann, dann bei Kröner. Sie ist folgendermaßen gegliedert: Erste Abteilung, Bde. I-VIII: von Nietzsche selbst herausgegebene Werke, im achten Band jedoch auch: Der Antichrist, DionysosDithyramben, Gedichte, Sprüche und Gedichtfragmente aus dem Nachlaß. Zweite Abteilung, Bde. IX-XVI: Nachlaß. In Band XV Ecce homo und die zwei ersten Bücher des sogenannten Willens zur Macht, im XVI. Band die Bücher III und IV des Willens zur Macht nebst philologischem Kommentar von Otto Weiss. Die Bde. XV-XVI erschienen zum erstenmal 1911, sie sollten den früheren Bd. XV (1901) ersetzen, der eine kürzere Fassung des Willens zur Macht enthielt. In gleicher Weise sollten die endgültigen Bände IX-XII an die Stelle der von Fritz Koegel 1896-97 besorgten früheren Bde. IX-XII treten. Dritte Abteilung, Bde. XVII-XIX, Philologica: Nietzsches philolo1
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Richard Roos: Les derniers écrits de Nietzsche et leur publication, in: Revue de philosophie, 146 (1956), S. 262-287. Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 195658; vgl. insbesondere Schlechtas Anhang im dritten Band, 1383-1432 («Philologischer Nachbericht»).
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gische Publikationen sowie die Basler Vorlesungen (in Auswahl) enthaltend. Band XX: Register von Richard Oehler.3 Die Großoktavausgabe wurde zur Grundlage für alle späteren Ausgaben, die Musarion-Ausgabe eingeschlossen. Letztere unterscheidet sich von der Großoktavausgabe lediglich durch die Veröffentlichung von einer Anzahl damals (1922) noch nicht bekannter Jugendschriften aus den Jahren 1858-1868 im ersten Band, durch eine erneute Kollationierung der philologischen Schriften mit den Manuskripten und schließlich durch eine Publikation der noch nicht als solche bekannten „Vorrede", Über das Pathos der Wahrheit\ Sonst übernimmt die Musarion-Ausgabe ihr gesamtes Material ungeprüft aus der Großoktavausgabe, allerdings in einer anderen, mehr chronologischen Anordnung. Was den eigentlichen philosophischen Nachlaß betrifft, so ist die Musarion-Ausgabe identisch mit der Großoktavausgabe und genauso unvollständig und unzuverlässig wie diese. Ihre Monumentalität steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer wissenschaftlichen Bedeutung. 3. Die Großoktavausgabe erschien also in Leipzig von 1894 an. Die Herausgeber lösten einander ab, indem sie der Reihe nach in die Ungnade der Frau Förster-Nietzsche fielen: aber das ist ein Kapitel für sich — wenn auch nicht das uninteressanteste in der langen Geschichte der Nietzsche-Ausgaben. Die erste Abteilung der Großoktavausgabe weist übrigens trotz des Wechsels der verantwortlichen Herausgeber im Laufe der Jahre keine schwerwiegenden Textveränderungen auf; lediglich Band VIII erschien in drei voneinander abweichenden Fassungen.5 Anders steht es mit der zweiten Abteilung, d. h. mit der Veröffentlichung von Nietzsches philosophischem Nachlaß. Dieser erschien in seiner endgültigen Gestalt zwi-
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Eine Übersicht über die vom Nietzsche-Archiv veranstalteten Gesamtausgaben gibt Richard Oehler in: BAW 1, S. XXVIÜ-XX1X. Aus der Basler nachgelassenen Schrift: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern von 1872. 1894, hg. von Fritz Koegel; 1899, hg. von Arthur Seidl; 1906, hg. vom NietzscheArchiv (Peter Gast).
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sehen 1901 und 1911. Im einzelnen sah diese wichtigste editorische Leistung des Nietzsche-Archivs so aus: Bde. IX-X (1903), herausgegeben von Ernst Holzer; diese Bände enthalten nachgelassene Schriften und Fragmente von 1869 bis 1876. Die Anordnung der Fragmente ist meistens chronologisch, eine Tabelle der Manuskripte nebst dem philologischen Nachbericht von Ernst Holzer gibt Einsicht in die Chronologie der edierten Texte. Bde. XI-XII (1901), herausgegeben von Ernst und August Horneffer; sie enthalten die nachgelassenen Fragmente aus der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches bis Also sprach Zarathustra, also von 1875/76 bis 1886 (Nachträge zum Zarathustra). Insofern die Manuskripte, aus denen die Fragmente publiziert sind, jeweils aus einer bestimmten, nicht allzu langen Zeit stammen, wird hier die Chronologie einigermaßen respektiert. Durch die rubrizierende, sich neutral gebende Anordnung unter Stichworten wie Philosophie im Allgemeinen, Metaphysik, Moral, Weib und Kind usw. usf. werden sie jedoch aus ihrem spezielleren, chronologischen und gedanklichen Zusammenhang herausgerissen. Infolgedessen kann man zum Beispiel die Entstehung der gleichzeitigen Werke Nietzsches nicht verfolgen. Bd. XIII (1903), herausgegeben von Peter Gast und August Horneffer, enthält „Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit", bildet somit eine Art Lager für den philosophischen Ausschuß Nietzsches aus der sogenannten Umwertungszeit, von 1882/83 bis 1888, das heißt, er enthält Fragmente, welche nicht in den „Willen zur Macht" aufgenommen wurden, obwohl sie aus ebendenselben Manuskripten und Plänen stammen, die für den „Willen zur Macht" benutzt wurden. Die Fragmente sind wiederum nicht chronologisch geordnet (was bei einer Zeitspanne von sechs Jahren gravierend ist), sondern nach systematischen, rubrizierenden Stichworten. Bd. XIV (1904), herausgegeben von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche, ist gleichsam eine Erweiterung des Lagers für den philosophischen Ausschuß aus der Umwertungszeit. Die Entstehungsjahre der Fragmente reichen wiederum von 1882/83 bis 1888. Auch die Fragmente dieses Bandes sind aus denselben Manuskripten und Plänen herausgerissen, die zur Kompilation des „Willens zur Macht" gedient hatten, und nicht chronologisch, sondern nach systematischen, rubrizierenden Stichworten geordnet. Lediglich in der
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zweiten Hälfte des Bandes finden sich einige chronologisch zusammenhängende Fragmente, und zwar unter der Rubrik „Aus dem Vorreden-Material" (gemeint sind Nietzsches Vorreden zu den Neuaussagen seiner Werke in den Jahren 1886 und 1887). Sowohl Band XIII als auch Band XIV geben am Schluß ein Verzeichnis der Fundstellen der Fragmente in den Handschriften, mit Angabe der Manuskriptseite. Bde. XV-XVI{ 1911), herausgegeben von Otto Weiss, enthalten — nebst Ecce homo — den „Willen zur Macht" in der erweiterten und endgültigen Form, wie er von Peter Gast und Elisabeth FörsterNietzsche in der Taschenausgabe zuerst publiziert worden war.6 Otto Weiss fügte dem hinzu: 1) die Pläne, Dispositionen und Entwürfe von 1882 bis 1888. Die Vielfalt dieser Pläne (und es sind längst nicht alle!) ist die beste Widerlegung der Auswahl zugunsten eines Plans äus dem Jahr 1887, auf Grund dessen Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche ihre Kompilation zusammenstellten. 2) Anmerkungen zum Text, welche — wie Richard Roos bemerkte — einen gewissen Zynismus bei einem sonst philologisch ausgewiesenen Editor, wie Otto Weiss es war, verraten. Sie verzeichnen in der Tat eine Unzahl von Weglassungen, Interpolationen, willkürlichen Teilungen von zusammenhängenden Texten (jedoch nicht alle!). Die Anmerkungen widerlegen hier den Text. Das Verzeichnis der Fundstellen der sogenannten Aphorismen des „Willens zur Macht" in den Manuskripten und eine chronologische Tabelle der Handschriften am Schluß decken unwillkürlich das ganze Ausmaß der Kompilation auf. Dabei vergesse man nicht, daß die Fragmente der Bde. XIII und XIV aus ebendenselben Manuskripten stammen, aus denen die der Bde. XV und XVI entnommen wurden. Die Auswahl der Texte, der für die Nietzsche-Forschung auf Jahrzehnte hin folgenschwere Aufbau eines Nietzsche-Systems im „Willen zur Macht" kommt einzig und allein auf die Rechnung der beiden philosophischen (und philologischen) Nullitäten Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) und Elisa-
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Nietzsches Werke. Taschen-Ausgabe. Band DC. Der Wille zur Macht. 1884/88. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. Band X. Der Wille zur Macht. 1884/88 (Fortsetzung). Götzen-Dämmerung 1888. Der Antichrist 1888. DionysosDithyramben 1888. Leipzig, C. G. Naumann Verlag, 1906.
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beth Förster-Nietzsche. 7 Doch nicht genug damit. Der neue „Wille zur Macht" von 1906/11 sollte den alten Band XV, das heißt den ersten „Willen zur Macht" ersetzen. Herausgegeben von Peter Gast, Ernst und August Horneffer, erschien diese erste Fassung des „Willens zur Macht" im Jahre 1901. Sie enthielt nur 483 Aphorismen gegenüber den 1067 der endgültigen Ausgabe. In dieser jedoch waren 17 von den 483 der ersten Ausgabe verschwunden. Nur fünf wurden von Otto Weiss im Anhang seiner Ausgabe als „zweifelhafte" Texte wiedergegeben, obwohl sie echte Nietzsche-Texte sind. Der ersten Fassung gegenüber war die neue eine Verschlechterung auch darum, weil sie 25 zusammenhängende, oft sehr wichtige Texte auseinandergerissen und dadurch auf 55 vermehrt hatte: wie zum Beispiel das bedeutsame Fragment über den „europäischen Nihilismus" (von Nietzsche Lenzer Heide, 10. Juni 1887 datiert).8 Dieses und andere Fragmente sind in der Ausgabe von 1901 besser zu lesen als in der kanonisch gewordenen von 1906/11. Es sei schließlich bemerkt, daß Elisabeth Förster-Nietzsche einige Nachlaßfragmente — auch aus Heften der sogenannten Umwertungszeit — nur in ihren biographischen Publikationen bekanntmachte. 4. Daß die nunmehr epochemachende Kompilation „Der Wille zur Macht" als Nietzsches „philosophisches" Hauptwerk wissenschaftlich unhaltbar war, wurde 1906/7 von Ernst und August Horneffer 9 , sowie 50 Jahre später von Karl Schlechta nachgewiesen. Auf den merkwürdigen Widerstand der Nietzsche-Anhänger und -Forscher gegen die Sache, um die es eigentlich ging, habe ich an anderem Ort hingewiesen.1 Hier möchte ich nur noch einmal betonen, daß diese Einsicht — daß nämlich Nietzsche kein Werk unter diesem Titel geschrieben hat noch zuletzt schreiben wollte —, eine aus7
Elisabeth Förster-Nietzsche schrieb in ihrem Nachbericht zu Bd. IX der Taschenausgabe: „Die erste Ausgabe des Willens zur Macht erschien im Jahre 1901; die vorliegende neue Ausgabe ist vollständig neu bearbeitet und zusammengestellt: das erste und dritte Buch von Herrn Peter Gast, das zweite und vierte Buch von der Unterzeichneten. "
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Vgl. in diesem Band S. 105f. Vgl. August Horneffer: Nietzsche als Moralist und Schriftsteller. Jena 1906; Ernst Horneffer: Nietzsches letztes Schaffen. Jena 1907. Vgl. in diesem Band S. 175f.
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gemachte Tatsache war, als man zu einem neuen Beginn in der Nietzsche-Edition Anfang der dreißiger Jahre im Nietzsche-Archiv selbst schritt, ich meine: als die „Historisch-Kritische Gesamtausgab e " in Angriff genommen wurde. So ließ sich zum Beispiel Walter Otto, Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses der neuen Ausgabe, am 5. Dezember 1934 folgendermaßen vernehmen: „Eine ungemein wichtige, aber ebenso schwierige Arbeit steht den Herausgebern des Nachlasses der letzten Jahre bevor. Denn was von ihnen gefordert wird, ist nichts Geringeres, als daß sie die Niederschriften aus dem Gedankenbereiche des ,Willens zur Macht' zum ersten Male ohne eigenwillige Redaktion genau so vorlegen, wie sie sich in den außerordentlich schwer lesbaren und nun von neuem zu entziffernden Manuskriptheften finden." 11 Ahnlich hatte sich Hans Joachim Mette geäußert, der 1932 in seinem Vorbericht als Herausgeber jener Ausgabe 12 folgende Bilanz aus der editorischen Tätigkeit des Nietzsche-Archivs gezogen hatte: „Das Ergebnis ist . . . vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, nicht ganz befriedigend . . . der . . . Gedanke, die für Nietzsches Denken wesentliche Form der unverbundenen aphoristischen Niederschrift in den einzelnen Heften zu zerstören und die einzelnen Sätze des Nachlasses nach systematischen Gesichtspunkten zu ordnen, war nicht sehr glücklich, wenn auch zeitweilig gewiß berechtigt: der Beschluß der Stiftung Nietzsche-Archiv, diesem Nachlaß in der Kritischen Gesamtausgabe seine ursprüngliche Gestalt wiederzugeben, bedeutet da eine befreiende T a t . . . " Damals lebte Elisabeth Förster-Nietzsche noch; sie ließ denn auch Mettes Äußerungen in der endgültigen Fassung des Vorberichts (1933)13abschwächen, und zwar so, daß die vorsichtige Kritik an den früheren systematischen Anordnungen völlig verschwand und keine Rede mehr von einer „befreienden T a t " war, sondern lediglich von
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In: Bericht über die neunte ordentliche Mitgliederversammlung Freunde des Nietzsche-Archivs,
12
der Gesellschaft der
Weimar 1935, S. 15.
Zunächst als Sonderdruck erschienen: H . J . Mette, Der handschriftliche
Nachlaß
Friedrich Nietzsches, Leipzig 1932, S. 81-82. 13
Vgl. H . J . Mette, Sachlicher
Vorbericht zur Gesamtausgahe
Nietzsches, B A W 1, C X X I - C X X U .
der Werke
Friedrich
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einem „möglichst ungekürzten Abdruck in der originalen Reihenfolge". Und trotzdem wurde ein Jahr später — und noch immer zu Elisabeth Förster-Nietzsches Lebzeiten — die Forderung von Walter Otto erhoben, jede eigenwillige Redaktion der „Niederschriften aus dem Gedankenbereiche des ,Willens zur Macht' zum ersten Male"zu beseitigen! Der Kern der Frage war endlich und eindeutig geklärt. 5. U m so merkwürdiger schien uns obskuren Unbeteiligten damals — Anfang der sechziger Jahre — der ganze Streit um die Schlechta-Ausgabe. Uns wollte zum Beispiel nicht einleuchten, daß ein solcher feierlicher Begriff wie das „ungeschriebene Gesetz", nach dem man keine Nietzsche-Ausgabe veranstalten darf, wenn man nicht Nietzsche verehrt (so R. Pannwitz) 14 , ein schwerwiegender Einwand, geschweige denn eine bessere Lösung gegenüber Schlechtas Versuch sei. Denn wir hatten eine ganz simple Frage vor uns: „Nach welchem Text soll unsere Übersetzung gemacht werden?" Andererseits konnten wir auch keinen rechten Gebrauch der Schlechta-Ausgabe zu unseren Zwecken machen. Wir hatten zwar in den ersten zwei Bänden eine meistens getreue Wiedergabe der Erstdrucke Nietzsches vor uns, im dritten Band aber — unter dem Titel „Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre" — hatten wir, obwohl einigermaßen chronologisch geordnet, genau dasselbe Material, das 1906/11 durch die Veröffentlichung des zweiten (und kanonischen) „Willens zur Macht" bekannt wurde. In Florenz hätten wir gewiß einige unbegreifliche Versäumnisse Schlechtas beseitigen können, die — merkwürdig genug — keiner seiner Opponenten (Löwith, von den Steinen, Pannwitz usw.) ihm vorgeworfen hatte: wir hätten nämlich mit Hilfe des Apparats von Otto Weiss zum „Willen zur Macht" manche grobe Verstümmelung und Zerstückelung der Fragmente rückgängig machen können; außerdem hätten wir auch den ersten einbändigen „Willen zur Macht" (1901) zu Rate ziehen und dadurch jene wichtigen Fragmente bergen können, welche sonderbarerweise aus dem zweiten endgültigen, doch viel umfangreicheren „Willen zur Macht" von 1906/11 verschwunden waren; endlich hätten wir (im Einklang mit Schlechtas Forderung einer Wiederherstel14
Vgl. R. Pannwitz, Nietzsche-Philologie?
In: Merkur Π (1957), S. 1073-1087.
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lung der Manuskripte) auf Grund der Manuskriptverzeichnisse in den Bänden XIII und X I V der Großoktavausgabe die für den „Willen zur M a c h t " benutzten Manuskripte (also die, welche in den Bänden X V und X V I auch verzeichnet waren) ergänzen können. Auf diese Weise hätten wir einen umfangreicheren, nach den Manuskripten einigermaßen chronologisch geordneten Nachlaß aus den achtziger Jahren herstellen können. Trotzdem tauchten neue Schwierigkeiten und Einwände auf: 1. für eine gute Hälfte des Nachlasses (aus der Zeit der Geburt der Tragödie bis ungefähr zu Also sprach Zarathustra: 1869-1885) hatten wir — in Florenz — keine andere Lösung, als die Texte so zu übersetzen, wie sie — systematisch und nicht chronologisch und nach Manuskripten geordnet — in den Bänden IX-XII der Großoktavausgabe vorlagen, da wir dazu keine Seitenverzeichnisse der Manuskripte hatten; 2. die Bände IX-XII der Großoktavausgabe lagen in zwei verschiedenen Fassungen vor: die eine von Fritz Koegel aus den Jahren 1896/97 war durch die spätere von Peter Gast, August und Ernst Horneffer, Ernst Holzer aus den Jahren 1901/03 ersetzt worden, aber manches und wichtiges, was wir in der Koegelschen Fassung lesen konnten, fand sich nicht mehr in der späteren und umgekehrt; 3. uns mußten die Haare zu Berge stehen, wenn wir in der kleineren Nietzsche-Biographie der FörsterNietzsche (1912-1914) zu entscheidenden, im Text zitierten Nietzsche-Stellen immer wieder solche Anmerkungen von Richard Oehler zu lesen bekamen: „anscheinend (!) nicht in den Werken ged r u c k t " oder „aus dem Manuskript zitiert, nicht im Nachlaß ged r u c k t " oder „anscheinend nicht im Nachlaß veröffentlicht": waren das alles nicht auch Texte, die wir hätten übersetzen sollen? Tauchte nicht dieselbe Frage auch angesichts der früheren, sogenannten „großen Biographie" der Schwester auf 15 , w o man ebenfalls viele Texte lesen konnte, die sonst nicht bekannt waren (allerdings ohne das „gelehrte" Zugeständnis der Anmerkungen)? Oder auch der Taschenausgabe gegenüber, die ja auch Texte bringt, welche nicht in der Großoktavausgabe enthalten sind? 4. für eine große Anzahl Fragmente, die in sogenannten Mappen lagen, war auch aufgrund der 15
Elisabeth Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsche's, in 2 Bänden (Band 2 in 2 Abteilungen). Leipzig 1895, 1897, 1904
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Verzeichnisse in den Bänden XIII-XVI der Großoktavausgabe keine chronologische Anordnung möglich; 5. wenn wir auch die Manuskriptseiten hatten, auf denen sich die Fragmente befinden, welches war die Reihenfolge, nach der wir die Fragmente auf derselben Seite hätten übersetzen sollen? 6. was schlummerte noch seit mehr als siebzig Jahren in den Manuskripten, das wir — in Florenz — überhaupt nie hätten kennenlernen können? Einen zuverlässigen Text hatten wir nur für die Jugendschriften und die Philologica, die in der unvollständig gebliebenen historischkritischen Gesamtausgabe (Bde. I-V, 1933/40) vorliegen, also für die Schriften von 1854 bis zum Frühjahr-Sommer 1869 (der allerersten Basler Zeit); daraus aber hätten wir verständlicherweise nur einen kleinen Teil für eine italienische Ubersetzung benützen können. Der eigentliche philosophische Nachlaß, von den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie bis zur letzten Turiner Zeit, war noch nicht wissenschaftlich erschlossen worden. Für zwanzig Jahre von Nietzsches geistigem Schaffen, vom Sommer 1869 bis zum 2. Januar 1889 also, lag er uns in höchst unbefriedigender und unvollständiger Gestalt vor. Was tun? Wir entschieden uns dafür, die Lage der NietzscheManuskripte an Ort und Stelle zu prüfen. In den ersten Tagen des April 1961 kam ich nach Weimar. Hier fand ich die Manuskripte Nietzsches im Goethe- und Schiller-Archiv sorgfältig aufbewahrt vor; hier konnte ich — dank dem freundschaftlichen Entgegenkommen Helmut Holtzhauers, des Generaldirektors der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur,16 denen das Goethe- und Schiller-Archiv untersteht, und Karl-Heinz Hahns, des Direktors des Archivs — in vierzehn Tagen eine erste Bestandsaufnahme vornehmen, deren Ergebnis lautete: wir brauchen einen vollkommen neuen Text von Nietzsches Nachlaß. Mein Freund Colli zog daraus die einzig richtige Konsequenz: da kein anderer auf die Idee gekommen ist, es zu machen, werden wir selber den ganzen Nachlaß herausgeben, vielmehr — weil das eine 16
Dieselbe Unterstützung wird unserem Unternehmen von Holtzhauers Nachfolger, Generaldirektor Prof. Dr. Walter Dietze, nach wie vor gewährt. Ihm sei an dieser Stelle ausdrücklich und freundschaftlich gedankt.
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das andere auch bedingt — eine kritische Nietzsche-Gesamtausgabe vorbereiten. Somit hatte unser Plan den ursprünglichen Rahmen gesprengt. Unser Verleger Einaudi schien aber an einem so großen Unternehmen nicht mehr interessiert zu sein. Zum Glück gewannen wir kurz darauf einen alten Freund, der nun selber einen kleinen Verlag gegründet hatte, für unser kühnes Anliegen: Luciano Foà, Leiter von Adelphi Edizioni in Mailand. Wir mußten aber auch einen deutschen Verleger haben; der war jedoch damals nicht aufzutreiben: keiner der deutschen Verlage, denen wir unseren Vorschlag unterbreiteten, schien der etwas gewagten Sache zu trauen. Foà gelang es jedoch im entscheidenden Moment, den großen Pariser Verlag Gallimard für uns zu gewinnen. Im September 1962 war dadurch unsere Arbeit auch finanziell gesichert: wir konnten nunmehr mit Zuversicht auf einen deutschen Verleger warten. Die ersten italienischen Bände aufgrund einer neuen philologisch gesicherten deutschen Vorlage erschienen schon 1964. Im selben Jahr machten wir, Giorgio Colli und ich, bei einem internationalen NietzscheGespräch in Paris die Bekanntschaft mit Karl Löwith. Dieser machte dann, im Februar 1965, Heinz Wenzel, Leiter der geisteswissenschaftlichen Abteilung im Verlag Walter de Gruyter, Berlin, auf unsere Arbeit in Weimar aufmerksam, als Wenzel, der in seinem Verlag eine Nietzsche-Ausgabe veranstalten wollte, ihn um Rat bat. Der deutsche Verlag Walter de Gruyter kaufte kurz darauf die Rechte für die Veröffentlichung der neuen Kritischen Gesamtausgabe der Werke des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche in der Originalsprache dem französischen Verlag Gallimard und dem italienischen Adelphi ab. Die deutsche Ausgabe erscheint seit Herbst 1967. Sie wird 33 Bände in acht Abteilungen umfassen. Bis jetzt sind 20 Bände erschienen. Das wichtigste Ergebnis dieser vierzehn Jahre ist, daß Nietzsches philosophischer Nachlaß von 1869 bis 1889 (also von den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie bis zu Nietzsches geistigem Zusammenbruch) nunmehr vollständig vorliegt: ca. 5000 Seiten gegenüber 3500 in der bisher umfassendsten Ausgabe, der Großoktavausgabe. 6. Die Vollendung der Nietzsche-Ausgabe wird noch manches Jahr meines Lebens in Anspruch nehmen. Ob mir eine solche Voll-
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endung vergönnt sein wird, weiß ich nicht. Das eine weiß ich aber genau: ohne die Begegnung mit meinem unvergleichlichen Freund und Lehrer, dem am 6. Januar 1979 viel zu früh verstorbenen Giorgio Colli, hätte ich nie damit angefangen. Ohne Giorgio Colli gäbe es nicht die neue Nietzsche-Ausgabe, von der ich berichtet habe.
Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879 In einem Alter, das wir mit Dante die Mitte des Lebens nennen, kommt bei Nietzsche ein innerer Prozeß zum Abschluß, dessen Anfänge wiederum um einige Jahre zurückliegen. Damit meinen wir das Jahr 1879, da Nietzsche 35 wurde und die Universität Basel verließ; wir meinen außerdem die Jahre zwischen 1875 und 1879. In unserer Betrachtung werden wir einiges voraussetzen und deshalb absichtlich nicht behandeln: die Krise in den Beziehungen zu Richard Wagner, die Verschlimmerung krankhafter Zustände, die innere philosophische Entwicklung. Wir befassen uns ausschließlich mit Nietzsches Kindheitserinnerungen aus dieser Zeit, weil sie in der bisherigen Nietzsche-Forschung gar nicht beachtet wurden, und versuchen daraus das Bild wiederherzustellen, das sich Nietzsche damals von den ersten Jahren seines Lebens malte. Daß diese Erinnerungen bedeutsam sind, sagt er uns selbst in einem Aphorismus der Vermischten Meinungen und Sprüche, in dem er ausdrücklich das Träumen der Vergangenheit in Verbindung mit „starken Wandlungen" setzt: 360. Anzeichen starker Wandlungen. — Es ist ein Zeichen, wenn man von lange Vergessenen oder Todten träumt, dass man eine starke Wandlung in sich durchlebt hat und dass der Boden, auf dem man lebt, völlig umgegraben worden ist: da stehen die Todten auf und unser Alterthum wird Neuthum.
Eine kurze Nachlaßaufzeichnung aus dem Sommer 1878, der Zeit, in der die meisten Aphorismen der Vermischten Meinungen und Sprüche entstanden, entnommen aus einem kleinen Notizbuch mit dem Titel „Memorabilia", läßt uns die Chronologie der Tatsachen (Träumen von lange Vergessenen oder Toten) besser und näher bestimmen, auf die sich Nietzsche in seinem Aphorismus bezieht:1 1
KGW IV 3, S. 366, 28 [33],
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In Sorrent hob ich die Moosschicht von 9 Jahren. Von Todten träumen.
Im Winter 1876/77, in Sorrent, vollzog sich in Nietzsche jene „starke Wandlung" in den Beziehungen zu Wagner und zur Philosophie Schopenhauers. Vom letzteren ist die Rede in einem Brief Nietzsches an Cosima Wagner vom 19. Dezember 1876;2 mehr noch: Nietzsche erzählt seiner Freundin, daß er träumt: Der Abstand meiner jetzigen, durch Kranksein erzwungenen Lebensweise ist so groß, daß die letzten 8 Jahre mir fast aus dem Kopf kommen und die früheren Lebenszeiten, an welche ich in der gleichartigen Mühsal dieser Jahre gar nicht gedacht hatte, sich mit Gewalt hinzudrängen. Fast alle Nächte verkehre ich im Traume mit längstvergessenen Menschen, ja vornehmlich mit Todten. Kindheit Knaben- und Schulzeit sind mir ganz gegenwärtig
Die „starke Wandlung", der Abschied von der nächsten Vergangenheit, von Wagner und Schopenhauer, wird begleitet von der Hebung einer „Moosschicht von 8 / 9 Jahren", die fernste Vergangenheit wird zur Gegenwart. Nietzsches innere Krise ist jedoch, aufgrund der von der neuen Kritischen Gesamtausgabe erschlossenen Texte, noch weiter zurück zu datieren, und zwar auf den Sommer 1875, als er — fern von den Generalproben des Ringes in Bayreuth — sich in Steinabad bei Bonndorf aufhielt. Mitten in der Niederschrift zur vierten unzeitgemäßen Betrachtung, in einem Heft, dem Nietzsche selbst den Titel „Vorarbeit zu Richard Wagner in Bayreuth" gab und das von ihm in jenem Sommer 1875 benutzt wurde, lesen wir: 3 Wie war mir doch in Nirmsdorf, in der goldenen Aue! der Mond ist aufgegangen. In Plauen am Bach unter Schmetterlingen im Frühling. In Pobles, als ich über die verlorene Kindheit weinte. In Röcken, als ich bunte Schneckenhäuser fand. Bei Naumburg, als ich Kalkspathe und Gips grub. In Pforta als die Felder leer waren und der Herbst kam. Als der Großvater mir Hölty's „Wunderseliger M a n n " erklärte. Bei Bonn am Einflüsse der Wied (?) in den Rhein überkam mich noch einmal das Gefühl der Kindheit. Dann in der Neugasse, wo ich immer die mahnende Stimme des Vaters hörte. — Die Geschichte, welche die
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Vgl. dazu in diesem Band S. 38ff.
3
K G W I V 1 , S. 2 7 0 , 11 [11],
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Haushälterin des Pastors Hochheim erzählte. Auf der krummen Hufe im Mondschein Schlittschuh fahrend, „was ich des Tags verdient auf meiner Leyer." — Ravaillac.
Fragmente dieser Art sind bei Nietzsche sehr selten; das eben zitierte ist die erste Spur jener inneren Rückschau des reifen Mannes auf Kindheit und Jugend; die letzte findet sich 4 Jahre später in einem Notizbuch aus dem Spätsommer 1879. In den folgenden Jahren kommt Nietzsche auf diese Art von Erinnerungen nur noch selten, im Grunde genommen zwei Mal und in ganz anderem Zusammenhang, zurück: zuletzt noch im Ecce homo, in dem man eine Anspielung auf die Kindheit lesen wird, die ihre ganze Bedeutung erst durch die hier behandelten früheren Notizen erhalten kann. Selbstverständlich dürfen wir nicht ausschließen, daß möglicherweise andere solche Aufzeichnungen uns nicht mehr erhalten seien, und zwar durch Verlust bzw. Vernichtung von Manuskripten. Um so mehr ist es wichtig, daß die „starke Wandlung" durch so eindeutige Erinnerungen begleitet wird, und zwar nicht nur aus dem Sommer 1875, sondern auch aus dem Frühjahr-Sommer 1878. Wir haben schon das Notizbuch „Memorabilia" erwähnt; hier finden sich, — nebst Aufzeichnungen über andere spätere Lebensperioden — auch noch zahlreiche Notizen, die auf geradezu überraschende Weise jenes Fragment aus dem Sommer 1875 ergänzen und erweitern. Folgende Gegenüberstellung ist möglich:4 Sommer 1875
Frühjahr-Sommer 1878 (Memorabilia)
Wie war mir doch in Nirmsdorf, in der goldenen Aue! der Mond ist aufgegangen. In Plauen am Bach unter Schmetterlingen im Frühling. In Pobles, als ich über die verlorene Kindheit weinte.
Sieben Jahre — Verlust der Kindheit empfunden.
In Röcken, als ich bunte Schneckenhäuser fand. 4
Die Fragmente aus Memorabilia: [8.6.7.8.9.13.6.7].
K G W IV 3, S. 362ff., der Reihe nach 28
Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875/79 Bei Naumburg, als ich Kalkspathe und Gips grub. In Pforta als die Felder leer waren und der Herbst kam. Als der Großvater mir Hölty's „Wunderseliger Mann" erklärte. Bei Bonn am Einflüsse der Wied (?) in den Rhein überkam mich noch einmal das Gefühl der Kindheit. Dann in der Neugasse, wo ich immer die mahnende Stimme des Vaters hörte. Die Geschichte, welche die Haushälterin des Pastors Hochheim erzählte. Auf der krummen Hufe im Mondschein Schlittschuh fahrend, „was ich des Tags verdient auf meiner Leyer". Ravaillac.
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Windlücke. Steine als Zeugen der Vorzeit. Schwermüthiger Nachmittag — Gottesdienst in der Capelle zu Pforta,ferne Orgeltöne. Aber mit 20 Jahren bei Bonn am Einfluss der Lippe (?) mich als Kind gefühlt. Dämonion — warnende Stimme des Vaters. Die Haushälterin der Pfarrei Einsiedel. — Zeugniss über den frühen Ernst. Christus als Knabe unter Schriftgelehrten. Krumme Hufe Mondschein Schlittschuh. „Was ich des Tags verdient auf meiner Leyer, das geht des Abends wieder in den Wind". Glückliche Tage des Lebens! Als Kind Gott im Glänze gesehn. — Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). Als Verwandter von Pfarrern früher Einblick in die geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmut h Decorum.
Um diesen wichtigen, einmaligen selbstbiographischen Kern werden wir nun unsere Betrachtungen gruppieren, um Funktion und Bedeutung dieser Introspektion besser zu eruieren. Das wird nach 4 Gesichtspunkten geschehen: 1. 2. 3. 4.
Nietzsches Bindung an die toten Verwandten. Das Glück der Kindheit. Der Verlust der Kindheit. Des Kindes Nietzsche Gotterfahrung.
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1. Nietzsches Bindung an die toten Verwandten Kehren wir zu dem Fragment aus dem Sommer 1875 zurück. In welcher Reihenfolge schreibt Nietzsche seine Erinnerungen nieder? Er nennt zunächst einige Orte Thüringens, der (preußischen) Provinz Sachsen, und des Königreiches Sachsen, welche die Landschaft seiner Kindheit bestimmen: Nirmsdorf (bei Weimar), Plauen, Pobles (bei Weißenfels), Röcken (bei Lützen). Der Satz über Nirmsdorf findet keine Entsprechung in den Aufzeichnungen vom Frühjahr/Sommer 1878; er wird jedoch durch eine Schrift des vierzehnjährigen Nietzsche vervollständigt: Aus meinem Leben, die erste Autobiographie aus dem Jahre 1858. Dort lesen wir: 5 Auch noch des Aufenthaltes in Nirmsdorf errinere ich mich wo der liebe selige Onkel Pastor war. Wohl weiß ich noch, wie der Mond des Abends auf mein Bett strahlte und wie ich die goldene Aue in Silberglanze vor mir sah; wie dann die Tante Auguste sprach: „Der Mond ist aufgegangen / Die gold'nen Sternlein prangen usw. / Ach nie werde ich diese Zeit vergessen.
In Nirmsdorf bei Weimar lebte bis zum Tod im Jahre 1858, kurz vor der Niederschrift der zitierten Autobiographie, Friedrich August Engelbert Nietzsche, der älteste Stiefbruder von Nietzsches Vater, Carl Ludwig. Da er 1785 geboren wurde und sein Vater, Friedrich August Ludwig, der auch Vater von Carl Ludwig (geb. 1813, aus zweiter Ehe) und also Nietzsches Großvater väterlicherseits war, 1826 starb, so war der Pastor in Nirmsdorf der einzige noch lebende Nietzsche einer älteren Generation: man bedenke, daß Nietzsches Großvater mütterlicherseits, David Ernst Oehler, zwei Jahre jünger als dieser Stiefonkel war. Wir sollten uns außerdem erinnern, daß Friedrich August Ludwig Nietzsche 1756 geboren wurde, und somit feststellen, daß Nietzsches lebende Tradition — ich weiß dafür kein anderes Wort — schon durch die Großvätergeneration bis in die Mitte des XVIII. Jahrhunderts zurückreicht: in die vorrevolutionäre Periode, ins Zeitalter der Aufklärung. Tatsächlich übten beide, Fried-
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B A W 1, S. 15.
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rieh August Ludwig, Dr. der Theologie der Universität Königsberg, sowie sein erstgeborener Sohn, Friedrich August Engelbert, einen entscheidenden Einfluß auf die geistige Entwicklung des Sohns bzw. jüngeren Bruders, Carl Ludwig, des frühverstorbenen Vaters des Philosophen, aus. Sie waren beide Vertreter einer rationalistischen, aufklärerischen Richtung in der Theologie, die auf Nietzsches Vater weiterhin wirkte, auch nachdem er sich der sogenannten „Erweckungsbewegung" der Lutherischen Kirche angeschlossen hatte. „Vielen der Predigten Carl Ludwig Nietzsches spürt man ab", so Reiner Bohley, 6 der beste Kenner der geistigen Umgebung, in der Nietzsche aufwuchs „daß der orthodox und erbaulich-erwecklich Predigende noch dem rationalistischen Erbe verhaftet ist", ja: „Der Gegensatz" schreibt wieder Bohley „zwischen Rationalisten und Erweckten bleibt in der stillen ,Gemüthswelt' des Vaters Nietzsche bestehen — auch sein Sohn wird in diesem Gegensatz später sowohl in Naumburg als auch in Pforte aufwachsen". Nietzsches theologisches Denken hat diese nicht zu unterschätzenden Prämissen. Auguste Nietzsche, die Tante, welche an jenem unvergeßlichen Abend dem kleinen Neffen das A bendlied des Matthias Claudius vorsprach (oder -sang?), war eine der beiden ledig gebliebenen Schwestern von Carl Ludwig Nietzsche. Sie und Rosalie (so hieß die andere Schwester) lebten mit ihrem Bruder und dessen Familie in Röcken und später, (ab 1850) nach dem Tode des Bruders (27. Juli 1849), in Naumburg. Auguste Nietzsche starb am 2. August 1855; als die Nachricht ihn in den Ferien erreichte, ging Nietzsche „hinaus und weinte bitterlich". Acht Monate darauf (1856) starb auch seine Großmutter Erdmuthe Krause, die Mutter seines Vaters. In diesem Jahr, 1856, wurde der gemeinsame Haushalt mit Rosalie Nietzsche, der überlebenden Schwester von Nietzsches Vater, aufgelöst. Sie blieb zwar in Naumburg, wo auch ihre zwei Stiefschwestern noch lebten (Friederike, verh. Daechsel, welche zusammen mit der ledigen Schwester Lina lebte), aber trennte sich von der Schwägerin und deren beiden Kin-
6
Reiner Bohley, Nietzsches werden?"
Taufe. „IVas, meinst
du, will aus diesem
in: Nietzsche-Studien, Bd. 9 (1980), S. 393.
Kindlein
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d e m , die wiederum die erste N a u m b u r g e r W o h n u n g in der Neustraße (Nietzsche: Neugasse) verließen. Bedeutend für den jungen Nietzsche blieb die Bindung an die Nietzsche-Verwandtschaft, insbesondere an Rosalie Nietzsche; als diese a m 3. Januar 1867 starb, sah Nietzsche — nach seinen eigenen Worten — ein ganzes Stück seiner Vergangenheit und vornehmlich seiner Kindheit von sich weichen. Die letzte Tante Nietzsches, Friederike Daechsel, starb achtzigjährig im September 1873. Bezeichnend ist der Brief, den Nietzsche aus diesem Anlaß seiner Mutter schrieb: 7 . . . so ist denn unsre gute Tante dahin, und wir sind wieder einsamer. Alt werden und einsamer werden scheint dasselbe, und ganz zuletzt ist man wieder nur mit sich zusammen und macht Andre durch unseren Tod einsamer. Gerade weil ich wenig von meinem Vater weiss und ihn mehr aus gelegentlichen Erzählungen errathen muss, waren mir seine nächsten Anverwandten mehr als sonst Tanten zu sein pflegen. Ich freue mich, wenn ich an Tante Riekchen [Friederike Daechsel], wie an die Plauenschen usw. denke, dass sie alle eine sonderliche Natur bis in ein hohes Alter festhielten und in sich Halt hatten, um weniger von aussen her und von dem so zweifelhaften Wohlwollen der Menschen abzuhängen: ich freue mich dessen, weil ich darin die Raceeigenschaft derer, die Nietzsche heissen, finde und sie selbst habe. Deshalb war die gute Tante mir immer auf das Freundlichste gewogen, weil sie es fühlte, wie wir in einer Hauptsache verwandt waren, nämlich eben in der Nietzsche'schen Hauptsache. Und so ehre ich denn ihr Angedenken, indem ich von Herzen begehre, wenn ich alt werden sollte, wenigstens nicht von mir selber, das heisst von dem Geiste meiner Väter abzufallen.
Bezeichnend nannten wir diesen Brief, weil in ihm erstens eine nie gestillte Sehnsucht nach dem Bild des Vaters zum Ausdruck k o m m t . D a ß sich Nietzsche v o m Nachlaß seiner letzten Tante Nietzsche manches zur Erhellung seiner und des eigenen Vaters Biographie versprach, erfahren wir aus einigen Andeutungen in den Briefen der Schwester, doch hatte Friederike Daechsel die meisten wichtigen Familienpapiere schon zu ihren Lebzeiten verbrannt, „weil sie darin Briefe vermuthete, welche die Nachwelt nicht be7
Nietzsche an Franziska Nietzsche, 21. September 1873, K G B II 3, S. 159f.
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kommen sollte". 8 Zweitens klingt in diesen Zeilen ein Nebenton mit, der auf einen Nietzsche bewußten Gegensatz zwischen denen „die Nietzsche heissen" und denen — so ergänzen wir — „die Oehler heissen" hinweist, auf den wir später zu sprechen kommen werden. In Plauen — wir setzen unseren Kommentar fort — war eine ganze Reihe von Nietzsche-Verwandten ansässig: drei Schwestern und drei Söhne von Friedrich August Engelbert Nietzsche, sowie ein Bruder von Erdmuthe Krause. Uber die mehr bürgerliche Atmosphäre, die in Plauen herrschte, schreibt Nietzsche selbst in seiner Biographie von 1858:9 einmal... erfüllten wir den Wunsch der lieben Tanten in Plauen und blieben dort einige Wochen. Da die reichen Fabricksherren dasselbst unsre Verwandten sind, so war das stets ein recht angenehmer Aufenthalt . . .
Zur Zeit dieses Aufenthalts war Nietzsche neun Jahre alt; in der Nähe von Plauen fand ein auch für den Freigeist Nietzsche immer noch denkwürdiger Besuch in der Pfarrei Einsiedel statt, von dem wir nirgendwo anders etwas erfahren als in den Notizen von 1875 und 1878. Von Nietzsches frühem Ernst ist darin die Rede und er wird mit „Christus als Knabe unter Schriftgelehrten" verglichen. Wir sehen, Nietzsches Besinnung auf die ferne Vergangenheit, auf die „Väter", ist gleichzeitig Besinnung auf die christlich religiösen Wurzeln seines Lebens. Des Vaters Stimme sprach, mahnend und warnend, zum kleinen Knaben in Naumburg: es war die Stimme eines frommen Geistlichen. Und so wie Nietzsche 1875 und 1878 sich ihrer erinnert, braucht sie keineswegs eine erschreckende Stimme gewesen zu sein: ganz im Gegenteil, denn sie gehörte zum Ernst einer glücklichen Zeit, nach der sich der reife Nietzsche zurücksehnt. Ein herzliches Verhältnis bestand schließlich zum Großvater mütterlicherseits, dem Pastor David Oehler in Pobles, den Nietzsche im Zusammenhang mit einem frühen, vielleicht dem ersten literarisch-poetischen Eindruck erwähnt, Höltys Gedicht „Das Landleben". Gott, die lebende Natur, sowie auch der Tod sind die
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Elisabeth Nietzsche an Nietzsche, 29. November 1873, KGB II 4, S. 352. B A W 1, S. 15.
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Motive, welche der Pobleser Landgeistliche seinem Enkel erklärte; und der Eindruck war nicht mehr zu löschen:10 Einsam wandelt er oft, Sterbegedanken voll, Durch die Gräber des Dorfs, setzet sich auf ein Grab Und beschauet die Kreuze Und den wehenden Totentanz. Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh! Engel segneten ihn, als er geboren ward, Streuten Blumen des Himmels Auf die Wiege des Knaben aus.
Doch blieb Nietzsche sein bewußtes Leben lang der Oehlerschen Verwandtschaft gegenüber, — darunter vier Onkel und drei Tanten, die Geistliche bzw. Frauen von Geistlichen waren, — ziemlich fremd. Auch die Bindung an die Großmutter Oehler, welche als letzte Verwandte der älteren Generation 1876 starb, war nie so eng, wie die an die Großmutter Nietzsche es gewesen war. Wir haben schon auf einen Gegensatz zwischen denen „die Nietzsche heissen" und denen „die Oehler heissen" angespielt. Dieser Gegensatz war sogar der Schwester Nietzsches als Biographin gegenwärtig: „Die Familien Nietzsche und Oehler waren recht verschieden", schreibt sie. Es war mehr als nur „Verschiedenheit", denn, wie Reiner Bohley nachgewiesen hat,11 schon wenige Monate nach der Hochzeit beklagte sich Nietzsches Vater über die Schwiegereltern „die ich je länger ich sie kennenlerne, nur immer weniger achten kann . . . es ist eine so verschiedene Lebens- und Glaubensrichtung zwischen mir und ihnen, daß ich ... einen förmlichen Bruch mit dem Pobleser Pfarrhaus fürchte", namentlich warf Carl Ludwig Nietzsche in diesem Brief an einen Freund seiner Schwiegermutter vor, daß sie „ein ganz weltliches und gemeines Weib" sei! Dabei müssen wir an die späteren Konflikte Nietzsches mit Mutter und Schwester denken bis hin zur letzten „Expektoration" im Ecce homo, don wo Nietzsche seine vermeintliche, polnische Herkunft väterlicherseits gegen die Deutschheit seiner Mutter ausspielt: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur 10
11
Höltys Gedicht zitiert nach: L. Chr. H. Hölty, Werke und Briefe, hg. von U. Berger, Berlin/Weimar 1956, S. 165. R. Bohley, a.a.O., S. 389f.
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sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches. Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester".12 Daß hier der Mutter, aber auch der Schwester großes Unrecht geschah, daß außerdem dies nicht das letztgültige Wort Nietzsches über sein schwieriges Verhältnis zu den nächsten Verwandten sei, brauchen wir gewiß nicht zu beweisen. Trotzdem bleibt der hier symptomatisch signalisierte Riß, der innere Zwiespalt in Nietzsches Natur in seiner ganzen Tragweite vor unseren Augen bestehen. Man darf ihn nicht unterschätzen.
2. Das Glück der Kindheit In seinen Aufzeichnungen von 1875 und 1878 erinnert sich Nietzsche an die glücklichen Tage seiner Kindheit: „Nie werde ich diese Zeit vergessen", hatte schon der Vierzehnjährige geschrieben. Das Glück geschieht ihm, so liest man weiter in der Autobiographie von 1858, „im freien Tempel der Natur", dort fand er die „wahrsten Freuden". Die bunten Schneckenhäuser in Röcken; die goldene Aue im Silberglanze des Mondes in Nirmsdorf; die Schmetterlinge am Bach im Frühling in Plauen; die ausgegrabenen Steine, Kalkspate und Gips, als Zeugen der Vorzeit auf der Windlücke, einer Anhöhe zwischen Naumburg und Bad Kösen; der Herbst in Pforta mit seinen leeren Feldern: das sind in Nietzsches Seele tief eingegrabene Naturerlebnisse, die nur ihm, — wie die Träume nur dem Träumenden, — soviel bedeuten, und deren „Honigseim", — um ein Wort Nietzsches zu gebrauchen, — er als Kind zum ersten Mal kostete. Zu einer eigenen Charakteristik in den Vermischten Meinungen und Sprüchen gebraucht Nietzsche diese frühen Erlebnisse: 49. Im Spiegel der Natur. — Ist ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, dass er gern zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, dass er die Waldes- und Blumenfarben des abglühenden
12
Vgl. in diesem Band S. 120ff.
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und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Schöneres hindeuten als der Natur je gelingt, dass er unter grossen fettblätterigen Nussbäumen sich ganz heimisch wie unter Bluts-Verwandten fühlt, dass im Gebirge seine grösste Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen zu begegnen, aus denen ihm die Einsamkeit selber mit ihren Augen anzusehen scheint, dass er jene graue Ruhe der NebelDämmerung liebt, welche an Herbst- und Frühwinter-Abenden an die Fenster heranschleicht und jedes seelenlose Geräusch wie mit Sammt-Vorhängen umschliesst, dass er unbehauenes Gestein als übriggebliebene, der Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfindet und von Kind an verehrt, und zuletzt, dass ihm das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und Raubthier-Schönheit fremd ist und bleibt? . . . Das ist Nietzsches Selbstbeschreibung, und sie geht — jetzt erst wissen wir es — auf die glücklichen Tage seiner Kindheit zurück. Dazu gehört auch der Rausch des Schlittschuhfahrens. Z u dieser körperlichen Übung gibt es in den Aufzeichnungen des Knaben Nietzsche Gedanken, die uns an ähnliche Äußerungen von Klopstock und Goethe erinnern lassen. Nietzsche lokalisiert dieses Erlebnis in einem Naumburger V o r o r t , der „ k r u m m e n H u f e " ; und beide Male, 1875 und 1878, zitiert er eine Volksweise: „Was ich des Tags verdient auf meiner Leyer, das geht des Abends wieder in den W i n d " , über die wir leider keine weitere Information haben. Auf das Schlittschuhfahren kehrt Nietzsche noch einmal zurück, im Herbst 1878, als er in einer Nachlaßnotiz den Begriff „Treppen-Glück" prägt: „Treppen-Glück" — Knaben auf Eis, eine Windlaterne in der Mondnacht am Bach. Was ist „Treppen-Glück"? Das erklärt Nietzsche kurz darauf in einem Aphorismus der Vermischten
Meinungen
und
Sprüche:
352. Treppen-Glück. — Wie der Witz mancher Menschen nicht mit der Gelegenheit gleichen Schritt hält, so dass die Gelegenheit schon durch die Türe hindurch ist, während der Witz noch auf der Treppe steht: so giebt es bei Andern eine Art von Treppen-Glück, welches zu langsam läuft, um der schnellfüssigen Zeit immer zur Seite zu sein: das Beste, was sie von einem Erlebnis, einer ganzen Lebensstrecke zu gemessen bekommen, fällt ihnen erst lange Zeit hinterher zu, oft nur als ein schwacher gewürzter Duft, welcher Sehnsucht erweckt und Trauer, — als ob es möglich gewesen wäre, irgendwann in diesem Element sich recht satt zu trinken. Nun aber ist es zu spät.
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Auch das Glück der Kindheit ist ein Treppen-Glück, ein verlorenes Glück. Die Kindheit selber geht notwendigerweise verloren.
3. Der Verlust der Kindheit Nietzsche registriert diesen Verlust sowohl 1875 als auch 1878, als ein bedeutendes, für uns, wenigstens was den äußeren Anlaß betrifft, geheimnisvolles Ereignis. Er hat mit sieben Jahren, während eines Aufenthalts beim Großvater Oehler in Pobles, den Verlust der Kindheit empfunden und darüber geweint. „In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen würde", sagt Nietzsche 10 Jahre später, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch, im Ecce homo.13 Die pathetische Attitüde in dieser späten Äußerung ist nicht zu übersehen: Nietzsche ist, auch und gerade wegen seiner Einsamkeit von Kindesbeinen an, seinem Schicksal dankbar; er habe nie an der Einsamkeit, sondern immer nur an der „Vielsamkeit" gelitten. Die Funktion dieser Erinnerung an den Verlust der Kindheit im Ecce homo ist eine ganz andere als zur Zeit der Niederschriften 1875 und 1878. Selbstverständlich sehe ich keinen Widerspruch darin, schon deshalb, weil ich viel eher geneigt bin, die vermeintlichen Widersprüche in Nietzsches Leben und Werk im Kopf der Nietzsche-Forscher zu suchen, als bei Nietzsche selbst. Ecce homo bleibt, das muß immer wieder gesagt werden, Nietzsches beste und zuverlässigste Biographie. Die unerwartete Bestätigung jener Hindeutung im Ecce homo auf ein Ereignis, das den Siebenjährigen getroffen hat, durch Nachlaßnotizen, die lange vor Ecce homo, 10 Jahre vorher, und in einer ganz anderen Stimmung geschrieben wurden, bekräftigt diese meine feste Ansicht. Daß aber jenes Ereignis „Verlust der Kindheit" eng mit einem neuen Gefühl, dem Gefühl der Einsamkeit verbunden sei, müssen wir annehmen: Kind sein hieße somit nicht einsam sein. Das Gefühl der Kindheit, der Nicht-Einsamkeit, überkam Nietzsche noch einmal, „bei Bonn am Einflüsse der Wied in den Rhein",
13
KGW VI 3, S. 295, Ecce homo, Warum ich so klug bin §10.
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als er 20 Jahre alt ward. Es war die Reise von Naumburg nach Bonn, welche Nietzsche damals mit seinem Freund Paul Deussen unternahm, um — nach Abschluß der Schule — die Universität zu besuchen. Nietzsche war über Elberfeld nach Oberdreis im Westerwald zu Deussens elterlichem Haus gefahren (Deussens Vater war dort Pfarrer) und von Oberdreis am 16.Oktober (einen Tag nach seinem 20. Geburtstag) mit dem Freund bis nach Neuwied gelaufen, dorthin wo die Wied in den Rhein einmündet. Noch am 11. Oktober 1866 schrieb Nietzsche an Carl von Gersdorff: „Einige Nachmittage waren so mild und sonnig, daß ich unaufhörlich jener einzigen und unwiederbringlichen Zeit gedenken mußte, wo ich, zum ersten Male vom Schulzwang f r e i . . . den Rhein mit dem freien stolzen Gefühl einer unerschöpflich reichen Zukunft sah". Kein Wort — wie billig — an Freund Gersdorff über das Gefühl der Kindheit, das ihn damals überkam. Auf dieses Gefühl des Unwiederbringlichen kommt aber Nietzsche in einem Aphorismus des Wanderers zu sprechen, den wir — so glaube ich — nach all dem bisher gesagten besser und anders lesen und verstehen können: 168. Sentimentalität in der Musik. — Man sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich meine: von jenen allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses Räthsel, dass es so ist, zum Rathen aufzugeben und selber ein Wenig daran herumzurathen. — Als wir Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals — es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens — hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst verstanden, die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. [...] An jene ersten musikalischen Entzückungen — die stärksten unseres Lebens — knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italiänischen Melismen hören: die Kindesseligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes — das rührt dabei die Saiten
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unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. — . . .
4. Des Kindes Nietzsche Gotterfahrung Kindsein heißt auch für Nietzsche Geborgensein in Familie und Gott. „Als Kind Gott im Glänze gesehn", notiert er 1878. Das fromme Kind, das wie Christus unter Schriftgelehrten aussah, bekam einen frühen „Einblick in die geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmuth Decorum" seiner geistlichen Verwandten. Nicht genug damit: er philosophierte sehr frei über Gott: Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes).
Er war damals 12/13 Jahre alt. Wenige Jahre später soll er Atheist geworden sein, wenn wir — und warum sollten wir nicht — Glauben einer Nachlaßaufzeichnung schenken wollen, welche die letzte der uns interessierenden Art ist und aus dem Sommer 1879 stammt:14 Als Atheist, habe ich nie das Tischgebet in Pforta gesprochen und bin von den Lehrern nie zum Wocheninspektor gemacht worden. Takt!
Von diesem frühen Atheismus wissen wir aus keiner anderen Quelle als dieser Notiz, die nichts von ihrem Wert verliert, auch wenn wir erfahren, daß Nietzsche einmal doch Wocheninspektor in Schulpforta war.15 Ganz gewiß hat sich Nietzsche nie mit seinen beschränkten Verwandten über das unterhalten, was im Innersten seines Wesens vor sich ging. Wenn der Onkel Edmund Oehler, in einem Brief an den Neffen vom November 1862, ihn als „eine suchende, ringende und kämpfende Seele" apostrophiert,16so müssen wir an das, was Nietzsche dem frommen Onkel verschwiegen, eher noch denken als an das, was er ihm anvertraut hat. Zeichen, wenn auch
14
K G W IV 3, S. 466, 42 [68].
15
Vgl. Nietzsche an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 13. März und 28. Mai 1864,
16
Edmund Oehler an Nietzsche, 17. November 1862, KGB I 1, S. 391.
KGB I 1, S. 274 und 279.
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spärliche und zurückhaltende, finden sich davon im Nachlaß aus dieser frühen Zeit: ich erwähne das Gedicht Vor dem Kruzifix und die Novelle Euphorion. Nun aber zurück zur ersten philosophischen Schrift Nietzsches. Sie wird im späteren Nachlaß noch zweimal erwähnt; das erste Mal 1884:17 Als ich 12 Jahre alt war, erdachte ich mir eine wunderliche DreiEinigkeit: nämlich Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel. Mein Schluß war, daß Gott, sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schuf: daß aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte. — Damit fieng ich an, zu philosophiren. das zweite Mal im Sommer 1885:18 Der ersten Spur philosophischen Nachdenkens, der ich, bei einem Uberblick meines Lebens, habhaft werden kann, begegne ich in einer kleinen Niederschrift aus meinem 13. Lebensjahre: dieselbe enthält einen Einfall über den Ursprung des Bösen. Meine Voraussetzung war, daß für einen Gott Etwas denken und Etwas schaffen Eins und Dasselbe sei. Nun Schloß ich so: Gott hat sich selbst gedacht, damals als er die zweite Person der Gottheit schuf: um aber sich selber denken zu können mußte er erst seinen Gegensatz denken. Der Teufel hatte also in meiner Vorstellung ein ebensolches Alter wie der Sohn Gottes, sogar einen klareren Ursprung — und dieselbe Herkunft. Uber die Frage, ob es einem Gott möglich sei seinen Gegensatz zu denken, half ich mir damit hinweg, zu sagen: ihm ist aber Alles möglich. Und zweitens: daß er es gethan hat, ist eine Thatsache, falls die Existenz eines Gott-Wesens Thatsache ist, folglich war es ihm auch möglich, . . . Diese Schrift ist leider verloren gegangen. Nietzsche kommt noch einmal im Jahre 1887 auf sie zu sprechen, diesmal in einer veröffentlichten Schrift, Zur Genealogie der Moral·. Vorrede. § 3. Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe — sie bezieht sich nämlich auf die Moral, auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist —, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so
17
K G W VII 2, S. 251, 26 [390], Ähnliches berichtet Goethe von sich selber in Dichtung und Wahrheit VIII Buch (am Schluß).
18
K G W VII 3, S. 344, 38 [19],
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in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht hätte, sie mein „A priori" zu nennen, — musste meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe. In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigen Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen" hat, mein erstes litterarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung — und was meine damalige „Lösung" des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vater des Bösen. . . . Der Hang zur Freigeisterei war dem jungen Nietzsche sehr früh mitgegeben; sie vertrug sich nur zu gut mit seiner Religiosität, ja — das hat er selbst zu wiederholten Malen ausgesagt — sie war die Schlußfolgerung
seiner ererbten Christlichkeit.
Nicht
umsonst
wuchs Nietzsche in der „gefährlichsten Gegend Deutschlands" auf:19 Die gefährlichste Gegend in Deutschland ist Sachsen und Thüringen: nirgends gibt es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntniss, nebst Freigeisterei, und Alles ist so bescheiden durch die hässliche Sprache und die eifrige Dienstbeflissenheit dieser Bevölkerung versteckt, dass man kaum merkt, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in Gutem und Schlimmen zu thun zu haben.
19
KGW IV 3, S. 149, Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph. 324.
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren 1. „Ich habe mancherlei durchdacht, was Dir, wenn wir zusammen kommen, zuerst vorgelegt werden soll" 1 , so schrieb Nietzsche vor genau hundert Jahren — am 26. März 1877 — seinem Freund Franz Overbeck in Basel. Der Brief war aus Sorrent geschrieben. In ihm berichtete Nietzsche über sein Augenleiden und das Leben der kleinen Sorrentiner Gemeinschaft um Malwida von Meysenbug, der er zusammen mit Paul Ree und Alben Brenner angehörte. Auch von Toten war die Rede in jenem Brief: Overbecks Mutter war gestorben; mit Wilhelmine Hahn-Oehler, seiner eigenen Großmutter, hatte Nietzsche das letzte Stück Kindheit verloren. Fast gleichzeitig war er vom Hinscheiden seines „großen geliebten Lehrers" Friedrich Ritsehl schmerzlich betroffen worden. Briefe und Nachlaßnotizen aus dieser Zeit bzw. über diese Zeit lassen uns eine Stimmung der weisen Resignation und der Besinnung auf die Vergangenheit wahrnehmen — und des langsamen Abschieds. Des Abschieds vor allem von der nächsten Vergangenheit, von Wagner und Schopenhauer, von all den Illusionen eines ganzen Lebensabschnitts, einer Jugend. Eins der wichtigsten Zeugnisse davon ist der Brief, den Nietzsche an Cosima Wagner am 19. Dezember 1876 zu deren Geburtstag schrieb. Er ist wenig bekannt, da er zur Zeit der abgebrochenen historischkritischen Gesamtausgabe nicht erschlossen war. Lesen wir die entscheidende Stelle: „Von Jahr zu Jahr wird man stiller und zuletzt sagt man über Persönliches kein ernstes Wort mehr. — Der Abstand meiner jetzigen, durch Kranksein erzwungenen Lebensweise ist so groß, daß die letz-
1
KGB II 5, S. 226.
