Lesen und interpretieren. Analysen, Kommentare und Interpretationshilfen

Учебное пособие по немецкому языку для студентов старших курсов факультетов иностранных языков.

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Lesen und interpretieren. Analysen, Kommentare und Interpretationshilfen

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Copyright ОАО «ЦКБ «БИБКОМ» & ООО «Aгентство Kнига-Cервис»

Министерство образования Российской Федерации Тульский государственный педагогический университет им. Л. Н. Толстого

В. И. Кудинова,

LESEN UND INTERPRETIEREN Analysen, Kommentare und Interpretationshilfen Учебное пособие по немецкому языку для студентов старших курсов факультетов иностранных языков

2011

LITERARISCHE TEXTE: LESEN UND VERSTEHEN 1

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1.1. Wolfgang Borchert. DAS BROT Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still, und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche. Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, daß er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg. «Ich dachte, hier wäre was», sagte er und sah in der Küche umher. «Ich habe auch was gehört», antwortete sie, und dabei fand sie, daß er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt. «Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch». Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, daß er log. Daß er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren. «Ich dachte, hier wäre was», sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, «ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was». «Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.» Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. «Nein, es war wohl nichts», echote er unsicher. Sie kam ihm zu Hilfe: «Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen». Er sah zum Fenster hin. «Ja, das muß wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier». 2

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Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muß das Licht jetzt ausmachen, sonst muß ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. «Komm man», sagte sie und machte das Licht aus, «das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer». Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden. «Wind ist ja», meinte er. «Wind war schon die ganze Nacht». Als sie im Bett lagen, sagte sie: «Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne». «Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.» Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre. Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. «Es ist kalt», sagte sie und gähnte leise, «ich krieche unter die Decke. Gute Nacht». «Nacht», antwortete er und noch: «ja, kalt ist es schon ganz schön». Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, daß er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, daß sie davon langsam einschlief. Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können. «Du kannst ruhig vier essen», sagte sie und ging von der Lampe weg. «Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iß du man eine mehr. Ich vertrage es nicht so gut». Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid. «Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen», sagte er auf seinen Teller. «Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iß man. Iß man.» Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

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1.2. Marie Luise Kaschnitz. CHRISTINE Wie mein Mann ist in der letzten Zeit, ich kann das gar nicht beschreiben. Wie er dasitzt, ganz still mitten im Zimmer, und vor sich hinstarrt und durch einen hindurchstarrt, als wäre da gar nichts, nicht einmal ein Körper mit Armen und Beinen und einem Kleid und einer Schürze, geschweige denn seine eigene Frau. Schorsch, sage ich, und versuche meiner Stimme einen lustigen Klang zu geben, schau nicht ins Narrenfenster, geh lieber hinaus in den Garten, die Rosen müssen zugedeckt werden, heute nacht gibt es Frost. Ich könnte das natürlich selbst tun oder eines von den Kindern schicken, ich bin keine von den Frauen, die ihren Mann anstellen zu diesem und jenem, und Geschirr abgewaschen hat er noch nie. Es ist mir aber nicht recht, daß er sich hat krank schreiben lassen, weil er gar nicht krank ist, und daß er zu Hause sitzt und auf dumme Gedanken kommt, weil ich schon weiß, was das für Gedanken sind, nicht, was Sie jetzt glauben, oder doch, was Sie glauben, aber so einfach, so alltäglich ist es nicht. So einfach, so alltäglich, ein Mann von beinahe fünfzig, ein Vater von vier Kindern, und die Frau ein bißchen dick um die Hüften, und er kann sich nicht mehr vorstellen, daß er einmal verrückt vor Liebe war, und wenn er daran denkt, geniert er sich. Aber verrückt vor Liebe, das möchte er einmal wieder sein, noch einmal im Leben sein, wenn auch nur in Gedanken, ja besser nur in Gedanken, weil ohnehin alles so mühsam ist, die Frau paßt auf, und die Kinder passen auf, die Kinder sind groß. Die Gedanken hat man im Strandbad, wenn man da sitzt mit der ganzen Familie und mit dem Frühstückskorb, und sieht die Mädchen auf dem Sprungbrett, oder auch auf der Straße, vor dem Fenster, es ist Abend, die Geschäfte schließen, und die Mädchen gehen Arm in Arm. So ist das bei den Männern um fünfzig, das geht vorbei, darüber braucht man sich nicht aufzuregen, und am besten tut man, als bemerke man es nicht. Aber ich rege mich doch auf, wenn mein Mann am Fenster steht und noch mehr, wenn er mitten im Zimmer sitzt, ohne Zeitung, ohne nichts. Ich rege mich auf, weil ich weiß, was bei ihm dahintersteckt und daß es nicht die Angst vor dem Alter, sondern eine ganz bestimmte Erinnerung ist. Sehen Sie zu, Frau Bornemann, daß Ihr Mann das alles so schnell wie möglich vergißt, hat der Arzt damals gesagt, unser Hausarzt, den wir eigentlich nur für die Kinder hatten, denn wir beide waren nie krank. 4

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Wir waren ja auch noch jung, achtunddreißig und zweiunddreißig Jahre alt und die Kinder waren noch klein. Mein Mann war damals schon bei Gütermann angestellt, wo er heute noch ist. Wir wohnten aber noch nicht hier, sondern in einer Vorstadtsiedlung, so einer Armeleute-Villenkolonie, kleine Reihenhäuser, die schon zerfallen, ehe sie noch recht fertig sind. Bald nachdem geschehen war, was geschehen ist, ich erzähle es gleich, bald danach also sind wir weggezogen, ich habe darauf gedrängt, das war ja nichts, immer den kleinen Vorgarten sehen und das Asternbeet und die Gitterstäbe, die das Kind mit seinen kleinen, von der Kälte blauen Händen umklammert hat, und eine Strähne von seinem weißblonden Haar hing noch lange am Gitter, und niemand traute sich sie wegzunehmen und fortzuwerfen. Natürlich denken Sie jetzt, es wäre eines von unseren Kindern gewesen, dessen Haar da draußen am Gitter gehangen hat, und das mein Mann nicht vergessen kann. Aber eines von unseren Kindern war es nicht. Unsere Kinder sind alle aufgewachsen, sie sind immer kräftig und gut in der Schule gewesen und haben uns Freude gemacht. Ja, auch meinem Mann haben sie Freude gemacht, und niemals hat er sie so angesehen, wie er sie jetzt manchmal ansieht, so gleichgültig und beinahe widerwillig, und manchmal sogar mit einem Ausdruck von Ekel, wie man ein Tier ansieht, ein lästiges, widerwärtiges Tier. Das war ungefähr vor zehn Tagen, ja, vor zehn Tagen ganz genau. Es war am Sonntag, und weil wir jetzt einen Wagen haben, fahren wir am Sonntag oft den ganzen Tag weg, obwohl wir manchmal lieber zu Hause blieben und die Kinder lieber lange im Bett liegen und nachmittags mit ihren Freunden zusammen sein möchten. Beim Frühstück überlegen wir, wohin wir fahren möchten, und dabei gibt es meistens schon Streit. Die Jungen sind unausgeschlafen und schlecht gelaunt, und die Mädchen haben die Gesichter voll Fettcreme, weil sie behaupten, daß am Sonntag ihre Haut ausruhen muß. Alle Kinder räkeln sich und gähnen, und mein Mann hat die Landkarte vor sich liegen und schlägt dies oder jenes vor, und immer hat einer etwas dagegen, da ist kein Wasser, und dort ist kein Wald, und dort ist es langweilig, und da ist es zu still. Ich versuche, Frieden zu stiften, und ich sage auch, daß die Kinder nicht mit vollem Mund sprechen und ihre Servietten nicht zerknüllt auf den Tisch werfen sollen. Aber ich nehme das alles nicht so wichtig, und mein Mann hat es auch nie so wichtig genommen, nur an dem Tag hat alles ihn geärgert und gestört. Er hat etwas gesagt von schmutzigen Fingernägeln und daß Judith zu dick sei, um lange Hosen zu tragen. Natürlich haben die Kinder widerspro5

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chen, Beppo hat erklärt, er könne keine sauberen Nägel haben, wenn er die Kohlen heraufholen müsse, und Judith hat gesagt, von wem hab' ich den Speck auf den Hüften, die Mutti ist auch ganz schön besetzt. Das ist wahr, und es ist auch wahr, daß die Kinder dick und überhaupt schlecht gewachsen sind und daß sie plumpe Finger und breite Gesichter haben. Aber das ist wirklich nicht ihre Schuld. Es ist nicht ihre Schuld, und es ist auch kein Grund, das zu tun, was mein Mann damals getan hat. Nämlich aufzustehen und die Karte hinzuwerfen und zu schreien, dafür, dafür – und aus dem Zimmer zu rennen wie verrückt. Natürlich weiß ich jetzt ganz genau, was diese Worte – dafür, dafür – eigentlich zu bedeuten hatten. Aber damals wußte ich es noch nicht. Ich blieb am Tisch sitzen und beruhigte die Kinder, die übrigens gar nicht besonders beeindruckt waren, ja, der Jüngste, Uwe, murmelte sogar etwas wie «wohl nicht ganz richtig» vor sich hin. Das war eine Ungezogenheit, aber es schnitt mir auch durchs Herz, weil ich fühlte, daß wirklich etwas nicht ganz richtig war. Wir sind an jenem Sonntag schließlich allein weggefahren, ohne die Kinder. Wir haben einen Spaziergang gemacht und im Wald irgendwo Kaffee getrunken. Mein Mann war die ganze Zeit still und bedrückt. Als wir in dem Waldcafe saßen, wo eine Menge lustiger junger Leute den Nachmittag mit Bootfahren und Tanzen zubrachten, fing er wieder an, die Mädchen ins Auge zu fassen, aber nicht wie einer, der gern auf Abenteuer ausginge, sondern ernst und aufmerksam, als suche er jemanden, eine ganz bestimmte Person. Und dann ging auf einmal ein junges Mädchen an unserem Tisch vorbei, Hand in Hand mit einem jungen Mann, wie das jetzt üblich ist, ein Mädchen mit offenen weißblonden Haaren und einem zarten, fast durchscheinendem Gesicht. Mein Mann richtete sich auf und sah das Mädchen genau an, und dann ließ er seinen Kopf auf die Hände fallen und sagte, das könnte sie sein, mit einer Stimme, die brüchig und hart und verzweifelt klang. Und nun wußte ich mit einem Mal, was er meinte und warum er am Morgen dafür, dafür gesagt hatte und daß all meine Bemühungen umsonst gewesen waren. All meine Bemühungen, das klingt so feierlich nach Vorsatz und Plan. Ich habe aber niemals bestimmte Vorsätze gehabt und mir nie einen Plan gemacht. Fort, habe ich damals gedacht, fort aus der Wohnung, aus der Gegend, von den Bekannten, ans andere Ende der Stadt. Das war ein Ziel und eine Beschäftigung, und dann habe ich andere Ziele und Beschäftigungen gesucht. Ich war nicht geldgierig, in der kleinen, schäbigen Wohnung war ich ganz zufrieden gewesen, und ich war auch nicht ehrgeizig für meinen Mann, er sollte nur so viel 6

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verdienen, daß die Kinder etwas lernen konnten. Jetzt aber fing ich an zu drängen, er sollte vorankommen, eine leitende Stellung haben. Er saß am Abend über seinen Büchern, das machte ihm Freude. Als er nach ein paar Jahren wirklich Abteilungsleiter wurde und wir am Abend seine Beförderung mit einem Glas Wein feierten, sogar die Kinder weckten, sie anstoßen, trinken und Prosit sagen ließen, fiel mir noch einmal unser alter Hausarzt aus der Siedlung ein, und ich sah meinen Mann an und dachte, er hat es vergessen, wir sind über den Berg. Aber jetzt wußte ich, daß wir nie über den Berg gekommen sind. Denn die Worte dafür, dafür haben bedeutet, für diese Kinder, für diese Frau, für dieses Familienleben habe ich die Schuld auf mich geladen, die kein Mensch mir mehr abnehmen kann. Und als mein Mann angesichts des schönen und zarten Mädchens im Waldcafe sagte, das könnte sie sein, hat er an das Kind gedacht, das einmal vor unserer Gartentür ermordet wurde und das vorher so jämmerlich um Hilfe schrie. Von einer Schuld meines Mannes kann natürlich gar keine Rede sein. Wenn überhaupt jemand schuld ist, bin ich es. Das habe ich meinem Mann hundertmal gesagt, damals, als die Polizei dagewesen ist und er so etwas wie einen Zusammenbruch hatte, stiere Augen und zitternde Hände und Blasen von Speichel vor dem Mund. Ich habe es auch den Polizisten gesagt, und sie haben versucht, meinen Mann zu beruhigen, und gemeint, wir würden nur als Zeugen vernommen, und als Zeugen waren wir auch bei der Gerichtsverhandlung, und niemand hat meinem Mann je einen Vorwurf gemacht. Wir haben nur sagen müssen, wie es war, so und so, mein Mann war an dem Tag zu Hause, weil er krank gewesen war, nicht wie jetzt, sondern wirklich krank. Er war den ersten Tag aus dem Bett und steht da am Fenster, und ich decke den Tisch ab und sehe auch gerade zum Fenster hinaus. Das Kind kommt auf dem Bürgersteig gerannt, ein dünnes, weißblondes Kind, das wir nicht kennen, und ein großer schwerer Mann, den wir auch nicht kennen, kommt gleich hinterher. Das Kind sieht uns, oder doch wenigstens meinen Mann, und fängt an zu schreien und rüttelt an unserer Gartentür, die aber zu ist, und der Große, Schwere wirft sich über das Kind, greift unter die weißen Haare und legt ihm von hinten die Hände um den Hals. Zwischen dem ersten Hilfeschrei des Kindes und seinem Verstummen vergehen einige Minuten, während derer mein Mann sich umdreht und zur Tür hinaus will, was ihm nicht gelingt, weil ich mich an ihn hänge und die Finger wie Krallen in seinen Ärmel schlage und er mich nicht abschütteln kann. Geh nicht, sage ich ganz heiser vor Schreck und Angst, denk an die Kinder, geh nicht. Und weil 7

