Das Lesen als Handlung: Eine Ästhetik 9783839453506

Lesen ist ein performativer Akt, es findet im Vollzug statt. Sarah Reuss untersucht am Beispiel dieser alltäglichen Hand

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German Pages 304 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Philosophische Grundlagen
2.1 Vollzug statt Performanz
2.2 Phänomenologie und Hermeneutik
2.3 Das Vollzugsdenken
2.4 Zeit und Raum bei Heidegger
2.5 Fundierung: Kontinuität zwischen Heidegger und Gadamer
2.6 Selbst- und Fremdbezug des Verstehens
2.7 Verborgenheit der Wahrheit/Nicht-Verstehen
2.8 Heideggers Kunstwerk-Aufsatz
2.9 Zusammenfassung: Menschliches Verstehen als Vollzug
3. Die aktuelle ästhetische Diskussion
3.1 Das Verhältnis von Kunstwerk und ästhetischem Vollzug
3.2 Drei Paradigmen des ästhetischen Vollzugs
4. Ästhetische Vollzüge
4.1 Fundierung: Ästhetische Einstellung
4.2 Ästhetische Wahrnehmung
4.3 Ästhetische Erfahrung
4.4 Ästhetische Emotion
5. Ästhetische Vollzüge und Literatur
5.1 Lesen als Gesamtvollzug
5.2 Zeiträumlichkeit sprachlichen Sinns
5.3 Fremdbezug: Eigenzeit des Texts
5.4 Fremdbezug: Eigenraum des Texts
5.5 Selbstbezug: Entrückung in den Text
5.6 Selbstbezug: Gesamtsinnesorganisation des Lesens
5.7 Fundierung: Kritik an Iser
5.8 Fundierung: Kritik an Ingardens Ästhetik
5.9 Fundierung: Kritik an der kognitionswissenschaftlichen Leseforschung
6. Wahrnehmung versus Reflexion
Einleitung
6.1 Fundierung: Fiktionalität
6.2 Zu einer ›realistischen Haltung‹
Literaturverzeichnis
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Das Lesen als Handlung: Eine Ästhetik
 9783839453506

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Sarah Reuss Das Lesen als Handlung

Literaturtheorie  | Band 1

Meinen Eltern

Sarah Reuss, geb. 1985, arbeitet als Gymnasiallehrerin und promovierte am Deutschen Seminar der Leibniz-Universität Hannover. Sie forscht zur performativen Literaturdidaktik und -wissenschaft mit den Schwerpunkten Ästhetik, Lesen und Narratologie.

Sarah Reuss

Das Lesen als Handlung Eine Ästhetik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5350-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5350-6 https://doi.org/10.14361/9783839453506 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.

Einleitung..................................................................... 7

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Philosophische Grundlagen ................................................... 17 Vollzug statt Performanz....................................................... 18 Phänomenologie und Hermeneutik ............................................ 25 Das Vollzugsdenken........................................................... 29 Zeit und Raum bei Heidegger.................................................. 38 2.4.1 Formal leere Ausdrücke in Sein und Zeit ................................ 38 2.4.2 Räumlichkeit in Sein und Zeit........................................... 50 2.4.3 Heideggers Kehre?..................................................... 52 2.4.4 Heideggers Zeit-Raum ................................................. 55 Fundierung: Kontinuität zwischen Heidegger und Gadamer..................... 63 Selbst- und Fremdbezug des Verstehens ...................................... 66 2.6.1 Der Selbstbezug des Verstehens als Wahrnehmung ..................... 72 2.6.2 Der Fremdbezug des Verstehens als Präsentation ...................... 78 Verborgenheit der Wahrheit/Nicht-Verstehen ................................... 81 Heideggers Kunstwerk-Aufsatz ............................................... 85 2.8.1 Heideggers Streit von Welt und Erde.................................... 85 2.8.2 Fundierung: Materialität ............................................... 98 Zusammenfassung: Menschliches Verstehen als Vollzug ...................... 100

2.5 2.6

2.7 2.8

2.9

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion ........................................ 105 3.1 Das Verhältnis von Kunstwerk und ästhetischem Vollzug ..................... 105 3.2 Drei Paradigmen des ästhetischen Vollzugs ...................................107 3.2.1 Hermeneutische und vollzugsmäßige Ästhetik ......................... 108 3.2.2 Nichthermeneutische Ästhetik ........................................ 109 3.2.3 Fundierung: Erlebnis................................................... 114 3.2.4 Metaisierende Ästhetik ................................................ 116

4. Ästhetische Vollzüge........................................................ 123 4.1 Fundierung: Ästhetische Einstellung ......................................... 123 4.2 Ästhetische Wahrnehmung .................................................. 125 4.2.1 Fremd- und Selbstbezug der ästhetischen Wahrnehmung .............. 126 4.2.2 Zeitlichkeit und Räumlichkeit der ästhetischen Wahrnehmung .......... 131 4.3 Ästhetische Erfahrung ....................................................... 133 4.3.1 Drei Konzepte zur ästhetischen Erfahrung............................. 133 4.3.2 Die Teilvollzüge der ästhetischen Erfahrung ........................... 138 4.4 Ästhetische Emotion......................................................... 139 5. 5.1 5.2 5.3 5.4

5.5 5.6

5.7 5.8 5.9

Ästhetische Vollzüge und Literatur .......................................... 147 Lesen als Gesamtvollzug ...................................................... 147 Zeiträumlichkeit sprachlichen Sinns ......................................... 150 Fremdbezug: Eigenzeit des Texts............................................. 156 Fremdbezug: Eigenraum des Texts ........................................... 158 5.4.1 Die Sprachlichkeit des Texts .......................................... 158 5.4.2 Schrift und Sprachlaut im Text ......................................... 161 5.4.3 Digitalität und Analogizität im Text .................................... 162 Selbstbezug: Entrückung in den Text ......................................... 164 Selbstbezug: Gesamtsinnesorganisation des Lesens .......................... 173 5.6.1 Modalbereiche des Lesens ............................................ 173 5.6.2 Bedeutungsschichten der Textwahrnehmung ........................... 177 5.6.3 Basale Schriftwahrnehmung ........................................... 179 5.6.4 Wahrnehmung des Sprachlauts ....................................... 194 5.6.5 Wahrnehmung von Akzent und Rhythmus.............................. 202 5.6.6 Komplexe Schriftwahrnehmung oder Anschauung ..................... 235 Fundierung: Kritik an Iser .................................................... 252 Fundierung: Kritik an Ingardens Ästhetik ..................................... 257 Fundierung: Kritik an der kognitionswissenschaftlichen Leseforschung ........261

6. Wahrnehmung versus Reflexion ............................................ 269 6.1 Fundierung: Fiktionalität ..................................................... 276 6.2 Zu einer ›realistischen Haltung‹.............................................. 283 Literaturverzeichnis.............................................................. 287

1. Einleitung

Was der Literaturwissenschaft heute fehlt, ist der Mut zu einer »realistischen Haltung«1 . So lautet eine Diagnose von Dieter Thomä, die 2015 in einem Sonderheft der Deutschen Vierteljahresschrift zur Lage der Literaturwissenschaft, also an durchaus prominenter Stelle, erscheint. Der mangelnde Realismus stellt dabei eine Grundhaltung dar, die die Germanistik, ursprünglich in verdienstvoller Absicht, gegenüber Teilen der Naturwissenschaften und Ökonomie ins Feld führte, um die Eigenlogik von Literatur und Sprache vor der Beherrschung und Dienstbarmachung zu retten. Die Legitimation dafür lieferte eine konstruktivistische Einsicht, nach der die Wahrheit dieser Welt nicht an sich zugänglich sei, es also immer mehr zu erfahren gäbe, als der Wunsch nach Verwertbarkeit uns glauben macht. Allerdings wird mit dieser Annahme jegliche Erfahrung zu einer ›Erfahrung‹ und Literatur zu etwas Fiktionalem, das auf ›Wirklichkeit‹ nur noch über Umwege ›referiert‹.2 Thomä sieht in der literaturwissenschaftlichen Forschung einen solchen »Fetischismus der Anführungszeichen«3 am Werk, der jegliche interpretative Leistung einklammert und damit die Befürchtung nährt, »zu drängenden Weltproblemen wie Hunger und Terror nicht viel zu sagen zu haben«4 . Statt wirksame Positionen zu beziehen, so lässt sich zusammenfassen, begnügt sich die Literaturwissenschaft also eher mit der Bedingung der Möglichkeit von Positionen. Gebraucht wird deswegen ein Neuanfang, der sich nicht davor scheut, so Thomä, »ins ontologische Dickicht von Theorien der Welt, der

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Dieter Thomä: Der Text zwischen Performanz und Referenz. Ein philosophischer Holzschnitt zur Lage der Literaturwissenschaft, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 544-553, hier: S. 551. Vgl. ebd., S. 546. Ebd., S. 547. Amüsanterweise zeigte das Logo des Germanistentags 2013 ein Paar Anführungszeichen. Ebd., S. 550f.

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Das Lesen als Handlung

Wirklichkeit, der Repräsentation und Fiktionalität hinein[zugeraten].«5 Mit anderen Worten: Um sich aus der theoretischen Selbstgeißelung zu befreien, bedarf es nicht eines Flickwerks an alten Modellen. Vielmehr muss versucht werden, alte und junge Fragen der Disziplin auf sehr grundlegende Art und Weise neu anzugehen.6 Notwendig wäre also eine »Literaturphilosophie« als Grundlagenforschung,7 die die ›realistische Haltung‹ der Literaturwissenschaft zurückgewinnt und dabei sowohl das produktive Misstrauen gegenüber vermeintlich objektiven Tatsachen bewahrt als auch »einen privilegierten Zugang zu matters of concern« wiederfindet. Einen Hinweis darauf, wo diese Grundlagenforschung ansetzen könnte, gibt Thomä ebenfalls. So rät er dazu, poststrukturalistische Positionen innerhalb der Literaturwissenschaft »aus der Verklammerung mit dem Konstruktivismus zu lösen«8 und so zu rehabilitieren. Unter den Schlagwörtern Performativität, Praxeologie, Praxistheorie oder auch Postfundamentalismus arbeiten sich die aktuellen Kultur- und Sozialwissenschaften bereits an einem vergleichbaren Projekt ab. Sie wagen sich in das Dickicht philosophischer Fundierung vor und bemühen dabei poststrukturalistische Grundlagen. Wichtige Vorläufer hierfür stellten Sprachphilosophie, Diskursanalyse und New Historicism der 1960er sowie Ethnologie, Theaterwissenschaft und die ältere deutsche Literaturwissenschaft der 1970er Jahre dar. Weitere Verbreitung fand diese insgesamt sehr vielgestaltige Form

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Ebd., S. 552. Wie fruchtbar ein solcher Schritt zurück zu den eigenen denkerischen Grundannahmen sein kann, hat beispielsweise die Bildwissenschaft vorgemacht, die für ganz unterschiedliche Disziplinen und Gegenstände einen gemeinsamen Theorierahmen zur Verfügung stellt. Zu den theoretischen Grundlagen der Bildtheorie vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; Gottfried Boehm (Hrsg:): Was ist ein Bild, München 1994; W. J. T. Mitchell: Picture Theory. Essays on verbal and visual representation, Chicago 1994; Horst Bredekamp: Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2015. Für eine Übersicht über verschiedene Positionen der Bildwissenschaft vgl. Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München 2007. Zum Dialog und zur Ausdifferenzierung der verschiedenen Positionen vgl. Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a.M. 2005; Wolfram Pichler, Ralph Ubl: Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014. Zum Begriff der Literaturphilosophie siehe Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeiten, Berlin 2015, S. 42. Dieter Thomä: Der Text zwischen Performanz und Referenz, S. 552, Herv. i.O.

1. Einleitung

des Weltzugangs dann seit den 1990ern in Dekonstruktion, Medientheorie, Genderstudies, Queer Theory sowie in wenigen Zweigen der neueren Literaturwissenschaft. Dabei zielen all diese Strömungen »auf ein Verständnis von Kultur als Handlung, als dynamischen Prozess ab, in dessen Rahmen kulturelle Ereignisse, aber auch Texte sich zunächst aus ihrem Vollzug, ihrer Konstituierung verstehen lassen und mit Handlungsmetaphern beschreibbar sind.«9 Wirklichkeit wird damit adressierbar, ohne sie zu objektivieren, also auf eine still gestellte Ansammlung objektiver Tatsachen zu reduzieren. Sie gilt als Bedeutungsgeflecht, das der Mensch durch sein Verstehen herstellt. Dagegen stellt sich die Frage nach einer ›dahinter liegenden, noch wirklicheren Wirklichkeit‹, die für den Menschen nicht zugänglich ist, erst gar nicht. Denn als wirklich gilt, worin der Mensch wirkt, das heißt handelt. Eine derartige Umorientierung innerhalb der Literaturwissenschaft bedeutet allerdings nicht nur die Übernahme neuer Denkgewohnheiten und Methoden. Sie schlägt sich notwendig auch in ihrer Gegenstandswahl nieder. So bedeutet eine performative Beschreibung von Texten doch letztlich, diese innerhalb der ihnen korrespondierenden Handlungen zu verstehen. Beispielsweise könnte eine performative Literaturwissenschaft ihren Ausgang also beim Lesen nehmen. Dieses Argument vertritt auch Erika Fischer-Lichte und bestimmt dieses als eine Wahrnehmungshandlung.10 Den Versuch einer konkreten und detaillierten Beschreibung der Teilhandlungen beim Lesen bleibt sie jedoch schuldig. Auf die Notwendigkeit, im Zusammenhang einer performativen Literaturwissenschaft auf das Lesen einzugehen, weist des Weiteren Elisabeth Strowick hin.11 Aber auch sie unternimmt keine systematische Beschreibung. Genauer gesagt wählt die Autorin für ihre Untersuchung sogar einen Zugriff (»Lesen als körperlich-geschlechtlicher Akt«12 ), der wesentliche Aspekte geradezu systematisch ausspart.13 Und auch im weite9

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Hans Rudolf Velten: Ältere deutsche Literatur, in: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Einführung in neue Theoriekonzepte, Hamburg 2002, S. 243-265, hier: S. 221. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 137f, 141. Vgl. Elisabeth Strowick: Sprechende Körper. Poetik der Ansteckung, München 2009, S. 10. Ebd., S. 115. Strowick nimmt eine Gleichsetzung von Körperlichkeit und Überschuss, Fehlgehen oder Misslingen vor (vgl. ebd., S. 116.). Dies führt schließlich dazu, dass sie eine Theorie des Lesens mit einer Theorie der Materialität gleichsetzt sowie durch diese ersetzen kann. (Vgl. S. 136.) Sie umgeht also systematisch die positive Beschreibung des Lesevollzugs. Bestenfalls geht es ihr um das Sich-Verlesen.