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ten 8 Jahre mir fast aus dem Kopf kommen und die früheren Lebenszeiten, an welche ich in der gleichartigen Mühsal dieser Jahre gar nicht gedacht hatte, sich mit Gewalt hinzudrängen. Fast alle Nächte verkehre ich im Traume mit längstvergessenen Menschen, ja vornehmlich mit Todten. Kindheit Knaben- und Schulzeit sind mir ganz gegenwärtig; mir ist bei Betrachtung früherer Ziele und des thatsächlichen Erreichten aufgefallen, daß ich in allem, was ich thatsächlich erreicht habe, bei Weitem über die Hoffnungen und allgemeinen Wünsche der Jugend hinausgekommen bin; daß ich dagegen von allem, was ich mir absichtlich vorgenommen habe, durchschnittlich immer nur den dritten Theil zu erreichen vermochte. So wird es wahrscheinlich auch fernerhin bleiben. Wenn ich völlig gesund wäre — wer weiß, ob ich nicht meine Aufgaben in's Abenteuerliche weit steckte? Inzwischen bin ich gezwungen, die Segel etwas einzuziehen. Für die nächsten Basler Jahre habe ich mir die Vollendung einiger philologischer Arbeiten vorgenommen [...] Bin ich mit den Philologica wieder in Ordnung, so erwartet mich Schwereres: werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in's Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer's Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Schopenhauer schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen. In der Zwischenzeit ist meine ,Vernunft' sehr thätig gewesen — damit ist denn das Leben wieder um einen Grad schwieriger, die Last größer geworden! Wie wird man's nur am Ende aushalten? Wissen Sie, daß mein Lehrer Ritsehl gestorben ist? Ich bekam die Nachricht fast zugleich mit der Meldung vom Tode meiner Großmutter und meines nächsten Basler philologischen Collegen Gerlach. Ich habe noch in diesem Jahre durch einen Brief Ritschl's den rührenden Eindruck bestätigt erhalten, den ich aus seinem früheren Verkehre mit mir hatte; er war gegen mich herzlich vertrauensvoll und treu geblieben, ob er schon eine zeitweilige Schwierigkeit des Verkehrs, ja eine rücksichtsvolle Trennung als nothwendig begriff. Ihm verdanke ich die einzige wesentliche Wohlthat meines Lebens, meine Basler Stellung als Professor der Philologie: ich verdanke sie seiner Freisinnigkeit, seiner Scharfsichtigkeit und Hülfbereitschaft für junge Menschen. In ihm starb der letzte grosse Philolo-
40
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
ge; er hinterläßt gegen 2000 Schüler, die sich nach ihm nennen, darunter etwa 30 Universitätsprofessoren."2 2.
Es gibt kaum einen anderen so bedeutenden Brief Nietzsches aus der Sorrentiner Zeit wie den eben zitierten an Cosima Wagner. Ich vernehme darin sogar Anklänge an das Ecce homo, wie die „Unabsichtlichkeit des tatsächlich Erreichten" in Nietzsches Leben, was mich — nebenbei gesagt — an die große Konsequenz aller selbstbiographischen Äußerungen dieses Philosophen bis hin zum und im Ecce homo denken läßt, selbstverständlich bei aller Ungenauigkeit im einzelnen, um die sich Nietzsche-Forscher mit Recht kümmern müssen, ohne jene große Konsequenz aus dem Auge zu verlieren. In dreifacher Hinsicht scheint mir jener Brief bedeutend: I. Er registriert den tiefen Abbruch, den jene Periode unmittelbar nach Bayreuth in Nietzsches Leben darstellt. Acht Jahre Basler Amt, aber auch acht Jahre Freundschaft und Kampfbrüderschaft mit Wagner, lagen zwischen „früheren Lebenszeiten" und jener Sorrentiner Gegenwart. Zurück auf die vorwagnerische Zeit blickt Nietzsche, sicher nicht nur auf Kindheit und Schulzeit, sondern auch auf bestimmte Gestalten und Gedanken, die er nie vergessen hatte, aber die in ihm gleichsam verschüttet lagen. Ich denke zum Beispiel an Demokrit, der ihm — auch im Zusammenhang mit der Lektüre von Langes Geschichte des Materialismus — 1868 wichtige Gedankengänge anregte. An Demokrits Welt „ohne moralische und ästhetische Bedeutung", an seinen „Pessimismus des Zufalls", seine „strenge Naturwissenschaft" und „Bändigung des Mythischen" erinnert zwar Nietzsche in den Aufzeichnungen über die griechischen Philosophen aus dem Jahre 1873, doch richtig aktuell scheint Demokrit für Nietzsche wieder seit dem Sommer 1875 zu werden3(auf diesen Sommer werden wir noch zu sprechen kommen). 2
Zuerst veröffentlicht von Joachim Bergfeld, Drei Briefe Nietzsches an Cosima Wagner, in: Maske und Kothurn, 10. Jg., Graz-Köln 1964, S. 597-602; vgl. KGB II 5, S.
3
209 Vgl. K G W III 4, S. 136, 23[8]; S. 140, 23[14]; S. 151, 23[35]; IV 1, S. 177, 6[12]; S.
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II. Bedenkenswert ist die Art, wie Nietzsche Cosima Wagner gegenüber seines Lehrers Ritsehl gedenkt, namentlich wenn er schreibt: „er war gegen mich herzlich vertrauensvoll und treu geblieben, ob er schon eine zeitweilige Schwierigkeit des Verkehrs, ja eine rücksichtsvolle Trennung als nothwendig begriff". Cosima wußte, — wie wir übrigens auch, — ganz genau um den Grund jener Schwierigkeit und Trennung: Nietzsches „wagnerisches" Buch Die Geburt der Tragödie. „Meiner ganzen Natur nach gehöre ich [ . . . ] der historischen Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir nie die Erlösung der Welt in einem oder dem andern philosophischen System gefunden zu sein schien [ . . . ] Sie können dem ,Alexandriner' und Gelehrten unmöglich zumuthen, daß er die Erkenntniß verurtheile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft erblicke", so hatte Ritsehl damals (1872) seinem Schüler geschrieben, der ihn zu einem Urteil über das Tragödienbuch aufgefordert hatte. Und diese Worte mußten jetzt, 5 Jahre später, für Nietzsche eine neue Bedeutung erhalten haben, da er doch bald zu dieser Äußerung über Philosophie und Historie fähig werden sollte: „Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, dass es mit dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe." 4 Und an Sophie Ritsehl, die Witwe seines Lehrers, schrieb er vollends: „Ich bin glücklich [ . . . ] mir vorstellen zu dürfen, daß er [Ritsehl], auch wo er mir nicht Recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren ließ. Ich glaubte, daß er den Tag noch erleben würde, da ich ihm öf-
4
180, 6[18]; S. 182, 6[21]; S. 183, 6[25]; S, 192, 6[48] § 2; S. 195, 6[50], Die Welt „ohne moralische und aesthetische Bedeutung", welche „unvernünftig, auch nicht maassvoll und schön, sondern nur nothwendig" ist, bei Demokrit antizipiert die Nietzschesche Welt der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" von Sommer 1881 auf eine sehr auffällige Weise. Friedrich Ritsehl an Nietzsche, 14 Februar 1872, KGB II 2, S. 541; Vermischte Meinungen und Sprüche, Aph, 10, KGW IV 3, S. 20. Vgl. auch in diesem Band S. 8.
42
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fentlich den Dank und die Ehre geben könnte, so wie es längst mein Herz wünschte, und in einer Art, daß auch er vielleicht sich daran hätte freuen können." 5 Es wäre ein Fehler, diese Worte Nietzsches als nur von dem Wunsch diktiert aufzufassen, der alten Freundin Trost zuzusprechen: sie weisen im Gegenteil auf eine tiefer gehende Änderung seiner Einstellung zu dem verstorbenen Lehrer und seinem eigenen Buch über die griechische Tragödie hin. III. Die Philologica, von denen in dem Brief an Cosima die Rede ist, sollten auch „Democritea" enthalten. Nietzsche kam nicht dazu, er kam aber zum Ausdruck seiner „Differenz mit Schopenhauers Lehre". Zum Beispiel indem er diesen Satz seines Freundes Paul Rèe zitierte: „Der moralische Mensch steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch" und so kommentierte: „Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgend welcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem ,metaphysischen Bedürfniss' der Menschen an die Wurzel gelegt wird" 6 . Zehn Jahre später, als Nietzsche mit dem Hammer philosophierte, wurde diese Stelle aus Menschliches, Allzumenschliches zu einer Art Vorankündigung der „Umwertung aller Werte" im Ecce homo, die Nietzsche mit jenem Hammerschlag der historischen Erkenntnis gleichsetzte. Ich habe den Eindruck, man hat es ihm bis heute noch nicht ganz geglaubt . . . Wir wissen nun, was Nietzsche damals durchdachte und zu welchem Zweck er seine Vernunft gebraucht hatte: zu seinem Buch Menschliches, Allzumenschliches, das in den Sorrentiner Papieren seine herausfordernde Form annahm. Cosima und Richard Wagner mußten neue Sorgen aus den Sätzen jenes Briefes schöpfen. In der Antwort Cosimas blieben sie verhüllt: „Sehr aber würde es mich fesseln zu hören welche Einwendungen Sie gegen unseren Philosophen haben" 7 , schrieb Cosima am 1. Januar 1877. Wenige Wochen darauf 5
Nietzsche an Sophie Ritsehl, Januar 1877, KGB II 5, S. 213.
6
KGW IV 2, S. 59; Menschliches, Allzumenschliches,
7
KGB II 6, S. 473.
Aph. 37.
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43
fanden ihre und Richard Wagners Bedenken über Nietzsche Ausdruck in einem Brief an Malwida von Meysenbug, in dem unter anderem zu lesen war: „Ich glaube, daß in Nietzsche ein dunkler, produktiver Grund ist, von dem er selbst kein Bewußtsein hat; daher stammt das Bedeutende bei ihm, was ihn selbst dann erschreckt, während alles, was er denkt und spricht, was lichterhellt ist,wirklich nicht viel wert ist. Das Tellurische an ihm ist wichtig, das Solarische unbedeutend und durch den Kampf mit dem Tellurischen selbst beängstigend und unerquicklich [ . . . ] ,Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen', sagt Vauvenargues: ein Wort, welches auf Nietzsche anzuwenden ist, denn seine großen Gedanken kommen ihm sicher nicht aus dem Gehirn, sondern aus was? Ja, wer es sagen könnte." 8 3. Nietzsche war seit Ende Oktober 1876 in Sorrent, wo er sich zum letzten Male mit Wagner traf: schon Anfang September war die Familie Wagner nach Italien abgereist. Uber Nietzsches Zusammenkünfte mit Wagner in Sorrent ist dokumentarisch wenig bekannt. Paul Rèe war auch dabei gewesen. Nach späteren Äußerungen Nietzsches soll Wagner ihn damals vor Rèe gewarnt haben, auch ist vielleicht das Gespräch Wagners mit Nietzsche über den Parsifal in diese Tage zu verlegen. Nietzsche schreibt in einer Nachlaßnotiz von 1886: „Wagner von den Entzückungen redend, die er dem christlichen Abendmahle abzugewinnen wisse: das entschied bei mir, er galt mir als besiegt. "9 Tatsache ist, daß Wagner nach seiner Rückkehr von Italien die Parsifal-Dichtung in Angriff nahm. Es handelte sich, wie bekannt, um einen älteren Einfall vom Karfreitag 1857 in Zürich, der im Jahre 1865 als Entwurf mit dem denkwürdigen Datum 25. August vorlag und mit dem Nietzsche, nach Cosimas Eintragung in die Tagebücher, am 25. Dezember 1869 bekannt wurde: „mit Professor Nietzsche Parzival gelesen, erneuerter furchtbarer Eindruck" 1 0 . Die 8
Zitiert bei R. Du Moulin Eckart, Cosima Wagner. Ein Lebens- und Charakterbild,
9
Band, Berlin 1929, S. 794ff. KGW VIII 1, S. 109; vgl. VII 3, S. 257, 411; VII 2, S. 248. Vgl. auch IV 4, S. 254, Variante der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches //(Sommer 1886).
10
1.
Die Tagebücher I 1869-1877, II 1878-1883, München-Zürich 1976 und 1977; I, S. 182.
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Parsifal-Dichtung wurde Ende 1877 fertig, zur selben Zeit beendete Nietzsche seine Arbeit am Druckmanuskript von Menschliches, Allzumenschliches. Am 3. Januar traf das Exemplar des Parsifal mit Wagners Widmung in Basel bei Nietzsche ein, wenige Tage darauf kam das Druckmanuskript des Freigeister-Buches in die Druckerei. In diesem Sinne bleibt die ominöse Kreuzung der zwei Bücher „als ob sich Degen kreuzten"11 wahr, von der Nietzsche im Ecce homo spricht. Tatsächlich waren der Wagner des Parsifal und der Nietzsche des Menschliches, Allzumenschliches Antipoden. Das Jahr 1878 bedeutete das Ende einer Freundschaft und eines Bündnisses. Der Gipfel der Freundschaft war 1872 erreicht, als Wagner Anfang Januar dem Verfasser der Geburt der Tragödie schrieb: „Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich! [...] Zu Cosima sagte ich, nach ihr kämen gleich Sie: dann lange kein Anderer, bis zu Lenbach, der ein ergreifend richtiges Bild von mir gemalt hat!"12 Und im Juni desselben Jahres: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt". 13 Das Bündnis schien Wagner ein Jahr darauf nicht mehr so sicher: „Was Sie betrifft," schrieb er am 21. September 1873, „so wiederhole ich Ihnen den Einfall, den ich kürzlich einmal gegen die Meinigen äußerte; nämlich, daß ich die Zeit voraussehe, in welcher ich Ihr Buch gegen Sie zu verteidigen haben würde. — Ich habe wieder darin gelesen, und schwöre Ihnen zu Gott zu, daß ich Sie für den Einzigen halte, der weiß, was ich will!" 14 Nach fünf Jahren, 1878, begann der stille Krieg zwischen Nietzsche und Wagner („wir schwiegen beide", sagt Nietzsche im Ecce homo): beide griffen einander öffentlich, doch nicht namentlich an. Nach abermals fünf Jahren, 1883, starb Richard Wagner. Aus seinen letzten Stunden in Venedig ist ein verächtliches Wort über den abtrünnigen Freund überliefert. Ein Aufsatz in der Internationalen Monatsschrift über die Fröhliche Wissenschaft bot die Gelegenheit dazu. 11
K G W VI 3, S. 325.
12
KGB II 2, S. 493 f.
13
KGB II 4, S. 29.
14
KGB II 4, S. 294; Brief Wagners über die erste Unzeitgemäße: David
Schrifisteller und Bekenner.
Strauß
der
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Cosima notiert in ihrem Tagebuch: „ich spreche davon, R[ichard] blickt hinein, um seinen ganzen Widerwillen dagegen kund zu geben. Alles sei von Schopenhauer entlehnt, was Wert habe. Und der ,ganze Mensch sei ihm widerwärtig:'. " 15 Nietzsche hatte aus seinem philosophischen Erstling, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, ein wagnerisches und schopenhauerisches Buch gemacht. Wiederum Nietzsche nahm von Wagner und Schopenhauer Abschied, um von sich selber wieder Besitz zu ergreifen. Der persönliche Bruch wird durch die unabweisbare Konsequenz von Nietzsches geistiger Entwicklung erklärt, nicht umgekehrt. Sämtliche biographischen Begleiterscheinungen sind von Wagnerianern und Nietzscheanern überschätzt worden. Die wissenschaftliche biographische Forschung soll mit historischer und philologischer Akribie auch hier zu Werk gehen. Doch zum historischen Sinn gehört auch, daß man sich der entscheidenden Tatsache bewußt bleibt: Nietzsches Bruch mit Wagner war eine geistige, eine philosophische Tat, an der jeder biographische Fund vorbei erläutert, und seien auch die zutage geförderten Einzelheiten edita, inedita oder gar inaudita. 4.
Zurück nun zu Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren. Und zwar zu dem Porträt, das Nietzsche — mit anderen als Lenbachs Mitteln — vom Bayreuther Meister im Sommer 1876 malte. Das Bild fand Wagner nicht „ergreifend richtig", sondern „ungeheuer". „Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?"16, fragte er den Freund. Die Ungeheuerlichkeit der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, besteht unter anderem in der sowohl von der Nietzsche- als auch von der Wagnerforschung bis heute ziemlich übersehenen Tatsache, daß sie eine äußerst geschickte Mosaikarbeit von Zitaten aus Wagnerschen Schriften wie Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft, Oper und Drama, Eine Mitteilung
15
Die Tagebücher
II, S. 1105. Die Internationale
bei Nietzsches Verleger, Ernst Schmeitzner. 16
KGB II 6, S. 362.
Monatsschrift
erschien in Chemnitz
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Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
an meine Freunde und anderen mehr ist. Wagner wird durch Wagner dargestellt und erklärt. Sie wird dadurch zu einer Art Spiegel für Wagner in Bayreuth, wie als ob Nietzsche den Freund fragen würde: „Das warst Du, das wolltest Du sein, bist Du es auch heute noch?" Eine Art von Manifest also der damals — vor den Festspielen — noch möglichen Wagnerschen Partei; eine Vor-Deutung des Bayreuther Ereignisses, der großartigsten Tat eines modernen Künstlers; eine Herausforderung an Wagner, dem Nietzsche eine bestimmte Interpretation seines Lebens und Werkes vorschlägt. Die Treue zeichnet nach Nietzsches Vierter Unzeitgemäßen alle Gestalten in Wagners Kunstwerken aus: wird Wagner sich selbst treu bleiben? Eine Reform des Theaters, damit die „tragische Gesinnung" in dem modernen Menschen nicht absterbe: das ist der Sinn der Wagnerschen Tat. Eine Reform des Theaters bedeutet in unserer neuren Welt, in der „eins an dem anderen" notwendig hängt, eine Reform und Veränderung des ganzen modernen Menschen. „Es ist gar nicht möglich," schreibt Nietzsche im vierten Abschnitt seiner Unzeitgemäßen, „die höchste und reinste Wirkung der theatralischen Kunst herzustellen, ohne nicht überall, in Sitte und Staat, in Erziehung und Verkehr, zu neuern. Liebe und Gerechtigkeit, an Einem Puñete, nämlich hier im Bereiche der Kunst, mächtig geworden, müssen nach dem Gesetz ihrer inneren Noth weiter um sich greifen und können nicht wieder in die Regungslosigkeit ihrer früheren Verpuppung zurück." 17 Die revolutionierende Wirkung einer reformierten Kunst wird in einem Nachlaßfragment aus den ersten Vorarbeiten zu Richard Wagner in Bayreuth (Sommer 75) so hervorgehoben: „Wir, die wir wissen, was alles an der einmal richtig erfaßten Kunst hängt, welches Geflecht von Pflichten — verachten wenigstens alle bestehenden Einrichtungen der Kunstpflege auf das Tiefste. [...]", die Kunst ist heute „eine Beschäftigung einer üppigen und selbstsüchtigen Klasse [...] fern von der Noth des Volkes und im Grunde ein Mittel, sich gerade vom Volke zu ,distinguiren\ Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft, zur Erneuerung und Einigung des Volkes drängt!"18 — Wir befinden uns 17
KGW IV 1, S. 20.
18
K G W IV 1, S. 293 f, 11[28].
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hier ganz und gar in der Gedankensphäre der Wagnerschen Schrift Die Kunst und die Revolution, in der noch die revolutionäre Gesinnung des 48ers Wagner waltet. Gewiß stammt jene Gesinnung aus der sentimentalisch-utopischen Auffassung des sogenannten „wahren Sozialismus", einer sehr deutschen Abart von Sozialismus: Feuerbach + Proudhon + (bei Wagner) Bakunin, Linkshegelianismus und französischer Sozialismus. Das unbestimmte „Volk" und der noch unbestimmtere „Mensch" sind die Protagonisten dieser Utopie, die keine Klassen und noch weniger einen Klassenkampf kennt. Doch radikalisiert Nietzsche gerade diese Utopie. Es ist eine „gefährliche Radikalisierung", wie Hans Mayer schon bemerkt hat, denn sie führt den Bayreuther Gedanken ad absurdum, über dessen Haltlosigkeit und Brüchigkeit sich am wenigsten Nietzsche damals noch Illusionen machte. Hier nun die Hauptzüge jener Radikalisierung. Sie beginnt mit der Frage nach der Aufgabe von Historie und Philosophie bei Wagner. „Wäre die Historie nicht immer noch eine verkappte christliche Theodicee [das ist, nebenbei gesagt, eine Variation über ein Thema von Ludwig Feuerbach], wäre sie mit mehr Gerechtigkeit und Inbrunst des Mitgefühls geschrieben, so würde sie wahrhaftig am wenigsten gerade als Das Dienste leisten können, als was sie jetzt dient: als Opiat gegen alles Umwälzende und Erneuernde." Ahnlich steht es für Nietzsche mit der Philosophie: die wichtigste Frage aller Philosophie ist nämlich: „wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen". „Sehr veränderlich" ist aber die „Einsicht der Menschen". An der Verbesserung der Einsicht der Menschen arbeiteten die wahren Philosophen, die ihre Weisheit nicht „für sich behielten". Wagner — als wahrer Jünger wahrer Philosophie — versteht aus der Philosophie „gerade gesteigerte Entschiedenheit und Unbeugsamkeit" für sein Wollen zu „saugen", keine „Einschläferungssäfte". Bayreuth bedeutet — nach Nietzsche — eine Niederlage für die heutige Kultur als Stütze des gesamten Bildungswesens, des widerlichen Gebildes, „welches jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit, an Staat und Gesellschaft nimmt und seinen Vortheil dabei hat, diese immer
48
Nietzsche und Wagner v o r hundert Jahren
böser und rücksichtsloser zu machen [ . . . ] Wer für die Gerechtigkeit und die Liebe unter den Menschen kämpft, darf sich vor ihm am wenigsten fürchten: denn seine eigentlichen Feinde stehen erst vor ihm, wenn er seinen Kampf, den er einstweilen gegen ihre Vorhut, die heutige Cultur führt, zu Ende gebracht hat". Nietzsches Strategie geht dahin, die echten Gelehrten von der jetzigen Bildung durch die Reform von Bayreuth zu trennen: ohne ihren „stillen Beitrag" muß das moderne Bildungswesen über den Haufen fallen, denn ihm würde dadurch nur noch jene Anlehnung an Staat und Gesellschaft („die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit") bleiben. Mit anderen, vielleicht zeitgemäßeren Worten, wenn die Gelehrten, die Erzieher, das „morsche Gebäude" der Erziehung verlassen, wird das Bildungswesen seinen repressiven Charakter zeigen. Doch ist der Kampf gegen die heutige Kultur nur ein Vorhutsgefecht: erst nach dem hierin erlangten Sieg werden die eigentlichen Feinde vor dem stehen, der „für Gerechtigkeit und Liebe unter den Menschen kämpft". Es geht also nach Nietzsche um viel mehr als um eine „bloße" Reform des Theaters, ja „es ist der Augenblick" gekommen „für Solche, welche mächtig erobern und siegen wollen, die grössten Reiche stehen offen, ein Fragezeichen ist zu den Namen der Besitzer gesetzt, so weit es Besitz giebt". Die Kunst ist daher für die Anhänger des Bayreuther Gedankens kein „Heil- und Betäubungsmittel [ . . . ] mit dem man alle übrigen elenden Zustände von sich abthun könnte". Und weiter: „Wir sehen im Bilde jenes tragischen Kunstwerkes von Bayreuth gerade den Kampf der Einzelnen mit Allem, was ihnen als scheinbar unbezwingliche Nothwendigkeit entgegentritt, mit Macht, Gesetz, Herkommen, Vertrag und ganzen Ordnungen der Dinge. Die Einzelnen können gar nicht schöner leben, als wenn sie sich im Kampfe um Gerechtigkeit und Liebe zum Tode reif machen und opfern. [ . . . ] die Kunst ist nicht für den Kampf selber da, sondern für die Ruhepausen vorher und inmitten desselben, für jene Minuten, da man zurückblickend und vor ahnend das Symbolische versteht". 19 Wir möchten mehr erfahren über jene größten Reiche, die offen stehen, und über jenes Fragezeichen, das zu den Namen der Besitzer
19
K G W , IV 1, S. 17-23.
Nietzsche und Wagner vor h u n d e n Jahren
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gesetzt wurde. Nietzsche spricht von einem Kampf um Gerechtigkeit und Liebe unter den Menschen, einem Kampf, der von Einzelnen geführt wird. Und der Einzelne leidet an folgenden Mißständen: (1) (2) (3)
Man kann nicht glücklich sein, so lange um uns herum Alles leidet und sich Leiden schafft; man kann nicht sittlich sein, so lange der Gang der menschlichen Dinge durch Gewalt, T r u g und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, so lange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer um Weisheit gerungen hat und den Einzelnen auf die weiseste Art ins Leben und Wissen hineinführt.
Das Umwälzende und Erneuernde im Bayreuther Gedanken, nach Nietzsches Auffassung, hat keine wirkliche Beziehung zur geschichtlichen Realität. Wir vernehmen dringende Mahnungen, alles scheint im Begriff zu stürzen: das Bildungswesen, der Staat, die Gesellschaft — doch die Einzelnen, die um Gerechtigkeit und Liebe kämpfen, sind zum Selbstopfer prädestiniert. Jede greifbare Folge ihres Kampfes bleibt aus. Ein tragischer Kampf, dem jeder Eingriff in die Realität versagt ist, eine tragische Kunst als Pause, als Vereinfachung und Abkürzung jenes selben Kampfes. Soviel über Kunst und Kampf in Bayreuth, die Revolution selber scheint wo anders stattzufinden. 5.
Gegen den Schluß seiner Betrachtung, im zehnten Abschnitt, spricht Nietzsche von einer veränderten Zukunft „in welcher es keine höchsten Güter und Beglückungen mehr giebt, die nicht den Herzen Aller gemein sind [...]. Wenn sich solchermaassen die Ahnung in die Ferne wagt, wird die bewusste Einsicht die unheimliche sociale Unsicherheit unserer Gegenwart in's Auge fassen und sich die Gefährdung einer Kunst nicht verbergen, welche gar keine Wurzeln zu haben scheint, wenn nicht in jener Ferne und Zukunft". 2 0 Die Wagnersche Kunst ist ohne Heimat in der Gegenwart, sie bringt nicht mehr selber (wie am Anfang der Betrachtung) die Revolution hervor, vielmehr fragt sich Nietzsche: „Wie retten wir diese heimathlo-
20
ibid., S. 75f.
50
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
se Kunst hindurch bis zu jener Zukunft, wie dämmen wir die Fluth der überall unvermeidlich scheinenden Revolution so ein, dass mit dem Vielen, was dem Untergange geweiht ist und ihn verdient, nicht auch die beseligende Anticipation und Bürgschaft einer besseren Zukunft, einer freieren Menschheit weggeschwemmt wird?" — Ich glaube, daß sich allmählich die Rolle der (wagnerschen) Kunst in der Strategie von Nietzsches Schrift geändert hat. Er hatte im Sommer 1875 angefangen, daran zu arbeiten; die ersten acht Abschnitte waren Ende September fertig; aber erst zwischen Ende Mai und dem 11. Juni 1876 (ein Jahr danach) schrieb Nietzsche die drei letzten, abschließenden Abschnitte. Wer im Nachbericht zu Abteilung IV der Kritischen Gesamtausgabe liest, kann sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, wie es sich Nietzsche sauer werden ließ, den Schluß zu finden. „Zur Schrift selber kein Wort, höchstens ein Aufathmen" 21 , meinte er in einem Brief an Erwin Rohde. 6. Ein sonderbares Verhältnis zwischen Kunst und Zukunft, deutschem Geist und Menschheit, Reformation und Revolution kommt in jenen letzten Seiten zum Ausdruck, wo Nietzsche seine „Bayreuther Festpredigt" abschließen will. Etwas muß gesagt werden, das nicht so entfernt von der Gegenwart sei, der Gegenwart nämlich und Wirklichkeit der Bayreuther Festspiele. Es gelingt Nietzsche nur mit äußerster Mühe und Not, eine verbindende Linie zwischen seiner Vision der Zukunft und dem Kunstwerk Wagners herauszufinden. So werden Wagners Zugeständnisse an die reichsdeutsche Realität der 70er Jahre als ein Akt des Vertrauens umgedeutet, „welches Wagner dem deutschen Geiste auch in seinen politischen Zielen geschenkt hat" 22 . Dies wäre etwa die „Symbolik" von Wagners Kaisermarsch. Das Volk der Reformation ist ja prädestiniert, jene Flut der Revolution „in das Bette des ruhig fliessenden Stromes der Menschheit einzudämmen" (nach einem Wort Carlyles, das auch Wagner gebrauchte). Doch sind Wagners Gedanken — wie die jedes guten und großen
21
K G W IV 4, S. 23.
22
K G W IV 1, S. 76-81.
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
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Deutschen — überdeutsch, „die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft". Hier setzt nun Nietzsche mit seiner eigenen Deutung an, im elften und letzten Abschnitt seiner Betrachtung. Er lehnt jede utopische Auslegung von Wagners Gedanken ab: „Die gute Vernunft bewahre uns vor dem Glauben, dass die Menschheit irgend wann einmal endgültige ideale Ordnungen finden werde". Und weiter: „Kein goldenes Zeitalter, kein unbewölkter Himmel ist diesen kommenden Geschlechtern beschieden [...] deren ungefähre Züge aus der Geheimschrift seiner Kunst so weit zu errathen sind, als es möglich ist, von der Art der Befriedigung auf die Art der Noth zu schliessen [...] Vielleicht wird jenes Geschlecht im Ganzen sogar böser erscheinen, als das jetzige — denn es wird, im Schlimmen wie im Guten, offener sein; ja es wäre möglich, dass seine Seele, wenn sie einmal in vollem, freiem Klange sich ausspräche, unsere Seelen in ähnlicher Weise erschüttern und erschrecken würde, wie wenn die Stimme irgend eines bisher versteckten bösen Naturgeistes laut geworden wäre". Das ist Nietzsches Vision der Zukunft, nicht die Wagners. Des Letzteren Kunst wird für jene Zukunft Deutung und Verklärung einer Vergangenheit sein. Eine Zukunft, deren höchstes Bild „die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede" — und nicht die Parsifale, setze ich hinzu — sein werden. „Der Gedanke von Bayreuth" hatte sich „in Etwas verwandelt, das den Kennern meines Zarathustra kein Räthsel-Begriff sein wird: in jenen grossen Mittag, wo sich die Auserwähltesten zur größten aller Aufgaben weihen"23, so Nietzsche über die Vierte Unzeitgemäße im Ecce homo: ich glaube es ihm. Diese Wendung ins Nichtchristliche, ja Antichristliche konnte sich noch mit dem Wagner der revolutionären Schriften vereinbaren, zum Beispiel mit Kunst und Revolution, nicht aber mit der religiösen, christlichen, schopenhauerischen, buddhistischen Entwicklung, die im Parsifal gipfelt. Und Nietzsche — ich erinnere noch einmal daran — kannte seit Weihnachten 1869 den Parsifal-Entwurf. Er wurde gewiß nicht durch einen angeblich fromm gewordenen Wagner überrascht. Mit seiner
23
KGW VI 3, S. 312.
52
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
Vierten Unzeitgemäßen versuchte Nietzsche, sich noch wagnerisch auf eine gleichsam provokatorische Art zu geben. In Wirklichkeit war er zum äußersten Punkt jener Krise, jener Zurückfindung zu sich selbst gelangt, die ihn später schreiben ließ: „Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen compromittirt zu sehn, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswolle: und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah."24 7. Menschliches, Allzumenschliches geht in vielen Stücken auf den Sommer 1875 zurück. Damals entstand Nietzsches Programm für die Befreiung des Geistes. Damals, ein Jahr vor Bayreuth, schrieb er: „Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als schmählich für den gelten, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr" (vgl. Aph. 619). Oder auch „Wäre ich schon frei, so würde ich das ganze Ringen nicht nöthig haben, sondern mich zu einem Werke oder Thun wenden, an dem ich meine ganze Kraft erproben könnte. — Jetzt darf ich nur hoffen, allmählich frei zu werden; und ich spüre bis jetzt, daß ich es immer mehr werde."25 Doch was lesen wir in der besten und zuverlässigsten Nietzsche-Biographie, die jemals geschrieben wurde? Ich meine im Ecce homo} „Menschliches, Allzumenschliches ist das Denkmal einer Krisis. Es heisst sich ein Buch für freie Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg aus — ich habe mich mit demselben vom Unzugehörigen in meiner Natur freigemacht. [...] In keinem andren Sinne will das Wort ,freier Geist' hier verstanden werden: ein freigewordner Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat". 26 Man wird gut daran tun, Nietzsches Abschied von Wagner, seinen Bruch mit dem Wagnerismus, ernst zu nehmen, mindestens so 24
K G W VIII 2, S. 18.
25
K G W IV 1, S. 170.
26
K G W VI 3, S. 320.
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
53
ernst wie er ihn selber genommen hat. Als Freigeist entschied sich Nietzsche für Historie und Wissenschaft gegen Metaphysik und Religion, für die skeptische Weisheit gegen die „Uberzeugungen", gegen den Glauben überhaupt, für die kühle Vernunft gegen das unreine Denken der Dichter und Künstler wie Wagner. Dadurch wird Nietzsche erst Nietzsche, durch „das heroisch bewunderungswürdigste Ereignis und Schauspiel der deutschen Geistesgeschichte [ . . . ] die Selbstüberwindung der Romantik in Nietzsche und durch ihn" 27 , wie es einer der besten Leser dieses Philosophen, Thomas Mann, gegen seine irrationalistischen antihumanistischen Deuter der Dreißiger Jahre, ausgedrückt hat. Das Antinationalistische, Antigermanische, Antiromantische, Antiantisemitische, Antiobskurantistische, Antimetaphysische, Antiirrationalistische, Antimythische (d. i. Antijesuitische) von Nietzsches antiwagnerischem Kampf darf nicht vergessen werden. Ich glaube sogar, man hat noch nicht ganz die Tragweite und Bedeutung der Niederlage erfaßt, welche diese antiwagnerische, nietzschische Tendenz in der Geschichte der deutschen Kultur 1933 erlitt, als sich — wie Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie behaupteten — das deutsche Volk für den Instinkt gegen die Vernunft, für den Mythos gegen die Geschichte, für das Deutschtum gegen das Europäertum entschloß, und — wir fügen mit Recht hinzu — gegen Nietzsche, gegen Goethe, gegen die wahre deutsche Kultur. 8.
Das alles vorausgeschickt, sei es erlaubt, auf die bleibende Nähe und Verwandtschaft Nietzsches mit seinem großen Antipoden einzugehen. Das soll in dreifacher Hinsicht geschehen: die erstens die Musik, zweitens das Phänomen der dichterischen Inspiration, drittens die Freundschaft selbst betrifft. Musik. Im Juli 1882 hält sich Nietzsche in Naumburg auf, um — wie er sagt — seine Schwester (in Wirklichkeit Lou Salomé) auf den Parsifal vorzubereiten. Er holt alte Noten hervor und spielt sie wieder nach so langer Zwischenzeit. „Einige Stellen", schreibt Nietz27
Pariser Rechenschaft, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 50.
54
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
sehe an Gast „schienen uns Beiden [ . . . ] ganz parsifalesk! Ich gestehe: mit einem wahren Schrecken bin ich mir wieder bewußt geworden, wie nahe ich eigentlich mit Wagner verwandt bin" 28 . Man vergesse hierbei, dies ist meine Glosse, die Verwandtschaft, aber auch den Schrecken nicht . . . Inspiration. Zu seiner Vierten Unzeitgemäßen schreibt Nietzsche im Ecce homo: „Das ganze Bild des dithyrambischen Künstlers ist das Bild des präexistenten Dichters des Zarathustra, mit abgründlicher Tiefe hingezeichnet und ohne einen Augenblick die Wagnersche Realität auch nur zu berühren". 29 Also sprach Zarathustra ist für Nietzsche der Inbegriff der poetischen Inspiration, der höchste Punkt seines Schaffens. Die schwierige Größe und Schönheit dieser Dichtung besteht vielleicht gerade in jener Verbindung des „höchsten Intellekts" mit dem „wärmsten Herzen", die Nietzsche im Sommer 1875 (als er das Programm des Freigeistes entwarf) unmöglich schien. Zarathustra ist Dichtung und Philosophie (nicht zu vergessen jedoch: „die Dichter lügen zuviel" nach Zarathustra und den Griechen). Wie wird aber der dithyrambische Künstler in der Vierten Unzeitgemäßen dargestellt? Als „die Sehnsucht aus der Höhe in die Tiefe", als „das liebende Verlangen zur Erde, zum Glück der Gemeinsamkeit".30 Hat jemand, unter den Nietzsche-Interpreten, einen deutlichen Begriff davon gehabt, wie sehr Nietzsche Wagner mit Wagner und durch ihn in seiner Vierten Unzeitge,näßen dargestellt hat? Hier noch ein Beweis, und zwar zu jener entscheidenden Stelle über den dithyrambischen Dramatiker. 1851 schrieb Wagner über den Lohengrin in Eine Mitteilung an meine Freunde: „Gerade diese selige Einsamkeit erweckte mir [...] eine neue, unsäglich bewältigende Sehnsucht, die Sehnsucht aus der Höhe nach der. Tiefe, aus dem sonnigen Glänze der keuschesten Reine nach dem trauten Schatten der menschlichen Liebesumarmung"31. Weiter: wenn das Wesen des dithyrambischen Dramatikers auch vom Begriff her zu erfassen wäre, so müßte es — nach Nietzsche — in jenen Zeugungsmomenten seiner Kunst sein, da
28 29 30 31
KGB III 1, S. 000. KGW IV 3, S. 312. KGW IV 1, S. 42. Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig o. J., 4. Auflage, IV, S. 295.
Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren
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sich seine „unheimlich-übermüthige Befremdung und Verwunderung über die Welt mit dem sehnsüchtigen Drang paart, derselben Welt als Liebender zu nahen", um „endlich Liebe und nicht mehr Anbetung zu finden"32. In der eben erwähnten Mitteilung sagt Wagner von Lohengrin, daß „es ihn eben nicht nach Bewunderung und Anbetung, sondern [ . . . ] nach Liebe, nach Geliebtsein, nach Verstandensein durch die Liebe, verlangte"33. Diese sogar Nietzsche 1888 unbewußt gewordene Nähe Zarathustras zu Lohengrin scheint mir bedenkenswert genug . . . Freundschaft. Die Trennung von Wagner mußte endgültig, ohne Zurück sein. Um so mehr blieb Nietzsche der Erinnerung an die glückselige Insel Tribschen treu. Das hat er selber ausgesprochen, genauer, besser und tiefer als irgend ein Nacherzähler von „Nietzsche und Wagner zur Zeit ihrer Freundschaft". Ich denke vor allem an jenen Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft, in dem Nietzsche von der erhabenen Möglichkeit einer „Sternen-Freundschaft" mit einem fremd gewordenen Freund (eben Wagner) spricht. Mit dem Finale jenes Aphorismus möchte ich diese Ausführungen über Wagner und Nietzsche vor hundert Jahren beschließen: „Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere Freundschaft heiliger werden! Es giebt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Curve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Strassen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen, — erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu kurz und unsere Sehkraft zu gering, als dass wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. — Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten."34
32
K G W IV 1, S. 43.
33
Gesammelte Schriften, S. 296.
34
K G W V 2, S. 203f, A p h . 279.
Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe
1. Es gilt hier, einige Fragen zu stellen, die sich auf ein bei Nietzsche feststehendes historisch-politisches und literarhistorisches Schema beziehen. Der Nietzsche, um den es hier geht, ist der „echte", zu sich selbst — wie er sagte — zurückgekommene Nietzsche, also der antimythische, antiromantische, antiwagnersche Nietzsche, der nach einer langwierigen Krise in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ein „Buch für freie Geister" schreibt und es — vor genau hundert Jahren — veröffentlicht, indem er es „dem Andenken Voltaires" widmet „zur Gedächtnis-Feier seines Todestages, des 30. Mai 1778". Das Buch heißt: Menschliches, Allzumenschliches. Als Ausgangspunkt für den ersten Teil meiner Ausführungen nehme ich zwei längere Aphorismen: zunächst aus der Morgenröthe (1881 erschienen) Aphorismus 197 mit dem Titel „Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung", sodann aus Menschliches, Allzumenschliches Aphorismus 26, den Nietzsche „Die Reaction als Fortschritt" betitelt hat. Der Platz, den Goethe innerhalb jenes historiographischen Schemas nach Nietzsche einnimmt, wird Gegenstand des zweiten abschließenden Teils dieses Beitrags sein, und zwar anhand von Aphorismus 221 „Die Revolution in der Poesie", wiederum aus Menschliches, Allzumenschliches. 2. Nietzsches Gedankengang kommt am besten im Aphorismus aus der Morgenröthe über die „Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung" zum Ausdruck. Er stellt bei den Deutschen einen Hang gegen die Aufklärung fest: die deutsche Philosophie ist in eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie zurückgefallen, angefangen mit Kant, welcher seinen Zweck darin sah, „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Grenzen wies". Historiker und Romantiker wandten sich der Volksseele, Volkssage,
Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe
57
dem Mittelalter, dem Orient zu. 1 Auch die deutschen Naturforscher — schreibt Nietzsche weiter — revoltierten gegen Newton und Voltaire. Aus der Pietät gegen alles noch Bestehende wurde eine Pietät gegen alles, was bestanden hatte, ein Cultus des Gefühls anstelle des Cultus der Vernunft behauptete sich, bis die Gefahr entstand, „die Erkenntniß unter das Gefühl hinabzudrücken". Diese Gefahr ist jedoch vorbei, meint Nietzsche. Warum? Weil die Historie, „als reaktionäre Macht nach der Revolution aufgetreten" und „als Widerwille gegen die Vernunft", eine ungewollte Wirkung hervorgebracht hat, — so lesen wir in gleichzeitigen (Sommer-Herbst 1880) nachgelassenen Aufzeichnungen aus diesem Gedankenkreis. 2 U n d noch deutlicher im Aphorismus der Morgenröthe: „die Historie (...) die neue erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniß 3 haben eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen!", und zwar, schließt Nietzsche ab, unbekümmert darum, daß es eine „große Revolution" gegeben hat und gibt. Das Paar Revolution-Reaktion steht da als ein Negativum, das aus zwei Seiten, zwei sich ergänzenden Momenten (eben: Revolution und Reaktion) besteht. Die Revolution wurde — nach Nietzsche — als Folge der Aufklärung mißverstanden, und in diesem Mißverständnis besteht die Reaktion. Ein Nachlaßfragment aus dem Frühjahr 1881, also kurz vor der Veröffentlichung der Morgenröthe, gibt uns weitere Schlüssel zur Entzifferung und Verdeutlichung des Aphorismus. 4 Das 19. Jahrhundert wird darin als Reaktion dargestellt: in ihm herrscht eine konservative Gesinnung als ein Suchen nach den Grundprinzipien alles dessen, was Bestand hatte, während der „Egoismus der Besitzen1
2 3 4
Werner Krauss bemerkt in seinem Aufsatz über Goethe und diefranzösische Revolution, „Goethe Jahrbuch", Bd. 94 (1977), S. 127: „Der französischen Aufklärung mehr noch als der Französischen Revolution gehörte die besondere Abneigung der historischen Schule". Krauss meint die „romantisch-historische Schule unter Savignys Stabführung". KGW V 1, S. 451, 4[86]; S. 638, 6[428]. Zur „Leidenschaft der Erkenntnis" vgl. S. 64ff., in diesem Band KGW V 1, S. 763 f., 10 [D88].
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Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe
den" als stärkster Einwand gegen die Philosophie des 18. Jahrhunderts, gegen die Aufklärung gilt. Die Nichtbesitzenden und Unzufriedenen werden mit „Kirche und Künsten" vertröstet, die Begabten bekommen als Dank, wenn sie für die konservativen Interessen arbeiten, die Genieverehrung (vielleicht ist hierbei an Carlyles Heroenkult zu denken?). Aber — die Geschichte wandelt sich in das sicherste Vernichtungsmittel eben jener Prinzipien. Geschichte schließt, in dieser Aufzeichnung Nietzsches, Darwins Entwicklungsgedanke ein. Man lernt dadurch in der Geschichte die bewegenden Kräfte besser kennen und nicht unsere „schönen" Ideen. Der Sozialismus — endlich — begründet sich historisch, ebenfalls die nationalen, modernen Kriege. Kommen wir auf den Aphorismus der Morgenröthe zurück. Was haben wir aus der Hinzuziehung der Nachlaßfragmente gewonnen? Was heißt die Aufklärung, die wir jetzt weiterzuführen haben, unbekümmert darum, daß es eine große Revolution und eine große Reaktion gegeben hat und — nicht zu vergessen — noch gibt? Ich glaube Nietzsche dahin verstehen zu können, daß sich die weiterzuführende Aufklärung nicht gegen, sondern über eine große Revolution, den Sozialismus, und eine große Reaktion, die konservative Gesinnung, hinweg zu behaupten hat. Es war nach Nietzsche ein Fehler, die alte Aufklärung als Ursache der Revolution aufzufassen (dies Mißverständnis war die Reaktion), es wäre ein eben solcher Fehler, die weiterzuführende Aufklärung, die „neue" Aufklärung, als Ursache des Sozialismus aufzufassen (in diesem Fehler besteht die neue große Reaktion, die konservative Gesinnung). Die Historie aber wird selber zum wesentlichen Bestandteil der neuen Aufklärung. Das erhellt aus Menschliches, Allzumenschliches 26, wo Nietzsche von einer Reaktion als Fortschritt spricht. Wiederum: es gab in Europa zur Zeit der Renaissance einen ersten Frühling der Freiheit des Geistes und der Wissenschaft, eine frühere Form der Aufklärung, die durch Luthers Reformation „weggeschneit" wurde, so wie in unserem Jahrhundert der Geist der Aufklärung durch Romantik und Schopenhauers Metaphysik aufgehalten wurde. Durch diese „schroffen, gewaltsamen und fortreissenden, aber trotzdem zurückgebliebenen Geister" wird eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschworen. Erst nachdem wir „unter Schopenhauers Beihilfe" dem Christentum
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und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit haben widerfahren lassen, „erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Punkte korrigiert haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung — die Fahne mit den drei Namen Petrarca, Erasmus, Voltaire — von neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaktion einen Fortschritt gemacht". In Nietzsches historischem Modell lassen sich folgende drei Phasen unterscheiden, deren jede durch eine „Aufklärung" und eine „Revolution/Reaktion" gekennzeichnet ist: 1.
2.
3.
Der italienische und europäische Humanismus, die Renaissance (Petrarca, Erasmus) als frühe Aufklärung. Die deutsche Reformation (Luther), Fortschritt und Befreiung, aber auch Rückfall in die Religiosität des Mittelalters und direkte Ursache der Gegenreformation, also: Revolution/Reaktion. Die französische Aufklärung (Voltaire), von Nietzsche als Fortsetzung des grand siecle der französischen Kultur, des siebzehnten Jahrhunderts aufgefaßt. Die französische Revolution und die deutsche Romantik als Revolution/Reaktion darauf. Die weiterzuführende Aufklärung, die Nietzsche einige Jahre später als „neue Aufklärung" bezeichnen wird, und der sich als „große Revolution" und „große Reaktion", die es noch gibt, der Sozialismus und der Konservatismus gegenüberstellen.
Was nun die erste und zweite Phase dieses Modells betrifft, also Reformation und französische Revolution, wie sie Nietzsche damals verstand, so findet man eine überaus interessante Entsprechung dazu in einem Distichon aus Goethes „Vier Jahreszeiten" (Herbst), 1799 erschienen, in dem, — wie Werner Krauss bemerkt hat, — Luthertum und französische Revolution als bildungsfeindliche Mächte angeprangert werden: Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehmals Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück.
„ Ruhige Bildung", die zurückgedrängt wird, das ist ohne Zweifel im ersten Falle Aufklärung, im zweiten aber Humanismus, also noch einmal: Voltaire und Petrarca/Erasmus. Man vergesse hierbei nicht,
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Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe
daß Nietzsches Lehrer in Sachen Renaissance sein Basler Kollege Jacob Burckhardt war, den man einmal mit Recht als einen „Mann der Weimarer Klassik" bezeichnet hat.5 Die dritte Phase der Aufklärung betrachtet Nietzsche von nun an (1878-88) als die eigene und der freien Geister seiner Zeit vornehmliche Aufgabe. Hierzu gehören auch seine späteren Ergänzungen und Erweiterungen des von uns skizzierten Schemas. So werden die Deutschen zu Verzögerern par excellence jeden Kulturfortschrittes in Europa. Die antike Kultur6, die griechisch-römische Welt wurde von Christen im Bündnis mit Germanen und „anderen Schwerfüßlern" vernichtet. Ebenfalls zerstörten oder zumindest verjagten aus Europa deutsche Kreuzritter die „maurische" Kultur, auch eine Vorform der Aufklärung. Zuletzt vereitelten die sogenannten Freiheitskriege die Vereinigung Europas unter Napoleon, dem nur ein Deutscher ebenbürtig war: Goethe.7 Die Abschätzung des französischen XVIII. Jahrhunderts wird (unter Taines Einfluß) dahin geändert, daß es von Nietzsche immer mehr mit Rousseau, dem empfindsamen Plebejer, und mit der „tragischen Posse" der Revolution identifiziert wird; als 5
Vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Erster Band, München 1978, S. 325 0anz zitiert Alfred Martins Buch über Burckhardt und Nietzsche). In Weiterführung von Burckhardts (und Janssens) Geschichtsbild spricht Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, Aphorismus 237 von „Renaissance und Reformation". Dem beschriebenen geschichtlichen Modell gemäß wird von ihm die Renaissance auf folgende Weise charakterisiert: „Die italienische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Glut der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und bloßen Effekt (...) ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen Cultur auch nicht wieder so mächtig geworden sind." Aber „die große Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des deutschen inzwischen zurückgebliebenen Wesens (...) verhinderte dies". Die deutsche Reformation erzwang die Gegenreformation, ein katholisches Christentum der Notwehr. Wäre Luther gescheitert, so schließt Nietzsche, so wäre „die Morgenröte der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glänze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen".
6
Der Begriff „Kultur" im Burckhardtschen Sinne deckt sich vielfach mit dem der Aufklärung bei Nietzsche.
7
Vgl. insbesondere Nietzsches Invektiven gegen die „Deutschen" im Antichrist und Ecce homo.
A u f k l ä r u n g und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe
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Gegenspieler bleiben: die vornehme Kultur des XVII. Jahrhunderts, Voltaires Aufklärung und Klassizismus als deren Fortsetzung. Es bildet sich so eine Polarität aus: einerseits das klassische Ideal, durch französischen Klassizismus, Aufklärung, weltbürgerliches Europa, Voltaire, Napoleon, Goethe dargestellt; andererseits das christliche Ideal, in seinen verschiedenen Verkörperungen: Rousseau, Revolution, Reaktion, Romantik, Nationalismus, Sozialismus. 3. Nun — endlich — zum Aphorismus über die Revolution in der Poesie, welcher uns den Platz Goethes in Nietzsches historischer Konstruktion genauer bestimmen soll. Die Revolution in der Poesie, von der im Aphorismus 221 aus Menschliches, Allzumenschliches die Rede ist, beginnt in Deutschland mit Lessing vor der politisches Revolution und vollzieht sich, als unaufhaltsame Auflösung jeder Form und Bindung, in der neueren Zeit, die durch die politische Revolution eingeleitet wurde. Die Revolution in der Poesie bedeutet in Frankreich sowohl als auch in Deutschland den Abbruch einer Tradition, die ein für alle Mal der europäischen Kultur verloren gegangen ist. Die großen Protagonisten von Nietzsches Ausführungen sind in diesem Zusammenhang: Voltaire und Goethe. Voltaire war nach Nietzsche „der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige [.. .]Seele durch griechisches Mass bändigte — er vermochte das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist als die Natur des Deutschen". „Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaires Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch" verloren ging, meint Nietzsche. Endlich ist Voltaire einer der letzten Menschen gewesen, „welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent und feige zu sein". Seit jenem Abbruch „ist der moderne Geist," fährt Nietzsche fort, „mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Mass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte". Goethe seinerseits versuchte, sich vom Naturalismus, d. h. vom Rückfall in die „Anfänge der Kunst" zu retten, indem er sich immer von neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wußte. Es gelang ihm auch die „barbari-
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sehen Avantagen" unserer Zeit für seinen Faust zu benutzen. 8 D o c h bewegt sich die Kunst nunmehr ihrer Auflösung entgegen und streift dabei — was freilich nach Nietzsche höchst belehrend ist — alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretiert, im Zugrundegehen, ihre Entstehung, ihr Werden. „Wir folgen alle einem innerlich falschen revolutionären System", schrieb einmal Lord Byron,'dessen Einsicht — nach Nietzsche — auch die Einsicht des späten Goethe ist. „Gerade weil Goethe lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festgehalten wurde, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was Alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, — meint Nietzsche, — so wiegt seine spätere U m wandlung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen [ . . . ] So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hilfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden". Aber: der alte Goethe gewann mit seiner „ E i n s i c h t " einen solchen Vorsprung vor einer Reihe von Generationen, daß man — so Nietzsche — behaupten kann „ G o e t h e habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst k o m m e n " . Die Zeit soll erst noch kommen für einen Goethe, dem die Erfüllung seiner künstlerischen Forderungen nur nach Rückwärts möglich wurde, d. h. in der Vergangenheit, durch die Kunst „ s o wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten".10 Die Aufklärung, die es weiterzuführen gilt, befindet sich jenseits von Religion und Kunst. Sie kann nur das historische Verständnis 8
9
10
Nietzsche verbindet hier das Zitat aus den Anmerkungen zu Rameaus Neffen des Diderot (1805) mit einem Brief Goethes an Schiller vom 27. Juni 1797. Nietzsche zitiert aus einem Brief Byrons an Murray, vom 19. September 1817, und zwar nach: Byron, Vermischte Schriften, Briefwechsel und Lebensgeschichte, hg. von E. Ortlelepp, Stuttgart o. J., Bd. 2, S. 360. Der Schluß des Aphorismus lautet: „Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, daß sie einmal erfüllt gewesen sind und daß auch wir noch an dieser Erfüllung teilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Lokalfarben zum fast Unsichtbaren abge-
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von Religion und Kunst gewähren, insofern die Geschichte zur Aufklärung im Nietzscheschen Sinne gehört. Doch bleibt am Beispiel Goethes das klassische Ideal der Griechen (und Franzosen) als Maßstab bestehen, zumal das, was sich moderner Kunstbetrieb nennt, nichts weiter als der unaufhaltsame Auflösungsprozeß der Kunst, ihr Ende ist. So bekommt Goethes „gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte seines Lebens" ihren recht fatalistischen und resignierten, wenn auch historisierend-verklärenden Charakter: Goethes, dieses Goethes Forderungen waren ja — so Nietzsche — gerade
in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar. Freilich blieb Nietzsche nach 1878 nicht bei der Goetheschen Sehnsucht nach dem klassischen Ideal stehen, auf die kontemplative Haltung des Freigeistes folgte der immer mehr „auf nichts gestellte" Versuch Zarathustras als eines „neuen Gesetzgebers". Tatsache jedoch ist, daß sich bei Nietzsche das klassische Ideal, nebst antirevolutionärer sowie auch antiromantischer, ja antireaktionärer Polemik in Goethes Gefolge, bis hin in seine letzten Schriften als Forderung behauptet. Huldigt damit Nietzsche einem musealen Goethe, brauchbar für das Bildungsbürgertum der Gründerzeit und für Epigonen späterer Zeiten? Ich glaube es nicht, denn zu den neuen Fesseln, zu der neuen Beschränkung, die Nietzsche zu fordern scheint, gehört zunächst, daß man sich des Prozesses der modernen Kunst in seiner Tragweite — so wie Goethe — bewußt werde. Ist aber der Zerfall der Werte in der bürgerlichen Zeit, mit Hermann Broch zu reden, eine Nietzschesche Einbildung? Ist die öde Landschaft, auf der zuletzt der Flug von Nietzsches Aufklärung landete, sein gescheiterter Versuch, der ja stellvertretend für die ganze Leidensgeschichte der modernen bürgerlichen Seele steht, ein Einwand gegen das klassische, goethische Ideal? Wahrscheinlich nicht. Es bleibt lediglich zu fragen, ob jenes „klassische Ideal" als solches auch heute noch zu recht bestehen kann oder nicht. Und das sei auch meine letzte Frage. kämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten. "
Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 1. Auf seinen ersten Genueser Winter zurückblickend, notierte Nietzsche ein Jahr später für sich: Ich bin mir des eigentlichen Pathos jeder Lebensperiode nie als eines solchen bewußt gewesen, sondern meinte immer, es sei der einzig jetzt mögliche und vernünftige Zustand und durchaus Ethos, nicht Pathos — mit den Griechen zu reden und zu trennen. — Ich irrte mich ζ. B. als ich im Winter 1880-81 an der „Morgenröte" arbeitete, in Genua (via Palestro 18 N. 13 interno) — dies höchst einsiedlerische sparsame Leben war ganz und gar Pathos und jetzt, im Gefühle eines ganz anderen Zustands, klingt es mir aus ein paar Tönen der Musik wieder, die in jenem Hause gemacht wurde: als etwas so Gutes, schmerzhaft-Mutiges und Trostsicheres, daß man dergleichen tröstliche Dinge nicht auf Jahre besitzen darf. Man wäre zu reich, zu überstolz — ja es war die Seele des Colombo in mir. 1
Das Pathos, dessen sich Nietzsche nicht „als eines solchen bewußt" wurde in jenen Monaten, wurde von ihm jedoch schon damals Leidenschaft genannt, gewiß eine „ganz neue" Leidenschaft — die „Leidenschaft der Erkenntnis". Diese soll der Gegenstand unserer Betrachtungen sein. 2. Wir müssen deshalb unsere Aufmerksamkeit einem Aphorismus der Morgenröte widmen, in dem die „neue Leidenschaft" beschrieben wird. Der Aphorismus trägt, unter der Nummer 429, die Uberschrift: Die neue Leidenschaft. Wir stellen zunächst jedem Glied des Aphorismus eins der entsprechenden Vorstufe gegenüber, die sich in einem kleinen Notizbuch befindet. Dieses Notizbuch von 42 Seiten wurde von Nietzsche Ende 1880 in Genua benutzt, der Aphorismus 429 der Morgenröte wurde also in der Zeit konzipiert, als Nietzsche — nach einjähriger 1
Diese Aufzeichnung ist Vorstufe zu Fröhliche Wissenschaft, Aph. 317, der in einer etwas weniger persönlichen Form gehalten ist; vgl. KSA 14, S. 269.
Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"
Sammlung und Aufzeichnung sei bad, Stresa und andernorts — sie dem Herzen zu schreiben" 2 . Die Gegenüberstellung sieht s MORGENRÖTE 429 Die neue Leidenschaft Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! — Sondern unser Trieb zur Erkenntnis ist zu stark, als daß wir noch das Glück ohne Erkenntnis oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Erratens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; — ja vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts 2
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;r Gedanken in Venedig, Marienanschickte, sich „ein Buch nach aus: VORSTUFE: (KSA 14, S. 221) [fehlt] Die Angst vor der Barbarei— warum? sie macht unglücklich?—
Nein, unsere Triebe zur Erkenntnis sind zu stark, als daß wir ein Glück ohne Erkenntnis schätzten, es ist uns unangenehm.
Die Unruhe des Wissens ist uns so reizvoll wie das Unglück der Liebe (welches man nicht gegen den indifferenten Zustand eintauschen will).
Trieben wir die Erkenntnis zur Leidenschaft, so wären wir zufrieden, wenn ihretwegen die Menschheit unterginge: es ist
K G W V 1, S. 672, 7[ 117]: „Ich finde an nichts genug Freude — da fange ich an, mit selber ein Buch nach dem Herzen zu schreiben."
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Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"
fürchtet, als ihr eignes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, daß die gesamte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müßte als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnis zugrunde geht! — auch dieser Gedanke vermag nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei — wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der Erkenntnis!
Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zugrunde geht, so wird sie an einer Schwäche zugrunde gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? —
nicht unmöglich so etwas zu denken.