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ich das sage, bleibt mein Mann, der sich vielleicht hätte losreißen können, einen Augenblick stehen, gerade lange genug, daß der fremde Mann dort draußen dem schreienden Vögelchen die Kehle zudrücken kann. Das alles haben wir vor Gericht gesagt und auch einiges erfahren, nämlich, daß das Kind mit Vornamen Christine hieß und daß es sieben Jahre alt war und erst seit wenigen Tagen in unserer Straße wohnte. Wir haben auch gehört, daß der Mann, der Mörder, ein Verrückter war, der sich von der ganzen Welt verfolgt glaubte, und daß er ein paar Minuten vorher von ganz anderen Kindern gehänselt worden war und gemeint hatte, sich rächen oder vor etwas ganz Unbestimmbarem schützen zu müssen. Aber nun frage ich Sie – was ging uns das eigentlich an? Was geht es dich an, das habe ich damals auch meinem Mann gesagt, und ich habe auch gesagt, daß eine Menge Kinder sterben, solange sie noch klein sind, daß sie überfahren werden oder Kinderlähmung oder die Schwindsucht bekommen, Kinder sterben und Erwachsene sterben, das reißt nicht ab, jede Sekunde stirbt jemand auf der Welt. Jede Sekunde tut jemand seinen letzten Atemzug, und wenn er sich nicht an die Stäbe eines Gartengitters klammert, so klammert er sich an das Leintuch oder an die Erde oder an die Hand, die ihm den Schweiß abtrocknen will. Früh sterben ist Schicksal, sage ich, und wer weiß, was dem Kinde noch geschehen wäre, vielleicht etwas viel Schlimmeres, und obwohl ich selbst das Kind damals ins Haus getragen und sein kleines, angstverzerrtes Gesicht an meine Brust gedrückt habe, sage ich das auch heute noch. Wahrscheinlich wird es Leute geben, die mir das übelnehmen, aber ich kann nichts dafür, daß mir mein Mann nähersteht als ein fremdes, kleines Mädchen, das Christine heißt. Ich kann nichts dafür, daß ich während der ganzen Gerichtsverhandlung nur sein ratloses bleiches Gesicht gesehen habe und daß ich nichts anderes gedacht habe als, mit einem großen Zorn, warum mußte gerade uns das geschehen? Warum mußte das Kind auf unserer Straßenseite gehen, obwohl es doch auf der anderen, der mit den ungeraden Nummern wohnte, und warum mußte der Verrückte es gerade vor unserer Gartentür einholen? Warum mußte es gerade ein Tag sein, an dem mein Mann zu Hause war, und warum mußten wir uns im Wohnzimmer aufhalten, obwohl wir sonst um diese Zeit meistens in der Küche sind? Warum mußte alles so sein, daß mein Mann den Gedanken nicht los wird, daß er das Kind hätte retten können... Denn jetzt weiß ich wohl, daß alles, sein Aufstieg im Geschäft und das eigene Haus und das gute Leben ihn von diesem Gedanken nicht 8

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befreien können. Ich weiß, daß er mich haßt, weil ich ihn damals festgehalten habe, und daß er die Kinder haßt, weil sie leben und gesund und kräftig sind. Seit dem Sonntag, an dem wir in den Wald fuhren, beobachte ich ihn unablässig, und manchmal möchte ich ihn schütteln vor Zorn. Wach doch auf, möchte ich schreien, das sind ungesunde Träume, wo kommen wir denn hin, wenn wir uns alles, was geschieht, so nahegehen lassen, man sieht ja an dir, wo wir hinkommen, in die Einsamkeit, in die Schwermut, in das Nicht-ganz-richtigSein, denn richtig sein, das heißt doch, alles nehmen, wie es kommt, und das Beste daraus machen und nicht einem Hirngespinst nachhängen, einem Wesen, das man gar nicht gekannt hat und das schon zehn Jahre lang nicht mehr am Leben ist. Aber manchmal denke ich auch, daß es gar nicht das Schuldgefühl ist, das meinen Mann umtreibt und quält. Ich denke, daß das tote Kind für ihn so etwas bedeutet wie die Anmut und die Schönheit an sich, und weil es so früh gestorben und gar nicht recht mit der Welt in Berührung gekommen ist, ist es auch so geblieben, so anmutig und so rein. Und dann gebe ich im geheimen zu, daß zwar für Frauen alles einen Sinn und Verstand haben muß, daß aber Männer einem Traum nachhängen und traurig sein dürfen über den Wahnsinn und die Unvollkommenheit der Welt. Ich gebe es zu, im geheimen, gerade eben habe ich das getan, als ich in den Garten hinauskomme, und mein Mann steht da und hat wirklich mit Tannenzweigen und alten Säcken die Rosen zugedeckt, und jetzt schaut er die Birke an, die irgendein Ungeziefer hat, das ihr die Blätter zusammenrollt, und macht ein unglückliches Gesicht. Ich sehe ihn an und habe ihn so lieb wie nie im Leben, auch in den ersten Jahren unserer Ehe nicht. Aber ihm das zu sagen, würde ich mich nicht getrauen. Also lege ich ihm nur meine Hand auf den Arm, ganz leicht, und sage, vielen Dank, und er dreht sich nach mir um, erstaunt, aber unfreundlich nicht.

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1.3. Siegfried Lenz. DIE GROSSE KONFERENZ Manchmal, wie die Erfahrung zeigt, glaubt man etwas zu besitzen, nur weil man sich an den Gedanken des Besitzes gewöhnt hat. Dieser Tatbestand war gegeben im Fall der sogenannten Suleyker Poggenwiese, eines moorigen Landzipfelchens, das erfüllt war vom quakenden Palaver der Frösche, vom einzelgängerischen Brummen der Hummeln, von unablässigem Gepieps und Gezirp. Die Suleyker, sie sahen nämliche Poggenwiese als ihren rechtmäßigen Besitz an, weshalb sie ohne Arg hinaufließen ihre berühmten Schafe, ihre Schimmel, ihre Kühe, ganz zu schweigen von den Enten, die es unaufhaltsam zu den Gräben zog. Es ging gut, sagen wir mal – aber niemand hat die Jahre gezählt, wie lange es gut ging. Eines Tages nun zog sich ein Mensch aus Schissomir, Edmund Piepereit mit Namen, seine Schuhe aus, watete in so einen Graben hinein und schnappte sich ein ansehnliches Suleyker Erpelchen unter dem Hinweis, daß die Poggenwiese, von Rechts wegen, zu Schissomir gehöre. Und daher, meinte der Mensch, könne er betrachten das Erpelchen gewissermaßen als Strandgut. Jetzt möchte man wohl wissen, wie sich Suleyken verhielt. Na, zunächst drang es auf Vergeltung, dann horchte es auf, und nachdem es auch herumgehorcht hatte, stellte sich ein eine schmerzhafte Ratlosigkeit. Denn die sogenannte Poggenwiese hatte sich herausgestellt als umstrittener Besitz - worunter zu verstehen ist, daß sowohl Suleyken als auch Schissomir besagte Wiese als ihr Eigentum ansahen. Da nun aber, wie es jedermann einleuchtete, eine Wiese nicht haben kann zwei Herren, wurde das einberufen, was sich in ähnlichen Fällen schon wiederholt bewährt hat: nämlich eine Konferenz. Diese Konferenz, sie sollte stattfinden in Schissomir, sollte den Streit schlichten und die Poggenwiese dem zusprechen, der die besten Worte finden konnte für den Nachweis des Besitzes. Alles in allem, wie man es sich denken kann, weckte diese Konferenz auf beiden Seiten große Erwartungen. Nun wurde in Suleyken ein Vertreter gewählt, von dem zu hoffen war, daß er die besten Worte finden würde zum Nachweis des Besitzes. Es liegt nicht nur auf der Hand, daß niemand anderes gewählt wurde als mein Großvater, Hamilkar Schaß, der sich durch angespannte Lektüre geradezu den Ruf eines Suleyker Schriftgelehrten erworben hatte. Gut. Wer Suleyken kennt, wird jetzt nicht allzu kleinlich 10

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sein in der Vorstellung, was meinem Großväterchen, Hamilkar Schaß, mitgegeben wurde als Ausrüstung: Kniestrümpfe aus Schafwolle und Briefmarken, Rauchfleisch und Sicherheitsnadeln, Ohrenschützer, ein Gesangbuch, Streuselkuchen, eine ganz neue Peitsche, ferner zwei Kilo ungesponnene Schafwolle, ein Leibriemen und, natürlich, Lektüre über Lektüre, welche sich vornehmlich zusammensetzte aus älteren, aber geschonten Exemplaren des Masuren-Kalenders. Nimmt man das Ganze zusammen, so waren es ungefähr zwei Fuhrwerke voll, die mein Ahn als Ausrüstung für die Konferenz erhielt. Hamilkar Schaß, mein Großväterchen, hielt es indes für besonders notwendig, zur Konferenz ein Tütchen Zwiebelsamen mitzunehmen, und zwar aus dem Grunde, weil er dem Glauben anhing, Zwiebeln seien gut zur Beflügelung des Geistes. Er pflegte sie mit der gleichen Leidenschaft zu essen, mit der er sich auf seine Lektüre warf, und er weigerte sich abzureisen, bevor nicht die entsprechenden Tütchen mit den Zwiebelsamen vorhanden waren. So, und dann reiste er ab, begleitet von den Segenswünschen und Hochrufen der Suleyker, reiste mitten hinein in die Höhle des Löwen von Schissomir. Schissomir: es hatte vollauf erfaßt Sinn und Bedeutung solch einer Konferenz, wofür man, in Zweifelsfällen, nur folgende Tatsachen ins Auge zu fassen braucht: erstens wurde meinem Großvater zugewiesen eines der ansprechendsten Häuschen von ganz Schissomir, zweitens ein Gärtchen dazu, drittens allerhand ausgesuchte Bequemlichkeiten wie ein Badezuber mit Bürste, ein Stück Seife, ein Bänkchen vor dem Haus zum Nachsinnen, und, nicht zu vergessen, Moos zwischen den Doppelfenstern, für den Fall, daß es im Winter zieht. Man ließ ihm Zeit sich einzurichten, drängte ihn überhaupt nicht, und mein Großväterchen ging, um sich innerlich einzustellen auf die Konferenz, einige Wochen müßig. Dann aber war es soweit: die Konferenz wurde bestimmt und festgesetzt. Sie war festgesetzt auf sechs Uhr in der Früh – man wollte frisch und ausgeruht sein. Es saßen sich gegenüber Hamilkar Schaß aus Suleyken und Edmund Piepereit aus Schissomir, derselbe, der das Erpelchen von einem der Gräben als Strandgut nach Hause getragen hatte. Die erste Sitzung, wenn man so sagen darf, nahm folgenden Verlauf: man begrüßte sich, aß eine riesige Pfanne voll Rührei und sprach über die Aussichten für den Hafer. Und man wäre fast auseinandergegangen, wenn sich jener Piepereit nicht an das Erpelchen erinnert hätte, das sein Weibchen gerade für den nämlichen Abend 11