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Das Lesen als Handlung

ren Umfeld literatur- und kulturwissenschaftlicher Leseforschung wird man nicht näher fündig. Schwerpunktmäßig wird Lesen hier nämlich »als Kulturtechnik und soziale Praxis im historischen Wandel«14 untersucht, sodass allein aufgrund des Maßstabs der Fragestellung die eigentliche Handlung des Lesens als gegeben vorausgesetzt werden muss.15 Teilweise gibt es zwar Bezüge zu den detaillierteren, kognitionswissenschaftlichen Lesemodellen, allerdings werden dadurch auch die spezifischen Probleme dieser als objektive Wissenschaften arbeitenden Disziplinen mit ererbt. Sie verhindern darüber systematisch einen performativen Zugang zum Lesen. Ungebrochen erscheint zudem die Bezugnahme auf Wolfgang Isers Wirkungsästhetik16 , die aber ebenfalls nur eingeschränkt mit einem konsequent performativen Ansatz zu verbinden ist. Am kulturwissenschaftlichen Forschungsstand zum Lesen zeigt sich damit exemplarisch, was Martus und Spoerhase für die Literaturwissenschaft im Allgemeinen konstatieren, dass nämlich in der Selbstreflexion der Disziplin das Anwendungswissen vernachlässigt wird. Sei es, weil dieses gerade mit steigender Expertise immer schlechter sichtbar und schwieriger beschreibbar wird oder weil insbesondere literaturwissenschaftliches Handeln, darunter eben auch das Lesen, als für jeden bewältigbar und damit kaum beschreibungswürdig gilt. Dabei ist es gerade dieses Anwendungswissen, das die jeweiligen Wissenschaften zu dem macht, was sie sind – insbesondere in der Literaturwissenschaft, in der Handlung und Ergebnisdarstellung kaum voneinander zu trennen sind.17 14

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Ursula Rautenberg, Ute Schneider: Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 85-113, hier: S. 86. Das gleiche gilt für die sozialwissenschaftliche Leseforschung. Dort wird Lesen als gesellschaftlich eingebundener Vollzug auf der Mikro-Ebene vor allem in Bezug auf das Medium Buch und andere Printmedien erforscht. Es geht um das Besitzen, Kaufen, Schenken und Leihen von Büchern. Bestenfalls werden Lesemotivation oder die Verteilung bestimmter Lesestrategien untersucht. (Vgl. Heinz Bonfadelli: Sozial und kommunikationswissenschaftliche Ansätze, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 63-84, hier: S. 67, 69.) Dass der eigentliche Vollzug des Lesens tatsächlich nur von Neurowissenschaft und psychologischer Leseforschung untersucht wird, bestätigt auch: Jan Boelmann: Leseforschung, in: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik, Berlin, New York 2009, S. 309-321, hier: S. 310. Vgl. Ursula Rautenberg, Ute Schneider: Historisch-hermeneutische Ansätze der Leseund Leserforschung, S. 99f, 101f. Vgl. Steffen Martus, Carlo Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft, in: Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), S. 89-96, hier: 89f und Steffen Martus, Carlo

1. Einleitung

Der vorangegangene kurze Forschungsüberblick zeigt zweierlei: Einerseits fehlt es der Literaturwissenschaft an einer konsequenten performativen Orientierung, die ihr das Einnehmen einer ›realistischen Haltung‹ erlauben würde. Andererseits bzw. vermutlich gerade deswegen vernachlässigt sie die Reflexion ihrer eigenen Praxis. Die Bearbeitung beider Forschungslücken möchte ich in der vorliegenden Arbeit miteinander verknüpfen, indem ich eine konsequent performative Beschreibung des Lesens vornehme. Aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs muss ich mich dabei auf eine bestimmte Vollzugsweise, nämlich das ununterbrochene Lesen eines Texts bzw. Textabschnitts, konzentrieren. Zusätzlich werde ich fragen, wie sich dieses in Richtung eines ästhetischen Lesens erweitern lässt. Insgesamt nehme ich damit einen Lesebegriff an, der breit genug ist, um als Grundlage für die Beschreibung jeder denkbaren Vollzugsweise, wie der des eskapistischen, des informierenden, des kursorischen, des philologischen oder des Freizeitlesens, zu dienen. Denn performativ gedacht stellt sich ästhetisches Lesen nicht als ein völlig anderes, vom Alltag losgelöstes Lesen dar. Stattdessen steht es für eine besonders intensive Vollzugsweise der Handlungen, denen Leser in Alltag, Beruf oder Freizeit ohnehin nachgehen. Die Breite des angesetzten Lesebegriffs bringt es allerdings mit sich, dass nicht jede Ebene dieser Handlung mit gleicher Ausführlichkeit behandelt werden kann. Ziel ist es vielmehr, eine systematische Grundlegung zu entwickeln, auf der eine breite performative Leseforschung aufbauen kann. Exemplarisch erfolgt hier eine ausführliche performative Beschreibung des Entzifferns des Schriftbilds, des rhythmischen Lesens und der Anschauungsbildung. Für die Literaturwissenschaft von Bedeutung wäre sicherlich eine weitergehende Untersuchung des philologischen Lesens.18 Dazu müssten einige der von mir beschriebenen Teilhandlungen fokussiert sowie andere ergänzt werden.19 Neben einer Praxeologie der Lite-

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Spoerhase: Die Quellen der Praxis. Probleme einer historischen Praxeologie der Philologie, in: Zeitschrift für Germanistik 2 (2013) S. 221-225, hier: S. 222-224. Für erste Überlegungen zum philologischen Lesen im Zusammenhang einer Praxeologie der Literaturwissenschaft vgl. Carlo Spoerhase: Gegen Denken? Über die Praxis der Philologie, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 637-646. Hier stimme ich mit Roman Ingarden überein, der ebenfalls davon ausgeht, dass ein Literaturwissenschaftler einen literarischen Text immer auch ästhetisch lesen muss, um sich ihm wissenschaftlich zu nähern. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S. 172.) Für weitergehende Überlegungen zum philologischen Lesen vgl. ebd., §20, §21, §27, §28, §29.

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Das Lesen als Handlung

raturwissenschaft gibt es jedoch auch noch einen weiteren Anwendungsbereich für eine Beschreibung des Lesens. Dieser liegt in der Literaturdidaktik. So basieren weite Teile der schulischen und außerschulischen Vermittlung von Literatur ebenfalls auf Lesehandlungen. Je durchsichtiger diese für Lehrkräfte sind, desto gezielter können die Teilhandlungen der Schülerinnen und Schüler beim Leseerwerb unterstützt werden. In der Literaturdidaktik schließt die Arbeit insofern ein Desiderat, als es ebenfalls kein performatives Modell des Lesens20 sowie keine ausführlichen, geschweige denn performativen Beschreibungen ästhetischen Verstehens bzw. ästhetischer Erfahrung21 gibt. Bei der Entwicklung konsequent performativer Begriffe stütze ich mich in dieser Arbeit schwerpunktmäßig auf Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Zumindest für die kulturwissenschaftliche Performativitätsforschung 20

21

Siehe dazu z.B. Cornelia Rosebrock, Daniel Nix: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung, Hohengehren 2008. Die Monographie widmet sich der wichtigen Aufgabe, spezifischen Leseschwächen auch eine spezifische Förderung zukommen zu lassen. Dazu setzen die Autoren ein LesekompetenzKonstrukt voraus, das sich zwar von den kognitionspsychologischen Lesetheorien im engeren Sinne absetzen möchte, das in seinem Zentrum aber immer noch von kognitiven Modellen beherrscht wird. (Vgl. S. 11.) Dieses Desiderat stellt auch eine der jüngsten Bemühungen um diesen Themenbereich, nämlich das Forschungsprojekt Ästhetische Erfahrung von SchülerInnen im Literaturunterricht unter der Leitung von Marion Bönnighausen an der Wilhelms-Universität Münster fest. Für einen kurzen Überblick über den in dem Projekt vorausgesetzten Begriff von ästhetischer Erfahrung vgl. Marion Bönninghausen, Jennifer Hankeln, Ilonka Zimmer: Ästhetische Erfahrung und kritische Reflexion im Deutschunterricht, in: Christian Dawidowski, Dieter Wrobel (Hg.): Kritik und Kompetenz. Die Praxis des Literaturunterrichts im gesellschaftlichen Kontext, Baltmannsweiler 2013, S. 61-77, hier: S. 69f. Das Projekt erstellt kein eigenes Konzept ästhetischer Erfahrung, sondern entlehnt dieses bei Georg W. Bertram. Zudem wird ästhetische Erfahrung wesentlich als Erfahrung des Scheiterns gedacht. (Vgl. ebd., S. 62, 69) Damit handelt es sich nicht um ein konsequent performatives Konzept. – Ein Forschungsüberblick von Abraham zeigt ein ähnliches Ergebnis: So beruhe der Begriff der ästhetischen Erfahrung innerhalb der Literaturdidaktik auf einem Form-Inhalts-Dualismus. Weiterhin setzt Abraham selbst zwar auf die Prozesshaftigkeit ästhetischer Erfahrung, bestimmt den Begriff des Prozesses aber in höchst problematischer Weise. Denn für ihn gilt der als linear in der Zeit ablaufende Wahrnehmungsprozess nur für Literatur, nicht aber für statuarische Kunstwerke. Prozess wird hier also keinesfalls konsequent performativ gedacht. (Vgl. Ulf Abraham: Lesedidaktik und ästhetische Erfahrung. Lesen und Verstehen literarischer Texte, in: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Literatur- und Mediendidaktik, Bd. 2, Hohengehren 2010, S. 137-158, hier: S. 148f.)

1. Einleitung

ist dies ungewöhnlich, da sich diese meist auf John L. Austin, Michel Foucault oder Judith Butler beruft. Ein Rückbezug auf Heidegger ist dagegen in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu finden.22 Der Vorteil eines Arbeitens mit diesen beiden Denkern liegt in ihren sehr grundlegenden Überlegungen zu Wahrheit, Zeit, Raum und Verstehen. Damit wird eine Theoriebildung möglich, die von vornherein auf Begriffspaare wie Subjekt/Objekt, Form/Inhalt, Zeichen/Materialität usw. verzichtet. Sie gewinnt darüber eine ›realistische Haltung‹ zur Lebenswelt zurück, die von derartigen Dualismen gerade verstellt wird. In Anlehnung an Heidegger wähle ich in dieser Arbeit anstelle des Performativitätsbegriffs den Ausdruck des Vollzugsdenkens. Mit dieser Sprechweise soll keinesfalls eine unkritische Einstellung gegenüber seinem Denkweg angezeigt werden. Sie beugt lediglich der Verwechslung mit Ansätzen vor, die performative mit anderen, beispielsweise konstruktivistischen Grundannahmen verbinden. Ich beginne meine Arbeit in Kapitel 2 mit einer Erläuterung des Ausdrucks Vollzugsdenken. Daran schließt sich die Entwicklung einer vollzugsmäßigen Methodik an. Diese besteht darin, Beschreibungskategorien für menschliches Handeln zu finden, die nicht theoretisch geschöpft sind, das heißt nicht von der Trennung von Mensch und Lebenswelt in Form eines Subjekt-ObjektDualismus ausgehen. Stattdessen soll gezeigt werden, wie der Mensch seine Lebenswelt im Handeln allererst hervorbringt. Für den Vollzug dieses Hervorbringens wähle ich den Ausdruck des Verstehens. Dieses umfasst alles, was der Mensch praktisch umsetzen, reflektieren, wahrnehmen, imaginieren, fühlen usw. kann. Dem Verstehen korrespondiert wiederum ein Nicht-Verstehen, das vollzugsmäßig aber nicht als sein logisches Gegenteil aufgefasst wird, sondern vielmehr einen Hinweis darauf gibt, dass jeder einzelne Mensch in ein Wahrheitsgeschehen eingebunden ist, das seine eigene Perspektive übersteigt. Um das Verstehen differenzierter betrachten zu können, führe ich die vier Analysekategorien der Zeit, des Raums, des Selbstbezugs und des Fremdbezugs ein. Erstere beiden entwickle ich schwerpunktmäßig in Auseinandersetzung mit Heideggers beiden Hauptwerken. Zeit und Raum zeigen sich dabei als zwei Weisen, Sinnbezüge in der Lebenswelt herzustellen. Das zweite Kategorienpaar des Selbst- und Fremdbezugs erarbeite ich vor allem unter Berufung

22

So zum Beispiel bei Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282-301.

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Das Lesen als Handlung

auf Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode sowie mehrere seiner späteren Aufsätze. Hierbei wird ausgehandelt, welche Anteile am Verstehen der verstehende Mensch und die verstandene Sache jeweils nehmen. Insgesamt stellt mir Kapitel 2 damit eine vollzugsmäßige Methodik sowie entsprechende Grundbegriffe zur Verfügung, die in der Folge auf ein ästhetisches Verstehen hin erweitert werden können. In Kapitel 3 setze ich mich mit aktuellen ästhetischen Positionen auseinander, um meinen eigenen Ansatz einer vollzugsmäßigen Ästhetik innerhalb dieses Forschungsfelds zu positionieren. Abstand nehme ich dabei von nichthermeneutischen und metaisierenden Konzepten, Nähe suche ich hingegen zu hermeneutischen Ansätzen. Kapitel 4 wendet die zuvor entwickelten Konzepte ästhetisch. Dazu werden die allgemeinen Analysekategorien aus Kapitel 2 aufeinander bezogen sowie auf ein ästhetisches Verstehen hin erweitert. Damit ergeben sich die Eigenzeit, der Eigenraum, die Entrückung und die Gesamtsinnesorganisation als vier Strukturmomente menschlichen Verstehens. Mit diesen kann ich der vollzugsmäßigen Grundannahme nachgehen, nach der ästhetisches Verstehen besonders intensives Verstehen ist. Dementsprechend werden zwei Intensitätsstufen ästhetischen Verstehens unterschieden, nämlich die ästhetische Wahrnehmung und die ästhetische Erfahrung. Eine Beschreibung ästhetischer Emotionen schließt das Kapitel ab. In Kapitel 5 werden die vier Strukturmomente des Verstehens ausdifferenziert sowie konkretisiert. Dies erfolgt an der für die literaturwissenschaftliche Praxis zentralen Handlung des Lesens. Dazu werden Eigenzeit, Eigenraum, Entrückung und Gesamtsinnesorganisation in konkrete Teilvollzüge des Lesens übersetzt. Dies geschieht zunächst fremdbezüglich, indem ich die Bedingungen skizziere, die ein Text der Wahrnehmung stellt. Daran schließt sich eine selbstbezügliche Betrachtungsweise an, die die verschiedenen Teilvollzüge des Lesens in ihrer Zeitlichkeit und Räumlichkeit beschreibt und dabei zugleich darauf verweist, inwiefern sich diese ins Ästhetische steigern lassen. Konkrete Textlektüren veranschaulichen dabei die Angemessenheit meines vollzugsmäßigen Modells zum Lesen. Während ich Lesen in den Kapiteln 1-5 als Wahrnehmungsvollzug auffasse, stelle ich in Kapitel 6 noch einmal deutlich den Unterschied zur theoretischen Reflexion heraus. Damit gebe ich eine Richtung zur Beschreibung anderer Lesevollzüge, wie zum Beispiel dem philologischen Lesen vor. Zudem entzünden sich am Grundbegriff der Fiktionalität weiterführende Überlegungen zu einer ›realistischen Haltung‹ innerhalb der Literaturwissenschaft.

1. Einleitung

Nicht mehr behandeln kann ich dagegen, welchen Einfluss Leser auf Texte nehmen, die gerade im Entstehen sind. Anstelle theoretischer Überlegungen sei dies durch meinen Dank an wichtige Leser dieses Texts angedeutet: Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Michael Gamper, der beim Lesen eine Balance zwischen Wertschätzung und feinsinniger Kritik fand und durch dessen umfassende Unterstützung ich meinen Text überhaupt erst beenden konnte. Anteil hieran nahm auch die Graduiertenakademie der Leibniz Universität Hannover mit einem großzügigen Abschlussstipendium. Unverzichtbar war darüber hinaus Hans-Georg von Arburg als Zweitgutachter, dessen Lektüre einen vielschichtigen Kontrapunkt für mich darstellte. Für ein Feuerwerk an Verweisen fühle ich mich zudem Urs Büttner sehr verbunden. Von Herzen danke ich Barbara Reuss für ihr unerschütterliches Durchhaltevermögen, ihren liebevollen Humor und ihre Adleraugen. Die größte Unterstützung fand ich schließlich jenseits des Lesens. Auch für eine Vollzugsdenkerin kaum beschreibbar ist der Anteil, den Martin Reuss, Christian, Katrin, Inge-Lore und Wolfgang Michaelis nahmen. Hier zeugt mein kurzer Dank davon, was es bedeutet, dass Worte Grenzen haben.

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2. Philosophische Grundlagen

Ziel meiner Ausführungen ist es, eine konsequent performative Theorie und Methodik als Alternative zur traditionellen literaturwissenschaftlichen Arbeitsweise anzuempfehlen. Bewahrt bliebe damit der Anspruch, sich gegen die Hegemonie objektiver Theorie zu stellen. Gewonnen würden aber auch ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Zielbestimmung, die den eigenen Zugangsweisen und Gegenständen eine praktische Wirksamkeit zutrauen. Gewonnen würde zudem ein bisher vernachlässigter Forschungsschwerpunkt, nämlich die Untersuchung des eigenen Wirkens, also die Beschreibung literaturwissenschaftlicher Handlungen wie der des Lesens. Das vorliegende Kapitel soll die literaturphilosophischen Grundlagen für eine solche konsequent performative Theorie und Methodik bereitstellen. Dazu erarbeite ich letztlich vier Kategorien zur Analyse menschlichen Handelns, mit denen sich später das Lesen sowie darüber hinaus auch jede andere Praxis beschreiben lässt. Neben Martin Heidegger, der als einer der frühen Wegbereiter performativen Denkens betrachtet werden kann, stellt Hans-Georg Gadamer dafür eine zentrale Bezugsgröße dar. Dieser orientiert die Grundannahmen seines Lehrers in einer für mein Anliegen entscheidenden Weise um.1 Terminologisch werde ich vom Begriff des Performativen in Abschnitt 2.3 Abstand nehmen. Dieser vereint neben konsequent performativen Ansätzen nämlich auch Mischformen unter sich, die durch die Hintertür die Zweifel an der Wirksamkeit der Literaturwissenschaft wieder einführen. Um mich von diesen abzugrenzen, übernehme ich einen Methodenbegriff Heideggers. Statt von Performanz oder Performance werde ich also vom Vollzug sprechen.

1

Ich werde im Folgenden die Gesamtausgabe zu Heideggers Werk unter der Sigle GA und Gadamers Gesammelte Werke unter der Sigle GW zitieren.

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Das Lesen als Handlung

Daraus ergeben sich abgeleitete Sprechweisen von einem vollzugsmäßigen Ansatz bzw. einem Vollzugsdenken.