Auch das Christentum erschrak nicht vor einem solchen Gedanken. Jeder Liebende will sterben. Wir wollen lieber den Untergang als den Rückgang. Aber wie! wenn die Leidenschaft der Erkenntnis allgemein geworden notwendig auf einen Rückgang führte! eine Schwächung! Es ist gut, daß die anderen Triebe ebenso sich behaupten, jeder sein Ideal schafft. Zuletzt: wenn die Menschheit nicht an ihren Leidenschaften zu Grunde geht, geht sie an ihrer Schwäche zu Grunde: Was will man lieber!! Dies ist die Hauptfrage!
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Der Vergleich zeigt: 1) der Titel des Aphorismus, sowie auch der Begriff „neue Leidenschaft" ist in der Vorstufe nicht enthalten — auch nicht implicite·, 2) mit einigen, allerdings nicht unwesentlichen Nuancen enthält die Vorstufe jedoch alle Gedankengänge und Formulierungen der endgültigen Fassung, außerdem aber auch zwei Sätze, die Nietzsche fallen ließ. 3. Dem Begriff einer „neuen Leidenschaft" begegnen wir am Ende eines anderen gleichzeitigen Notizbuches und zwar eigentümlicherweise in einem jener Titel, die ab und zu Nietzsches Meditationen abbrechen und ihm gleichsam als Versuch der Zusammenfassung alles bis dahin Aufgezeichneten sowie auch als Wegweiser für das noch zu Schreibende dienen. Nietzsche schreibt auf der letzten Seite seines Notizbuches drei Titel nacheinander, die eine Art Entwicklung darstellen. Der erste: Zur Geschichte der Redlichkeit. Dann: Die Leidenschaft der Redlichkeit. Endlich: Passio nova / oder / Von der Leidenschaft der Redlichkeit"'. Die „Redlichkeit" wird in der Morgenröte zu einer Tugend, und zwar zur jüngsten der Tugenden, zur Haupttugend des Erkennenden4. Sie ist „ihrer selber noch kaum bewußt", sie ist „etwas Werdendes". Im ersten Zarathustra, Von den Hinterweltlern, lesen wir dazu: „Vieles krankhafte Volk gab es immer unter denen, welche dichten und gottsüchtig sind; wütend hassen sie den Erkennenden und jene jüngste der Tugenden, welche heißt: Redlichkeit". Redlichkeit ist auch in den Aufzeichnungen der Morgenröte die Tugend, welche den Menschen der Erkenntnis gegen den Künstler — Wagner ist in der Nähe! — auszeichnet. („Ich bin nicht imstande irgendeine Größe anzuerkennen, welche nicht mit Redlichkeit gegen sich verbunden ist" — fängt ein bekanntes Fragment über Wagner an.) Redlichkeit und Leidenschaft der Erkenntnis sind durch die Bezeichnung „die neue Leidenschaft" eng miteinander verbunden: „Passio nova" war ja — im dritten der erwähnten Titel — die „Leidenschaft der Redlichkeit". Die Redlichkeit als „jüngste Tugend" eignet dem, der in sich die „neue Leidenschaft" der Erkenntnis hat. In diesem Sinne hat sie auch Karl Jaspers verstanden5. 3 4 5
KGW V 1, S. 646, 6[457.459.461], Vgl. Morgenröte, Aph. 456. Vgl. Karl Jaspers Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 19472, insbesondere die Seiten 184-213.
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Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"
4. Das Thema der Barbarei wird in der Vorstufe nur angedeutet, wenn auch mit allen wesentlichen Motiven, die im Aphorismus dann entfaltet werden. Es sind derer zwei: 1) „Angst vor der Barbarei", 2) „macht die Barbarei unglücklich?". Letzten Endes entscheidend ist jedoch das Problem des Glücks. Es gehört zu den ständigen Merkmalen von Nietzsches Philosophieren, das Glück — in allen Bedeutungen, die mit dem „Glück der Barbarei" verwandt sind — zu verachten. Man weiß, daß bei Nietzsche auch die Rede von einem anderen Glück ist: ζ. B. im Markus-Platz-Gedicht Mein Glück, oder im Kapitel Mittag des vierten Zarathustra — dies Glück als ein augenblicklich-persönliches. Ein anderes Glück ist am Ende der ganzen Irrfahrt der Menschheit zu finden, wie im Antichrist·. „ . . . Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes — unser Leben, unser Glück[...] Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths [...] Formel unseres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel [ . . . ] Was ist Glück? — Das Gefühl davon, daß die Macht wächst, — daß ein Widerstand überwunden wird" 6 . Sonst ist Nietzsche gegen die „garstige Prätension nach Glück", sowohl 1875, als er sich diesen unter Schopenhauerianern geläufigen Ausdruck des GoetheFreundes Merck notierte7, als auch 1888 in der Götzendämmerung, wo es heißt: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? — Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das"8. Was nun das Glück in der Barbarei betrifft, so bezeichnet Nietzsche es als das „gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt", als ein „Glück ohne Erkenntnis". Erkenntnis jedoch ist — „ohne Glück": dahin tendiert der Gedankengang in unserem Aphorismus. „Gram ist Erkenntnis . . . " , hatte Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches mit Byron gesagt. Was ist jetzt für Nietzsche Erkenntnis? „Erkenntnis ist wesentlich Schein", das ist die primäre Definition, die wir in einem Marienbader Notizbuch verzeichnet finden9. Erkenntnis ist auch Beschrän6
Antichrist § 1-2.
7
KGW IV 1, S. 178, 6[14],
8
Götzen-Dämmerung,
9
In Marienbad war Nietzsche Juli-August 1880; vgl. KSA 15, S. 113f.
Sprüche und Pfeile, Nr. 12.
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kung, da ihr die Notwendigkeit einer Begrenzung der eigenen Sphäre anhaftet, um überhaupt existieren zu können. Die Welt ist die Summe der Relationen zu einer beschränkten Sphäre irriger Grundannahmen. Das ist die Erkenntnis als „Erkennen und Empfinden", unter dem Gesichtspunkt der Gnoseologie. Die Erkenntnis dagegen als Gegenstand einer Leidenschaft: das ist vornehmlich das Erkennen von alledem und noch etwas anderem, sozusagen Erkenntnis des Erkennens — kurzum Philosophie, theoretische Betätigung, vor jedem Urteil über ihre Ergebnisse. Diese Philosophie hat als Muster ihrer Methode die moderne Wissenschaft. „Ich weiß so wenig von den Ergebnissen der Wissenschaft" — notiert Nietzsche in dieser Zeit — „und doch scheint mir bereits dies Wenige unerschöpfoar reich zu sein zur Erhellung des Dunklen und zur Beseitigung der früheren Arten zu denken und zu handeln"10. Nietzsche protestiert ständig gegen diejenigen, die sich bemühen, die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu entdecken, gleichsam um freie Bahn für ihre metaphysischen Spekulationen zu bekommen. Das ist es gerade, was Nietzsche jetzt am meisten verabscheut, was er „Jesuitismus" nennt. „Hinter meiner ersten Periode" — schreibt er noch in einem Heft aus dem Herbst 1883 — „grinst das Gesicht des Jesuitismus: ich meine: das bewußte Festhalten an der Illusion und die zwangweise Einverleibung derselben als Basis der Cultur [ . . . ] Wagner ist dieser Gefahr erlegen"11. Gegen die Illusionen seiner Jugend hat er „Selbstmord" begangen, so wie Paulus — nach Nietzsches Worten — an seiner ganzen vorchristlichen Periode einen Selbstmord beging. Das ist der Sinn der freigeisterischen Bücher, vor allem von Menschliches, Allzumenschliches, wo wir immer wieder der Polemik gegen die plötzlichen Erleuchtungen, die „intuitiven" Erkenntnisse begegnen. Aber auch jetzt — und zwar, indem er der Leidenschaft der Erkenntnis lebt — will Nietzsche nichts von jenen Erleuchtungen wissen: „Die Erkenntnisse mit Einem Schlage, die Intuitionen sind keine Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so wenig eine Hallucination Wahrheit ist", schreibt er in sein Marienbader Notizbuch, und weiter: „Jenes heiße brennende Gefühl der Ver10
K G W V 1, S. 501, 4[290].
11
K G W VII 1, S. 533, 16[23]; vgl. auch in diesem Band S. 195f.
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Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"
zückten, dies ist die Wahrheit' dies mit-Händen-Greifen und mitAugen-Sehen bei denen, über welche die Phantasie Herr geworden ist, das Tasten an der neuen anderen Welt — ist eine Krankheit des Intellekts, kein Weg der Erkenntnis" 12 . Es ist einer der eigentümlichen Reize von Nietzsches Philosophieren, daß er keinen Augenblick den gegebenen Boden der Erkenntnis nach historischen und naturwissenschaftlichen Maßstäben verläßt, und gleichzeitig die Grenzen dieser Erkenntnis hinzeichnet. „An Stelle des Philosophen setzte ich den freien Geist" — heißt es im schon zitierten Heft aus dem Herbst 1883 — „der ohne Jesuit zu werden, trotzdem die unlogische Beschaffenheit des Daseins ergründet" 13 . So verstehen wir, warum er in seinem Genueser Notizbuch auch noch sagt: „Ein Uberdruß am Menschlichen, als ob es immer die alte Komödie sei, ist möglich; für ein erkennendes Wesen ist es eine furchtbare Beschränkung, immer als Mensch erkennen zu müssen, es kann einen intellektuellen Ekel vor dem Menschen geben" 14 . So verstehen wir auch den Sinn des „großen Schweigens", wie es von Nietzsche im Aphorismus 423 der Morgenröte beschrieben wird: Am „Kreuzwege von Tag und Nacht", vor dem Meer, wo wir die Stadt vergessen können, folgen aufeinander entgegengesetzte Stimmungen: „ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen mußt", dann aber: „das Sprechen, ja das Denken wird mir verhaßt: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrtum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? [ . . . ] O Meer! O Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein!" Der Mensch kann jedoch nicht aufhören, „Mensch zu sein" d. h. zu sprechen, zu denken, wenn er „redlich" bleibt. Das religiöse, mystische Erlebnis kann sich nunmehr, vollziehen nur als Grenzstimmung, wie etwa in folgender Notiz aus dem Sommer 1878: „Wissen Erstarrung — Handeln Epilepsie unfreiwillig. Wie vom Curare-Pfeil der Erkenntnis angeschossen bin ich: alles sehend" 15 .
12
K G W V 1, S. 510, 4[321]; S. 470, 4[152],
13
K G W VII 1, S. 529, 16[14].
14
K G W V 1, S. 469, 4[150]; vgl. Morgenröte, A p h . 483.
15
K G W IV 3, S. 364, 28[18],
Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"
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5. Erkenntnis ist weiter — nach Nietzsches eigenen Worten — Annehmlichkeit und Lust und Rausch, sie ist aber auch — Unglück. Ein Unglück, das er in unserem Aphorismus mit dem des unglücklich Liebenden vergleicht: „ja vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende!". In den Aufzeichnungen der Notizbücher drückt sich Nietzsche ungefähr so aus: wir leben der Erkenntnis nicht um eines Zieles willen, sondern wegen der erstaunlichen und häufigen Annehmlichkeiten „im Suchen und Finden derselben". Der Anblick der Welt wird erst erträglich, wenn wir sie durch den sanften Rauch des Feuers angenehmer Leidenschaften hindurch sehen. „Ohne unsere Leidenschaften ist die Welt Zahl und Linie und Gesetz und Unsinn, in alledem das widerlichste und anmaßlichste Paradoxum"16'. Und wenn er sagt, daß Plato den Erkenntnistrieb als idealisierten aphrodisischen Trieb geschildert hat, so ist auch für Nietzsche — nach einem Zeugnis von 1885 — „das abstrakte Denken, an guten Tagen, ein Fest und ein Rausch"17. Endlich hofft Nietzsche, daß die Wissenschaft seine Begierde „nach Helle Reinlichkeit Heiterkeit Schmuckheit Nüchternheit"befriedige18. Worin besteht aber das Unglück der Erkenntnis? Man könnte sagen, genau in dem, was bis jetzt als Lust und Annehmlichkeit dargestellt wurde: im Suchen und Finden, in der Vision der Welt durch eine Leidenschaft hindurch, in der „Unruhe des Wissens", im Unglück der Liebe, welches „man nicht gegen den indifferenten Zustand eintauschen will". „Man hat mir etwas vom ruhigen Glück der Erkenntnis vorgeflötet — aber ich fand es nicht, ja ich verachte es, jetzt wo ich die Seligkeit des Unglücks der Erkenntnis kenne. Bin ich je gelangweilt? Immer in Sorge, immer ein Herzklopfen der Erwartung oder der Enttäuschung! Ich segne dieses Elend, die Welt ist reich dadurch! Ich gehe dabei den langsamsten Schritt und schlürfe diese bitteren Süßigkeiten"19. 6. „Die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt": so Nietzsche im Aphorismus. „Trieben wir die Erkenntnis zur Lei-
16
KGW V 1, S. 673, 7[122]; S. 694, 7[226].
17
KGW V 1, S. 697, 7[242]; VII 3, S. 183, 34[130],
18
KGW V 1, S. 684, 7[182],
19
K G W V 1, S. 680f„ 7[165],
72
Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"
denschaft": liest man dagegen in der Vorstufe. Die festgestellte Tatsache im Aphorismus, die zögernde Hypothese in der Vorstufe sind im Ganzen der vorausgehenden Aufzeichnungen eine „ A u f g a b e " . Der Erkenntnistrieb ist noch jung und roh, Nietzsche will ihn als Passion behandeln, er will den Trieb der „Redlichkeit" gegen sich selber und der „Gerechtigkeit" gegen die Dinge — beides gehört in seine neue Auffassung der Erkenntnis — so stark „sublimieren", daß „seine" Freude den Wert der anderen Lustarten überwiegt 20 . D a s Ziel ist, daß man gegen ferne Dinge „sich so verhält wie gegen die nächsten" (man denke an die Liebe zum Fernsten im Zarathustra), weil die Passion für Abstrakta (wie bei Plato) und die Unfähigkeit, ein Abstraktum sich fern und gleichgültig zu halten, das ist, was den Denker ausmacht. Die wissenschaftlichen Menschen dagegen sind, nach Nietzsche, unfähig, die ganz neue Lage der Wissenschaft selber zu begreifen. „ D i e Wissenschaft geht sie nichts an — das gibt ihnen die Fähigkeit d a z u ! " Die Wissenschaft der wissenschaftlichen Menschen, d. h. „ein Streben nach Erkenntnis ohne H e r o i s m u s " , ist die einzige Art der Wissenschaft, welche bisher der Staat gefördert hat. „ E s ist eine ganz neue Lage — auch sie hat ihre Erhabenheit, auch sie kann heroisch aufgefaßt werden: obschon es noch niemand getan h a t " , so schreibt er Herbst 1881 21 . Das Bewußtsein der ganz neuen Einstellung des modernen Menschen zur Welt und Geschichte ist seit 1875 wach geworden: „Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch etwas erleben", steht in einem Fragment zur unvollendeten Unzeitgemäßen über die Philologen. „ D a ß wir zuletzt doch lieber in dieser als einer andren Zeit leben wollen — heißt es weiter — ist wesentlich das Verdienst der Wissenschaft [ . . . ] Wir haben in der Aufhellung der Welt die Griechen überholt, durch Natur- und Menschengeschichte, und unsere Kenntnisse sind viel größer, unsere Urtheile mäßiger und gerechter" 2 2 . „Wir dürfen unseren Geschmack haben" — heißt es jetzt — „aber
20
K G W V 1, S. 697, 7[197],
21
K G W V 2, S. 521, 14[3],
22
K G W IV 1, S.113, 3 [76].
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es ist nicht mehr der ewige, der notwendige Geschmack! Und jede Zeit glaubt es von dem ihren! Und wir dürfen es nicht! Ein ganz neuer Zustand!". Auf das wesentliche Merkmal dieses neuen Zustands — die Leidenschaft der Erkenntnis — wird in einem Fragment vom Herbst 1881 hingewiesen. „Meine Brüder! Verbergen wir es uns nicht! Die Wissenschaft, oder ehrlicher geredet die Leidenschaft der Erkenntnis ist da, eine ungeheure, neue, wachsende Gewalt, dergleichen noch nie gesehen worden ist, mit Adlerschwung, Eulenaugen und den Füßen des Lindwurms — ja sie ist schon jetzt so stark, daß sie sich selber als Problem faßt und fragt: ,wie bin ich nur möglich unter Menschenl Wie ist der Mensch fürderhin möglich mit mir!"' 23 Das Fragment befindet sich in einem kleinen Heft, welches außerdem Gedanken über die ewige Wiederkehr des Gleichen und den Tod Gottes enthält. Die letzten Fragezeichen jenes späteren Fragments bilden auch den Kulminationspunkt des Aphorismus 429 der Morgenröte·, dort, wo das eigentliche Pathos der Erkenntnis mit einer extremen Herausforderung zu Tage tritt: „die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts fürchtet, als ihr eignes Erlöschen, wir glauben vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnis zugrunde geht! [ . . . ] Ja wir hassen die Barbarei — wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der Erkenntnis!". Diese Herausforderung ist bei Nietzsche durch seine frühere Entwicklung bedingt. Er selber sagt es in einem Fragment von 1885: „Eines Tages — es war im Sommer 1876 — kam mir eine plötzliche Verachtung und Einsicht in mich: unbarmherzig schritt ich über die schönen Wünschbarkeiten und Träume hinweg, wie sie bis dahin meine Jugend geliebt hatte, unbarmherzig ging ich meines Wegs weiter, eines Weges der ,Erkenntnis um jeden Preis' [...]". Auch in den Aufzeichnungen zur Morgenröte ist dasselbe Motiv sehr häufig da: nur ein Beispiel unter vielen: „Die Fälschung der Wahrheit zu Gunsten der Dinge, die wir lieben [ . . . ] fluchwürdigste Unart bei erleuchteten Geistern, denen die Menschen zu vertrauen pflegt und die so
23
K G W V 1, S. 647, 7[5]; V 2, S. 492, 12[96],
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dieselbe verderben, im Wahne festhalten. Und oft war es ein so schweres Opfer für euch, sacrificium intellectus propter amorem! Ach ich selber habe es gelobt! Wagner in Bayreuth." 24 Gerade in der vierten Unzeitgemäßen, auf die das Fragment anspielt, ist auch die Rede vom Ende der Menschheit. Dort lesen wir: „Und wenn die ganze Menschheit einmal sterben muß — wer dürfte daran zweifeln! — so ist ihr als höchste Aufgabe für alle kommenden Zeiten das Ziel gestellt, so in's Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, daß sie als ein Ganzes ihrem bevorstehenden Untergange mit einer tragischen Gesinnung entgegengehe [.. ] Es gibt nur Eine Hoffnung und Eine Gewähr für die Zukunft des Menschlichen: sie liegt darin, daß die tragische Gesinnung nicht absterbe"25. Die „tragische Gesinnung" der Abschiedsschrift, welche Nietzsche Wagner und den Wünschbarkeiten seiner Jugend — dem „Glück ohne Erkenntnis" — widmete, hat sich in das Opfer der Menschheit für die Erkenntnis der Wahrheit verwandelt, denn — wie wir am Anfang der Morgenröte (Aph. 45)lesen — dies ist „das einzige ungeheure Ziel [...] dem ein solches Opfer angemessen wäre". Nicht nur die Metaphysik der Kunst, auch der vitale Zusammenhang mit der Menschheit als Ganzem — das, was Nietzsche Mitleid nennt, — ist in der Morgenröte verloren gegangen. Die „Redlichkeit" verbietet ihm die Rückkehr zu jener sozial gefärbten Utopie, der die vierte Unzeitgemäße als letzter und gewagtester Versuch galt. „Ja, wir gehen an dieser Leidenschaft zu Grunde! Aber es ist kein Argument gegen sie. Sonst wäre ja der Tod ein Argument gegen das Leben des Individuums. Wir müssen zu Grunde gehen, als Mensch wie als Menschheit! Das Christentum zeigte die Eine Art, durch Aussterben und Verzicht auf alle rohen Triebe. Wir kommen durch Verzicht auf das Handeln, das Hassen, das Lieben ebendahin, auf dem Wege der Leidenschaft der Erkenntnis. Friedliche Zuschauer — bis nichts mehr zu sehen ist! Verachtet uns deshalb, ihr Handelnden! Wir werden eure Verachtung anschauen —: los von uns, von der Menschheit, von der Dingheit, vom Werden". Wie man sieht, ist in diesem Fragment der Untergang des zuschauenden Individuums ein 24 25
KGW VIII 1, S. 68, 2[9] (erste Fassung); V 1, S. 514, 5[14], Vgl. hier S. 196. Vgl. Richard Wagner in Bayreuth, § 4; KGW IV 1, S. 25.
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anderer als der der Menschheit. Nietzsche jedoch will auch „das höchste Todesziel der Menschheit ausdenken" — denn: „irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentrieren" 26 . Und dieses Todesziel ist, nach Aphorismus 45 der Morgenröte, die „Erkenntnis der Wahrheit". Es wird sogar an eine Art kosmisches Opfer gedacht: „vielleicht, wenn einmal eine Verbrüderung mit Bewohnern anderer Sterne zum Zweck der Erkenntnis hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgeteilt hat: vielleicht, daß dann die Begeisterung der Erkenntnis auf eine solche Flut-Höhe kommt!" 7. Es gibt — wir haben es schon bemerkt — zwei Sätze der Vorstufe zu unserem Aphorismus, die nicht in die endgültige Fassung aufgenommen wurden. Der erste drückt den Zweifel aus, ob die Leidenschaft der Erkenntnis „allgemein geworden, notwendig auf einen Rückgang, eine Schwächung führte", der andere enthält die Feststellung: „Es ist gut, daß die anderen Triebe [also nicht nur der Erkenntnistrieb] sich behaupten, jeder sein Ideal schafft". Beide finden ihren Niederschlag in anderen Aufzeichnungen des Nachlasses dieser Zeit und in der Weiterentwicklung von Nietzsches Denken. Das Problem der Schwächung des Menschen durch die Erkenntnis ist bei Nietzsche nicht neu, wir lesen ζ. B. in der schon zitierten Aufzeichnung zu Wir Philologen: „eine mildere Menschlichkeit ist verbreitet, dank der Aufklärungszeit, welche den Menschen geschwächt hat .. ." 27 . Jetzt scheint gerade in der Leidenschaft der Erkenntnis die Chance einer zukünftigen Kräftigung der Menschen gegeben zu sein: „Ich meinte, das Wissen töte die Kraft, den Instinkt, es lasse kein Handeln aus sich wachsen. Wahr ist nur, daß einem neuen Wissen zunächst kein eingeübter Mechanismus zu Gebote steht, noch weniger eine angenehme leidenschaftliche Gewöhnung! Aber alles das kann wachsen! ob es gleich heißt auf Bäume warten, die eine spätere Generation abpflücken wird — nicht wir! Das ist die Resignation des Wissenden! Er ist ärmer und kraftloser geworden, ungeschickter zum Handeln, gleichsam seiner Glieder beraubt — er ist Se-
26
K G W V 1, S. 682, 7[171]; S. 600, 6[281].
27
Vgl. K G W IV 1, S. 113, 3 [76],
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her und blind und taub geworden"28. Einstweilen ist der moderne Mensch auch im Vergleich mit der christlichen Periode geschwächt: „Unsere Maßstäbe nach dem Christentum: nach jenem unerhörten Sich-ausspannen aller Muskeln und Kräfte unter dem höchsten Stolze sind wir alle verurteilt, die Schwächeren Geschwächteren darzustellen: es sei denn, daß wir eine unerhörte Art von Männlichkeit gewinnen, welche diesen Zustand der menschlichen Erniedrigung noch stolzer als das Christentum zu tragen wüßte. Kann hierzu uns nicht die Wissenschaft dienen? Wir müssen dem Phantasie-Effekt des Christentums für die edelmütigen Naturen etwas Uberbietendes entgegenstellen — eine Entsagung und Strenge!"29. Und wiederum, sich mit demselben Problem ein Jahr später beschäftigend: „Ich weiß nicht recht, wobei sich noch Tapferkeit und Gerechtigkeit und harte, geduldige Vernünftigkeit geltend machen soll, wenn alles so werdend, so phantastisch, so unsicher, so grundlos ist. Nun, wenigstens dies soll uns bleiben: als Männer wollen wir uns doch eben diese Wahrheit sagen, wenn sie nun einmal Wahrheit ist, und die nicht vor uns verhehlen! Auch dem Anatom ist der Cadaver oft zuwider — aber seine Männlichkeit zeigt sich im Beharren. Ich will erkennen"30. Der zweite fallengelassene Satz der Vorstufe zu Morgenröte 429 bezieht sich auf das Verhältnis des Erkenntnistriebes zu den anderen Trieben im Menschen: „alle anderen Triebe, nicht nur der Kenntnistrieb, sollen sich behaupten". Jeder Trieb soll sein „Ideal schaffen", d. h. neben dem Erkennenden, dem Menschen, der sich der Erkenntnis verschrieben hat, sollen die anderen Menschen — der Künstler, der Krieger, usw. — ihr „Ideal" schaffen. Nach einem halben Jahr — im Sommer 1881 —, als sich Nietzsche das Problem stellt „wie ist gerade Leidenschaft der Erkenntnis mit dem Menschen möglich", hebt er die Notwendigkeit des Irrtums gerade für die Leidenschaft der Erkenntnis hervor: Leben ist Bedingung des Erkennens. Irren ist Bedingung des Lebens, und zwar im tiefsten Grunde Irren [ . . . ] Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschoß des Erkennens. Die Kunst als die 28
K G W V 1, S. 682, 7[172],
29
K G W V 1, S. 705 f., 7[281],
30
K G W V 2, S. 532, 15[2],
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Pflege des Wahns — unser Cultus. Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren, Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, unseren Geschmack an ihm mehren, ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntnis. So entdecken wir auch hier eine Nacht und einen Tag als Lebensbedingung für uns: Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Flut. Herrscht eines absolut, so geht der Mensch zu Grunde, und zugleich die Fähigkeit. 8. Die Leidenschaft der Erkenntnis wird nunmehr von Nietzsche vom Gesichtspunkt einer neuen Erkenntnis — der ewigen Wiederkehr des Gleichen — aus betrachtet. In dem Heft, wo diese Erkenntnis das erste Mal verzeichnet wurde (Sommer 1881), findet sich auch das Fragment, das wir zuletzt zitiert haben31. Seine eigene Philosophie erscheint ihm jetzt auch als eine Philosophie der „Gleichgültigkeit". Mit folgendem Fragment, in dem dieser Ausdruck auftritt und zugleich ewige Wiederkehr des Gleichen und Leidenschaft der Erkenntnis sich in gegenseitigem Verhältnis finden, schließen wir den Kommentar zum Aphorismus 429 der Morgenröte: . . . aus vielen Augen in die Welt sehen [...] abwarten, wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben können, — und in wiefern eine Umwandlung des Menschen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu erkennen. Dies ist die Konsequenz von der Leidenschaft der Erkenntnis: es gibt für ihre Existenz kein Mittelals die Quellen und Mächte der Erkenntnis, die Irrtümer und Leidenschaften auch zu erhalten, aus deren Kampfe nimmt sie ihre erhaltende Kraft [...] Nun kommt aber die schwerste Erkenntnis [d. h. die Erkenntnis der ewigen Wiederkehr des Gleichen] und macht alle Arten Leben furchtbar und bedenkenreich: ein absoluter Uberschuß von Lust muß nachzuweisen sein, sonst ist die Vernichtung unser selbst [...] zu wählen. Schon dies: wir haben die Vergangenheit, unsere und die aller Menschheit, auf die Waage zu setzen und auch zu überwiegen. — Nein! dieses Stück Menschheitsgeschichte wird und muß sich ewig wiederholen, das dürfen wir aus der Rechnung lassen, darauf haben wir keinen Einfluß: ob es gleich unser Mitgefühl erschwert und gegen das Leben überhaupt einnimmt. Um davon nicht umgeworfen zu werden, darf unser Mitleid nicht groß sein. Die Gleichgültigkeit muß tief in uns gewirkt haben und der Genuß im Anschauen auch. Auch
31
K G W V 2 , S. 402, 11[162],
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das Elend der zukünftigen Menschheit soll uns nichts angehen. Aber
ob wir noch leben wollen, ist die Frage: und wie?32 9. Als „Wille zur Wahrheit" wird die Leidenschaft der Erkenntnis im Zarathustra der „Wille zur Denkbarkeit alles Seienden" — „Wille zur Macht". Sie behält als „Geist" ihr Merkmal des „Leidens". „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen": — übrigens schon in der Morgenröte steht: „solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie" (Aph. 460). Die Leidenschaft der Erkenntnis als Wissenschaft mündet in den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen, insofern dieser das „Zuendedenken der mechanistischen Weltbetrachtung" ist. Nietzsches spätes Denken kreist um das illusionäre Bewußtsein, der Besitzer eines „züchtenden" Gedankens zu sein, der das Resultat der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnis sei. Nicht einmal der mitteilbare Sinn dieses Gedankens — die ewige Verbannung des Menschen in die Kontingenz der erkannten Welt, nach dem Tode Gottes — vermochte die Wenigen, denen Nietzsche ihn anvertraute, zu erschüttern. Er selber freilich hätte seinen Zarathustra noch sagen lassen wollen (ganz im Sinne des Schlusses von Morgenröte 429): 33 Mag die Welt doch zerbrechen an unseren Wahrheiten! — so gibt es eine neue Welt zu schaffen! Denn, wenn die Wahrheit sich nicht die Welt neu bauen will — was liegt auch an der Wahrheit!
32 33
K G W V 2, S. 392, 11[141]. Variante im Kapitel „ V o n der Selbst-Überwindung", Also sprach Zarathustra, 2. Teil; vgl. K S A 14, S. 302.
Zarathustra vor Also sprach Zarathustra 1. W i r begegnen zum ersten Mal dem Namen Zoroaster (alias Zarathustra) in den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches aus der Zeit September 1870 - Januar 1871; da lesen w i r : Die Religion des Zoroaster hätte, wenn Darius nicht überwunden wäre, Griechenland beherrscht.1 Es handelt sich um ein kleines Exzerpt aus den Essays des Orientalisten M a x Müller, 2 die Nietzsche damals fleißig las. Die Hypothese eines Siegs der Perser über die Griechen scheint Nietzsche fasziniert zu haben, und zwar in Hinsicht auf deren religiöse Entwicklung. Doch bleibt diese Hypothese beim Ansatz, sie gehört vielmehr in den Zusammenhang von Nietzsches Überlegungen über die Griechen in der entscheidenden Zeit vor und nach den Perserkriegen. Die Perser mit ihrem großen Reich sind kein Volk der Kultur (nach dem Schema Friedrich August Wolfs). 3 Doch wäre es nach Nietzsche viel glücklicher gewesen, wenn die Perser und nicht gerade die Römer über die Griechen Herr geworden wären. Heraklit mit seinem übernationalen Denken hatte allerdings jede Schranke zwischen Barbarisch und Hellenisch, zwischen Persern und Griechen niedergerissen. 4 Daß Heraklit von bestimmten Gedanken des Zoroastrismus 1 2
3
4
KGW III 3, S. 110, 5 [54], Max Müller, Essays: 1. Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft; 2. Band. Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie·, beides Leipzig 1869, Bd. 1, S. 145. Vgl. KGW IV 1, S. 92, 3 [7] (März 1875): „Wolfs Gründe, weshalb man Aegypter, Hebräer Perser und andre Nationen des Orients nicht auf Einer Linie mit Griechen und Römern aufstellen darf: jene erhoben sich, gar nicht oder nur wenige Stufen über die Art von Bildung, welche man bürgerliche Policirung oder Civilisation, im Gegensatze höherer eigentlicher Geistescultur, nennen sollte'." Nietzsche zitiert aus Fr. Aug. Wolf, Kleine Schriften hg. durch G. Bernhardy, 2 Bde., Halle 1896 (die zwei Bände durchgehend numeriert), S. 817. KGW IV 1, S. 141, 194 f., 5 [15], 6 [49. 50] (Frühj ihr-Sommer 1875).
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Zarathustra vor Also sprach Zarathustra
beeinflußt gewesen sei, will sich Nietzsche in seiner Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen schon gefallen lassen, „wenn man uns nur nicht mit der Folgerung beschwert, daß die Philosophie somit in Griechenland nur importirt und nicht aus natürlichem heimischem Boden gewachsen sei", „Nichts ist thörichter — setzt Nietzsche seine Darstellung dieser geschichtlichen Frage fort — als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen, sie kamen gerade deshalb so weit, weil sie es verstanden den Speer von dort weiter zu schleudern, wo ihn ein anderes Volk liegen ließ". 5 Mit zwei anderen Fragmenten über die Perser aus den siebziger Jahren kann man diesen Uberblick abschließen; beide sind aus Anfang bis Frühjahr 1874 zu datieren: Perser: gut schiessen, gut reiten, nicht borgen und nicht lügen. Wie die Perser erzogen wurden: mit dem Bogen zu schiessen und die Wahrheit zu sagen.6
Wir wissen nicht, aus welcher Quelle Nietzsche beide Male über die Perser schreibt, er wird sich jedenfalls neun Jahre später daran erinnern, im ersten Teil von Also sprach Zarathustra·. „Wahrheit reden und gut mit Bogen und Pfeil verkehren" — so dünkte es jenem Volke zugleich lieb und schwer, aus dem mein Name kommt — der Name, welcher mir zugleich lieb und schwer ist.
2. In der Fröhlichen Wissenschaft Aph. 342, d.h. im letzten Aphorismus der ersten Ausgabe vom Jahre 1882, tritt die Gestalt des nietzscheschen Zarathustra zum ersten Mal öffentlich auf: Dieser Aphorismus ist fast identisch mit dem Anfang der „Vorrede" im Also sprach Zarathustra, der im darauffolgenden Jahre 1883 erscheinen wird. Doch findet sich Zarathustra in Nietzsches Aufzeichnungen schon ein ganzes Jahr vor Erscheinen der Fröhlichen Wissenschaft. Anfang August 1881 hatte Nietzsche den Entwurf über die „ewige
5 6
7
KGW III 2, S. 300. KGW III 4, S. 399, 32 [82] (Anfang 1874-Frühjahr 1874); S. 413, 34 [9] (FrühjahrSommer 1874). KGW VI 1, S. 71 („Von tausend und Einem Ziele").
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Zarathustra
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Wiederkunft des Gleichen" geschrieben; drei Wochen später, auf den Tag genau datiert: „Sils-Maria, 26. August 1881", taucht zum ersten Mal der Name Zarathustras auf, und zwar im Zusammenhang mit einem — von nun an in den nachgelassenden Fragmenten immer wiederkehrenden — Titel zu einem neuen Werk: Mittag und Ewigkeit. Es sind drei Fragmente. Im ersten8 lesen wir: Mittag und Ewigkeit Fingerzeige zu einem neuen Leben. Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta.
Zu vergleichen damit ist gerade der Anfang von Also sprach Zarathustra, somit auch der Anfang von Aphorismus 342 der Fröhliche Wissenschaft: „Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimath und den See Urmi [den See seiner Heimat] und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen nicht müde". Im engen Zusammenhang mit dem Titel Mittag und Ewigkeit steht das nächstfolgende Fragment: 9 Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte es ist eure Zeit, Ihr Mittagsbrüder!
Was heißt aber, daß die Sonne der Erkenntnis wieder einmal im Mittag steht? In jedem Ring des Menschendaseins gibt es immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge — es ist jedesmal für die Menschheit — so Nietzsche — die Stunde des Mittags. Der Gedanke selber besagt:10 Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder ungedreht werden und immer wieder auslaufen — eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden
KGW V 2, S. 417, 11 [195], KGW V 2, S. 417, 11 [196], Ό KGW V 2, S. 396, 11 [148],
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Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrtum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Das Werk, Mittag und Ewigkeit,
als Entwurf einer neuen Art zu
leben, wird von Nietzsche im dritten Fragment 11 beschrieben; es umfaßt vier Bücher: E r s t e s B u c h im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive natura·. „von der Entmenschlichung der Natur". Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des KRATOS, der „Macht". Z w e i t e s B u c h . Flüchtig-skeptisch-mephistophelisch. „Von der Einverleibung der £j^¿r««gen".Erkenntniss=Irrthum, der organisch wird und organisirt. D r i t t e s B u c h . Das Innigste und über den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: „vom letzten Glück des Einsamen" — das ist der, welcher aus dem „Zugehörigen" zum „Selbsteignen" des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene ego·, nur erst dies ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, giebt es etwas anderes als Liebe. V i e r t e s Buch. Dithyrambisch umfassend. trAnnulus aeternitatis." Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben. Am Schluß dieses Entwurfes dann das Datum: Sils-Maria, 26. August 1881. 3. Das einzige, was das Zarathustra-Fragment mit den zwei nächstfolgenden Fragmenten verbindet ist der Titel (Mittag und Ewigkeit) und der Untertitel (Fingerzeige zu einem neuen Leben), sonst taucht in diesem umfangreichen Heft der Name Zarathustra nicht mehr auf. Es ist deshalb nicht leicht, oder vielmehr es ist unmöglich, sich vorzustellen, auf welche Weise Nietzsche Zarathustra in das zitierte vierteilige Werk (das er dann doch nicht verfaßte) einbezogen hätte. Es ist zunächst ratsam, Zarathustra als eine Möglichkeit der Ausführung jenes Werks zu denken, zu der wir aber kaum mehr als eben diesen Namen kennen. Warum aber gerade Zarathustra? Die genaue Quelle, aus der Nietzsche diesen Namen übernahm,
11
KGW V 2, S. 417, 11 [197],
Zarathustra vor Also sprach /.i~athustra
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muß auch heute noch als unbekannt gelten. Eine Stelle aus Emersons Versuchen, die Nietzsche damals besonders intensiv las („ich habe mich nie in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefühlt . . . ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe", notierte er kurz nach den zitierten Fragmenten), würde ich als die vielleicht nächstliegende Anregung zum Gebrauch jenes Namens zitieren. Die Seite ist in Nietzsches eigenem Exemplar der Versuche mehrfach unterstrichen und angestrichen, und am Rande lesen wir noch seine Glosse: Das ist es! Emerson schreibt:12 Wir verlangen, daß ein Mensch so groß und säulenförmig in der Landschaft dastehe, daß es berichtet zu werden verdiente, w e n n er aufstünde und seine Lenden gürtete und einem anderen solchen O r t zueilte. D i e glaubwürdigsten Bilder scheinen uns die von großen Menschen zu sein, die bei ihrem ersten Erscheinen schon die O b e r h a n d hatten und die Sinne überführten; wie es dem morgenländischen Weisen erging, der gesandt war, die Verdienste des Zaratustra oder Zoroaster zu erproben. A l s der Weise von Y u n n a n in Balk ankam, s o erzählten uns die Perser, setzte G u s t a s p einen T a g an, an dem die M o b e d s eines jeden Landes sich versammeln sollten, und ein goldener Stuhl wurde für den Weisen aus Y u n n a n in Bereitschaft gehalten. Darauf trat der allgemein geliebte . . . Prophet Zaratustra in die Mitte der Versammlung. D e r Weise v o n Y u n n a n sagte, als er ihn erblickte: „ D i e s e Gestalt und dieser G a n g und H a l t u n g k ö n n e n nicht lügen, und nichts als Wahrheit kann daraus hervorgehen".
Nun aber zurück zu den drei Fragmenten. Sie lassen, insbesondere das erste und dritte, auf zwei verschiedene literarisch mögliche Konzeptionen des neuen von Nietzsche geplanten Werks schließen: ein Werk, das — in beiden Konzeptionen — der Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen gewidmet sein sollte. Daß das erste und das dritte Fragment literarisch unvereinbar sind erhellt schon aus der Nennung Prometheus' im dritten Fragment: dieses klassische Motiv hätte nicht zu einer Gestalt Zarathustra gepaßt. Die zwei verschiedenen Konzeptionen würde ich so beschreiben: Die eine hat zum Gegenstand das Leben eines Weisen, des Persers Zarathustra, welcher voraussichtlich selber die Lehre verkünden wird (vgl. das nächstfol-
12
R. W. Emerson, Versuche (Essays), Übers, von G. Fabricius, Hannover 1858. S. 361; vgl, dazu KSA 14, S. 279.
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gende Fragment), die andere, eine kosmisch-systematische, stellt sich als ein architektonischer Bau des Werkes dar, der — im vierten Buch — in der „Lehre" gipfelt (annulus aeternitatis); die eine wird als epische Erzählung, vielleicht schon als Rahmenerzählung zu Reden und Prophetien Zarathustras (vgl. noch einmal das zweite Fragment), gedacht, die andere ist eine philosophisch-symphonische Dichtung mit Satzbezeichnungen der Bücher: 1. Satz (oder 1. Buch): Chaos sive natura (im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie Beethovens); 2. Satz (oder 2. Buch): flüchtig-skeptisch-melancholisch; 3. Satz (oder 3. Buch): innig, über den Himmeln schwebend; 4. Satz (oder 4. Buch): dithyrambisch-umfassend. Die großen Hauptthemata der 4 Bücher (oder Sätze) haben alle ihre Entfaltung in den vorhergehenden Aufzeichnungen gefunden: Entmenschlichung der Natur (1. Buch); Einverleibung der Erfahrungen, Erkenntnis basiert auf dem Irrtum (2. Buch); Selbstherrlichkeit des ego in der höchsten Einsamkeit (3. Buch); ewige Wiederkunft des Gleichen und deren Bejahung (4. Buch). 4. Beide Konzeptionen, beide Möglichkeiten der literarischen Ausführung ein und desselben Inhalts bleiben also nebeneinander bestehen. Wir verfolgen die Spuren der ersten, d.h. der epischen Ausführung, die sich in Nietzsches späteren Heften finden lassen. Nachdem Nietzsche Sils-Maria verlassen hat, wird tatsächlich Zarathustra zum Protagonisten von Anekdoten (wie solchen aus dem Leben eines antiken Weisen, oder auch aus dem Leben Jesu in den Evangelien) in zwei genueser Heften aus dem Herbst 1881. Zu besserer Ubersicht werde ich diese Anekdoten und Sprüche numerieren. 13
13 FW = Die fröhliche Wissenschaft-, die Nachlaßfragmente alle in Bd. V 2 der KGW: 1 = 12 [131], Vorstufe zu FW 32; 2 - Vorstufe zu FW 68, vgl. KSA 14, S. 246; 3 = Vorstufe zu FW 106, vgl. KSA 14, S. 253; 4 = Vorstufe zu FW 291, vgl. KSA 14, S. 265; 5 = Vorstufe zu FW 332, vgl. KSA 14, S. 270; 6 - 12 [112], vgl. FW 236 und Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 1; 7 = 12 [128]; 8 = 12 [136]; 9 = 15 [50]; 10 - 15 [52], vgl. FW Scherz, List und Rache 45; 11 = Vorstufe zu FW 125, vgl. KSA 14, S. 256 f.; 12 = 12 [157]; 13 - 12 [225], Die Vorstufe zu FW 125 wurde zuerst von E. Biser, Die Proklamation von Gottes Tode, „Hochland" (56) 1963, S. 137152, veröffentlicht und kommentiert.
Zarathustra v o r Also sprach Zarathustra
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(1) Man brachte 2 Jünglinge zu Zarathustra, „dieser wird jede Sache mittelmäßig machen — dieser wird nicht wehethun wollen, er ist nicht heroisch-grausam genug." (2) Man zeigte Zarathustra einen Jüngling: siehe! sagte man, das ist einer, der durch die Weiber verdorben wird! Zarathustra schüttelte den Kopf und lächelte. „Die Männer sind es, rief er, welche die Weiber verderben: und alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüßt und gebessert werden, — denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde." — „ D u bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du kennst sie nicht!" Zarathustra antwortete: „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, — so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich ein hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Sein, die Weiber aber sind unschuldig in zweiten Grade: wer könnte für sie des Oels und der Milde genug haben." — Was Oel! Was Milde! rief ein Anderer aus der Menge; man muß die Weiber besser erziehen! — „Man muß die Männer besser erziehen," sagte Zarathustra und winkte dem Jüngling, daß er ihm folge. (3) „Ich habe Durst nach einem Meister der Tonkunst, sagte Zarathustra, daß er meine Gedanken mir ablerne und sie fürderhin in seiner Sprache rede: so werde ich den Menschen besser zu O h r und Herzen dringen. Mit Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte einen T o n zu widerlegen?" — „Also möchtest du für unwiderlegbar gelten?" sagte einer seiner Jünger. „Ich möchte, daß der Keim zum Baume werde. Damit eine Lehre zum Baume werde, muß sie eine gute Zeit geglaubt werden: damit sie geglaubt werde, muß sie für unwiderlegbar gelten. Dem Baume thun Stürme, Zweifel, Gewürm, Bosheit noth, damit er die Art und Kraft seines Keimes offenbar mache; mag er brechen, wenn er nicht' stark genug ist! Aber ein Keim wird immer nur vernichtet, — nicht widerlegt. [Hier folgen die gestrichenen Worte]: Ich habe Durst nach einer Musik, welche die Sprache der Morgenröthe spricht." Hier umarmte ihn eine seiner Schüler und rief — [Nach der Streichung, geht die endgültige Fassung weiter]: Als er dies gesagt hatte, rief der Jünger, der ihn gefragt hatte, mit Inbrunst: „ O h du mein wahrer Lehrer! Ich halte deine Sache für so stark, daß ich Alles Alles sagen werde, was ich gegen sie auf dem Herzen habe." Zarathustra lachte bei sich über diese Worte und zeigte mit dem Finger nach ihm: „Diese Art Jüngerschaft, sagte er dann, ist die beste, aber sie ist gefährlich und nicht jede Art Lehre verträgt sie". (4) Nachdem Zarathustra die Stadt ihre Landhäuser und Lustgärten und die Höhen und die bebüschten Hänge rings herum gesehen hatte,
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Z a r a t h u s t r a v o r Also sprach
Zarathustra
sagte er: diese Gegend ist mit den Abbildern vieler kühner Menschen übersät, ihre Häuser blicken uns wie Gesichter an — sie haben gelebtl — sie haben fortleben wollen! Sie waren dem Leben gut, obschon sie gegen sich selber oft böse waren. (5) Was liegt an mir, sagte Zarathustra, wenn man nicht auch meine schlechten Argumente glaubt! (6) „Wenn Zarathustra die Menge bewegen will, da muß er der Schauspieler seiner selber sein" „Zarathustra^ Müssiggang ist aller Laster Anfang" (7) Du widersprichst heute dem, was du gestern gelehrt hast — Aber dafür ist gestern nicht heute, sagte Zarathustra. (8) Wie vielen edlen und feinen Ziegen bin ich auf Reisen begegnet! sagte Zarathustra. (9) Freunde, sagte Zarathustra das ist eine neue Lehre und herbe Medizin, sie wird euch nicht schmecken. Macht es also, wie es kluge Kranke machen — trinkt sie in einem langen Zuge hinunter und schnell etwas Süßes und Würziges hinterdrein, das euren Gaumen wieder rein spüle und euer Gedächtniß betrüge. Die Wirkung wird trotzdem nicht ausbleiben: Denn ihr habt nunmehr „den Teufel im Leibe" — wie euch die Priester sagen werden, welche mir nicht hold sind. (10) „Du kommst zu früh!" — „du kommst zu spät" das ist das Geschrei, um alle die, welche für immer kommen, sagte Zarathustra. (11) Einmal zündete Zarathustra am hellen Vormittage eine Laterne an, lief auf den Markt und schrie: ich suche Gott! ich suche Gott! — Da dort gerade Viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagten die Einen. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagten die Anderen. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? — so schrien und lachten sie durcheinander. Zarathustra sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet — ich und ihr! wir alle sind seine Mörder. Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Ohne diese Linie — was wird nun noch unsere Baukunst sein! Werden unsere Häuser noch fürderhin fest stehn? Stehen wir selber noch fest? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten! — Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht
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und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? — auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß — es ist unter unseren Messern verblutet — wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser reinigen wir uns? Welche Sühnfeiern werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser That zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere That! — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte als alle Geschichte bisher war. Hier schwieg Zarathustra und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf Zarathustra seine Laterne auf den Boden daß sie erlosch und in Stücke zersprang. „Ich komme zu früh, sagte er, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereigniß ist noch unterwegs und wandert — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind. Diese That ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne — und doch haben sie dieselbe gethanl" Dazu gehört aus einem anderen Heft die Aufzeichnung: (12) Hier schwieg Zarathustra von Neuem und versank in tiefes Nachsinnen. Endlich sagte er wie träumend: „Oder hat er sich selber getötet? Waren wir nur seine Hände?" Z u m Schluß ist noch ein Titel zu erwähnen, der zugleich das letzte Zarathustra-Fragment aus dem Herbst 1881 enthält: (13) Zarathustra's Müssiggang. Von F. N. flüssig feurig glühend — aber hell: das letzte Buch — es soll majestätisch und selig einherrollen. — So sprach Zarathustra „Ich klage nicht an, ich will selbst die Ankläger nicht anklagen". 5. Die Texte, die wir zusammengestellt haben, sind der erste Versuch Nietzsches, zu einer literarischen Ausformung seiner in Sils entstandenen Gestalt zu gelangen. Es gibt noch ein Fragment aus dem Nachlaß jenes Genueser Herbstes, das uns Nietzsche in einer A r t
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Gegenüberstellung zu Zarathustra zeigt, dieses ist leider nicht zu Ende geschrieben worden: 14 Ich habe eine Herkunft — das ist der Stolz, entgegengesetzt der cupido gloriae. E s ist mir nicht fremd, daß Zarathustra . . .
Es handelt sich um die Vorstufe zu einem längeren abgeschlossenen Text, der sich ebenfalls in einem nachgelassenen Heft aus derselben Zeit befindet. Doch verliert hier die Nennung Zarathustras gewißermaßen an Bedeutung, da er zusammen mit anderen Größen der Geschichte erwähnt wird: 15 Im A l t e r t h u m hatte jeder höhere Mensch die Begierde nach dem Ruhme [cupido gloriae in der Vorstufe7 — das k a m daher, daß jeder mit sich die Menschheit anzufangen glaubte und sich genügend Breite und D a u e r nur so zu geben wußte, daß er sich in alle N a c h w e l t hinein dachte, als mitspielenden Tragöden der ewigen Bühne. Mein Stolz dagegen ist „ i c h habe eine Herkunft" — deshalb brauche ich den R u h m nicht. In dem was Zarathustra, Moses, M u h a m e d Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen k o m m t in mir erst reif an's Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte. Wir sind die ersten Aristokraten in der Geschichte des Geistes — der historische Sinn beginnt erst jetzt.
Auffallend ist die Tatsache, daß auch im vollendeten Fragment Zarathustra der erste Name in der durchaus nicht chronologischen Reihenfolge bleibt. Zu fragen wäre, ob die (vollendete) Vorstufe doch nur Zarathustra als Gegenstand gehabt hätte: hierzu ist aus offenbaren Gründen keine Antwort möglich. Die ganze Bedeutung des zweiten Fragments steckt im letzten Satz: „der historische Sinn beginnt erst jetzt". Es gibt in den Heften aus dem Herbst 1881 eine Kette von Gedanken über den historischen Sinn, die eigentümliche Tugend und Krankheit des gegenwärtigen Menschen; diese kulminieren dann im Aphorismus 337 der Fröhlichen Wissenschaft: hier wird der historische Sinn auf eine höhere Stufe erhoben, als Möglichkeit eines unerschöpflichen Reichtums, als göttliches Gefühl, dem schließlich der Name „Menschlichkeit" zukommt. Der Mensch dieses Gefühls ist der Mensch „als der Erbe 14 15
KGW V 2, S. 488, 12 [79], KGW V 2, S. 540, 15 [17].
Zarathustra vor Also sprach Zarathustra
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aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte". Nun sind die Jahrtausende vor und hinter dem Menschen durch den uns bekannten, hier nicht ausgesprochenen Gedanken der ewigen Wiederkunft aneinander geschmiedet; die Seele, in welcher nach Nietzsches Aussage „Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit" zusammengedrängt werden, wird erst möglich in der Stunde des Mittags, der Bejahung der kreisförmigen Bewegung der Geschichte. So ist vielleicht an die Einverleibung der Grundirrtümer, der Leidenschaften, des Wissens zu denken, die Nietzsche im allerersten Entwurf zur Wiederkunft des Gleichen als Konsequenz der Leidenschaft der Erkenntnis postuliert.16 Diesem Allem gegenüber gibt es aber eine andere Wahrheit, oder vielmehr die Wahrheit. Diese Wahrheit setzt sich der Vermenschlichung der Natur entgegen, sie gründet im anorganischen, im Toten: das Leben ist ja ein Sonderfall des Toten, des Anorganischen. Der großartige Versuch, das Chaos sive natura zu beschreiben, findet im Aphorismus 109 der Fröhlichen Wissenschaft (demselben Aphorismus, der Gottfried Benn seiner Zeit faszinierte) seinen vollendeten Ausdruck, und die Aufzeichnungen zu diesem Aphorismus sind gleichzeitig mit denen zur ewigen Wiederkunft entstanden. „Der Gesammtcharakter der Welt i s t . . . in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen", heißt es hier; und wenn von Noth-Wendigkeit die Rede ist, so muß man dazu einen der nächsten Sätze lesen: „ . . . das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf" — ewige Wiederholung, ewige Wiederkunft: zum zweiten Mal, an entscheidender Stelle, spielt Nietzsche auf seinen Engadiner Hauptgedanken an. Die Lehre der Wiederkunft bewirkt in einer Welt nach Gottes Tode einerseits die Entmenschlichung der Natur, als Chaos (nicht mehr Deusl, wie bei Spinoza) sive Natura, andererseits aber die Verewigung und Vernatürlichung
16
KGW V 2, S. 392 ff., 11 [141].
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des Menschen in jener „Menschlichkeit" des historischen Sinnes: der Name dafür wird später der Übermensch sein. Das wird im Nachlaß aus dem Silser August-September 1881 sehr deutlich ausgesagt: im Kreislauf der ewigen Wiederkunft des Gleichen kommt „der höchste Grad von Unvernunft ebenso wohl vor wie das Gegentheil"; nur sind „Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit keine Prädikate für das All",17 wohl aber sind sie es für die Menschenwelt. 6. Aus der Sammlung von Anekdoten und Sprüchen Zarathustras vom Herbst 1881 wird keine epische Erzählung, kurz darauf schreibt Nietzsche ein neues Aphorismenbuch, das er zunächst als Fortsetzung der Morgenröte konzipiert, dann aber mit einem selbständigen Titel, Die fröhliche Wissenschaft, versieht. So wird der Name Zarathustra aus den von mir gesammelten Aufzeichnungen gestrichen und durch Ausdrücke wie „ein weiser Mann" (FW 68), „ein Neuerer" (FW 106), „jeder Philosoph" (FW 332), „ein Philosoph welcher die Jugend verdarb wie Sokrates" (FW 32), „ein toller Mensch" (FW 125) ersetzt. Sonst werden die Sprüche anonym. Nietzsche verzichtet somit auf sein „episches" Projekt, wie aber auch auf einen architektonisch-symphonischen Aufbau eines Werkes in vier Büchern, den er gleichzeitig, am 26. August 1881 in SilsMaria, mit jenem epischen Ansatz entwarf. Er schreibt das fünfte Aphorismenbuch in der mit Menschliches, Allzumenschliches (1876/78) angefangenen Reihe, das auch das letzte vor der philosophischen Dichtung Also sprach Zarathustra sein wird. „Mit diesem Buche kommt jene Reihe von Schriften zum Abschluß, die mit Menschlichem, Allzumenschlichem beginnt: in allen zusammen soll ,ein neues Bild und Ideal des Freigeistes' aufgerichtet sein", schreibt Nietzsche einige Monate später an seine neue Freundin Lou von Salomé.18 Von Standpunkt der literarischen Ausführung aus entschloß sich dann Nietzsche für jene epische, sehr lose Rahmenerzählung, so wie wir sie aus Also sprach Zarathustra kennen.
17
K G W V 2, S. 400, 11 [157],
18
An Lou von Salomé, 27./28. Juni 1882, KGB III 1, S. 213.
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O b der Zarathustra im Also sprach Zarathustra derselbe ist wie der vor Also sprach Zarathustra, muß bezweifelt werden. Der SilserGenueser Zarathustra war in einer Zeit entstanden, da Nietzsche sich eine durch physische Schmerzen und Entbehrungen, aber auch durch tiefe, erhebende Erlebnisse der Erkenntnis verklärte Einsamkeit — fern von Verwandten, Bekannten und Freunden (Oktober 1880 bis Januar 1882) — erobert hatte. Was im Frühjahr 1882 kam, war Rückkehr zu den Menschen, mit einer neuen überschwänglichen Hoffnung auf Jünger, auf die Jüngerin Lou. Das aus Emerson entnommene Motto für die Fröhliche Wissenschaft ist die menschenvertrauende, glückliche Krönung jener ersten Zarathustra-Zeit:19 D e m D i c h t e r und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.
Sehr bald mußte — im Herbst/Winter 1882/1883 — diese Preisgabe der philosophischen Einsamkeit in Verzweiflungs- ja Selbstmordgedanken enden. Daß das hier alles entscheidende, sogenannte LouErlebnis, mit seiner nie verwundenen Enttäuschung über sich selber und Lou, Nietzsche jedoch erst zu seinem Also sprach Zarathustra reif machte, müssen wir seinen unzweideutigen Aussagen glauben. Doch wer die erhabene, mutige Simmung der Leidenschaft der Erkenntnis kennt, die in den Aufzeichnungen aus dem Silser Sommer 1881 und dem Genueser Herbst/Winter 1881/82 waltet, wird sich einer unheimlichen Verbitterung und Verdüsterung bei der Lektüre der Hefte bewußt, die Nietzsche in Rapallo mit den Vorstufen zu Also sprach Zarathustra beschrieb. Briefentwürfe und -fragmente an Lou, Paul Ree, Overbeck, die Verwandten und andere Bekannte und Freunde, die bald wie Hilferufe, bald wie Anklagen lauten, sind mit Zarathustra-Entwürfen chaotisch vermischt. Nietzsche versucht hier, aus dem Kot seiner Erlebnisse doch noch Gold zu machen. Nicht die grundlegenden Gedanken seiner Philosophie wurden dadurch tangiert, gewiß aber die Art und Weise, mit der sie Nietzsche durch Zarathustra mitteilte. Der Zarathustra vor jenen Erlebnissen genoß seine erhabene, freiwillige Einsamkeit, der Zarathustra danach wollte eine von neuem aufgezwunge Einsamkeit überschreien. 19
KGW V 2, S. 21.
Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
1. Zwei Betrachtungsweisen von Nietzsches Nachlaß sind möglich. Die eine versteht das Ganze der handschriftlichen Aufzeichnungen — abgesehen von ihrer Verwendung im Werk — als den werdenden, mehr oder weniger einheitlichen Ausdruck von Nietzsches Denken. Die andere hebt Nietzsches literarische Absichten, d. h. seine Veröffentlichungspläne hervor, insofern sie ausgeführt wurden: Sie sucht deshalb nach den Vorstufen seines Werkes und bemüht sich, dessen Werdegang zu rekonstruieren. Was von Nietzsche in sein Werk aufgenommen, was einfach verworfen oder aber im Blick auf spätere Verwendung zurückgelegt, was schließlich nicht benutzt wurde und warum — das alles versucht diese andere Betrachtungsweise der uns erhaltenen Aufzeichnungen Nietzsches zu eruieren. Beide Weisen müssen einander ergänzen in einer Gesamtdeutung von Nietzsches Denken. Die zweite jedoch ist die eigentliche Weise der kritischen Ausgabe, deren Ziel es ist, mit „technischen" Mitteln die Differenziertheit der Aufzeichnungen in ihrem Verhältnis zu den veröffentlichten Werken bzw. fertig hinterlassenen Schriften widerzuspiegeln. Dies geschieht durch die Veröffentlichung der verworfenen oder unbenutzt gebliebenen Aufzeichnungen im Nachlaß und die Auswertung der Vorstufen zum Werk im kritischen Apparat. 2. Wenn wir vom „Willen zur Macht" sprechen, so beziehen wir uns zunächst auf einen philosophischen Lehrsatz, sodann auf ein literarisches Projekt Nietzsches, endlich aber auch auf die unter diesem Titel bekannte Kompilation aus dem Nachlaß, die 1906 in ihrer endgültigen, zum Teil auch heute noch kanonischen Form erschien, herausgegeben von Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) und Elisabeth
Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
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Förster-Nietzsche, der Schwester des Philosophen. Die begriffliche Bestimmung des „Willens zur Macht" war seit 1880 durch die Reflexionen über das „Gefühl der Macht"vorbereitet, die ihren Niederschlag in der Morgenröte (Frühjahr 1881) und in nachgelassenen Fragmenten aus dem Sommer/Herbst 1880 fanden. Im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra, und zwar im Kapitel Von der SelbstUberwindung, niedergeschrieben im Sommer 1883, finden wir die erste ausführliche Beschreibung vom Willen zur Macht: Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein [ . . . ] Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. „Siehe, sprach es, ich bin das was sich immer selber überwinden muss [ . . . ] Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füssen deines Willens zur Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ,Willen zum Dasein': diesen Willen giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern [ . . . ] Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet — der Wille zur Macht!" Ein Sentenzenbuch vom Herbst 1882 bringt als ersten Spruch: Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht. 3. Behalten wir die Hauptzüge dieser Charakterisierung des Willens zur Macht im Auge, die für Nietzsche bis zuletzt gültig bleibt: der Wille zur Macht ist der „unerschöpfte, zeugende Lebens-Wille", er ist der „Wille, Herr zu sein", er ist Nietzsches „Wort vom Leben und von der A r t alles Lebendigen", er ist das Leben selber. Dieser Wille zur Macht ist kein metaphysisches Prinzip wie der Schopenhauersche Wille zum Dasein oder zum Leben, er „erscheint" nicht, sondern er ist ganz einfach eine andere Art, „Leben" zu sagen, „Leben" zu bezeichnen; das Leben ist somit „das, was sich immer selber überwinden muß", Spannung zwischen Stärkerem und Schwächerem: das Kleinere gibt sich dem Größeren hin, „daß es Lust und Macht am Kleinsten habe", aber auch das Größte gibt sich hin und „setzt um der Macht willen — das Leben dran". Und auch der Wille
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Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
zur Wahrheit — das, was Nietzsche zur Zeit der Morgenröte „Leidenschaft der Erkenntnis" nannte — ist, als „Wille zur Denkbarkeit alles Seienden", das sich den „Weisesten" „fügen und biegen" soll, als „Spiegel und Widerbild" des Geistes: Wille zur Macht. Was „vom Volke als gut und böse geglaubt wird", verrät den „alten Willen zur Macht", den Schöpfer der Werte. 4. Wir wenden jetzt unsere Aufmerksamkeit der Entstehung von Nietzsches literarischem Projekt zu, ein Werk unter dem Titel „Der Wille zur Macht" zu schreiben. Dieser Titel taucht zum erstenmal in seinen Manuskripten vom Spätsommer 1885 auf. Er ist gleichsam vorbereitet durch eine Reihe von Aufzeichnungen vom Frühjahr desselben Jahres an. Selbstverständlich findet man das Thema des Willens zur Macht auch in früheren Manuskripten (ab 1880), wie auch dieses Thema in den erwähnten Manuskripten vom Jahre 1885 nicht allein besteht. Der historische Sinn, die Erkenntnis als Fälschung zur Ermöglichung des Lebens, die Kritik der modernen moralischen Tartufferie, der Philosoph als Gesetzgeber und Versucher neuer Möglichkeiten, die sogenannte „große Politik", die Charakterisierung des „guten Europäers": all diese Themen und andere mehr finden wir in den Heften und Notizbüchern aus dieser Zeit ausgeführt. Nietzsches Nachlaß gibt sich auch in diesem Falle als das, was er im wesentlichen ist: ein intellektuelles Tagebuch, in das all die Versuche der theoretischen Ausarbeitung von Intuitionen und Begriffen, die Lektüre (oft in Gestalt von Exzerpten), Briefentwürfe, Pläne und Titel von beabsichtigten Schriften niedergeschrieben werden. Wichtig ist dabei, daß man den Versuchscharakter dieser Aufzeichnungen, ihre Komplexität, vor allem ihre Komplexivität, ihre Gesamtheit nicht aus dem Auge verliert. 5. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang ein Titel, der in die Zeit unmittelbar vor der Abfassung des vierten Teils von Also sprach Zarathustra zu datieren ist. In einem Heft vom Sommer/Herbst 1884 heißt es: Philosophie der ewigen
Wiederkunft
Ein Versuch der Umwerthung aller Werthe
N i e t z s c h e s N a c h l a ß v o n 1885 bis 1888 o d e r T e x t k r i t i k u n d Wille z u r M a c h t
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Die Vorrede zur „Philosophie der ewigen Wiederkunit", unter dem Titel „ D i e neue Rangordnung" bzw. „von der Rangordnung des Geistes", ist „ i m Gegensatz zur Moral der Gleichheit" entworfen. Nietzsche spricht hierin von „Rangordnung der WertheSchaffenden (in Bezug auf das Werthesetzen)" — das sind: die Künstler, die Philosophen, die Gesetzgeber, die Religionsstifter, die „höchsten Menschen" (als „Erd-Regierer" und „Zukunfts-Schöpfer", die zuletzt sich selber „zerbrechen"). Alle werden als „mißrathen" aufgefaßt (unverkennbar wird hier das Leitmotiv vom vierten Zarathustra präludiert). Diese Vorrede kulminiert in der Beschreibung der „dionysischen Weisheit": Die höchste Kraft, alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig (ewig — wiederholenswerth) zu fühlen aus einem Uberdrange der schöpferischen Kraft, welche immer wieder zerbrechen muß und die übermüthigsten schwersten Wege wählt (Princip der größtmöglichen Dummheit, Gott als Teufel und Ubermuth-Symbol) Der bisherige Mensch als Embryon, in dem sich alle gestaltenden Mächte drängen — Grund seiner tiefen Unruhe
Wenige Seiten später entwickelt Nietzsche eine Problematik des Willens zur Macht: der Wille zur Macht in den Funktionen des Organischen, im Verhältnis zu Lust und Unlust, im sogenannten Altruismus (Mutterliebe und Geschlechtsliebe), als vorhanden auch in der unorganischen Materie. Es folgt der Entwurf der eigentlichen Philosophie der ewigen Wiederkunft, in dem nacheinander die Lehrsätze von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, von der Umwertung aller Werte und vom Willen zur Macht in Verbindung gesetzt werden. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist der „schwerste Gedanke"; um ihn zu ertragen, tut eine „Umwertung aller Werte" not; worin aber besteht diese? daß man — so lautet Nietzsches Antwort — nicht mehr Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit hat, daß man nicht mehr „Ursache und W i r k u n g " sieht, sondern das „beständig Schöpferische", daß man anstelle des Willens der Erhaltung den „Willen der M a c h t " setzt, daß man nicht mehr demütig sagt: „es ist alles nur subjektiv", sondern „es ist auch unser Werk, seien wir stolz darauf!" Die Vorrede zur Philosophie der ewigen Wiederkunft kommt dann wieder unter anderen Titeln vor (die wichtigsten sind: „ D i e
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Nietzsches Nachlaß v o n 1885 bis 1888 oder Textkritik und W i l l e zur Macht
neue Aufklärung" und , Jenseits von Gut und Böse"), bis sie selbst zum Untertitel wird und einen neuen Haupttitel erhält: „Mittag und Ewigkeit./Eine Philosophie der ewigen Wiederkunft". Von „Umwertung aller Werte" wird lange Zeit keine Rede mehr in Nietzsches Büchertiteln sein. „Neue Aufklärung" und „Jenseits von Gut und Böse" werden wenig später zu Hauptstücken eines neuen Plans, unter dem Haupttitel: „Die ewige Wiederkunft./Eine Wahrsagung". Am Schluß dieses Plans steht das Hauptstück über die Wiederkunft, und zwar unter dem Titel „Der Hammer und der große Mittag". 6. Die Vollendung des Zarathustra durch Veröffentlichung (Anfang 1885) eines vierten Teils auf Nietzsches eigene Kosten war eine durch und durch private Tat. Dieser letzte Teil erschien in nur 40 Exemplaren, von denen eine kleine Anzahl engeren Freunden und Bekannten zukam — um Nietzsche war es immer stiller geworden. Seit 1884 war er in einen langwierigen Kampf um seine Bücher und einen Teil seines kleinen Vermögens mit dem Verleger Ernst Schmeitzner verwickelt. Noch im Herbst 1884 hegte Nietzsche den Plan, als Dichter an die Öffentlichkeit zu treten — Zeugnis davon: ein bisher unbekannter Briefentwurf an Julius Rodenberg, den Redakteur der „Deutschen Rundschau". Die Jahre 1885 und 1886 sind gekennzeichnet durch Nietzsches wiederholte Versuche, einen Verleger zu finden, der dazu bereit gewesen wäre, sowohl die noch vorhandenen Bestände seiner früheren Werke von Ernst Schmeitzner zu kaufen als auch seine neuen Schriften zu drucken. Die Lösung wurde erst im Sommer 1886 gefunden: Sein allererster Verleger, Ernst Wilhelm Fritzsch, kaufte die früheren Schriften, von der Geburt der Tragödie bis zum dritten Zarathustra, Schmeitzner ab, und Nietzsche entschloß sich, seine neuen Schriften auf eigene Kosten beim Drucker Constantin Georg Naumann in Leipzig erscheinen zu lassen. Diese Sorgen um das eigene Werk dürfen bei einer Beurteilung der verschiedenen literarischen Pläne, denen man so häufig in Nietzsches Manuskripten aus dieser Zeit begegnet, nicht vergessen, wenn auch nicht überschätzt werden. Unter dem Gesichtspunkt einer Rückkehr in die Öffentlichkeit soll meines Erachtens der breitangelegte Versuch einer Umarbeitung von Menschliches, Allzumenschliches begriffen werden, den Nietzsche im Frühjahr und Som-
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mer 1885 unternahm. Dieselbe Richtung in die Öffentlichkeit zeigen die kurz voran-, dann auch parallelgehenden Entwürfe, in denen Nietzsche sich an die Deutschen bzw. an die „guten Europäer" wendet. Nicht zu übersehen sind auch die fortwährenden Pläne eines neuen Zarathustra-Werks (meistens unter dem Titel „Mittag und Ewigkeit"). Abgesehen von den evidenten Umarbeitungen der Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches wäre es jedoch falsch, die Fülle der Aufzeichnungen unter die betreffenden Pläne zu teilen und zu subsumieren: Das Gegenteil ist richtig, d. h. Nietzsche kommt im Laufe seiner Reflexionen zu bestimmten Titeln und Entwürfen, welche nun, sozusagen gleichberechtigt, das Ganze seiner Notizen betreffen, jeweils unter einem anderen literarischen (aber auch philosophischen) Standpunkt. Die Pläne wechseln miteinander, lösen einander ab, beleuchten jeweils das Ganze der Aufzeichnungen von einer bestimmten Absicht Nietzsches aus. Das Einheitliche, wenn auch nicht Systematische im überkommenen Sinne, von Nietzsches Versuch erhellt aus der Gesamtheit des Nachlasses, welcher schon deshalb in seiner wirklichen, unsystematisierten Gestalt bekannt werden muß. 7. Die Fragmente, in ihrem scheinbaren Chaos nacheinander gelesen, so wie sie Nietzsche niederschrieb, gewähren somit aufschlußreiche Einblicke in die Bewegung seines Denkens; die hier und da verstreuten Pläne dienen gleichsam zur periodischen Rast, zur Besinnung inmitten der Spannung, die sich auf den Leser überträgt, indem er das Werden von Nietzsches Denken, sein labyrinthisches Kreisen (nach einem treffenden Wort Eckhard Heftrichs) verfolgt. Der Gedanke, den man als Träger der Aufzeichnungen aus dieser Zeit bezeichnen darf, ist der der „ewigen Wiederkunft", und die Häufigkeit der Zarathustra-Pläne (die alle nicht zur Ausführung kamen) bedeutet ebenfalls die Zentralität jenes Gedankens, als dessen Verkünder Zarathustra — im dritten Teil von Also sprach Zarathustra (Anfang 1884) — schon aufgetreten war. Wenn wir in einem Heft aus dem Sommer 1885 lesen: „Zarathustra kann nur beglücken, nachdem die Rangordnung hergestellt wird. Zunächst wird diese gelehrt", so dürfen wir diesen Satz dahin interpretieren, daß der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen erst dann beglücken kann, wenn die
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Rangordnung hergestellt ist: so verstehen wir auch, warum in dem erwähnten Entwurf vom Sommer 1884 die „Philosophie der ewigen Wiederkunft" als Versuch einer Umwertung aller Werte durch eine Vorrede über die neue Rangordnung, die Rangordnung des Geistes, eingeleitet wird. Auch während der Umarbeitung von Menschliches, Allzumenschliches finden wir inmitten der Notizen als eine weitere Chiffre der ewigen Wiederkunft die „Philosophie des Dionysos". Der Versuch mit dem Buch für freie Geister scheiterte: Aus der fleissigen Arbeit jenes Sommers entstanden später zahlreiche Aphorismen zu Jenseits von Gut und Böse — insbesondere die, in denen der Versucher-Gott Dionysos sich zu Worte meldet. Aus diesem selben Material stammt — wie wir beiläufig bemerken wollen — der letzte Aphorismus (Nr. 1067) in der Kompilation von Elisabeth FörsterNietzsche und Heinrich Köselitz. Doch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Umwertung aller Werte und der ewigen Wiederkunft begegnen wir dem Entwurf, in dem zum erstenmal der Wille zur Macht als Titel eines von Nietzsche geplanten Werkes vorkommt. Dieser Titel heißt in einen Notizbuch aus dem August 1885: Der Wille zur Macht Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. Von Friedrich Nietzsche.
Es handelt sich um eine Akzentverschiebung: Auf den Willen zur Macht als letzte feststellbare Tatsache führt Nietzsche in den darauffolgenden Aufzeichnungen zurück: Ernährung, Zeugung, Anpassung, Vererbung, Arbeitsteilung. Der Wille zur Wahrheit ist eine Form des Willens zur Macht, so wie der Wille zur Gerechtigkeit, der Wille zur Schönheit, der Wille zum Helfen es sind. Zu diesem Entwurf gehören eine Vorrede und eine Einleitung. In der Vorrede wird die neue Auslegung umrissen: Wie naiv tragen wir unsere moralischen Werthschätzungen in die Dinge, ζ. B. wenn wir von Naturgesetzen reden! Es möchte nützlich sein, einmal den Versuch einer völlig verschiedenen Ausdeutungsweise zu machen: damit durch einen erbitterten Widerspruch begriffen wer-
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de, wie sehr unbewußt unser moralischer Kanon (Vorzug von Wahrheit, Gesetz, Vernünftigkeit usw.) in unserer ganzen sogenannten Wissenschaft regirt. Populär ausgedrückt: Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht: und alle göttlichen Funktionen gehören mit hinein in sein Wesen: das Umgekehrte gieng nicht! Und in der Einleitung lesen wir Gedanken, die die ganze Problematik von dem antizipieren, was Nietzsche später als Nihilismus bezeichnen wird: Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr, die Abrechnung über Lust und Unlust, und ob vielleicht das menschliche Leben einen Überschuß von Unlustgefühlen mit sich bringt. Sondern die Sinnlosigkeit alles Geschehens! Die moralische Auslegung ist zugleich mit der religiösen Auslegung hinfällig geworden: das wissen sie freilich nicht die Oberflächlichen! Instinktiv halten sie, je unfrommer sie sind, mit den Zähnen an den moralischen Werthschätzungen fest. Schopenhauer als Atheist hat einen Fluch gegen den ausgesprochen, der die Welt der moralischen Bedeutsamkeit entkleidet. In England bemüht man sich, Moral und Physik zu verbrüdern, Herr von Hartmann Moral und die Unvernünftigkeit des Daseins. Aber die eigentliche große Angst ist: die Welt hat keinen Sinn mehr. Inwiefern mit „Gott" auch die bisherige Moral weggefallen ist: sie hielten sich gegenseitig. Nun bringe ich eine neue Auslegung, eine „unmoralische", im Verhältnis zu der unsere bisherige Moral als Spezialfall erscheint. Populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel nicht. (Bemerken wir es nebenbei: Diese beiden Fragmente wurden nicht in die Kompilation aufgenommen!) 8. Im nächstfolgenden Heft finden wir eine Disposition, in die das Motiv der Sinnlosigkeit schon aufgenommen ist; sie hat einen systematischen, sehr allgemeinen Charakter, in einer Art, wie Nietzsche nie seine Bücher geschrieben hat: Der Wille zur Macht Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. (Vorrede über die drohende „Sinnlosigkeit". Problem des Pessimismus) Logik. Physik. Moral. Kunst. Politik.
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Bemerkenswert ist hierbei die bewußte Opposition zu Schopenhauers pessimistischer Metaphysik, die ihren Anfang schon in der zu Beginn unserer Betrachtungen zitierten Zarathustra-Stelle hatte, als Nietzsche den Willen zur Macht dem Willen zum Leben entgegenstellte. Nun geht es um eine Auslegung, die nach Nietzsche keine Erklärung ist. Die Auseinandersetzung mit Gustav Teichmüller und Afrikan Spir bzw. mit ihren Büchern „Die wirkliche und die scheinbare Welt" (1882) und „Denken und Wirklichkeit" (1877) ist Bestandteil von Nietzsches erkenntnistheoretischen Meditationen, die sich alle gegen eine Geringschätzung der sogenannten Erscheinungswelt richten, als Wurzel des Pessimismus. „Die Welt des Denkens nur ein zweiter Grad der Erscheinungswelt" notiert sich Nietzsche noch einmal unter einem identisch formulierten Entwurf vom Willen zur Macht als „neue Auslegung alles Geschehens", und gegen das Wort „Erscheinungen" selbst nimmt er Stellung wie folgt: Schein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, — das, dem alle vorhandenen Prädikate erst zukommen und welches verhältnismäßig am besten noch mit allen, also auch mit den entgegengesetzten Prädikaten zu bezeichnen ist. Mit dem Worte ist aber nichts weiter ausgedrückt als seine Unzugänglichkeit für die logischen Prozeduren und Distinktionen: also „Schein" im Verhältnis zur „logischen Wahrheit" — welche aber selber nur an einer imaginären Welt möglich ist. Ich setze also nicht „Schein" in Gegensatz zur „Realität" sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative „Wahrheitswelt" widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre „der Wille zur Macht", nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.
(Auch dieses Fragment wurde von den Kompilatoren nicht für würdig gehalten, in ihr Machwerk aufgenommen zu werden!) 9. Eine gewisse Zeit lang wird der Titel „Der Wille zur Macht" als neue Auslegung alles Geschehens gleichberechtigt neben anderen Titeln bestehen, von denen der bedeutendste „Mittag und Ewigkeit" (als „Zarathustra-Werk") bleibt. Auch die Entwürfe eines Vorspiels der Philosophie der Zukunft als vorbereitendes Werk fehlen in dieser Zeit (Sommer 1885 bis Sommer 1886) nicht. Der häufigste Titel hierzu ist „Jenseits von Gut und Böse", zu dem Nietzsche ein
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Druckmanuskript im Winter 1885/86 fertigte. Halten wir also an der Tatsache fest, daß „Jenseits von Gut und Böse" als parallellaufender Plan zu anderen Werken („Der Wille zur Macht" und „Mittag und Ewigkeit") konzipiert wurde. In einem wichtigen Manuskript, das die meisten Reinschriften zu Jenseits enthält, findet sich ein Plan unter der Aufschrift „Die Titel von 10 neuen Büchern", der von Nietzsche „Frühling 1886" datiert ist. Die Titel werden in dieser Reihenfolge aufgezeichnet: 1. „Gedanken über die alten Griechen", 2. „Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Welt-Auslegung", 3. „Die Künstler. Hintergedanken eines Psychologen", 4. „Wir Gottlosen", 5. „Mittag und Ewigkeit", 6., Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft", 7. „Gai Saber. Lieder des Prinzen Vogelfrei", 8. „Musik", 9. „Erfahrungen eines Schriftgelehrten", 10. „Zur Geschichte der modernen Verdüsterung". Eine ins Einzelne gehende Prüfung dieser Titel würde uns zu weit führen und weg von unserem Hauptanliegen; begnügen wir uns mit der Feststellung, daß zu jedem dieser Titel eine bestimmte Reihe von Notizen in den Manuskripten vorhanden ist, daß vielmehr durch jeden dieser Titel frühere Aufzeichnungen unter ein bestimmtes Licht gestellt werden, so wie die Titel selber mit ihrer Betonung einiger besonderer Themen den Ausgang zu weiteren Ausführungen bilden (etwa, um nur ein Beispiel anzuführen, die „Geschichte der modernen Verdüsterung", die Nietzsche einige Seiten weiter beschreibt: der Niedergang der Familie, der gute Mensch als Symptom der Erschöpfung, Geilheit und Neurose, die „schwarze Musik", die nordische Unnatürlichkeit — Stichworte einer Aufzeichnung über die moderne Verdüsterung). Ein Titel bezieht sich sogar auf ein schon fertiges Druckmanuskript („Jenseits von Gut und Böse"), und die späteren Lieder des Prinzen Vogelfrei waren seit Herbst 1884 (z. T. seit 1882) abgefaßt. Nietzsche abzukanzeln, weil er nicht bei diesem Plan blieb, sondern sich „im Kampf mit einem systematischen Hauptwerk verzehrte" — wie es Erich F. Podach 1963 in seinem Blick in Notizbücher Nietzsches tat —, scheint uns ein merkwürdig ungerechtes Ansinnen Nietzsche gegenüber. Zum einen geht Podach die Einsicht in die wirkliche Bedeutung der Entwürfe, Dispositionen, Pläne und Titel ab, welche man als durchaus provisorische, nicht auf immer verbindliche Uberblicke über das vorhandene Material und Ausblicke zu weiteren Pro-
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jekten zu betrachten hat, zumal sie selber meistens Fragmente sind, die eine bestimmte Aussage Nietzsches verdeutlichen und erst innerhalb der gesamten werdenden Masse der Aufzeichnungen verständlich sind. (Deshalb gehören sie in den Text einer kritischen Ausgabe.) Zum anderen wird von Podach ein Kampf mit einem Hauptwerk postuliert, der nie stattgefunden hat: Nietzsches Nachlaß stellt im Ganzen einen Versuch dar; dieser Versuch wurde durch die Krankheit abgebrochen. Zu behaupten, daß dadurch Nietzsches Lebenswerk unvollendet geblieben ist, ist, wie wir bald sehen werden, beinahe eine Naivität, verursacht durch den mehr als dubiosen Begriff „Hauptwerk". 10. Einige Wochen später — inzwischen war Jenseits von Gut und Böse erschienen — verfaßte Nietzsche einen neuen Entwurf; er datierte ihn „Sils-Maria, Sommer 1886". Der Entwurf lautete: Der Wille zur Macht Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern. Erstes Buch:
Zweites Buch: Drittes Buch:
Viertes Buch:
die Gefahr der Gefahren (Darstellung des Nihilismus) (als der nothwendigen Consequenz der bisherigen Werthschätzungen) Kritik der Werthe (der Logik usw.) das Problem des Gesetzgebers (darin die Geschichte der Einsamkeit) Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen? Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln. der Hammer ihr Mittel zu ihrer Aufgabe
Darstellung der Gefahr der Gefahren, d. h. „daß alles keinen Sinn hat", d. h. des Nihilismus, Kritik der bisherigen Werte und der Kultur, Umwertung der Werte als Problem des Gesetzgebers, endlich: die ewige Wiederkunft des Gleichen als Hammer, als eine Lehre, „welche durch Entfesslung des todtsüchtigsten Pessimismus eine Auslese der Lebensfähigsten bewirkt": Diese vier Momente werden von Nietzsche in den zahlreichen darauffolgenden Ausführungen va-
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riiert. Nihilismus, Kritik der Werte, Umwertung der Werte im Sinne des Willens zur Macht, ewige Wiederkunft: wir finden hier noch einmal Motive, die uns aus früheren Notizen bekannt waren. Allerdings sind sie nun verdeutlicht, und zwar gerade durch die Viergliederung des Werkes, die ihrerseits den Gang der folgenden Reflexionen bestimmt. Zu bemerken ist auch, daß Nietzsche auf den Untertitel der „Philosophie der ewigen Wiederkunft" aus dem Jahre 1884 zurückgreift. Von diesem Zeitpunkt an ist man berechtigt, von einem in vier Büchern geplanten Werk zu sprechen, das Nietzsche unter dem Titel „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe" veröffentlichen wollte. Er kündigt es auf der vierten Umschlagseite des Jenseits (Sommer 1886) an, und nach einem Jahr weist er darauf hin im Text der Genealogie (Sommer 1887). Jenseits von Gut und Böse löst sich auf gar keine Weise (wie die Kompilatoren des „Willens zur Macht" behaupten) vom „Willen zur Macht" ab, sondern es ist nichts weiter als die Zusammenstellung alles dessen, was Nietzsche aus dem Material der Zarathustra-Zeit (18811885) und des darauffolgenden Versuchs einer Umarbeitung von Menschliches, Allzumenschliches, als Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, für mitteilenswert hielt. Dieses Vorspiel wurde, wie gesagt, im Winter 1885/86 druckfertig gemacht. Auch die Vorreden und die verschiedenen Ergänzungen zu den neuen Auflagen von Geburt der Tragödie, Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröte, Fröhliche Wissenschaft, zwischen Sommer 1886 und Frühjahr 1887 abgefaßt, stammen aus Aufzeichnungen, die Nietzsche zu eben jenem literarischen Zweck einer Neuauflage niederschrieb . Sie lösen sich ebenfalls nicht aus einer angeblich zum „Willen zur Macht" bestimmten Sammlung von Aufzeichnungen. Natürlich lassen sich wechselseitige Beziehungen zwischen diesem Material und dem Entwurf zum „Willen zur Macht" feststellen (— es spielt sich ja alles in ein und demselben Kopf ab! —); man muß jedoch das Spezifische der literarischen Intention, so wie wir sie in dem Entwurf vom Sommer 1886 kennengelernt haben, zu unterscheiden wissen von allen vorangegangenen Aufzeichnungen oder parallellaufenden Ausarbeitungen anderer Art. Was Nietzsche von seinem früheren Material nicht aus dem Gedächtnis verlieren wollte, notierte er sich in einer Rubrik von 53 Nummern, die er sich im Frühjahr 1887 anlegte. Diese Rubrik ist kein Plan oder
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Entwurf, sondern ganz einfach ein Verzeichnis von eventuell brauchbaren Notizen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der berühmte letzte Aphorismus der Köselitz-Förster-Kompilation, ihre Nummer 1067, nicht in die Rubrik kam. Wenn Nietzsches literarische Intentionen irgendeinen Wert haben sollen, so müssen wir aus dieser Tatsache zwangsläufig schließen, daß jener Aphorismus in den Augen Nietzsches seine Funktion erfüllt hatte, indem er eine andere Fassung davon im Jenseits (Aph. 36) veröffentlicht hatte. Selbstverständlich behält er seinen philosophischen Wert, soll er im Nachlaß veröffentlicht werden, aber er gehört nicht zu den Aufzeichnungen, die Nietzsche im Frühjahr 1887 retten wollte. Aus dieser Zeit stammt ein anderer Plan zum „Willen zur Macht". Daß er zum „Willen zur Macht" gehört, können wir — allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit — nur vermuten, denn das Blatt ist am oberen Rand beschnitten, so daß wir lesen: [ + + + ] aller Werthe Erstes Buch Der europäische Nihilismus Zweites Buch Kritik der höchsten Werthe Drittes Buch Princip einer neuen Werthsetzung Viertes Buch Zucht und Züchtung entworfen den 17. März 1887, Nizza
Dieser Plan ist insofern wichtig, als die Kompilatoren Köselitz und Förster-Nietzsche ausgerechnet ihn als den am besten geeigneten für ihr Machwerk hielten — mit wieviel Recht, soll aus den noch folgenden Ausführungen erhellen. Er unterscheidet sich kaum vom Plan aus dem Sommer 1886. Auch hier bilden Nihilismus, Kritik der Werte, Umwertung der Werte, ewige Wiederkunft (als Hammer und somit als Prinzip der Zucht und Züchtung, wie wir es aus dem Plan vom Sommer 1886 kennen) die vier Motive der vier Bücher. 11. Nachdem Nietzsche mit der Arbeit an den neuen Auflagen seiner früheren Werke fertiggeworden war, widmete er sich mit be-
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sonderer Intensität der Meditation über ein zentrales Problem seiner Entwürfe vom Sommer 1886 und Frühjahr 1887: das Problem des Nihilismus, dem er — wie wir gesehen haben — das erste Buch seines Werkes bestimmt wissen wollte. Diese Meditationen kulminieren in dem eindrucksvollen, von ihm „Lenzer Heide, den 10. Juni 1887" datierten Fragment unter dem Titel „Der europäische Nihilismus". Es handelt sich um eine kleine Abhandlung in 16 Abschnitten. Man sollte es kaum für möglich halten, aber in der kanonischen Kompilation der Förster-Nietzsche und des Heinrich Köselitz wurde dieser Text zerstückelt (im ersten „Willen zur Macht" aus dem Jahre 1901 war er dagegen als Ganzes veröffentlicht worden). Nur die Leser des Apparates von Otto Weiss (1911) im XVI. Band der Großoktavausgabe erfuhren, daß die sogenannten Aphorismen 4, 5, 114, 55 (in dieser Reihenfolge gelesen) einer organischen Abhandlung angehörten. Die Moral — so kann man diesen Text vielleicht zusammenfassen — hat die Wahrhaftigkeit großgezogen, diese aber erkennt die Haltlosigkeit der Moral, und das führt zum Nihilismus, als Einsicht in die Sinnlosigkeit des Geschehens. Das Sinnlose, sich ewig wiederholend, ist nun die extremste Form des Nihilismus. Wenn aber der Grundcharakterzug des Geschehens gutgeheißen werden könnte, unter der Voraussetzung, daß man den eigenen Grundcharakterzug darin erkenne, so könnte man das sinnlose Wiederkehren bejahen. Das geschieht, wenn der bestgehaßte Grundcharakterzug im Leben, der Wille zur Macht, bejaht werden kann. Nun müssen auch die Schlechtweggekommenen, diejenigen, die unter dem Willen zur Macht leiden und deshalb den Willen zur Macht hassen, davon überzeugt werden, daß sie nicht anders als ihre Unterdrücker sind, indem in ihrem „Willen zur Moral" (weil Moral Verneinung des Willens zur Macht ist) doch ein Machtwille verkappt ist, ihr Hassen somit Wille zur Macht ist. Der Terminus „schlechtweggekommen" hat keinen politischen Sinn, die Schlechtweggekommenen finden sich in allen Ständen der Gesellschaft. Die Unmöglichkeit der Moral wird wiederum Nihilismus bei den Schlechtweggekommenen. Daraus entsteht eine Krise, die einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß gibt: „Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen", bemerkt ausdrücklich
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Nietzsche. Die Stärksten in dieser Krise werden die Mäßigsten sein, d. h. die, welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben. „Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolz repräsentieren". Das Fragment schließt mit einem Fragezeichen: „Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkehr?", d. h. wie dächten die Stärksten an die ewige Wiederholung des Sinnlosen? 12. Nach Veröffentlichung der Genealogie arbeitete Nietzsche vom Herbst 1887 an auf sehr konzentrierte Weise am „Willen zur Macht". Diese Arbeit gipfelte gegen Mitte Februar 1888 in der Rubrizierung von 372 Aufzeichnungen, die Nietzsche bis dahin in zwei Quarthefte und ein Folioheft geschrieben hatte. Für seine Rubrizierung benutzte er ein weiteres Heft, in das er die 372 Fragmente (in Wirklichkeit waren es deren 374, weil zwei Nummern zweimal vorkommen) stichwortartig eintrug. Die ersten 300 Stichworte wurden auch auf 4 Bücher verteilt, indem Nietzsche mit Bleistift neben die stichwortartigen Inhaltsangaben seiner Aufzeichnungen die römischen Ziffern I, II, III oder IV schrieb. Diese Ziffern bezogen sich auf einen Plan ohne Uberschrift, der sich im Rubrikheft findet. Er ist in vier Bücher gegliedert; aber auch die Überschriften der vier Bücher fehlen: [zum ersten Buch] 1. Der Nihilismus, vollkommen zu Ende gedacht. 2. Cultur, Civilisation, die Zweideutigkeit des „Modernen". [zum zweiten Buch] 3. Die Herkunft des Ideals. 4. Kritik des christlichen Ideals. 5. Wie die Tugend zum Siege kommt. 6. Der Heerden-Instinkt. [zum dritten Buch] 7. Der „Wille zur Wahrheit". 8. Moral als Circe der Philosophen. 9. Psychologie des „Willens zur Macht" (Lust, Wille, Begriff usw.) [zum vierten Buch] 10. Die „ewige Wiederkunft". 11. Die große Politik. 12. Lebens-Recepte für uns.
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Bemerkenswert an diesem Plan ist wiederum die Tatsache, daß die Bewegung nach den vier Hauptmotiven — Nihilismus, Kritik der Werte, Umwertung der Werte, ewige Wiederkunft — beibehalten bleibt. Die vier Bücher gliedern sich allerdings in Kapitel, welche ihrerseits eine besondere Betonung der Hauptmotive beinhalten. Eine nähere Betrachtung der rubrizierten Fragmente, vor allem im Hinblick auf ihr Schicksal in der Kompilation von E. FörsterNietzsche und Heinrich Köselitz tut hier, als ein Beispiel für viele aus ihrer editorischen Praxis, not. Die vier Bücher des Plans, nach dem Nietzsche diese Fragmente rubrizierte, entsprechen genau den vier Büchern des von den Herausgebern der Kompilation ausgewählten Plans vom 17. März 1887. Man dürfte also erwarten, daß sie Nietzsches Anweisungen gefolgt wären — zumindest in diesem einzigartigen Falle, in dem er ausdrücklich solche hinterließ. Doch hielt sich Köselitz manchmal für einen besseren Philosophen und Schriftsteller als Nietzsche, und gar die Schwester hatte sich von Rudolf Steiner in der Philosophie unterweisen lassen... Hier unsere Ergebnisse: 1.
2.
Von den 374 von Nietzsche im Blick auf den Willen zur Macht numerierten Fragmenten sind 104 nicht in die Kompilation aufgenommen worden; davon wurden 84 überhaupt nicht veröffentlicht, 20 in die Bände XIII und XIV sowie in die Anmerkungen von Otto Weiss in Band XVI der Großoktavausgabe verbannt. Im Vorwort zu Band XIII der Großoktavausgabe schrieb aber E. Förster-Nietzsche: „Die Bände XIII und XIV bringen also die unveröffentlichten Niederschriften [...] mit Ausnahme alles Dessen, was von dem Autor unbedingt zum Willen zur Macht selbst bestimmt worden ist." Von den übrigen 270 Fragmenten sind 137 unvollständig bzw. mit willkürlichen Textänderungen (Auslassung von Uberschriften, oft auch von ganzen Sätzen, Zerstückelung von zusammenhängenden Texten usw.) wiedergegeben; von diesen sind wiederum a) 49 in den Anmerkungen von Otto Weiss verbessert; der normale Verbraucher des „Willens zur Macht", d. h. zum Beispiel der Leser der auch neuerdings verlegten Krönerschen
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3.
Ausgabe (hrsg. von Alfred Baeumler), wird diese Verbesserungen niemals kennenlernen; b) 36 nur mangelhaft in jenen Anmerkungen verbessert, ζ. T. macht Weiss ungenaue Angaben über den Text, oft irrt er bei der Entzifferung der ausgelassenen Stellen; c) 52 endlich entbehren jeglicher Anmerkung, obwohl sie ähnliche Fehler enthalten wie andere Fragmente, für die Otto Weiss eine Anmerkung für nötig hielt. Bis Nummer 300 — wie gesagt — sind die Fragmente von Nietzsche selbst auf die vier Bücher seines Planes verteilt worden. Nicht einmal diese Verteilung wurde, in mindestens 64 Fällen, von den Kompilatoren beibehalten.
13. Nietzsche war mit den Ergebnissen seiner Arbeit keineswegs zufrieden. „Ich habe die erste Niederschrift meines ,Versuchs einer Umwerthung' fertig: es war, Alles in Allem, eine Tortur, auch habe ich durchaus noch nicht den Muth dazu. Zehn Jahre später will ich's besser machen", schrieb er am 13. Februar 1888 an Heinrich Köselitz. Und dreizehn Tage später: „Auch dürfen Sie ja nicht glauben, dass ich wieder ,Litteratur' gemacht hätte: diese Niederschrift war für mich·, ich will alle Winter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift für mich machen, — der Gedanke an .Publizität' ist eigentlich ausgeschlossen." Im selben Brief berichtete Nietzsche über seine Lektüre von Baudelaires Œuvres posthumes, die vor kurzem erschienen waren. Tatsächlich finden wir im Folioheft — gleich nach dem letzten numerierten Fragment (372) — 20 Seiten Exzerpte aus Baudelaire, denen — ab und zu von eigenen Meditationen unterbrochen — andere umfangreiche Exzerpte folgen, und zwar aus: Tolstoi, Ma religion·, Gebrüder Goncourt, Journal (Bd. 1); Benjamin Constant, die Einleitung zur eigenen Ubersetzung von Schillers Wallenstein·, Dostojewskij, Die Besessenen (in französischer Ubersetzung); Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte des Volkes Israel·, Renan, Vie de Jésus. Wichtige, zum Teil versteckte Spuren dieser Lektüre sind in den Schriften des Jahres 1888 nachzuweisen. Während bis jetzt die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, vor allem mit dem Christentum, von Nietzsche vorwiegend auf historischem und psychologischem Boden geführt wurde (wir beziehen uns natürlich
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auf die drei erwähnten Hefte mit den numerierten Fragmenten), tritt von neuem gleich zu Beginn des nächstfolgenden Foliohefts, dessen erste Aufzeichnungen „Nizza, den 25. März 1888" datiert sind, der metaphysische Aspekt in den Vordergrund, und zwar — bezeichnenderweise — in der Form einer Fragment gebliebenen, aber umfangreichen Abhandlung über Kunst und Wahrheit in der Geburt der Tragödie. Diese Abhandlung ist von den Kompilatoren Köselitz und Förster-Nietzsche arg verstümmelt worden; das ist um so bedauerlicher, als in ihr das wichtige Problem der „wahren" und der „scheinbaren" Welt noch einmal aufgegriffen wird, das zu einem der Hauptpunkte der darauffolgenden Aufzeichnungen zum „Willen zur Macht" wird. Der Glaube an eine wahre, der scheinbaren entgegengesetzten Welt bedingt nach Nietzsche jenen Komplex von Erscheinungen, den er sukzessive mit den Namen Pessimismus, Nihilismus, von nun an auch décadence bezeichnet. Das Stichwort „Die wahre und die scheinbare Welt" finden wir tatsächlich als erstes Kapitel in dem Plan zum „Willen zur Macht", nach dessen Uberschriften Nietzsche die meisten Notizen dieses wichtigen Folioheftes klassifizierte. Die Pläne nehmen jetzt eine ziemlich andere Gestalt an als die bisher erwähnten. 14. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß vom Herbst 1887 bis zum Sommer 1888 Titelentwürfe anderer Art als die für den „Willen zur Macht" in den Manuskripten kaum vorkommen. Auch dieser äußere Umstand besagt, daß Nietzsche sich in dieser Zeit viel intensiver als irgendwann früher dem „Willen zur Macht" gewidmet hatte (allerdings mit Ausnahme — ab Frühjahr 1888 — der Niederschrift vom „Fall Wagner", dem Pamphlet, in welchem Nietzsche einen besonderen Fall der modernen décadence behandelte). Einige Pläne zeigen eine gewisse kompositorische Schwankung: Nietzsche scheint einer Fassung in 8 bis 12 Kapiteln den Vorzug zu geben gegenüber der Gliederung eines Werkes in 4 Bücher. Besonders wichtig ist folgender Plan in 11 Kapiteln: 1. 2. 3. 4.
Die Der Der Der
wahre und die scheinbare Welt. Philosoph als Typus der décadence. religiöse Mensch als Typus der décadence. gute Mensch als Typus der décadence.
110 Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
D i e Gegenbewegung: die Kunst. P r o b l e m des Tragischen. D a s Heidnische in der Religion. D i e Wissenschaft gegen Philosophie. Politica. Kritik der Gegenwart. D e r Nihilismus und sein Gegenbild: die Wiederkünftigen. D e r Wille zur Macht.
Nach diesen Kapitelüberschriften klassifizierte Nietzsche die Aufzeichnungen des erwähnten umfangreichen Folioheftes, beginnend mit dem Datum des 25. März 1888. In dem Plan werden, gemäß dem Inhalt der vorangehenden Notizen, die Beziehungen zwischen dem Glauben an eine „wahre" Welt und der décadence sowie auch die Gegenbewegungen, d. h. die Bewegungen gegen jenen Glauben, veranschaulicht, so daß Nietzsche z. B. die Fragmente zur zitierten Abhandlung über die Geburt der Tragödie mit dem Stichwort „Gegenbewegung: die Kunst!" versah, das auch die Uberschrift vom 5. Kapitel in diesem und einem anderen ähnlichen Plan ist. Nietzsches Versuch einer Anordnung der Fragmente nach diesem Plan ist ebenso bedeutend wie der Versuch vom Februar 1888; er ist auch ebenso fragmentarisch, da er sich bloß auf die Aufzeichnungen eines allerdings sehr umfangreichen Heftes beschränkt, und wurde später ebenfalls aufgegeben. Selbstverständlich fand er keine Berücksichtigung in der Kompilation. In Turin benutzte Nietzsche zwei weitere größere Hefte. Die Aufzeichnungen waren inzwischen durch die vielen Hinzufügungen und Überarbeitungen unübersichtlich geworden. Nietzsche schrieb sie z. T. auf losen liniierten Blättern ab. Einige bildeten kleine abgeschlossene Abhandlungen, sonst wurden sie einfach in Reinschrift übertragen, ohne jegliche Anordnung. Diese Abschrift entstand in den letzten Wochen des Turiner Frühjahrs. Nietzsche brachte sie mit nach Sils-Maria, wo er zunächst an der Drucklegung des Fall Wagner arbeitete (diese Arbeit nahm mehr Zeit in Anspruch, als vorgesehen: Nietzsche mußte ein zweites Druckmanuskript fertigen, weil das erste unleserlich war). 15. In Sils-Maria hatte Nietzsche einen weiteren Teil seiner Aufzeichnungen ins reine abgeschrieben. Er war jedoch mit dem Ergebnis seiner Arbeit, so wie es vor ihm lag, noch nicht zufrieden. Des-
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halb schrieb er an Meta von Salis (22. August): „Im Vergleich mit letztem Sommer [...] erscheint dieser Sommer freilich geradezu ,ins Wasser gefallen'. Dies thut mir außerordentlich leid: denn aus dem zum ersten Male wohlgerathnen Frühlings-Aufenthalte brachte ich sogar mehr Kraft mit herauf als voriges Jahr. Auch war alles für eine große und ganz bestimmte Aufgabe vorbereitet." Von Meta von Salis hatte sich Nietzsche ein Exemplar seiner Genealogie der Moral erbeten (und auf dieses Werk machte er gerade in seinem Epilog zum Fall Wagner in eben diesen Tagen aufmerksam): die erneute Lektüre seines eignen Werks machte auf Nietzsche einen besonderen Eindruck, der nicht ohne Folgen bleiben sollte. Im selben Brief schrieb er: „Der erste Blick hinein gab mir eine Überraschung: ich entdeckte eine lange Vorrede zu der Genealogie, deren Existenz ich vergessen hatte [...] Im Grunde hatte ich bloß den Titel der drei Abhandlungen im Gedächtniß: der Rest, das heißt der Inhalt war mir flöten gegangen. Dies die Folge einer extremen geistigen Thätigkeit, die diesen Winter und dies Frühjahr ausfüllte und die gleichsam eine Mauer dazwischen gelegt hatte. Jetzt lebt das Buch wieder vor mir auf — und, zugleich, der Zustand vom vorigen Sommer, aus dem es entstand. Extrem schwierige Probleme, für die eine Sprache, eine Terminologie nicht vorhanden war: aber ich muß damals in einem Zustande von fast ununterbrochener Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie die natürlichste Sache von der Welt dahinläuft. Man merkt ihr keine Mühsal an. — Der Stil ist vehement und aufregend, dabei voller finesses; und biegsam und farbenreich, wie ich eigentlich bis dahin keine Prosa geschrieben." Diese nüchterne Bilanz spiegelt genau die letzte Phase der Arbeit Nietzsches wider: sie gewinnt jedoch ihre ganze Bedeutung, wenn man das Datum des Briefes — 22. August — mit zwei anderen Daten vergleicht: dem des letzten Planes zum Willen zur Macht und dem der Vorrede eines neuen Werkes: Die „Umwerthung aller Werthe". 16. Was den letzten Plan zum „Willen zur Macht" betrifft, so hat Erich F. Podach {Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 63) lediglich das Datum, nicht aber den Plan, auf den sich das Datum bezieht, veröffentlicht, Otto Weiss wiederum (GA XVI, 432) den Plan ohne Datum. Den Plan veröffentlichte später (1963) auch Po-
112 Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht dach {Ein Blick in Nietzsches Notizbücher,
149-160), jedoch ohne ihn
in Verbindung mit dem D a t u m zu stellen. Dies, weil D a t u m und Plan auf getrennten Blättern stehen: es kann aber kein Zweifel bestehen, daß beide Blätter zusammengehören (sie haben dasselbe Papier und F o r m a t , Tinte und Schrift sind identisch auf beiden Blättern, die Ränder beider Blätter zeigen, daß sie lange Zeit zusammenlagen). Dieser Plan lautet: Entwurf des Plans zu: Der Wille zur Macht Versuch einer Umwerthung aller Werthe Sils-Maria am letzten Sonntag des Monat August 1888 Wir Hyperboreer. — Grundsteinlegung des Problems Erstes Buch: „Was ist Wahrheit?" Erstes Capitel. Psychologie des Irrthums. Zweites Capitel. Werth von Wahrheit und Irrthum. Drittes Capitel. Der Wille zur Wahrheit (erst gerechtfertigt im Ja-Werth des Lebens). Zweites Buch: Herkunft der Werthe. Erstes Capitel. Zweites Capitel. Drittes Capitel.
Die Metaphysiker. Die homines religiosi. Die Guten und die Verbesserer.
Drittes Buch: Kampf der Werthe. Erstes Capitel. Gedanken über das Christenthum. Zweites Capitel. Die Physiologie der Kunst. Drittes Capitel. Zur Geschichte des europäischen Nihilismus. Psychologen-Kurzweil. Viertes Buch: Der große Mittag. Erstes Capitel. Das Princip des Lebens („Rangordnung"). Zweites Capitel. Die zwei Wege. Drittes Capitel. Die ewige Wiederkunft. Das P r o b l e m der W a h r h e i t hat sich allmählich z u m T h e m a des ersten Buches entwickelt. Das zweite B u c h bleibt, wie in den früheren vierteiligen Plänen, der Kritik der W e r t e vorbehalten, aber i m Sinne einer Geschichte dieser W e r t e selbst, und ihrer Träger. I m drit-
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ten Buch behandelt Nietzsche den Kampf der Werte, und seine Kapitelüberschriften entsprechen genau dem Inhalt der Aufzeichnungen über das Christentum, die Physiologie der Kunst, die Geschichte des europäischen Nihilismus. Nach einem „Intermezzo" (wahrscheinlich aus Sprüchen bestehend, deren Nietzsche eine ganze Sammlung niedergeschrieben hatte) kommt das vierte Buch, das — wie in allen anderen Plänen — der ewigen Wiederkunft gewidmet ist. 17. Der letzte Plan zum „Willen zur Macht" wurde also, wie Nietzsche schreibt, „am letzten Sonntag des Monat August 1888" niedergeschrieben, d. h. am 26. August, vier Tage nach der Klage über den mißlungenen Sommer in Sils-Maria. Nach diesem Plan ordnete Nietzsche eine gewisse Anzahl von früheren Aufzeichnungen, er blieb jedoch bei diesem Ansatz. Am 30. August wiederholte er seine Klage in einem Brief an die Mutter: „Ich bin wieder vollkommen in Thätigkeit, — hoffentlich geht es noch eine Weile, da eine gut und lange vorbereitete Arbeit, die diesen Sommer abgethan werden sollte, wörtlich ,in's Wasser' gefallen ist." Doch war in diesen Zeilen die Hoffnung ausgesprochen, jetzt zu einem Erfolg zu kommen. Tatsächlich nahm die Ausführung der „gut und lange" vorbereiteten Arbeit eine ganz andere Form an als die in allen bisherigen Plänen vorgezeichnete. Seit Mitte August hatte Nietzsche, wie gesagt, wieder mit Abschreiben angefangen, und zwar indem er die ζ. T. schon in Reinschrift vorhandenen Aufzeichnungen durchgängig als einzelne, abgeschlossene Abhandlungen niederschrieb. Nietzsche entschloß sich nun zu der Veröffentlichung von alledem, was er fertig vor sich hatte. Ein loses Blatt, auf dessen Vorderseite nur noch der Titel „Umwerthung aller Werthe" steht, enthält — auf der Rückseite — eine Reihe von Titeln, die auf einen „Auszug" der Philosophie Nietzsches hindeuten: Gedanken für Ubermorgen Auszug meiner Philosophie
und Weisheitfür Übermorgen Meine Philosophie im Auszug
114 Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
endlich Magnum in Parvo
Eine Philosophie im Auszug sind die Versuchs-Titel des geplanten Auszugs. Noch wichtiger ist das Kapitel-Verzeichnis dazu (und zwar auf demselben Blatt): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Wir Hyperboreer. Das Problem des Sokrates. Die Vernunft in der Philosophie. Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde. Moral als Widernatur. Die vier großen Irrthümer. Für uns — wider uns. Begriff einer décadence-Religion. Buddhismus und Christenthum. Aus meiner Ästhetik. Unter Künstlern und Schriftstellern. Sprüche und Pfeile.
Die Nr. 2, 3, 4, 5, 6, 12 sind die Titel von gleichnamigen Kapiteln, Nr. 11 der ursprüngliche Titel des Kapitels „Streifzüge eines Unzeitgemässen" in der Götzen-Dämmerung·, die Nummern 1, 7, 8, 9 aber sind die Titel, welche man — gestrichen — auch heute noch im Druckmanuskript des Antichrist lesen kann, und zwar: „Wir Hyperboreer" für die jetzigen Abschnitte 1-7; „Für uns — wider uns" für 8-14; „Begriff einer décadence-Religion" für 15-19; „Buddhismus und Christenthum" für 20-23. Da Nietzsche eine Vorstufe für sein Vorwort zum „Müßiggang eines Psychologen" (später = GötzenDämmerung) „Anfang September" datierte und da er am 3. September auch das Vorwort zur „Umwerthung aller Werthe" verfaßte, und zwar nach dem Plan in vier Büchern, von dem das erste Der Antichrist sein sollte, so kann man daraus schließen, daß zwischen dem 26. August und dem 3. September folgendes geschehen sei: 1. Nietzsche verzichtete auf den bis dahin geplanten „Willen zur Macht". 2. Eine kurze Zeit lang mag er die Möglichkeit erwogen haben, das schon ins reine abgeschriebene Material als „Umwerthung aller Werthe" herauszugeben.
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3. 4. 5.
6.
7.
Jedoch entschloß er sich für die Veröffentlichung eines „Auszugs" seiner Philosophie. Dem Auszug gab er den Namen „Müssiggang eines Psychologen" (später Götzen-Dämmerung. Gleich darauf entfernte er vom „Auszug" die Kapitel „Wir Hyperboreer", „Für uns — wider uns", „Begriff einer décadenceReligion", „Buddhismus und Christenthum", welche zusammen 23 Paragraphen über das Christentum ergaben, nebst einer Einleitung („Wir Hyperboreer"). Das Hauptwerk trug von nun an den Titel Umwerthung aller Werthe und wurde in vier Büchern geplant, davon war das erste Buch, Der Antichrist, schon zu einem guten Drittel fertig (= die eben erwähnten ersten 23 Paragraphen). Am 3. September 1888 schrieb Nietzsche ein Vorwort für die Umwerthung. Der „Müssiggang eines Psychologen" war für Nietzsche die „Zusammenfassung" seiner „wesentlichsten philosophischen Heterodoxien", wie er sich in seinen Briefen (12. September an Gast, 16. September an Overbeck) ausdrückte, war somit das mitteilungsreife Ergebnis seines Philosophierens im letzten Jahr. Sie bestand aus lauter Aufzeichnungen, die im Blick auf den „Willen zur Macht" entstanden waren. Die Umwerthung aller Werthe in vier Büchern aber war sein neues Arbeitsprogramm. Das erste Buch, Der Antichrist, stammt zwar zu einer guten Hälfte aus den vorangegangenen Meditationen — diese Herkunft verstanden in dem einzigen hier erlaubten Sinne, dem der literarischen Herkunft, also Herkunft aus früheren Aufzeichnungen, „Vorstufen", — ja, es hatte sich „abgelöst" aus dem von Nietzsche schon niedergeschriebenen „Auszug" seiner Philosophie, war jedoch nach seinen literarischen Absichten ein neuer Anfang: Im Antichrist stellen tatsächlich die Abschnitte 1-7 eine Art Einleitung dar (so wie das Kapitel „Wir Hyperboreer" die Einleitung des „Auszugs" war), während die Abschnitte 8-23 eine durchgängige Abhandlung über das Christentum bildeten, die nun Nietzsche einheitlich — vor allem auch in stilistischer Hinsicht — weiterführen wollte. Er hatte damit die „Form" der Mitteilung für sein „Hauptwerk" gefunden. Und wir glauben, daß ihm dazu die erneute Lektüre der Genealogie
1 1 6 Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
verhalf, des Werkes, das in stilistischer Hinsicht dem Antichrist sehr nahesteht. So schrieb Nietzsche am 7. September 1888 seiner Freundin, Meta von Salis: „Inzwischen war ich sehr fleißig, — bis zu dem Grade, daß ich Grund habe, den Seufzer meines letzten Briefes über den ,ins Wasser gefallenen Sommer' zu widerrufen. Es ist mir sogar etwas mehr gelungen, Etwas, das ich mir nicht zugetraut hatte [...] Die Folge war allerdings, daß mein Leben in den letzten Wochen in einige Unordnung gerieth. Ich stand mehrere Male nachts um zwei auf, vom Geist getrieben und schrieb nieder, was mir vorher durch den Kopf gegangen war. Dann hörte ich wohl, wie mein Hauswirth, Herr Durisch, vorsichtig die Hausthür öffnete und zur Gemsenjagd davon schlich. Wer weiß! Vielleicht war ich auch auf der Gemsenjagd [...] Der dritte September war ein sehr merkwürdiger Tag. Früh schrieb ich die Vorrede zu meiner Umwerthung aller Werthe, die schönste Vorrede, die vielleicht bisher geschrieben worden ist. Nachher gieng ich hinaus — und siehe da! der schönste Tag, den ich im Engadin gesehn habe, — eine Leuchtkraft aller Farben, ein Blau auf See und Himmel, eine Klarheit der Luft, vollkommen unerhört . . . " Und weiter: „Am 15. September gehe ich fort, nach Turin·, was den Winter betrifft, so wäre doch, aus Gründen tiefer Sammlung, wie ich sie nöthig habe, der Versuch mit Corsica ein wenig risquiert [...] Doch wer weiß. — Im nächsten Jahre werde ich mich dazu entschließen, meine Umwerthung aller Werthe, das unabhängigste Buch, das es giebt, in Druck zu geben [...] Nicht ohne große Bedenken! Das erste Buch heißt zum Beispiel Der Antichrist." 18. Sechs Fassungen des neuen literarischen Plans, d. h. der Umwerthung aller Werthe in vier Büchern, sind uns bekannt. Die Bücherüberschriften verdeutlichen Nietzsches Absichten, sie mögen deshalb hier chronologisch zitiert werden: (1)
Erstes Buch. Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christenthums. Zweites Buch. Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung.
Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
117
Drittes Buch. Der Immoralist. Kritik der verhängnissvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. Viertes Buch. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft. (2) Buch Buch Buch Buch
1: 2: 3: 4:
der Antichrist. der Misosoph. der Immoralist. Dionysos.
(3)
Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christenthums. Der Immoralist. Kritik der verhängnissvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. Wir Jasagenden. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.
(4)
I Die Erlösung vom Christenthum: der Antichrist II von der Moral : der Immoralist III von der Wahrheit : der freie Geist IV vom Nihilismus : der Nihilismus als die nothwendige Folge von Christenthum, Moral und Wahrheitsbegriff der Philosophie. Die Zeichen des Nihilismus . . . ich verstehe unter „Freiheit des Geistes" etwas sehr Bestimmtes: hundert Mal den Philosophen und anderen Jüngern der „Wahrheit" durch Strenge gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Muth, durch den unbedingten Willen, Nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist — ich behandle die bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes „Wahrheit"
(5) IV. Dionysos Typus des Gesetzgebers (6) Der freie Geist. Kritik der Philosophie als nihilistischer Bewegung. Der Immoralist. Kritik der Moral als der gefährlichsten Art der Unwissenheit. Dionysos philosophos. Der letzte Plan wurde anscheinend nach Beendigung des Antichrist niedergeschrieben. Man bemerkt eine Schwankung, was die Reihenfolge des zweiten und dritten Buches betrifft: die Kritik der Philoso-
118 Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht
phie kommt an zweiter Stelle, die der Moral an dritter im ersten, zweiten und sechsten Plan; im dritten und vierten Plan kommt zunächst die Kritik der Moral, dann die der Philosophie. Die Gesamtkonzeption bleibt sich gleich: Nach der Kritik des Christentums, der Moral, der Philosophie, beabsichtigt Nietzsche die Verkündigung seiner Philosophie. Diese ist die Philosophie des Dionysos, die Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Inhaltlich gesehen war die Umwerthung aller Werthe in einem gewissen Sinne dasselbe wie der „Wille zur Macht", aber eben deshalb war sie dessen literarische Negation. Oder auch: Aus den Aufzeichnungen zum „Willen zur Macht" sind die Götzen-Dämmerung und Der Antichrist entstanden; der Rest ist — Nachlaß. 19. Damit wäre die Geschichte des „Willens zur Macht" als eines literarischen Projektes Nietzsches zu Ende. Daß Nietzsche spätestens vom 20. November 1888 an seinen Antichrist als die ganze Umwerthung betrachtete, so daß nun der Haupttitel „Umwerthung aller Werthe" zum Untertitel wurde, wie er ausdrücklich an Paul Deussen schrieb (26. November 1888: „Meine Umwerthung aller Werthe, mit dem Haupttitel, der Antichrist ist fertig".), daß er gegen Ende Dezember auch den Untertitel änderte (nun hieß es: „Fluch auf das Christenthum"): das alles, zusammen mit der Geschichte seiner Autobiographie, des Ecce homo, der Dionysos-Dithyramben und der kleinen Schrift Nietzsche contra Wagner sowie seiner politischen Proklamationen gegen das Deutschland des jungen Kaisers Wilhelm II., gehört in den scheinbar verwirrenden Abschluß von Nietzsches Lebenswerk, der das Ende seines Geistes bedeutete. Die Turiner Katastrophe kam, als Nietzsche wortwörtlich mit allem fertig war. Uns bleibt neben seinen Schriften und Werken sein Nachlaß. Dieser Nachlaß ist im wahrsten Sinne des Wortes ein verpflichtendes Erbe, da Nietzsches Fragestellungen, sei es in seinen Werken, sei es in seinen fragmentarischen Aufzeichnungen — beides als Ganzes betrachtet —, auch heute noch bestehen bleiben. Im Sinne dieser Verpflichtung aber soll der handschriftliche Nachlaß Nietzsches in seiner authentischen Gestalt bekannt werden. Was den „Willen zur Macht" betrifft, so ist nach der philologischen Erschließung des Nachlasses von 1885 bis 1888 der Streit um das angebliche Haupt-
Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und W i l l e zur Macht 1 1 9
werk gegenstandslos geworden: die Nietzsche-Forschung kann hier zur eigentlichen Tagesordnung übergehen.