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schmorte. Stand auf, dieser Mensch, nahm sogar eine besondere Feierlichkeit an und sprach so: «Und was übrigens betrifft die Poggenwiese, so gehört sie, wie Augenschein lehrt, nach Schissomir». Worauf Hamilkar Schaß, mein Großväterchen, in spürbarer Verwunderung den Kopf hob und antwortete: «Ich vermisse», antwortete er, «Edmund Piepereit, die einfachsten Formen der Höflichkeit». Stand damit auf und spazierte zu seinem Häuschen hinüber, wo er einen Spaten nahm, mit diesem in den Garten ging und gemächlich begann, mehrere Zwiebelbeete anzulegen. Da es gerade die Zeit war, säte er die Zwiebelchen aus, die nach der Ernte dienen sollten der Beflügelung seines Geistes. Und als er damit fertig war, setzte er sich auf das Bänkchen zum Nachsinnen. Den Leuten von Schissomir war solches Treiben nicht verborgen geblieben;sie nahmen es hin und leiteten daraus ab das Verhältnis meines Großvaters zur Zeit. Und sie begannen zu spüren, daß sich dieser Mann auf das Warten verstand. Nach, sagen wir mal, ein paar weiteren Wochen – die Zwiebelchen schauten schon ins Licht – wurde abermals eine Sitzung anberaumt. Zugegen waren dieselben Herren wie bei der ersten, es wurde auch das gleiche gegessen. Und nach einigen Einleitungsworten ließ sich der erwähnte Piepereit folgendermaßen vernehmen: «Es ist uns», sagte er, «eine Ehre, Gastfreundschaft zu üben gegenüber einem Mann wie Hamilkar Schaß, dem Gesandten aus Suleyken. Und mit ihm ist es sogar eine besondere Ehre, denn er ist in mancher Lektüre bewandert, er kann Worte finden, die kaum ein anderer findet, und schließlich ist bekannt und geschätzt seine Einsicht. An seiner Einsicht zu zweifeln wird sich niemand unterstehen, und schon gar nicht in dem Fall, wo es sich handelt um die Poggenwiese. Denn seit die Ritterchen hier waren, seit anno Jagello oder so, hat, wie jeder Einsichtige zugeben wird, die Poggenwiese immer gehört zu Schissomir. Und wenn auch nie viel hergemacht wurde von dem Besitz, es war unsere Wiese und ist, hol's der Teufel, unsere Wiese geblieben mit allem, was darauf herumstolziert oder zu schnattern beliebt. Nur ein Ungebildeter könnte hier zweifeln». Na, kaum war ihm das entschlüpft, als Hamilkar Schaß, mein Großvater, aufstand, sich höflich verneigte und sprach: «Eigentlich», sprach er, «müßten die Zwiebelchen schon ziemlich weit sein. Habe sie tatsächlich ein paar Tage aus den Augen gelassen. Aber das kann man ja nachholen». Und schon war er draußen, wackelte zu seinem Gärtchen, setzte sich auf die Bank und beobachtete das Wachstum der Zwiebeln. Unterdessen 12

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flanierten die Leute von Schissomir an seinen Zwiebelbeeten vorbei, musterten den eingehend, der da auf dem Bänkchen saß, und verfielen in schwermütige Grübeleien, als sie das zuversichtliche Gesicht von Hamilkar Schaß sahen. Sorge regte sich hier und da – Sorge, weil man erkannt hatte, daß das Häuschen, in dem mein Großvater wohnte, und die ausgewählte Nahrung, die man ihm stellen mußte, immerhin etwas kostete, und zwar mehr, als man ursprünglich gedacht hatte. Jeder wird es ihnen nachfühlen, daß sie deshalb auf eine dritte Sitzung drangen, welche in liebenswürdigsterweise verlief. Es gab gebratene Ente, es gab Rotwein und Fladen, und hinterher gab man Hamilkar Schaß, meinem Großvater, in versteckter, ja fast vorsichtiger Weise zu bedenken, daß die Poggenwiese von alters her Schissomir gehöre. Er allein wäre imstande, das einzusehen. Worauf Hamilkar Schaß nur sagte: «Die Zwiebelchen», sagte er, «sind jetzt soweit. Ich könnte eigentlich gleich anfangen mit dem Ernten». Worauf er sich höflich verabschiedete und zu seinen Beeten zurückkehrte. Hat man schon gemerkt, wohin das Ende zusteuert? Aber ich möchte es trotzdem noch erzählen, Der Herbst ging vorüber, der Winter kam und empfahl sich, schon stand – grüßend, wie man sagt – das Frühjahr vor Schissomir: und immer noch brachten die Sitzungen keine Entscheidung. Jener Piepereit, von der Ungeduld seiner Auftraggeber angesteckt, bot eines Tages ganz überraschend an, die Poggenwiese vielleicht zu teilen – so weit war man schon in Schissomir. Aber Hamilkar Schaß, er verfügte sich sanft und freundlich in sein Gärtchen und zog Zwiebeln zur Beflügelung seines Geistes. Aber schließlich passierte es dann: im frühen Frühjahr, bevor ein anderer daran dachte, fand sich mein Großväterchen im Garten ein, um seine Zwiebelchen für den nächsten Herbst zu bauen. Arbeitete so ganz treuherzig und unschuldig vor sich hin, als Edmund Piepereit unverhofft auftauchte und, mit einigermaßen schreckerfülltem Gesicht, bemerkte: «Du gibst dir, Hamilkar Schaß, wie man sieht, viel Mühe beim Säen von Zwiebeln». Was meinen Großvater veranlaßte zu antworten: «Das ist nur, Edmund Piepereit, damit ich im nächsten Herbst eine gute Ernte habe». Dieser Piepereit, er zitterte vor diesem Gedanken derart, daß er sich ohne Gruß umwandte, jene aufsuchte, die einer Meinung mit ihm gewesen waren, und ihnen auseinandersetzte, was ihn beschäftigte. Und so kam es, daß sich Schissomir bereit fand, Suleyken die Poggenwiese zuzuerkennen für den Fall, daß Hamilkar Schaß, mein Großvater, auf die Zwiebelernte verzichtete. Was er auch tat. 13

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1.4. Ilse Aichinger. DAS FENSTER-THEATER Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Fluß herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, daß der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, daß er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers. Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, daß man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals – einen großen bunten Schal – und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr solange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem 14

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Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen. Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und .die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht.

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1.5. Wolfgang Hildesheimer. EINE GRÖSSERE ANSCHAFFUNG Eines Abends saß ich im Dorfwirtshaus vor (genauer gesagt, hinter) einem Glas Bier, als ein Mann gewöhnlichen Aussehens sich neben mich setzte und mich mit gedämpft- vertraulicher Stimme fragte, ob ich eine Lokomotive kaufen wolle. Nun ist es zwar ziemlich leicht, mir etwas zu verkaufen, denn ich kann schlecht nein sagen, aber bei einer größeren Anschaffung dieser Art schien mir doch Vorsicht am Platze. Obgleich ich wenig von Lokomotiven verstehe, erkundigte ich mich nach Typ, Baujahr und Kolbenweite, um bei dem Mann den Anschein zu erwecken, als habe er es hier mit einem Experten zu tun, der nicht gewillt sei, die Katze im Sack zu kaufen. Ob ich ihm wirklich diesen Eindruck vermittelte, weiß ich nicht; jedenfalls gab er bereitwillig Auskunft und zeigte mir Ansichten, die das Objekt von vorn, von hinten und von den Seiten darstellten. Sie sah gut aus, diese Lokomotive, und ich bestellte sie, nachdem wir uns vorher über den Preis geeinigt hatten. Denn sie war bereits gebraucht, und obgleich Lokomotiven sich bekanntlich nur sehr langsam abnützen, war ich nicht gewillt, den Katalogpreis zu zahlen. Schon in derselben Nacht wurde die Lokomotive gebracht. Vielleicht hätte ich dieser allzu kurzfristigen Lieferung entnehmen sollen, daß dem Handel etwas Anrüchiges innewohnte, aber arglos wie ich war, kam ich nicht auf die Idee. Ins Haus konnte ich die Lokomotive nicht nehmen; die Türen gestatteten es nicht, zudem wäre es wahrscheinlich unter der Last zusammengebrochen, und so mußte sie in die Garage gebracht werden, ohnehin der angemessene Platz für Fahrzeuge. Natürlich ging sie der Länge nach nur halb hinein, dafür war die Höhe ausreichend; denn ich hatte früher einmal meinen Fesselballon darin untergebracht, aber der war geplatzt. Bald nach dieser Anschaffung besuchte mich mein Vetter. Er ist ein Mensch, der, jeglicher Spekulation und Gefühlsäußerung abhold, nur die nackten Tatsachen gelten läßt. Nichts erstaunt ihn, er weiß alles, bevor man es ihm erzählt, weiß es besser und kann alles erklären. Kurz, ein unausstehlicher Mensch. Wir begrüßten einander, und um die darauffolgende peinliche Pause zu überbrücken, begann ich: «Diese herrlichen Herbstdüfte...» – «Welkendes Kartoffelkraut», entgegnete er, und an sich hatte er recht. Fürs erste steckte ich es auf und schenkte mir von dem Kognak ein, den er mitgebracht hatte. 16

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Er schmeckte nach Seife, und ich gab dieser Empfindung Ausdruck. Er sagte, der Kognak habe, wie ich auf dem Etikett ersehen könne, auf den Weltausstellungen in Lüttich und Barcelona große Preise, in St. Louis gar die goldene Medaille erhalten, sei daher gut. Nachdem wir schweigend mehrere Kognaks getrunken hatten, beschloß er, bei mir zu übernachten, und ging den Wagen einstellen. Einige Minuten darauf kam er zurück und sagte mit leiser, leicht zitternder Stimme, daß in meiner Garage eine große Schnellzuglokomotive stünde. «Ich weiß», sagte ich ruhig und nippte von meinem Kognak, «ich habe sie mir vor kurzem angeschafft». Auf seine zaghafte Frage, ob ich öfters damit fahre, sagte ich, nein, nicht oft, nur neulich, nachts, hätte ich eine benachbarte Bäuerin, die ein freudiges Ereignis erwartete, in die Stadt ins Krankenhaus gefahren. Sie hätte noch in derselben Nacht Zwillingen das Leben geschenkt, aber das habe wohl mit der nächtlichen Lokomotivfahrt nichts zu tun. Übrigens war das alles erlogen, aber bei solchen Gelegenheiten kann ich oft der Versuchung nicht widerstehen, die Wirklichkeit ein wenig zu schmücken. Ob er es geglaubt hat, weiß ich nicht, er nahm es schweigend zur Kenntnis, und es war offensichtlich, daß er sich bei mir nicht mehr wohl fühlte. Er wurde ganz einsilbig, trank noch ein Glas Kognak und verabschiedete sich. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Als kurz darauf die Meldung durch die Tageszeitungen ging, daß den französischen Staatsbahnen eine Lokomotive abhanden gekommen sei (sie sei eines Nachts vom Erdboden – genauer gesagt, vom Rangierbahnhof – verschwunden), wurde mir natürlich klar, daß ich das Opfer einer unlauteren Transaktion geworden war. Deshalb begegnete ich auch dem Verkäufer, als ich ihn kurz darauf im Dorfgasthaus sah, mit zurückhaltender Kühle. Bei dieser Gelegenheit wollte er mir einen Kran verkaufen, aber ich wollte mich in ein Geschäft mit ihm nicht mehr einlassen, und außerdem, was soll ich mit einem Kran?

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1.6. Peter Bichsel. DIE TOCHTER Abends warteten sie auf Monika. Sie arbeitete in der Stadt, die Bahnverbindungen sind schlecht. Sie, er und seine Frau, saßen am Tisch und warteten auf Monika. Seit sie in der Stadt arbeitete, aßen sie erst um halb acht. Früher hatten sie eine Stunde eher gegessen. Jetzt warteten sie täglich eine Stunde am gedeckten Tisch, an ihren Plätzen, der Vater oben, die Mutter auf dem Stuhl nahe der Küchentür, sie warteten vor dem leeren Platz Monikas. Einige Zeit später dann auch vor dem dampfenden Kaffee, vor der Butter, dem Brot, der Marmelade. Sie war größer gewachsen als sie, sie war auch blonder und hatte die Haut, die feine Haut der Tante Maria. «Sie war immer ein liebes Kind», sagte die Mutter, während sie warteten. In ihrem Zimmer hatte sie einen Plattenspieler, und sie brachte oft Platten mit aus der Stadt, und sie wußte, wer darauf sang. Sie hatte auch einen Spiegel und verschiedene Fläschchen und Döschen, einen Hocker aus marokkanischem Leder, eine Schachtel Zigaretten. Der Vater holte sich seine Lohntüte auch bei einem Bürofräulein. Er sah dann die vielen Stempel auf einem Gestell, bestaunte das sanfte Geräusch der Rechenmaschine, die blondierten Haare des Fräuleins, sie sagte freundlich «Bitte schön», wenn er sich bedankte. Über Mittag blieb Monika in der Stadt, sie aß eine Kleinigkeit, wie sie sagte, in einem Tearoom. Sie war dann ein Fräulein, das in Tearooms lächelnd Zigaretten raucht. Oft fragten sie sie, was sie alles getan habe in der Stadt, im Büro. Sie wußte aber nichts zu sagen. Dann versuchten sie wenigstens, sich genau vorzustellen, wie sie beiläufig in der Bahn ihr rotes Etui mit dem Abonnement aufschlägt und vorweist, wie sie den Bahnsteig entlang geht, wie sie sich auf dem Weg ins Büro angeregt mit Freundinnen unterhält, wie sie den Gruß eines Herrn lächelnd erwidert. Und dann stellten sie sich mehrmals vor in dieser Stunde, wie sie heimkommt, die Tasche und ein Modejournal unter dem Arm, ihr Parfüm; stellten sich vor, wie sie sich an ihren Platz setzt, wie sie dann zusammen essen würden. Bald wird sie sich in der Stadt ein Zimmer nehmen, das wußten sie, und daß sie dann wieder um halb sieben essen würden, daß der Vater nach der Arbeit wieder seine Zeitung lesen würde, daß es dann 18

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kein Zimmer mehr mit Plattenspieler gäbe, keine Stunde des Wartens mehr. Auf dem Schrank stand eine Vase aus blauem schwedischem Glas, eine Vase aus der Stadt, ein Geschenkvorschlag aus dem Modejournal. «Sie ist wie deine Schwester», sagte die Frau, «sie hat das alles von deiner Schwester. Erinnerst du dich, wie schön deine Schwester singen konnte». «Andere Mädchen rauchen auch», sagte die Mutter. «Ja», sagte er, «das habe ich auch gesagt». «Ihre Freundin hat kürzlich geheiratet», sagte die Mutter. Sie wird auch heiraten, dachte er, sie wird in der Stadt wohnen. Kürzlich hatte er Monika gebeten: «Sag mal etwas auf französisch». –«Ja», hatte die Mutter wiederholt, «sag mal etwas auf französisch». Sie wußte aber nichts zu sagen. Stenografieren kann sie auch, dachte er jetzt. «Für uns wäre das zu schwer», sagten sie oft zueinander. Dann stellte die Mutter den Kaffee auf den Tisch. «Ich habe den Zug gehört», sagte sie.