2.1

Vollzug statt Performanz

Zum performativen Ansatz innerhalb der Kulturwissenschaften liegen bereits mehrere ausführliche Forschungsüberblicke vor.2 Ich werde hier deswegen auf eine Darstellung zu seiner Genese verzichten. Zielführender im Zusammenhang meiner Arbeit erscheint es mir dagegen, auf aktuelle Publikationen der Literaturwissenschaft hinzuweisen. Dabei soll allerdings weniger ein vollständiger Forschungsüberblick geleistet, als vielmehr mein eigenes Anliegen innerhalb des performativen Forschungsfeldes seit 2000 situiert sowie darüber hinaus legitimiert werden. Genauer gesagt wird geprüft, ob Thomäs These von einem konstruktivistischen Einschlag auch für Texte gilt, die sich selbst dem Performativitäts-Paradigma zurechnen. Dazu ordne ich aktuelle Publikationen hinsichtlich der Konsequenz ihres performativen Ansatzes in drei Kategorien ein. Mit meiner eigenen Arbeit strebe ich eine Situierung innerhalb der dritten und damit konsequentesten Kategorie an. Der in meiner Einleitung zitierte Artikel von Dieter Thomä ist keinesfalls der erste, der auf die Vorteile eines performativen Zugriffs hinweist.3 So fin-

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Vgl. Sylvia Sasse: Neuere deutsche Literatur, in: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Einführung in neue Theoriekonzepte, Hamburg 2002, S. 243-265; Hans Rudolf Velten: Ältere deutsche Literatur, S. 217-242; Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken; Doris BachmannMedick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2007, S. 104-143; Hans Rudolf Velten: Performativitätsforschung, in: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik, Berlin, New York 2009, S. 549-571; Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, Kap. 1; Erika Fischer-Lichte: Performativität, S. 9-33. 1998 und 2002 erschienen zudem die ersten beiden Reader, die die Grundlagentexte des performativen Paradigmas in deutscher Sprache versammelten: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998; Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002. Ein prominentes Beispiel im Bereich der Literaturwissenschaft stellt Jonathan Culler dar. (Vgl. Jonathan Culler: Philosophy and Literature: The Fortunes of the Performative, in: Poetics Today 21/3 (2000), S. 503-519, hier: S. 507 und Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2013, S. 156f.)

2. Philosophische Grundlagen

det das Paradigma in der deutschen Kulturwissenschaft schon seit den 90er Jahren zunehmend Verbreitung.4 Maßgeblich, auch für die Übertragung in die Literaturwissenschaft, war der von 1999 bis 2010 an der FU Berlin arbeitende Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen.5 Dieser eröffnete sowohl ein Feld neuer Gegenstände als auch neue Zugangsweisen zu traditionellen Fragen der Disziplinen.6 Im Zusammenhang des Sonderforschungsbereichs entstand beispielsweise Erika Fischer-Lichtes Monographie Ästhetik des Performativen,7 die statt einer traditionellen Orientierung an künstlerischen Artefakten wie dem Text eine Ontologie von Aufführungen sowie der durch sie zugänglichen Erfahrungen vorlegte. Damit stellt sie eine der zentralen Publikationen im Bereich der Theaterwissenschaft dar, für die der performative Zugriff den ursprünglichen Anlass darstellte, sich von den klassischen Textwissenschaften abzulösen.8 Entsprechend existiert innerhalb dieser Disziplin sowie zum Themenfeld Theater/Performance eine nicht mehr zu überschauende Anzahl von Publikationen mit performativem Zugriff. Deswegen, aber vor allem weil meine eigene Arbeit sich mit der Rezeption von Texten und nicht von Aufführungen beschäftigt, werde ich mich im Folgenden auf Forschungsbeiträge konzentrieren, die eher dem Kernbereich literaturwissenschaftlicher Forschung zuzurechnen sind.9 Der performativen Arbeitsweise

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Vgl. Hans Rudolf Velten: Ältere deutsche Literatur, S. 217. Für Ergebnisse des SFB siehe. u.a. in der Zeitschrift Paragrana die Hefte 7/1 (1998), 9/2 (2000), 10/1 (2001), 13/1 (2004) sowie den Sammelband zur Abschlusstagung: Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann (Hg.): Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung, München 2013. Beispiele für Sammelbände, die theoretisch und methodisch grundständige Fragen verhandeln, sind zum Beispiel: Gerhard Neumann, Caroline Pross, Gerald Wildgruber (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i.Br. 2000; Jens Kertscher, Dieter Mersch (Hg.): Performativität und Praxis, München 2003; Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität. München 2004; Peter Hanenberg, Fernando Clara (Hg.): Aufbrüche. Kulturwissenschaftliche Studien zu Performanz und Performativität, Würzburg 2012; Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.): Performativität und Medialität populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden 2013. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Gerhard Neumann, Caroline Pross, Gerald Wildgruber (Hg.): Szenographien, S. 12. Eine Ausnahme stellt die Kategorie der Text-Performance im folgenden Sammelband dar: Ana R. Calero Valera, Brigitte E. Jirku (Hg.): Literatur als Performance, Würzburg 2013. Innerhalb des Sammelbands werde ich deswegen nur die Beiträge zu diesem Themenfeld behandeln. Das sind: Vilar, Cortez/Reis, Huber, Siguan.

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Das Lesen als Handlung

widmen sich seit 2000 sowohl eine Reihe von Sammelbänden als auch literaturwissenschaftliche Monographien, die die möglichen thematischen und methodischen Erweiterungen auszuloten versuchen. Dazu gehört zunächst die performative Beschäftigung mit dem Medium Text. In jüngster Zeit hat dies Andrea Polaschegg mit ihrer Monographie Der Anfang des Ganzen unternommen,10 in der die Autorin ein wesentliches Strukturmoment von Texten behandelt, nämlich ihren ›Verlaufscharakter‹. Hier zu verorten ist auch ein Sammelband von Matthias Buschmeier und Till Dembeck, der die ›Eigenbewegung‹ von Texten sowie ihren Einfluss auf die Rezeption untersucht.11 Einen performativen Schwerpunkt nicht auf die Gegenstands- sondern Vollzugsseite legt dagegen Lothar van Laak vor, der die Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrungen mit literarischen Texten zu erfassen versucht.12 Sehr gelungene Überlegungen zur Rezeptionsseite stellt außerdem Jan Söffner in seiner Monographie Partizipation an. Ihm geht es um die Etablierung einer ›enaktiven Philologie‹, die ihren Ausgang nicht bei einem Reflexionswissen, sondern bei praktischen und damit auch körperlichen Fertigkeiten nimmt.13 Eine Verbindung zwischen den performativen Beschreibungen von Lesen und Erzählen, vermittelt über die Körperlichkeit und darüber auch Geschlechtlichkeit der Vollzüge, strebt schließlich Elisabeth Strowick in ihrer Monographie Sprechende Körper an.14 Unter der Prämisse, dass Texte ihre Lebenswelt stets mit hervorbringen und der daraus resultierenden Aufweichung der Text-Kontext-Unterscheidung, gewinnt außerdem die soziale Rahmung von Literaturgeschichte und -theorie an Bedeutung. Beispielsweise will Daniel Fulda unter dem Schlagwort Kulturmuster ein Forschungsprogramm für Literatur- und Geschichtswissenschaft etablieren, das literarische Texte in einen Bedingungs- und Wirkzusammenhang von historischen Deutungs- und Handlungsweisen einstellt.15 Genauso konsequent findet sich 10 11 12 13 14 15

Andrea Polaschegg: Der Anfang des Ganzen. Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst, Göttingen 2020. Vgl. Matthias Buschmeier, Till Dembeck (Hg.): Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2007. Vgl. Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003. Vgl. Jan Söffner: Partizipation. Metaphern, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen, München 2014. Vgl. Elisabeth Strowick: Sprechende Körper, S. 13f. Daniel Fulda: Kulturmuster. Umrisse eines Forschungsprogramms in den Text- und Sozialwissenschaften, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (2011), S. 341-359.

2. Philosophische Grundlagen

ein solcher Ansatz bei Urs Büttner und Oliver Scheiding, die beide die Methode einer praxeologischen Diskursanalyse von Texten skizzieren und im ersteren Fall auch konkret vorführen.16 Csongor Lörincz legt zudem einen Sammelband zur Institutionalität von Literatur vor.17 Einen weiteren Trend stellen performative Lektüren vormoderner Texte dar. Naheliegend ist dies, da diese nicht im Zeichen eines Werk-Begriffs entstanden und damit in ihrem Selbstverständnis stets auf konkrete Rezeptionssituationen bezogen sowie auf weitere Praktiken als das stille Lesen hin entgrenzt sind. Beispiellektüren bieten ein Sammelband von Cornelia Herberichs und Christian Kiening sowie in thematischer Zuspitzung die Monographie von Claudia Benthien über Barockes Schweigen.18 Der kurze hier angestellte Forschungsüberblick über aktuelle Publikationen einer performativen Literaturwissenschaft erhebt wie gesagt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Er soll stattdessen einen Überblick über thematische Schwerpunkte geben sowie durch eine genauere Prüfung der verschiedenen Argumentationen Dieter Thomäs These nachgehen, die eine unterschiedliche Konsequenz der performativen Forschungsbeiträge vermuten lässt. Dazu nehme ich eine Kategorisierung ihrer Grundannahmen nach einem Ordnungsschema von Krämer/Stahlhut vor. Dieses unterscheidet drei Stufen performativen Denkens nach zunehmender theoretischer Konsequenz:19 Der erste lediglich schwach performative Ansatz setzt als Grund16

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Vgl. Urs Büttner: Poiesis des ›Sozialen‹. Achim von Arnims frühe Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800-1808), Berlin, Boston 2015, insbesondere Kap. 2. und Oliver Scheiding: Diskurse und Praktiken. Zur Literaturwissenschaft im Spiegel der ›neuen‹ Kultursoziologie, in: Oliver Scheiding, Frank Oberland, Clemens Spahr (Hg.): Kulturtheorien im Dialog. Neue Positionen zum Verhältnis von Text und Kontext, Berlin 2011, S. 177-198. Vgl. Csongor Lörincz (Hg.): Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Bielefeld 2011. Vgl. Cornelia Herberichs, Christian Kiening (Hg.): Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008; Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert, München 2006. Dabei fasse ich die von Krämer/Stahlhut postulierte zweite und dritte Kategorie unter dem Konzept der starken Performativität zusammen und führe als radikale Performativität jenes Konzept menschlichen Verstehens ein, das ich in dieser Arbeit von Heidegger entlehne und für den spezifischen Verstehensvollzug des Lesens fruchtbar mache. Damit bedient Krämers eigene Argumentation in meiner Begrifflichkeit lediglich ein starke, nicht aber eine radikale Performativität. (Vgl. Sybille Krämer, Marco Stahlhut: Das »Performative« als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10/1 (2001), S. 35-64, hier: 55f.)

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Das Lesen als Handlung

einheit der Sprache nicht die isolierte Aussage, sondern die funktionale Einbindung von Aussagen in Situationen an. Demnach referiert Sprache einerseits auf Welt und ist andererseits Teil dieser Welt. Das zweite stark performative Konzept spitzt diesen Ansatz weiter zu, indem es Handlungen auch innerhalb der Sprache situiert. Neben konstativen Sprechakten, die auf die Welt referieren, geht das Konzept dazu von sogenannten performativen Sprechakten aus. Diese bewirken etwas in der Welt, indem sie dieses sprachlich darstellen. Zentral ist hier die performative Bedeutung der Konjunktion indem. Diese tilgt nämlich die Unterscheidung zwischen dem, was in einem nicht performativen Denken als Dualismus von Form und Inhalt oder Mittel und Zweck gefasst würde. Ausgesagtes und Handlung fallen in performativen Sprechakten kurz gesagt in eins. Als typische Beispiele hierfür werden das Versprechen, die Entschuldigung oder das Taufen herangezogen. Ihre Einführung erlaubt zugleich eine Öffnung des Gegenstandsbereichs. So nimmt das stark performative Konzept oft Theateraufführungen und Performances in den Blick. Darüber hinaus wird aber potentiell jede Praxis in ihrer kulturellen Bedeut- und Wirksamkeit beschreibbar. Letztlich gewinnt das starke Konzept seine Deutung des Performativen jedoch immer noch in Abgrenzung zu nicht performativen Handlungen. Dies zeigt sich an einem wiederkehrenden Argumentationsmuster, das nach dem Verhältnis performativer und konstativer Anteile fragt. Diese sollen einander entweder stärken oder unterlaufen. Die dabei vorgenommene Spaltung der Handlungswirklichkeit wird erst durch das dritte radikal performative Konzept überwunden. Dieses fasst nämlich jegliches menschliche Handeln als performativ auf. Folglich lässt es auch die absolute Unterscheidung zwischen konstativem und performativem Sprechen fallen. Eine Konkurrenz zwischen fundamental unterschiedlichen Formen der Sinnerzeugung kann damit nicht mehr angenommen werden. Vielmehr wird jeglicher Umgang des Menschen mit seiner Umgebung, egal ob aktiv agierend oder passiv betrachtend, positiv als eine jeweils eigene Form des Verstehens bestimmt. Verstehen entsteht dabei, indem Ausschnitte aus der Lebenswelt aufeinander bezogen und als mehr oder weniger ähnlich aufgefasst werden. Erst darüber stellt sich der Mensch in so etwas wie eine Zeit und einen Raum ein. Um Thomäs These von einer theoretischen Gemengelage zu überprüfen, wurde die oben beschriebene Dreiteilung in schwache, starke und radikal performative Ansätze auf 21 Publikationen der Literaturwissenschaft seit 2000 angewendet. Analysiert wurden Monographien und Sammelbände.

2. Philosophische Grundlagen

Dabei zeigte sich folgendes Bild:20 Erstens lassen sich kaum Vertreter des 20

Zu den radikal performativen Ansätzen zähle ich Büttner, Buschmeier/Dembeck, Herberichs/Kiening, Fulda, Neumann/Pross/Wildgruber, Huber, Scheiding, Siguan und Söffner. Die verbleibenden 12 Publikationen zähle ich zu den stark oder schwach performativen Ansätzen. Für diese werde ich im Folgenden Textstellen anführen, die zeigen, dass ihr performativer Zugriff nicht völlig konsequent durchgeführt wird: 1) zu Benthien: Barockes Schweigen. Die Autorin führt als zentrale Analysekriterien eine Zweiteilung in performative Vollzüge und referentielle Zeichen ein. (Vgl. S. 22.) 2) zu Cortez/Reis: Performative Intertextualität in Blaubart. Der Beitrag entspricht lediglich einem schwach performativen Ansatz, da er zwar sporadisch den Begriff des Performativen im Sinne von Bedeutungserzeugung fallen lässt, jedoch faktisch eine klassisch strukturalistische Textanalyse vornimmt. 3) zu Culler: Philosophy and Literature. Der Autor macht eine Unterscheidung auf zwischen dem, was Texte sagen und dem, was Texte tun. (Vgl. S. 506, 518.) 4a) zu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Die Autorin übernimmt aus der Ethnologie die Vorstellung eines liminalen Zustands, der zwischen präsentativer und repräsentativer Verstehensordnung zu verorten ist. Sie behauptet darüber hinaus zwar, dass Präsenz und Repräsentation nicht dichotom zueinander stünden. Allerdings verfestigt die Annahme eines liminalen Zustands, der zugleich eine Instabilität des Verstehens bedeutet, diese Dichotomie, statt sie zu überwinden. Ein radikal performatives Konzept muss stattdessen von einem graduellen Übergang und damit unendlich vielen Abschattungen zwischen Präsenz und Repräsentation ausgehen. In diesem Denken liegt niemals eine Instabilität des Verstehens, sondern nur ein jeweils anderes Verstehen vor. (Vgl. S. 256-258.) 4b) Fischer-Lichte: Performativität. Die Autorin übernimmt die stark performative Argumentation von Krämer/Stahlhut. (Siehe Publikation 7.) (Vgl. S. 139f.) 5) zu Kleiner/Wilke: Performativität und Medialität populärer Kulturen. Die Autoren setzten eine Unterscheidung von konstativen und performativen Sprechakten voraus. (Vgl. S. 14f.) 6a) zu Krämer/Stahlhut: Das »Performative« als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. Die Autoren unterscheiden zwischen performativen und konstativen Sprechakten. Auf dieser Basis argumentieren sie, dass die Performanz eines Texts seine Referenz unterlaufen könne. Diese Unterscheidung zweier Bedeutungsmodi ist nur dadurch haltbar, dass die Autoren zwischen ›Sprache an sich‹ und sozialer Einbettung von Sprache unterscheiden. In einem radikal performativen Konzept würden diese als gleichursprünglich gedacht. (Vgl. S. 38.) 6b) zu Krämer: Performativität und Medialität. Die Autorin macht einen Dualismus von Symbolisierung vs. Somatisierung auf. (Vgl. S. 25.) 7) zu van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Der Autor hängt der Vorstellung an, dass Literatur nur sinnlich und damit Handlung ist, wenn diese laut vorgetragen, ins Bild entgrenzt oder aufgeführt wird. (Vgl. S. 3, 31.) 8) zu Lörincz: Ereignis Literatur. Der Autor differenziert die institutionelle Dimension von Literatur in referentielle, kulturtechnische und performative Aspekte aus. (Vgl. S. 8.) 9) zu Kertscher/Mersch: Laut den beiden Autoren lenkt ein performativer Zugriff den Blick auf »jene sich dem Semantischen, dem Sinn, dem Diskurs oder der Schrift widersetzenden Momente«. Die Autoren gehen also von einem Sinn-Materialitäts-Dualismus aus. (Ebd., S. 7.) 10) zu Polaschegg: Der Anfang