Zitatnachweise Abschnitt 1. KGW VIII/1, S. Vif. (Vorbemerkung der Herausgeber). Abschnitt 2. KGW VII/1, Fragment 5[1], Abschnitt 4. KGW V/1, Fragment 7 [206] (Ende 1880). Abschnitt 5. KGW VII/2, Fragmente 26[259], 26[258], 26[243], 26[273], 26[274], 26[284], 26[293], 26[325], 26[465], 27[58], 27[80], 27[82], Abschnitt 6. KGB III/1, S. 567, Briefentwurf an Julius Rodenberg, November/Dezember 1884. Abschnitt 7. KGW VII/3, Fragmente 35[71], 36[75], 35[26], 35[47], 38[12], 39[1], 39[14], 39[15], Abschnitt 8. KGW VII/3, Fragmente 40[2], 40[53]. KGW VIII/1, Fragment 1[36]; Abschnitt 9. KGW VIII/1, Fragmente 2[73], 2[122], Abschnitt 10. KGW VIII/1, Fragmente 2[100], 7[64], Abschnitt 11. KGW VIII/1, Fragment 5[71], Abschnitt 12. KGW VIII/2, Fragment 12[2]. Abschnitt 13. KGW VIII/3, S. 9-191. Abschnitt 14. KGW VIII/3, Fragmente 15[20], 16[51], 14[169], Abschnitt 16. KGW VIII/3, Fragment 18[17], Abschnitt 17. KGW VIII/3, Fragmente 19[2], 19[3], 19[4], Abschnitt 18. KGW VIII/3, Fragmente 19[8], 22[14], 22[24], 23[8], 23[13]; KGW VIII/2, Fragment 11[416],
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo" Die zwei letzten nachgelassenen Fragmente im Druckmanuskript der neuen kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches lauteten bis zum Sommer 1969:1 „Ich berühre hier die Frage der Rasse. Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches. Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester: mit solcher deutschen canaille mich verwandt zu sehen war eine Lästerung auf meine Göttlichkeit. Die Behandlung die ich bis heutigem Tag von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre flößt mir ein ungeheures Grauen ein — ich bekenne, daß der tiefste Einwand gegen meinen Gedanken der ewigen Wiederkunft, das was ich einen abgründlichen Gedanken nenne, immer der Gedanke an meine Mutter und Schwester war . . . Aber noch als Pole bin ich ein ungeheurer Atavismus: man muß Jahrhunderte zurückgehn, um diese vornehmste Rasse Mensch, die es giebt, in dem Maß instinktrein zu finden, in dem ich sie darstelle. Ich habe gegen Alles was Adel heißt, ein souveraines Gefühl von Distinktion, ich würde den jungen deutschen Kaiser nicht in meinem Wagen als meinen Kutscher ertragen. Es giebt einen einzigen Fall, daß ich meines Gleichen gefunden habe — ich bekenne es mit Dankbarkeit. Frau Cosima Wagner ist bei weitem die vornehmste Natur, die es giebt und im Verhältniß zu mir, habe ich ihre Ehe mit Wagner immer nur als Ehebruch interpretirt . . . der Fall Tristan." Auf demselben Zettel2, wo dieses Fragment steht, folgt dann auch das zweite: 1 2
Vgl. KSA 14, S. 460-463 und 472-474. Vgl. Faksimile X X I I in: Erich F. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, Heidelberg 1961. N u r die obere Hälfte der Seite jedoch ist faksimiliert.
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
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„Alle herrschenden Begriffe über Verwandtschaftsgrade sind ein physiologischer Widersinn, der nicht übertroffen werden kann. Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt; die Geschwister-Ehe, wie sie z. B. bei den aegyptischen Königreichsfamilien Regel war, ist so wenig widernatürlich, daß im Verhältniß dazu, jede Ehe beinahe Incest i s t . . . Seinen Eltern ähnlich sein ist das ächteste Zeichen von Gemeinheit: die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart werden müssen, — das große Individuum ist das älteste Individuum, — ein Atavismus."
Es war den Herausgebern klar, schon bei der ersten Lektüre, daß besonders das erste Fragment zu dem Gedankenkreis des Ecce homo gehören mußte. Die Wendung „Ich berühre hier" ließ zunächst auf einen wahrscheinlich verworfenen Nachtrag zum Druckmanuskript des Ecce homo schließen. Eine Vorstufe zur Widmung der DionysosDithyramben an Catulle Mendès, datiert 1. Januar 1889, und eine Vorstufe zum Schluß des Dithyrambus „Unter Töchtern der Wüste" — beide auf der Rückseite desselben Zettels — legten als Datierung die Tage um den 1. Januar 1889 nahe. Die kaum lesbare Handschrift der Fragmente (im Gegensatz zur durchaus deutlichen Vorstufe der Widmung) konnte die Tatsache erklären, daß sie der nachträglichen ängstlichen und unerbittlichen Zensur der Familie Nietzsche und des Archivs entgangen waren. Ein glücklicher Fund im Peter-Gast-Nachlaß — heute den Nietzsche-Beständen im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar angegliedert — klärte im Juli 1969 den Tatbestand vollkommen auf. Zwischen den Abschriften Gasts aus Nietzsches Manuskripten ist auch ein Blatt erhalten, das unter der Uberschrift „Copie eines Bogens, den Nietzsche an Naumann während des Drucks von Ecce homo schickte (Ende December 1888 von Turin aus)" folgenden Text bietet, und zwar zunächst den Hinweis: „Auf Bogen 1 von Ecce homo an Stelle des bisherigen Abschnittes 3".
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
Dieser Hinweis war für den Drucker Constantin Georg Naumann in Leipzig bestimmt, bei dem Nietzsche seine Schrift — auf eigene Kosten — drucken ließ. Der erste und zweite Bogen des Ecce homo waren von Nietzsche am 18. Dezember 1888 „druckfertig" nach Leipzig zurückgescnickt worden. N u n wollte Nietzsche den „bisherigen Abschnitt 3 " (im Kapitel „Warum ich so weise bin", das erste des Ecce homo) durch folgenden neuen Text ersetzen lassen: „Ich betrachte es als ein großes Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: die Bauern, vor denen er predigte — denn er war, nachdem er einige Jahre am Altenburger Hofe gelebt hatte, die letzten Jahre Prediger — sagten, so müsse wohl ein Engel aussehn. — Und hiermit berühre ich die Frage der Rasse. Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches. Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester, — mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit. Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flößt mir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann — in meinen höchsten Augenblicken, . . . denn da fehlt jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren . . . Die physiologische Contiguität ermöglicht eine solche disharmonia praestabilita . . . Aber ich bekenne, daß der tiefste Einwand gegen die,ewige Wiederkunft', mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind. — Aber auch als Pole bin ich ein ungeheurer Atavismus. Man würde Jahrhunderte zurückzugehn haben, um diese vornehmste Rasse, die es auf Erden gab, in dem Maße instinktrein zu finden, wie ich sie darstelle. Ich habe gegen Alles, was heute noblesse heißt, ein souveraines Gefühl von Distinktion, — ich würde dem jungen deutschen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein. Es giebt einen einzigen Fall, wo ich meines Gleichen anerkenne — ich bekenne es mit tiefer Dankbarkeit. Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur; und, damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, daß Richard Wagner der mir bei Weitem verwand-
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teste Mann war . . . Der Rest ist Schweigen . . . Alle herrschenden Begriffe über Verwandtschafts-Grade sind ein physiologischer Widersinn, der nicht überboten werden kann. Der Papst treibt heute noch Handel mit diesem Widersinn. Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt: es wäre das äußerste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein. Die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart, gehäuft werden müssen. Die großen Individuen sind die ältesten: ich verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein — oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos . . . In diesem Augenblick, wo ich dies schreibe, bringt die Post mir einen Dionysos-Kopf".. .3 Gewiß ist die extreme psychische Spannung, das unheimlich Euphorische als Vorzeichen der bevorstehenden Katastrophe in diesem Text nicht zu übersehen: darin jedoch unterscheidet er sich kaum von vielen anderen Stellen des Ecce homo. Da keine Zweifel über seine Authentizität möglich sind, er sich vielmehr lückenlos in das Ecce homo einfügen läßt, so erscheint dieser neue Text in der Gesamtausgabe an Stelle des bisherigen Abschnittes 3 im Kapitel „Warum ich so weise bin". 4 *
Der Hintergrund der beabsichtigten öffentlichen und endgültigen Trennung Nietzsches von Mutter und Schwester läßt sich wohl ahnen, jedoch nur mit großer Schwierigkeit dokumentarisch belegen. 3
Es ist uns noch nicht gelungen zu erschließen, was Nietzsche mit dieser Postsendung gemeint haben kann. Eine Halluzination ist nicht auszuschließen. Unter den Bekannten Nietzsches war auch — aus den Basler Jahren — die „dionysische" Persönlichkeit der Frau Rosalie Nielsen. Kurt Hezel berichtet: „Ich selbst besitze noch unter meinen studentischen Erinnerungen eine von Frau Nielsen mir dedizierte Photographie eines merkwürdigen Dionysoskopfes (photographierte Plastik) . . . Die Photographie des Dionysoskopfes wollte Frau Nielsen, wenn ich mich recht erinnere, von Friedrich Nietzsche selbst erhalten haben." Vgl. C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena 1908, Bd. 1. S. 117.
4
KGW VI 3, S. 265-267.
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Gerade die Ereignisse in den letzten Turiner Wochen Nietzsches sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt und entstellt worden durch Fälschung und Vernichtung von Briefen, ja durch regelrechte plumpe Erfindungen der Schwester in ihrer Biographie und ihren anderen Schriften „um Nietzsches Untergang" 5 ; das ist längst bekannt. Das ganze Ausmaß der schwesterlichen Mystifikation wird sich erst durch die vollständige Publikation der Briefwechsel Nietzsches (nicht nur seiner eigenen Briefe) im Zusammenhang mit allen anderen erreichbaren biographischen Dokumenten übersehen lassen6. Nietzsches letzte, bekannte Worte über die Schwester und den Schwager, den Antisemiten Dr. Bernhard Förster, damals in Paraguay mit der Gründung einer deutschen Kolonie beschäftigt, stehen in einem Brief an Overbeck zu Weihnachten 1888: „Ich wage noch zu erzählen, daß es in Paraguay so schlimm als möglich steht. Die hinübergelockten Deutschen sind in Empörung, verlangen ihr Geld zurück — man hat keins. Es sind schon Brutalitäten vorgekommen; ich fürchte das Äußerste. — Dies hindert meine Schwester nicht, mir zum 15. Oktober [Nietzsches Geburtstag] mit äußerstem Hohn zu schreiben, ich wolle auch anfangen, „berühmt" zu werden. Das sei freilich eine süße Sache! Und was für Gesindel ich mir nur ausgesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten, wie Georg Brandes . . . Dabei nennt sie mich ,Herzensfritz'!... Dies dauert sieben Jahre! Meine Mutter hat keine Ahnung bisher davon — das ist mein Meisterstück. Sie schickte mir zu Weihnachten ein Spiel: Fritz und Lieschen"...7
5 6 7
Vgl. z. B. Paul Cohn, Um Nietzsches Untergang, Hannover 1931, S. 121-159. Eine solche Ausgabe erscheint seit 1975 im Verlag Walter de Gruyter (KGB). Diese Stelle wurde im Briefwechsel Nietzsche—Overbeck (Leipzig 1916) ausgelas-
sen. Karl Schlechta, Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München U956, Bd. 3, S. 1345 machte sie bekannt. Vgl. auch Erich F. Podach, Ein Blick in Notizbücher Nietzsches, Heidelberg 1963, S. 189 f. Auch an Meta von Salis schrieb Nietzsche am 29. Dezember: „— Damit es auch nicht am Kontraste fehlt! meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstag mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen, .berühmt' zu werden . . . Das werde ein schönes Gesindel sein, das an mich glaube . . . Dies dauert jetzt sieben Jahre . . . " , vgl. Maria Bindschedler, Nietzsches
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Die Stellen aus dem bis jetzt noch unbekannten Brief der Schwester, die Nietzsches Zorn herausgefordert hatten, sind ein für sich sprechendes Zeugnis über das ganze „antisemitisch-idealistische" Wesen der Elisabeth Förster (und ihres Mannes): „Durch Mamachen vernehme ich nun Vielerlei von Deinem aufsteigendem Ruhm und so sehr es mich freute so habe ich doch seitdem jede Hoffnung aufgegeben, daß Du je zu uns hinüberkommst denn Ruhm ist ein süßer Trank! Natürlich muß denn auch die gute Mama drüben bleiben, wenn ich auch annehmen muß, daß sie es hier bequemer und sorgloser haben könnte . . . In der nächsten Woche kommt ein lieber dänischer Freund zu uns, da hoffe ich er bringt mir einige dänische Zeitungen mit und übersetzt mir was darin über Dich steht. Ich persönlich hätte Dir einen andern Apostel als Herrn Brandes gewünscht, er hat in zu vielerlei Töpfchen geguckt und von zu vielen Tellern gegessen, indeßen man kann sich seine Verehrer nicht wählen und ganz sicher ist es: er wird Dich in Mode bringen, denn das versteht er. Einen gutgemeinten Rath kann ich aber doch nicht unterdrücken: Triff lieber nicht persönlich mit ihm zusammen, schreibt Euch Eure Empfindungen aber sieh ihn Dir nicht in der Nähe an. Zwei unserer Freunde Herr Johannsen und Herr Haug kennen ihn persönlich und sind nicht gerade begeistert, darin aber stimmen Alle überein, daß er einen ausgezeichneten Spürsinn für die interessantesten Erscheinungen aller Zeiten hat und sich durch sie interessant macht. Meinem Herzen thut es unendlich wohl, daß nun von Todtschweigen nicht mehr die Rede sein kann und daß durch Brandes nun vielleicht die echten guten Verehrer, die zu Dir passen, von Dir hören. Mein lieber Herzensfritz nun ist Dein lieber Geburtstag wieder einmal da und man denkt wie viele Jahre wir schon miteinander und jetzt leider weit von einander durchs Leben gewandert sind. Wie viel Freud und Schmerz ist schon an uns vorübergezogen, verlohnt es eiBriefe an Meta von Salis, „Neue Schweizer Rundschau", April 1955, Heft 12, S. 719. Uber das „Spiel: Fritz und Lieschen" findet sich im Weihnachtsbrief der Mutter keine Äußerung. Von Jacques Offenbach gibt es einen Einakter mit dem Titel: Lischen und Fritzchen, conversation alsacienne (1863).
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gentlich zu leben? Für so zartempfindende Menschen wie wir nun einmal sind hat das Leben mehr Schmerz als Freude und es muß uns ganz unbändig gut gehen damit man den Schmerz ganz vergißt. Aber Manches überwindet man doch nie so z. B. eine warme ja zuweilen ganz unbeschreibliche Sehnsucht Dich wiederzusehen . . . " Dieser Brief, in dem auch Försters Meinung über den Juden Brandes unverkennbar mit erklingt, mußte bei Nietzsche Verärgerung hervorrufen. Noch im Frühjahr 1888 hatte er in den Briefen an seine Freunde Brandes' Vorträge in Kopenhagen „om den tyske Filosof Friedrich Nietzsche" und die erfolgreiche Gründung der Kolonie in Paraguay in einem Atem gepriesen. Im Sommer versuchte er, sich und die Mutter über die ersten beunruhigenden Nachrichten aus Südamerika zu beschwichtigen. Erst die antisemitische Abfertigung Brandes' versetzte ihn von neuem in die nie vergessenen Empfindungen von 1882-83 gegen die Schwester (und die Mutter) zurück. Bittere Worte gegen die Schwester muß schon der nicht mehr vorhandene Brief vom 9. Oktober an die Mutter enthalten haben, denn diese schrieb in ihrer Antwort vom 16. Oktober: „Leid thut es mir aber stets, wenn Du Dich darüber freust, daß D u von Lieschens Gegenwart befreit bist, denn ich weiß daß Dich nächst Deiner Mutter Niemand inniger lieben kann als sie und ich will nicht untersuchen wie viel Thränen der Sehnsucht sie nach Dir geweint hat. Wir sind wenige Glieder aber die drei müssen ob der äußeren Trennung innerlich fest verbunden bleiben, was zum Familiensinn nothwendig ist und Blutsverwandte gehören zusammen, wenn vielleicht auch ein Glied was in solchen Familienbund tritt dem Andern nicht ganz sympathisch ist." Zuletzt machte Nietzsche doch auf wahrscheinlich sehr harte Weise seinem Zorn Luft im letzten Brief an die Mutter, von dem wiederum nur der Umschlag mit dem Poststempel 23. Dezember 1888 erhalten ist. Der Brief traf in Naumburg am 25. Dezember ein, Franziska Nietzsche beantwortete ihn erst am 30., da sie in den Weihnachtstagen verreist war: „Dein letzter Brief hat mich etwas erschreckt, weil mir darin vorkam, als ob Du recht angegriffen wärst, solchen Ton bin ich bei Dir
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jetzt gar nicht mehr gewöhnt, und da ich den Brief vorfand zu meiner großen Freude, als ich von meiner mehrtägigen Festreise zurückkam . . . wurde mir ganz traurig zu Muthe. Du meynst doch den Geburtstagsbrief den Dir Lieschen geschrieben hat? Ich habe ihn ja auch gelesen und habe gar nichts von dem was Du ihren Worten unterlegst, gefunden. Ich glaube sogar sie hat Dir recht was Schönes damit sagen wollen, freilich werden ihre Briefe immer etwas abgerissenes sein, da wirklich zu viel auf der armen Seele liegt und sie die Worte nicht auf die Goldwaage legen kann, sonst würde sie jedenfalls gar nicht zum Schreiben kommen . . . Alles Andere sage mein alter Fritz, nur nicht daß sie lieblos gegen Dich gehandelt, oder handelt, das weiß ich besser, die ich an die dreißig Jahre mit ihr zusammen gewesen bin. Ihr Auge, ja ihr Leben, hätte sie für Dich gegeben und mehr kann der Mensch in seiner Liebe nicht hingeben; ob ihre Handlungsweise immer die richtige gewesen ist, das steht bei Gott, aber aus den reinsten Motiven, Dir zu nutzen und alles was Dir irgend Schaden bringen könnte, von Dir fernzuhalten. Das wird Dir gewiß später auch als ,alten Philosophen' klar zu Tage treten. Denke daher mitleidig ihrer, wie es Dein gutes Herz mit anderen Menschen, — denn wer ist vollkommen? — thut. Mir macht es Herzeleid, wenn es anders ist und Herzeleid bereitet mir mein guter Fritz nicht! Unsere Art Lebensaufgabe wäre es nicht [Nietzsches Mutter meint das koloniale Unternehmen in Paraguay], hat man aber seinem Lebensgefährten am Altar die Hand darauf gegeben, mit ihm alles zu tragen, so ist keine Wahl." In einem nur als Entwurf bekannten Brief nahm Nietzsche von der Schwester Abschied: die Ursache war nicht ihre Reaktion auf die Zusendung des Fall Wagner, wie sie behauptete 8 , sondern der Vorgang, der hier dargelegt wurde. 8
Vgl. Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester, herausgegeben von Elisabeth Förster-Nietzsche, Leipzig 1909 (Bd. 5 der „Gesammelten Briefe"), S. 805, Anmerkung: „Leider hatte ich den Fall Wagner früher erhalten als seine beiden Briefe vom 14. und 17. September [dieser letzte Brief ist zweifellos eine Fälschung] und ihm ganz erschrocken und betrübt darüber geschrieben, was ihn sehr verletzt hatte. Nun fürchtete [!] er die Wirkung des Antichrist, denn Christenthum und Wagner waren für uns [d. h. für Elisabeth und Bernhard Förster] die verwundbarsten Stellen geworden".
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Nicht jedoch jener unmittelbare biographische Hintergrund, den wir beschrieben haben, vermag die ganze Bedeutung des neuen Abschnittes im Ecce homo zu beleuchten, sondern vielmehr der Platz, den er in dem Gefüge dieser einzigartigen Selbstbiographie einnimmt. Um dies zu verstehen, ist eine kurze Beschreibung ihrer Entstehungsgeschichte erforderlich. *
„Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich beschrieb eben mich": mit diesen Worten schließt die kleine Selbstdarstellung, welche Nietzsche noch während der Korrektur der GötzenDämmerung aufzeichnete und die den Kern des Ecce homo bilden sollte9. Dieses „Ur-Ecce-bomo" ist gegliedert in 11 Abschnitte, deren Inhalt folgenden bekannten Texten der Reihe nach entspricht: Ecce homo, „Warum ich so klug bin" § 1, „Warum ich so weise bin" § 6, 4, 5; Götzen-Dämmerung, das ganze Kapitel „Was ich den Alten verdanke"; Ecce homo, „Warum ich so weise bin" § 1 und 210. Als Nietzsche am 15. Oktober 1888 — seinem 44. Geburtstage — den Entschluß faßte, „sich selber sein Leben zu erzählen", nahm er die Abschnitte über sein Verhältnis zu den „Alten" heraus und Heß sie als letztes Kapitel der Götzen-Dämmerung drucken". Die Korrektur der Götzen-Dämmerung war Ende Oktober abgeschlossen, die Selbstdarstellung kündigte Nietzsche am 6. November mit folgenden Worten dem Verleger Naumann in Leipzig an: „ . . . wundern Sie sich jetzt über Nichts bei mir! Zum Beispiel, daß wir, sobald die Götzen-Dämmerung in jedem Sinne erledigt ist, sofort einen neuen Druck beginnen müssen. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, noch eine Schrift nöthig zu haben, eine im höchsten Grade vorbereitende Schrift, um nach Jahresfrist ungefähr 9
K G W VIII 3, S. 427-444, 24[1],
10
Vgl. KSA 14, S. 464.
11
Am 24. Oktober 1888 schickte die Druckerei an Nietzsche die Korrekturen des neuen Kapitels „Was ich den Alten verdanke"; man kann somit als Datum, an dem Nietzsche seine Selbstdarstellung begann, seinen Geburtstag — den 15. Oktober — annehmen, so wie er es in seinen Briefen angab.
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mit dem ersten Buche der Umwerthung hervortreten zu können. Es muß eine wirkliche Spannung geschaffen sein — im anderen Falle geht es wie beim Zarathustra. Nun war ich die letzten Wochen auf das Allergliicklichste inspirirt, Dank einem unvergleichlichen Wohlbefinden, das einzig in meinem Leben dasteht, Dank insgleichen einem wunderbaren Herbst und dem delikatesten Entgegenkommen, das ich in Turin gefunden habe. So habe ich eine extrem schwere Aufgabe — nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansichten, bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war, mein Leben zu erzählen — zwischen dem 15. Oktober und 4. November gelöst. Ich glaube, das wird gehört werden, vielleicht zu sehr . . . Und dann wäre Alles in Ordnung." Das £cce-/>owzo-Druckmanuskript war kurz vor Mitte November in der Leipziger Druckerei, da C. G. Naumann am 15. November imstande war, Nietzsche über den mutmaßlichen Umfang des Werks zu informieren12. Seitdem wird allmählich in Nietzsche das Gefühl der Dankbarkeit für die „Geschenke des letzten Vierteljahrs" durch eine extreme Steigerung des Selbstgefühls bis zu Kundgebungen des Größenwahns verdrängt. So schreibt Nietzsche (26. November) an Paul Deussen: „... Mein Leben kommt jetzt auf seine Höhe: noch ein paar Jahre, und die Erde zittert von einem ungeheuren Blitzschlage. — Ich schwöre Dir zu, daß ich die Kraft habe, die Zeitrechnung zu verändern. Es gibt Nichts, das heute steht, was nicht umfällt, ich bin mehr Dynamit als Mensch. — Meine Umwerthung aller Werthe, mit dem Haupttitel „der Antichrist" ist fertig. In den nächsten zwei Jahren habe ich die Schritte zu thun,um das Werk in 7 Sprachen übersetzen zu lassen; die erste Auflage in jeder Sprache c. eine Million Exemplare." Und gleich darauf an Georg Brandes, in einem nur als Entwurf bekannten Brief: 12
Zwischen der Urfassung und diesem Druckmanuskript liegt noch eine zweite, abgebrochene Fassung in 24 Paragraphen, die durchgängig numeriert sind. Teile davon hat Erich F. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, 347, veröffentlicht; vgl. auch KSA 14, S. 454-512.
S. 336-
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„[...] Wir sind eingetreten in die große Politik, sogar in die allergrößte . . . Ich bereite ein Ereigniß vor, welches höchst wahrscheinlich die Geschichte in zwei Hälften spaltet, bis zu dem Punkte, daß wir eine neue Zeitrechnung haben werden: von 1888 als Jahr Eins an [...] wir werden Kriege haben, wie es keine gab, aber nicht zwischen Völkern, nicht zwischen Ständen: Alles ist auseinander gesprengt, — ich bin der gefährlichste Dynamit, das es giebt. — Ich will in 3 Monaten13 Aufträge zur Herstellung einer Manuskript-Ausgabe geben von ,JDer Antichrist. Umwerthung aller Werthe", sie bleibt vollkommen geheim: sie dient mir als Agitations-Ausgabe. Ich habe Ubersetzungen in alle europäischen Hauptsprachen nöthig: wenn das Werk erst heraus soll, so rechne ich eine Million Exemplare in jeder Sprache als erste Auflage. Ich habe an Sie für die dänische, an Herrn Strindberg für die schwedische Ausgabe gedacht. — Da es sich um einen Vernichtungsschlag gegen das Christenthum handelt, so liegt auf der Hand, daß die einzige internationale Macht, die ein InstinktInteresse an der Vernichtung des Christenthums hat, die Juden sind [...] Folglich müssen wir aller entscheidenden Potenzen dieser Rasse in Europa und Amerika sicher sein — zu alledem hat eine solche Bewegung das Großcapital nöthig [.. .]14 Alles in Allem werden wir die Offiziere in ihren Instinkten für uns haben: daß es im allerhöchsten Grad unehrenhaft, feige, unreinlich ist, Christ zu sein, dies Urtheil trägt man unfehlbar aus meinem ,Antichrist' mit sich fort [...] Was den deutschen Kaiser betrifft, so kenne ich die Art, solche braune Idioten zu behandeln: das giebt einem wohlgerathenen Offizier das Maß ab . . . "
13 14
Also ungefähr Ende Februar 1889. Vgl. Nietzsche an Peter Gast, 9. Dezember 1888: „Wissen Sie bereits, daß ich für meine internationale Bewegung das ganze jüdische Großkapital nöthig habe?" In einer Mappe findet sich ein Zettel, auf dem Nietzsche einige Sätze zu seiner „internationalen Bewegung" niedergeschrieben hat. Unter anderem: „Ein letztes Wort. Ich werde von jetzt ab hülfreiche Hände — unsterbliche Hände! — ohne Zahl nöthig haben — die Umwerthung soll zugleich in 2 Sprachen erscheinen . . . Man wird gut thun, überall Vereine zu gründen, um mir zur rechten Zeit einige Millionen Anhänger in die Hand zu geben. Ich lege Werth darauf, zunächst die Offiziere und die jüdischen Banquiers für mich zu haben . . . " KGW, VIII 3, S. 456, 25[11],
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
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Nietzsche zitiert noch einige Sätze aus seinem „Gesetz wider das Christenthum" — dem Schluß des Antichrist15 — und schließt dann mit der Vision einer zukünftigen Menschheit: „Siegen wir, so haben wir die Erdregierung in den Händen — den Weltfrieden hinzugerechnet . . . Wir haben die absurden Grenzen der Rasse Nation und Stände überwunden: es giebt nur noch Rangordnung zwischen Mensch und Mensch und zwar eine ungeheure lange Leiter von Rangordnung." Von nun an ist für Nietzsche Der Antichrist die ganze „Umwertung", die Umwertung selber aber ist kein literarisches Ereignis mehr, sondern ein weltpolitisches; im Ecce homo will er als „Mensch des Verhängnisses" auftreten; Also sprach Zarathustra wird zur Bibel der Menschheit: ,yEcce homo [...] — steht im oben erwähnten Brief an Deussen — handelt nur von mir, ich trete zuletzt darin mit einer welthistorischen Mission auf [...] Darin wird zum ersten Mal Licht über meinen Zarathustra gemacht, das erste Buch aller Jahrtausende, die Bibel der Zukunft, der höchste Ausbruch des menschlichen Genius, in dem das Schicksal der Menschheit einbegriffen ist." Wir können mit gutem Recht behaupten, daß Nietzsche sein Lebenswerk nunmehr als vollbracht betrachtete: diese Tatsache darf man nicht vergessen, um nicht nur gegen Ecce homo, sondern auch gegen alle anderen Kundgebungen der letzten Turiner Zeit „gerecht zu sein". Das Zweite, das man nicht vergessen darf, ist die „siebente Einsamkeit", in der Nietzsche sein bewußtes Leben vollendete. Wenige Tage vor der Katastrophe schreibt er noch: „Ich bin die Einsamkeit als Mensch."16 Zwischen diesem Gefühl der Einsamkeit, das sich ihm trotz aller — von ihm selbst mehr oder weniger überbewerteten — „verehrenden" Briefe von Peter Gast, August Strindberg, Anna 15
16
Das „Gesetz wider das Christenthum" ist bei Erich F. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 157-158, veröffentlicht. Uber die Gründe der Aufnahme dieses Textes in unsere Ausgabe — ebenfalls am Schluß des Antichrist — vgl. Bd. VI 3, S. 161, sowie KSA 14, 448-453. Vgl. Erich F. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 318.
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
Tenischeff, Hippolyte Taine, Jean Bourdeau usw. aus dieser Zeit immer wieder aufzwingt, einerseits, und dem Gefühl, ein Werk von weltgeschichtlicher Bedeutung vollzogen zu haben, andererseits besteht eine Beziehung der wechselseitigen Steigerung. Es ist, als ob Nietzsche versuchte, sich aus dem immer tiefer werdenden Abgrund der Einsamkeit zu Gehör zu bringen. Daher der überlaute, zuweilen schrille Ton seiner Schriften, Briefe, „Gesetze", Proklamationen. Ein Drittes schließlich hat man eigentlich fast nie vergessen: es ist die Katastrophe selbst, die ohne Zweifel schon jetzt ihren Schatten vorauswirft. Dies ist jedoch nicht mehr Vollendung, sondern Ende, Zerstörung von Nietzsches Geist. Und wenn in Bezug auf einen armen Irren von Einsamkeit die Rede sein kann, so doch nur, weil er keine Beziehung mehr zur Menschenwelt hat, also auch nicht die des „Einsamen". Trotzdem: aus der Tatsache des lauernden Wahnsinns sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen in bezug auf alles, was Nietzsche vor dem Verlust der Welt und der eigenen Identität (wie etwa ab 4. Januar 1889 bei den sogenannten Wahnsinnszetteln17) getan hat. Da ist zum Beispiel — und auf dieses Beispiel kommt es in unserem Falle besonders an — die Luzidität, mit der Nietzsche aus Turin die Drucklegung von Ecce homo und Nietzsche contra Wagner verfolgt und dirigiert. Seine zahlreichen Änderungen und Zusätze lassen sich alle — ohne irgend welche Ausnahme — lückenlos in die zwei Druckmanuskripte oder in die Korrekturbogen einfügen; sie stehen miteinander in einem literarisch absolut logischen Verhältnis. Sein „schriftstellerisches Bewußtsein" hat Nietzsche gewiß ganz zuletzt verloren. *
Die Umarbeitung, welche Nietzsche Anfang Dezember im zurückverlangten Druckmanuskript des Ecce homo vornahm, spiegelt ' 7 Bruchstücke aus der verlorenen Welt lassen sich auch in diesen Kundgebungen des Wahnsinns erkennen, so z. B., wenn Nietzsche in dem Zettel, den er an Rohde richtete (5. Januar 1889), Rohdes „Blindheit gegen Monsieur Taine" — die den Bruch der Freundschaft im Frühjahr 1887 verursachte — erwähnt und zugleich hinzufügt: „Taine, der ehemals den Veda gedichtet hat". Vgl. Hedwig Däuble, Friedrich Nietzsche und Erwin Rohde, Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 340.
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
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die Steigerung seines Selbstgefühls als Schicksalsmensch wider18. Am 6. Dezember schickte er das Manuskript nach Leipzig zurück. Nun wollte er nichts mehr ändern, doch am 29. Dezember, nachdem er schon einige Nachträge geschickt hatte, kündigte Nietzsche einen „Rest von Manuskript, lauter extrem wesentliche Sachen, darunter das Gedicht, mit dem Ecce homo schließen soll" seinem Verleger an. Die allerletzte Änderung geschah am 2. Januar 1889, als Nietzsche die Schlußgedichte des Ecce homo („Ruhm und Ewigkeit") und von Nietzsche contra Wagner („Von der Armut des Reichsten") für sein letztes Werk, die Dionysos-Dithyramben, zurückverlangte: auf die Publikation der „kleinen Schrift" Nietzsche contra Wagner hatte er vollends verzichtet19. Im heutigen Druckmanuskript des Ecce homo lassen sich die späteren Änderungen und Zusätze genau von denen unterscheiden, die Nietzsche bis zum 6. Dezember vorgenommen hatte. Hier die wichtigsten: im Kapitel „Warum ich so klug bin" kamen als neue Texte hinzu die Abschnitte 4, 6, 7; im Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe" wurde der Abschnitt 2 durch einen neuen — den jetzigen — Text ersetzt; im Kapitel über Menschliches, Allzumenschliches kam der Abschnitt 6 hinzu; der Schluß des Abschnittes 5 im Kapitel über Also sprach Zarathustra wurde geändert. Dies alles geschah — wie ge-
18
Es kamen als neue Texte bzw. als gründlich umgearbeitete Partien (neben zahlreichen kleineren Änderungen) folgende Abschnitte hinzu: im Kapitel „Warum ich so weise bin" Abschnitt 8; im Kapitel „Warum ich so klug bin" der zweite, längere Teil von Abschnitt 3, der ganze Abschnitt 5; im Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe" der Abschnitt 3 und der Schluß von Abschnitt 5; im Kapitel über Menschliches, Allzumenschliches der Abschnitt 2; im Kapitel über Also sprach Zarathustra die Abschnitte 1-6; im Kapitel über den Fall Wagner der Abschnitt 4; am Schluß eine „Kriegserklärung" und „Der Hammer redet" (längeres Zitat aus Also sprach Zarathustra, 3. Teil, „Von alten und neuen Tafeln"§ 30). Die zwei letztgenannten Texte fielen Ende Dezember weg. Daß die „Kriegserklärung" nicht identisch mit dem „Gesetz wider das Christenthum" ist, wird im Kommentar zum Antichrist (KSA 14, S. 434-454) bewiesen. Vgl. dagegen die im übrigen scharfsinnigen Ausführungen von Pierre Champromis, Podach, Nietzsches Werke des Zusammenbruchs oder Zusammenbruch
der editorischen
Werke Podachs? „Philosophische
Rundschau", 12. Jg. H. 3 / 4 , Januar 1965, S. 250-254. 19
Vgl. dazu K G W VI 3, S. 161.Nietzsche contra Wagner wäre somit kein „autorisiertes" Nachlaßwerk.
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
sagt — nicht auf einmal: noch vor dem 20. Dezember hatte Nietzsche z. B. den jetzigen Abschnitt 7 im Kapitel „Warum ich so klug bin" nach Leipzig geschickt20; während der Abschnitt 6 im selben Kapitel später, jedoch vor dem Abschnitt 4, in die Druckerei kam. Es läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen, welcher Art die Sendung vom 29. Dezember war: daß außerdem manches von dieser Sendung — wie auch von vorangegangenen, vielleicht auch von späteren — nicht mehr erhalten ist, werden wir zum Schluß annehmen müssen. Der neue Abschnitt 3 im Kapitel „Warum ich so weise bin", den wir zu Beginn mitgeteilt haben, war eine nachträgliche Änderung im ersten, gesetzten Bogen des Ecce homo, für den Nietzsche am 18. Dezember das Imprimatur erteilt hatte. Vielleicht lag dieser Text schon der Sendung vom 29. Dezember bei, vielleicht wurde er erst später geschickt. Beides ist möglich, doch nicht so wichtig: weit wichtiger ist dagegen die Tatsache, daß gerade der neue Abschnitt im engsten Zusammenhang mit einigen der allerletzten Änderungen im Druckmanuskript steht. *
Der neue Schluß des fünften Abschnittes im Kapitel über Also sprach Zarathustra ist bekannt, er lautet: „— Ein Drittes ist die absurde Reizbarkeit der Haut gegen kleine Stiche, eine Art Hülflosigkeit vor allem Kleinen. Diese scheint mit in der ungeheuren Verwendung aller Defensiv-Kräfte bedingt, die jede schöpferische That, jede That aus dem Eigensten, Innersten, Untersten heraus zur Voraussetzung hat. Die kleinen Defensiv-Vermögen sind damit gleichsam ausgehängt; es fließt ihnen keine Kraft mehr
20
Es handelt sich um den Abschnitt mit dem ursprünglichen Titel „Intermezzo", den Podach aus seiner Ausgabe des Ecce homo ausgeschlossen hat. Vgl. dazu P. Champromis, a. a. O., S. 247 f., dessen Ausführungen gegen die Beseitigung dieses Abschnittes aus dem Ecce homo richtig sind. Wenn jedoch Nietzsche contra Wagner — trotz Nietzsches Verzicht auf die Veröffentlichung — ediert werden soll, so gehört dazu sowohl der kleine Abschnitt „Intermezzo" als auch das Schlußgedicht „Von der Armut des Reichsten" (entgegen der Meinung von Champromis und mit Podach).
Ein fieuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
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zu. — Ich wage noch anzudeuten, daß man schlechter verdaut, ungern sich bewegt, den Frostgefühlen, auch dem Mißtrauen allzu offen steht, — dem Mißtrauen, das in vielen Fällen bloß ein ätiologischer Fehlgriff ist. In einem solchen Zustande empfand ich die Nähe einer Kuhherde, durch Wiederkehr milderer, menschenfreundlicherer Gedanken, noch bevor ich sie sah: das hat Wärme in sich . . . " Nach Nietzsches Anweisung sollte dadurch folgende Stelle ersetzt werden, die er bei der Revision von Anfang Dezember verfaßt hatte: „Was mir am tiefsten unverwandt ist, trat damals rücksichtslos gegen mich in Feindschaft. Keine Ehrfurcht mehr vor meiner Einsamkeit. Mitten in den Ekstasen des Zarathustra Hände voll Wuth und Gift ins Gesicht — ich schmeichle sogar, wenn ich's Gift nenne, es war etwas Andres, es roch schlecht . . . Ich berühre die unheimlichste Erfahrung meines Lebens, meine einzige schlechte Erfahrung, die unberechenbar zerstörerisch in dasselbe eingegriffen hat. In allen Augenblicken, wo ich am Ungeheuren meines Schicksals litt, sprang auch etwas Äußerstes von Indecenz auf mich los. Diese Erfahrung dauert nunmehr sieben Jahre; als ich mit der Umwerthung der Werthe fertig war, wußte ich, daß sie nicht ausbleiben würde. — Der Psycholog fügt noch hinzu, daß in keinen Zuständen die Wehrlosigkeit, die Unbeschütztheit größer ist. Wenn es überhaupt Mittel giebt, Menschen, die Schicksale sind, umzubringen, der Instinkt giftiger Fliegen erräth diese Mittel. Für den, der Größe hat, giebt es keinen Kampf mit Kleinem: folglich wird das Kleine Herr." 21 Hier spricht Nietzsche von einer ganz bestimmten schlechten Erfahrung, der „einzigen" in seinem Leben, die nunmehr „sieben Jahre dauert". „Dies dauert sieben Jahre!", hatte er auch in seinem Brief gegen die Schwester an Franz Overbeck (und an Meta von Salis) geschrieben. Daß Nietzsche tatsächlich an die Erfahrung denkt, welche im Jahre 1882 (Herbst) mit der sogenannten Lou-Affäre anfing und eine nie wieder überwundene Kluft zwischen ihm und seinen Angehörigen — Mutter und Schwester — schuf22, steht außer Zweifel, be21 22
Vgl. KSA 14, S. 497 f. Vgl. dazu Friedrich Nietzsche — Paul Rèe — Lou von Salomé, Dokumente nung, hg. von E. Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1971.
ihrer Begeg-
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sonders, wenn man diesen ersetzten Schluß mit Fragmenten und Briefstellen aus den Jahren 1882-85 vergleicht (die Hervorhebungen sind von mir und sollen die Ähnlichkeit zwischen dem, was Nietzsche damals schrieb, und der ersetzten Ecce-homo-Stelle hervorheben): „Ich weiß das längst, Menschen von der Art wie meine Mutter und Schwester müssen meine natürlichen Feinde sein — . . . Es verdirbt mir die Luft, unter solchen Menschen zu sein." (aus dem Nachlaß, Herbst 1882; KGW VIII 1, S. 113). „ . . . Bedenken Sie, daß ich aus Kreisen stamme, denen meine ganze Entwicklung als verwerflich und verworfen erscheint·, es war nur eine Consequenz davon, daß meine Mutter mich voriges Jahr einen .Schimpf der Familie' und ,eine Schande für das Grab meines Vaters' nannte. Meine Schwester schrieb mir einmal, wenn sie katholisch wäre, so würde sie in ein Kloster gehn, um den Schaden wieder gut zu machen, den ich durch meine Denkweise schaffe; ja sie hat mir offen Feindschaft angekündigt, bis zu jenem Zeitpunkt, wo ich umkehren und mich bemühen werde ,ein guter und wahrer Mensch zu werden'.23 Beide halten mich für einen ,kalten hartherzigen Egoisten', auch Lou hatte von mir die Meinung, bevor sie mich näher kennen lernte, ich sei ,ein ganz gemeiner niederer Charakter, immer darauf aus, Andre zu meinen Zwecken auszubeuten'." (An Peter Gast, 21. April 1883). „ . . . meine Schwester ist ein Unglückswurm: es ist ihr jetzt das sechste Mal in zwei Jahren passirt, daß sie mitten hinein in meine höchsten und seligsten Gefühle — Gefühle, wie sie auf der Erde überhaupt selten dagewesen sind — einen Brief hineingeworfen hat, der den niederträchtigsten Geruch des Allzumenschlichen h a t . . . Ich wunderte mich auch in Rom [Mai 1883] und Naumburg immer darüber, wie selten sie etwas sagt, was mir nicht wider den Strich ist . . . Ich bin nach jedem Briefe empört gewesen, über die schmutzig verleumderische Art, in der meine Schwester von Frl. Salomé redet... Daß die Beiden [Lou und Ree] sich gemein gegen mich benommen haben, 23
Die Briefe der Mutter und Schwester an Nietzsche über die „Lou-Affäre" sind — mit Ausnahme eines Brieffragments der Mutter aus dem Herbst 1882 — restlos verschwunden. Zu den hier zitierten Briefentwürfen vgl. K G B III 1, S. 364. 471f. 469f.
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
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ist wahr — aber ich hatte es ihnen vergeben, wie ich meiner Schwester schlimmeres Verhalten gegen mich vergeben hatte . . . " (An Overbeck Januar/Februar 1884, Briefentwurf). „ . . . Als ich Deinen Brief las, kam mir einmal wieder zum Bewußtsein, weshalb mich einige feinere Köpfe in Deutschland für unsinnig halten, oder gar erzählen, ich sei im Irrenhaus gestorben. Es gehört zu den Räthseln, über die ich einigemale nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind. " (An die Schwester, Mitte März 1885, Briefentwurf). „ . . . Ich weiß nicht, was schlimmer ist, die grenzenlose dreiste Albernheit meiner Schwester, einen Menschenkenner und Nierenprüfer wie mich über zwei Menschen belehren zu wollen, welche ich Zeit und Lust genug hatte aus der Nähe zu studiren: oder die unverschämte Taktlosigkeit, Menschen unausgesetzt mit Schmutz vor mir zu bewerfen, mit denen ich doch jedenfalls ein wichtiges Theil meiner geistigen Entwicklung gemein habe und welche insofern mir hundertmal näher stehen als dieses alberne rachsüchtige Geschöpf. — Mein Ekel, mit einer so erbärmlichen Creatur verwandt zu sein. Woher hat sie diese ekelhafte Brutalität, — woher jene verschmitzte Manier giftig zu stechen?... Die dumme Gans ging so weit, mir Neid auf Ree vorzuwerfen!" (An die Mutter, Januar/Februar 1884, Briefentwurf). Die Reihe von Zitaten dieser Art ließe sich nach Belieben vermehren: dagegen ist kein einziges glaubwürdiges Zeugnis Nietzsches über die Schwester vorhanden, das etwas mehr als ein „normales" Verhältnis zwischen Geschwistern beweisen könnte. Nur in den Augen der Schwester geschahen die sogenannten „Versöhnungen" (wie in Rom, Mai 1883, unter den Auspizien der „Idealistin" Malwida von Meysenbug, oder in Zürich, Oktober 1884) auf Kosten der Freunde (des Ehepaars Overbeck insbesondere), die Nietzsche „hundert mal näher" standen, oder gar mit Uberwindung einer radikalen Fremdheit in allen für Nietzsche entscheidenden Dingen24. Das „nor24
So schrieb Elisabeth Nietzsche am 4. April 1883 vor der „Versöhnung" mit dem Bruder in Rom an die Mutter: „Es ist mir schrecklich, ich kann mir nicht helfen die Ansichten von Fritz werden mir immer unsympathischer denn ich sehe nicht ein wem sie um das Geringste helfen sollen. Siehst Du ich wünschte bloß Fritz hätte Försters Ansichten, der hat Ideale welche zu fördern und zu befolgen die Men-
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
male" Verhältnis zwischen Bruder und Schwester besteht in der einfachen, menschlichen Tatsache, daß Nietzsche trotz alledem seine Teilnahme an den Schicksalen der Schwester (sogar ihres antisemitischen Mannes) aufrecht erhielt. Daß andererseits Elisabeth FörsterNietzsche ihren Bruder mehr als irgend einen anderen Menschen geliebt und verhimmelt hat, — allerdings in der anmaßenden Uberzeugung, immer zu wissen, was „das Beste" für ihn sei, — kann ein konzilianteres Licht auf diese „sœur abusive" (Richard Roos) werfen. Das Rätsel der Verwandtschaft mit der „erbärmlichen Creatur" glaubte nun Nietzsche an der Schwelle des Wahnsinns zu lösen, indem er es als eine „Rassenfrage" betrachtete25. So vielleicht ist auch zu verstehen, warum er die Mutter in die Gegenüberstellung „schlechtes deutsches Blut", mütterlicherseits, und (angebliche) „polnische Abstammung", väterlicherseits, einbezog. In diesem Zusammenhang läßt sich genau erklären, warum Nietzsche den Anfang des neuen Abschnittes 2 im Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe", den er auch gegen Ende Dezember nach Leipzig geschickt hatte, jetzt ändern ließ. Dieser Anfang lautet in seiner endgültigen Fassung, wie bekannt, so: „Dies war für Deutsche gesagt: denn überall sonst habe ich Leser — lauter ausgesuchte Intelligenzen, bewährte, in hohen Stellungen und Pflichten erzogene Charaktere; ich habe sogar wirkliche Genies unter meinen Lesern. In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New-York — überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in Europas Flachland Deutschland . . . "
sehen besser und glücklicher machen . . . Du wirst sehen man wird Förster noch einmal als einen der besten deutschen Männer und Wohlthäter seines Volkes preisen!" 25
Vgl. dazu folgende Stelle aus dem Briefe Nietzsches vom 29. Dezember 1888 an Meta von Salis: „ . . . meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstage mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen ,berühmt' zu werden . . . Das werde ein schönes Gesindel sein, das an mich glaube . . . Dies dauert jetzt sieben Jahre . . . — Noch ein andrer Fall. Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine bundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts andres bin". Hier sind bezeichnenderweise die Motive nacheinander berührt, welche Nietzsche dann in seinem neuen Abschnitt 3 von „Warum ich so weise bin" entwickeln sollte.
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
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Der ersetzte Anfang dagegen: „Zuletzt redet hier eine Rassenfrage mit. Die Deutschen sind mir nicht verwandt genug, ich drücke mich vorsichtig aus: es steht ihnen gar nicht frei, mich zu verstehen . . . Mein Stolz ist, daß man mich überall liebt und auszeichnet, außer in Europa's Flachland Deutschland . . . In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm und Kopenhagen, in London, in Paris, in New-York — überall habe ich Leser, ausgesuchte Intelligenzen, bewährte, in hohen Stellungen und Pflichten erzogne Charaktere. Ich habe wirkliche Genies unter meinen Lesern."26 Hier tritt der schriftstellerische Vorgang in seiner ganzen Konsequenz auf, der Nietzsche zur Abfassung des neuen Abschnittes 3 im Kapitel „Warum ich so weise bin" führte. Die Vorstufe — das erste von uns zu Beginn mitgeteilte Fragment — behandelte ja die „Frage der Rasse", sie fing mit den Worten „Ich berühre hier die Frage der Rasse" an. Nietzsche verzichtete auf die Berührung der Rassenfrage im Abschnitt 2 von „Warum ich so gute Bücher schreibe", schrieb einen Ubergangssatz („Ich betrachte es als ein großes Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben" usw.) zur Einfügung des neuen Textes ins Kapitel „Warum ich so weise bin", behandelte hier die „einzige schlechte Erfahrung" seines Lebens im Zusammenhang mit der „Frage der Rasse" (daher die Änderung am Schluß des fünften Abschnittes im Kapitel über Also sprach Zarathustra), endlich nahm er auch noch eine andere Korrektur vor im darauffolgenden Abschnitt 4, welche der neue Abschnitt 3 notwendig machte. Auch diese Korrektur ist auf dem Blatt überliefert, auf dem Peter Gast den neuen Abschnitt 3 abgeschrieben hatte. Sie betrifft folgenden Satz: „Man mag mein Leben hin- und herwenden, man wird darin nur selten, im Grunde nur ein Mal Spuren davon entdecken, dass Jemand bösen Willen gegen mich gehabt hätte . . . " Statt „man wird darin nur selten, im Grunde nur ein Mal Spuren davon entdecken" sollte es nunmehr heißen: „man wird darin, jenen Einen Fall abgerechnet, keine Spuren entdecken". 26
Vgl. Erich F. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs,
S. 253.
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
„Sie werden in Ecce homo eine ungeheure Seite über den Tristan finden, überhaupt über mein Verhältniß zu Wagner. Wagner ist durchaus der erste Name, der in E. h. vorkommt. — Dort, wo ich über Nichts Zweifel lasse, habe ich auch hierüber den Muth zum Aussersten gehabt". Diese Worte Nietzsches in seinem Brief vom 31. Dezember 1888 an Peter Gast gewinnen jetzt ihre ganze Bedeutung, da uns nun die Entstehungsgeschichte des Ecce homo und der neue Abschnitt 3 im Kapitel „Warum ich so weise bin" bekannt sind. Die „ungeheure Seite über den Tristan" ist der Abschnitt 6 im Kapitel „Warum ich so klug bin": wie wir wissen, einer der letzten Zusätze zum Druckmanuskript. Eine Anspielung darauf findet sich auch im Brief an Carl Fuchs vom 27. Dezember: „Tristan . . . ist das capitale Werk und von einer Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist"; man vergleiche damit im besagten Abschnitt folgende Stelle: „Aber ich suche heute noch nach einem Werk von gleich gefährlicher Fascination, von einer gleich schauerlichen und süssen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, — ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Lionardo da Vinci's27 entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan". Bezeichnenderweise steht auf dem selben Blatte, das die Vorstufe zu diesem Abschnitt enthält, auch der Entwurf einer kurzen Mitteilung an Cosima Wagner, die nie abgeschickt wurde, da sie als Begleitschreiben zum Ecce homo gedacht war. „Verehrte Frau, im Grunde die einzige Frau, die ich verehrt habe — . . . lassen Sie es sich gefallen, das erste Exemplar dieses Ecce homo entgegenzunehmen. Es wird da im Grunde alle Welt schlecht behandelt, Richard Wagner ausgenommen — und noch Turin. Auch kommt Malwida als Kundry vor . . . Der Antichrist" 28
27
Der Name Leonardo da Vincis in diesem Zusammenhang gewinnt eine besondere Bedeutung, wenn man u. a. bedenkt, daß Nietzsche sich das Aussehen Zarathustras wie das Leonardos in seinem Selbstbildnis gedacht hatte: „Nietzsche sah es 1885 auf meinem Zimmer — berichtet Gast — in der Röthel-Reproduction von Ongania in Venedig und meinte: Aah! das ist ja Zarathustra! so ungefähr hab' ich ihn gedacht!" Vgl. auch Gustav Naumann, Zarathustra-Commentar, Teil, S. 25.
Leipzig 1899, 1.
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Cosima Wagner kam schon mit besonderer Ehrerbietung vor im zweiten Teil des zweiten Abschnittes von „Warum ich so klug bin", einem Teil, den Nietzsche bei der Umarbeitung von Anfang Dezember verfaßt hatte: „ D i e einzigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand, waren alle französischer Herkunft, vor Allem Frau Cosima Wagner, bei weitem die erste Stimme in Fragen des Geschmacks, die ich gehört habe." 2 9 Gleichfalls Anfang Dezember hatte Nietzsche im Abschnitt 5 desselben Kapitels seines „intimeren Verkehrs mit Richard Wagner" gedacht: „Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle — der tiefen Augenblicke . . . Ich weiß nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen." Eine kleinere Korrektur im ersten Abschnitt des Kapitels über den Fall Wagner möchten wir auch als zusammenhängend mit der sehnsüchtigen Erinnerung an die Tage von Tribschen verstehen, die Nietzsche zwar immer mit sich trug, die jedoch erst von Anfang Dezember an auch im Ecce homo ihren Niederschlag fand. Nietzsche hatte geschrieben: „Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache [d. h. gegen Wagner] bei mir zurück, — ich kann warten", jetzt ersetzte er die Worte „ich kann warten" mit „ich habe Wagner geliebt". Ein anderer Einschub im vierten Abschnitt desselben Kapitels — dieser Abschnitt war übrigens erst bei der Revision von Anfang Dezember entstanden — läßt sich im gleichen Sinne deuten: „Rechne ich meinen Verkehr mit einigen Künstlern, vor Allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde mit Deutschen erlebt . . . " 28
Vgl. Erich F. Podach, Friedrich Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 166, w o jedoch dieser Briefentwurf mit Fehlern und Lücken wiedergegeben wird.
29
Die ganze Stelle wurde von Nietzsche nachträglich in den neuen Text eingefügt.
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
Schließlich sollte — gerade durch diesen vierten Abschnitt — das Kapitel über den Fall Wagner ein heftiger Angriff gegen die ganze deutsche Kultur überhaupt werden, mehr noch als gegen Wagner. Ende Dezember war Wagner — und mit ihm Cosima — „durchaus der erste Name", der in Ecce homo vorkam. Dort, wo Nietzsche „über Nichts Zweifel" ließ — für uns steht die Anspielung auch auf den Abschnitt 3 von „Warum ich so weise bin" außer Frage —, wurde Cosima Wagner die „vornehmste Natur", der einzige Fall, wo Nietzsche „seines Gleichen" anerkannte. Und Richard Wagner „der mir bei Weitem verwandteste Mann". Auffallend ist jedoch die Variante der endgültigen Fassung dieser Stelle in dem Fragment, das als Vorstufe dazu diente. Während Nietzsche im Fragment geschrieben hatte: „Frau Cosima Wagner ist bei weitem die vornehmste Natur, die es giebt, und, im Verhältniß zu mir, habe ich ihre Ehe mit Wagner immer nur als Ehebruch interpretirt . . . der Fall Tristan." schrieb er nun: „Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur; und, damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, daß Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war . . . Der Rest ist Schweigen . . . " Gerade hier ist — wenigstens beim jetzigen Stand der biographischen Forschung — unmöglich festzustellen, inwiefern Nietzsche sich auf ein inneres Erlebnis aus der Tribschener Zeit bezieht. Es ist dies — vielleicht in noch stärkerer Form — dasselbe Problem, welches die „Wahnsinnszettel" aufwerfen, die er einige Tage später an Ariadne-Cosima richtete30.
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Die Wahnsinnszettel an Cosima Wagner sind faksimiliert bei Curt von Westernhagen, Richard Wagner, Zürich 1956, S. 471.
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo"
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Wir haben versucht, den engen Zusammenhang des neuen Abschnittes mit der Textgeschichte des Ecce homo zu zeigen. Die Rekonstruktion von Nietzsches Leben in den 105 Turiner Tagen vor seinem geistigen Zusammenbruch ist jedoch eine viel kompliziertere Aufgabe: hier wurde nur auf einige Aspekte hingewiesen31. Der Platz des Ecce homo innerhalb des Werkes und sein Wert für die Biographie ist erst zu erschließen im Zusammenhang aller Nachlaßfragmente aus dieser Zeit und des vollständigen Briefwechsels. Auch die Beziehungen Nietzsches zu seinen Angehörigen und zu Cosima und Richard Wagner wurden hier nur unter dem Gesichtspunkt einiger seiner letzten Kundgebungen betrachtet. Der Fund im Peter-GastNachlaß bietet uns jedoch die Gelegenheit, einen letzten wichtigen Punkt zu berühren. Jenes Blatt enthält die Abschrift einer letzten Änderung im ersten, imprimierten Korrekturbogen des Ecce homo. Diese betrifft eine Stelle in dem kurzen Prolog („An diesem vollkommnen Tage, wo alles r e i f t . . . " ) , der auf das — später verfaßte — Vorwort folgt und die Selbstdarstellung einleitet. Es ist die Stelle, wo Nietzsche seine letzten Werke aufzählt. Sie lautete:
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Zu der schwierigen Aufgabe gehören zum Beispiel: der Bruch mit Malwida von Meysenbug im Zusammenhang mit dem Fall Wagner (die entscheidenden Briefe beiderseits sind noch unbekannt); die Auseinandersetzung mit F. Avenarius, die zur Entstehung von Nietzsche contra Wagner führte; der Bruch mit dem Leipziger Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch und die darauffolgenden Versuche Nietzsches, seine „Litteratur" wieder in die Hände zu bekommen; der kurze Briefwechsel mit August Strindberg; die „Verhandlungen" für die Ubersetzungen von Ecce homo, Antichrist, Götzen-Dämmerung, Fall Wagner, welche Nietzsche besonders im Dezember beschäftigten; das „Promemoria" gegen das deutsche Reich, das er tatsächlich in den letzten Tagen des Dezember verfaßte und einem seiner „Ubersetzer", dem französischen Publizisten Jean Bourdeau, zukommen ließ (dieser schrieb am 4. Januar 1889: „J'ai reçu également votre manuscrit de Turin, qui témoigne de vos sentiments anti-prussiens . . . Il ne me semble pas de nature à pouvoir être publié."); die ganze Turiner Szenerie: Begräbnisse, Hochzeiten, Operetten, Konzerte, bestimmte Gebäude wie die „Galleria Subalpina", „Palazzo Madama", besonders aber die „Mole Antonelliana", das Werk des „uralten" Piemonteser Architekten Alessandro Antonelli (1798-1888, am 18. Oktober gestorben), bei dessen Begräbnis Nietzsche zugegen war (vgl. an Burckhardt, 6. Januar 1889): sein Bauwerk hatte Nietzsche „Ecce homo" getauft. Und anderes mehr. Vgl. dazu KSA 15, 5. 176-210 (Chronik).
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „ E c c e homo"
„Das erste Buch der Umwerthung aller Werthe, die Lieder Zarathustras, die Götzen-Dämmerung, mein Versuch, mit dem Hammer zu philosophiren —" jetzt sollte es heißen: „Die Umwerthung aller Werthe, die Dionysos-Dithyramben und, zur Erholung, die Götzen-Dämmerung —" Diese Korrektur, die Nietzsche anscheinend beim Imprimatur vom 18. Dezember vergessen hatte, entsprach der Gleichung: Antichrist = die ganze „Umwertung aller Werte", wie sie in dem Brief an Paul Deussen vom 26. November, aber auch in anderen, früheren und späteren Briefen und Briefentwürfen stand32. Hinzu kam noch der neue Titel Dionysos-Dithyramben (an Stelle von: Lieder Zarathustras), der um den 1. Januar 1889 entstand, so daß die ganze Änderung als die letzte Bestimmung Nietzsches zu gelten hat. Nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch nahm Gast — im engen Einvernehmen mit Franz Overbeck — die Durchsicht der Druckmanuskripte und Korrekturbogen (zu Ecce homo und Nietzsche contra Wagner) vor, die sich in der Leipziger Druckerei des C. G. Naumann befanden. Bei Ecce homo war das allererste, das ihm auffiel, die von Nietzsche angekündigte Beendigung der „Umwertung aller Werte". Da Nietzsche ihm gar nichts von seiner „Aufwertung" des Antichrist zur ganzen „Umwertung" mitgeteilt hatte, so war Gast in seiner — damaligen — Jünger-Seele von der Kunde ganz umgeworfen. Er schrieb am 18. Januar 1889 darüber an Overbeck: „ Wäre dieses Werk fertig — wie ich glaube — Nietzsche ist vor Jubel über die Triumphe der menschlichen Vernunft in ihm, über die Vollendung des Werkes wahnsinnig geworden —, so hätte man immer noch zufrieden zu sein, so frivol es beinahe klingt. Was uns jetzt peinigt ist die Befürchtung dass der Zusammenbruch der Inkarnation dieser Gedanken zu früh erfolgt sei. Dass die auf dieses Werk bezüglichen Manuskripte nicht unter den von Ihnen mitgenommenen 32
Vgl. Nietzsche an Helen Zimmern Mitte Dezember (Brief und Briefentwurf), sowie die Briefe an Georg Brandes vom 20. November und an C. G. Naumann vom 27. Dezember 1888.