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2. STUDIENPRAKTISCHE ANALYSEN UND SEMINARHILFEN 2.1. Wolfgang Borchert. Das Brot Analyse Borchert hat diese Kurzgeschichte 1946 geschrieben. Von der damaligen Zeitsituation und ihren Lebensumständen her wird ihr ernster Gehalt verständlich. Ohne vermittelnde Einleitung versetzt uns der Dichter in die Krisensituation eines Ehepaares, die er sprachlich deuten will. Eine Frau wacht plötzlich auf. Es ist halb drei Uhr nachts. Die Frau überlegt, warum sie aufgewacht ist. In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Dieser kriminalistische Anfang der Kurzgeschichte läßt vermuten, daß nun vom Dichter eine spannende Handlung in den begonnenen Erzählstrang eingeführt wird. Nichts von dem: Der erste Absatz der Kurzgeschichte erreicht seine gespannte Atmosphäre nur durch das dreimalige Verwenden des Wörtchens «still». Angezeigt durch einen Doppelpunkt wird dann die Schlußfolgerung gezogen, was es so still in dem ehelichen Schlafzimmer gemacht hatte: «sein Atem fehlte». Man sollte aber jetzt erwarten, daß der Leser mit der Handlung bekannt gemacht wird, die dazu führte, daß in der Küche jemand gegen einen Stuhl stieß. Diese Erwartung wird nicht erfüllt. Aber die Tatsache, daß das Geschehen und Problematik auslösende Geräusch in der Küche nicht durch den Bericht der Handlung kenntlich gemacht wird, die zu dem Geräusch Anlaß war, verleiht der Kurzgeschichte einen spannungssteigernden Charakter. Die nichtgeschilderte Handlung, die Geschehen und Situation hätte einführen können, wird notwendiger Anlaß, ja überhaupt notwendige Voraussetzung für die Handlungsweise der Frau, die wiederum der Kurzgeschichte ihren Gehalt gibt. Der Gehalt selbst entfaltet sich nur insoweit für den Leser Zug um Zug, als die Handlungsweisen der Frau erschließen lassen, welche Handlung des Mannes zu dem Geräusch in der Küche führte. Dies ist das Aufbauprinzip dieser Kurzgeschichte. In der Küche treffen sich die beiden Eheleute. Sie sieht etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie macht Licht. Dann stehen sich die Eheleute gegenüber. Und nun werden sie vom Erzähler durch die der Frau eingeräumte Möglichkeit, die nächtliche Handlung ihres Mannes in der Küche zu erraten, in die Krisensituation hineingeführt, die Borchert sprachlich einfangen will. «Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, daß er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel». Das den letztgenannten Satz einleitende «und» könnte sprachlich als letzte 20

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Bestätigung eines für die Frau auf der Hand liegenden Beweises gewertet werden, wenn nicht noch zwei weitere Sätze des dritten Absatzes der Kurzgeschichte mit diesem «Und» eingeleitet würden. In dieser Häufung verweist das «Und» auf die Unsicherheit und Ratlosigkeit der Frau angesichts des sie um Brot betrügenden Mannes, den sie zwar durch die Indizien für überführt halten muß, es jedoch nicht kann oder will. So sieht sie von dem Teller weg. Der Mann beginnt zu sprechen: «Ich dachte, hier wäre was» und sieht in der Küche umher. Dieses gespielte Umhersehen entlarvt ihn als einen im Grunde hilflosen Lügner. Diese Hilflosigkeit ihres Mannes wird es sein, die die Frau antworten läßt: «Ich habe auch was gehört». Das vom Manne mißbrauchte Vertrauen ist der Auslösungsfaktor für das schonungslose, aber doch noch Verstehen zeigende gegenseitige Sichbetrachten der Eheleute. Es verdeutlicht den Krisenpunkt ihres neununddreißigjährigen Zusammenseins eindringlich. – In die Stille des Raumes spricht die Frau ein erstes Wort. Es ist ein Wort der fürsorglichen Treue: «Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch». Freilich vermag sie den Mann dabei nicht anzusehen. «Weil sie es nicht ertragen konnte, daß er log». Die ganze Unsicherheit des Mannes gegenüber der Frage, ob seine Frau ihn als Brotdieb entlarvt hat oder nicht, wird erkennbar in der unmotivierten Wiederholung seiner Begründung dafür, daß er um halb drei nachts in der Küche angetroffen wird. Hingegen führt die Enttäuschung der Frau darüber, daß ihr Mann seine Verfehlung nicht einfach eingesteht, zu der für sich selbst sprechenden Zweideutigkeit ihrer Rede und des die Rede begleitenden Handelns. «Ich hab' auch was gehört. Aber es war wohl nichts.' Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke». Diese zweideutige Verquickung von Aussage und Handlung, wobei die Aussage von der Handlung der Redenden in Frage gestellt wird, läßt den Mann vollends unsicher werden. Diese Unsicherheit fängt Borchert mit der charakteristischen Verbalform «echote» ein. Es ist überhaupt ein Qualitätsmerkmal Borchertschen Sprachschaffens, mit knappsten und lapidar klingenden Sprachgebärden – oft der einfachsten Umgangssprache – einen psychologischen Tiefenblick zu eröffnen. Die Frau kommt ihrem Mann «zu Hilfe». «Komm man. Das war wohl draußen». Es ist bemerkenswert, daß ab hier in der Kurzgeschichte der Mann nur die Äußerungen seiner Frau nachspricht, um durch das bloße und gedankenlose Sprechen seine leidige und ihn beschämende Lage erträglich zu halten. Er bestätigt, daß das 21

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Geräusch wohl draußen gewesen sein muß, er bestätigt, daß der Wind wohl die Dachrinne zum Klappern gebracht hat. Dieses Verfahren des Bemäntelns eines eigentlich offen zutage getretenen Tatverdachts macht natürlich seine Stimme unecht. – Die Frau, deren leidvolle und opferbereite Haltung Borchert immer nur mit kargen Strichen bei diesem Scheingespräch skizziert, spricht: «Es ist kalt, ich krieche unter die Decke. Gute Nacht». Wieder nimmt der Mann ihre Äußerung inhaltlich kopierend auf. «Dann war es still». Erneut lenkt das Wort «still» die Spannung der Handlung. «Nach vielen Minuten hörte sie, daß er leise und vorsichtig kaute». Jetzt ist der Beweis letztgültig erbracht! Jetzt ist die Handlung des Mannes erst vom Dichter aufgedeckt, die zur Handlung der Frau den Anlaß gab. Diese Handlung der Frau wird mit einer überraschenden Geste zum Abschluß geführt. Sie schiebt ihrem Mann am nächsten Abend vier Scheiben Brot hin, eine mehr als sonst. Diese selbstverleugnende Geste erntet den verdienten Lohn, denn jetzt gesteht der Mann seine Schuld; lautlos, indem er sich tief über den Teller beugt. «In diesem Augenblick tat er ihr leid». Diese Aussage Borcherts hat keinen Anflug von Ironie. Die reuige Scham des Mannes bezeugt sich darin, daß er auf seinen Teller spricht: «Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen». Diese Scham nötigt die Frau – wenn auch erst nach einer Weile –, sich «unter die Lampe an den Tisch» zu setzen. Die Kurzgeschichte unterliegt einer dreifachen Gliederung. Die Exposition bietet der Abschnitt eins bis «sein Atem fehlte». Der Abschnitt zwei stellt die Problematik dar bis zu der Stelle «Aber sein Kauen war so regelmäßig, daß sie davon langsam einschlief». Der Abschnitt drei, der den Ausklang bringt, geht bis zum Ende der Kurzgeschichte. Am besten liest man die Kurzgeschichte im Seminar in diesen drei Abschnitten und regt nach der Lektüre jedes Abschnitts die Studenten an, sich zu dem Gelesenen zu äußern. – Nach der Lektüre von Abschnitt eins ist die Frage geboten, wie das Geschehen weiterlaufen könnte. – Nach dem Lesen von Abschnitt zwei erbittet die Lehrperson eine Nacherzählung der Darstellung. Es ist anzunehmen, daß die Studenten dabei in eine verkürzende Inhaltsangabe ausweichen. Dies sollte Anlaß sein, die Studenten ständig zu fragen, wie es denn wohl der Schriftsteller ganz genau geschrieben habe und warum er es wohl so geschrieben habe. Solche Fragen, deren Beantwortung die Studenten mit Hilfe des Lehrers und nach dem Text versuchen können, lassen sie möglicherweise erkennen, mit welch einer durchdachten Schilderung Borchert das Versagen des Mannes und die Opferbereitscbaft der Frau sprachlich faßt. 22

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Diese Fragen machen aber auch das deutlich, was der Dichter bewußt nicht schreibt. Es zu erkennen ist sehr wichtig. Borchert erzählt nicht den Diebstahl selbst. – Er kennzeichnet zwar das Versagen und die Opferbereitschaft von Menschen angesichts des Hungers. Das Wort Hunger kommt aber in der Kurzgeschichte nicht vor. – Schließlich sagt Borchert auch etwas über den Wert des Brotes aus; obwohl er – paradoxerweise – nichts davon direkt schreibt. Mit solch einer Methodik kann man den Studenten gut den sprachkünstlerischen Wert der «Aussparung» erhellen. Sie ist einer der wichtigsten Wesenszüge Borchertschen Prosastils. Durch diese «Aussparung» wird die Problematik des Dargestellten erst recht pointiert hervorgehoben. – Abschnitt drei gibt nach der Lektüre Anlaß zu einer Wertung des Verhaltens des Mannes und der Opferbereitschaft der Frau durch die Studenten.