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Das Lesen als Handlung

schwachen Konzepts ausmachen. Dies liegt vermutlich daran, dass schwach performative Argumentationen in ihrer Selbstbeschreibung nicht oder kaum auf den Performativitätsbegriff zurückgreifen. Zweitens finden die stark performativen Zugriffe die größte Verbreitung. In Zahlen ausgedrückt ergibt sich auf 21 exemplarisch untersuchte Publikationen die folgende Verteilung: Es lassen sich eine als schwach, elf als stark und neun als radikal performativ kennzeichnen. Zwar weist die Untersuchung damit nur einen geringen Umfang auf, sie zeigt aber dennoch einen Trend auf, der Thomäs These stützt: Sogar unter literaturwissenschaftlichen Publikationen, die sich selbst dem Performativitäts-Paradigma zurechnen, sind diejenigen, die mit konsequent performativen Grundannahmen operieren, in der Unterzahl. In Bezug auf die gesamte literaturwissenschaftliche Forschungslandschaft ist damit zu vermuten, dass radikal performative Ansätze deutlich unterrepräsentiert sind. Die vorliegende Arbeit zählt dem eigenen Anspruch nach zu letzteren Ansätzen. Sie versucht entsprechend, jene Position einzunehmen, der Thomä eine ›realistische Haltung‹ zuspricht. Damit ist eine dichte Beschreibung der menschlichen Lebenswelt gemeint, die diese nicht in Ebene und Metaebene zersplittert oder danach fragt, wie sich Handeln selbst unterläuft. Vielmehr geht es darum zu beobachten, was Menschen im Einzelnen tun und welche Wirkung ihr Handeln hat. Wie sich Handlungen in diesem Sinne analysieren und beschreiben lassen, wird im Folgenden entwickelt. Dabei orientiere ich mich im Wesentlichen an Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Von ersterem entlehne ich auch den zentralen Begriff meiner Arbeit, das sogenannte Vollzugsdenken. Dieses verstehe ich als synonym mit einem radikal performativen Ansatz. Mischformen, wie sie der Performativitätsbegriff ebenfalls zuließe, sollen dagegen vermieden werden. des Ganzen. Die Autorin führt die Kategorie der intransitiven Anfänge ein und impliziert damit eine Unterscheidung zwischen Vollzügen wie Lesen, Reden, Schreiben einerseits und Texten andererseits, die vermeintlich ohne derartige Vollzüge verstanden werden können. Die Performativitäts-Dimension des Texts wird dann über den Vergleich von Literatur und Festen wieder eingeführt, ohne zu bemerken, dass nicht nur Feste vollzogen, d.h. gefeiert, sondern auch Texte vollzogen, d.h. gelesen, werden müssen. (Vgl. Kap. 2.3.) 11) zu Strowick: Sprechende Körper. Indem die Autorin die Körperlichkeit des Lesens und Erzählens als »Überschuss des Äußerungsaktes über die Aussage« fasst, verfällt sie dem Dualismus von Zeichen vs. Körper. (S. 13.) 12) zu Vilar: Gegen die mediale Krisendramaturgie. Der Autor operiert über die Dualismen performativ vs. semiotisch sowie Fiktion vs. Realität. (Vgl., S. 111, 113.)

2. Philosophische Grundlagen

2.2

Phänomenologie und Hermeneutik

Maßgeblich für die Entwicklung der Grundannahmen meiner Arbeit sind zwei Philosophen: Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Einführend werde ich diese im Zusammenhang der mit ihnen identifizierten philosophischen Strömungen, der Phänomenologie und der Hermeneutik, behandeln. Dazu spitze ich die Darstellung der beiden Strömungen funktional auf meine Gesamtargumentation hin zu. Neben Unterschieden im Interesse der beiden Denker wird dabei vor allem auf grundsätzliche Gemeinsamkeiten verwiesen. Insgesamt ergibt sich darüber ein Spannungsfeld zwischen den Philosophien Heideggers und Gadamers, das sich für die Fragestellung meiner Arbeit produktiv nutzen lässt. Unter dem Begriff des Vollzugsdenkens wird es eben jene Grundannahmen versammeln, die mich während der gesamten Arbeit anleiten. Die Phänomenologie wurde von Edmund Husserl zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet und zählt zu den einflussreichsten, aber auch heterogensten philosophischen Bewegungen. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die Phänomenologie nicht über einen bestimmten Gegenstandsbereich eingrenzen lässt, sondern als Methode der Philosophie überhaupt verstanden wird.21 Eine umfassende Bestimmung würde hier deswegen zu weit führen. Ist in meiner Arbeit folglich von Phänomenologie die Rede, so dient der Ausdruck als Oberbegriff zur Bezeichnung des Denkens Martin Heideggers. Die methodische Maxime der Phänomenologie, »zu den Sachen selbst!«22 , ent21

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Vgl. Holger Zaborowski: Wahrheit und die Sachen selbst. Der philosophische Wahrheitsbegriff in der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Edmund Husserl, Martin Heidegger und Hans Georg Gadamer, in: Markus Enders und Jan Szaif (Hg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006, S. 337-368, hier: 338. und vgl. hierzu auch Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 34f. Holger Zaborowski: Wahrheit und die Sachen selbst, S. 27. – Das Hauptanliegen der klassischen Phänomenologie ist es, die Perspektive eines erfahrenden Ichs einzunehmen und die wesentlichen Strukturen dieser Erfahrung zu explizieren. (Vgl. Martin Nitsche: Die Ortschaft des Seins. Martin Heideggers phänomenologische Topologie, Würzburg 2013, S. 9.) Heidegger radikalisiert diesen Ansatz jedoch, indem er betont, dass diese Erfahrung jeweils meine ist und nicht das nackte theoretische Gerüst von jedermanns Erfahrung. Dabei findet das auf Husserl zurückgehende Prinzip der Prinzipien Anwendung, das besagt, dass der Phänomenologe alles, was sich seiner Wahrnehmung originär darbietet, auch als solches hinzunehmen hat. Auch dieses radikalisiert Heidegger, indem er es als vor-theoretisches Prinzip erkennt. (Vgl. Martin Heideg-

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Das Lesen als Handlung

lehnt dieser bei seinem Lehrer Husserl, nicht jedoch ohne sie in entscheidender Hinsicht zu kritisieren und weiterzuentwickeln.23 Heideggers Kritik ist hier deswegen von Interesse, weil sie bereits ins Zentrum des in Abschnitt 2.3 vorgestellten Vollzugsdenkens weist. Dieses lehnt nämlich insbesondere Husserls Erkenntnistheorie ab, die eine Trennung von transzendentalem Ego, als Bedingung der Möglichkeit von Bewusstseinsakten überhaupt, und dem faktisch existierenden Menschen vornimmt.24 Das Gegenprogramm zu dieser Entzweiung des Menschen formuliert Heidegger bereits in seinen frühen Freiburger Vorlesungen 1919/20, als er von der Phänomenologie als einer Ursprungswissenschaft vom Leben spricht. Hier verweist er darauf, dass der Mensch nicht aus seinem eigenen Leben heraustreten kann, um es sich gleichsam gegenüberzustellen und es objektiv, das heißt unbetroffen, zu beurteilen. Für die Philosophie folgt daraus, dass sie sich selbst ebenfalls nicht als Theorie vom Leben absondern kann. Vielmehr ist sie Teil des Lebens. Sie reiht sich ein in die alltäglichen Vollzüge des Menschen. Somit überwindet Heidegger eine Dichotomie von Theorie und Praxis sowie den noch von Husserl betonten Primat der Theorie.25 Seine Neubestimmung der Phänomenologie führt 1929 nach Husserls Lektüre von Sein und Zeit zum Bruch zwischen den beiden.26 Nicht zuletzt deswegen ersetzt Heidegger den Begriff der Phänomenologie zukünftig durch den der Philosophie. In einer Vorlesung von 1930/31 lehnt er ihn sogar explizit ab und greift ihn erst lange nach Husserls Tod wieder auf.27

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ger: GA 56/57, S. 109f. und Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug. Heideggers performative Philosophie des faktischen Lebens, Frankfurt a.M. 2013, S. 109, 111.) Vgl. Odo Marquard: Der Einzelne. Vorlesung zur Existenzphilosophie, Stuttgart 2013, S. 198f. – Für eine ausführliche historische Rekonstruktion des Verhältnisses von Husserl und Heidegger siehe Theodore Kisiel: The Genesis of Heidegger’s Being & Time, Berkeley, Los Angeles 1993. Vgl. Christoph Jamme: Stichwort: Phänomenologie. Heidegger und Husserl, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 37-47, hier: S. 43f und Helmuth Vetter: Art. »Ich«, in: Helmuth Vetter (Hg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg 2004, S. 268-270, hier: S. 268f. Vgl. Christoph Jamme: Stichwort: Phänomenologie, S. 40f. Vgl. ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 46. – Antonio Cimino deutet den Verzicht auf die Begriffe Phänomenologie und Hermeneutik des späten Heideggers gerade als gelungene Umsetzung eines vollzugsmäßigen Denkens, da es diesem doch darum gehe, sich selbst zu hinterfragen, also nicht statisch zu sein. Deswegen muss dieses Denken konsequenterweise als ein namenloses inszeniert werden. (Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 56.)

2. Philosophische Grundlagen

Für Heideggers frühes Denken, also vor der Veröffentlichung von Sein und Zeit im Jahr 1927, kann die Phänomenologie mit ihrer Betonung des Vollzugsdenkens ohne Einschränkung als ein zentrales Konzept angesehen werden. Zusätzlich gewinnt hier allerdings ein zweiter Begriff, der der Hermeneutik, an Wichtigkeit. Dabei zählt Heidegger zu den ersten Philosophen, die die Hermeneutik nicht auf eine reine Methodenlehre des Verstehens in Textauslegung oder Geisteswissenschaft beschränken. Im Sommersemester 1923 unterstellt er seine philosophischen Überlegungen sogar in Gänze dem Titel Hermeneutik der Faktizität. Sein Hermeneutikbegriff hängt dabei eng mit seiner Bestimmung der Phänomenologie zusammen. Während nämlich Faktizität das jeweils eigene Leben eines jeden Menschen bezeichnet, stellt die Hermeneutik die Art und Weise dar, dieses Leben zu verstehen. Letztere Bestimmung ist dabei keineswegs willkürlich gewählt. Vielmehr wird sie von ihrem Gegenstand, dem Menschen, der seinem Wesen nach immer verstehend ist, gefordert.28 Wie ich in Kapitel 2.4.1 darstellen werde, vertritt Heidegger diese Auffassung auch noch in seinem ersten Hauptwerk Sein und Zeit.29 Am Ende von Sein und Zeit versucht er allerdings über diese hinauszugehen. Hier fragt er nicht mehr nach dem Sein des Menschen, sondern nach dem Sinn von Sein überhaupt.30 Letztere Frage leitet einen Wendepunkt und den Beginn einer neuen Phase in seinem Denken ein. Damit wird nun auch deutlich, warum der Ausdruck Phänomenologie als Oberbegriff dienen kann. Während nämlich die Hermeneutik nur das menschliche Verstehen beschreibt, geht es der Phänomenologie um das Ganze des Seins bzw. des Wahrheitsgeschehens, in dem menschliches Verstehen geschieht. Dieser Zweiteilung werde ich auch in meiner Arbeit folgen. Ich unterscheide entsprechend zwischen einem früheren Heidegger und einem späteren nach Sein und Zeit. Den zweiten Orientierungspunkt für meine Arbeit stellt Hans-Georg Gadamer dar. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode wird 1960 publiziert und stellt einen der Höhepunkte der Philosophie des 20. Jahrhunderts dar.31 Sein 28

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Vgl. Jean Grondin: Stichwort: Hermeneutik. Selbstauslegung und Seinsverstehen, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 47-51, hier: S. 48. »Phänomenologie des Daseins [= der menschlichen Existenz, S. R.] ist Hermeneutik in der ursprünglichsten Bedeutung des Wortes« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 37.) Vgl. Jean Grondin: Stichwort: Hermeneutik. Selbstauslegung und Seinsverstehen, S. 49. Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer – Ein philosophisches Portrait, Tübingen 2009, S. 239.

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Das Lesen als Handlung

Untertitel Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik benennt Gadamers zentrales Anliegen, durch das die Hermeneutik endgültig zu einer eigenständigen philosophischen Strömung avanciert. In Anlehnung an Heidegger widmet sich die Hermeneutik fortan dem Versuch, das »Verstehen zu verstehen«32 . Dieses Vorhaben prägt nicht nur Wahrheit und Methode, sondern Gadamers gesamtes Denken. Entsprechend können seine späteren Veröffentlichungen als Kommentar bzw. Ergänzung zu seinen Überlegungen von 1960 gelesen werden. Und auch die früheren Texte zeigen sich als Wegbereiter für sein Hauptwerk.33 Gadamers Denkweg fällt damit im Vergleich zu Heidegger deutlich homogener aus. Das ist auch der Grund dafür, warum ich bei ihm nicht zwischen verschiedenen Werkphasen unterscheide. Zugleich folgt er dem Denken seines Lehrers in vielem nach. Zentral für meine Arbeit ist dabei sein existenzialer Verstehensbegriff.34 Diesem zufolge durchzieht das Verstehen »nicht nur alle menschlichen Weltbezüge. Es hat auch innerhalb der Wissenschaft selbständige Geltung und widersetzt sich dem Versuch, sich in eine Methode der Wissenschaft umdeuten zu lassen.«35 Die im Vergleich zur Kommentierung seines Lehrers hier sehr spärlich ausfallende Einführung in Gadamers Philosophie soll an dieser Stelle genügen. Seinem Denken, also dem Verstehen des Verstehens, werde ich in Kapitel 2.6 noch mehr Raum gegeben. Genauer gesagt wird es mir dabei helfen, das Seinsdenken des späteren Heidegger für eine Ästhetik fruchtbar zu machen, die den Menschen, und eben nicht das Sein, in ihr Zentrum stellt. Bis zu diesem Punkt sollte lediglich ein kurzer Überblick über die historische Genese eines Denkens gegeben werden, das die Fragestellung und Vorgehensweise dieser Arbeit schwerpunktmäßig prägt. Jenes sogenannte Vollzugsdenken ist es, das den frühen Heidegger von Husserl trennt und das Gadamer übernimmt. Somit betreiben Heidegger und Gadamer eine Philosophie, in deren Zentrum das Verstehen als ein ursprünglicher Grundvollzug des Menschen steht.

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Ebd., S. 47. Sowie Jean Grondin: Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 24. Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 38. und vgl. Günter Figal: Wahrheit und Methode zur Einführung, in: Günter Figal (Hg.): Wahrheit und Methode, Berlin 2007, S. 1-8, hier: S. 1. Vgl. Jean Grondin: Einführung zu Gadamer, S. 130, 134. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 1.

2. Philosophische Grundlagen

2.3

Das Vollzugsdenken

Die vorliegende Arbeit soll keinen Beitrag zu einer spezialisierten HeideggerForschung leisten. Vielmehr geht es mir darum, einige seiner Leitgedanken zu entlehnen und diese für eine Beschreibung ästhetischen Lesens fruchtbar zu machen. Jene Grundzüge bezeichne ich in Anlehnung an Heideggers eigene Terminologie als Vollzugsdenken. Dieses legitimiert zugleich mein Vorgehen, Texte aus unterschiedlichen Werkphasen zusammenzuschließen. Denn sowohl sein Schüler Gadamer als auch spätere Interpreten behaupten, dass dieser Grundzug für Heideggers gesamtes Denken leitend war.36 Da er selbst jedoch nie eine systematische Bündelung seiner Methodik vorgenommen hat (dies liegt im Vollzugsdenken selber begründet), stütze ich mich in diesem Kapitel schwerpunktmäßig auf Antonio Cimino. Dieser arbeitet in seiner Monographie Phänomenologie und Vollzug die Grundkonstellationen von Heideggers Vollzugsdenken heraus. Die spätere Entwicklung konkreter Methodenbegriffe wie Zeit, Raum und Wahrheit geschieht dann allerdings in direkter Auseinandersetzung mit Heidegger. Dabei eigne ich mir seine Texte funktional und durchaus eigenständig an, da ein konsequentes Vollzugsdenken genau das fordert: eine ständige Überprüfung und Anpassung überlieferter Begriffe.37 Als Ausgangspunkt für Heideggers Vollzugsdenken kann der bereits in Kapitel 2.2 erläuterte zentrale Unterschied zu seinem Lehrer Husserl aufgefasst werden. Während Letzterer nämlich noch Phänomenologie als Wesenserkenntnis betrieb, also nach der Essenz, dem zeitlosen Was, der Sachen fragte, verabschiedet sich sein Schüler von diesem Programm. Heidegger erkennt die Unmöglichkeit von Husserls verdeckten Grundannahmen und argumentiert, dass der Mensch in allem, was er tut, durch sein eigenes Leben befangen ist. Objektive sachhaltige Bestimmungen der ihn umgebenden Welt kann er damit nicht leisten. Als radikale Konsequenz kehrt Heidegger der philosophischen Frage nach dem Was den Rücken und wendet sich stattdessen der Existenz, dem Dass und Wie der Sachen und des Menschen selbst zu.38 Da36 37

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Vgl. Hans Georg Gadamer: GW 3, S. 429 und Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 14, 54f, 66, 77, 148. Dazu passt die Schilderung von Georg Picht, der bei Heidegger studierte: »Als eine Studentin ein mit seiner Phraseologie gespicktes Protokoll vorlas, unterbrach er [Heidegger, S. R.] sie nach wenigen Sätzen: ›Hier wird nicht geheideggert! Wir gehen zur Sache über.‹ Günther Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1988, S. 180. Vgl. Odo Marquard: Der Einzelne, S. 194, 196f.