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Sachen sind, ängstigt mich, ich muss es sagen. Aber vielleicht haben die mit dem Zusammenpacken und Absenden der Turiner Effecten betrauten Personen keine Idee von der Wichtigkeit der Papiere und Zettel u.s.w., so dass hoffentlich alles in seiner Integrität ankommt." Eine Woche später freilich, nachdem er das Ecce homo gelesen hatte, war Gast über die „Triumphe der menschlichen Vernunft" in Nietzsche etwas skeptischer geworden, stand doch in seinem Brief an Overbeck vom 25. Januar: „ . . . Sobald Sie, verehrter Herr Professor, die Turiner Sachen angesehn haben, geben Sie mir vielleicht eine kurze Notiz darüber. In „Ecce homo" wird die „Umwerthung aller Werthe" als fertig hingestellt; nur fürchte ich, dass sich dies bloss auf den Gedankenkreis und nicht auf die litterarische Gestalt bezieht."33 Gast war tatsächlich sehr wenig von Nietzsche über die „Umwertung" informiert worden. Ihm hatte Nietzsche nicht einmal den Titel Antichrist mitgeteilt, sondern nur vom „Fertig-machen des ersten Buchs der Umwerthung" gesprochen (27. September). Außerdem kannte Gast aus der Zeit seiner Korrekturarbeit an der GötzenDämmerung nur noch den Hinweis auf die Beendigung des ersten Buches der „Umwerthung", welcher am Schluß des Vorwortes zur genannten Schrift steht: „Turin, am 30. September 1888, am Tage, da das erste Buch der Umwerthung aller Werthe zu Ende kam."
33
Der Briefwechsel zwischen F r a n z Overbeck und Peter Gast ist v o n unschätzbarer Bedeutung für die Nietzsche-Forschung. Die Briefe Gasts sind in dec Basler Universitätsbibliothek aufbewahrt: wir danken Herrn D r . Max Burckhardt, der uns diese Briefe zur Verfügung gestellt hat. D i e Briefe Overbecks sind in Abschriften — jedoch nur z u m Teil — auch in der Basler U B vorhanden. Alle Originalbriefe Overbecks an Gast befinden sich heute im Peter-Gast-Nachlaß, also in Weimar. Durch teilweise Publikation ist dieser Briefwechsel schon bekannt. Eine vollständige Edition wird beim Verlag D e G r u y t e r geplant. Auffallend ist in den zitierten Stellen aus den Briefen von Peter Gast, wie hier das Hauptargument der späteren Verleumdung Overbecks von Seiten des Nietzsche-Archivs im Keime schon vorhanden ist: Nietzsche hätte die ganze U m w e r t u n g (wenigstens deren Gedankenkreis) ausgearbeitet, ergo sollten Manuskripte verlorengegangen sein.
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Jedoch: erst wenn man die Änderung im „Prolog" des Ecce homo mit den erwähnten Briefen und Briefentwürfen (an Deussen, Brandes, H. Zimmern, C. G. Naumann usw.) vergleicht, kann man sie dahin deuten, daß Nietzsche damit die Beendigung der „Umwerthung aller Werthe" verkünden wollte. Gast mußte eine weitere unmißverständliche Äußerung darüber bekannt sein, die ihn zu seinen Briefen vom 18. und 25. Januar an Overbeck veranlaßte. Tatsächlich: in einem noch unveröffentlichten Brief vom 17. November 1893 an Elisabeth Förster-Nietzsche schrieb Peter Gast: „Die Abschrift des Ecce homo [die er 1889 angefertigt und damals nach Naumburg geschickt hatte] ist wortgetreu. Nur auf S. 102 habe ich mir erlaubt einen Strich zu machen, und auf S. 104 die drei Worte ,des ersten Buches' einzuschieben." Wie aus der Ecce-homo-Abschrift (im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt) zu ersehen ist, betreffen beide Änderungen das Kapitel über die Götzen-Dämmerung. Durch die erste wollte Gast — anscheinend auf eigene Faust — die Worte „dass ich Anstand nehme, ihre Zahl zu nennen" (vgl. KGW, VI/3, S. 352,6) beseitigen. Die zweite Änderung bezog sich auf einen Satz des dritten Paragraphen, welcher bis heute in dieser Form bekannt war: „Am 30. September großer Sieg; siebenter Tag; Müßiggang eines Gottes am Po entlang." An Stelle von „siebenter Tag" findet man in der Abschrift von Gast: „Beendigung des ersten Buchs der Umwerthung". Da Gast in der zitierten Briefstelle von „einschieben" spricht, so muß man annehmen, daß die Worte „Beendigung der Umwerthung" von Nietzsche stammen. Im Druckmanuskript Nietzsches sieht man auch heute noch die Spuren dreier mit Bleistift hingeschriebener, später mit Gummi wegradierter Worte über den zwei Worten „siebenter Tag", welche wiederum die Spur einer ausradierten Streichung durch Bleistift zeigen. Der erste Buchstabe des ersten der darüber ersetzten Worte ist noch als ein „B" von Gasts Hand erkennbar. Der ganze Hergang läßt sich so rekonstruieren: 1) „Beendigung der Umwerthung" an Stelle von „siebenter Tag" war eine Änderung Nietzsches, die er nachträglich — im Laufe des Dezember — nach Leipzig
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geschickt hatte; 2) das Blatt oder der Zettel, auf dem Nietzsche den Hinweis zu dieser Änderung gab, ist wie so manches Andere verloren gegangen, bzw. vernichtet worden; 3) weil die Änderung auf separatem Blatt oder Zettel stand, fiel sie Gast sofort auf, als er sich das Druckmanuskript des Ecce homo nebst den zahlreichen Nachträgen dazu bei Naumann holte, daher der erregte Brief vom 18. Januar 1889 an Overbeck; 4) zunächst ersetzte Gast die Worte „siebenter Tag" mit „Beendigung der Umwerthung" (also gemäß dem Hinweis Nietzschesj im Originalmanuskript des Ecce homo-, 5) später jedoch, als er seine Kopie anfertigte, schrieb er das, was ihm richtiger schien: „Beendigung des ersten Buchs der Umwerthung". In der neuen kritischen Gesamtausgabe ist die so erschlossene Änderung Nietzsches aufgenommen worden: „Beendigung der Umwerthung" an Stelle von „siebenter Tag" 34 .
34
Die Gleichung Antichrist = Umwerthung wurde zuerst von Ernst Horneffer, Nietzsches letztes Schaffen, Jena 1907, S. 17-19, aufgestellt, aufgrund des letzten Titelblattes des Antichrist, das als — später gestrichenen — Untertitel die Bezeichnung führt: „Umwerthung aller Werthe" (Nietzsche ersetzte zuletzt diese Worte mit „Fluch auf das Christenthum"). Das Titelblatt in seiner ersten Fassung entspricht genau der von uns veröffentlichten Stelle aus dem Briefe an Paul Deussen vom 26. November: „Meine Umwerthung aller Werthe mit dem Haupttitel „der Antichrist" ist fertig". Dieser Brief wurde vom Nietzsche-Archiv nie veröffentlicht, sonst hätte E. Förster-Nietzsche auf eines ihrer Hauptargumente in der gehässigen Kampagne gegen Franz Overbeck, den besten Freund ihres Bruders, verzichten müssen. Da in den erwähnten Briefen an Brandes und Naumann Nietzsche von einer fertigen „Umwerthung" sprach, ohne jedoch den „Haupttitel" zu erwähnen, so bestand die Schwester darauf, daß Nietzsche damit nur seine Arbeit an einem Werk in vier Büchern (gemäß dem letzten Plan der Umwerthung) gemeint haben konnte, von denen jedoch nur das erste Buch — Der Antichrist — erhalten geblieben sei. Andere wichtige Manuskripte seien wegen der Nachlässigkeit Overbecks — als er den geisteskranken Freund von Turin abholte — verloren gegangen. Die FörsterNietzsche — wohlgemerkt — hatte zwischen 1896 und 1901 Nietzsches Briefe an Deussen von diesem als Geschenk bekommen. Über den „Kampf um die verlorenen Handschriften" vgl.: Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Nietzsche-Archiv, seine Freunde und Feinde, Berlin 1907; C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena 1908; Ernst Holzer, Antichrist und Umwerthung, „Süddeutsche Monatshefte", 5. Jg., Heft 8, August 1908, S. 162-169. Peter Gast machte, als Angestellter des Nietzsche-Archivs, die ganze Kampagne mit. So hatte z.B. Ernst Horneffer in seiner Schrift (S. 26), dem hier dargestellten Tatbestand ge-
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Über die eigene Abschrift des Ecce homo schrieb Peter Gast am 27. Februar 1889 an Overbeck: „ . . . Nur wollte ich, dass Sie, verehrter Herr Professor, die Schrift [Ecce homo] erst aus meiner Copie kennen lernten, also ohne die Stellen, welche selbst mir den Eindruck zu grosser Selbstberau-
nau entsprechend, erklärt: „Peter Gast hat mir aber selbst erzählt, daß Nietzsche im Ecce homo die Umwerthung als fertig bezeichne und daß er, nämlich Peter Gast, in seiner Abschrift aus f r e i e n S t ü c k e n dafür, das e r s t e B u c h der ,Umwertung' eingesetzt habe, da Nietzsche Angabe offenbar falsch sei." Darauf antwortete Gast in dem kleinen Aufsatz Die
neueste
Nietzsche-Fabel,
„Die
Zukunft", 5. Oktober 1907, X V I . Jahrg., Nr. 1, S. 29: „Im Ecce homo widmet Nietzsche jedem seiner fertigen Werke ein eigenes Kapitel. Da die .Umwerthung' bei Abfassung des Ecce nicht fertig war, erhielt sie auch kein Kapitel. Nur am Schluß des £cce-Kapitels über die ,Götzendämmerung' wird der ,Umwerthung' gedacht . . . In der Originalhandschrift des Ecce findet sich nun an gedachter Stelle folgender Satz: ,Am dreißigsten September großer Sieg; siebenter Tag: Müßiggang eines Gottes am Po entlang'. Die zwei Worte siebenter Tag' sind von Nietzsche gestrichen, aber durch nichts Neues ersetzt. Als ich das Werk im Jahr 1889 kopirte, schien es mir unmöglich, daß Nietzsche den gekürzten Satz bei der Drucklegung so stehen gelassen hätte. Das Ausruhen Gottes paßte nur zum siebenten Tag, nicht zum Sieg. Offenbar hatte Nietzsche an dem Ausdruck .siebenter Tag' Anstoß genommen, da er den Anschein erwecken könne, als sei die ganze Umwerthung vollendet; vielleicht waren ihm Ersatzworte nicht gleich zur Hand oder genügten ihm die noch nicht, die ihm einfielen. Ich bin auch heute noch überzeugt, daß Nietzsche bei der Drucklegung die Lücke ausgefüllt hätte. Und da im Vorwort des Ecce, und zwar auch in dem noch vorhandenen Korrekturabzug . . . unter den aufgezählten Werken des Jahres 1888 deutlich zu lesen stand: ,Das Erste Buch der Umwerthung alle Werthe' so schrieb ich, da eben nach meiner Meinung das Durchstrichene durch irgendetwas zu ersetzen war, den ganzen Satz für mich so hin: ,Am dreißigsten September großer Sieg; Beendigung des Ersten Buches der Umwerthung: Müßiggang eines Gottes am Po entlang'. Von dieser Einsetzung erzählte ich Horneffers. Durch mich erst sind sie darauf aufmerksam geworden. Was aber muß ich jetzt erleben? Aus dem erwähnten Schriften wird klar, daß sich Horneffer seitdem steif und fest einbildete, von den sechs Wochen .Beendigung des Ersten Buches der Umwerthung' sei nur das zweite, dritte, vierte Wort von mir eingeschoben und bei Nietzsche stehe ,Beendigung der Umwerthung'. Bei Nietzsche aber steht nichts als das von ihm ausgestrichene und des Ersatzes harrende siebenter Tag'." Den richtigen Kommentar zu dieser Prosa hat später Peter Gast selbst geschrieben: „Was sollte man als einstiger Archivmensch nicht alles mitvertreten, das man als anständiger Mensch eben nie vertreten kann" (an Ernst Holzer, 26. Januar 1910, vgl. in diesem Band S. 204-206).
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schung oder gar zu weit gehender Verachtung und Ungerechtigkeit machen, — damit Sie also zunächst den Eindruck bekämen, den ich mir nicht genau vergegenwärtigen könnte, da ich mir das Ausgefallene zu leicht mitdenke." Diese Stelle ist von unschätzbarer Bedeutung für die spätere Textgeschichte des Ecce homo. Die uns erhaltene Abschrift Gasts „ohne" die anstößigen Stellen ist — abgesehen von ganz geringen Unterschieden — identisch mit dem bis jetzt bekannten Text des Ecce homo\ Das „Ausgefallene", d. h. die Stellen, welche selbst Gast [!] „den Eindruck zu großer Selbstberauschung" und „zu weit gehender Verachtung und Ungerechtigkeit" machten, wurde nie wieder in die späteren Editionen des Ecce homo aufgenommen. Es handelt sich hier nicht um die wenigen kleineren Stellen, welche früher in den Nachberichten der Ausgaben des Nietzsche-Archivs z. T. erwähnt und durch Podach restlos bekannt wurden. Es handelt sich vielmehr um Texte, die — wie der Abschnitt, den wir wieder herstellen konnten, — später vernichtet wurden. Die private Zensur von Gast wurde, als 1893 Elisabeth Förster-Nietzsche in den Besitz auch des Ecce-homoDruckmanuskripts kam, die Zensur der Familie Nietzsche (und des Nietzsche-Archivs). Einige spärliche Fragmente in kaum lesbarer Handschrift, denen keine endgültige Fassung im Ecce homo entspricht, lassen den möglichen Inhalt einiger beseitigter Stellen vermuten. Sie dürfen jedoch ebensowenig in den Text des Ecce homo aufgenommen werden wie die Vorstufen, die Nietzsche selber ausgearbeitet hat und die in den Apparat gehören. Abgesehen von dem hier besprochenen Abschnitt muß das Ecce homo so bleiben, wie es bekannt ist. Sicher ist: Nietzsche hat ein vollendetes Ecce homo hinterlassen, aber wir haben es nicht35.
35
Vgl. Erich F. Podach, Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 184: „Sicher ist: Nietzsche hat kein vollendetes Ecce homo hinterlassen, aber wir haben eins". Podach ging vom — wie wir gesehen haben — richtigen Standpunkt aus, daß Peter Gast die Hauptfigur in der späteren Textgeschichte des Ecce homo sei. Seine Edition des Ecce homo, welche auch die letzten Vorstufen zum Text bringt — und zwar mit den endgültigen Fassungen gemischt — liefert jedoch nicht den entscheidenden Beweis für die Manipulationen Peter Gasts.
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Nachtrag Nietzsches schärfste Abrechnung mit Mutter und Schwester kam nach Leipzig „an einem der beiden letzten Dezembertage 1888"; C. G. Naumann, von seinem Faktor auf die „stark verletzende Form" dieses Textes aufmerksam gemacht, ließ ihn vorläufig in den von Nietzsche imprimierten Satz des Ecce homo nicht aufnehmen: er beabsichtigte, über den Vorfall sich Auskunft bei Nietzsche zu holen. Gleich darauf kam die Nachricht von Nietzsches Umnachtung. Peter Gast vermißte das Blatt nicht bei seiner Abschrift des Ecce homo: es gehörte ja zu den Stellen, die ihm den Eindruck „zu weit gehender Verachtung und Ungerechtigkeit" machten. So blieb das Blatt im Schreibpult Naumanns liegen, bis Peter Gast es Anfang Februar 1892 im Auftrag von Nietzsches Schwester abholte. Er schickte es am 9. Februar 1892 nach Naumburg mit folgenden Begleitworten: „....Ich war also erst Montag früh bei Naumann. Telephonisch wurde auch sein Neffe [Gustav Naumann] gerufen. Zunächst eignete ich mir, mit Einwilligung Naumann's das beifolgende Blatt zu 'Ecce homo' an. Ich glaube nicht, daß Naumann eine Copie davon hat: es lag noch in dem Kasten und an der Stelle, wo es früher, als er's mir zeigte, gelegen hatte. Seien wir froh, dass wir's haben! Es muss aber nun auch w i r k l i c h v e r n i c h t e t werden! — Wenn es auch klar ist, dass es bereits im vollen Wahnsinn geschrieben wurde, so wird es doch immer wieder Menschen geben, die da sagen: eben d e s s h a l b sei es von Bedeutung, denn hier redeten ohne Scheu die Instinkte in voller Wahrhaftigkeit . . . " Wahrscheinlich bei dieser Gelegenheit fertigte Gast seine Abschrift des Blattes an, die wir in seinen Beständen wiederentdeckt haben. Die von uns zitierte Uberschrift, welche Gast damals an den Kopf seiner Kopie setzte, lautete: „Copie eines Bogens, den Nietzsche, bereits im vollen Wahnsinn, an Naumann während des Drucks von ,Ecce homo' schickte (Ende December 1888 von Turin aus)." Nachträglich strich Gast die Worte „bereits im vollen Wahnsinn" aus, die er 1892 aus Rücksicht gegen Nietzsches Ver-
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wandte, jedoch wider besseres Wissen um die Textgeschichte des Ecce homo auch im Begleitschreiben gebraucht hatte. Nach seinem endgültigen Bruch mit der Förster-Nietzsche im Sommer 1909 brauchte Gast seine wahre Meinung darüber nicht mehr zurückzuhalten. Der fünfte Band der „Gesammelten Briefe" war damals erschienen; er enthielt Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester und war — wie wir heute durch Karl Schlechtas Bericht wissen — ein Meisterwerk der Verfälschung. Bei dieser Gelegenheit schrieb Peter Gast an Ernst Holzer (23. Juni 1909): „ . . . In Ihrer letzten Karte sagten Sie: die Briefe (V) zeigen Nietzsches e n g e Beziehung zur Schwester über allen Zweifel erhaben. Jajajajaja! Die enge Beziehung machte aber viel Uberwindung nöthig. Wie krampfhaft diese Uberwindung bei Nietzsche war, wurde erst sichtbar kurz vor Ausbruch des Wahnsinns: nämlich als Nietzsche das große Ecce-Nachtrags-Folioblatt über Mutter und Schwester an Naumann sandte. D a redete der von seiner Gutspielerei endlich angeekelte Nietzsche frank und frei, und Vernichtenderes ist noch nie über Menschen gesagt worden, wie auf diesem Blatt . . . " Unseren Ausführungen über den authentischen Text des Abschnittes 3 im Kapitel „Warum ich so weise bin" des Ecce homo seien noch einige Briefe aus dem Jahre 1908 nachträglich beigefügt. Sie stammen aus der Zeit, da die Veröffentlichung von Ecce homo im Nietzsche-Archiv vorbereitet wurde, und sind entnommen aus den Briefwechseln von Peter Gast mit Raoul Richter (Philosophieprofessor in Leipzig und erster Herausgeber des Ecce homo) und von Elisabeth Förster-Nietzsche mit Raoul Richter und Constantin Georg Naumann. Dadurch werden einige wichtige Einzelheiten über die Geschicke des besprochenen Textes bekannt und das, was Peter Gast mit Ironie den „Wahrheitssinn der Frau Förster" nannte, zur Genüge belegt. Auch diese Dokumente werden im Goethe- und SchillerArchiv zu Weimar aufbewahrt. 1. Peter Gast an Raoul Richter. (Brieffragment) Weimar, 5. Mai 1908 dem noch vorhandenen 1. Correcturbogen vorkämen, ist mir nicht erinnerlich, auch nicht recht denkbar.
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Seit dem Tag, da Sie hier waren, habe ich gesucht und gesucht, ob ich nicht einen Anhalt für die Änderung finde, die sich auf der 1. Seite von Bogen 1 von mir hingeschrieben findet. Endlich entdeckte ich sie in einem meiner Taschenbücher aus jener Zeit, — vorgestern erst. Dass jene Änderung, namentlich die Wendung „ u n d , z u r E r h o l u n g " , nicht von mir sei, wusste ich zu bestimmt: sie aber dokumentarisch zu belegen oder mich zu erinnern, woher ich die Änderung habe, war mir ganz unmöglich. Jetzt weiss ich also, dass jene Änderung (mit noch einer andern) auf dem Blatte stand, das N . Ende Dec. 88 an Naumann gesandt hat und das so garstige Dinge gegen Mutter und Schwester enthielt. Dieser Dinge wegen war ich Anfang der 90er Jahre von Frau Förster-N. beauftragt worden, das Blatt Herrn Naumann wegzunehmen und nach Naumburg zu bringen. O b das Blatt noch existirt, weiss ich nicht: Frau F.-N. wollte es verbrennen. Kurz, in meinem Notizbuch steht, wahrscheinlich auf der Bahnfahrt geschrieben, Folgendes: Auf dem Blatt zu Ecce mit dem veränderten Anfang von Abschnitt 3 in Bogen 1 steht noch: A n d r e C o r r e c t u r e n auf Bogen 1. S. 1, Zeile 8: Die Umwerthung aller Werthe, 2. Raoul Richter an Peter Gast Leipzig, 16. Mai 08. Sehr verehrter Herr Gast Mit dem besten Dank für Ihre ausführlichen und freundlichen Aufklärungen bitte ich um Entschuldigung, dass ich diese nur so kurz beantworte. Aber ich hoffe Sie Donnerstag persönlich sprechen zu können. Es ist ja sehr angenehm, dass gar keine verleumderischen Pressestimmen über Verstümmelungen des Ecce aufgetaucht sind, und im Nachbericht also eine Berücksichtigung solcher Vorwürfe ausbleiben kann. F ü r die Vernichtung des bewussten Blattes lassen sich, glaube ich, Formulierungen finden, die einsichtigen Lesern die Missbilligung des Schrittes unmöglich machen und dennoch die Tatsache nicht verschweigen. Dies zu tun scheint mir im Interesse der Sache, des Archivs und seiner Leiterin nicht rätlich. Wir würden nur die Erklärung, die wir in delikater F o r m vorher abgeben könnten (es handelt sich ja nur um ein paar Worte darüber), als Antwort auf gewisse Angriffe n a c h t r ä g l i c h in einem T o n e leisten müssen, der durch den, vermutlich rüden, gegnerischen T o n nicht mehr ganz in unsrer Hand ist. Aus Ihrer Bemerkung, dass N . das Ms. des Ecce nach dem 7.12.88 nie wieder gesehen habe, werde ich nun ganz darin bestärkt, dass die Depesche vom 16*/12 88 an Naumann „Ms. zurück Alles umgearbeitet" sich auf „Nietzsche
Es muß aber 6/12 88 heißen, das Telegr. meldet nur an Naum., daß Nietzsche das Ecce soeben aus Turin nach Leipzig absendet. [Anmerkung von Gast]
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contra Wagner" bezieht. Aus der Naumann-Correspondenz allein ist das ja mit Sicherheit nicht zu entnehmen. Mit freundlichen Grössen auch an Ihre Gattin und das Kind Ihr ganz ergebener Raoul Richter 3. Raoul Richter an Peter Gast
27/Mai 08 Sehr geehrter Herr Gast Vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Die nachträgliche Correctur zu S. 1, Z. 17 wird natürlich unsern Principien gemäss nicht aufgenommen werden; allerdings auch nicht die über die „Lieder Zarathustra's". Könnte man hier noch zweifelhaft sein, so ergäbe ja die Änderung auf S. 17 ohne Angaben über den „Einen Fall" keinen Sinn 1 . Lässt man aber diese Correctur verfallen, so darf man auch die andre nicht bringen. Ich denke mir, das leuchtet Ihnen auch ein. Mit Dank und Gruss Ihr R. Richter 4. Elisabeth Förster-Nietzsche an Constantin Georg Naumann Weimar, den 18. Juni 1908. An die Firma C. G. Naumann, Leipzig. Sehr geehrter Herr! Heute muß ich Sie in einer wichtigen Angelegenheit um ganz genaue Auskunft bitten: Im Jahre 1891 oder Anfang 1892 hat Herr Constantin Georg Naumann Herrn Peter Gast ein Blatt Manuskript gegeben, von welchem er behauptet hat, es wäre zufällig in seiner Schublade liegen geblieben, und es wäre bei Ihnen in Leipzig Anfang 1889 angekommen, als Prof. Nietzsche bereits krank gewesen sei. Ich selbst habe das Blatt nur ganz flüchtig gesehen, unsre Mutter aber hat es längere Zeit in der Hand gehabt, und was auf dem Blatt gestanden hat, weiß ich nur durch ihre Uberlieferung. Ich erinnere mich nur eines Satzes, mit dem ungefähren Inhalt: „daß er inzwischen zum Gott erhöht sei, und wir deshalb nicht würdig wären, seine Mutter und Schwester zu sein." Es habe auch jene großen Buchstaben gehabt, mit welchem er Alles geschrieben hat, nachdem er erkrankte. Unsre Mutter hat das Blatt verbrannt. Als ich 1893 aus Paraguay wiederkam, war es nicht mehr vorhanden, und sie konnte sich nicht mehr genau besinnen, wann und warum sie es vernichtet hatte. Herr Gustav Naumann, den ich darum fragte und mein großes Erstaunen aussprach: wie die Firma C. G. Naumann dazu gekommen sei, drei Jahre lang ein Blatt Manuskript zurückzubehalten, of-
1
Vgl. E H „Warum ich so weise bin" § 4, K G W VI 3, S. 267, Zeilel4.
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fenbar mit einem Inhalt, der unserer Mutter höchst unangenehm war — erklärte, daß er mir keine Auskunft darüber geben konnte, nur Eins behauptete er sicher: daß das Blatt weder zum „Ecce h o m o " noch zu „Nietzsche contra Wagner" gehört hätte. Beide Manuskripte sind von der Firma Naumann vollständig zurückgefordert worden; es ist doch unmöglich, daß die Firma eines jener Blätter drei Jahre lang gewissermaßen unterschlagen, und erst auf Reklamation von Herrn Peter Gast zurückgegeben hat, weil dieser zufällig durch Andere, denen es gezeigt worden war, von diesem Blatte gehört hatte. Nun höre ich jetzt zu meiner größten Verwunderung, daß Herr Constantin Georg und auch der alte Faktor Ihrer Druckerei zu Hrn. Prof. Richter von diesem Blatt gesprochen hat, als ob es ein Teil des Ecce homo gewesen sei. Ich bin darüber ganz entsetzt, denn dann hätte es doch auf keinen Fall vernichtet werden können — mag darin gestanden haben, was da will. Ich kann mirs nur noch nicht denken, sondern wahrscheinlich ist jenes Blatt eines von jenen, wie sie mein Mann nach der Erkrankung meines Bruders in Paraguay erhalten hat. Ich fand sie erst nach dem Tode meines Mannes, der 5 Monate nach der Erkrankung meines Bruders erfolgte; und da der Inhalt in der That voller Verwirrung war, außerdem voller Beleidigungen gegen meinen Mann, so habe ich sie unabgeschrieben verbrannt, bis auf zwei, die genaue Bezeichnungen zur Einfügung tragen: das eine in das Capitel des Ecce homo „der Fall Wagner" — das aber trotzdem nicht eingefügt und veröffentlicht werden könnte, da es für meinen Mann, Peter Gast, vor Allem aber für Overbeck außerordentlich beleidigend ist.2 Das andere Blatt, das ich noch von dieser Sendung besitze, ist wie es scheint eine geplante Einfügung zu „Nietzsche contra Wagner". Ich habe es allerdings damals für eine Einfügung in das Ecce homo gehalten. Ich möchte nun um Auskunft bitten, warum sich die damalige Aussage der Firma Naumann über das besagte Blatt mit der jetzigen widerspricht; und wie die Firma dazu gekommen ist, das Blatt zurückzubehalten und es ganz fremden Leuten zu zeigen, noch dazu das Blatt unangenehmen Inhalts gewesen sein muß. Es ist mir damals angedeutet worden, als ob es Herr Constantin Georg Naumann als ein Beispiel der Geistesverwirrung Nietzsches gezeigt habe, was ja natürlich ganz unerlaubt war, — immerhin entschuldbarer, als wenn er es jetzt als einen Teil des Ecce homo bezeichnet, das er damals widerrechtlich zurückbehalten und auf die Aufforderung der Vormundschaft nicht zurückgegeben hätte. Ich muß also die Firma Naumann höflichst bitten, mir über die einzelnen
2
Es handelt sich um den sogenannten „Paraguay-Zettel", den schon Podach, Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 314, veröffentlicht hat. Da diese Stelle, im Unterschied zum wiederhergestellten Abschnitt im Ecce homo, nur durch die Abschrift der Schwester bezeugt ist, so war ihre Aufnahme in den Ecce-homo-Text der K G W nicht zulässig; vgl. KSA 14, S. 506-509.
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Punkte genaue Auskunft zu geben, da die Sache vor dem Druck des Ecce homo richtig gestellt werden muß. Mir kommt es jetzt also darauf an, ob auf jenem fraglichen Blatt der Vermerk gestanden hat, daß es zum Ecce h o m o gehört, und ob die Stelle angegeben war, wo es eingefügt werden sollte. Ich erinnere mich nichts davon gelesen zu haben, aber ich habe es wie gesagt auch nur einen Augenblick in der Hand gehabt, da ich in colonialen Angelegenheiten gerade nach Berlin abreisen wollte.
5. Elisabeth Förster-Nietzsche an Raoul Richter (Konzept) 18.6.8 M . 1. Herr Prof. Die Sache mit jenem Blatt von welchem C . G . Naumann erzählt hat, ist doch eine sehr wichtige Angelegenheit. Ich füge die Abschrift eines Briefes bei, den ich in dieser Hinsicht an Naum. gerichtet habe. E r kommt erst morgen von einer längeren Reise zurück, deshalb wird wohl nicht gleich eine Antwort darauf kommen. Jedenfalls müssen wir — ich meine Sie und ich — uns noch einmal über diese ganze Ecce-homo-Sache besprechen. Ich bitte Sie dringend mir einen Tag zu bestimmen wann Sie hierher kommen wollen, dann will ich Ihnen auch noch zeigen, was von direkten Vorarbeiten zum Ecce homo vorhanden ist, auch was ich noch davon gekauft habe. Sie hätten dann aber die Güte nochmals das Druckmanuskript mitzubringen.
6. Constantin Georg Naumann an Elisabeth Förster-Nietzsche Leipzig den 2 Juli 1908. Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche
Weimar Geehrte Frau D o k t o r ! Nachdem ich vor wenigen Tagen von meiner Sommerreise hier wieder eingetroffen bin, beeile ich mich, in die Beantwortung Ihres Schreibens vom 18. Juni d. J . einzutreten. Gern hätte ich — um nicht alte Dinge aufleben zu lassen — eine Aussprache über das in Frage kommende Manuscript-Blatt Ihres Herrn Bruders vermieden; weil Sie aber selbst der Angelegenheit die größte Bedeutung zulegen, so bleibt mir nichts Anderes übrig, als offen und freimütig über Alles, was hier in die Erscheinung tritt, zu reden. Herr Professor D r . Raoul Richter, der mich wegen des „Ecce h o m o " in Ihrem Auftrage mehrere Mal besuchte, bat mich in dieser Angelegenheit um die g e n a u e s t e n Data und ich habe mich unter Verlust von mindestens einer Woche an Zeit darüber gemacht, sämtliche Korrespondenzen mit Ihrem Herrn Bruder, Professor Overbeck, Peter Gast, Ihrer Frau Mutter u. s. w. genau durchzugehen und nach Aufklärungen zu suchen. Nachdem im Verein mit Herrn Professor Dr. Richter alle nur einigermaßen Interesse habenden Punkte festgelegt waren, wurde aufs Neue n o c h m a l s Alles durchgelesen
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und das Ergebnis der ganzen Unterhandlungen war, daß ich n a c h 2 0 J a h r e n Weiteres nicht mehr zu sagen vermag; auch muß ich es unter Hinweis auf die Belastung meiner Arbeitskraft ablehnen, den gleichen Fall immer wieder von Anfang an zu untersuchen und zu besprechen. Bei der Wichtigkeit der Sache, war das Manuscript-Blatt Ihres Herrn Bruders nicht zu verschweigen, weil Etwas wissen und nicht sagen das Gleiche ist: wie eine falsche Aussage abgeben; das kann mir nicht zugemutet werden! Nach m e i n e m D a f ü r h a l t e n gehörte das Blatt z u m „ E c c e h o m o " , denn als an einem der beiden letzten Dezembertage 1888 mein Faktor Herr Haupt I in mein Stadtkontor kam, um mir unter Uebergabe des Blattes zu melden, daß er den fraglichen Satz in der gegebenen stark verletzenden Form doch nicht absetzen lassen könne, nahm ich das Blatt an mich und sagte ihm, daß ich darüber mit Herrn Professor Nietzsche direkt korrespondiren würde. Im Uebrigen waren ja die beiden anderen Bücher einesteils (GötzenDämmerung) fertig, andernteils (Nietzsche contra Wagner) bis zum letzten Bogen zum imprimatur abgesetzt. Der Inhalt des Blattes hätte in diesen Büchern auch gar keinen Sinn gehabt. Hierbei muß ich noch betonen, daß das Manuscript-Blatt (starkes circa 17-23 cm großes Büttenpapier — rechts ein rauher Rand — mit circa 35-38 g a n z e n g e n Zeilen Text Inhalt) kalligraphisch in tadelloser Reinheit geschrieben war und die klaren Schriftzüge Ihres Herrn Bruders trug; große Buchstaben und sonstige auffällige Merkmale gegen frühere Manuscripte waren vollständig ausgeschlossen, lediglich d a s b ö s e Wort mußte etwas schärfer angesehen werden, weil es am Ende des geschöpften Papierrandes stand, wogegen eine andere Deutung des Wortes ganz ausgeschlossen war, wie dies ebenfalls Herr Peter Gast bezeugen kann. Einen geordneten, ruhig weiterlaufenden Geschäftsgang vorausgesetzt hätte ich nun an Ihren Herrn Bruder vor dem weiteren Satz eine Anfrage nach Turin gesandt und um nochmalige genaue Disposition gebeten. Diese meine Gepflogenheit in solchen Fällen wäre nicht das erste Mal eingetreten! Der gleiche Fall ist mir ja ebenfalls mit Ihnen passirt, als ich Sie bei dem LouFall darauf aufmerksam machte, daß man in gedruckten Büchern etc. doch nicht von Lügen etc. spricht, ohne sich selbst in den Augen Andrer zu schädigen. Der Verlauf, den die ganze Angelegenheit mit Ihrem Herrn Bruder durch den Ausbruch der Krankheitskatastrophe nahm, kam indessen anders als man vorher erwarten konnte. E r s t a m 3 1 . D e z e m b e r 1 8 8 8 schrieb mir Herr Professor Nietzsche den in Ihren Händen befindlichen Geschäftsbrief, worin eine Bemerkung über die V e r k ä u f l i c h k e i t des „ Z a r a t h u s t r a " und seinen W e r t f ü r d e n V e r l e g e r stand, und dieser Brief ist der erste, den ich damals nicht ganz ernst, sondern eigentlich ziemlich lustig aufgenommen habe, sodaß ich meine Bemerkungen darüber machte. Bei der langen Reise dieses
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Briefes kann er frühestens am 2. Januar 1889 in meine Hände gelangt sein. Von diesem Zeitpunkte an überstürzten sich die Nachrichten, das fatale Manuscript-Blatt blieb in meinem Pult liegen und fand eine weitere Beachtung nicht, zumal auch dann noch nicht als später nach ein paar Monaten das Gesamtmanuscript des „Ecce h o m o " nach Basel3 gesandt wurde. Eine wissentliche Zurückhaltung meinerseits ist ganz ausgeschlossen, "sonst hätte ich später nach Wiederauffinden des Dokumentes Herrn Peter Gast keine Kenntnis davon gegeben. Nur wer die aufregenden Zeiten nach der Katastrophe mit durchlebt hat kann sich einen Begriff von dem fortwährend wechselndem [sie!] Bilde machen und wer solch einem Geschäfte vorsteht, wie ich damals, kann ermessen, daß man in solchen Zeitläuften bei einem täglichen Einlauf von ca. 80 Briefen und einem Eingang von ca. 100 Aufträgen nicht in der Lage ist seine Gedanken lediglich auf einen derartig außergewöhnlichen Fall zu konzentrieren. Genug — das Blatt kam als der Brief an Herrn Professor Nietzsche in den ersten Tagen des Januar 1889 überflüssig wurde in meinen Schreibtisch, es häuften sich viele weitere Geschäftspapiere darauf und als ich es nach Jahren wieder vorfand, war die Angelegenheit des „Ecce h o m o " längst erledigt, die ominöse Stelle verbot mir aber das Blatt aus der Hand zu geben, bez. Ihrer Frau Mutter zu überreichen, wogegen ich Herrn Peter Gast bei einem Besuche seinerseits, Mitteilung darüber machte. Dies muß nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland gewesen sein, denn Herr Gast wünschte, ich sollte das Blatt Ihnen geben; auch dies lehnte ich der Sache wegen ab, sondern verlangte von Herrn Gast: er möge diese fatale Mission selbst übernehmen. Jedenfalls habe ich bei einem Besuche des genannten Herrn, bei welcher Gelegenheit er mir erzählte, daß er mit Ihnen über den Fall Rücksprache genommen habe, keinen Augenblick gezögert das Blatt seiner Bestimmung wieder zuzuführen. So und nicht anders liegt die Angelegenheit in m e i n e m G e d ä c h t n i s s e fest. O b Herr Peter Gast das Dokument Ihrer Frau Mutter oder Ihnen gegeben hat, kann ich natürlich nicht wissen, das geht mich auch nichts an. Weil nun aber das Schriftstück nach Ihrem Schreiben v e r b r a n n t wurde und im Archiv nicht mehr vorhanden ist, so muß eben notgedrungen seine Veröffentlichung unterbleiben — gleichwie Sie nach Ihren Äußerungen eine andere Stelle nicht mit in das „Ecce homo" aufnehmen wollen, obschon Sie in demselben Briefe einige Zeilen vorher eine derartige Auslassung, g l e i c h v i e l w a s es b e t r i f f t , als durchaus unzulässig bezeichnen. Tatsache ist, daß Sie den Inhalt im Sinne ziemlich richtig wiedergeben, allerdings lautete die Leseart etwas anders und der Schlußsatz eines Absatzes 3
Das Ecce-homo-Druckmanuskript wurde von Naumann nicht nach Basel (an Overbeck) gesandt, sondern Peter Gast übergeben.
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ergab etwa folgende Fassung, s i c h . . . v e r w a n d t zu f ü h l e n , w ä r e e i n A n g r i f f auf meine G ö t t l i c h k e i t . 4 Etwas Weiteres kann ich nicht angeben, besonders auch nicht, ob das betr. Blatt sonst bestimmte Zeichen des „Ecce homo" oder Hinweise darauf trug, was ich auch Herrn Professor Dr. Raoul Richter sagte. Dagegen verletzt mich der Ton Ihres Schreibens in hohem Grade, während ich andererseits glaube, daß Sie mich wissentlich nicht beleidigen wollten, sondern, daß die betreffenden ehrabschneidenden Stellen auf Ihr impulsives Temperament zurückzuführen sind. Wollen Sie mir bestätigen, daß Ihnen jede Beleidigung meiner Person durch Ihren Brief ferngelegen hat, so soll die Angelegenheit als erledigt betrachtet werden; können Sie dies nicht, so zwingen Sie mich, gleichviel ob eine solche Maßnahme weitere Consequenzen zeitigt, zu einer Rücksprache mit meinem Anwalt, damit ich feststelle, ob ich mir derartige Insinuationen Ihrerseits gefallen lassen darf, ohne mich selbst bloßzustellen. Ich hoffe, daß sich diese Angelegenheit friedlich beilegt, sehe Ihrer gefl. Antwort entgegen und begrüße Sie hochachtungsvoll Constantin Georg Naumann in Firma C. G. Naumann Verlag 7. Elisabeth Förster-Nietzsche an Constantin Georg Naumann (Copie) Diktirt. Weimar, den 3. Juli 1908. An die Firma C. G. Naumann, Leipzig. Geehrter Herr, Sie würden Ursache haben den gekränkten zu spielen, wenn die Sache so harmlos wäre, wie Sie sie dargestellt haben. L e i d e r ist sie ganz anders. Zunächst will ich aber ein Mißverständnis beseitigen: Ich betrachte es als ein ausserordentliches Glück, daß Prof. Richter diese Angelegenheit genau untersucht hat und Sie dadurch veranlaßte, sich genau darüber auszusprechen — mir wäre es wünschenswert gewesen, daß Ihre jetzige Aussage mit der früheren übereingestimmt hätte. Es war einfach Ihre Pflicht, und ich bin vollkommen damit einverstanden, daß sie Alles sagten, was Sie sich zu erinnern glaubten. Also die Anfrage und Ihre Antwort an Prof. Richter wollen wir jetzt einmal ganz außer Spiel lassen, und Sie hätten nicht nötig gehabt, sich darüber auszutun. Es handelt sich um etwas ganz Anderes.
4
Naumann zitiert aus dem Gedächtnis die „ominöse" Stelle: „mit solcher Canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit" (KGW VI 3, S. 266), er läßt jedoch aus Rücksicht gegen E. Förster-Nietzsche das „böse" Wort „mit solcher Canaille" weg.
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1.) Sie behaupten jetzt, daß Sie das Blatt zunächst aus Zartgefühl zurückgehalten hätten und daß es dann in Ihrer Schublade vergessen worden wäre. Das stimmt in keiner Richtung. Sie haben das Blatt nämlich in der Zeit, als Sie mit meiner Mutter und mir wegen Ihrer unverantwortlichen Handlungsweise dem teuren Kranken gegenüber im Kampfe lagen, stockfremden Leuten gezeigt, und ich erinnere mich sehr wohl, daß, als ich sie im Frühling 1891 besuchte, sie eine leise Andeutung daraufhin gemacht haben, — um eine Art Druck auf mich auszuüben, — die ich aber auf die unbekannten an Sie gerichteten Briefe meines Bruders bezog. Sie haben das Blatt erst herausgegeben, als sich der Kampf zu Ihren Ungunsten entschieden hatte, und Sie sich eine Art Dankbarkeit erwerben wollten, damit Ihre Firma und nicht E. W. Fritzsch den Verlag der Schriften meines Bruders bekam. Herr Gustav Naumann hat damals gesagt, daß es ein Blatt a u ß e r h a l b aller Druckmanuskripte gewesen wäre: was ja Ihre Uebergabe des Blattes erklärlicher machte und zur Dankbarkeit aufforderte; sicher habe i c h nicht die geringste Seitenzahl darauf gesehen oder einen Vermerk wo es eingefügt werden sollte. Auch hat Prof. Richter das ganze Druckmanuskript des Ecce homo auf das Genauste geprüft, und nicht den allergeringsten Anhalt dazu gefunden, daß dieses Blatt irgendwie eingefügt werden sollte oder könnte. Er hat sich die größte Mühe gegeben. 2.) Die Sache liegt also so: Wenn das Blatt zum Ecce homo gehört, so ist Ihre damalige Handlungsweise widerrechtlich und unentschuldbar, noch dazu Sie dieses Blatt Fremden gezeigt haben. Leider bestätigt es heute Ihr Brief, und ich möchte nur die Hoffnung aussprechen, daß Sie Ihrer Sache nicht sicher sind. Ist das Blatt, wie damals Herr Gustav Naumann sagte, ein Blatt a u ß e r h a l b aller Druckmanuskripte gewesen, so ist Ihre Handlungsweise — die übrigens Hr. Gustav Naumann damals sehr schön und vornehm stark mißbilligte — immerhin entschuldbarer. Ich richte also noch einmal die bestimmten Fragen an Sie: a) Können Sie sich b e s t i m m t erinnern, daß auf dem Blatt ein Vermerk gestanden hat, daß es in das Ecce homo eingefügt werden sollte? b) Wie sind Sie dazu gekommen, stockfremden Leuten dieses Blatt zu zeigen? c) Haben Sie oder ein andres Mitglied der Firma C. G. Naumann eine Abschrift zurückbehalten, und warum geben Sie uns diese nicht? Was Sie aus der Erinnerung citiren, stimmt nicht mit meiner Erinnerung zusammen; es wäre deshalb wünschenswert, wenn Sie eine Abschrift vorlegten, die ja immerhin unter den damaligen Umständen etwas anders gefärbt sein kann. Also ich bitte Sie mir über diese drei Punkte eine ganz genaue Antwort zu geben. Ich sehe absolut nicht ein, weshalb ich in dieser Sache nicht in strengem Ton von Ihnen Rechenschaft fordern soll, — ich m u ß es sogar thun, um unsere gute Mutter zu rechtfertigen, die sich das Verbrennen vielleicht doch überlegt hätte, wenn man ihr gesagt hätte, oder eine Andeutung vor-
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handen gewesen wäre, daß das Blatt zum Ecce homo gehöre. Sie können es damals gegen Andere als Vermutung ausgesprochen haben, aber wir wußten nichts davon. Ich will gewiß gegen Sie nicht ungerecht sein, und sage Ihnen z. B. meinen besten Dank dafür, daß Sie Prof. Richter in seinen Untersuchungen unterstützt haben, aber ich kann Ihre damalige Handlungsweise nicht anders finden, als wie ich es und in dem neulichen Brief noch in sehr milden Worten ausgedrückt habe. Sie vergessen ganz, welche Kette von Unannehmlichkeiten Sie uns damals bereitet haben und auch jetzt bereiten.
8. Elisabeth Förster-Nietzsche an Raoul R ichter (Konzept)
5. Juli 8. Mein lieber Herr Professor Besten Dank für die Rücksendung der Briefe meines Bruders an die Firma C. G. Naumann und der beiden von meiner Hand geschriebenen Zettel, das Eine eine Ergänzung zu den Briefen meines Bruders an C. G. Naumann und das andere Blatt jene Einfügung der Stellen über meinen Mann Gast und Overbeck ursprünglich für das Ecce homo bestimmt. Ich muß Ihnen nochmals sagen wie entzückt ich von Ihrem Nachbericht bin. Der Ton ist so sehr gut getroffen, und wirkt sowohl nach der wissenschaftlichen als auch nach der philosophischen und gewissermaßen der Herzensstellung so warm und überzeugend. Ich danke Ihnen auf das Wärmste dafür. Nachträglich habe ich ein wenig über unsere Verhandlungen gelächelt. Wir wollen nun niemals vorher über etwas beraten, ehe der Wortlaut dessen, was wir ungefähr sagen wollen, festgestellt ist. Wir empfinden im Grunde so gleichartig in allen Hauptsachen, daß es in der Ausdrucksweise in Wahrheit gar nicht zu Differenzen kommen kann. Das giebt mir auch für die Zukunft ein so schönes Vertrauen, denn wenn einmal die wissenschaftliche Ausgabe des Ecce homo kommt, so hoffe ich doch sehr daß sie von Ihnen herausgegeben wird. Wie wir das einmal mit den Vorarbeiten und Nachträgen machen ist mir allerdings momentan noch nicht recht klar, aber es hat ja auch Zeit. Ich habe neulich noch etwas in den Vorarbeiten gelesen und wieder so sehr bestätigt gefunden, wieviel milder und glücklicher die ersten Aufzeichnungen ausgefallen sind. Ich glaube fast, wir könnten ein zweites Ecce homo aus den Vorarbeiten und Nachträgen zusammenstellen, wobei allerdings der Ton der ersten und der letzten ganz außerordentlich verschieden ist. Wie ich mir schon dachte hat mir Herr Naumann — weil Sie sich so freundlich entschuldigt haben, einen edelgekränkten Brief geschrieben. Da habe ich ihm nun geschrieben, daß Alles was er Ihnen gegenüber gesagt hat vollkommen korrekt war; ich habe mich auch für seine Hilfeleistung bedankt. Aber ich habe ihm nun doch vollkommen reinen Wein einschenken müssen, denn wie ich Ihnen sagte, sind Sie durchaus nicht die Veranlassung gewesen daß ich mich gegen Naumann mit energischen Maßregeln wandte, sondern Nachrichten von ganz andrer Seite [was ich Ihnen gegenüber schon
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erwähnt habe]5. Ich hoffe nun daß er dieses Mal ganz genau die drei Fragen beantwortet, die ich ihm gestellt habe. Zuletzt bitte ich Sie noch mir die beiden Copien der an C. G. Naumann gerichteten Briefe wenn Sie sie gelesen haben, zurückzusenden. Nun muß ich aber noch mit etwas Anderem beginnen: Sie waren neulich so liebenswürdig sich zu erbieten nach dem Original des Briefes zu forschen, wo mir gegenüber zuerst von Ecce homo die Rede ist. Nun ist die Sache folgendermaßen: Durch einen Herrn Johann Reinelt in Neisse, dessen Schriftstellername „Philo vom Walde" war, wurde ich auf das Lebhafteste für den ausgezeichneten Psychiater Prof. Wernicke in Breslau interessili. Dieser Herr Reinelt — den ich schon früher kannte, — kam gerade zu einer Zeit [Frühjahr 1898], hierher nach Weimar, wo es meinem Bruder merkwürdig gut ging. Infolgedessen glaubte ich daß eine Heilung möglich sei, und Philo vom Walde, der eine Art Naturarzt war, bestärkte mich darin. Er fand nun besonders die letzten Briefe meines Bruders merkwürdig und gerade diesen, in seinem Glück und seiner Klarheit, sodaß ich mich entschloß ihm den Brief für Prof. Wernicke mitzugeben. [Nun kam aber damals sog] Wernicke hatte darauf zugesagt, für ein Honorar v. 800 Mk hierher zu kommen, was im Vergleich zu andern Psychiatern recht billig war, denn Kreplin wollte 3000 M. haben. Nun kamen aber nach dieser sogenannten Remission Rückfälle, sodaß der Hausarzt meinen Hoffnungen gegenüber sehr skeptisch wurde und mir vorschlug, doch lieber Ziehen aus Jena kommen zu lassen, der ihn schon früher behandelt hatte. Dadurch kam die ganze Angelegenheit mit Prof. Wernicke in Vergessenheit. Ich muß sogar gestehen daß mir es entschwunden war daß ich den Brief Herrn Philo vom Walde gegeben hatte. Erst als ich jetzt nun im Frühjahr die Briefe alle zusammensuchte, und dann Dr. Sandberg aus Schlesien hier war, der einen der letzten Briefe meines Bruders von mir in Besitz bekommen hatte — und zwar den welchen ich an Binswanger von Paraguay aus schickte, fiel mir ein, daß die beiden andern Briefe der letzten Zeit gleichfalls in die Hände von Psychiatern gekommen waren. Ich wäre Ihnen nun sehr dankbar, wenn Sie die Nachforschung anstellen wollten, muß aber betonen, daß ich kein Recht habe, die Briefe zurückzufordern. Ich bin damals leichtsinnig gewesen und es kann sogar sein, daß ich wenn nicht Prof. Wernicke so am Ende dem Herrn Reinelt für seine Vermittlung das Original des Briefes versprochen habe. Ich kann also höchstens um eine Photographie bitten. Diese hat mir z. B. Dr Sandberg zugesagt.
5
Die Stellen in eckigen Klammern sind in den Briefkonzepten der Elisabeth FörsterNietzsche gestrichen.
6
Vgl. zum angeblichen Brief Nietzsches, in dem zuerst der Schwester gegenüber „von Ecce homo die Rede ist", die Ausführungen in unserer Anmerkung K G W VIII 2, S. 475. Johann Reinelt war inzwischen gestorben, so konnte die FörsterNietzsche ihre Phantasie Raoul Richter gegenüber walten lassen. Auf der söge-
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9. Elisabeth Förster-Nietzsche an Constantin Georg Naumann (Konzept) C. G. N. 6.7.8. Inzwischen habe ich mir überlegt, daß wenn ich „vollgerüstet waffengleissend" vor Sie hintrete ich niemals [die Wahrheit über den ganzen] den wirklichen Hergang jener Angelegenheit hören werde, und mir liegt doch vor Allem daran, daß endlich einmal Klarheit in die Geschichte kommt, u. ob jene Mitteilungen die ich von andrer Seite gehört habe wahr sind oder nicht. Ich will Ihnen also die Versicherung geben, daß wenn Sie mir die Abschrift schicken und genau angeben wem Sie das Blatt gezeigt haben und ob ein Vermerk darauf gestanden hat, daß es zum Ecce homo gehört oder nicht — Ihnen gewiß keine gerichtlichen Schwierigkeiten daraus entstehen sollen. Nach der genauen Schilderung des Blattes die Sie mir in Ihrem Brief geben, scheinen Sie es doch sehr genau zu kennen [obgleich die Worte, die Sie aus der Erinnerung hinzufügen, dem Sinne nach mir nicht korrekt erscheinen.]. Was meinen Sie denn eigentlich mit dem „ominösen Wort"? — Kurzum ich möchte Sie nun bitten daß wir die Sache gewissermaßen freundlich erledigen wollen, so viel es mir wenigstens bei diesen höchst unangenehmen Entdeckungen: daß das Blatt zum Ecce homo gehört haben könnte und als solches verschiedentlich vorgezeigt worden sein soll, möglich ist. Und dabei bemerke ich ausdrücklich, daß Vernichten und Nicht-Veröffentlichen zwei sehr verschiedene Dinge sind, und daß übrigens solche Niederschriften aus der letzten Zeit, die ich schon in der Biographie S. 921 erwähne, worin z. B. der arme Overbeck und andere Freunde als Canaille bezeichnet sind — wie übrigens sämmtliche Deutsche, z. B. Wagner, Bismarck und wunderlicherweise Stöcker7 — gewiß nicht an die Öffentlichkeit gehören [und es unsrer Mutter gewiß nicht zum Vorwurf]; unsere Mutter diese Blätter [gewiß] aber trotzdem nicht vernichtet hätte, wenn sie sicher gewußt hätte, daß sie Teile eines Druckmanuskriptes waren8. Also wenn ich alles zusammenfasse, so ist das Wichtigste: ob Sie sich bestimmt erinnern können daß ein Vermerk oben auf dem Blatt stand. Ich will dann über die anderen Fragen milde hinweggehen und Ihnen ganz verzeihen wenn Sie mir eine Abschrift bringen. Vielleicht wäre es wirklich besser wenn Sie selbst kämen, dann will ich Ihnen die Blätter zeigen, welche noch in Frage kommen und Sie können mir sagen, ob Ihr Blatt ähnlich ausgesehen hat. Aus Ihrer Beschreibung kann ich doch nichts Bestimmtes ersehen. nannten „Urabschrift" des angeblichen Nietzsche-Briefes steht dagegen der Vermerk „Original von unserer lieben Mutter verbrannt"! 7
Jeder Kenner von Nietzsches Nachlaß weiß im Gegenteil, daß Nietzsche den Hofprediger Adolf Stöcker und mit ihm den Antisemitismus immer wieder energisch angegriffen hat.
8
Vgl. den schon zitierten Brief vom 9. Februar 1892, mit dem Peter Gast das Eccehomo-Blatt nach Naumburg schickte („das beifolgende Blatt zu Ecce homo", schreibt darin Gast unmißverständlich).
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10. Constantin Georg Naumann an Elisabeth Förster-Nietzsche Leipzig, den 7. Juli 1908. Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche Weimar Geehrte Frau Doktor! Keine Antwort ist auch eine Antwort; ich habe nichts Unrechtes getan und lehne es daher ab, auf Ihre neueren Anfragen einzugehen, zumal mein letzter Brief n a c h m e i n e r E r i n n e r u n g d i e A n g e l e g e n h e i t g e n a u darstellt. Herr Peter Gast, der in meinem Comptoir das betreffende Manuscript des Öfteren in der Hand hatte und den Text las, wird als Nietzsche-Forscher genau wissen, zu welchem Buche der Inhalt des betreffenden Blattes gehörte und ich muß Sie demnach bitten, die entsprechenden Erkundigungen bei genanntem Herrn einzuziehen, während ich eine Antwort auf die mich persönlich betreffende Frage verweigere, weil eine solche, endgültig und w i r k l i c h a b s c h l i e ß e n d nur an Gerichtsstelle abgegeben werden kann. So — also kurz und bündig — gnädige Frau, wollte ich heute Ihren Brief vom 3. Juli beantworten, als Ihr Schreiben vom 6. Juli eintraf! Ich muß nun allerdings offen bekennen, daß mir eine ruhige leidenschaftslose Aussprache mehr besagt und da mir der Ton Ihres heutigen Briefes den Beweis erbringt, daß Sie mich vorher wissentlich nicht beleidigen wollten, bin ich gern bereit, die frühere Art und Weise einer sachlichen Aussprache wieder aufzunehmen, nur kann ich Ihre Wünsche erschöpfend leider nicht befriedigen, weil ich n i c h t b e s t i m m t anzugeben vermag, ob auf dem Manuscript-Blatt ein direkter Hinweis für das „Ecce homo" gestanden hat 9 . M. E. nach ist es eben ein fortlaufendes Manuscript-Blatt gewesen und eine A b s c h r i f t kann ich nicht geben, w e i l i c h e i n e s o l c h e n i c h t anf e r t i g t e ! Hätte ich aus irgend einer Absicht eine Copie genommen, so läge der dolus für eine Unredlichkeit vor und ich wäre meiner Ansicht nach ein erbärmlicher Kerl, denn ich hätte geistiges Eigentum mißbraucht; mir lag doch nichts an dem Blatt und dessen Inhalt, sondern ich war durch Zufall in eine Zwangslage versetzt: ich konnte das Blatt nicht hingeben, ohne Dritte in ihren zartesten Empfindungen tief zu verletzen. Sie behaupten zwar, ich hätte den Vorfall Ihrer Frau Mutter melden sollen, übersehen aber, daß die Korrespondenz mit derselben und diejenige mit Herrn Professor Overbeck zwei ganz getrennte Sachen betrafen. — Wenn ich bedenke in welch' vertrauter Weise mir Frau Pastor Nietzsche ihr Leid über das nach ihrer Ansicht wahrscheinlich unvermeidliche Schicksal ihrer Kinder klagte, so hätten auch Sie gnädige Frau ein beschwertes Mutterherz 9
Bemerkenswert ist bei dieser Formulierung von C. G. Naumann eine Art „reservatio mentalis", die in den Worten „nicht bestimmt", „direkter Hinweis" zum Ausdruck kommt; damit jedoch hatte die Förster-Nietzsche erreicht, was sie wünschte: vgl. ihren nächsten Brief vom 8. Juli 1908 an Raoul Richter.
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nicht weiter belastet und ein derartiges Verlangen wie heute damals nicht gestellt. Wie sorgsam ich bei derartigen Anlässen zu Werke gegangen bin, sollte Ihnen doch auch aus der im Nietzsche-Archiv ruhenden Korrespondenz „Dr. Langbehn, Naumann und Frau Pastor Nietzsche" und der umgedrehten Reihenfolge, bei der ich als Mittelsperson sämtliche Briefe abschreiben mußte und gewissermaßen in meinen Abendstunden die Function eines Copisten verrichtete, genügend bekannt sein. Ihre Sorge über das Bekanntsein des Manuscriptes ist sicher ungerechtfertigt, denn hier kommen nur ganz wenig Personen in Frage. Ich trete doch nicht auf den offenen Markt hin und zeige ein solches Schriftstück in auffälliger Weise! Glauben Sie denn überhaupt, daß ich in meinem Geschäft je Zeit zum „ K l a t s c h e n " gehabt hätte!? So wohl ist es mir in meinem ganzen Leben nicht geworden, ich habe stets redlich gearbeitet und den Tag voll ausnützen müssen. Nach meinem Dafürhalten können das Manuscript, außer den Firmabeteiligten, ca. 4-8 Personen gesehen haben, in welch letzterer Zahl Peter Gast, Professor Hausdorff, Paul Lauterbach und Moritz Wirth — der sich damals sehr für das Ihren Herrn Bruder betroffene Unglück interessierte — in Frage kommen. Ich habe das Blatt nur gezeigt, wenn bei den vielen Nachfragen nach Nietzsche's Gesundheitszustand das Gespräch darauf kam, ob ich selbst schon vorher Bemerkungen über Unregelmäßigkeit im Geschäftsverkehr gehabt hätte; daß es sich nur um einige Ausnahmefälle handelt, können Sie schon an der angegebenen Zahl ermessen, denn meine knappe Zeit verbot es mir, mich mit jedem Anfrager auf lange Gespräche einzulassen. Soviel für Heute in der Manuscriptangelegenheit; in der Auflagenangelegenheit für Band I 10 , in der wir nicht ganz conform gehen, werde ich Ihnen morgen schreiben und zeichne inzwischen hochachtungsvoll ergebenst C . G. Naumann Verlag 11. Elisabeth Förster-Nietzsche
an Raoul R ichter
(Konzept)
8. Juli 8. M. 1. H. Prof. Inzwischen war mir eingefallen, daß Naumann mir gewiß nichts sagt, wenn er befürchten muß daß ich diese Angelegenheit vor Gericht bringe. Ich habe ihm also noch einmal geschrieben und die feierliche Zusage gegeben daß ich dies nicht tun würde, und ihm vorgeschlagen daß wir die Sache überhaupt gewissermaßen freundlich miteinander erledigen wollten. Darauf hat er mir schnell geantwortet. Die Sache ist schon so wie ich es gesagt habe, daß kein Vermerk und keine Seitenzahl auf dem Blatt gestanden hat, und daß es eines jener Blätter gewesen ist wie ich sie in Paraguay gleichfalls ohne Vermerk erhalten habe . 10
der Taschenausgabe.