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2.2. Marie Luise Kaschnitz. Christine Analyse Thema «Auch das Schöne muß sterben!» sagt der klassische Dichter. Schorsch könnte seine Trauer mit den beiden anderen Versen aus Schillers «Nänie» ausdrücken: «Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt». Das Thema dieser Kurzgeschichte ist so alt wie die Menschen, seit sie den Traum vom Schönen und Vollkommenen träumen. In dem klassischen Gedicht dienen Beispiele aus der griechischen Mythologie zur Veranschaulichung des Satzes, in einer modernen Kurzgeschichte nimmt die Dichterin Charaktere und Situation aus dem alltäglichen Leben. Sie verschärft wie Schiller das Problem, indem das Vollkommene grausam und mit Gewalt angegriffen und zerstört wird. Das Sinnlose wird bei Kaschnitz dadurch betont, daß ein Wahnsinniger die Tat begeht. Allmählich wird dieses eigentliche Thema der Geschichte enthüllt. Vorläufige Erklärungen für das Verhalten Schorschs stellen retardierende Momente dar, die dazu dienen, die Charaktere und die Situation zu verdeutlichen. Eine juristische oder moralische Schuld liegt nicht vor, wenn Schorsch auch von Schuldgefühlen geplagt wird. Weder diese noch die geschlechtlichen Triebwünsche bestimmen sein Verhalten. Seine Frau versteht ihn vordergründig zunächst aus solchen Beweggründen, erkennt dann aber als Liebende den tieferen Grund: die Trauer «über den Wahnsinn und die Unvollkommenheit der Welt». Ihre Geste zum Schluß und des Mannes Reaktion deuten auf eine mögliche Abwendung von der unfruchtbaren Trauer durch die Zuwendung zum wirklichen Leben. Philosophisch ließe sich sagen, daß die Charaktere den Gegensatz von Idealismus und Realismus verkörpern, der in einem zehnjährigen Entwicklungsprozeß ausgetragen wird und zum liebenden Verstehen der gegensätzlichen Charaktere und Auffassungen führt. Darstellung Die Geschichte ist eine Ich-Erzählung, zugleich auch ein innerer Monolog und ein Dialog der Erzählerin mit dem Leser. Frau Bornemann wendet sich direkt an den Leser: «was Sie jetzt glauben», oder sie beantwortet mögliche Fragen, Einwürfe, Zweifel und Bedenken des Lesers, die sie vermutet. Auf diese Weise ist die Ich-Erzählung im Zusammenhang mit der spannungsreichen Entfaltung des Themas in 24

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einem konkreten Stoff und anschaulicher realistischer Sprache von lebendiger Wirkung. Anfang und Schluß spielen in der Gegenwart. Dazwischen erzählt Frau B. in Rückblenden und Überlegungen das Schicksal ihres Mannes, wie es sich im Lauf von 10 Jahren zeigte. Zum Unterricht Die Geschichte ist für Jugendliche schwer zu verstehen. Die Schwierigkeiten liegen im Thema, den Charakteren und in der Erzähltechnik. Das eigentliche Thema wird durch den Realismus der Vorgänge und die Verhaltensweisen aller Personen eher verdeckt als aufgehellt. Darüber hinaus ist das Thema von der «Anmut und Schönheit an sich», von der Spannung Ideal und Wirklichkeit ein schwieriges philosophisches Problem, aber auch eine Aufgabe, die jeder Mensch zu bewältigen hat. Der Lehrer muß daher von den eignen Erfahrungen der Studenten ausgehen und sie Beispiele aus ihrem Leben erzählen lassen, von denen aus sich der Zugang zur Geschichte ergibt. Vorschläge für Aufgaben 1. Stoff und Erzähltechnik Erzähle den Hergang in chronologischer Reihenfolge und vergleiche damit den Gang der Darstellung in der Geschichte. 2. Thema Was will Frau B. als Erzählerin und damit auch die Dichterin dem Leser eigentlich vermitteln? Zur Beantwortung ziehe folgende Stellen heran: а) «dumme Gedanken» b) «verrückt vor Liebe» c) Aussehen seiner Frau und Kinder d) Die Stelle von der Anmut und der Schönheit, vom Traum und der Trauer e) Den Satz: «Ich sehe ihn an und habe ihn so lieb wie nie im Leben, auch in den ersten Jahren unserer Ehe nicht». Zusatzfrage: Wie wird die Liebe in Stelle b) und e) aufgefaßt? 3. Man könnte sagen, daß der Mann ein Idealist, die Frau und die Kinder Realisten sind. Diskutiere diese These. 4. Erkläre die folgenden zeitkritischen Beobachtungen und Bemerkungen, indem du fragst, welche Bedeutung sie für das Verständnis der Geschichte haben: a) «... ich bin keine von den Frauen ...» b) «... so einer Armeleute-Villenkolonie ...» c) Verhalten der Kinder beim Planen einer Ausfahrt d) Karrieremachen und Konsumverhalten 25

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2.3. INTERPRETATIONSHILFEN 2.3.1. Siegfried Lenz. Die große Konferenz Kommentar Die Erzählung «Die große Konferenz» von Siegfried Lenz ist der bekannten Sammlung masurischer Geschichten entnommen, die 1955 unter dem Titel «So zärtlich war Suleyken» herausgegeben wurde. Hier werden Jugenderinnerungen in einer besonderen Form dargeboten. Weder die Personen noch geographische Einzelheiten sind authentisch. Der Autor zeichnet nur bestimmte, typische Wesenszüge seiner früheren Landsleute in überspitzter und humoriger Art und Weise nach. Der Reiz dieser Geschichten wird nicht in erster Linie durch ihren Inhalt bestimmt, sondern hauptsächlich durch die Sprache, in der dieser uns vermittelt wird. Nicht Lebensproblematik, sondern Freude am fröhlichen Fabulieren prägt den Charakter dieses Werkes, auch wenn hier und da ein ironisch kritischer Unterton hörbar wird. Bei der Betrachtung der Erzählung wollen wir diese Überlegungen beherzigen und die Schwerpunkte im Unterrichtsgeschehen dementsprechend setzen. Wir schlagen hier drei Schritte vor, die im einzelnen erläutert werden. Interpretationshilfen 1. Lesen Man macht häufig die Erfahrung, daß humorvolle Texte, besonders wenn sie von Jugendlichen gelesen werden, nicht eine adäquate Resonanz in dem Seminar hervorrufen. Wir sollten die Studenten also entsprechend vorbereiten, wenn wir die Erzählung vorstellen, deren Sprache für viele eher fremd als fröhlich ist. Das kann dadurch geschehen, daß wir die Geschichte vorweg als fröhlich charakterisieren, und schließlich sollte der Lehrer sie so vorzulesen versuchen, daß der Zugang zum Heiteren in der Sprache und in der Handlung erleichtert wird. Danach erst werden die Studenten aufgefordert, die Erzählung, wenn möglich ihrem Stimmungsgehalt entsprechend, vorzutragen. 2. Handlungsverlauf Es wird den Studenten wenig Schwierigkeiten bereiten, den Ablauf der Geschichte nachzuskizzieren. Das Geschehen beinhaltet einen fast simplen Gedankengang, der relativ leicht stichwortartig zusammengefaßt werden kann. Die Konferenz, schon durch die Überschrift als zentrale Situation in der Erzählung gekennzeichnet, sollte uns in ihrem Ablauf etwas genauer beschäftigen. Hier können wir der Gruppe zwei Aufgaben stellen, die durch Partnerarbeit gelöst werden mögen: 26

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1. Die Strategie des Hamilkar Schaß 2. Die Strategie des Edmund Piepereit Beide führen einen «Kampf» als Repräsentanten ihres Heimatdorfes. Die Rechtslage bleibt bis zum Schluß ungeklärt. Keiner der beiden kann offensichtlich wirklich begründete Besitzansprüche stellen. Daher ist zu verstehen, daß beide aufs «Argumentieren» verzichten. Nur Taktik bestimmt das Duell, und die Tugend der Ausdauer entscheidet letztlich. 3. Sprache Diesen Teil wollen wir unter der Leitfrage behandeln: Welche sprachlichen Mittel verwendet der Autor, um seine Erzählung humorvoll zu gestalten? Es überwiegen hier deutlich Merkmale, die in enger Verbindung zu mundartlichen Eigenarten stehen, die ganz allgemein gesehen ein Sprachwerk verlebendigen. Im Dialekt wirkt vieles deftiger, farbiger und gleichzeitig gemütlicher. 1. Namen: Das beginnt bereits bei der Auswahl bestimmter Bezeichnungen und Eigennamen, die eine schrullige Gemütlichkeit ausstrahlen (Poggenwiese [Froschwiese], Schissomir, ... ). 2. Schlußsilbe «chen»: Daß dieses Stilmittel eines der wichtigsten in unserer Erzählung ist, läßt sich schon aus der Häufigkeit ableiten, mit der es verwendet wird (Häuschen, Weibchen, Gärtchen, Bänkchen, Ritterchen, Großväterchen, Erpelchen etc.). Wir werden dieser Stilart nicht ganz gerecht, wenn wir sie nur als Verkleinerung bezeichnen. Es handelt sich um liebevolle Koseformen, wie sie im östlichen Sprachraum häufig zu finden sind, die Begriffe verharmlosen (Ritter – Ritterchen) und die der Sprache aggressive Momente nehmen. Diese Formen bilden durch ihre augenzwinkernde Gemütlichkeit eine ideale Grundlage für humorige Gedankengänge. Man möge zur Verdeutlichung Wortpaare wie Vater – Väterchen, Ritter – Ritterchen, Erpel – Erpelchen etc. zur Diskussion stellen und Textstellen vortragen, in denen man die Formen mit -chen durch Grundwörter ersetzt. 3. Satzbau a) Wir finden sehr häufig das Stilmittel der Inversion. Hier wird es nicht verwendet, um bestimmte Wörter dadurch hervorzuheben, daß sie an ungewohnter Stelle stehen, sondern in erster Linie, um der Sprache einen mundartlichen Tenor zu geben, der durch seine Umständlichkeit erheiternd wirkt. 27

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b) Eine Verlangsamung des Sprachtempos wird durch zahlreiche Einschübe erreicht. Es werden Floskeln verwendet, die den Eindruck des breit angelegten mündlichen Erzählens vermitteln (wenn man so sagen darf, sagen wir mal, wie man sich denken kann etc.). Auch hier wird durch Umständlichkeit der mundartlichen Sprechweise ein humoriger Ansatz zur Charakterisierung der beschriebenen Bevölkerung gegeben. 4. Koppelung von Substantiven Besonders lustig wirken die aufeinanderfolgenden gegensätzlichen Substantive, mit denen die Ausrüstung des Hamilkar Schaß beschrieben wird (Kniestrümpfe aus Schafwolle und Briefmarken, Rauchfleisch und Sicherheitsnadeln etc.). Es wird den Studenten Vergnügen bereiten, sich darin zu versuchen, einen Text zu erfinden, der primär dieses Stilmittel verwendet. 5. Übertreibung Hamilkar Schaß wird als Schriftgelehrter charakterisiert, oder seine Ausrüstung füllt ungefähr zwei Fuhrwerke. Diese Beispiele zeigen, daß eine belustigende Wirkung durch Übertreibung erzielt werden kann. Hier empfiehlt sich der Hinweis auf andere schwankartige Erzählungen, die ihre Lustigkeit primär durch dieses Stilmittel gewinnen (z. B. Münchhausen, Schildbürgerstreiche). Abschließend sollen die Studenten erkennen, daß hier eine sinnvolle Einheit von Sprache und Inhalt erreicht wird. In den beiden unterschiedlichen Teilbereichen strebt der Autor das gleiche an, nämlich spezifische Handlungsweisen und Sprachgewohnheiten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe humorvoll und überspitzt zu charakterisieren. Dieses geschieht nicht, um Lebenssituationen zu problematisieren, sondern nur, um humorvoll zu unterhalten.

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2.3.2. Ilse Aichinger. Das Fenster-Theater Interpretationshilfen I. Hinweise zum Textverständnis In dieser Erzählung geht es um zwei unterschiedliche menschliche Verhaltensweisen: 1. um die Sensationsgier einer gelangweilten Frau und 2. um die Freude eines alten Mannes am kommunikativen Spiel mit einem Kind. Die Autorin läßt diese beiden Möglichkeiten des Verhaltens aufeinandertreffen und zeigt bei dieser Konfrontation, daß es unmöglich ist, sie miteinander zu verbinden. I. Sensationsgier der Frau In den Einleitungssätzen ihrer Kurzgeschichte charakterisiert die Autorin die Frau als jemanden, der begierig nach Neuem und so erfüllt ist von Sensationslüsternheit, daß er nicht einmal vor dem Gedanken zurückschreckt, sich der Abwechslung halber einen Unfall vor der eigenen Haustür zu wünschen... Sprechen Sie weiter zu diesem Thema! 1.1 Zur sprachlichen Gestaltung Daß die Autorin das Verhalten der Frau negativ sieht (und nicht etwa als Sorge um den alten Mann), geht aus deren Charakteristika hervor. Finden Sie sie! Das Verhalten der neugierigen Frau wird als «normal» akzeptiert. Beweisen Sie das! 2. Freude am kommunikativen Spiel Das Verhaltensmuster, das Ilse Aichinger dem scheinbar so «normalen», unoriginellen, passiven entgegensetzt, zeigt sich in ... (mit dem Titel der Erzählung wird der Schwerpunkt darauf gelegt). 2.1 Zur sprachlichen Darstellung Während die Autorin bei der Darstellung der ersten Verhaltensweise (Frau, Polizisten) auch sprachlich im Rahmen des «normalen» Erzählstils bleibt, findet sie in der Beschreibung der zweiten Verhaltensweise (alter Mann, Kind) ungewöhnliche, geradezu poetische Formulierungen und Bilder. Welche? Während die Frau charakterisiert ist durch eine Wartehaltung (sie «lehnt», sie «bleibt» und wird erst bei der scheinbaren Sensation lebendig), erscheint der Mann gleich zu Beginn voller Leben. Er ... . Die Stellung der Autorin wird also bei der Betrachtung ihrer sprachlichen Mittel ganz deutlich: Sie bejaht das Komische, Originelle, Aktive (das eigentlich «Normale») und entlarvt mit ihm ein langweiliges Verhalten (das nur scheinbar «Normale»), dessen Verstehenshorizont auf die eigene Person eingeschränkt bleibt. 29