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mit gerät für ihn auch die Stellung des Philosophierens selbst ins Wanken. Wenn dieses der Befangenheit des menschlichen Lebens nämlich ebenfalls nicht entkommen kann, untersteht es den gleichen Bedingungen wie jedes andere menschliche Handeln auch.39 Es kann nicht von einer Position außerhalb theoretische Setzungen vornehmen. Die Aufgabe der Philosophie ist es vielmehr, ausdrücklich zu machen, dass und wie der Mensch wahrnimmt, denkt und fühlt.40 Um dies zu erreichen, muss Heidegger phänomenologische Selbst- und Fremdbeobachtung betreiben. Er analysiert also konkretes menschliches Verstehen,41 um von dort aus zu den ursprünglichen Strukturen zu gelangen, die dieses fundieren.42 Eines der zentralen Anliegen seiner Philosophie ist zum Beispiel die Frage danach, wie der Mensch so etwas wie Zeit versteht. Althergebrachte Theorien über das Wesen von Zeit helfen ihm dabei nicht weiter. Stattdessen geht Heideggers Denkweg »vom faktischen Leben aus, von dem aus der Sinn von Zeit gewonnen wird.«43 Welche Antworten er dabei findet und unter dem Begriff der Zeitlichkeit zusammenfasst, werde ich später genauer erläutern. Hier interessiert zunächst nur seine Methode. Diese lässt sich im Wesentlichen von einem analytischen Dreischritt ableiten, den Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen entwickelt: Demnach richtet sich Verstehen immer auf einen Gehalt. Dieser gibt an, was verstanden wird. Zu jedem Gehalt wiederum steht der Verstehende in einem bestimmten Bezug. Mit diesem erfragt Heidegger, wie erfahren wird. Und schließlich wird jede Situation noch durch den Vollzug bestimmt. Dieser legt fest, wie der Mensch eine Situation konkret ausgestaltet, also wie der Bezugssinn vollzogen wird. Alle drei Sinnrichtungen müssen dabei als Sinnganzheit aufgefasst werden, das heißt, sie konstituieren nur in ihrem Zusammenspiel das Verhältnis, das der Mensch zu seiner Lebenswelt einnimmt.44 In Anlehnung an Cimino werde ich Heideggers Analyseschema allerdings vereinfachen. Dieser fasst den Bezugs- und den Vollzugssinn zu einer Sinnrichtung zusammen. Er

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Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 117. Vgl. ebd., S. 116. »Der Ausgangspunkt des Weges der Philosophie ist die faktische Lebenserfahrung.« (Martin Heidegger: GA 60, S. 10, Herv. i.O und vgl. ebd., S. 11.) Vgl. Matthias Jung: Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919-1923. Aufbau einer eigenen Philosophie im historischen Kontext, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 13-22, hier: S. 16. Martin Heidegger: GA 60, S. 63. Vgl. ebd., S. 63. und Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 119.

2. Philosophische Grundlagen

führt damit weiter, was Heideggers eigene Beschreibung nahelegt: das Wie der Erfahrung in den Vollzug dieses Wie zu integrieren. Entsprechend folgert Cimino, dass Heideggers Weiterentwicklung von Husserls Philosophie gerade in seiner Betonung des Vollzugssinns liegt.45 Denn genau dieser begründet den Perspektivwechsel von einer essentialistischen Orientierung am Was-Sein hin zu einer phänomenologischen Orientierung am Wie-Sein der Welt.46 Im Folgenden soll die zentrale Bedeutung des Vollzugssinns durch die Analyse einer fiktiven Situation veranschaulicht werden. Dies stellt die konsequente Anwendung einer Methode dar, die nie auf den ›Menschen an sich‹, sondern immer auf konkrete Situationen der Lebenswelt abzielt. Die Grundkonstellation der fiktiven Situation werde ich dabei für das gesamte Kapitel beibehalten, um meine theoretischen Überlegungen zu unterstützen: Nehmen wir einmal an, ein Freund hätte, in dem Wissen, dass ich Süßspeisen über alles liebe, einen Apfelkuchen für mich gebacken. Trotz offenkundig aufwendiger Zubereitung hätte mir dieser Kuchen allerdings nicht geschmeckt. Schließlich hätte ich den Kuchen, in Anbetracht seiner Mühe und vor allem unserer Freundschaft, aber trotzdem aufs Äußerste gelobt. Als erste Sinnrichtung innerhalb dieser Situation kann der Kuchen näher betrachtet werden. Dieser ist für mich nicht ›Kuchen an sich‹, sondern er ist ein bestimmter Kuchen, der mir etwas Bestimmtes bedeutet. Allerdings tut er dies nur, indem ich auf bestimmte Art und Weise praktisch mit ihm umgehe. Erst durch den Vollzug wird der Kuchen also zum Gehalt meines Verstehens. Machen wir es noch konkreter. Ein möglicher Vollzug innerhalb dieser Situation bestünde darin, den Kuchen zu essen. Und indem ich ihn äße, verstünde ich den Kuchen in seiner Essbarkeit. Alternativ hätte ich den Kuchen aber auch von vornherein ablehnen können. Dadurch würde er dann zur Verkörperung meines Verzichts. An diesen hätte ich möglicherweise noch eine Begründung anschließen können. Beispielsweise hätte ich erklären können, dass ich aus gesundheitlichen Gründen zurzeit keinen Kuchen äße oder lediglich, dass ich ihn später essen wolle. Damit würde der Kuchen gleichfalls zu einem Gehalt meiner Rede, in der ich ihm die Eigenschaft, ungesund zu sein, zugeschrieben

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Vgl. ebd., S. 121, 125. Vgl. dazu auch Christoph Jamme: Stichwort: Phänomenologie, S. 41. Der Vollzugssinn ist »die spezifisch zeitlich-geschichtliche Dynamik eines gegebenen Erfahrungszusammenhangs«. (Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 119.)

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hätte. Die etwas ungelenke Schilderung der konkreten Situation veranschaulicht, was zuvor theoretisch erläutert wurde: Zum einen hängen die beiden Sinnrichtungen Gehalt und Vollzug sehr eng miteinander zusammen. Zum anderen zeigt sich der Vollzug als die zentrale Sinnrichtung, die den Gehalt mitbestimmt. Allerdings liegt die Verschränkung von Gehalts- und Vollzugssinn, wie Heidegger sie annimmt, weniger nah, als es gerade den Anschein hatte. So erklärt er: »Das Eigentümliche der faktischen Lebenserfahrung ist, daß das ›wie ich mich zu den Dingen stelle‹, die Art und Weise des Erfahrens, nicht mit erfahren wird. […] Die faktische Lebenserfahrung legt sich ganz in den Gehalt, das Wie geht höchstens in diesen mit ein.«47 In den durchschnittlichen Zusammenhängen des Alltags nimmt sich der Mensch also selbst ganz anders wahr, als Heidegger ihn beschreibt. Hier wird das Wie der Erfahrung, das heißt der Vollzug, zugunsten des Was abgeblendet. Was dies bedeutet, will ich erneut mithilfe des obigen Beispiels erläutern: In der geschilderten Situation ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich völlig in ihr gefangen bin: Der Kuchen auf meinem Teller und mir gegenüber der Bäcker, mit dem mich eine lange Freundschaft verbindet und der ganz offensichtlich stolz auf seinen Kuchen ist. Ich tue also, was man in solchen Situationen eben tut. Ich esse den Kuchen, bin höflich, vermeide eine unangenehme Konfrontation. Dabei wäre ich eigentlich völlig frei darin, mich in dieser Situation auf andere Art und Weise zu verhalten. Ich könnte einen Umgang wählen, der nicht nur meinem Freund, der seine Backkünste verbessern möchte, sondern auch mir, die ich den Kuchen ja gar nicht mag, vielleicht eher gerecht würde. Aber nein, ich halte mich an alte Gewohnheiten, ich sehe nur, was ich immer sehe. Ich verhalte mich alltäglich. Es ist an dieser Stelle wichtig zu verstehen, dass nicht aus der Einzelsituation heraus entschieden werden kann, wie alltäglich sich ein Mensch verhält. Für einen sehr impulsiven Menschen wäre auch das selbstverständliche Ablehnen des ungeliebten Kuchens alltäglich. Vielmehr geht es hier darum, dass das Verhalten des Menschen häufig nur das Resultat gewohnheitsmäßiger Verhaltensmuster ist und damit zu kurz greift.48 Das Verhältnis, das er dabei zu sich selbst bzw. zu den Dingen einnimmt, fasst Cimino als Entfremdung bzw. als Vergegenständlichung.49 Mit Ent-

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Martin Heidegger: GA 60, S. 12. Eine andere Ausformung der Alltäglichkeit ist das kopflose Umherirren von einer Tätigkeit zur nächsten. Dazu komme ich in Kap. 2.4.1. Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 138.

2. Philosophische Grundlagen

fremdung ist jenes eben geschilderte Verhalten gemeint, bei dem der Mensch sich selbst in seiner Freiheit nicht gerecht wird, also immer von der nächst besten Möglichkeit, die eine bestimmte Sache bietet, überrollt wird. Vergegenständlichung verweist dagegen darauf, dass der Mensch übersieht, dass er immer in komplexe Bezüge zu den ihn umgebenden Sachen verstrickt ist.50 Er versteht sich dann selbst als ein Subjekt, das klar vom gegenüberstehenden Objekt geschieden ist und dieses vollständig beherrschen kann. Beispielsweise könnte ich einfach festlegen, dass konfliktarme Lösungen stets die beste Umgangsweise für jegliche Situation darstellen. Dass der befreundete Bäcker das anders sehen könnte, sich also vielleicht eine ehrliche Rückmeldung gewünscht hätte, käme mir dabei nicht in den Sinn. Aber nicht nur der Alltag wird bestimmt von Entfremdung und Vergegenständlichung. Beide Tendenzen herrschen laut Heidegger auch gerade dort vor, wo sich der Mensch besonders überlegen wähnt, in der Wissenschaft nämlich und ihrem theoretischen Zugang zur Lebenswelt.51 Den spezifisch wissenschaftlichen bzw. theoretischen Bezug bezeichnet Heidegger als Einstellung. »›Einstellung‹ ist ein solcher Bezug zu Objekten, in dem das Verhalten in dem Sachzusammenhang aufgeht. Ich richte mich lediglich auf die Sache, ich stelle mich von mir weg auf die Sache ein. Mit dieser ›Einstellung‹ wird zugleich ›eingestellt‹ (im Sinne ›es wird damit aufgehört‹, z.B. wie man sagt: ›Der Kampf wird eingestellt‹) der lebendige Bezug zum Erkenntnisgegenstand.«52 Indem die Wissenschaft Objektivität53 zu ihrem methodischen Leitprinzip erklärt, scheint sie die Entfremdung und Vergegenständlichung der Alltäglichkeit sogar noch zu verschärfen.54 Was ist aber mit der Philosophie bzw. 50 51

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Vgl. Martin Heidegger: GA 60, S. 13. Auf seine Weise ist es natürlich auch Husserls Anliegen, die Philosophie gegenüber der Wissenschaft abzugrenzen. Dies wurde hier aus Gründen der Übersichtlichkeit vernachlässigt. (Vgl. dazu Odo Marquard: Der Einzelne, S. 191f.) Martin Heidegger: GA 60, S. 48. Objektivität wird vermeintlich erreicht, indem der Bezug zum Selbst eingestellt wird und damit den Blick auf ›die Sache an sich‹ nicht mehr trübt. Die Wissenschaft schaltet so die Zeitlichkeit aus. Das bedeutet, dass sie nur noch in der Gegenwart weilt und ihr Zukunft und Vergangenheit als Modifikationen dieser Gegenwart erscheinen: als sogleich-nicht-mehr und eben-noch-nicht-jetzt. Odo Marquard erklärt, dass an dieser Stelle die Flucht vor der Zeitlichkeit »sekundär rationalisiert [wird] als Zuwendung zur wahren (übersinnlichen, ewigen) Wirklichkeit.« (Odo Marquard: Der Einzelne, S. 217.) Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 137, 138.

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Das Lesen als Handlung

Phänomenologie? Wenn Heidegger diese als einen Lebensvollzug auffasst, der sich nicht grundsätzlich von anderen Vollzügen unterscheidet, gesteht er damit ein, dass auch sein Denken nicht frei von Entfremdung und Vergegenständlichung ist. Der Philosoph steht also selbst ständig in der Gefahr, den Vollzug in seinem Denken abzublenden.55 Wie nur lässt sich dem vorbeugen? Wie kann Heideggers Phänomenologie ihr Hauptaugenmerk auf die Vollzüge legen? Dazu reicht es nicht aus, die Entfremdung und Vergegenständlichung einmal theoretisch erkannt zu haben, um dann vor ihnen gefeit zu sein. Dies käme einem erneuten Verfallen an die trügerische Sicherheit der beiden Tendenzen gleich. Stattdessen muss mit dem Vollzug ernst gemacht werden, indem er ständig erneuert, das heißt nicht einfach routinemäßig wiederholt wird. Der Philosoph muss sich also selbst stets daraufhin befragen, in welchem Sinne er seine Möglichkeiten ausfüllt.56 Kann er sich offen halten für die Anforderungen, die ein Problem an ihn stellt oder flüchtet er sich allzu schnell in das, was man eben so tut? Für den Philosophen sind das die althergebrachten Antworten seiner Disziplin.57 Genau aus diesem Grund verzichtet Heidegger auch darauf, seine eigene philosophische Vorgehensweise systematisch zu beschreiben.58 Sein Denken will nicht zum Gemeinplatz, zum nur zitierten Gehalt, herabsinken. Es will erneuert werden. Entfremdung und Vergegenständlichung erweisen sich auch deswegen als so hartnäckig, weil sie in der Sprache konserviert werden. So findet sich die

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Laut Heidegger ist genau das das Problem der Philosophen vor ihm: »In der Philosophie ist seit Jahrhunderten Allgemeinheit nach der Gegenstandsseite hin als Charakteristikum des Objekts der Philosophie betrachtet worden.« (Martin Heidegger: GA 60, S. 56.) Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 137-139. Vgl. ebd., S. 141. Sehr anschaulich zeigt Charles Taylor, welche Vorurteile die philosophische Tradition der Philosophie sowie dem Alltagsdenken überliefert. Dazu zählt erstens die Vorstellung, dass wir unsere Welt durch Aufnahme einzelner Informationsbruchstücke schrittweise konstruieren, zweitens die Überzeugung, dass wir aus diesen kontingenten Eindrücken fundamentale Ideen ableiten können sowie drittens die Idee von der Neutralität von Sinneinheiten, die davon ausgeht, man könne den faktischen Gehalt einer Information von seiner funktionalen Bedeutung isolieren und ihn so objektivieren. Nicht zuletzt wegen der Verstellung durch diese Vorurteile ist es so schwierig, in ein vollzugshaftes Denken hineinzukommen. (Vgl. Charles Taylor: Engaged agency and background in Heidegger, in: Charles B. Guignon (Hg.): The Cambridge Companion to Heidegger, Cambridge, New York, Oakleigh 1993, S. 317-336, hier: S. 319f.) Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 74.