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Nun weiß ich allerdings nicht was Naumann mit dem „ominösen Ausdruck" meint, es wird wohl derselbe sein der in diesem § 4 beständig wiederkehrt. Im Uebrigen muß ich Ihnen Folgendes erzählen: daß auf einem Blatt das eine Vorarbeit zum Ecce homo aus der letzten Zeit ist, sich der Ausdruck findet „gepurpurter Idiot" und an der Seite ist eine Bemerkung von mir „ein Ausdruck der in dem Blatt vorkam, das unsere Mutter wegen Majestätsbeleidigung verbrannte"' 2 . Es scheint also richtig zu sein daß sich der Hauptinhalt jenes Blattes — wie Sie schon meinten — gegen den Kaiser gewendet hat, und ich bin sicher daß wir schließlich auch noch die erste Niederschrift finden. Ich freue mich daß Ihnen der Artikel von Havenstein auch so gut wie uns gefällt. Ich muß aber noch hinzufügen daß dieser Artikel vor 5 Wochen geschrieben ist und inzwischen alles durchsucht worden ist nach jenen erfundenen Stellen und sich nichts gefunden hat, sodaß ich auf einen wirklich niederträchtigen Angriff in der Jenaer Zeitung das beifolgende geantwortet habe 13 . 12. Elisabeth Förster-Nietzsche an Constantin Georg Naumann (Konzept) 9.7.8. S.g.H. Erst will ich einmal ihren gestrigen Brief beantworten: ich las ihn gewissermaßen mit Seufzen, was die Menschen zuweilen für einen sonderbaren Begriff von „Zartgefühl" haben. Sie deuten an, daß auf jenem Blatt etwas Beleidigendes gegen unsre Mutter gestanden habe und wollten nur aus Zartgefühl es mejner Mutter nicht zurückgeben. Dagegen verhindert Sie Ihr Zartgefühl nicht es mindestens einem halben Dutzend Menschen zu zeigen und sie hinter ihrem Rücken in den Augen Stockfremder herabzusetzen. Mit dieser Auffassung von Zartgefühl kämen Sie vor Gericht nicht durch. Immerhin enthält der Brief einige Aufklärungen, weshalb ich natürlich mein Versprechen, keine weiteren Consequenzen aus den damaligen Vorgängen zu ziehen, aufrecht erhalte. Ich will auch gleich einen Irrtum berichtigen, der sich auf jene Vorgänge bezieht: Sie haben nicht 1897, sondern Anfang des Jahres 1892 das Blatt zurückgegeben, als der erste Vertrag über [einige] Schriften meines Bruders geschlossen werden sollte und sich Herr E. W. Fritzsch mit großer Leidenschaft darum bemühte. Damals war Herr Gustav Naumann 1 4 der Vermittler. * *
11 12
*
Vgl. Anm. 9. Vgl. K G W VIII 3, S. 450, Zeile 29.
13
Es handelt sich um Publikationen über die sogenannten „Kögel-Exzerpte", welche in jener Zeit Gegenstand von Polemiken und einem Prozeß zwischen Carl Bernoulli und dem Nietzsche-Archiv wurden.
14
Das Gedächtnis der Förster-Nietzsche ist hier vorzüglich, vgl. dazu den zitierten Brief Gasts vom 9. Februar 1892.
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Außer Peter Gast gab es noch einen Anderen, dem die Geschicke des £are-/>owo-Druckmanuskripts sehr gut bekannt waren: das war der Verfasser des ersten Zarathustra-Kommentars, Gustav Naumann, Neffe und Verlagsgehilfe von Nietzsches Verleger Constantin Georg Naumann. Er hat um 1940 seine Zeugnisse in Form von kleineren Aufsätzen der Universitäts-Bibliothek Basel zur Verfügung gestellt, wo sie heute in der Handschriften-Abteilung zugänglich sind. In einem dieser Aufsätze, „Naumburger Tugend", schreibt er: „Wenn im Nietzsche-Archiv nichts vernichtet worden ist, muß sich dort ja auch noch der Manuskriptstreifen aus dem Ecce-homoManuskript vorfinden, den Peter Gast als Oelzweig mit nach Naumburg nahm, als er seinen Frieden mit der zuvor aufs schärfste von ihm abgelehnten Leiterin des Archivs machte." In einem anderen Aufsatz, „Peter Gast und Nietzsches Schwester", kommt er noch ausführlicher auf den mysteriösen „Manuskriptstreifen" zu sprechen: „Im Juni 1897 trat ich dann zum selben Zeitpunkt, an dem ich Mitbesitzer der Firma werden sollte aus ihr aus15. Dies angesichts der mir vom Oheim gemachten Zumutung, künftig auf jede selbständige Handlungsweise in den Nietzsche betreffenden Angelegenheiten zu verzichten. Frau Förster werde doch stets recht behalten . . . Was dann weiter geschehen ist, habe ich nicht mehr aus der Nähe mit erlebt. Ich weilte meist im Ausland. Doch erfuhr ich, daß Gast mit Nietzsches Schwester nun doch Frieden geschlossen habe. Ich hörte auch, er habe, als er zum ersten Mal zu ihr reiste, jenen Streifen aus dem Ecce-Manuskript mitgenommen, der bereits damals seine besondere Geschichte gehabt hatte. Es handelte sich um den Satz, welcher besagte, Mutter und Schwester seien es gewesen, die dem Verfasser sein Dasein vergiftet hätten. Ich selbst haben den Streifen vor Augen gehabt und weiß bestimmt, daß er in diesem Zusammenhang von Vergiftung sprach. Die wörtliche Wendung ist mir entfallen. Sie
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Gustav Naumann wurde vom Verlag entfernt als Freund von Fritz Kögel; er faßte damals eine Sammlung von Beweisstücken über die „editorische" Tätigkeit von Nietzsches Schwester unter dem Titel „Der Fall Elisabeth"
zusammen; das
Pamphlet zirkulierte damals als Manuskript. Abschriften davon sind auch im Goethe- und Schiller-Archiv und in der Zentralbibliothek der deutschen Klassik in Weimar vorhanden.
Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o "
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war jedenfalls so scharf, daß der Setzer an ihr Anstoß nahm: dies könne doch unmöglich zum Abdruck gebracht werden. Er machte den Betriebsleiter aufmerksam, und daraufhin wurden die Zeilen aus der Manuskriptseite herausgeschnitten. Mein Onkel verwahrte sie als ein vorläufig geheimzuhaltendes Stück im Geldschrank. Doch war ihm dabei nicht geheuer zumute. Vernichten durfte und wagte er nicht; auf die Dauer zurückhalten konnte er auch nicht. Er war gewiß froh, diesen Textsatz durch die Mitgabe an Gast loszuwerden, dem er damit auch eine Gefälligkeit erwies. Gast kannte ihn schon. Ich weiß nicht, ob der Oheim aus eigenem Antrieb oder auf des anderen Vorschlag hin den Streifen mitgab. Es läßt sich aber hiernach leicht vorstellen, auf welcher Grundlage die Versöhnung von Gast und Frau Förster zustande gekommen ist." Der hier erwähnte „Streifen" ist zweifellos der von uns wiederhergestellte Abschnitt 3 des Kapitels „Warum ich so weise bin" im Ecce homo. Das, was G. Naumann nach reichlich 50 Jahren über den Inhalt des „Streifens" zu sagen vermag, läßt sich gut mit unserem Text vereinbaren, so z. B. stimmt die „Vergiftung" mit den Worten „da fehlt jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren" überein. Naumanns Erinnerungen sind trotz unvermeidlicher Ungenauigkeit — die Versöhnung zwischen Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche z. B. fand 1899 in Weimar statt und nicht in Naumburg — eine weitere Bestätigung der Authentizität des wiederhergestellten Abschnittes im Ecce homo. Uber den Wert jener Auslassung Nietzsches gegen Mutter und Schwester schreibt Naumann mit Recht: „Wie man über die Manuskriptstelle selbst denkt, spielt dabei keine große Rolle. Die Ausdrucksschärfe wird man in Anbetracht des Ortes, an dem sie in Erscheinung treten sollte, für krankhaft erachten dürfen. Das Weglassen ließe sich mithin allenfalls verteidigen. Immerhin behält es sein Mißliches. Warum sollte ausgerechnet nur hier die Geisteskrankheit sich bereits bemerkbar gemacht haben, alles andere aber ohne Einwirkung durch sie geschrieben sein? Heute ist ja bekannt, daß Nietzsche sich schon viel früher sehr ähnlich über seine nächsten Angehörigen geäußert hat." Daß die Versöhnung von Frau Förster und Peter Gast eine Art von „Nicht-Angriffs-Pakt" darstellte, indem beiderseits das Schweigen über bestimmte unbequeme Äußerungen Nietzsches beschlossen wurde, kann durch den Umstand bestätigt
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Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „ E c c e h o m o "
werden, daß auch Nietzsches Schwester im Besitz von Briefstellen war, in denen Nietzsche sehr geringschätzig von Peter Gast sprach. Diese Stellen wurden zwar 1893 in einem „Sendschreiben" der Schwester an die Freunde Nietzsches (unter anderem auch Overbeck) bekannt gemacht, um Gast als Herausgeber zu diskreditieren, sie wurden jedoch in den späteren Briefausgaben des NietzscheArchivs nie veröffentlicht. Es sei zum Schluß bemerkt, daß höchstwahrscheinlich auch Overbeck die Äußerungen Nietzsches gegen Mutter und Schwester im Ecce homo bekannt waren, und zwar durch Briefe Peter Gasts, die heute in der Sammlung der Basler UB fehlen und die, allem Anschein nach, in die Akte des Anklage-Prozesses Peter Gasts gegen Carl Albrecht Bernoulli und Eugen Diederichs (1908) geraten sind, als Beweisstücke gegen das Nietzsche-Archiv.
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács I Die Ideologie des Nationalsozialismus und Nietzsche: die Interpretation Alfred Baeumlers 1. Eine Ideologie des Nationalsozialismus im heutigen Sinne könnte man vielleicht rekonstruieren. Es ist dagegen unmöglich, von einer wirklichen nationalsozialistischen Assimilierung von Nietzsches Denken zu reden. Nietzsche war, wie die neuere Forschung festgestellt hat, den Begründern des Nationalsozialismus so gut wie fremd. Alfred Rosenberg, der ihn im Mythos des 20. Jahrhunderts als Vorläufer der „Bewegung" vindiziert, stellt Nietzsche in die fragwürdige Gesellschaft von Paul de Lagarde (den Nietzsche verachtete) und Houston Stewart Chamberlain (der seinerseits Nietzsche von Wagnerschem und rassistischem Standpunkt aus ablehnte). Hitler selbst hatte zu Nietzsche kein Verhältnis; es ist fraglich, ob er ihn überhaupt gelesen hat. Die ganze Rassenideologie war Nietzsche zutiefst fremd. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn ich die unzähligen Stellen zitieren sollte, in denen sich Nietzsche gegen die Rassentheorien der echten Vorläufer des Nationalsozialismus im allgemeinen und gegen den Antisemitismus im besonderen ausspricht. Er hatte sogar Gelegenheit, mit einem der späteren nationalsozialistischen Abgeordneten, Theodor Fritsch, zu korrespondieren: seine zwei Briefe an diesen sind ein einziger Hohn auf die verworrene Rassenideologie in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, mit ihren — wie Nietzsche sagt — fragwürdigen Begriffen „Ariertum" und „Germanentum". Kurz nach dem Briefwechsel mit Nietzsche rezensierte Theodor Fritsch 1887 Jenseits von Gut und Böse und fand darin (mit Recht!) eine „Verherrlichung der Juden" und eine „schroffe Verurtheilung des Antisemitismus". Nietzsche wurde von
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ihm als „philosophischer Seichtfischer" abgetan, dem „all und jedes Verständniß für nationales Wesen" abgehe und der „in Jenseits von Gut und Böse philosophischen Altweiber-Kohl" anbaue. Nietzsches Behauptungen über die Juden waren nach Fritsch „der flache geistreichelnde Schwatz eines angejüdelten Stuben-Verlehrten"; zum Glück, so meinte er, „werden Nietzsches Bücher kaum von mehr als zwei Dutzend Menschen gelesen".1 Dies waren die konkreten Beziehungen Nietzsches zum Antisemitismus und Germanentum, solange er lebte. Und doch gilt Nietzsche auch heute noch in der breiten Öffentlichkeit als „geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus". 2. Es ist ein Verdienst Hans Langreders, „die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich" in seiner Kieler Dissertation von 1970 mit den Mitteln der historisch-empirischen Forschung eingehend nachgeprüft zu haben. So konnte er feststellen, daß es im Dritten Reich keine Einigkeit in der Schätzung Nietzsches gab. Er spricht von einem „positiven" (im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie) und von einem „negativen" Nietzsche-Bild im Dritten Reich. Es gab also unter den nationalsozialistischen Ideologen einige, die ihn für den Hitlerismus zu gewinnen trachteten, andere dagegen, die sich gegen den unbequemen, kosmopolitischen, dekadenten Individualisten Nietzsche sträubten, und schließlich solche, die zwischen beiden Einstellungen zu vermitteln suchten. Offiziell gewann das sogenannte „positive" Nietzsche-Bild die Oberhand, und es hat sie leider bis heute weiterhin behalten. Als Schlüsselfigur für Nietzsches Übernahme ins Dritte Reich nennt Langreder mit Recht den „konservativ-revolutionären" Alfred Baeumler. „Am Anfang und im Mittelpunkt der Entwicklung eines positiven Nietzsche-Bildes in der nationalsozialistischen Epoche steht [...] Alfred Baeumler": so Langreder in seiner Dissertation. Nach der „Machtergreifung" wurde Baeumler auf den neugegründeten Lehrstuhl für politische Pädagogik an der Universität Berlin berufen; bald darauf wurde er Leiter der Abteilung Wissenschaft in der Dienststelle des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschauli-
1
Vgl. R. F. Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin 1974, S. 65 f.
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chen Schulung und Erziehung der NSDAP", also im sogenannten „Amt Rosenberg". 2 3. Anfang der dreißiger Jahre präsentierte sich Baeumler als Herausgeber und Interpret von Nietzsches Werk. Letzteres geschah, indem er zuerst bei Reclam zwei Zusammenstellungen von Texten, vornehmlich aus Nietzsches sogenanntem Hauptwerk, dem „Willen zur Macht", erscheinen ließ, und zwar unter dem Titel Nietzsches Philosophie in Selbstzeugnissen. Erster Teil. Das System. Zweiter Teil. Die Krisis Europas. Gleich darauf, noch im Jahre 1931, erschien Baeumlers eigentliche Interpretation, die genau der Zweiteilung der Reclam-Ausgabe entsprach: Nietzsche der Philosoph und Politiker. Es war damals eine Zeit der heftigen Nietzschediskussionen. Ein Anlaß dazu war die Freiwerdung seiner Werke (nach damaligem Recht dreißig Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers; und Nietzsche war am 25. August 1900 gestorben). „Wenn die Werke eines Genius 30 Jahre nach seinem Tode freies Eigentum seines Volkes und der gesamten geistigen Welt werden", bemerkte Hans Prinzhorn in der Deutschen Rundschau 1932, „so rühren sich begreiflicherweise Hirne und Hände, die in und von dieser geistigen Welt leben. Wieviel Gelegenheit bietet sich da, Kenntnisse, Fähigkeiten, Mittlertum — aber auch Geltungssucht und private Gehässigkeit zu bewähren, bei dieser Gelegenheit zugleich noch Geschäfte zu machen und verborgene kulturpolitische Tendenzen zu stärken." Tatsächlich erfuhr in jener Zeit der Streit um Nietzsche eine sehr starke Wiederbelebung. Erich Podach veröffentlichte das Jenaer Krankenjournal aus den ersten Jahren von Nietzsches Geisteskrankheit: die Sensation beim Publikum war groß; unendliche Diskussionen schlossen sich an; Nietzsches greise Schwester versuchte noch einmal, mit ihren Helfershelfern zur vermeintlichen moralischen Ehrenrettung ihres Bruders einzugreifen. Nach zwanzigjährigem Schweigen griff einer der besten Nietzschekenner und -kritiker, Josef Hofmiller, wieder zur Feder, um seinem Unbehagen Nietzsche gegenüber Ausdruck zu geben· er brach über den Philosophen den Stab und wollte nur noch, in Pole2
Vgl. R. Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationaho7.udistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970.
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mik mit Baeumler, den Moralisten und Schriftsteller gelten lassen. Nietzsches Privatleben wurde zum Gegenstand einer Entmythologisierung des angeblichen „Heiligen", als den ihn das Weimarer Nietzsche-Archiv hingestellt hatte: ich brauche nur an H. Branns Buch Nietzsche und die Frauen zu erinnern. Und doch, wer die echten Zeichen der Zeit zu deuten vermocht hätte, wäre zu dem Schluß gekommen, daß sich damals eine neue Wende in der abwechslungsreichen Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Deutschland vollzog. Denn wenn auch die bedeutenden, noch heute in vieler Hinsicht gültigen philosophischen Versuche von Karl Jaspers und Karl Löwith (seine wichtige Besprechung und Erledigung von Klages' Buch schrieb er 1927) gerade in jenen Jahren im Entstehen begriffen waren — weshalb es wirklich nicht eines Alfred Baeumlers bedurft hätte, um Nietzsche als Philosophen „ernst zu nehmen" —, so war es gleichwohl nicht die sensationelle Diskussion über Nietzsches Krankheit und Privatleben, die die Signatur jener verhängnisvollen Jahre trug, sondern die Anpassung Nietzsches an die „Forderungen des Tages", an die eigentlich nicht allzusehr verborgenen „kulturpolitischen Tendenzen", welche aus dem gärenden Boden der sterbenden Weimarer Demokratie erwuchsen. Und nichts anderes bedeutete die damals als neu empfundene Nietzsche-Interpretation von Alfred Baeumler. 4. Er war sich seiner Tat völlig bewußt. So schrieb er als Antwort auf die Angriffe des im übrigen konservativ gesinnten Josef Hofmiller: „Es gehört zum Schicksal der Wirkung Nietzsches auf den deutschen Geist, daß das Riesenwerk seines Nachlasses bis zum heutigen Tage nicht seiner Bedeutung entsprechend gewirkt hat. (Seine einzigen und besten Leser sind bisher immer noch Klages und Spengler.) Für die große Menge ist Nietzsche bis heute der Dichter des Zarathustra geblieben; auf die feineren Geister aber hat er vor allem durch zwei seiner Masken gewirkt: durch ,Dionysos' (Geburt der Tragödie) und durch den ,Freigeist' (die Aphorismenbücher). Dieser ,Freigeist' war zum Meister einer in Deutschland kaum vertretenen Stilgattung geworden: der Gattung des moralistischen, psychologischen Essays. Als Virtuose des geistreichen und knappen Gedankenstils hat Nietzsche die Generation gewonnen, die nach seinem Tode in die literari-
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sehe Öffentlichkeit Deutschlands eintrat. Als Dichter und Schriftsteller hat er damals gewirkt; als Dichter und Schriftsteller wird er noch heute verehrt. Eine besondere Schätzung der mittleren, persönlichsten Werke folgt daraus von selbst. [...] Wir stellen heute fest, daß mit dieser Schätzung eine Unterschätzung der Arbeit des späten Nietzsche und des Nachlasses verbunden war." Wir unsererseits dürfen feststellen, daß die extreme Aktualisierung Nietzsches als eines germanischen Denkers, seine „Aufnordung" — wie das wenige Jahre darauf hätte genannt werden können —, für die geistige Öffentlichkeit am Anfang der dreißiger Jahre ein Novum war: Schriftsteller und Literaten (wie Baeumler mit Hohn bemerkte) sahen sich mit einem ihnen bis dahin unbekannten Nietzsche-Bild konfrontiert. Die Entwicklung bis zu diesem Bild lag freilich, auch bei Baeumler, einige Jahre zurück; sie begann schon, als er sein Werk über Bachofen und Nietzsche schrieb, ebenso wie es auch vorher schon Warner gegeben hatte. Ich erinnere an die Seiten Thomas Manns in seiner Pariser Rechenschaft von 1927 mit dem denkwürdigen, gegen Baeumler gerichteten Wort: „¿Nietzsches hohes und gebildetes Deutschtum wußte, wie dasjenige Goethes, andere Wege des Ausdrucks als den des großen Zurück in den mythisch-historisch-romantischen Mutterschoß", ich erinnere ferner an den noch ausdrücklicheren Hinweis auf die Tagespolitik: „Die Gelehrtenfiktion, als gehöre der geistesgeschichtliche Augenblick einem rein romantischen Rückschlag gegen den Idealismus und Rationalismus, gegen die Aufklärung abgelaufener Jahrzehnte, als stünde wieder wie zu Anfang des 19. Jahrhunderts [...] heute abermals Rationalität* mit vollem revolutionären Recht gegen .Humanität' als das Neue, Jugendvolle und Zeitgewollte: diese Gelehrtenfiktion muß als das gekennzeichnet werden, was sie ist, nämlich eben als eine Fiktion voller Tagestendenz, bei welcher es sich nicht sowohl um den Geist von Heidelberg, als um den von München handelt. Nicht an Bachofen und seine Grabessymbolik knüpft das wahrhaft Neue an, das jetzt werden will, sondern an das heroisch bewunderungswürdigste Ereignis und Schauspiel der deutschen Geistesgeschichte, an die Selbstüberwindung der Romantik in Nietzsche und durch ihn: und nichts ist gewisser, als daß in der Humanität von morgen, die nicht nur ein Jenseits der Demokratie, sondern auch ein Jenseits des Faschismus wird sein müssen, Elemen-
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te eines Neu-Idealismus eingehen werden, stark genug, um dem Ingrediens romantischer Nationalität die Waage zu halten." Leider ließ einstweilen die von Thomas Mann prophezeite „Humanität von morgen" auf sich warten: das „Zeitgewollte" ward zunächst in Deutschland der Aufstand der Spießer gegen Geist und Humanität. 5. Baeumlers Nietzsche-Interpretation fußt auf zwei Prämissen. Die erste lautet: Nietzsches eigentliche Philosophie ist in seinem Nachlaß (wie Baeumler ihn damals kannte) verborgen. Die zweite heißt: Wenn man Nietzsches Werk beurteilen will, so „muß man die logische Zusammenfügung, zu der er keine Zeit hatte, selbst übernehmen". Baeumlers eigentliches Anliegen ist freilich, Nietzsches Schriften und Nachlaß als Grundlage einer bestimmten „germanischen", ihm zugeschriebenen politischen Philosophie zurechtzumachen. Es ergeben sich daraus zwei Fragen, auf die wir zu antworten haben. Erstens: Hat Baeumler die Bedeutung von Nietzsches Nachlaß richtig aufgefaßt? Zweitens: Was wird aus Nietzsche aufgrund der „logischen Zusammenfügung" seiner Gedanken, die Baeumler selbst „übernommen" hat? Darüber hinaus und vor allem aber ist zu untersuchen, ob die von Baeumler durchgeführte Politisierung von Nietzsches Denken vertretbar war. 6. Baeumler und Nietzsches Nachlaß. Baeumler übernimmt hier völlig kritiklos (im Unterschied etwa zu Jaspers, aber auch zu Heidegger) die Kompilation, die unter dem Namen „Der Wille zur Macht" Geschichte gemacht hat. Er tut das auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als Herausgeber der weithin bekannten Krönerschen Ausgabe von Nietzsches Werken. Es ist interessant, obgleich deprimierend, die Nachworte Baeumlers zum „Willen zur Macht" vor und nach dem Zweiten Weltkrieg miteinander zu vergleichen. Nach dem deutschen Zusammenbruch ließ er zum Beispiel folgenden Satz wegfallen: „Der junge Nietzsche hatte zwischen einem romanischen, ,dekorativen' Begriff der Kultur, und einem griechischgermanischen Kulturbegriff, als einer erhöhten Physis unterschieden. Sein letztes, zusammenfassendes philosophisches Werk macht diesen griechisch-germanischen Erziehungsbegriff zur gedanklichen Wirklichkeit." Doch enthält gerade dieser Satz den „ganzen"
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Baeumler. In ihm sind die Hauptlinien seiner NietzscheInterpretation noch einmal zusammengefaßt: die antihistorische Gleichsetzung von griechisch und germanisch (von Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner abgelehnt) wird als das Fundament des angeblichen „Systems Nietzsche" im „Willen zur Macht" hingestellt. Dies war allerdings nach 1945 nicht mehr aktuell. Nicht unerwähnt möge auch eine Stelle aus dem Nachwort von 1930 bleiben: „In der Form, wie der ,Wille zur Macht' erhalten ist, können wir wohl einen großen Gedankengang erkennen, wir können auch vollendet ausgeführte kleinere Abschnitte unterscheiden, aber wir können niemals vergessen, daß wir kein ausgeführtes Buch Nietzsches vor uns haben. Selbst wenn sich bei einer späteren, kritischen Gesamtausgabe gerade an diesem Werke noch manche Verbesserung vornehmen ließe, würde das nicht erreicht, was Nietzsche vorhatte, und was er selbst zu geben imstande gewesen wäre." Mit Recht weist hier Baeumler auf die objektiven Grenzen hin, die jede „Rekonstruktion" solcher Art zum Scheitern verurteilen; aber er selbst, indem er von einem „Werk" spricht, bleibt in der Vorstellung befangen, es gäbe, in den nachgelassenen Papieren verborgen, ein Torso gebliebenes Werk Nietzsches unter dem Titel „Wille zur Macht". Daß dieses Werk nicht existierte, hatte schon Ernst Horneffer 1907 nachgewiesen; Karl Schlechta tat es noch einmal fünfzig Jahre später. Doch ließ sich das eine wie das andere Mal ein merkwürdiger Widerstand gegen die Sache bemerken, um die es eigentlich ging. Man vermengte in der Polemik — beide Male — zwei grundverschiedene Fragen: einerseits die nach der Bedeutung von Nietzsches Nachlaß und seiner Philosophie, andererseits die nach der Edition des Nachlasses; oder auch: einerseits den Willen zur Macht als philosophischen Lehrsatz, andererseits den „Willen zur Macht" als Werk, als „Buch". Es ist nämlich durchaus möglich, an der zentralen Bedeutung des Willens zur Macht in Nietzsches Denken festzuhalten und gleichzeitig zu behaupten, daß Nietzsche — wie tatsächlich die Manuskripte beweisen — kein Werk unter diesem Namen geschrieben hat (noch auch schreiben wollte). Leider waren 1907 Ernst Horneffer und sein Bruder August wie auch 1956 Schlechta nicht ohne Schuld an dieser Vermengung. Die Brüder Horneffer (übrigens im Nietzsche-Archiv Herausgeber des ersten „Willens zur Macht" von
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1901) schlossen von der philologischen Feststellung des nicht existierenden systematischen Werkes auf das angebliche Unvermögen Nietzsches, ein solches zu schreiben, auf den fragmentarischen Charakter, ja die Kurzatmigkeit seines Denkens selbst. Für sie war Nietzsche kein Systematiker, also kein Philosoph im eigentlichen Sinne, da er kein systematisches Werk zu schreiben vermocht hatte. Für Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre literarischen Anhänger dagegen war Nietzsche ein Philosoph, gerade weil er das systematische Werk, wenn auch unvollendet, hinterlassen hatte. In der spießigen Gleichung Philosoph = System = Werk trafen sich beide Standpunkte aufs glücklichste: eine typische quereile allemande entstand, auf Grund einer noch typischeren niaiserie allemande. Ein anderer ehemaliger Herausgeber des Nietzsche-Archivs, Karl Schlechta, erbrachte fünfzig Jahre später mit aller nur wünschbaren Sachlichkeit den erneuten Beweis, daß das Werk nicht existierte.3 Doch auch Schlechta wollte darüber hinaus etwas weiteres bewiesen haben: und zwar, daß Nietzsches Nachlaß uninteressant sei (freilich mit der Einschränkung: soweit er bekannt sei). Seine Opponenten, Löwith, Wolfram von den Steinen, Pannwitz und andere, protestierten gegen diese Abwertung des Nachlasses, vermengten aber wiederum beide Fragen: auf der einen Seite die der Edition des Nachlasses (und hier hatte Schlechta zweifellos recht: es gab keinen „Willen zur Macht"), auf der anderen die der philosophischen Bedeutung dieses selben Nachlasses (und da konnte gewiß nicht wenig gegen Schlechta eingewendet werden).4 Das Verdienst Schlechtas, die Veröffentlichung des Nachlasses in chronologischer Folge zur prinzipiellen editorischen Forderung erhoben und mit unwiderlegbaren Argumenten gestützt zu haben, bleibt bestehen, auch wenn er mit seiner Edition diese Forderung nicht erfüllt hatte. Das sah man im Eifer der Polemik über die philosophische Bedeutung des Nachlasses nicht. Baeumlers Verlag wollte auf den „schönen" Titel „Der Wille zur Macht" nicht verzichten. Und Baeumler gab 1964 wieder Nietzsches 3
Vgl. Karl Schlechtas „Philologischen Nachbericht". In Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden (München, 1956), Bd. 3, S. 1393 ff.
4
Vgl. dazu Eckhard Heftrich, Nietzsches Philosophie, Identität von Welt und Nichts (Frankfurt, 1962), besonders S. 273-275, 277. 290-295.
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„Hauptwerk" heraus. Allerdings ersetzte er die oben zitierte Stelle im Nachwort wie folgt: „Der ,Wille zur Macht', den Gast uns hinterlassen hat, ist ein historisches Dokument, das auch dann seine Bedeutung behalten wird, wenn einmal alle Handschriften entziffert und publiziert sein werden. Wer in der Umgebung Nietzsches so lange und so teilnehmend gelebt hat, wie Peter Gast, vermittelt uns etwas, das für Verständnis und Rekonstruktion des ,Willens zur Macht' unentbehrlich bleiben wird." Der Baeumler von 1930 hielt, genauso wie der von 1964, an der Kompilation fest, wenn auch mit der Einschränkung, daß Nietzsche dieses „philosophische Hauptwerk" nicht ausgeführt habe; doch 1964 wurde Gast, das philosophisch unbedeutende, willenlose Werkzeug Elisabeth FörsterNietzsches, zum unentbehrlichen Vermittler für die „Rekonstruktion" jenes Hauptwerkes. In Weimar befindet sich noch heute ein Exemplar von Baeumlers Buch mit einer Widmung an die Schwester Nietzsches: was aber letztere über den unentbehrlichen Vermittler des „Willens zur Macht" dachte, kann man zum Beispiel aus einem Brief entnehmen, in dem sie sich zu der Frage einer künftigen kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken äußerte. Am 16. September 1915 schrieb Elisabeth Förster-Nietzsche an ihren Berater Karl Theodor Koetschau: „ N u n wäre aber auch unbedingt nötig, daß die herausgeberische Tätigkeit wieder von Neuem beginnt. [ . . . ] Wieviel in Hinsicht der Manuskripte noch zu tun ist, davon kann ich Ihnen nur eine Vorstellung geben, wenn Sie einmal selbst hierher kommen und ich Ihnen Material und Zukunftspläne vorlegen kann. Peter Gast war eben kein Gelehrter und wenn er auch die persönliche Tradition hatte, so fehlte ihm doch die philologische Gewissenhaftigkeit, die er durch eine Art künstlerischer Willkür ersetzte, welche aber die verschiedensten, arbeitsreichsten Nachprüfungen unbedingt notwendig macht und zwar noch solange ich lebe, da ich die ganze Tradition für die Gesamt-Ausgabe habe, und leider auch für die Fehler, die gemacht worden sind." Man beachte das Datum dieses Briefes: er wurde kaum fünf Jahre nach Erscheinen der sogenannten kritischen Ausgabe des „Willens zur Macht" von Otto Weiss geschrieben! Aber auch Peter Gast selbst hat die wissenschaftliche Unhaltbarkeit seiner Kompilation zugegeben. In einem Exemplar der kleinen
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Schrift von Ernst Horneffer, Nietzsches letztes Schaffen, das er benutzte und das ebenfalls noch in Weimar erhalten ist, kommentierte er dessen auf den „Willen zur Macht" bezogene Bemerkung, „man muß die Manuskripte Nietzsches unter jedem Verzicht eigener Anordnung und Zusammenstellung, Wort für Wort genau so herausgeben, wie sie vorliegen", indem er an den Rand schrieb: „Hätte man so publicirt, dann würde Horneffer das gerade Gegentheil für richtig erklären. Das Publikum läßt sich eine solche Ausgabe nicht bieten. Die Kenner, denen eine solche Ausgabe ein wahres Entzücken sein würde, sind in zu großer Minderheit." Die Nachlaßfragmente, vor allem diejenigen des „Willens zur Macht", hatten in Wirklichkeit für Baeumler eine Art esoterischen Wert: erst im Nachlaß sprach für ihn Nietzsche seine wahren Meinungen aus. In dieser Ansicht fühlte er sich durch die künstlich hergestellte Systematik des „Willens zur Macht" bestärkt; er war für ihn ein Torso gebliebenes Werk, das den echten Nietzsche enthielt. Nun ist jedoch gerade diese Optik eine ausgesprochen verfälschende. Die Publikation des Nachlasses, wie sie von Horneffer 1907 postuliert wurde, hätte die ganze Brüchigkeit des Gebäudes „Wille zur Macht" gezeigt; sie hätte nicht etwa „manche Verbesserung" veranlaßt (so Baeumler 1930), sondern statt dessen die negative Bedeutung des „historischen Dokuments" bewiesen, das uns Gast angeblich hinterlassen hat (so Baeumler 1964). Und dies hätte dann zum Entzücken der Kenner — wahrscheinlich aber nicht der groben Vereinfacher à la Baeumler — so ausgesehen: Nietzsches Manuskripte, in ihrer chronologischen Reihenfolge gelesen, ergeben eine genaue, beinahe lückenlose Darstellung seines Schaffens und seiner Intentionen. Der Nachlaß in seiner chronologischen Gestalt steht in einer erklärenden und ergänzenden Beziehung zum publizierten (oder druckfertig ausgearbeiteten) Werk. Das gilt auch für den Nachlaß der achtziger Jahre, aus dem der „Wille zur Macht" kompiliert wurde. Zwei Betrachtungsweisen von Nietzsches Manuskripten sind möglich. Die eine versteht das Ganze der handschriftlichen Aufzeichnungen — ohne Rücksicht auf ihre Verwendung im Werk — als den werdenden, mehr oder weniger einheitlichen und vom Augenblick bestimmten Ausdruck von Nietzsches
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Denken. Die andere hebt Nietzsches literarische Absichten hervor, das heißt seine Veröffentlichungspläne, soweit sie ausgeführt wurden: sie sucht deshalb nach den Vorstufen eines Werkes und bemüht sich, dessen literarischen Werdegang zu rekonstruieren. Was von Nietzsche in sein Werk aufgenommen, was einfach verworfen oder aber im Blick auf spätere Verwendung zurückgelegt, was schließlich nicht benutzt wurde und warum — das alles versucht diese zweite Betrachtungsweise der uns erhaltenen handschriftlichen Aufzeichnungen Nietzsches zu eruieren. Beide Verfahren müssen einander in einer Gesamtdeutung von Nietzsches Denken ergänzen. Die zweite jedoch ist die einer kritischen Ausgabe eigentümliche, deren Ziel es ist, mit „objektiven" Mitteln die Differenziertheit der Aufzeichnungen in ihrem Verhältnis zu den veröffentlichten (oder zur Veröffentlichung fertigen, als Druckmanuskripte oder Reinschriften tatsächlich hinterlassenen) Werken widerzuspiegeln. Dies geschieht durch die Veröffentlichung der verworfenen oder unbenutzt gebliebenen Aufzeichnungen als „nachgelassene Fragmente" und durch die Auswertung der Vorstufen zum Werk in einem kritischen Apparat. 5 Darin besteht, so knapp wie möglich dargestellt, die einzig mögliche Art, sich auf eine kritische Weise mit den Manuskripten eines vielfältigen und vieldeutigen Autors wie Nietzsche zu beschäftigen. Derlei hätte freilich den Systematiker Baeumler nicht verlockt; er verbreitete vielmehr fleißig Nietzsches angebliches „Hauptprosawerk" 6 und machte aus ihm einen Bestseller, den sein Verlag auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus seinem Programm streichen mochte. Und damit kommen wir zu dem, was aus Nietzsche wird, wenn die „logische Zusammenfügung" seiner Gedanken von einem anderen übernommen wird: das heißt zu dem, was Baeumler das „System Nietzsche" nennt.
5
Vgl. K G W VIII 1, S. VI f., sowie hier: S. 92.
6
Das merkwürdige Wort bei Elisabeth Förster-Nietzsche, Einleitung zu Bd. IX (1906) von Nietzsche's Werken (Leipzig, 1905 ff.), der sog. „Taschen-Aausgabe", S. VII: „Schon im Frühjahr 1883, als ich mit meinem Bruder in Rom war, sagte er, daß, wenn einmal der Zarathustra fertig wäre, er sein theoretisch-philosophisches Hauptprosawerk schreiben wollte."
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180 7. Das
„System
Nietzsche".
Einer
der
gegenwärtig
besten
Nietzsche-Interpreten, Wolfgang Müller-Lauter, stellt der Einleitung in seine Betrachtungen über Nietzsches Philosophie der Gegensätze folgendes scharfsinnige Fragment des Romantikers Friedrich Schlegel als M o t t o voran: „Es ist gleich tödtlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. E r wird sich also wohl entschließen müssen, beydes zu verbinden." 7 Das ist wie aus der Seele Nietzsches gesprochen, der zwar die Romantik bekämpfte, aber zu ihr ein mehr als nur negatives Verhältnis hatte. Im Sommer 1888 entwarf Nietzsche eine A r t Vorrede zu dem Buch, das er gleich darauf aus seinen Plänen entfernen sollte: die zum „Willen zur M a c h t " . Diese Vorrede ist besonders wichtig, weil sie uns mit jeder nur wünschbaren Klarheit über die von Baeumler viel beredeten „Intentionen" Nietzsches informiert. Es heißt dort nach dem T e x t der jetzigen Kritischen Gesamtausgabe: Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört Denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter . . . Daß es deutsch geschrieben ist, ist zum Mindesten unzeitgemäß: ich wünschte es französisch geschrieben zu haben, damit es nicht als Befürwortung irgend welcher reichsdeutschen Aspirationen erscheint. Bücher zum Denken, — sie gehören denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter . . . Die Deutschen von Heute sind keine Denker mehr: ihnen macht etwas Anderes Vergnügen und Bedenken. Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen schwer verständlich [ . . . ] Ebendarum wünschte ich meinen Zarathustra nicht deutsch geschrieben zu haben. Ich mißtraue allen Systemen und Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg: vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buch das System, dem ich ausgewichen bin . . . Der Wille zum System: bei einem Philosophen moralisch ausgedrückt eine feinere Verdorbenheit, eine Charakter-Krankheit, unmoralisch ausgedrückt, sein Wille, sich dümmer zu stellen als man ist. — Dümmer, das heißt: stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, commandirender, tyrannischer . . . 8 Auch Müller-Lauter stellt in seinen Ausführungen die Bedeutsamkeit des eben zitierten Entwurfs Nietzsches fest, indem er den Satz 7
Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (Berlin, 1971), S. 1.
8
KGW VIII 2, S. 114 f., 9[188]. Vgl. auch in diesem Band S. 204-206.
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„Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen schwer verständlich" wie folgt kommentiert: „Den gedankenlosen Deutschen könnte die Rede vom Willen zur Macht, insofern in ihr von Macht gesprochen wird, ,als Bestärkung irgendwelcher reichsdeutschen Aspirationen' erscheinen. Außerdem sind sie an den Gebrauch des Willensbegriffes im Sinne Schopenhauers und seiner Nachfahren gewöhnt. Daher muß ihnen das, was Nietzsche vom Willen zur Macht sagt, schwer zugänglich sein. Ist der Wille zur Macht doch gerade nicht ein ,Prinzip' im Sinne traditioneller Metaphysik." 9 Von der geistigen Spannung, die Schlegels Wort verrät („gleich tödtlich [...], System zu haben und keins zu haben") und die wir sehr wohl bei Nietzsche spüren („vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buch das System, dem ich ausgewichen bin"), findet sich in Baeumlers Auffassung des „Systems Nietzsche" keine Spur. Was Baeumler braucht, ist ein Nietzsche, der „sich dümmer stellt", das heißt „stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, commandirender, tyrannischer". Ein Nietzsche, der sich gerade in den nachgelassenen Aufzeichnungen nicht finden läßt — immer vorausgesetzt, daß man sich entschließt, nicht einen bestimmten Nietzsche zu rekonstruieren, sondern den ganzen Nietzsche, wie er war, wie er sich seinen intimen Aufzeichnungen, aber auch seinen Büchern, seinen Briefen anvertraute. Baeumler dagegen wollte einen im Grunde unproblematischen, einen halbierten Nietzsche, nicht den Nietzsche, welcher schrieb: „Tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen. Zauber der entgegengesetzten Denkweise: sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lascio
sen. Unter der Formel eines „heroischen Realismus" konstruiert Baeumler sein Nietzsche-Bild. Die Sache liegt nicht so, daß Baeumler überhaupt keine Einsicht in die Gedankenwelt Nietzsches zu gewinnen vermöchte. Aber es sind immer nur einige Aspekte, die er mit Vorliebe heraushebt. Nietzsche wird der radikale, pathetische Atheist; er hat, im Gegensatz zu Philosophen wie Plato, „Muth vor der Realität"; er ist wie Heraklit ein Philosoph des Werdens und des Kampfes, des Willens zur Macht. Baeumler ist ein belesener Nietz9
Vgl. Müller-Lauter, S. 28.
10
K G W VIII 1, S. 140, 2[155] (Herbst 1886).
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scheaner: so kann er zum Beispiel mit einiger Genauigkeit die wesentlichen Gesichtspunkte von Nietzsches Erkenntnislehre darlegen. Wobei ihm allerdings die zeitgenössische Problematik der Naturwissenschaften, aus der Nietzsche seine Ansichten über die Erkenntnis der Welt mit schöpfte, gänzlich abgeht. Der historische Sinn, den er an Nietzsche rühmt, scheint ihm hier abhandenzukommen. Um nur einen Namen zu nennen: es ist, als ob Ernst Mach überhaupt kein Zeitgenosse Friedrich Nietzsches gewesen wäre, auch keine Analyse der Empfindungen geschrieben und Nietzsche dieses Buch nie gelesen hätte. Und doch war der — Nietzsche sehr wohl bekannte — Naturwissenschaftler und Philosoph Mach zu jener Zeit der Vertreter der radikalsten Kritik am Kausalismus, an der mechanistischen Auffassung der Physik überhaupt. Beispiele dieser Art ließen sich nach Belieben liefern. Der „gute Europäer" Nietzsche lebt für Baeumler nicht in dem Europa des 19. Jahrhunderts. Er hat mit bedeutenden Geistern wie Stendhal, Baudelaire, Dostojewski, Tolstoi oder auch nur mit anderen Schriftstellern, Dichtern und Philosophen wie Mérimée und Taine, den Goncourts und Renan, Sainte-Beuve und Flaubert, Guyau und Paul Ree, Bourget und Turgenjew herzlich wenig zu tun. Das bedenkliche und bedenkenswerte Wort, das Nietzsche in Ecce homo sprach: „Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz" 11 — dieses Wort scheint für Baeumler, wenn er Nietzsche systematisiert, ungesagt zu sein. Baeumler spricht des weiteren von einem Kampf Nietzsches gegen das Bewußtsein, den Geist — einen Kampf, den Nietzsche sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Sphäre geführt habe — zugunsten des „Lebens" und „am Leitfaden des Leibes". Was Baeumler hier übersehen will, ist die schmerzhafte Spannung, die zwischen den Polen „Geist" und „Leben" in Nietzsches ganzer Philosophie herrscht. So wenn Nietzsches Morgenröte von einer Leidenschaft der Erkenntnis spricht, der das unbewußte Glück der Barbarei verhaßt sei, oder wenn sein Zarathustra „Geist" und „Leben" als untrennbare Einheit verkündet — nämlich in dem Satz: „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet."12 Der vergeistigte Philosoph 11
K G W VI 3, S. 264.
12
K G W VI 1, S. 130.
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Nietzsche scheint für Baeumler nicht existiert zu haben. Auch die zweitausendjährige moralische Vivisektion, die Nietzsche als eine Prämisse zu sich selber empfindet, gibt es für Baeumler nicht. Und doch hat Nietzsche selbst seine Philosophie in der späten Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft mit diesen Worten definiert: Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders, als seinen Zustand jedes Mal in die geistige Form und Ferne umzusetzen, — diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. 13
Schließlich muß Baeumler sogar den Grundgedanken des Zarathustra aus seiner Systematisierung Nietzsches verschwinden lassen: die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die ganze Philosophie des Dionysos — und das, obwohl sich Nietzsche auch in seinen späten Aufzeichnungen mit jenem Grundgedanken beschäftigte, ja ihm das vierte und letzte Buch im „Willen zur Macht" widmen wollte. In seinem letzten Plan, datiert „Sils-Maria, am letzten Sonntag des Monat August 1888", das heißt unmittelbar vor dem Verzicht auf die Veröffentlichung eines Werkes unter dem Titel „Der Wille zur Macht", 14 trug jenes vierte Buch den Titel: „Der große Mittag", sein drittes und letztes Kapitel hieß: „Die ewige Wiederkunft". Gegen die Einfügung dieses Gedankens sträubt sich Baeumler; er identifiziert das System, das er, mit Hilfe des angeblichen Hauptwerkes Nietzsches, des kompilierten „Willen zur Macht", konstruiert hat, mit Nietzsches System und meint: „Es gibt nichts in seinem philosophischen System, womit diese Aternisierung des Werdenden in Zusammenhang gebracht werden könnte — einsam steht der Gedanke der ewigen Wiederkunft im ,Willen zur Macht' da, ein erratischer Block." 15 Dies könnte wohl auch stimmen, wenn wir überhaupt das hätten, was Baeumler Nietzsches philosophisches System nennt, oder wenn wir gar ein von Nietzsche geschriebenes
13 14 15
KGW V 2, S. 17. Vgl. dazu S. 53. Vgl. A. Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, S. 82.
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Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
Buch hätten, in dem sich der Gedanke als erratischer Block ausnehmen würde. Wir haben jedoch weder das System noch das Buch. Da uns aber der ganze Nietzsche interessiert und nicht das „System Nietzsche", so sind wir gezwungen, an den Interpretationskünsten Baeumlers zu zweifeln. Wir werden gut daran tun, uns die gewichtigen Einwände eines weit tieferen Interpreten — ich meine Karl Löwith — zu eigen zu machen. Löwith schreibt über Baeumler: „Der Wille als Macht übernimmt die Funktion der ewigen Wiederkehr und [tritt an die] Stelle der sich selber wollenden dionysischen Welt [...] Dieser unschuldig gemachte Wille ist das fragwürdige Fundament von Baeumlers gesamter Interpretation von Nietzsches geköpfter Philosophie [...]. Nur im Ring dieser ewigen Wiederkehr des Gleichen kann auch das Dasein des agonalen, .ringenden' Menschen, über die erste Befreiung vom ,Du sollst' hinaus, ,sich selber wollen'. Nietzsches Formel für dieses Wollen der ewigen Wiederkehr ist kein bloßer Wille zum ,Schicksal', sondern ,amor fati', während sich Baeumler unter ,Liebe' keine Liebe zur Ewigkeit, sondern nur eine bürgerliche Sentimentalität vorstellen kann."16 Aber hören wir noch einmal Baeumlers unwillkürliches Geständnis über das Scheitern seiner eigenen Interpretation an dem „Grundgedanken des Zarathustra" (denn so nannte Nietzsche die Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen im Ecce homo): „Niemals kann eine solche Welt [der ewigen Wiederkehr] philosophisch dargestellt werden, und unmöglich ist es, in dieser dionysischen Welt des ,Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, dieser Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste', die Welt als Kampf wieder zu erkennen [...], jene Welt der Entgegensetzung und der Spannung, die beherrscht ist von dem strengen Gesetz der Einheit, der Gerechtigkeit, die aus dieser Spannung jeweils resultiert."17 Um so schlimmer für jene Welt, die sich Baeumler zurecht gemacht hat — dürfen wir wohl sagen! Doch unter den bis jetzt behandelten Voraussetzungen ist Nietzsche erst dafür präpariert, wozu ihn Baeumler gebrauchen kann. Seine „geköpfte Philosophie" kann jetzt sehr wohl zu einer pseudore16
Vgl. K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Stuttgart, 1965), S. 212.
17
Baeumler, S. 84.
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volutionären Geste, zu einem — wie Baeumler sich ausdrückt — „Siegfriedangriff auf die Urbanität des Westens" werden. Nietzsche hat sich in einen „gehörnten Siegfried" verwandelt; jede Ironie, jede Doppeldeutigkeit, jede Art Geist oder esprit ist ihm ausgetrieben worden. Nietzsche wird zum Krieger, er wird sogar zum Germanen. 8. Nietzsche, der Germane und Politiker. Wir kommen damit zum unangenehmsten Teil unserer Betrachtung. Denn wenn Baeumler von Nietzsches Philosophie eine einseitige Deutung gibt, so stellt er ihn, als „politischen Denker", platterdings als Germanen dar, verständlich nur auf dem Hintergrund des verworrenen Sammelsuriums von Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts. War eine, wenn auch dürftige, Beweisführung dort vorhanden, wo sich Baeumler mit Nietzsches Gedanken abmühte, so ist jetzt — mit Nietzsche zu reden — „jede Spur von geistiger Rechtschaffenheit" aus seiner Darstellung verschwunden. Was übrig bleibt, ist allein die üble, allzu durchschaubare politische Tendenz. Nietzsches Germanismus wird von Baeumler als apodiktische Behauptung hingestellt. Hier einige Proben18: „Die Diesseitigkeit der Philosophie Nietzsches muß mit ihrer heroischen Zielsetzung in eins gesehen werden. Darin besteht der Germanismus Nietzsches" (17). „Nichts war dem nordisch-gespannten Wesen Nietzsches verhaßter als die orientalische Vorstellung wonnevoller Ruhe.[...] Seine Lehre vom Willen ist der vollkommenste Ausdruck seines Germanismus" (49). „[...] aus dem Kerngedanken der griechischgermanischen Metaphysik Nietzsches [entspringt] seine große Lehre: daß es nicht eine Moral gibt, sondern nur eine Moral der Herren und eine Moral der Sklaven" (67). „Welche echt germanische Empfindung spricht aus Zarathustras Verteidigung des Volkes gegen den Staat. [...] Nietzsche ist sich nicht bewußt, daß er damit das Geheimnis der deutschen Geschichte ausspricht" (92; also Nietzsche als „unbewußter Germane"!). „Dieselbe Abneigung gegen den Universalismus des Staates, die wir bei den Germanen bemerken, finden wir bei dem den Germanen stammverwandten Volke der Griechen"{92). Baeumler spielt die Griechen gegen die Römer aus und möchte sehr 18
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen in Baeumlers Buch.
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Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
gerne, da diese in seinen Augen als die Begründer des undeutschen Gebildes „Staat" erscheinen, daß auch Nietzsche mitmacht. Leider aber geht das alles nicht ohne — wie es in Baeumlers Darstellung Nietzsche als Politiker heißt — „zuverlässige Rekonstruktion" von Nietzsches politischem Denken. Die Rekonstruktion sieht dann bei bedenklichen Äußerungen Nietzsches wie der folgenden so aus: „Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach dem ,aere perennius' im Stil bei mir wiedererkennen. [...] Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke; und, um es gerade herauszusagen, sie können uns nicht sein, was die Römer sind. Man lernt nicht von den Griechen — ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um Imperativisch, um ,klassisch' zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt!" 19 Baeumler kommentiert diese Stelle aus Nietzsches GötzenDämmerung mit den Sätzen: „Die Stelle wird gänzlich mißverstanden, wenn man sie auf die Römer schlechthin bezieht: es sind lediglich die Römer als schriftstellerische Muster gemeint, als Meister der vornehmen Form, der vollkommenen literarischen Haltung. Von ihnen hat Nietzsche [...] Wesentliches gelernt[...]." „Der Gehalt seiner Lehre ist unrömisch, ja antirömisch — das drückt sich am stärksten in seiner Feindschaft gegen den Staat als Institution aus" (96). Daß Nietzsche „ F o r m " und „Inhalt" als dasselbe empfand, daß für ihn die „ F o r m " die „Sache selbst" war, vergißt Baeumler vollkommen. Nicht einmal vor folgender noch eindeutigerer Stelle aus dem Antichrist, in der Nietzsche ausspricht, was ihm die Römer waren, gerät Baeumler in Verlegenheit: Das, was aere perennius dastand, das imperium Romanum, die großartigste Organisations-Form unter schwierigen Bedingungen, die bisher erreicht worden ist, im Vergleich zu der alles Vorher, alles Nachher Stückwerk, Stümperei, Dilettantismus ist, — jene heiligen Anarchisten haben sich eine „Frömmigkeit" daraus gemacht, „die Welt", das heißt das imperium Romanum zu zerstören, bis kein Stein auf dem andren blieb, — bis selbst Germanen und andre Rüpel darüber Herr werden konnten . . . Das Christenthum war der Vampyr des imperium romanum, — es hat die ungeheure That der Römer, den Boden 9
K G W VI 3, S. 148 f.
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
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für eine große Cultur zu gewinnen, die Zeit hat, über Nacht ungethan gemacht. — Versteht man es immer noch nicht? Das imperium romanum . . . dies bewunderungswürdigste Kunstwerk des großen Stils, war ein Anfang, sein Bau war berechnet, sich mit Jahrtausenden zu beweisen, — es ist bis heute nie so gebaut, nie auch nur geträumt worden, in gleichem Maße sub specie aeterni zu bauen!20
Baeumlers Kommentar dazu lautet: „Den Juden und Christen gegenüber rücken Griechen und Römer auf die gleiche Stufe. Einem stärkeren Gegner gegenüber müssen sich auch alte Gegner vertragen" (113). Also eine Art Volksfront, sagen wir besser: völkische Front gegen das Christentum! Und wenn der „unbewußte Germane" Nietzsche von „Germanen und andren Rüpeln" oder „Germanen und anderen Schwerfüßlern" spricht, so bleibt dennoch sein Angriff auf das Christentum ein Siegfried-Angriff: „Das nordische Heidentum ist der unermeßliche, dunkle Untergrund, aus dem der kühne Kämpfer gegen das christliche Europa hervortaucht" (103). Das ist freilich sehr mythisch und dunkel gesprochen. Die „Sache selbst" sieht bei Nietzsche wesentlich anders aus. „Die Psychologie ist für Nietzsche immer nur eine Waffe", sagt Baeumler einmal (111); denn er kann unmöglich die ganze Tiefe des psychologischen Blicks seines Autors ermessen. Nietzsche darf kein Psychologe sein, weil sonst seine Lehrer ganz woanders als in den Wäldern Germaniens zu suchen wären, in Frankreich zum Beispiel. Aber „wer Nietzsche nicht kennt" — so Baeumler — muß annehmen, daß er ein „Verehrer der französischen Kultur" sei (112). Psychologie und französische Kultur — greifen wir lieber noch einmal auf Nietzsche zurück (der an dieser Stelle aus Ecce homo von sich selber spricht): Die Deutschen [ . . . ] sollen nie die Ehre haben, daß der erste rechtschaffene Geist in der Geschichte des Geistes [ . . . ] mit dem deutschen Geist in Eins gerechnet wird. Der „deutsche Geist" ist meine schlechte Luft: ich atme schwer in der Nähe dieser Instinkt gewordenen Unsauberkeit in psychologicis, die jedes Wort, jede Miene eines Deutschen verräth. Sie haben nie ein siebzehntes Jahrhunden harter Selbstprüfung durchgemacht wie die Franzosen, ein Larochefoucauld, ein Descartes sind hundert Mal in Rechtschaffenheit den ersten Deutschen 20
K G W VI 3, S. 243 f.
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Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
überlegen, — sie haben bis heute keinen Psychologen gehabt. Aber Psychologie ist beinahe der Maaßstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse. [...] Und wenn ich Stendhal gelegentlich als tiefen Psychologen rühme, ist es mir mit deutschen Universitätsprofessoren begegnet, daß sie mich den Namen buchstabieren ließen [.. ,].21
Man darf nicht einmal, nach Baeumler, von einem „Renaissancism u s " Nietzsches sprechen; denn sonst müßte man ja annehmen, daß Nietzsche doch in etwas Partei für das „mediterrane Priestertum" und gegen das „Ereignis der Reformation" genommen habe. „Überdies stammt der Adel" — so meint der treuherzige Germane Baeumler — „in den ober- und mittelitalienischen Stadtstaaten [...] höchstwahrscheinlich aus germanischem Blute" (97). Ich denke, hier würde jeder Kommentar schaden! Und wenn es bei Sätzen wie „Die Renaissance und die Reformation, beide zusammen machen erst ein Ganzes" mit Nietzsches Geduld zu Ende geht (und zwar so sehr, daß er diesen Satz des „ästhetischen Schwaben Vischer" als ein „Idioten-Urtheil in historicis" apostrophiert), so findet Baeumler, daß Nietzsche lediglich nicht „hinter die Reformation zurück" will, sondern „über sie hinaus" (112). Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft entwickelt Nietzsche mit aller wünschbaren Klarheit seine Stellung zu Luther und zur Reformation, nämlich im Aphorismus „Der Bauernaufstand des Geistes". 22 Dort findet sich eine Charakteristik der „südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes", auf denen der Bau der Kirche ebenso ruht wie auf einem „südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist". Nietzsche spricht von „einer ganz anderen Kenntnis des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat". „Es scheint, die Deutschen verstehen das Wesen einer Kirche nicht." In diesem, in Hinsicht auf die Deutschen negativ gemeinten Satz findet Baeumler ein verstecktes Lob (109). Es ist schade, daß Nietzsche die endgültige Fassung seines Aphorismus noch milderte! Sonst hätte Baeumler kaum von einem Lob des Nordens und des Germanentums sprechen können. In der Vorstufe zu diesem Aphorismus lesen wir: „Aber im Norden denkt man mit Rousseau 21
K G W VI 3, S. 359 f.
22
Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 358.
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
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,der Mensch ist gut'". Und: „Die Lutherische Reformation war von Anfang an eine nordische Flachköpfigkeit." 23 Genug! Genug! Ein wenig reine Luft! — so möchte man, wie Nietzsche bei anderer Gelegenheit, ausrufen. Ich breche hier meine Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Germanismus Nietzsches ab; fast möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich mich mit solch niederziehender Polemik über zu Recht verblichene Begriffe wie Romanismus und Germanismus aufgehalten habe. Denn diese Begriffe stammen aus einer mehr als fragwürdigen Geschichtsauffassung und haben mit der Rechtschaffenheit der Forschung — welche dort beginnt, wo die Ideologie, das heißt das falsche Bewußtsein, aufhört — nichts zu tun. Sie klingen heute einfach lächerlich und spiessig. Man darf indes nie vergessen, daß erst durch diese Präparierung, vornehmlich durch Baeumlers Propagandabuch, die „Gleichschaltung" Nietzsches mit der nationalsozialistischen Ideologie überhaupt möglich wurde.
II Der Marxismus und Nietzsche: die Interpretation Georg Lukács' 1. Wer sich die Bedeutung des erneuten Interesses an Nietzsches Philosophie zu erklären versucht, wird rasch zweierlei feststellen. Zum einen: Das überkommene Nietzsche-Bild genügt uns heute nicht mehr, weder als grobe realpolitische Vereinfachung seiner Theorie des Willens zur Macht braunen Angedenkens noch auch — im besseren Falle — als ästhetisierende Begeisterung für seinen „Stil" oder seine Kunstphilosophie. Zum anderen: wir möchten, mehr noch, selbst über jene großen philosophischen Deutungen hinauskommen, die in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, obzwar weit entfernt von der nazistischen Pseudophilosophie, entstanden sind (ich meine die auch heute noch in vieler Hinsicht wichtigen Interpretationen von Karl Jaspers und Karl Löwith). Auch über sie
23
Vgl. KSA 14, S. 274.