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II. Hinweise zur Behandlung der Erzählung im Unterricht l. Didaktische Überlegungen Den Studenten sollte folgendes klarwerden: 1. Mit der Darstellung ergreift die Autorin (und mit ihr der Leser) Partei für das Verhalten des Mannes Er wirkt ... ... , während die Frau ... .... erscheint. 2. Die Abwartehaltung der Frau vertieft ihre Einsamkeit a) Sie wartet, daß ... .... , und merkt nicht, daß in ihr Haus ein Kind einzieht, zu dem sie ja auch Kontakt hätte knüpfen können. b) Sie sieht nur das Absonderliche im Verhalten des Mannes, nicht aber seine ... ... . 3. Das Spiel des Mannes verleiht ihm Kontakt zu seiner Umwelt Das nicht an starre Normen gebundene Verhalten des Mannes steht im Kontrast zum Verhalten der Frau. ... .... . 2. Methodische Überlegungen l. Vor der Lektüre: Wie verstehen die Studenten den Begriff Theater? Welche Rolle hat das Spiel im Leben der Menschen? 2. Man liest die Erzählung vor. 3. Untersuchung des Verhaltens der Frau (und der Polizei) Leitfragen: a) Welche Funktion hat der erste Abschnitt? b) Wie reagiert sie auf das «Fenster-Theater»? c) Zu welchem Zeitpunkt und warum ruft sie die Polizei? d) Wie verhält sich die Polizei? e) Vergleich zwischen dem Verhalten der Frau und dem der Polizei 4. Untersuchung des Verhaltens des Mannes Leitfragen: a) Wie charakterisiert die Autorin ihn? (Sprachanalyse seines Tuns und seines Aussehens) b) Welche Funktion hat der letzte Abschnitt? c) Was bewirkt der Mann mit seinem Spiel? 5. Vergleich der Darstellung der Personen Auf welcher Seite steht die Autorin? Was erreicht sie durch die Wahl ihrer sprachlichen Mittel? 6. Kritische Überlegungen der Studenten Leitfragen: a) Was haltet Ihr vom Verhalten des Mannes? 30

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b) Was haltet Ihr vom Verhalten der Frau? c) Findet Ihr es verrückt, wenn ein Erwachsener spielt? d) Noch einmal anknüpfend an die Eingangsfrage nach der Rolle des Spiels: Seht Ihr weitere Möglichkeiten, die das Spiel dem Menschen bietet?

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2.3.3. Wolfgang Hildesheimer. Eine größere Anschaffung Interpretationshilfen A Handlungsverlauf Der Handlungsverlauf läßt sich in verschiedene Abschnitte gliedern: I. Kauf der Lokomotive II. Besuch des Vetters III. Zeitungsmeldung IV. Erneutes Kaufangebot I. Kauf der Lokomotive l. Analyse des ersten Satzes, der schon wesentliche Strukturelemente enthält. a) Der Erzähler hätte auch die direkte Rede benutzen können, etwa: «Wollen Sie eine Lokomotive kaufen?» Würde das etwas an der sprachlich-inhaltlichen Struktur ändern? Die Komik könnte verringert werden, denn: b) Wodurch zeichnet sich indirekte Rede gegenüber der direkten aus? 2. Wie wird über den Kauf der Lokomotive berichtet? Man fragt nicht, was der Erzähler überhaupt mit einer Lokomotive anfangen will. Woran könnte das liegen? 3. Was ist das Ungewöhnliche am Lokomotivenkauf? II. Besuch des Vetters 1. Wie wird der Vetter vom Ich-Erzähler charakterisiert? Warum ist der Vetter so wortkarg? Warum fühlt er sich beim Erzähler nicht mehr wohl? 2. a) Wie charakterisiert sich die Erzählfigur durch diese Schilderung selbst (indirekt)? Gegenpol zum Vetter (Kauf der Lokomotive); ... .... . b) Wie verhält sich die Erzählfigur zum Vetter? c) «Lügengeschichte»: Welche Bedeutung hat die Lüge in diesem Kontext? Wird die Geschichte als Lüge empfunden? III. Zeitungsmeldung 1.Welche Bedeutung hat die Zeitungsmeldung für den Gang der Handlung? 2. Hat die Erzählfigur aus dieser Erfahrung gelernt? (s. Schluß!) IV. Erneutes Kaufangebot a) ungewöhnliches Verhalten gegenüber dem Verkäufer 32

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b) Pointe! (Frage: Was wollte er mit einer Lokomotive?) Die Geschichte könnte wieder von vorn beginnen. B Elemente der Komik 1. Kombination (Nebeneinander) von Realität/Irrealität (Surrealität), Gewöhnlichem/ Ungewöhnlichem Angabe von Stellen! Aufstellen einer Tabelle! Gewöhnliches Ungewöhnliches ..... ..... Dabei werden sich Probleme bei der Zuordnung ergeben (was ist eigentlich ungewöhnlich, was ist gewöhnlich?). Ergebnis: Die Gegensätze sind in der Erzählung nicht als solche dargestellt, sondern das Ungewöhnliche wird als Gewöhnliches vermittelt. Das Ungewöhnliche wird zur Realität. 2. Inadäquanz sprachlicher Kombinationen: z. B. Lokomotive anschaffen ... .... unterschiedliche semantische Dimension der Wörter! 3. Untertreibung als Mittel der Darstellung: a) z.B. Titel bieder, alltäglich, erweckt andere Erwartungen, als die Erzählung erfüllt; b) ... ... 4. Position des Erzählers: a) Ich-Erzähler: Wirklichkeitsbericht (vgl. III.), vorgetäuschte Wirklichkeit, Stellungnahme? b) Reaktionen (= ungewöhnlich): Belege: 2. Satz, Reaktion auf die Lieferung, Reaktion auf ... ... . c) Wie hätten die Reaktionen anders aussehen können (z. B. am Schluß)? d) Was bedeutet die dargestellte Art der Reaktion für die Erzählung? 5. Stil der Erzählung: Begriff der Groteske (Lexikon!): ital. grottesco zu grotta = Grotte: Grotten antiker Paläste und Thermen, wo man ornamentale und eigenartige Wandmalereien fand. «Dichtart des Derbkomischen, NärrischSeltsamen, die teils humoristisch, teils ironisch scheinbar Gegensätzliches und Unvereinbares in übermütiger, verblüffender Weise nebeneinanderstellt (...) Gegenströmung gegen jeden Vernunftglauben einerseits und Zeichen einer Verfremdung gegen die Welt andererseits». 6. Worin liegt der Sinn der Erzählung? Ist der Lokomotivenkauf der entscheidende Vorgang? 33

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2.3.4. Peter Bichsel. Die Tochter Interpretationshilfen l. Erste Arbeitsphase (Einstieg: Erörterung des l. Absatzes) 1. Welche Bedeutung hat der erste Satz der Erzählung im Hinblick auf die Informationen, die ihm zu entnehmen sind? Das Personalpronomen «sie» füngiert als Stellvertreter für Personen, die der Leser noch nicht kennt, und kennzeichnet so einen offenen Beginn der Erzählung. 2. Welche Informationen treten im weiteren Verlauf des ersten Absatzes hinzu? a) Wann kann man vermuten, daß mit «Monika» die Tochter (vgl. Titel) und mit «sie» die Eltern gemeint sind? («sie» – er und seine Frau) b) Wann wird die Vermutung bestätigt? («sie» – Vater und Mutter) 3. Welche Wirkung kann es haben, daß wesentliche Informationen nicht gleich im ersten Satz vermittelt, sondern zunächst vorenthalten werden? 4. Wie läßt sich die Situation im ersten Absatz charakterisieren? Zweite Arbeitsphase (Aspekte, aufgeschlüsselt durch Leitfragen) Aussagen über die Tochter 1. Was wird – unabhängig von den Vorstellungen der Eltern – über die Tochter ausgesagt? 2. Welche Vorstellungen haben die Eltern von ihrer Tochter? a) Welche Attribute sind der Tochter zugeordnet? b) Verhaltensweise der Tochter? c) Klischeevorstellungen (Image, Regelhaftigkeit der Handlungsweise) d) Vergleich der Tochter mit anderen Personen. //. Aussagen über die Eltern 1. Welche Rolle spielt für die Eltern die Vorstellung vom Leben ihrer Tochter? 2. Wie lassen sich die Eltern charakterisieren? III. Beziehung zwischen den Eltern und der Tochter Wie drückt sich die Beziehung in den Bezeichnungen der Personen aus? er – sie, seine Frau; Vater – Mutter – Tochter, Monika Welche Bedeutung haben die zahlreichen Personalpronomen (sie)? 2. Titel Könnte der Titel auch anders lauten? Warum heißt er z. B. nicht «Monika»? 3. Wodurch ist die Kommunikation zwischen Eltern und Tochter gekennzeichnet? 34

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4. Aspekt der Entfremdung zwischen Eltern und Tochter 5. Wie beurteilen die Eltern Monika? 6. Was bedeutet den Eltern die Tochter? Was bedeutet für sie der Gedanke, die Tochter könnte in die Stadt ziehen? IV. Motiv des Wartens 1. Welche Funktion hat die Wiederholung (bes. l. Absatz)? Beispiel: «Abends warteten sie»; «und warteten auf Monika»; «Jetzt warteten sie täglich»; «sie warteten vor dem leeren Platz» usw. 2.Welchen Sinn hat die Stunde des Wartens? 3.Welche Wirkung hat das Warten auf den Leser? Dritte Arbeitsphase (Abschlußdiskussion) Handelt es sich beim dargestellten Problem um einen Einzelfall? Können die Studenten einen Bezug zwischen sich und der Erzählung herstellen? Wo könnte man ihn ansetzen?

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2.4. ERZÄHLBEISPIELE: KURZGESCHICHTEN 2.4.1. Franz Kafka: Der Nachbar (1917) Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und Geschäftsbüchern im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch. Kasse. Beratungstisch. Klubsessel und Telephon, das ist mein ganzer Arbeitsapparat. So einfach zu überblicken, so leicht zu führen. Ich bin ganz jung und die Geschäfte rollen vor mir her. Ich klage nicht, ich klage nicht. Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leerstehende Nebenwohnung, die ich ungeschickterweise so lange zu mieten gezögert habe, frischweg gemietet. Auch ein Zimmer mit Vorzimmer, außerdem aber noch eine Küche. – Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl brauchen können – meine zwei Fräulein fühlten sich schon manchmal überlastet –, aber wozu hätte mir die Küche gedient? Dieses kleinliche Bedenken war daran schuld, daß ich mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht. Auf der Tür steht: ‚Harras, Bureau‘. Ich habe Erkundigungen eingezogen, man hat mir mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. Vor Kreditgewährung könne man nicht geradezu warnen, denn es handle sich doch um einen jungen, aufstrebenden Mann, dessen Sache vielleicht Zukunft habe, doch könne man zum Kredit nicht geradezu raten, denn gegenwärtig sei allem Anschein nach kein Vermögen vorhanden. Die übliche Auskunft, die man gibt, wenn man nichts weiß. Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muß es immer außerordentlich eilig haben, er huscht förmlich an mir vorbei. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht, den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augenblick hat er die Tür geöffnet. Wie der Schwanz einer Ratte ist er hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel ‚Harras, Bureau‘, die ich schon viel öfter gelesen habe, als sie es verdient. Die elend dünnen Wände, die den ehrlich tätigen Mann verraten, den Unehrlichen aber decken. Mein Telephon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar trennt. Doch hebe ich das bloß als besonders ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telephon zu nennen. Aber es gehört natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten. – Manchmal umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, daß Geheimnisse preisgegeben werden. Natürlich werden dadurch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicher, meine Stimme zittrig. Was macht Harras, während ich telephoniere? Wollte ich sehr übertreiben – aber das muß man oft, um sich Klarheit zu verschaffen –, so könnte ich sagen: Harras braucht kein Telephon, er benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht, ich dagegen muß, wenn geläutet wird, zum Telephon laufen, die Wünsche des Kunden entgegennehmen, schwerwiegende Entschlüsse fassen, großangelegte Überredungen ausführen – vor allem aber während des Ganzen unwillkürlich durch die Zimmerwand Harras Bericht erstatten. Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gesprächs ab, sondern erhebt sich nach der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten. 1. Beschreiben Sie die Assoziationen, die der Titel der Erzählung beim Leser auslöst. Vergleichen Sie diese Assoziationen mit der Bedeutung des Wortes «Nachbar», die sich im Laufe der Lektüre einstellt. 2. Untersuchen Sie die Perspektive des Erzählers im Hinblick auf das Geschehen und die handelnden Figuren. Wie definiert der Erzähler sich selbst? 3. Welche Rolle spielt die Geschäftswelt in der Erzählung? Vergleichen Sie dazu Franz Kafkas Prosaskizze «Eine alltägliche Verwirrung».