2. Philosophische Grundlagen

Sprechweise von Subjekt und Objekt nicht nur in der Philosophie, sondern indirekt auch in der Alltagssprache. Reflexive Verben mit Präpositionalobjekt zeigen das sehr anschaulich: ›Ich beschäftige mich mit dem Kuchen.‹ ›Ich konzentriere mich auf den Geschmack des Kuchens.‹ ›Ich ekle mich vor dem Kuchen.‹ Hier scheint es, als wären ich und der Kuchen zwei getrennte Sphären, die erst irgendwie zusammenkommen müssen. Dabei übersehe ich jedoch, dass mein Verstehen uns immer schon zusammenbindet. Ich kann diesen Kuchen nicht nicht verstehen. Immer nehme ich ihn auf eine bestimmte Weise wahr oder bewerte ihn. Und genau gegen diese entfremdete und vergegenständlichte Sprache muss die Phänomenologie stetig anarbeiten.59 Will sie den Menschen in allen seinen Möglichkeiten, also in Heideggers Worten ›ursprünglich‹, beschreiben, muss sie ausdrücklich machen, was Alltags- oder Fachsprache übersehen lassen. Sie muss um den rechten Ausdruck60 für ein vollzugsorientiertes Denken ringen.61 Terminologisch fasst Heidegger dies als formale Anzeige. Zwei Aspekte sind ihm dabei wichtig: Erstens hält er sein Denken formal leer. Das bedeutet frei von unhinterfragten und rein selbstbezüglichen Möglichkeiten.62 Damit wird der Ausdruck nicht durch Fremdes vorherbestimmt und bleibt offen für verschiedene Interpretationsmöglichkeiten.63 Anders ausgedrückt verweisen formal leere Ausdrücke nicht auf Gehalte, sondern auf den Vollzug. Dadurch bewahren sie die Anschauungsfülle konkreter Situationen. Sie sind also im Gegensatz zur theoretischen Einstellung nicht bestrebt, vermeintlich kontingente Gehalte eines Lebenszusammenhangs auszublenden, um zu so etwas wie einem wesentlichen Gehalt, zu der ›Idee hinter den Sachen‹ durchzudringen. Formal leere Ausdrücke greifen ins volle Leben.64 Allerdings drängt sich die Frage auf, wie sich dieser Anspruch überhaupt erfüllen lässt. Die Antwort darauf gibt der zweite Aspekt der formalen Anzeige: Anschauungsfülle lässt sich anzeigen und zwar indem die Anzeige formal leer ist. Werden nämlich keine konkreten Gehalte vorge-

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Vgl. ebd., S. 182. Es sollen Ausdrücke, aber eben keine Begriffe mit Anspruch auf Objektivität gefunden werden. (Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 3, S. 429.) Vgl. Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 118, 198f. Vgl. Martin Heidegger: GA 60, S. 63f. und Antonio Cimino: Phänomenologie und Vollzug, S. 203. Vgl. ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 199.

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Das Lesen als Handlung

geben, muss der Interpret65 die Beschreibungen entformalisieren. Dazu folgt er der Anzeige, indem er diese mit eigenen Erfahrungen anreichert. Er geht ihr in einer Ersten-Person-Perspektive nach. Insgesamt wird dem Interpreten damit eine aktive Rolle zugedacht, er muss selbst zum Phänomenologen werden, um Heidegger zu verstehen.66 Das Ziel der heideggerschen Philosophie, in Vollzügen zu denken, lässt sich von ihrer sprachlichen Umsetzung, der formalen Anzeige, also nicht trennen. Dadurch bewegt sich der Phänomenologe, Dank des zweifachen Anspruchs der formalen Anzeige, immer in einem Spannungsfeld. Einerseits will er nämlich prinzipielle Aussagen über die Strukturen menschlicher Vollzüge treffen,67 also Aussagen, die in ihrem Geltungsbereich über den einzelnen Menschen hinausgehen. Andererseits zielt sein Denken auf das Konkrete. Er will also jede Situation in ihrer Einmaligkeit ernstnehmen. Das, worauf Heideggers formale Anzeige verweist, ist damit »das ›Noch-nicht‹, d.h. noch nicht in ein genuines Leben Herausgebrochene, es ist das wesenhaft Vorweltliche. Dabei liegt aber doch in dem Sinn des Etwas als dem Erlebbaren das Moment des ›Auf zu‹, der ›Richtung auf‹, des ›In eine (bestimmte) Welt hinein.‹ – und zwar in seiner ungeschwächten ›Lebensschwungkraft‹.«68 Deutlich verständlicher als Heideggers eigener Ton nimmt sich erfreulicherweise eine Zusammenfassung seines Schülers Gadamer aus: »Eine Anzeige hält sich immer in der Distanz des Zeigens, und das heißt wiederum, daß der andere, dem etwas gezeigt wird, selber sehen muß. […] [D]ie Pointe ist, dass das Leere gerade ins Konkrete führt.«69 Heideggers Philosophie ist also keine Theorie. Sie zielt nicht darauf ab, das Wesen einer Sache im Begriff festzustellen. Sie findet ihre Vollendung überhaupt erst im Mitdenken. »[D]ie Erfüllung des Angezeigten ist Vollzug eines jeden von uns«70 . Aus den Ausführungen zum Vollzugsdenken lassen sich zwei zentrale Einsichten für meine Arbeit ableiten: Erstens werden auf Basis des Begriffspaars Gehalts- und Vollzugssinn verschiedene Zugänge zur Lebenswelt un65

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Aus Gründen der Lesbarkeit werde ich im Folgenden bei Begriffen wie Interpret, Leser, Rezipient o.Ä. die männliche Form wählen. Diese bezieht sich dabei auf Angehörige beider Geschlechter. Vgl. ebd., S. 209. Vgl. ebd., S. 207. Martin Heidegger: GA 56/57, S. 115. Hans Georg Gadamer: GW 3, S. 429. Ebd., S. 430.

2. Philosophische Grundlagen

terscheidbar. So neigen die Alltäglichkeit und die Theorie dazu, die ursprüngliche Verschränkung der beiden Sinnrichtungen abzublenden und den Gehalt zu priorisieren. Sie erzeugen damit die routinemäßige Wiederholung von Handlungen oder den Anspruch auf Objektivität. Beide Zugangsweisen reduzieren die unendliche Anschauungsfülle in konkreten Situationen. Sowohl die Alltäglichkeit als auch die Theorie fungieren damit als Gegenbegriffe zu einem Umgang mit der Lebenswelt, den ich als ästhetisch bezeichnen werde. Dieser stellt sich der unbegreiflichen Komplexität einer jeden Situation. Zweitens wird deutlich, dass Heideggers Denken geradezu notwendig produktiv anverwandelt werden muss. Dies ergibt sich als Konsequenz seines Vollzugsdenkens. So kann sich dieses nur von unhinterfragten Routinen befreien, wenn es als Vollzug erneuert wird. Kurz gesagt fordert Heidegger eine lebendige Auseinandersetzung mit seiner Philosophie ein, die an den jeweils in Frage stehenden Sachen neu erprobt werden soll.71 Diese Arbeit wird sich später am Vollzug des ästhetischen Lesens abarbeiten. Seine phänomenologische Beschreibung darf jedoch nicht mit einer theoretischen verwechselt werden. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es nicht, vermeintlich unwesentliche Details des Lesevollzugs abzuschneiden, um so zu seinem Wesen vorzudringen. Vielmehr gehe ich gerade umgekehrt vor. Aus verschiedenen Phasen in Heideggers Denken werde ich Kategorien (Verstehen, Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Wahrheit) entlehnen, die eine formal leere Beschreibung menschlicher Handlungen erlauben. Diese müssen dann von den Lesern meiner Arbeit aus einer Ersten-Person-Perspektive heraus ergänzt werden. Während eine theoretische Arbeit zum Lesen also beanspruchen würde, das Eigentliche zu nennen, gehe ich mit Heidegger davon aus, dass meine Beschreibung es erlaubt, das Eigentliche in seiner Vielheit und Vielschichtigkeit zu ergänzen. Es erschließt sich im Mitgehen mit dem hier formal leer Angezeigten. Das heißt auch, dass die in Kapitel 5 gegebenen konkreten Beispiellektüren von Texten als Veranschaulichung eines ästhetischen Lesens allenfalls stellvertretenden Anspruch behaupten dürfen. Sie sind gegebenenfalls durch das persönliche Verstehen des Lesers zu ergänzen oder zu ersetzen.

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So argumentiert auch Guzzoni und ergänzt, dass ein eigenständiges Mitdenken mit Heidegger innerhalb der Heidegger-Forschung viel zu selten vorkommt. (Vgl. Ute Guzzoni: Der andere Heidegger. Überlegungen zu seinem späteren Denken, Freiburg, München 2009, S. 13.)

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Das Lesen als Handlung

2.4

Zeit und Raum bei Heidegger

Im vorangehenden Abschnitt habe ich die Methode des Vollzugsdenkens entwickelt, die darin besteht, den Umgang des Menschen mit seiner Lebenswelt formal leer anzuzeigen. Zu den im Folgenden entwickelten formal leeren Ausdrücken zählen unter anderem die Zeit und der Raum. Mit Heidegger lässt sich fragen, wie diese ursprünglich verstanden werden. Oder terminologisch ausgedrückt: Es sollen die beiden formal leeren Ausdrücke der Zeitlichkeit und Räumlichkeit in ihrem Zusammenhang erarbeitet werden. Folglich werde ich im Anschluss an diesen Abschnitt auch von der sogenannten Zeiträumlichkeit bzw. vom zeiträumlichen Verstehen des Menschen sprechen. Dabei grenze ich erstens die Zeitlichkeit des Menschen gegen so etwas wie eine Uhrenzeit ab. Für den Raum ergibt sich zweitens, dass er nicht als theoretische Abstraktion im Sinne eines leeren dreidimensionalen Gefäßes aufgefasst werden darf. Raum und Zeit dienen mir dann in den folgenden Kapiteln als zwei zentrale formal leere Ausdrücke, mit denen sich menschliches Verstehen analysieren lässt. Dabei beziehe ich mich zunächst auf Sein und Zeit, später jedoch auch auf jüngere Texte wie die Beiträge zur Philosophie, in denen Heidegger eine Akzentverschiebung gegenüber seinem ersten Hauptwerk vornimmt.

2.4.1

Formal leere Ausdrücke in Sein und Zeit

Heideggers 1927 erschienenes, fragmentarisch gebliebenes erstes Hauptwerk72 wirft für die Philosophie »ein neues Verständnis von Zeit, Geschichte und Verstehen«73 auf. Mit dieser Aufzählung deutet sich an, dass es nicht ausreichend sein wird, im vorliegenden Abschnitt nur über die Zeit allein zu sprechen. Um einen Einblick in Heideggers Philosophie zu erhalten, werde ich deswegen noch andere zentrale Konzepte einführen, die meine Untersuchung leiten werden. Zu diesen zählen neben der Zeitlichkeit: Sinn, 72

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Sein und Zeit sollte ursprünglich sechs Abschnitte umfassen, von denen jedoch nur zwei vorliegen. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 39f.) Im Dezember 1926 entschied sich Heidegger, die bereits vorliegende Fortsetzung nicht mehr zu veröffentlichen, da sich in dieser Zeit ein Wandel in seinem Denken abzeichnete. (Vgl. Jean Greisch: Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928-32. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 115-127, hier: S. 115.) Thomas Rentsch: Vorwort, in: Thomas Rentsch (Hg.): Sein und Zeit, Berlin 2001, S. VIIX, hier: S. VII.

2. Philosophische Grundlagen

Alltäglichkeit, Jemeinigkeit, Verstehen und Gleichursprünglichkeit. Nicht zuletzt wird hier auch die Grundkonzeption des ästhetischen Weltzugangs als eines besonders intensiven Verstehens entwickelt. Dadurch nimmt dieses Teilkapitel einen zentralen Stellenwert innerhalb meiner Argumentation ein und entlastet zugleich die Abschnitte 2.4.2-2.4.4, in denen es nur noch um Raum- und Zeitfragen im engeren Sinne gehen wird. Des Weiteren möchte ich darauf hinweisen, dass es mir hier nicht um eine Gesamtdarstellung von Sein und Zeit geht. Ich entlehne hier nur die Konzepte, die sich im Zusammenhang meiner Fragestellung fruchtbar machen lassen. Damit nehme ich eine Vereinfachung von Heideggers Gesamtargumentation vor,74 die es mir jedoch ermöglicht, den Umfang meiner eigenen Grundannahmen möglichst gering zu halten. Den Ausgangspunkt von Sein und Zeit stellt die Frage nach dem Sein dar. Allerdings strebt Heidegger dabei keine wissenschaftliche Definition als Antwort an. So etwas wie eine objektive Prädikation75 über das Sein im Sinne von ›Sein ist X‹ ist also nicht zu erwarten. Heidegger erklärt auch, warum diese streng genommen gar nicht möglich ist: Lässt sich die Zuordnung ›Sein ist X‹ doch nur begreifen, wenn bereits verstanden ist, was dieses ›ist‹ (also das ›Sein‹) eigentlich bedeutet.76 Was hier zunächst als Zirkelschluss und damit als Sackgasse erscheint, lässt sich jedoch auch positiv wenden. Genau dies gelingt Heidegger in Sein und Zeit, indem er das Kreisen zu seiner grundlegenden Denkfigur macht.77 Es wird sich sogar zeigen, dass Heideggers Vorstellung vom Menschen gar nicht anders als zirkulär gedacht werden kann. Entsprechend ist das Entscheidende für seine Frage nach dem Sein »nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukom-

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Dies betrifft z.B. die explizite Unterscheidung zwischen einer ontischen und einer ontologischen Ebene, die der Forschung nach wie vor Rätsel aufgibt. (Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, S. 50f.) Ich werde diese Unterscheidung nicht übernehmen. Dies erscheint mir nicht notwendig, da ich Sein und Zeit lediglich als Analytik des Daseins, also als vollzugsmäßige Beschreibung des Menschen lese. Die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt stelle ich nicht. Prädizieren, so Heidegger, lenkt den Blick vom Sein des betrachteten Gegenstands gerade ab. Nicht sein Sein, sondern das Prädikat wird in den Blick gerückt und schränkt diesen ein. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 154f.) Vgl. ebd., S. 4 Fn. Heideggers Zirkel ist ein phänomenologischer, kein logisch-epistemologischer. (Vgl. Jean Grondin: Einführung zu Gadamer, S. 126.)

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Das Lesen als Handlung

men.«78 Statt einer Zuordnung ›Sein ist X‹ fragt er deswegen nach dem Sinn von Sein.79 Sinn meint dabei das »in der Auslegung Gegliederte als solches und im Verstehen überhaupt als Gliederbares Vorgezeichnete«80 . Aus dem Zitat lässt sich ableiten, dass Sinn über Auslegung zugänglich ist. Diese bezeichnet die phänomenologische Methode,81 in der das Verstehen »es selbst«, also ausdrücklich, wird.82 Sinn ist aber auch, so das Zitat, im Verstehen schon vorgezeichnet: Er ergibt sich durch die Gliederung von etwas, das jeder von uns schon immer versteht. Und genau diese Feststellung führt nun in den Kreis der Frage nach dem Sein und dem Menschen hinein. Denn tatsächlich, so Heidegger, haben wir doch eine, wenn auch unbestimmte, Vorstellung davon, was ›ich bin…‹ oder ›das ist…‹ und damit ›Sein überhaupt‹ bedeuten. Über genau jenes »durchschnittliche und vage Seinsverständnis«83 , so Heideggers These, verfügt letztlich jeder Mensch. Dieses Verstehen impliziert dabei nicht, dass wir das Wesen von Sein auch in Begriffe fassen könnten, vielmehr halten wir uns einfach darin auf.84 Wir kennen seinen Sinn, wobei Sinn sich jetzt noch leichter erklären lässt: Dieser stellt nämlich »den Umkreis möglicher […] Ansprachen von etwas« dar. Demnach wäre die Ansprache eines Kuchens im Sinne von ›Er schmeckt mir.‹ sinnvoll, die Ansprachen ›Er erzählt mir.‹ oder ›Er ist traurig.‹ aber nicht. Allerdings ist hier mit Ansprache nicht nur sprachliches Verhalten im engeren Sinne, sondern jeglicher Umgang mit den Sachen gemeint. Genauso stellen nämlich das Servieren und Essen sinnvolle Vollzüge mit einem Kuchen dar. Kurz gesagt bezeichnet der Sinn von Sein also den »Umkreis möglicher Bedeutungen« einer Sache für den Menschen.85 Wenn dies so ist, dann muss sich das Seinsverständnis in jeglichem Verhalten des

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Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 153. Auch in Der Ursprung des Kunstwerkes betont Heidegger noch die Vorrangstellung des Zirkels im Denken. (Vgl. Martin Heidegger: GA 5, S. 8f.) In meiner Arbeit werde ich die Begriffe Sinn und Bedeutung synonym verwenden. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 153. Siehe dazu auch S. 151: »Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn.« Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 148. Ebd., S. 5, Herv. i.O. Vgl. ebd., S. 5. Odo Marquard: Der Einzelne, S. 212f. Martin Nitsche erörtert zudem, dass Sinn jene Wahrheit über das Seiende darstellt, das spezifisch dem Menschen zuteilwird. In seinem späteren Denken versucht Heidegger dann, die Frage nach der Wahrheit weniger anthropozentrisch zu stellen. (Vgl. Martin Nitsche: Die Ortschaft des Seins, S. 13f.)