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
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hinaus möchten wir zu einer neuen, kritischen Weise gelangen, mit Nietzsche umzugehen und ihm gerecht zu werden. Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem überkommenen Nietzsche-Bild nimmt die Interpretation von Georg Lukacs einen besonders wichtigen Platz ein, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Lukacs war einer der bedeutendsten Theoretiker des Marxismus in unserer Zeit; der Marxismus aber, als Philosophie und Weltanschauung, spielt in unserer Zeit und auf der ganzen Welt eine entscheidende Rolle. 2. Die Nietzsche-Interpretation von Georg Lukacs hat einen sehr starken Einfluß auf marxistische wie nichtmarxistische Forscher ausgeübt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil seine scharfsinnige Anwendung der marxistischen Methode auf die verschiedensten Gebiete der Kulturgeschichte, Philosophie und Ästhetik lange Zeit als die orthodoxe galt und auch noch heute als solche wirkt — sogar dort, wo sein Marxismus, infolge seiner Einstellung zu den Ereignissen von 1956 in Ungarn, nicht mehr unbestritten ist, also in den sozialistischen Ländern (wobei Ungarn selbst seit einigen Jahren eine Ausnahme macht). Die Schwierigkeiten, die der Anwendung der marxistischen Methode auf die Erscheinungen des sogenannten „Überbaus" entgegenstehen, sind bekannt. Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Lukacs die materialistische Geschichtsauffassung auf Kunst, Literatur und Philosophie anwendet, fällt nicht in den Rahmen meiner Darlegungen. Dafür werden sie aber vielleicht einen konkreten Beitrag zu dieser allgemeinen Frage leisten können. 2. Man findet in allen Schriften von Georg Lukacs gelegentliche Hinweise auf Nietzsche, so schon in den „prämarxistischen" Essays der Sammlung Die Seele und die Formen. Diese Hinweise bezeugen eine tiefgehende Kenntnis und fortdauernde Auseinandersetzung mit Nietzsche, die vollständig zu rekonstruieren sich lohnen würde. Die Werke jedoch, in denen Lukacs seine Nietzsche-Interpretation ausdrücklich gibt, sind: 1.
der Aufsatz aus dem Jahre 1934 Nietzsche als Vorläufer der faschi-
stischen Ästhetik, später
in die Sammlung
Beiträge zur Geschichte
der Ästhetik aufgenommen; 2.
ein Essay aus der Kriegszeit, im Jahre 1943 verfaßt, mit dem Ti-
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3.
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tel Der deutsche Faschismus und Nietzsche, der fünf Jahre später — 1948 — die Reihe der „Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie" eröffnen sollte, wie der Untertitel des Sammelbandes Schicksalswende lautet; endlich das umfangreiche Werk Die Zerstörung der Vernunft. Hier gab Lukács 1952 seine im Untertitel der Schicksalswende gleichsam angekündigte „neue deutsche Ideologie" heraus, in der Form einer Monographie über — so ihr Untertitel — den „Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler". (Dieser Untertitel, nebenbei gesagt, erinnert an das Werk des amerikanischen Historikers Peter Viereck, das 1941 unter dem Titel Metapolitics: From the Romantics to Hitler erschien und in dem ebenfalls eine geistesgeschichtliche Genealogie des Hitlerismus gegeben wurde, wobei jedoch Nietzsche — in Polemik mit den NaziPseudophilosophen und -historikern — sehr entschieden aus der Reihe der geistigen Vorläufer des Nationalsozialismus entfernt wird.) Das Schlüsselkapitel der Zerstörung der Vernunft ist ohne Zweifel das Kapitel über Nietzsche: Nietzsche als Begründer des imperialistischen Irrationalismus.
Die drei erwähnten Nietzsche-Darlegungen sind ebenso viele Etappen einer immer strenger und konsequenter werdenden Anklagerede gegen Nietzsche. Hatte Lukács, insbesondere im ersten seiner Nietzsche-Essays, noch einigermaßen an den „Unterschieden" zwischen Nietzsche und der nationalsozialistischen Ideologie festzuhalten versucht und sogar den prinzipiellen Mißbrauch Nietzsches durch die Alfred Rosenberg und Alfred Baeumler zugegeben, so machte er später keinen wesentlichen Unterschied mehr. Nietzsches Denken wurde der faschistischen und imperialistischen Ideologie restlos gleichgesetzt, da es, auf dem Wege der sogenannten „indirekten Apologetik" des Kapitalismus, zur ideologischen Antizipierung des Faschismus und Imperialismus geworden sei. Ja, es gibt — in der Zerstörung der Vernunft — Fälle, in denen der Nietzsche von Lukács ein noch strammerer Nationalsozialist als der Nietzsche von Alfred Baeumler ist. Wenn etwa, wie bereits gezeigt, Baeumler versucht, den ihm nicht genehmen Gedanken der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" zugunsten des ihm viel sympathischeren Prinzips des Willens zur Macht (auf dieses Prinzip werden wir zurückkommen müssen!) einfach aus Nietzsches Philosophie zu eskamotieren, so beeilt sich Lukács, die angeblich faschistischen Züge selbst jenes Gedankens zu zeigen.
192
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
Sein letztes und radikalstes Wort über Nietzsche hat Lukács in der Zerstörung der Vernunft gesprochen. Nehmen wir dieses Wort ernst! Ich widme ihm die folgenden Betrachtungen, obschon sie nicht über den ersten Ansatz zu einer sich auf möglichst konkrete, kritische und philologische Daten stützenden Diskussion hinausgehen werden. 3. Unser Gegenstand ist tatsächlich von großer Tragweite; denn er betrifft nicht nur das allgemeine Problem der Beziehungen zwischen dem, was die Marxisten „ökonomisch-soziale Basis", und dem, was sie „Uberbau" nennen, sondern, im Zusammenhang mit demselben Problem, die noch allgemeinere Frage der Beziehung zwischen materialistischer Geschichtsauffassung und Philosophie überhaupt. Diese eigentliche Grenzfrage der marxistischen Philosophie betrifft sie selbst, und zwar insofern die vom historischen Materialismus postulierte Historizität jedes menschlichen Denkens folgerichtig auch dessen eigene historische Bedingtheit, also die Historizität des Marxismus selbst, impliziert. So schrieb Antonio Gramsci, der große italienische Theoretiker des Marxismus, daß der historische Materialismus, „entstanden als Ausdruck der inneren Widersprüche, welche unsere Gesellschaft zerreißen [...], nicht den Boden der Widersprüche verlassen kann": er ist selber provisorisch, wegen der „Historizität jedweder Welt- und Lebensauffassung". Man könnte sogar — ich zitiere weiter aus Gramsci — behaupten, daß, „während das ganze System des historischen Materialismus in einer vereinigten Welt hinfällig werden kann, viele idealistische Anschauungen, oder zumindest einige Aspekte von ihnen, zur Wahrheit werden könnten, welche im Reich der Notwendigkeit utopisch sind" 24 . Ahnliches findet sich bei Marx und Engels, jedoch nicht — soviel wir wissen — bei Lukács, für den dasselbe gelten könnte, was einmal Engels von Hegel sagte: „[...] in der Menschengeschichte ist der unendliche Progreß von Hegel als die einzig wahre Daseinsform des ,Geistes' anerkannt, nur daß phantastischerweise ein Ende in dieser Entwicklung
24
Vgl. Antonio Gramsci, Quaderni del carcere. Edizione critica dell'Istituto Gramsci. A cura di Valentino Gerratana (Torino, 1975), Bd. II, S. 1487 ff.
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
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angenommen wird — in der Herstellung der Hegeischen Philosophie." 25 Ein Grundpfeiler der Nietzsche-Interpretation von Lukacs ist das, was er als „indirekte Apologetik" bezeichnet. „Die indirekte Apologetik beruht" — ich zitiere aus dem Schluß des Kapitels über Kierkegaard in der Zerstörung der Vernunft — „ganz allgemein darauf, die Wirklichkeit überhaupt (die Gesellschaft überhaupt) in einer solchen Weise abzulehnen, zu verneinen, daß die letzte Konsequenz dieser Verneinung zu einer Bejahung des Kapitalismus oder zumindest zu seiner wohlwollenden Duldung führt. Die indirekte Apologetik auf dem Gebiet der Moral diffamiert vor allem das gesellschaftliche Handeln überhaupt, speziell jede Tendenz, die Gesellschaft verändern zu wollen. Sie erreicht dieses Ziel durch das Isolieren des Individuums und durch ein Aufstellen so hoher ethischer Ideale, vor deren Erhabenheit das kleinlich Nichtige der gesellschaftlichen Zielsetzungen zu verblassen und sich aufzulösen scheinen soll. Soll aber eine derartige Ethik eine reale, breite und tiefe Wirkung erlangen, so muß sie nicht nur ein solches erhabenes Ideal aufstellen, sondern zugleich auch von dessen Befolgung (ebenfalls mit Hilfe ethisch erhabener Argumente) dispensieren. Denn die Verwirklichung eines solchen Ideals könnte das dekadente bürgerliche Individuum vor eine persönlich ebenso schwierig scheinende Aufgabe stellen, wie es das gesellschaftliche Handeln ist. Die Wirklichkeit der ablenkenden Funktion der indirekten Apologetik würde dadurch problematisch werden."26 Auf diese Weise erreicht Lukacs — was Nietzsche betrifft — zweierlei. Auf der einen Seite widerlegt er von vornherein jeden Versuch, Nietzsche als scharfsinnigen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft und Moral darzustellen, wie ihn etwa Thomas Mann 1947 in seinem Vortrag Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung unternahm. Andererseits aber muß Nietzsche, sobald er den Boden des Gesellschaftlichen und der Moral verläßt oder auch Gesellschaft und Moral im Lichte einiger seiner Philosophie eigentümlichen Grenzge25
26
Vgl. Friedrich Engels, Dialektik der Natur. In: Marx-Engels Werke (MEW) (Berlin, 1958 ff.), Bd. 20, S. 504. Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft (Berlin, 1955), S. 242 f.
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Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
danken wie etwa „ewige Wiederkehr des Gleichen", „Übermensch", „Wille zur Macht", „Nihilismus" usw. betrachtet, notwendig „indirekte Apologetik" des Kapitalismus treiben. Nicht was Nietzsche in Wirklichkeit sagte oder meinte, bildet den Gegenstand von Lukács' Interpretation, sondern was er gleichsam sagen und meinen mußte, im Rahmen einer ideologischen, sich marxistisch nennenden Offenbarung, die sich im Grunde von jedem konkreten historischen Beweis dispensiert fühlt, da alles in ihr schon vorgezeichnet und vorherbestimmt ist. Die Argumentation, mit der Lukács seine Betrachtungen über Nietzsche einleitet, ist in dieser Hinsicht typisch bis zur Paradoxie: Nietzsches Lebenswerk sei, so hören wir nämlich, eine fortlaufende Polemik gegen den Marxismus — und das, obwohl er nie eine Zeile von Marx oder Engels gelesen, ja nicht einmal das Wort „Marxismus" oder „historischer Materialismus" überhaupt je gekannt hat! Dieser Umstand läßt sich jedoch bequem erklären. „Dem Klassenfeind gegenüber", meint Lukács, „scheint alles erlaubt zu sein, hier hört jede wissenschaftliche Moral auf." 27 Jede Philosophie ist nach Lukács „in ihrem Inhalt und ihrer Methode von den Klassenkämpfen ihrer Zeit bestimmt." Und wörtlich: „Was Engels über die Juristen sagt, gilt noch gesteigert für die Philosophie: ,Die Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse als Rechtsprinzipien [...] geht vor, ohne daß sie den Handelnden zum Bewußtsein kommt, der Jurist bildet sich ein, mit aprioristischen Sätzen zu operieren, während es doch nur ökonomische Reflexe sind.'" 28 Lukács zitiert aus einem Brief von Friedrich Engels an Conrad Schmidt vom 27.10.1890, in dem jedoch Engels im Gegensatz zu der Behauptung von Lukács („Was Engels über die Juristen sagt, gilt noch gesteigert für die Philosophie") nicht müde wird, vor der Pedanterie zu warnen, „für all diesen urzuständlichen Blödsinn" — Engels meint die „noch höher in der Luft [höher als die Rechtswissenschaft] schwebenden ideologischen Gebiete" wie „Religion, Philosophie etc." — „ökonomische Ursachen zu suchen". Von „ökonomischen Reflexen" zu reden, so wie es Lukács tut, scheint mir anhand dieser Äußerungen sehr fragwürdig. Der alte Engels richtet seine Polemik (wie 27
Ebd., S. 247.
28
Ebd., S. 247.
Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
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man den Briefen an Joseph Bloch vom 21. Dezember 1890, an Franz Mehring vom 14. Juli 1893 und an Heinz Starkenburg vom 25. Januar 1894 entnehmen kann) gegen den vereinfachenden Eifer vieler drauflos schwadronierender „Marxisten", die den historischen Materialismus durch eine mechanische und dogmatische Anwendung zu einer — wie er sagt — „leeren Phrase" degradieren. Das kommt besonders in dem Brief an Joseph Bloch zum Ausdruck: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet." 4. Zur Verfeinerung seiner unbewußten „indirekten Apologetik" des entstehenden Imperialismus und Faschismus bedient sich Nietzsche nach Lukács zweier Mittel: der aphoristischen, unsystematischen Form seiner Schriften und des Mythos. Oder vielmehr: die Mythisierung drückt sich bei Nietzsche in seiner Bevorzugung des Aphorismus aus. Denn alles ist bei Nietzsche mythisiert: die Geschichte, die Gesellschaft, die Naturwissenschaft, ja sogar sein „Agnostizismus"; es gibt außerdem bei ihm die Mythen vom „Willen zur Macht" , vom „Ubermenschen", vom „Tod Gottes" usw. usf. Karl Löwith hat einmal gegen Ernst Bertram sehr richtig bemerkt: „Die geschichtliche Einsicht von Hegel und Burckhardt, daß uns nichts so sehr von der Antike unterscheidet als eben das Fehlen einer wahrhaft mythischen Denkweise, wird von Bertram [ . . . ] ignoriert." 29 Diese Einsicht von Hegel und Burckhardt teilte auch Nietzsche, und zwar so sehr, daß sie seinen jugendlichen Glauben an die Möglichkeit der Wiedererstehung des germanischen Mythos in Wagnerscher Form und an die Haltbarkeit der Mythen überhaupt zerstören mußte. Das ist der Sinn der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung: das Bewußtsein, daß es für den modernen Menschen keine Möglichkeit mehr gibt, den begrenzenden — und ebendeshalb lebenfördernden — Horizont wiederzugewinnen. Die „historische Krankheit" wurde hier aber dargelegt von einem, der — wie er selber sagte — ganz und gar nicht auf den „historischen Sinn" verzichten mochte. 29
Löwith, S. 206.
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Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs
Und wer die Vorarbeiten zu Also sprach Zarathustra kennt, der weiß, daß der „häßlichste Mensch" im vierten Teil eben den „historischen Sinn" personifiziert30, dieser „häßlichste Mensch" ist nun der „Mörder Gottes", das heißt der „historische Sinn" hat Gott, den Mythos aller Mythen, ermordet. Danach gibt es kein Zurück mehr zu irgendwelchem Mythos! Das Glück, das der Mythos dem Menschen der antiken Welt gewährte, ist eng mit dem „Glück ohne Erkenntnis" der Barbarei verwandt; doch Nietzsche sagt in einem schon früher erwähnten Aphorismus aus der Morgenröte (Nr. 429): „[...] die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts fürchtet, als ihr eignes Erlöschen, wir glauben vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnis zugrunde geht! [...] Ja wir hassen die Barbarei — wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der Erkenntnis!" Nietzsche hat sich zu wiederholten Malen, in seinem Nachlaß von 1875 bis zum geistigen Zusammenbruch Anfang Januar 1889, selber darüber Rechenschaft abgelegt, was seine Wagnersche und mythische Periode bedeutete. Nehmen wir nur drei von diesen Zeugnissen: 1883: „Hinter meiner ersten Periode grinst das Gesicht des Jesuitismus: ich meine: das bewußte Festhalten an der Illusion und die zwangsweise Einverleibung derselben als Basis der Cultur. [...] Wagner ist dieser Gefahr unterlegen. [...] An Stelle des Philosophen setzte ich den freien Geist, der ohne Jesuit zu werden, trotzdem die unlogische Beschaffenheit des Daseins ergründet."31 1885: „Eines Tages — es war im Sommer 1876 — kam mir eine plötzliche Verachtung und Einsicht in mich: unbarmherzig schritt ich über die schönen Wünschbarkeiten und Träume hinweg, wie sie bis dahin meine Jugend geliebt hatte, unbarmherzig ging ich meines Wegs weiter, eines Weges der ,Erkenntnis um jeden Preis' [.. .]."32 1888: „Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen compromittirt zu sehn, als ich begriff, wohin es jetzt
30
K G W VII 3, S. 76.
31
K G W VII 1, S. 533.
32
Variante zu Fr. 2 [9], K G W VIII 1, S. 68. Vgl. Bd. XIV, S. 386 der Großoktavausgabe.
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mit Wagner hinauswolle [...]; das was ich an Wagner schätzte war das gute Stück Antichrist, das er mit seiner Kunst und Art vertrat." 33 Die Akzente verschieben sich gewiß im Laufe dieser Jahre, bis zum Versuch — ohne Jesuit zu werden — die unlogische Beschaffenheit des Daseins nicht nur zu ergründen, sondern auch zu bejahen. Der Versuch selber jedoch bleibt von dem getragen, was Nietzsche die „Leidenschaft der Erkenntnis" nennt, und hat weder Mythisches noch Mythisierendes an sich. Einen Mythos allerdings, den Nietzsche-Mythos, finden wir in vielen mystifizierenden NietzscheInterpretationen, von Klages und Bertram bis zu Baeumler und Lukacs selbst. Was wir hingegen kaum finden, ist der Versuch, sich dem wirklichen, in einer bestimmten Zeit lebenden Nietzsche historisch und kritisch anzunähern. 5. Es gibt namentlich zwei Grenzgedanken in Nietzsches Philosophie, die den Eindruck der Mythisierung erwecken können: den der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" und den des „Ubermenschen". Und doch, wenn man sich nicht so sehr auf die vergröbernde Widerspiegelung, die diese Gedanken in den Köpfen von Literaten, Modephilosophen und anderen Nietzscheanern gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erfuhren, und statt dessen eher auf die Bedeutung, die Nietzsche ihnen im Rahmen seiner Betrachtungen gibt, bezogen hätte, so hätten wir vielleicht einen Mythos weniger und eine Erkenntnis mehr. Wie denkt Nietzsche seinen Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen? Er selber hat es ausgesprochen: als Zuendedenken der mechanistischen Weltauffassung, also im engen Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen Anschauungen seiner Zeit. (Ich sehe hier ab von der Frage, welche eigentliche philosophische Bedeutung diesem Gedanken zukommt; ich will nur seinen Ursprung hervorheben — den historischen, wohlgemerkt, nicht den persönlichen des bekannten Erlebnisses in Sils-Maria vom August 1881.) Daß dem so ist, wird bestätigt von einer Seite, die wir gewiß nicht als eine mit Mythen sympathisierende verdächtigen können: nämlich von Engels. Dieser schreibt in einer Aufzeichnung zu seiner Dialektik der 33
K G W VIII 2, S. 18.
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Natur (datierbar auf die Zeit zwischen 1878-1883!): „Unfaßbarkeit des Unendlichen. Sobald wir sagen, Materie und Bewegung sind nicht erschafft und unzerstörbar, sagen wir, daß die Welt als unendlicher Prozeß, d.h. in der F o r m der schlechten Unendlichkeit, existiert, und haben damit an diesem Prozeß alles begriffen, was zu begreifen ist. Höchstens fragt man sich noch, ob dieser Prozeß eine — in großen Kreisläufen — ewige Wiederholung desselben ist, oder ob die Kreisläufe ab- und aufsteigende Aste haben." Eine Seite später zitiert Engels aus dem Italienischen des Abbé Galiani: „ Q u e s t a infinità che le cose non hanno in progresso, la hanno in g i r o " („Jene Unendlichkeit, welche die Dinge im Fortschreiten nicht haben, haben sie im Kreisen"). 3 4 Diese Grenzvorstellung der „ewigen Wiederholung desselben" regt Friedrich Engels nicht weiter auf; sie ist jedoch — und darauf k o m m t es an — eine durchaus wissenschaftliche Vorstellung, die nichts mit einem Mythos zu tun hat. Bei Nietzsche hat sie Folgen: eine dieser Folgen ist — der Ubermensch. Die Welt der Immanenz, die Welt nach Gottes T o d , die Welt also der Naturwissenschaft (ewige Wiederkehr) und der Natur- und Menschengeschichte (historischer Sinn — Mörder der Mythen): sie stellt an den Menschen die Forderung einer qualitativen Änderung, einer radikalen Uberwindung seiner selbst. Nichts anderes bedeutet der Ubermensch, insofern er imstande sein muß — Nietzsche verneint es einmal von sich selber —, das Leben zu ertragen nach dem Ende gerade der mythischen Zeit, der Zeit von Gott, aber auch von Kunst, Moral und allen übrigen Illusionen. Sehr richtig sind die Ausführungen, mit denen Lukacs gegen Baeumler zeigt, daß es keinen Widerspruch zwischen dem Gedanken der ewigen Wiederkunft und dem des Willens zur Macht gibt. Damit aber wird Nietzsche für Lukacs ein noch besserer Faschist als für Baeumler: „ [ . . . ] in der ,Unschuld des Werdens' entsteht die Pseudorevolution Nietzsches, der Ubergang des Bürgertums aus der liberalen Zeit der ,Sekurität' in die der ,großen Politik', des Kampfes um die Erdherrschaft. Bei aller Uberspannung des Umwertungspathos ist jedoch dieser U m s t u r z eben nur eine Pseudorevolution, eine bloße Steigerung der reaktionären Inhalte des Kapitalismus, verziert mit 34
MEW, Bd. 20, S. 503 f. u. 505.
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revolutionären Gesten. Und die ewige Wiederkunft hat die Funktion, den letzten Sinn dieses Mythos auszusprechen: die so geschaffene barbarisch-tyrannische Gesellschaftsordnung soll eine endgültige sein, die bewußte Verwirklichung dessen, was in der bisherigen Geschichte immer erstrebt wurde, was zumeist gescheitert, nur ab und zu partiell gelungen ist. Wenn man nun die methodologische Struktur dieses Gedankensystems betrachtet, sieht man, daß es völlig dem Hitlerschen entspricht, nur" — man beachte dies „nur"! — „daß bei Hitler die Chamberlainsche Rassentheorie als neues ergänzendes Element an Stelle der ewigen Wiederkunft eingebaut ist. Nietzsches gedankliche Nähe zum Hitlertum kann also nicht durch Widerlegung falscher Behauptungen, Fälschungen usw. von Baeumler oder Rosenberg aus der Welt geschafft werden: sie ist objektiv noch größer, als diese sie sich vorgestellt haben."35 6. Wenn ich mich gegen die restlose politische Aktualisierung durch Georg Lukács wehre, so deshalb, weil ich einer Methode den Vorzug gebe, die zuerst versucht, diesen Denker mit und in seiner Zeit zu verstehen und aus deren Problemen seine Fragestellung zu erklären. Die Diskussion über den Darwinismus zur Zeit Nietzsches kann uns zum Beispiel gültigere Gesichtspunkte liefern als die rein ideengeschichtliche Genealogie, durch die Lukács in Nietzsches Einstellung zum Darwinismus „das methodologische ,Modell' für die faschistische Rassentheorie und insbesondere für ihre praktische Anwendung" erblickt. Lukács zitiert zu diesem Behuf folgende Stelle aus der Götzen-Dämmerung (einem der letzten Werke Nietzsches, geschrieben 1888): „Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf [d. h. ,den Kampf ums Dasein'] — und in der Tat, er kommt vor —, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken und Bevorrechteten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, — das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger .. ," 36 Man vergleiche diese Stelle mit der 35
Lukács, S. 304.
36
K G W VI 3, S. 114.
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folgenden, die aus der Feder eines illustren Zeitgenossen Nietzsches stammt: „Es ist eben der Fehler von Darwin, daß er in ,Die natürliche Zuchtwahl oder das Überleben der Tauglichsten' zwei wildfremde Sachen durcheinanderwirft: 1. Selektion durch den Druck der Übervölkerung, wo die Stärksten vielleicht am ersten überleben, aber auch die Schwächsten in mancher Beziehung sein können. 2. Selektion durch größere Anpassungsfähigkeit an veränderte Umstände, wo die Überlebenden für diese Umstände besser geeignet, aber wo diese Anpassung ebensowohl Fortschritt wie Rückschritt im Ganzen bedeuten kann (ζ. B. Anpassung an Parasitenleben immer Rückschritt). Hauptsache: daß jeder Fortschritt in der organischen Entwicklung zugleich ein Rückschritt, indem er einseitige Entwicklung fixiert, die Möglichkeit der Entwicklung in vielen andern Richtungen ausschließt. Dies aber Grundgesetz." Der Zeitgenosse heißt wiederum Friedrich Engels. Die Aufzeichnung stammt aus der Dialektik der Natur.17 Gewiß darf man nicht, weder hier noch bei allen schon zitierten oder noch zitierbaren Parallelstellen, die Unterschiede übersehen. Aber mir scheint es wichtig, daß man die Atmosphäre rekonstruiert, in der Nietzsches Philosophie atmete, nicht dagegen irgendeine ideologische Zurechtmachung vornimmt — ob nun zum Zweck der Verdammung oder der Absolution. 7. Für Lukács stellt der „Kampf gegen die proletarische Weltanschauung" den ganzen Inhalt von Nietzsches Philosophie dar. Wo steckte aber diese „Weltanschauung", daß Nietzsche sie kennen und bekämpfen konnte? Lukács hat es uns schon gesagt: Nietzsche bekämpfte sie, ohne sie zu kennen! Ich schlage vor, auch hier wieder etwas Historie zu treiben. Nietzsche hat eine sehr beschränkte Kenntnis der sozialistischen Bewegung in Deutschland gehabt. Mehr noch: er ist in einer Umgebung aufgewachsen — dem Pfarrhaus in Röcken und später der Beamtenstadt Naumburg —, die man sehr gut mit dem bekannten Wort Thomas Manns von der „machtgeschützten Innerlichkeit" umschreiben könnte. Eine unpolitische Umgebung par excellence, ja eine spießbürgerliche. Nietzsche teilte dann in Leipzig und Basel all 37
MEW, Bd. 20, S. 564.
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die politischen Vorurteile seiner akademischen Bekanntschaften. Wenn er jedoch von „Massen" und „öffentlicher Meinung" oder von „Herdenmenschen" sprach, so verstand er darunter — laut einer seiner letzten Nachlaßaufzeichnungen — die Spießer, den „Mittelstand" (also seine eigene Klasse). Als junger Mann bewunderte Nietzsche die „irrationale Größe" eines Lassalle (dieser starb 1864 im Duell, als Nietzsche gerade zwanzig Jahre alt war). Wir könnten uns sehr gut vorstellen, daß bei Wagners in Tribschen, zwischen 1869 und 1872, ab und zu die Rede vom Sozialismus war: Cosima Wagner hatte ja Lassalle, Lothar Bucher und Georg Herwegh — durch ihren Mann Hans von Bülow — während ihrer Berliner Zeit gekannt. Zudem mag der alte Revolutionär von anno 48, Richard Wagner selbst, gelegentlich von seiner Bekanntschaft mit Bakunin und seinen Erfahrungen während des Dresdner Aufstands vom Mai 1849 usw. erzählt haben. Die Idealistin Malwida von Meysenbug vermittelte Nietzsche die Bekanntschaft mit den Werken Alexander Herzens und gewiß auch mit anderer revolutionärer, mehr oder minder sozialistischer Literatur des damaligen Europa. Daß Nietzsche 1875 in Basel ein Gespräch mit einem Proudhonisten hatte, und zwar bei seiner mütterlichen Freundin Marie Baumgartner, wissen.wir auch. Es bleibt endlich zu erwähnen, daß eine ganze Reihe von späteren Führern der österreichischen Arbeiterbewegung in den siebziger Jahren Nietzsche-Verehrer waren: Heinrich Braun, Victor Adler, Engelbert Pernerstorfer. 38 (Auf daß erfüllt werde, was gesagt ist durch den Marxisten Franz Mehring, zum großen Schrecken des Georg Lukacs der Zerstörung der Vernunft: Nietzsche sei eine gute Vorbereitung zum Sozialistwerden namentlich bei der unruhigen bürgerlichen Jugend gewesen.) Von Marx kannte Nietzsche höchstens den Namen, wenn er wirklich den ganzen Wälzer von Karl Eugen Dühring, Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus, gelesen haben sollte — was trotz des Vorhandenseins dieses Werkes in seiner Bibliothek sehr zweifelhaft ist. Dafür kannte Nietzsche durch andere Schriften Dührings und die persönliche Nähe des eigenen Schwagers
38
KGW IV 4 (M. Montinari, „Nachbericht zur vierten Abteilung"), S. 12 u. 36 f.
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Bernhard Förster eine ihm — verständlicherweise! — besonders unappetitliche Variante des Sozialismus: die antisemitische. Es kann uns also nicht wundern, wenn Nietzsche gegen den ihm bekannten Sozialismus von der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches an, also von 1878 bis zum Schluß seines bewußten Lebens im Januar 1889, seine bekannte Losung „So wenig Staat wie möglich" erhob. Uber die Frage des Staates herrschte damals in der deutschen Sozialdemokratie kaum sehr viel Klarheit, und das entscheidende Dokument darüber — Marxens Kritik des Gothaer Programms von 1875 — wurde erst 1891 veröffentlicht, sechzehn Jahre nach seiner Abfassung (und außerdem nicht in vollem Wortlaut!). Dieses „ganze Programm", schrieb Marx in seiner Kritik, „ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben" 39 . Der Sozialismus, von dem Marx spricht, existierte damals — als Theorie — nur in London, und zwar bei ihm und bei Engels. Nietzsche selbst kannte höchstens — man denke an die politische Beschränktheit eines damaligen Akademikers! — entweder den Staatssozialismus à la Lassalle oder aber, etwa durch die politische Agitation der Eisenacher, die demokratischen Phrasen über die Gleichheit. Und es ist tatsächlich nicht schwer, in Nietzsches Schriften Zitate gegen die Gleichheit aller Menschen zu finden, wie Lukács es tut. Die damals in der deutschen Sozialdemokratie gängige Losung von der Gleichheit war aber nach Marx „zu veraltetem Phrasenkram geworden". Und Engels schrieb an August Bebel: „,Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit' ist auch eine sehr bedenkliche Phrase statt ,Aufhebung aller Klassenunterschiede"' (März 1875).40 Einige Jahre später lesen wir zu allem Uberfluß in seinen Aufzeichnungen zum Antidühring: „Gleichheit = Gerechtigkeit als höchstes Prinzip und letzte Wahrheit hinstellen zu wollen, ist absurd. Gleichheit besteht bloß im Gegensatz zu Ungleichheit, Gerechtigkeit zu Unrecht, sind also noch mit dem Gegensatz zur alten bisherigen Ge39
MEW, Bd. 19, S. 31.
40
MEW, Bd. 19, S. 7.
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schichte behaftet, also mit der alten Gesellschaft selbst [ . . . ] . " Und weiter: „Wenige Generationen gesellschaftlicher Entwicklung unter kommunistischem Regime und unter den vermehrten Hiilfsmitteln müssen die Menschen dahin bringen, daß dies Pochen auf Gleichheit und Recht ebenso lächerlich erscheint wie heute Pochen auf Adelsetc. Geburtsvorrechte, daß der Gegensatz zur alten Ungleichheit und zum alten positiven Recht, ja auch zum neuen Ubergangsrecht aus dem praktischen Leben verschwunden ist, daß wer auf pedantische Aushändigung seines gleichen und gerechten Produktenanteils beharrt, mit Aushändigung des doppelten verhöhnt wird [...] und wo bleibt dann die Gleichheit und Gerechtigkeit, als in der Rumpelkammer der historischen Erinnerung? Weil dergleichen zur Agitation heute vortrefflich ist, ist es noch lange keine ewige Wahrheit [...]. Übrigens ist die abstrakte Gleichheitstheorie auch heute und für eine längere Zukunft noch ein Widersinn. Es wird keinem sozialistischen Proletarier oder Theoretiker einfallen, die abstrakte Gleichheit zwischen sich und einem Buschmann oder Feuerländer, ja nur einem Bauern oder halbfeudalen Landtagelöhner anerkennen zu wollen; und von dem Moment an, wo dies nur auf europäischem Boden überwunden ist, ist auch der abstrakte Gleichheitsstandpunkt überwunden [ . . . ] . " Ausdrücklich erklärt Engels noch einmal: „Die Gleichheit des Bourgeois (Abschaffung der Klassenprivilegien) ist sehr verschieden von der des Proletariers (Abschaffung der Klassen selbst). Weiter als diese letzte getrieben, d. h. abstrakt gefaßt, wird die Gleichheit Widersinn." 41 8. So nuanciert und komplex die Problematik der Gleichheit bei Engels und Marx war, so vereinfacht und auf den propagandistischen Effekt zielend war die Agitation — übrigens aus sehr verständlichen Gründen — bei den damaligen praktischen Sozialisten in Deutschland und Europa. Aber nur letztere kannte Nietzsche, und nicht sie einmal genau! Es hilft nichts: Nietzsches Bekämpfung der proletarischen Weltanschauung, von der Lukacs spricht, vollzieht sich bloß in der geschichtsphilosophischen, beinahe metaphysischen Konstruktion von Lukacs selbst, sofern jede Philosophie der Geschichte, 41
MEW, Bd. 20, S. 580 f.
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die eine wirkliche Konfrontation mit der Geschichte und deren Tatsachen meidet, letzten Endes eine verkappte Metaphysik ist. Auf geschichtlichem Boden jedenfalls hat jene Bekämpfung nie stattgefunden. Das erhellt um so deutlicher, wenn man die Argumentation genauer prüft, mit deren Hilfe Lukacs Nietzsches Verhältnis zur konkreten deutschen Geschichte seiner Zeit, also der Bismarckschen Ära, in seinem Sinne zu interpretieren versucht. Für ihn ist Nietzsches Kritik am Bismarckreich eine Kritik von rechts. (Nebenbei bemerkt: Genau dasselbe sagt — mit umgekehrtem Vorzeichen — der nationalsozialistische Nietzsche-Interpret Baeumler.) Um Nietzsche nun als Verkünder des wilhelminischen Imperialismus zu entlarven, zitiert Lukacs aus einem Brief des Philosophen an seine Schwester vom Oktober 1888. Die zitierte Stelle lautet: „Unser neuer Kaiser [also Wilhelm II.] gefällt mir immer mehr [ . . . ] [ . . . ] . Der Wille zur Macht als Prinzip wäre ihm schon verständlich." Nach Lukacs bedeutet das Verständnis des Willens zur Macht ein Verständnis für die „immer stärker emporwachsenden imperialistischen Bestrebungen der deutschen Bourgeoisie"; und „dieses Verständnis" — so Lukacs — „vermißt Nietzsche bei Bismarck"42. Es sei gleich angemerkt, daß Lukacs diese Briefstelle auf eine tendenziöse Weise zitiert; denn er läßt mit Absicht gerade den Grund aus, warum Nietzsche etwas Gefallen an dem jungen Kaiser fand: nämlich eine anfängliche Stellungnahme Wilhelms II. gegen den Hofprediger Adolf Stöcker und die Antisemiten. Was aber den Satz betrifft „der Wille zur Macht als Princip wäre ihm schon verständlich", so ist folgendes zu bemerken: Der angebliche Brief vom Oktober 1888 an die Schwester ist eine Fälschung. Man weiß freilich, daß diese Brieffälschungen nicht als Gesamtfälschungen zu verstehen sind; Nietzsches Schwester hat sie vielmehr mit der Technik der Montage von Zitaten konstruiert, das heißt aus echten Briefentwürfen an andere Personen, aus Nachlaßstellen, die noch unbekannt waren, usw. Wir haben aber ausgerechnet zu dem Satz „der Wille zur Macht als Prinzip wäre ihm schon verständlich" das Zeugnis eines engen Mitarbeiters Elisabeth Förster-Nietzsches, des Schülers Nietz42
Lukács, S. 270.
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sches und späteren Nietzsche-Herausgebers Peter Gast. Dieser schrieb (26. Januar 1910) an Ernst Holzer, einen anderen Mitarbeiter des ehemaligen Nietzsche-Archivs: „[...] zu dem Capitel ,Der Wahrheitssinn der Frau Förster' muß ich Ihnen eines der Beispiele erzählen, die mir gerade vorschweben und mich lächeln machen. Lächeln — denn was sollte man als einstiger Archivmensch nicht alles mitvertreten, das man als anständiger Mensch eben nie vertreten kann. Als wir 1904 an dem zweiten Band der Biographie druckten, kam auch der Brief Nietzsches hinein, in welchem unser damals 29jähriger Kaiser für mißfällige Äußerungen über Antisemiten und Kreuzzeitung belobt wird. Nun ist Ihnen bekannt, wie heftig Frau Förster danach brennt, den Kaiser für Nietzsche zu interessieren und ihn womöglich zu einer anerkennenden Äußerung über Nietzsches Tendenz zu bringen. Was thut sie zu diesem Zweck? . . . Sie schiebt einen Satz ein, der in dem betreffenden Brief [...] gar nicht steht: — sie schreibt . . . ,Der Wille zur Macht als Prinzip wäre ihm (dem Kaiser) schon verständlich!' Sie erinnern sich, woher dieser Satz stammt: aus der Vorwort-Skizze zum Willen zur Macht, welche in Bd. XIV S. 420 abgedruckt ist. Die Niederschrift dieser Skizze [...] gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Nietzsche-Entzifferung. Vor mir hatten sich schon die Horneffers daran versucht; ihr Entzifferungstext wies aber mehr Lacunen als Worte auf. Nur gerade diesen Satz hatten sie vollständig hingeschrieben. Solche Vorarbeit wird dem, der sich als Zweiter darüberher macht, oft mehr zum Hemm-, als zum Fordernis. Genug, mir, als dem Zu-Ende-Entzifferer des Stücks, entging damals, daß die Horneffersche Entzifferung ,Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen (den Deutschen) schon verständlich' im Zusammenhang der Vorwort-Skizze keinesfalls richtig sein kann. Und wie ich im April vorigen Jahres das Heft wieder in die Hand bekomme, bestätigt sich mein Verdacht, daß es ja fraglos ,schwer verständlich' statt,schon verständlich' heißen müsse! — Ist der Witz nun nicht sehr gut, daß wenn Frau Förster exact sein wollte, sie jetzt drucken lassen müßte ,der Wille zur Macht als Princip wäre ihm (dem Kaiser) schwer verständlich'?!"43
43
Vgl. K G W VIII 2, S. 475 (Konkordanz, Anm. 2).
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Hier tritt ein objektiver Grund der einseitigen NietzscheInterpretation von Georg Lukacs in Erscheinung. Lukács hat — das verbindet ihn mit Baeumler — die ganze philologische Problematik unterschätzt, die mit dem sogenannten „philosophischen Hauptprosawerk" Nietzsches, dem „Willen zur Macht", und im allgemeinen mit der Herausgabe seines Nachlasses zusammenhängt. Karl Schlechta hat zu Recht hervorgehoben, daß die Uberschätzung des Nachlasses in Nietzsches Werk ein Merkmal derjenigen ist, die Nietzsche den jeweiligen Bedürfnissen der Zeit anpassen wollten. Man muß hinzufügen, daß diese Feststellung nicht für ernst zu nehmende Nietzsche-Deutungen wie die von Karl Löwith, Karl Jaspers, Edgar Salin und anderen gilt, um so mehr aber für die faschistischen Interpreten Nietzsches. Sie und ihresgleichen betrachten keineswegs den gesamten Nachlaß als ein Problem, sondern geben sich vollkommen mit der dilettantischen Kompilation der Elisabeth Förster-Nietzsche und ihres Werkzeugs (bis 1909) Peter Gast zufrieden, die beide den „Willen zur Macht" aus beliebigen Fragmenten der achtziger Jahre kompiliert haben. Deshalb scheint es mir, daß auch die neue Nietzsche-Ausgabe im Zug jener Neubewertung des Nietzscheschen Denkens zu verstehen ist, von der ich zu Anfang dieses zweiten Abschnittes sprach.
Abkürzungen KGW
KGB
KSA
GA
BAW
Kritische Gesamtausgabe Werke (= Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967ff., W. de Gruyter, ca. 33 Bände in 8 Abteilungen) Kritische Gesamtausgabe Briefwechsel (= Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1975ff., W. de Gruyter, 22 Bände in 4 Abteilungen) Kritische Studienausgabe (= Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von G. Colli und M. Montinari, Deutscher Taschenbuch Verlag, de Gruyter, München, Berlin · New-York, 1980) Großoktav-Ausgabe (= Fr. Nietzsche, Werke, 19 Bände und 1 Register-Band, Leipzig 1894ff., Naumann/Kröner) Die (insgesamt 5) Werkbände (1854-1869) der unvollständig gebliebenen Ausgabe: Fr. Nietzsche, Werke und Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe, München 1933ff., Beck.
Nachweise Nietzsche lesen: Vortrag gehalten in München (September 1981), im Wissenschaftskolleg zu Berlin (Januar 1982), in der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen (Februar 1982). Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken: erschienen im Literatur-Magazin 12 „Nietzsche", S. 317-328, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1980; vgl. auch KSA 14, S. 7-17. Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879: Vortrag, gehalten an der Universität Basel (Juni 1980) und an der Universität Münster (Juli 1981). Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren: erschienen in „Aneignung und Umwandlung. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert", Internationale Nietzsche-Tagung Berlin 1977, „Nietzsche Studien", Bd. 7, 1978, S. 288-302. Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe: erschienen in „Deutsche Klassik und Revolution. Texte eines literaturwissenschaftlichen Kolloquiums", Edizioni dell'Ateneo, Roma 1981. Das Kolloquium fand im Mai 1978 beim Istituto Italiano di Studi Germanici (Rom) statt. Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis": erschienen in „Studi germanici", 7, 1969, S. 337-352. Zarathustra vor Also sprach Zarathustra: Vortrag gehalten in Sils-Maria (September 1981). Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht: erschienen im Jahrbuch der Internationalen Germanistik, Reihe A (Kongreßberichte), Band 2, Heft 1 (Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975) (1976), S. 36-58, sowie auch in Jörg Salaquarda (Hg.), „Nietzsche", Wege der Forschung, Band 521, S. 323-349, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980; vgl. auch KSA 14, S. 383-400. Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce homo": erschienen in „Nietzsche-Studien", Bd. 1, 1972, S. 380-418. Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács: erschienen in „Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur", hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Band 9, suhrkamp taschenbuch 553, Frankfurt am Main 1979.
Namenregister Adler, Victor: 201 Albert, Paul: 7 Alexander der Große: 123 Andler, Charles: 1 Andreas-Salomé, Lou: s. Salomé, Lou von Antonelli, Alessandro: 143 Augstein, Rudolf: 3 Avenarius, Ferdinand: 143 Bachofen, Johann Jacob: 173
Brenner, Albert: 38 Broch, Hermann: 63 Brunetière, Ferdinand: 7 Brutus, Marcus Junius: 8 Bucher, Lothar: 201 Bülow, Hans von: 201 Burckhardt, Jacob: 60. 143. 195 Burckhardt, Max: 145 Byron, George (Noël Gordon) Lord: 62. 68
Baeumler, Alfred: 108. 170-179. 181-189. 191. 197-199. 204. 206 Bakunin, Michail: 47. 201 Balzac, Honoré de: 7 Baudelaire, Charles: 7. 108. 182 Baumganner, Marie: 201 Bebel, August: 202 Beethoven, Ludwig van: 84 Benn, Gottfried: 89 Berger, Uwe: 30 Bergfeld, Joachim: 40 Bernhardy, Gottfried: 79 Bernoulli, Carl Albrecht: 3. 123. 147. 165. 168 Bertram, Ernst: 195. 197 Bindschedler, Maria: 124 Binswanger, Otto: 161 Biser, Eugen: 84 Bismarck, Otto von: 162. 204 Bloch, Joseph: 195 Bohley, Reiner: 27. 30 Bollmus, Reinhard: 171 Bourdeau, Jean: 132. 143 Bourget, Paul: 7. 182 Brandes, Georg: 124-126. 129. 144. 146f. Brann, Henry, W.: 172 Braun, Heinrich: 201
Caesar, Gaius Julius: 123 Carlyle, Thomas: 50. 58 Chamberlain, Houston Stewart:
169.
199 Champromis, Pierre: 133f. Claudius, Matthias: 27 Cohn, Paul: 124 Colli, Giorgio: 2. 10. 19-21 Constant, Benjamin: 108 de Custine, Astolphe: 7
Däuble, Hedwig: 132 Daechsel, Friederike, geb. Nietzsche: 27f. Dante Alighieri: 22 Darius I. der Große: 79 Darwin, Charles: 58. 199f. Demokrit: 40f. Deussen, Adam: 34 Deussen, Paul: 34. 118. 129. 131. 144. 146f. Descartes, René: 187 Diederichs, Eugen: 168 Dietze, Walter: 19 Dostojewski), Fjodor M.: 7. 108. 182
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Namenregister
Erasmus von Rotterdam: 59
Hahn, Karl-Heinz: 19 Hartmann, Eduard von: 99 Haug (Kolonist in Paraguay): 125 Haupt (Faktor bei C. G. Naumann): 156 Hausdorff, Felix: 164 Havenstein, Martin: 165 Heftrich, Eckhard: 97. 176 Hegel, Friedrich Georg Wilhelm: 192f. 195
Euripides: 5
Heidegger, Martin: 1. 174
Dühring, Karl Eugen: 201 Du Moulin Eckart, Richard: 43 Duriseli, Gian Rudolf: 116 Einaudi, Giulio: 11. 20 Emerson, Ralph Waldo: 7. 83. 91 Engels, Friedrich: 192-195. 197f. 200. 202f.
Heraklit: 79. 181 Feuerbach, Ludwig: 47
Herwegh, Georg: 201 Herzen, Alexander: 201
Fink, Eugen: 1
Hezel, Kurt: 123
Flaubert, Gustave: 7. 182
Hitler, Adolf: 169. 199
Foà, Luciano: 20
Hölty, Ludwig Heinrich Christoph: 23. 25. 29f. Hofmiller, Josef: 171f. Holzer, Ernst: 13. 18. 147f. 151. 205 Holtzhauer, Helmut: 19 Horaz: 8
Fabricius, G.: 83
Förster, Bernhard: 124-127. 137f. 154. 160. 202 Förster-Nietzsche, Elisabeth: 11-18. 28. 30f. 35. 53. 92f. 98. 104f. 107. 109. 120. 122-127. 135-138. 146f. 149-168. 171. 176f. 179. 204-206 Fritsch, Theodor: 169f. Fritzsch, Ernst Wilhelm: 96. 143. 159. 165
Horneffer, August: 13. 15. 18. 175. 205 Horneffer, Ernst: 13. 15. 18. 147f. 175. 178. 205
Fuchs, Carl: 140
Janssen, Johannes: 60
Galiani, Ferdinando: 198 Gast, Peter: 11-15. 18. 54. 92. 98. 104f. 107-109. 115. 121. 130f. 136. 139f. 144-157. 160. 162-168. 177f. 205f. Gerlach, Franz: 39 Gerratana, Valentino: 192 Gersdorff, Carl von: 34 Goethe, Johann Wolfgang von: 32. 36.
Jaspers, Karl: 1. 3. 67. 172. 174. 189. 206
53. 56. 59-63. 68. 173 Goncourt, Edmond und Jules de: 7. 108. 182 Gramsci, Antonio: 192 Gregor-Dellin, Martin: 7 Gustasp: 83 Guyau, Jean Marie: 182
Janz, Curt Paul: 7. 60 Jesus Christus: 29. 35f. 84. 88 Johannsen (Kolonist in Paraguay): 125 Kant, Immanuel: 10. 56 Klages, Ludwig: 172. 197 Klopstock, Friedrich Gottlieb: 32 Koegel, Fritz: l l f . 18. 165f. Köselitz, Heinrich: s. Gast, Peter Koetschau, Karl Theodor: 177 Kraepelin (Kreplin), Emil: 151 Krauss, Werner: 57. 59 Krümmel, Richard Frank: 170 Lagarde, Paul de: 169 Langbehn, Julius: 164 Lange, Friedrich Albert: 40.
Namenregister Langreder, Hans: 170 La Rochefoucauld, François de: 187 Lassalle, Ferdinand: 201f. Lauterbach, Paul: 164 Lenbach, Franz von: 44. 45 Lessing, Gotthold Ephraim: 61 Leonardo da Vinci: 140 Löwith, Karl: 1. 17. 20. 172. 176. 184. 189. 195. 206 Lukács, Georg: 190-194. 197-204. 206 Luther, Martin: 58. 60. 188f. Lypp, Bernhard: 7 Mach, Ernst: 182 Mann, Thomas: 2f. 53. 173f. 193. 200 Martin, Alfred: 60 Marx, Karl: 192.-195. 201-203 Maupassant, Guy de: 7 Mayer, Hans: 47 Mehring, Franz: 195. 201 Mendès, Catulle: 121 Merck, Johann Heinrich: 68 Mérimée, Prosper: 182 Mette, Hans Joachim: 16 Meysenbug, Malwida von: 38. 43. 137. 140. 143. 201 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti Graf von: 88 Mohammed: 88 Moses: 88 Müller, Max: 79 Müller-Lauter, Wolfgang: 1. 180f. Napoleon Bonaparte: 60f. Naumann, Constantin Georg: 96. 121f. 128f. 144. 146f. 150-167 Naumann, Gustav: 140. 150. 153. 156. 159. 165-167 Newton, Isaac: 57 Nielsen, Rosalie: 123 Nietzsche, Auguste: 26f. Nietzsche, Carl Ludwig: 23. 25f. 26. 2830. 122. 136. 139 Nietzsche, Erdmuthe geb. Krause: 27. 29 f.
211
Nietzsche, Franziska geb. Oehler: 28. 30f. 35. 113. 120. 122-127. 135-138. 150. 152-155. 157. 159. 162-167 Nietzsche, Friedrich August Engelbert: 26f. Nietzsche, Friedrich August Ludwig: 26f. Nietzsche, Lina: 27 Nietzsche, Rosalie: 27f. Oehler, David Ernst: 23. 25f. 29. 33 Oehler, Edmund: 35 Oehler, Richard: 12. 18 Oehler, Wilhelmine geb. Hahn: 30. 38f. Offenbach, Jacques: 125 Ongania. Ferdinando : 140 Otto, Walter F.: 16f. Overbeck, Camilla: 38 Overbeck, Franz: 2. 38. 91. 115. 124. 135. 137. 144f. 147f. 154f. 157. 160. 162f. 168 Overbeck, Ida: 137 Pannwitz, Rudolf: 17. 176 Paulus: 69 Pernerstorfer, Engelbert: 201 Petrarca: 59 Pfeiffer, Ernst: 135 Piaton: 10. 71f. 88. 181 Podach, Erich F.: lOlf. l l l f . 120. 124. 129. 131. 134. 141. 149. 154. 171 Prinzhorn, Hans: 171 Proudhon, Pierre Joseph: 47 Ravaillac, François: 24f. Rèe, Paul: 38. 42f. 91. 136f. 182 Reinelt, Johann: 161 Renan, Ernest: 7. 108. 182 Richter, Raoul: 151-155. 158-164 Ritsehl, Friedrich Wilhelm: 39. 41f. Ritsehl, Sophie: 41f. Rohde, Erwin: 50. 132 Rodenberg, Julius: 96 Roos, Richard: 11. 14. 138
212
Namenregister
Rosenberg, Alfred: 169. 185. 191. 199
Taine, Hippolyte: 60. 132. 182
Ross, Werner: 7
Teichmüller, Gustav: 100
Rousseau, Jean Jacques: 60f. 188
Tenischeff, Anna: 13 lf. Tolstoi, Leo N . : 7. 108. 182
Sainte-Beuve, Charles-Augustin de: 7. 182 Salaquarda, Jörg: 7 Salin, Edgar: 1. 206 Salis, Meta von: 111. 116. 124f. 135. 138 Salomé, Lou von: 53. 90f. 135f. 156 Sand, George: 7 Sandberg, Richard: 161 Savigny, Friedrich Carl von: 57 Scherer, Edouard: 7 Schiller, Friedrich: 108 Schlechta, Karl: 11. 15. 17. 124. 151. 175f. 206 Schlegel, Friedrich: 180f. Schmeitzner, Ernst: 45. 96 Schmidt, Conrad: 194 Schopenhauer, Arthur: 23. 38f. 42. 45. 58. 93. 99f. 181 Seidl, Arthur: 12 Sokrates: 90. 114 Spengler, Oswald: 172 Spinoza, Benedikt de: 88f. Spir, Afrikan: 100 Starkenburg, Heinz: 195 von den Steinen, Wolfram: 17. 176 Steiner, Rudolf: 107 Stendhal: 7. 182. 188 Stöcker, Adolf: 162. 204 Strindberg, August: 130f. 143
Turgeniew, Iwan: 7. 182
Vauvenargues, Luc de Ciapiers: 43 Viereck, Peter: 191 Vischer, Friedrich Theodor: 188 Voltaire: 56. 59. 61
Wagner, Cosima: 7. 23. 38. 40-45. 120. 122. 140-143. 201 Wagner, Richard: 22. 38. 40. 42-47. 4955. 67. 69. 74. 120. 74. 120. 122. 127. 140-143. 162. 175. 196f. 201 Weiss, Otto: 11. 14f. 17. 105. 107f. 111. 177 Wellhausen, Julius: 108 Wenzel, Heinz: 20 Wernicke, Carl: 161 Westernhagen, Curt von: 142 Wilhelm II.: 118. 120. 130. 165. 204f. Wirth, Moritz: 164 Wolf, Friedrich August: 79
Ziehen, Theodor: 161 Zimmern, Helen: 144. 146 Zoroaster: 79. 82f. 88
Werk- und Briefregister Die Geburt der Tragödie: 5. 18f. 20. 40. 42. 44f. 96. 103. 109f. 172 Unzeitgemäße Betrachtungen: 23. 44-52. 54. 195 Menschliches, Allzumenschliches: 3. 7. 13. 22. 31f. 34. 37. 41-44. 52. 56. 58. 60-63. 68. 96-98. 103. 133. 202 Morgenröte: 8. 56-58. 64-67. 70. 73-78. 90. 93f. 103. 182. 196 Die fröhliche Wissenschaft: 4. 8. 44. 55. 64. 80. 84. 88-91. 103. 183. 188 Also sprach Zarathustra: 4-6. 10. 13. 18. 51. 54. 67f. 72. 78. 80f. 90f. 93-97. 129. 131. 133-135. 139.156. 172. 179. 182f. 196 Jenseits von Gut und Böse: 98. 101-104. 169f. Zur Genealogie der Moral: 36. 103. 106. 111. 115 Der Fall Wagner: 109-111. 127. 133. 141143 Götzendämmerung: 6. 14. 68. 84. 114f. 118. 128. 143. 145f. 156. 186. 199 Der Antichrist: 6. 11. 14. 60. 68.114-118. 129-131. 143-145. 147. 158. 186f. Ecce homo: 5. 8. 11. 14. 24. 30. 33. 40. 42. 44. 5 If. 54. 60. 118. 121-123. 128f. 131-133. 138-168. 184. 187 Nietzsche contra Wagner: 118. 132-134. 143f. 152-154. 156 Dionysos-Dithyramben: 11. 14. 118. 121f. 133. 144 Philologica: llf. 19. 42
Nachgelassene Schriften und Fragmente 4-6. 12-16. 18f. 20. 92. 97. 118. 143. 172174. 176. 178f. 181. 206 Jugendschriften: 19. 26. 29. 36 KGW III 2: III 3: III 4:
5. 12. 80 79 40. 80
KGW IV 1:
23. 32f. 40f. 46. 68. 72. 75. 79 32f. 22f. 24-26. 35. 70
IV 2: IV 3: KGW V 1: V 2:
57f. 65. 67. 69-76. 94 72f. 76-78. 81-91
KGW VII 1: VII 2: VII 3:
5f. 69f. 93 5f. 36. 43. 94-97 5f. 36. 43. 97-99
KGW VIII 1: 6. 43. 74. 100-102. 104106. 181. 196. VIII2: 6.106.117.180.197.205 VIII 3: 6. 108-110. 111-114. 116f. 128. 201
„Der Wille zur Macht": 11. 13-17. 92. 98-100. 103. 118f- 174-180. 183. 205f. Briefe Nietzsches An Georg Brandes: 129-131. 144 An Jacob Burckhardt: 143 An Paul Deussen: 118. 129. 131 An Carl Fuchs: 140 An Theodor Fritsch: 169
214
Werk- und Briefregister
An Peter Gast (Heinrich Köselitz): 108. 115. 130. 136. 140 An Elisabeth Förster-Nietzsche: 35. 127. 137. 204f. An Carl von Gersdorff: 34 An Constantin Georg Naumann: 128f. 144 An Franziska Nietzsche: 28. 35. 113. 126. 137
An Franz Overbeck: 38. 115. 124. 136f. 145 An Sophie Ritsehl: 41f. An Erwin Rohde: 50. 132 An Julius Rodenberg: 96 An Meta von Salis: 111. 116. 138 An Lou von Salomé: 90 An Cosima Wagner: 23. 38-40. 140-142 An Helen Zimmern: 144
Friedrich Nietzsche Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli f und Mazzino Montinari
Band 1-6: Werke und Schriften Band 7-13: Nachgelassene Fragmente Band 14-15: Kommentar, Chronik, Register Die Kritische Studienausgabe der Werke Nietzsches, die textidentisch ist mit der Kritischen Gesamtausgabe, macht den gesamten philosophischen Nachlaß Nietzsches von 1869-1889 (also von den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie bis zu Nietzsches geistigem Zusammenbruch) einem breiterem Publikum zugänglich. Auf Juvenilia, Philologica und die Basler Vorlesungen wurde in dieser Ausgabe verzichtet. Die Kommentarbände bringen eine Auswahl aus dem kritischen Apparat der Gesamtausgabe. Eine ausführliche Chronik zu Nietzsches Leben von 1869-1889 mit zahlreichen Briefzitaten von Nietzsche, seiner Familie und von Zeitgenossen und ein ausführliches Register zu Werken, Nachlaß und Kommentar beschließen die Ausgabe.
15 Dünndruck-Bände in Kassette. Ca. 8800 Seiten dtv/de Gruyter
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Karl Jaspers
Nietzsche Einführung in das Verständnis seines Philosophierens 4., unveränderte Auflage Oktav. 487 Seiten. 1981. Kartoniert ISBN 3 11 008658 1 (de Gruyter Studienbuch) Ganzleinen. ISBN 3 11 004892 2
Aufnahme und Auseinandersetzung Friedrich Nietzsche im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Wolfgang Müller-Lauter und Volker Gerhardt Groß-Oktav. XVI, 711 Seiten, 14 Abbildungen, 8 Tafeln. 1981. Ganzleinen. ISBN 3 11 008638 7 (Nietzsche Studien, Band 10/11 - 1981/1982)
Wolfgang Müller-Lauter
Nietzsche Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie Groß-Oktav. VIII, 195 Seiten. 1971. Ganzleinen ISBN 3 11 003577 4
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KANTS WERKE Akademie-Textausgabe Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. 11 Bände. Oktav. Kartoniert in Kassette ISBN 3 11 001434 3 Band 1: Vorkritische Schriften I. 1747-1756 Band 2: Vorkritische Schriften II. 1757-1777 Band 3: Kritik der reinen Vernunft. (2. Auflage 1787) Band 4: Kritik der reinen Vernunft. (1. Auflage 1781) Prolegomena Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften Band 5: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft Band 6: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Die Metaphysik der Sitten Band 7: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Band 8: Abhandlungen nach 1781 Band 9: Logik. Physische Geographie. Pädagogik Anmerkungen der Bände I-V Anmerkungen der Bände VI-IX
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Johann Gottlieb Fichte WERKE Herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte 11 Bände. Paperback. 1971 ISBN 3 11 005147 8 Diese Ausgabe ist ein photomechanischer Nachdruck von Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke, herausgegeben von I. H . Fichte 1845/1846. Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, herausgeben von I. H. Fichte 1834/1835. Ein Inhaltsverzeichnis aller Bände wurde Band I neu beigegeben
Band 1: Zur theoretischen Philosophie I Band 2: Zur theoretischen Philosophie II Band 3: Zur Rechts- und Sittenlehre I Band 4: Zur Rechts- und Sittenlehre II Band 5: Zur Religionsphilosophie Band 6: Zur Politik und Moral Band 7: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte Band 8: Vermischte Schriften und Aufsätze Band 9: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie I Band 10: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie II Band 11: Vermischte Schriften aus dem Nachlaß
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