2.4.2. Robert Musil: Hasenkatastrophe (1936) Die Dame war gewiß erst am gestrigen Tag aus der Glasscheibe eines großen Geschäfts herausgetreten; niedlich war ihr Puppengesichtchen; man hätte mit einem Löffelchen darin umrühren mögen, um es in Bewegung zu sehn. Aber man trug selbst Schuhe mit honigglatten, wachswabendicken Sohlen zur Schau, und Beinkleider, wie mit Lineal und weißer Kreide entworfen. Man entzückte sich höchstens am Wind. Er preßte das Kleid an die Dame und machte ein jämmerliches kleines Gerippe aus ihr, ein dummes Gesichtchen mit einem ganz kleinen Mund. Dem Zuschauer machte er natürlich ein kühnes Gesicht. 36

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Kleine Hasen leben ahnungslos neben den weißen Bügelfalten und den teetassendünnen Röcken. Schwarzgrün wie Lorbeer dehnt sich der Heroismus der Insel um sie. Möwenscharen nisten in den Mulden der Heide wie Beete voll weißer Schneeblüten, die der Wind bewegt. Der kleine, weiße, langhaarige Terrier der kleinen, mit einem Pelzkragen geschmückten weißen Dame stöbert durch das Kraut, die Nase fingerbreit über der Erde: weit und breit ist auf dieser Insel kein anderer Hund zu wittern, nichts ist da als die ungeheure Romantik vieler kleiner, unbekannter, die Insel durchkreuzender Fährten. Riesengroß wird der Hund in dieser Einsamkeit, ein Held. Aufgeregt, messerscharf gibt er Laut, die Zähne blecken wie die eines Schneeungeheuers. Vergebens spitzt die Dame das Mündchen, um zu pfeifen; der Wind reißt ihr das kleine Schällchen, das sie hervorbringen möchte, von den Lippen. Mit solch einem stichligen Fox habe ich schon Gletscherwege gemacht; wir Menschen glatt auf den Skiern, er blutend, bis zum Bauch einbrechend, vom Eis zerschnitten, und dennoch voll wilder, nie ermattender Seligkeit. Jetzt hat dieser hier etwas aufgespürt; die Beine galoppieren wie Hölzchen, der Laut wird ein Schluchzen. Merkwürdig ist an diesem Augenblick, wie sehr solche flach auf dem Meer schwebende Insel an die großen Kare und Tafeln im Hochgebirge erinnert. Die schädelgelben, vom Wind geglätteten Dünen sind wie Felsenkränze aufgesetzt. Zwischen ihnen und dem Himmel ist die Leere der unvollendeten Schöpfung. Licht leuchtet nicht über dies und das, sondern schwammt wie aus einem versehentlich umgestoßenen Eimer über alles. Man ist jedesmal erstaunt, daß Tiere diese Einsamkeit bewohnen. Sie gewinnen etwas Geheimnisvolles; ihre kleinen weichwolligen und -fedrigen Brüste bergen den Funken des Lebens. Es ist ein kleiner Hase, den der Fox vor sich hertreibt. Ich denke: eine kleine, wetterharte Bergart, nie wird er ihn erreichen. Eine Erinnerung aus der Geographiestunde wird lebendig: Insel - eigentlich stehen wir da auf der Kuppe eines hohen Meerbergs? Wir, zehn bis fünfzehn lungernd zusehende Badegäste in farbigen Tollhausjacken, wie sie die Mode vorschreibt. Ich ändere meinen Gedanken noch einmal ab und sage mir, das Gemeinsame wäre nur die unmenschliche Verlassenheit: Verstört wie ein Pferd, das den Reiter abgeworfen hat, ist die Erde überall dort, wo der Mensch in der Minderheit bleibt: ja, gar nicht gesund, sondern wahrhaft geisteskrank erweist sich die Natur im Hochgebirge und auf kleinen Inseln. Aber zu unserem Erstaunen hat sich die Entfernung zwischen dem Hund und dem Hasen verringert: der Fox holt auf, man hat so etwas noch nie gesehen, ein Hund, der den Hasen einholt! Das wird der erste große Triumph der Hundewelt! Begeisterung beflügelt den Verfolger, sein Atem jauchzt in Stößen, es ist keine Frage mehr, daß er binnen wenigen Sekunden seine Beute eingeholt haben wird. Da schlägt der Hase den Haken. Und da erkenne ich an etwas Weichem, weil der harte Riß diesem Haken fehlt, es ist kein Hase, es ist nur ein Häschen, ein Hasenkind. Ich fühle mein Herz: der Hund hat beigedreht; er hat nicht mehr als fünfzehn Schritte verloren: in wenigen Augenblicken ist die Hasenkatastrophe da. Das Kind hört den Verfolger hinter dem Schweifchen, es ist müde. Ich will dazwischenspringen, aber es dauert so lange, bis der Wille hinter den Bügelfalten in die glatten Sohlen fährt; oder vielleicht war der Widerstand schon im Kopf. Zwanzig Schritte vor mir – ich müßte phantasiert haben, wenn das Häschen nicht verzagt stehen blieb und seinen Nacken dem Verfolger hinhielt. Der schlug seine Zähne hinein, schleuderte es ein paarmal hin und her, dann warf er es auf die Seite und grub sein Maul zwei-, dreimal in Brust und Bauch. Ich sah auf. Lachende, erhitzte Gesichter standen umher. Es war plötzlich wie vier Uhr morgens geworden nach durchtanzter Nacht. Der erste von uns, der aus dem Blutrausch erwachte, war der kleine Fox. Er ließ ab, schielte mißtrauisch zur Seite, zog sich zurück; nach wenigen Schritten fiel er in kurzen, eingezogenen Galopp, als erwarte er, daß ihm ein Stein nachfliegen werde. Wir andern aber waren bewegungslos und verlegen. Eine schale Atmosphäre menschenfresserischer Worte umgab uns, wie «Kampf ums Dasein» oder «Grausamkeit der Natur». Solche Gedanken sind wie die Untiefen eines Meeresbodens, aus ungeheurer Tiefe emporgestiegen und seicht. Am liebsten wäre ich zurückgegangen und hätte die sinnlose kleine Dame geschlagen. Das war eine aufrichtige Empfindung, aber keine gute, und so schwieg ich und fiel damit in das allgemeine, unsichere, sich nun bildende Schweigen ein. Endlich nahm ein hochgewachsener, behaglicher Herr aber den Hasen in beide Hände, zeigte seine Wunden den Hinzugetretenen und trug die dem Hund abgejagte Leiche wie einen kleinen Sarg in die Küche des nahen Hotels. Dieser Mann stieg als erster aus dem Unergründlichen und hatte den festen Boden Europas unter den Füßen. l. Beschreiben Sie Ihre Reaktion beim Lesen der Geschichte. Charakterisieren Sie die Erzählsituation. Welche Haltung nimmt der Ich-Erzähler gegenüber der erzählten Wirklichkeit ein ? 2. Untersuchen Sie die sprachliche Gestaltung des Textes. Welche Funktion kommt der nahezu «wissenschaftlichen» Genauigkeit der Beobachtungen und Eindrücke des Erzählers zu ? 3. Die Erzählsituation der Ich-Erzählung kann verschiedene Strukturmerkmale und Intentionen aufweisen. Versuchen Sie, anhand mehrerer Textbeispiele unterschiedliche Möglichkeiten der Ich-Erzählung aufzuzeigen.

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2.4.3. Heinrich Böll: An der Brücke Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann: ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken. Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, um so mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke... Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich es verstehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken. Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschlagen und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt an, manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Großzügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen. Sie sind ja so glücklich! Sie reißen mir förmlich das Ergebnis jedesmal aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht was. Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute über die Brücke gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden. Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre Spezialität – und doch, es tut mir leid, daß alles nicht stimmt... Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt – und sie kommt zweimal am Tage –, dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. Diese zwei Minuten gehören mir, mir ganz allein, und ich lasse sie mir nicht nehmen. Und auch wenn sie abends wieder zurückkommt aus ihrer Eisdiele, wenn sie auf der anderen Seite des Gehsteiges meinen stummen Mund passiert, der zählen, zählen muß, dann setzt mein Herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist. Und alle, die das Glück haben, in diesen Minuten vor meinen blinden Augen zu defilieren, gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik ein: Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden... Es ist klar, daß ich sie liebe. Aber sie weiß nichts davon, und ich möchte auch nicht, daß sie es erfährt. Sie soll nicht ahnen, auf welche ungeheure Weise sie alle Berechnungen über den Haufen wirft, und ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren langen braunen Haaren und den zarten Füßen in ihre Eisdiele marschieren, und sie soll viel Trinkgeld bekommen. Ich liebe sie. Es ist ganz klar, daß ich sie liebe. Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel, der auf der anderen Seite sitzt und die Autos zählen muß, hat mich früh genug gewarnt, und ich habe höllisch aufgepaßt. Ich habe gezählt wie verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. Der Oberstatistiker selbst hat sich drüben auf die andere Seite gestellt und hat später das Ergebnis einer Stunde mit meinem Stundenplan verglichen. Ich hatte nur einen weniger als er. Meine kleine Geliebte war vorbeigekommen, und niemals im Leben werde ich dieses hübsche Kind ins zweite Futur transponieren lassen, diese meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und dividiert und in ein prozentuales Nichts verwandelt werden. Mein Herz hat mir geblutet, daß ich zählen mußte, ohne ihr nachsehen zu können, und dem Kumpel drüben, der die Autos zählen muß, bin ich sehr dankbar gewesen. Es ging ja glatt um meine Existenz. Der Oberstatistiker hat mir auf die Schulter geklopft und hat gesagt, daß ich gut bin, zuverlässig und treu. «Eins in der Stunde verzählt», hat er gesagt, «macht nicht viel. Wir zählen sowieso einen gewissen prozentualen Verschleiß hinzu. Ich werde beantragen, daß Sie zu den Pferdewagen versetzt werden». Pferdewagen ist natürlich die Masche. Pferdewagen ist ein Lenz wie nie zuvor. Pferdewagen gibt es höchstens fünfundzwanzig am Tage, und alle halbe Stunde einmal in seinem Gehirn die nächste Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz! Pferdewagen wäre herrlich. Zwischen vier und acht dürfen überhaupt keine Pferdewagen über die Brücke, und ich könnte spazierengehen oder in die Eisdiele, könnte sie mir lange anschauen oder sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine ungezählte Geliebte...

2.4.4. Gabriele Wohmann: Die Klavierstunde Das hatte jetzt alles keine Beziehung zu ihm: die flackernden Sonnenkleckse auf dem Kiesweg, das Zittern des Birkenlaubs; die schläfrige Hitze zwischen den Hauswänden im breiten Schacht der Straße. Er ging da hindurch (es war höchstens eine feindselige Beziehung) mit hartnäckigen kleinen Schritten. Ab 38