2. Philosophische Grundlagen

Menschen niederschlagen. Das meint aber nicht nur Verständnis und Verhalten zu Sachen, sondern auch zu seinem eigenen Sein und zum Sein anderer Menschen.86 Bei der Frage nach dem Sein bietet es sich deswegen an, vom Menschen und seinen Verhaltensweisen auszugehen, in denen sich der Sinn von Sein, das heißt dessen Gliederung bzw. Struktur, schon immer andeutet.87 Dieser muss nur noch phänomenologisch ausgelegt, also ausdrücklich gemacht werden. Das durchschnittliche, menschliche Verständnis von Sein führt Heidegger somit letztlich zu einer Fundamentalanalyse des Menschen, um erst von dort aus zur Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt zurückzukehren. Insgesamt vollführt er damit einen gedanklichen Zirkel.88 Die Schwierigkeit, in diesen Zirkel hineinzukommen, besteht darin, dass sich der volle Umfang des menschlichen Seins nicht direkt aus seinem Verhalten ablesen lässt. Denn häufig versteht und handelt der Mensch auf eine Weise, in der er bestimmte Teile seines Seins gerade wegdrängt, das heißt seine Möglichkeiten nicht voll ausschöpft. Ich hatte oben von Entfremdung und Verdrängung gesprochen. Diese schlagen sich natürlich auch in der Selbstauslegung des Menschen nieder, die ein bestimmtes Verhalten verabsolutiert und damit andere Umgangsweisen überblendet.89 Aus diesem Grund muss Heidegger seine Beschreibung des menschlichen Seins immer wieder aufs Neue prüfen. Denn alles, was er über den Menschen feststellt, soll für jede nur denkbare Situation gelten. Beliebige und zufällige Verkürzungen sollen verhindert werden.90 An dieser Stelle gilt es kurz inne zu halten, um einem sich möglicherweise anbahnenden Vorurteil zu begegnen. So muss betont werden, dass Heidegger keine metaphysische Philosophie betreibt, die das Sein als Wesen ›hinter‹ oder ›vor‹ dem menschlichen Verhalten, also auf einer höheren oder vorausgehenden Ebene, ansetzt. Vielmehr ist für ihn Sein immer Sein von konkretem Seienden und kein abstraktes Urbild.91 Aus konkreten Situationen sollen also 86 87 88 89

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Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 143. Vgl. ebd., S. 12f, 14f. Vgl. ebd., S. 37, 314f. Laut Heidegger hat der Mensch zunächst die Tendenz, »das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem e[r] sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der ›Welt‹«, das heißt, aus den Gegenständen heraus, mit denen er ständig umgeht. Diese machen zwar einen Teil seines ursprünglichen Selbstverständnisses aus, aber eben auch nur einen Teil. (Ebd., S. 15 und vgl., S. 58, 312.) Vgl. ebd., S. 16f. Zu den Voraussetzungen dieses Schlussprozesses, die Heidegger die hermeneutische Situation nennt, vgl. ebd., S. 232, 310f. Vgl. ebd., S. 16, 36f.

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Das Lesen als Handlung

allgemeine Strukturmomente des menschlichen Seins abgeleitet werden. Das heißt allerdings nicht, dass Heidegger das Individuum zu einem Vertreter einer bestimmten Gattung, der Gattung Mensch, herabwürdigen wollte. Ganz im Gegenteil: Wenn Sein immer Sein von konkretem Seienden ist, dann kann das Seinsverständnis des Menschen keine abstrakte Idee sein. Es ist nur da, indem ein bestimmter Mensch es lebt. Und leben meint nicht, dass dabei ein metaphysisches Wesen erfüllt wird, zu dem zusätzlich kontingente Eigenheiten dazu treten. Aus der Ersten-Person-Perspektive ergibt sich vielmehr: Ich bin mein eigenes ganzes Sein, indem ich es vollziehe. Oder anders herum: Das ganze Sein, das ich bin, ist jeweils mein eigenes. Diese Formel entspricht zugleich einem zentralen Strukturmoment des heideggerschen Vollzugsdenkens, der sogenannten Jemeinigkeit.92 Nur mit dieser kann das Sein angemessen gedacht werden, denn sie bezieht es auf bestimmte Menschen in einer bestimmten Lebenswelt, nicht aber auf die Idee vom ›Menschen an sich‹. Dieses Sein, das jeder Mensch jeweils für sich ist, nennt Heidegger schließlich die Sorge – nicht im Sinne von Besorgnis oder Sorglosigkeit, wie der Alltagssprachgebrauch es nahelegt, sondern als Ausdruck für die Seinsweise jedes Menschen. Die Sorge vollzieht sich entweder als Besorgen von Sachen oder als Fürsorge für Mitmenschen,93 wobei Heideggers vorrangiges Interesse Ersterem gilt.94 (Besonders hat es ihm das Besorgen des Hammers angetan.) Dem Anspruch nach gelten seine Ausführungen aber für alle Situationen, in denen der Mensch Sinn erzeugt, also auch für den Umgang mit anderen Menschen. Im Folgenden werde ich den Ausdruck der Sorge durch den des Verstehens ersetzen. Dadurch wird eine begriffliche Anschlussfähigkeit an Gadamers Denken sichergestellt (und ganz nebenbei die eine oder andere stilistische Kuriosität verhindert). Das Verstehen wird damit zu einem zentralen Ausdruck innerhalb meiner Argumentation. So kann es als synonym zum Vollzug verstanden werden. Folglich ist Verstehen nicht etwas, das dem Menschen manchmal unterläuft und manchmal eben nicht. Er ist immer schon verstehend.95 Verstehen ist seine Seinsweise. Dies 92 93 94 95

Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 191-193. Vgl. Matthias Jung: Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919-1923, S. 17f. Damit stelle ich mich gegen Heideggers eigenes Verständnis des Verstehens. Für mich stellt das Verstehen entsprechend nicht ein konstitutives Moment des Da-Seins neben Befindlichkeit und Rede dar, sondern es wird mit dem Da als wesenhafter Erschlossenheit gleichgesetzt. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 132.)

2. Philosophische Grundlagen

bedeutet nicht, dass der Mensch sich oder seine Welt nicht missverstehen könnte. Vollzugsmäßig gedacht erhält dieses Missverstehen lediglich eine positive Wendung. Es stellt einfach eine spezifische Art des Verstehens dar. Vom Verstehen kann also in keiner Situation abgesehen werden. Der Mensch ist, indem er versteht. Mit dem Wahrheitsbegriff des späteren Heidegger wird diese Einsicht in Abschnitt 2.8 noch weiter vertieft. An dieser Stelle lässt sich gleich noch ein weiteres grundlegendes Konzept des heideggerschen Vollzugsdenkens einzuführen, die Gleichursprünglichkeit.96 Diese bezeichnet »sowohl den Gedanken, daß vieles gleichermaßen ursprünglich ist, als auch den Gedanken, daß dieses Viele den gleichen Ursprung hat.«97 Die obige Grundannahme zum Verstehen lässt sich dann so reformulieren: Menschsein und Verstehen sind gleichursprünglich und ihr gemeinsamer Ursprung ist das Sein.98 Mithilfe der Gleichursprünglichkeit lassen sich aber nicht nur vollzugsmäßige Zusammenhänge leichter ausdrücken. Sie stellt ebenfalls das entscheidende Konzept dar, mit dem Heidegger das alte philosophische Problem des Subjekt-Objekt-Dualismus vermeidet. Diesen gilt es seiner Auffassung nach zu verhindern, da er nie ganz erklären kann, wie das Erkennen, das im Subjekt liegt, auf ein Objekt außerhalb seiner selbst zugreifen kann.99 Heideggers Lösung für dieses Dilemma lautet kurzum: Der Mensch »sichtet ›sich‹ nur, sofern e[r] sich gleichursprünglich in seinem Sein bei der Welt, im Mitsein mit Anderen als der konstitutiven Momente seiner Existenz durchsichtig geworden ist.«100 Kurzum: Vollzug und Gehalt, Verstehen und Verstandenes, Mensch und Lebenswelt sind gleichursprünglich. Oder wie zuvor ausgedrückt: Der Mensch ist, indem er versteht. Und das, was er da versteht, sind er selbst sowie seine Lebenswelt und seine Mitmenschen. Verstehen ist damit der ursprünglichste Vollzug seines Lebens, hinter den er selbst nicht zurückfragen kann. Jede Vorstellung von ei-

96 97

Vgl. ebd., S. 131. Marion Heinz: Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge (§§ 61-66), in: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2001, S. 169-198, hier: S. 172. 98 Heidegger bezeichnet diesen Zusammenhang der Gleichursprünglichkeit von Menschsein und Verstehen auch als apriorisches Perfekt: »Das auf Bewandtnis hin freigebende Je-schon-haben-bewenden-lassen ist ein apriorisches Perfekt, das die Seinsart des Daseins selbst charakterisiert.« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 85, Herv. i.O.) 99 Vgl. ebd., S. 60. 100 Ebd., S. 146.

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nem Subjekt, das ist, und danach auf ein Objekt trifft, stellt für Heidegger nur eine nachträgliche Umdeutung dieser Gleichursprünglichkeit dar. In Kapitel 2.3 habe ich diesbezüglich von einer Kritik an der Entfremdung und Vergegenständlichung gesprochen. Keinesfalls ist damit jedoch gemeint, dass Heidegger alles, was nicht Teil des menschlichen Verstehens ist, verneint.101 Er erkennt lediglich an, dass dieses Unverstandene für den Menschen nicht positiv beschreibbar ist, weil es den Verstehenshorizont übersteigt. In diesem Sinne nimmt Heidegger die Grenzen des eigenen sowie des menschlichen Denkens überhaupt sehr ernst. Nach Sein und Zeit wird sie allerdings noch an Wichtigkeit gewinnen. Um das Verstehen als ursprüngliches Moment des menschlichen Seins angemessen zu beschreiben, muss es noch konkreter gefasst werden. Im Begriff des Sinns war dies bereits angeklungen. So bedeutet Verstehen, dass die Lebenswelt dem Menschen Möglichkeiten zum Umgang mit sich selbst, seinen Mitmenschen und Dingen bereitet.102 Terminologisch fasst Heidegger diese erste Dimension des Verstehens als Entwurf. »Der Entwurf ist die existentiale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens.«103 Im Entwurf eröffnen sich dem Menschen also konkrete Möglichkeiten in seiner Lebenswelt. Entwerfen ist hier jedoch nicht gleichbedeutend mit Planen. Der Mensch zählt nicht notwendig seine Möglichkeiten auf, um dann eine auszuwählen. Vielmehr »wirft [er] sich in sie«104 . Das heißt, er ist bzw. versteht seine Möglichkeit, indem er sie realisiert. Das explizite Nachdenken über diese ist lediglich eine unter vielen Möglichkeiten seines Verstehens. Seine Möglichkeiten zu sein, heißt weiterhin, dass der Mensch diese nicht verstreichen lassen kann, da selbst das vermeintliche Nichteinlösen ein Erfüllen von Möglichkeiten darstellt. Letztlich kann der Mensch also zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen, das Wählen der Wahl bleibt ihm aber versagt. Und genau dieses existenzielle Gebundensein an die Umsetzung von Möglichkeiten, das ungefragte Hineingeworfensein in das eigene Leben, stellt für Heideg-

101

Vgl. Barbara Merker: Die Sorge als Sein des Daseins (§39-44), in: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger. Sein und Zeit, S. 117-132, hier: S. 127. 102 Das wesenhafte Verstehen von Lebenswelt, Mitmenschen und sich selbst bezeichnet Heidegger mit den Begriffen der Umsicht, Rücksicht und Durchsicht. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 146.) 103 Ebd., S. 145. 104 Ebd., S. 336.

2. Philosophische Grundlagen

ger die zweite Dimension des Verstehens dar. Terminologisch fasst er sie als Geworfenheit.105 Entwurf und Geworfenheit106 prägen den Menschen gleichursprünglich. Dabei formen sie in ihrer Gegenläufigkeit die Grundstruktur des Verstehens, die sogenannte Zeitlichkeit. Durch diese beruht jegliches Verstehen auf einem Entwurf, es weist also in Richtung einer konkreten Zukunft.107 Genauso ist Verstehen aber Geworfenheit, es kann sich niemals freimachen von einer bestimmten Vergangenheit.108 Damit wird Zeitlichkeit nicht im Sinne von Uhrzeit, das heißt gezählten Zeiteinheiten, aufgefasst. Sie ist der Sinn des menschlichen Seins. Oder anders herum: Seiend entwirft der Mensch eine Zukunft und ist geworfen in eine Vergangenheit. Mit Entwurf ist dabei allerdings nicht gemeint, dass der Mensch etwas plant, das er zunächst noch nicht ist, aber später sein wird. Vielmehr ist er in Heideggers Worten ›sich-selbstvorweg‹. Oder wie zuvor ausgedrückt: Der Mensch ist seine Möglichkeiten, die maßgeblich seine Zukunft prägen, indem diese nur bestimmte weitere Möglichkeiten vorbereiten. (Wenn ich ehrlich zu meinem Freund bin, muss ich später den Kuchen nicht aufessen. Wenn ich den Kuchen hingegen lobe, komme ich nicht darum herum.) Geworfenheit meint darüber hinaus, dass der Mensch immer schon ist, was er zuvor war. Heidegger bezeichnet dies als ›Schon-sein-in‹ einer Welt. Früheres Verstehen prägt den Menschen also in dem, wie er seine Möglichkeiten ist, da auch vergangene Möglichkeiten nur an bestimmte Möglichkeiten der Gegenwart anschlussfähig sind. (Da mein Freund offensichtlich stolz auf seinen Kuchen ist, fällt es mir schwerer, seinen Kuchen zu kritisieren und eventuell seine Gefühle zu verletzen, als den Kuchen einfach zu essen.) In diesem zeitlichen Sinne weist Verstehen einerseits über sich hinaus und geht andererseits sich selbst voraus. Sowohl der Entwurf als auch die Geworfenheit lassen sich damit als zirkuläre Strukturen auffassen. In Bezug auf die Zukunft erklärt Heidegger dies exemplarisch, wenn er ausführt, dass der Mensch aus seinen zukünftigen Möglichkeiten auf sich zurückkommt. Später formuliert er dann analog für die Vergangenheit, dass der

105 Vgl. ebd., S. 135. 106 Vgl. ebd., S. 191. Entwurf und Geworfenheit werden hier metonymisch für die ontologischen Charaktere Existenzialität und Faktizität eingesetzt. Dies bewirkt mein Verzicht auf eine Unterscheidung zwischen ontischer und ontologischer Ebene. 107 Vgl. ebd., S. 326-328. 108 Heideggers Begriff der Gewesenheit wird hier der Einfachheit halber durch den gängigen Begriff der Vergangenheit ersetzt.

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Mensch aus seinen vergangenen Möglichkeiten auf sich zukommt.109 Mit dieser Beschreibung zeigt sich erneut die Wichtigkeit des Zirkels als Denkfigur in Sein und Zeit.110 Hier symbolisiert er die Einheit von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart im Verstehen.111 Die Gegenwart charakterisiert Heidegger als das ›Sein-bei‹ den Sachen. Im Sein bei den Sachen realisiert der Mensch sein Verstehen. Dieses Realisieren kann jedoch ganz unterschiedlich ausfallen. In Abhängigkeit davon, wie stark Zukunft und Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden werden, lassen sich nämlich verschiedene Intensitätsstufen des Verstehens unterscheiden. Beispielsweise kann die Zeitlichkeit zu einer scheinbar »anfangsund endlosen Jetzt-folge«112 herabsinken. Die Vergangenheit gilt dann nur noch als »sogleich-nicht-mehr«, die Zukunft als »eben-noch-nicht-jetzt«113 . Dies geschieht, indem der Verstehende den Vollzug gegenüber dem Gehalt abblendet. Zeitlichkeit wird dabei zu einer anfangs- und ziellosen Wiederholung des immer Gleichen: der immer gleichen Gerätschaften, der immer gleichen Zutaten, des immer gleichen Themas, der immer gleichen Bekannten… Der Mensch versteht sich hier selbst nur noch als Verlängerung der ihn umgebenden alltäglichen Sachen.114 Seine Wahrnehmung verengt sich und er tut nur noch, was diese ihm nahelegen. Die Fülle an Möglichkeiten, die die Vergangenheit eröffnet, scheint hier abgeschnitten und die Zukunft ist nur noch eine mechanische Folge der kurzsichtig realisierten Gegenwart. In der Ersten-Person-Perspektive kann dieser Zustand als bedrückende Alternativlosigkeit empfunden werden oder in eine rastlose Geschäftigkeit umschlagen. Der Verstehende springt dann von einer unbefriedigenden Möglichkeit zur nächsten.115 Allerdings hat diese Art des Verstehens auch eine positive Seite. Um seinen Alltag zu bewältigen, muss der Umgang mit den Möglichkeiten der Lebenswelt routiniert ablaufen. Über die Jahre erweisen sich bestimmte Formen des praktischen Handelns, Wahrnehmens, Denkens und Fühlens in bestimmten Situationen als wirksam. Ziel ist es dann nicht, die beste aller Möglichkeiten für alle Beteiligten zu finden. Es geht vielmehr darum, die Last der Verantwortung für die eigene Freiheit nicht in jeder Situation zu spüren. 109 110 111 112 113 114 115

Vgl. ebd., S. 325, 328. Vgl. ebd., S. 314f.. Vgl. ebd., S. 328f, 391. Ebd., S. 329. Ebd., S. 421. Vgl. ebd., S. 126, 175. Vgl. ebd., S. 346f.