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und zu blieb er stehen und fand in sich die fürchterliche Möglichkeit, umzukehren, nicht hinzugehen. Sein Mund trocken vor Angst: er könnte wirklich so etwas tun. Er war allein; niemand der ihn bewachte. Er könnte es tun. Gleichgültig, was daraus entstünde. Er hielt still, sah finster geradeaus und saugte Spucke tief aus der Kehle. Er brauchte nicht hinzugehen, er könnte sich widersetzen. Die eine Stunde möglicher Freiheit wog schwerer als die mögliche Unfreiheit eines ganzen Nachmittags. Erstrebenswert: der ungleiche Tauschhandel; das einzig Erstrebenswerte jetzt in dieser Minute. Er tat so, als bemerke er nichts davon, daß er weiterging, stellte sich überrascht, ungläubig. Die Beine trugen ihn fort, und er leugnete vor sich selbst den Befehl ab, der das bewirkte und den er gegeben hatte. Gähnend, seufzend, streckte sie die knochigen Arme, ballte die sehr dünnen Hände zu Fäusten: sie lag auf der Chaiselongue. Dann griff die rechte Hand tastend an die Wand, fand den Bilderrahmen, in dem der Stundenplan steckte: holte ihn, hielt ihn vor die tränenden Augen. Owehowehoweh. Die Hand bewahrte den saubergeschriebenen Plan wieder zwischen Bild und Rahmen auf: müde, renitent hob sich der Oberkörper von den warmen Kissenmulden. Owehowehoweh. Sie stand auf; empfand leichten Schwindel, hämmernde Leere hinter der faltigen Stirnwand; setzte sich wieder, den nassen Blick starr, freudlos auf das schwarze Klavier gerichtet. Auf einem imaginären Bildschirm hinter den Augen sah sie den Deckel hochklappen. Notenhefte sich voreinanderschieben auf dem Ständer; verschwitzte Knabenfinger drückten fest und gefühllos auf die gelblichen Tasten, die abgegriffenen; erzeugten keinen Ton. Eins zwei drei vier, eins zwei drei vier. Der glitzernde Zeiger des Metronoms pendelte beharrlich und stumm von einer auf die andere Seite seines düsteren Gehäuses. Sie stand auf, löschte das ungerufene Bild. Mit der Handfläche stemmte sie das Gewicht ihres Arms gegen die Stirn und schob die lappige lose Haut in die Höhe bis zum Haaransatz. Owehoweh. Sie entzifferte die verworrene Schrift auf dem Reklameband, das sich durchs Halbdunkel ihres Bewußtseins schob: Kopfschmerzen. Unerträgliche. Ihn wegschicken. Etwas Lebendigkeit kehrte in sie zurück. Im Schlafzimmer fuhr sie mit dem kalten Waschlappen über ihr Gesicht. Brauchte nicht hinzugehen. Einfach wegbleiben. Die Umgebung wurde vertraut: ein Platz für Aktivität. Er blieb stehen, stellte die schwere Mappe mit den Noten zwischen die Beine, die Schuhe klemmten sie fest. Ein Kind rollerte vorbei: die kleinen Räder quietschten; die abstoßende Ledersohle kratzte den Kies. Nicht hingehen, die Mappe loswerden und nicht hingehen. Er wußte, daß er nur die Mappe loszuwerden brauchte. Das glatte warme Holz einer Rollerlenkstange in den Händen haben. Die Mappe ins Gebüsch schleudern und einen Stein in die Hand nehmen oder einen Zweig abreißen und ihn tragen, ein Baumblatt mit den Fingern zerpflücken und den Geruch von Seife wegbekommen. Sie deckte den einmal gefalteten Waschlappen auf die Stirn und legte den Kopf, auf dem Bettrand saß sie, weit zurück, bog den Hals. Nochmal von vorne. Und eins und zwei und eins. Die schwarze Taste, b, mein Junge. Das hellbeschriftete Reklameband erleuchtete die dämmrigen Bewußtseinskammern: Kopfschmerzen. Ihn wegschicken. Sie saß ganz still, das nasse Tuch beschwichtigte die Stirn: sie las den hoffnungsweckenden Slogan. Feucht und hart der Lederhenkel in seiner Hand. Schwer zerrte das Gewicht der Hefte: jede einzelne Note hemmte seine kurzen Vorwärtsbewegungen. Fremde Wirklichkeit der Sonne, die aus den Wolkenflocken zuckte, durch die Laubdächer flackerte, abstrakte Muster auf den Kies warf, zitterndes Gesprenkel. Ein Kind; eine Frau, die bunte Päckchen im tiefhängenden Netz trug; ein Mann auf dem Fahrrad. Er lebte nicht mit ihnen. Der Lappen hatte sich an der Glut ihrer Stirn erwärmt: und nicht mehr tropfig hörte er auf, wohl zu tun. Sie stellte sich vor den Spiegel, ordnete die grauen Haarfetzen. Im Ohr hämmerte der jetzt auch akustisch wirkende Slogan. Die Mappe loswerden. Einfach nicht hingehen. Seine Beine trugen ihn langsam, mechanisch in die Nähe der efeubeklecksten Villa. Kopfschmerzen, unerträgliche. Sie klappte den schwarzen Deckel hoch: rückte ein verblichenes Foto auf dem Klaviersims zurecht; kratzte mit dem Zeigefingernagel ein trübes Klümpchen unter dem Daumennagel hervor. Hinter dem verschnörkelten Eisengitter gediehen unfarbige leblose Blumen auf winzigen Rondellen, akkuraten Rabatten. Er begriff, daß er sie nie wie wirkliche Pflanzen sehen würde. Auf den dunklen steifen Stuhl mit dem Lederpolster legte sie das grüne, schwachgemusterte Kissen, das harte, platte. Sah auf dem imaginären Bildschirm die länglichen Dellen, die seine nackten Beine zurückließen. Einfach nicht hingehen. Das Eisentor öffnete sich mit jammerndem Kreischlaut in den Angeln. Kopfschmerzen, unerträgliche. Wegschicken. Widerlicher kleiner Kerl. Die Mappe loswerden, nicht hingehen. Widerliche alte Tante. Sie strich mit den Fingern über die Stirn. Die Klingel zerriß die Leuchtschrift, übertönte die Lockworte. «Guten Tag», sagte er. «Guten Tag», sagte sie. Seine (von wem nur gelenkten?) Beine tappten über den dunklen Gang: seine Hand fand den messingnen Türgriff. Sie folgte ihm und sah die nackten braunen Beine platt und breit werden auf dem grünen Kissen: sah die geschrubbten Hände Hefte aus der Mappe holen, sie auf dem Ständer übereinanderschieben. Schrecken in den Augen. Angst vibrierte im 39

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Hals. Sie öffnete das Aufgabenbuch, las: erinnerte mit dem (von wem nur gelöschten?) Bewußtsein. Eins zwei drei vier. Töne erzeugten seine steifen Finger; das Metronom tickte laut und humorlos. l. Geben Sie Ihr erstes Verständnis der zwei Geschichten wieder, und tauschen Sie sich darüber in der Lerngruppe aus. Bei welcher Geschichte stimmen Sie am weitesten überein, bei welcher ergeben sich die größten Differenzen ? Wie erklären Sie die Unterschiede? 2. Untersuchen Sie in genauen Textanalysen, wie in den Geschichten erzählt wird und wie sich Ihr Verstehen durch die Gestaltung des Erzählens entwickelt. Wichtige Strukturmerkmale epischer Texte sind Ihnen schon bekannt (Autor – Erzähler – Erzählsituation; Geschehen – Geschichte – Fabel; Raumund Zeitgestaltung; Darbietungsformen ). 3. Untersuchen Sie an einer Reihe von Geschichten, wie sich Thematik, Aussageabsicht und Darstellungsweise in der Reaktion auf die Zeit, in der sie entstanden sind, ausprägen.

2.4.5. Gabriele Wohmann: Flitterwochen, dritter Tag Reinhard am dritten Tag gegen fünf, auf der Bierkneipenterrasse: du wirst deine Arbeit aufgeben. Du wirst einfach kündigen. Es war fast windstill, die Luft feucht. Ich kam aber nicht ganz dahinter, ob es mir richtig behagte. Ich starrte immer weiter den Mann mit der Warze an. Reinhard hob sein Glas, trank mir zu, mit irgendeinem Trinkspruch auf unsere Zukunft. Die Warze sah wie ein Polyp aus. Reinhard schlug vor, so wie jetzt an der See auch später regelmäßig abends spazierenzugehen. Ja. Warum nicht? Schließlich: die Wohnung mit ihrer günstigen Lage. Unterm Hemd würde die Warze sich auch bemerkbar machen. Sie war mehr als einen Zentimeter lang. Seitlich vom Schlüsselbein stand sie senkrecht ab. Prost, Schatz, Cheerio! Vielleicht, bei diesem Unmaß, hieß das nicht mehr Warze, was ich immer noch anstarrte. Liebling, he! Wir sind getraut! Du und ich, wir zwei – was man sich so zunuschelt kurz nach der Hochzeit. Reinhards Lieblingsgerichte, dann meine. Durch die Fangarme sah die Warze einer Narrenkappe ähnlich. Die Wohnung werden wir nach deinem Geschmack einrichten; der Garten – bloß Wildnis. Tee von Reinhards Teegroßhändler. Nett, so einig zu sein. Abwegiges Grau der See, und mein zweites Glas leer. Die Oberfläche der Warze war körnig, wie die Haut auf Hühnerbeinen. Reinhard hat noch zwei Stella Artois bestellt, ich fühlte nun doch ziemlich genau, daß es mir zusagte, das Ganze, Bier, diese Witterung, dies bemerkenswerte Meer und unser Gerede über alles, zum Beispiel: Hauptsache, du bist dein blödes Büro los. Das schrundige Ding auf der Schulter, erstarrtes Feuerwerk, stand nicht zur Debatte. Reinhard schützte wiedermal ein Schiff vor und starrte durchs Fernglas runter auf den Strand. Gewitter stand unmittelbar bevor, unser Zusammenleben auch, auch Abendspaziergänge, Teebestellungen, Leib-gerichte, die Warze war immer noch sichtbar nun unterm Hemd, das der Mann anzog. Antonio Gaudi hätte sie geträumt haben können. Reinhard redete, und ich habe eine zeitlang nicht zugehört, weil ich - ich hätte schon ganz gern gewußt, ob das nicht wehtat, wenn mehr als nur ein Hemd auf die Warze Druck ausübte. Organisation. Schatz, sagte Reinhard, und er ist nicht nur billiger bei diesem Großhändler, es ist einfach besserer Tee. Weitere Stella Artois,die Schwüle war mir recht, das Meer lieb und wert, egal Reinhards Seitensprünge durchs Fernglas. Die leicht bekleidete Krake, der vertrauliche Vielfuß, Verruca die Warze. Freust du dich, Schatz? Reinhard war mir jetzt näher. Auf alles, Schatz? Und was man so sagt. Es war nett. Der Mann mit der neukatalanischen Warze bezahlte. Dann verstaute er sein Fernglas in einem etwas abgeschabten Lederetui. Er stand auf. Da stand auch ich auf. Der Mann mit der Warze bahnte sich den besten Weg zwischen den Korbsesseln. Ich hinterher. Er brauchte nicht weiter auf mich zu warten, ich habe kaum gezögert, er wartete, wieder mir zugekehrt, die Warze, das Wappen, er wartete, Reinhard wartete, mein Mann mit der Warze. Beschreiben Sie möglichst genau die Erzählstruktur, und entfalten Sie von daher Ihr Textverständnis.

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LITERATURVERZEICHNIS 1. Arnold, Heinz Ludwig: Autorenlesungen 1. 4. Aktualisierte Auflage. Inter Nationes, Bonn 1997. 2. Best, Otto F.: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Fischer Handbücher. Fischer Taschenbuch Verlag Gmbh,Frankfurt am Main, überarbeitete und erweiterte Ausgabe 1982. 3. Borchert, Wolfgang: Draussen vor der Tür. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg 1986. 4. Braak Ivo: Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung. 6.,überarbeitete und erweiterte Auflage. Verlag Ferdinand Hirt, Kiel 1980. 5. Ehlers, Swantje: Lesen als Verstehen. Zum Verstehen fremdsprachlicher literarischer Texte und zu ihrer Didaktik. Fernstudieneinheit 2. 1. Auflage. Langenscheidt, Berlin, München, Wien, Zürich, New York 1992. 6. Häussermann / D' Alessio / Günter / Kaminski: Literaturkurs Deutsch. 1. Auflage. Diesterweg, Sauerländer, Frankfurt am Main, Aarau 1987. 7. Interpretationen moderner Kurzgeschichten,Hrsg. v. der Fachgruppe Deutsch – Geschichte im Bayer. Philologenverband . Moritz Diesterweg Verlag, Frankfurt am Main 1970. 8. Interpretationen zu «Erzählungen der Gegenwart I-IV». Schulpraktische Analysen und Unterrichtshilfen von Doris Bachmann,... . 2. Auflage. Hirschgraben-Verlag, Frankfurt am Main 1976. 9. Saxer, Robert / Kuri, Sonja : Arbeit mit Texten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Projektgruppe «Zeit für Deutsch», Universität Klagenfurt 1992. 10. Sowinski, Bernhard: Deutsche Stilistik. Beobachtungen zur Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Deutsch. Fischer Handbücher. Überarbeitete Ausgabe. Fischer Taschenbuchverlag GmbH., Frankfurt am Main 1978. 11. Weber, Hans: Vorschläge 1. Literarische Texte für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. 4.Auflage. Inter Nationes, Bonn 1995.

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INHALT 1. LITERARISCHE TEXTE: LESEN UND VERSTEHEN................ 1.1. Wolfgang Borchert. Das Brot ............................................... 1.2. Marie Luise Kaschnitz. Christine .......................................... 1.3. Siegfried Lenz. Die grosse Konferenz ................................. 1.4. Ilse Aichinger. Das Fenster-Theater .................................... 1.5. Wolfgang Hildesheimer. Eine grössere Anschaffung .......... 1.6. Peter Bichsel. Die Tochter ...................................................

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2. STUDIENPRAKTISCHE ANALYSEN UND SEMINARHILFEN .................................................................. 2.1. Wolfgang Borchert. Das Brot. Analyse ................................ 2.2. Marie Luise Kaschnitz. Christine. Analyse ........................... 2.3. Interpretationshilfen .............................................................. 2.3.1. Siegfried Lenz. Die große Konferenz......................... 2.3.2. Ilse Aichinger. Das Fenster-Theater .......................... 2.3.3. Wolfgang Hildesheimer. Eine größere Anschaffung...... 2.3.4. Peter Bichsel. Die Tochter ......................................... 2.4. Erzählbeispiele: Kurzgeschichten ........................................ 2.4.1. F. Kafka. Der Nachbar ............................................... 2.4.2. R. Musil. Hasenkatastrophe ....................................... 2.4.3. H. Böll. An der Brücke................................................ 2.4.4. G. Wohmann. Die Klavierstunde ............................... 2.4.5. G. Wohmann. Flitterwochen, dritter Tag ....................

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