2. Philosophische Grundlagen

In diesem Sinne geben die Routinen des Verstehens also auch Halt.116 Insgesamt gilt jedoch, dass ein Verstehen, das die Gehalte privilegiert und darüber die Gegenwart zu einem bezuglosen Punkt isoliert, die Fülle an Möglichkeiten einschränkt, die in einer bestimmten Situation ergriffen werden könnten.117 Terminologisch werde ich diesen Intensitätsgrad des Verstehens als Alltäglichkeit fassen.118 Diese darf jedoch nicht als ein Wertbegriff missverstanden werden.119 Alltäglichkeit beschreibt lediglich die Art und Weise des Verstehens, die der Mensch zumeist und zunächst vollzieht – aber auch vollziehen muss, um alltäglichen Anforderungen gerecht zu werden und alltägliche Bedürfnisse zu stillen. Daneben gibt es aber auch Situationen, in denen der Mensch über seine Alltäglichkeit hinauswächst, er entflieht der Eintönigkeit oder kopflosen Geschäftigkeit. Heidegger beschreibt diese Situationen ebenfalls unter Bezugnahme auf das Konzept der Zeitlichkeit und räumt dabei der Zukunft eine Schlüsselrolle ein.120 Denn intensives Verstehen ist für ihn gleichbedeutend mit einer besonderen Bezugnahme auf die eigene Zukunft, genauer gesagt auf die radikalste aller Möglichkeiten in dieser Zukunft, den eigenen Tod.121 Den Tod auf diese besondere Weise zu verstehen meint jedoch mehr als die theoretischen Erkenntnis, dass er auf das Leben folgt. Damit übernähme man lediglich eine gehaltliche Deutung, in der der Tod als Termin neben anderen, wie einer Reise oder einer beruflichen Deadline, erscheint. Wenngleich der Stellenwert, den diese gehaltliche Feststellung selbst in alltäglichen Situationen einnimmt, schon die herausragende Bedeutung des To-

116 117 118

Vgl. ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 337, 339. Um mein Begriffsinstrumentarium möglichst klein zu halten, unterscheide ich nicht zwischen den Modi der Alltäglichkeit und Uneigentlichkeit – zumal beide in Sein und Zeit beinahe zusammenfallen. (Vgl. Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Hamburg 2014, S. 75.) Ich spreche nur von alltäglichem Verhalten. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es an die Sachen in der Lebenswelt, also die Gehalte, verfällt. 119 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 167. Auch wenn Heideggers Wortwahl zur Beschreibung der Alltäglichkeit eine wertfreie Lesart durchaus erschwert. Einige Beispiele dafür seien hier aufgeführt: »völlige[…] Bodenlosigkeit« (ebd., S. 168), »Überall-undnirgends-sein« (ebd., S. 173), »[…] ein heimliches Sich-gegenseitiges-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.« (Ebd., S. 175) 120 Vgl. ebd., S. 329. 121 »Sie [die Entschlossenheit, S. R.] birgt das eigentliche Sein zum Tode in sich als die mögliche existenzielle Modalität ihrer eigenen Eigentlichkeit.« (Ebd., S. 305.)

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des für das menschliche Verstehen anzeigt. Den Tod in seinem Vollzug aufzufassen, heißt aber dennoch etwas anderes. Dies verlangt nämlich, ihn als die eigenste »Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens« zu verstehen.122 Das Ablenken durch irgendein Hantieren oder Erledigen wird so unmöglich. Denn Schließlich betrifft diese extreme Möglichkeit den Menschen selbst und nicht beliebige Sachen um ihn herum.123 Heidegger nennt diesen besonderen Verstehensvollzug das Vorlaufen zum Tode. Darin sind vier Momente intensiven Verstehens impliziert: Erstens kann nur jeder Mensch selbst zum eigenen Tode vorlaufen. Niemand kann ihm dies abnehmen.124 Zweitens muss er akzeptieren, dass er in dieses Leben geworfen ist, also nicht anders kann, als ständig Möglichkeiten zu realisieren.125 Drittens erkennt er diese Möglichkeit des Vorlaufens zum Tode als eine besondere an. Er kann sich nicht einfach in die nächstbeste Situation flüchten, da es keinen gleichwertigen Ersatz für den Tod gibt. Stattdessen muss sich der Mensch dieser extremen Situation stellen, sich in sie vertiefen.126 Die Intensität seines Verstehens vollzieht er dabei, indem er nicht einfach in sich selbst und den naheliegenden Möglichkeiten verharrt, sondern über sich hinausgeht. Dafür muss der Mensch viertens aus der Zukunft auf sich zurückkommen.127 Wem diese vier Momente intensiven Verstehens bekannt vorkommen, irrt nicht. Denn offenbar paraphrasiert Heidegger hier seine früheren Ausführungen zur Jemeinigkeit, zum Verstehen und dessen Zeitlichkeit. Neu ist lediglich, dass er für das intensive Verstehen einen Primat der Zukunft einzieht. Dennoch scheint sein Denken insgesamt ins Kreisen zu geraten. Allerdings hat das Kreisen Methode. So habe ich zu Beginn dieses Abschnitts darauf hingewiesen, dass Heidegger keine objektive Prädikation über das Sein 122 Ebd., S. 250. 123 Vgl. ebd., S. 261. 124 Die Möglichkeit des Todes ist »unbezüglich«. (Ebd., S. 263.) Heidegger spricht hier auch davon, dass der Tod vereinzelt, dass »jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen [also den Tod, S. R.] geht.« (Ebd.) Damit ist jedoch nicht gemeint, dass der Mensch im Vorlaufen zum Tod sein Mitsein abschütteln kann. Lediglich das Verfallen in das Man wird dadurch verhindert. Deswegen kann ich in Kap. 2.6 mithilfe von Gadamer auch die Grenze des Todes und die Grenze des Anderen als gleichursprünglich auffassen. Eigentlich bei dem Anderen zu sein, bedeutet dann zugleich, eigentlich bei sich selbst zu sein, weil der Mensch den Anderen seinem Wesen nach versteht. 125 Die Möglichkeit des Todes ist »unbestimmt«. (Ebd., S. 265f.) 126 Die Möglichkeit des Todes ist »unüberholbar«. (Ebd., S. 264.) 127 Die Möglichkeit des Todes ist »gewiss«. (Ebd., S. 264f.)

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im Sinne von ›Sein ist X‹ vornehmen würde. Und genau das löst er hier ein. An entscheidender Stelle, dann nämlich, wenn er über den Tod spricht und sich jeder Leser heimlich einen Ausweg aus dem gedanklichen Kreisen erhofft, bleibt Heidegger im Zirkel. Seine Ausführungen besagen gerade nicht ›das Sein‹ oder ›der Mensch‹ oder ›intensives Verstehen sind ein X‹. Stattdessen verstrickt er sich in eine Reihe von Verweisungen: ›intensives Verstehen‹ ist ›Verstehen von Möglichkeiten in ihrem Vollzug‹ ist ›eine besondere Einheit der zeitlichen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‹ ist ›Vorlaufen zum Tode‹… Dagegen wäre eine Definition ›intensives Verstehen ist X‹ gleichbedeutend mit dem Versuch‹ dieses aus einer anderen Sache als ihm selbst kausal herzuleiten. Der Rahmen des Vollzugsdenkens, dem es aber um die Sachen selbst in ihrem »Daß- und Sosein«128 geht und nicht um ein Wesen hinter den Sachen, würde damit verlassen. Intensives Verstehen lässt sich also nicht aus etwas anderem ableiten. Es ist intensives Verstehen und kann nur vollzogen werden, indem es vollzogen wird. Folglich muss ein Vollzugsdenken darauf hinweisen, dass es existiert und beschreiben, wie es sich vollzieht. Dies erfolgt als ein Umkreisen, indem das intensive Verstehen aus verschiedenen Perspektiven mit formal leeren Ausdrücken beschrieben wird. Diesen Anspruch löst Heidegger auch tatsächlich ein. So geht er davon aus, dass der Mensch zu einer besonderen Art des Verstehens in der Lage ist. Darüber hinaus gibt er eine nähere Beschreibung des Soseins dieses Verstehens. Er gliedert es in seine wesentlichen Strukturmomente auf. Für das intensive Verstehen ergibt sich damit die folgende Beschreibung: Intensives Verstehen weist eine spezifische Zeitlichkeit auf, die in der besonderen Integration der Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht. In dieser Integration der Zeitdimensionen weicht der Verstehende nicht auf naheliegende Möglichkeiten aus oder wälzt Verantwortung von sich ab. Er vertieft sich in die Situation und findet die bestmögliche Umgangsweise für sich und für die verstandene Sache. Intensives Verstehen lässt sich damit auch als Offenheit für das Aussetzen von Routinen charakterisieren. Es entspricht sozusagen einem »Gewählthaben der Wahl«129 , einem radikalen Vollzug von Freiheit. Heidegger fasst beides terminologisch auch als Augenblick.130 Im Folgenden werde ich das von Heidegger beschriebene intensive Verstehen mit ästhetischem Verstehen gleichsetzen. Ich folge damit einem Ansatz

128 Ebd., S. 5. 129 Ebd., S. 384. 130 Vgl. ebd., S. 328, 338.

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Martin Seels.131 Bevor ich mich jedoch näher mit Seel bzw. mit der aktuellen Debatte zur Ästhetik auseinandersetzen kann, muss das vollzugsmäßige Kreisen um das Verstehen des Menschen noch etwas weitergetrieben werden. So lassen sich Heideggers Ausführungen zur Zeitlichkeit noch um die Dimension der Räumlichkeit ergänzen.

2.4.2

Räumlichkeit in Sein und Zeit

Bereits in seinem ersten Hauptwerk kritisiert Heidegger die cartesische Vorstellung vom Raum als extensio, also als leerer Ausdehnung.132 Der Mensch ist entsprechend nicht einfach in den Raum hineinerstreckt, wie ein ausgedehntes Körperding in eine noch größere Ausdehnung.133 Gleichfalls erfährt der Mensch den Raum nicht notwendig als Erstreckung in drei Raumrichtungen, in der sich Dinge von unterschiedlicher Abmessung und in unterschiedlichem Abstand zueinander befinden. Diese Sichtweise kann er zwar einnehmen, sie stellt jedoch bereits eine theoretische Abstraktion von jener Räumlichkeit dar, die sich dem Menschen ursprünglich zeigt.134 Dagegen betrachtet Heidegger die Räumlichkeit als eine bestimmte Dimension des Verstehens, die, analog zur Zeitlichkeit, Mensch und Lebenswelt zusammenbindet.135 Er spricht dabei vom Einräumen, also einem Verstehen, das die Sachen in ihrer Räumlichkeit freigibt.136 Dieses lässt sich über zwei Teilvollzüge, das Ent-fernen und Ausrichten, charakterisieren.137 Für ihre Veranschaulichung komme ich erneut auf mein früheres Beispiel zurück: Der erste Vorgang, das Ent-fernen, meint dabei, dass eine Sache, zum Beispiel eine Kuchengabel, in Abhängigkeit von meinem Vorhaben mehr oder weniger stark in meinen Fokus rückt. Dass diese Gabel zum Beispiel noch in der Geschirrschublade im Nebenraum, also außerhalb meiner Griffreichweite liegt, ändert nichts daran, dass sie mir besonders nahe ist, wenn ich gerade einen Kuchen essen will. Tatsächlich ist sie mir in diesem Moment sogar näher als das Paar Socken, zu dem ich schon den ganzen Tag in unmittelbarem physischen Kontakt stehe, das mir aber bei

131 132 133 134 135 136 137

Auch Seel identifiziert die eigentliche Zeitlichkeit mit dem ästhetischen Verstehen. Siehe dazu Kap. 4.2. Vgl. ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 103, 112. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 104f.

2. Philosophische Grundlagen

meinem Anliegen, den Kuchen zu essen, einfach nicht in den Sinn kommt. Am nächsten steht mir jedoch mein Freund, der Bäcker. In den meisten Situationen stechen nämlich Mitmensch einfache Dinge wie Kuchen, Gabeln oder Socken aus. Somit spannt sich der Raum jeweils relativ zum Umgang mit einer bestimmten Sache auf.138 Er ist für den Menschen eben nicht zuerst eine reine Ausdehnung. Zwar ließe sich Räumlichkeit in ihrer Erstreckung immer auch objektiv bemessen, in der geschilderten Situation hätte dies jedoch kaum Bedeutung.139 Neben dem Ent-fernen wird der Raum zweitens durch die Ausrichtung konstituiert. Diese besagt, dass ich den Platz, den ich einer Sache zumesse, relativ zu meinem Vorhaben bestimme.140 Die Kuchengabel steht für mich also in einem Zusammenhang zu Teller, Serviette und meinem Mund. Zwischen diesen Dingen spannt sich ein Sinnzusammenhang, eine sogenannte »Gegend«141 , auf, die dem Kuchenessen dient. Insgesamt konstituiert sich Räumlichkeit für Heidegger damit im Ent-fernen und Ausrichten von Menschen und Sachen relativ zu mir und meinem Vorhaben. Nähe und räumlicher Zusammenhang geraten dabei aber normalerweise nicht explizit in den Blick.142 Thematisch werden sie nur dann, wenn der selbstverständliche Umgang mit ihnen gestört wird. Dies geschieht, wenn sich Sachen als defekt, verschwunden oder auch unzugänglich erweisen.143 Oder ihre Räumlichkeit wird selbst zum Handlungsziel, wie zum Beispiel beim Vergleich einer kleinen Kuchen- mit einer großen Tafelgabel.144 In einem nächsten Schritt soll die Verbindung des im Verstehen erzeugten Raums zur Zeit geklärt werden. Dazu muss ich über die Ausführungen aus Sein und Zeit jedoch hinausgehen, da hier die Zeit als ursprünglicher und der Raum in Abhängigkeit von ihr betrachtet wird.145 Dieses Problemfeld wird in Heideggers späteren Texten bearbeitet, die ich im Folgenden einbeziehen 138 139 140 141 142 143 144 145

Vgl. ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 105f. Vgl. ebd., S. 103, 108. Vgl. ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 112. Heidegger betont in Sein und Zeit zwar, dass der Raum keinesfalls in Zeit aufgelöst werden könne (vgl. ebd., S. 367), eine genaue Beschreibung des Zusammenhangs bleibt er jedoch schuldig. Er führt lediglich aus, dass die Konstitution des Raums, wie er oben als ausrichtendes Entfernen erläutert wurde, der Alltäglichkeit entspricht (vgl. ebd., S. 367, 369). Eine nicht alltägliche Bedeutung von Raum scheint für ihn in der sogenannten »Situation« zu liegen (vgl. ebd., S. 299).

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Das Lesen als Handlung

werde. Um seine späteren Texte zu verstehen, muss jedoch zuvor eine zentrale Akzentverschiebung in Heideggers Denken nach Sein und Zeit nachvollzogen werden.

2.4.3

Heideggers Kehre?

Bisher habe ich mich auf jene Eckpunkte in Heideggers Vollzugsdenken berufen, die nach Cimino sein gesamtes Denken fundieren. Neben diesen Konstanten stellte sich nach Sein und Zeit jedoch eine grundsätzliche Akzentverschiebung ein, die aus Heideggers Auseinandersetzung mit der Kunst erwuchs. Nicht zuletzt deswegen betrifft sie auch meine vollzugsmäßige Beschreibung ästhetischen Verstehens. Damit gelange ich zu einem innerhalb der Forschung unterschiedlich datierten und kontrovers diskutierten Abschnitt in seinem Werk, das häufig als Kehre bezeichnet wird.146 Ich will diese komplexe Debatte allerdings nur insofern nachvollziehen, als sie meine Gesamtargumentation stützt. In Kapitel 2.4.1 habe ich bereits erwähnt, dass Verstehen im Denken von Sein und Zeit durchweg positiv bestimmt wird. Verstehenswiderstände oder Nicht-Verstehen bedeuten damit nie ein völliges Herausfallen aus dem Verstehen. Schließlich versteht der Mensch immer, wenn auch noch so unterschwellig, in welchem Kontext und in Bezug auf welchen Zweck er etwas nicht versteht.147 Verstehen gilt folglich als der ursprünglichste Vollzug des Menschen und Nicht-Verstehen als eine konkrete Ausformung dieses Vollzugs. Diese Grundannahme ändert sich jedoch in der Zeit nach 1927, also nach der Veröffentlichung der ersten zwei Abschnitte von Sein und Zeit. Heidegger arbeitete an der Fertigstellung des dort angelegten Projekts. Er versuchte, von der menschlichen Existenz ausgehend auf den Sinn von Sein überhaupt zurückzukommen, erkannte dabei jedoch bald, dass er das Pferd von hinten aufgezäumt hatte. Denn schließlich musste so etwas wie ›das Sein überhaupt‹ als ursprünglicher angesehen werden als der Mensch. Allerdings ließ sich diese Einsicht nicht konsequent mit der bisherigen Zentralstellung des menschlichen Verstehens vereinbaren. Denn wie sollte etwas vollzugsmäßig beschrieben werden, das außerhalb des menschlichen Verstehens liegt? Tatsächlich konnte mit dem Denken von Sein und Zeit das Problem ›des Seins

146 Vgl. Dieter Thomä: Stichwort: Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2003, S. 134-141, hier: S. 135. 147 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 210, 336.

2. Philosophische Grundlagen

überhaupt‹ nicht ins Auge gefasst werden. Heideggers erstes Hauptwerk geriet also an seine Grenzen, weil es die zu Beginn formulierte Fragestellung nicht zu Ende führen konnte. Ein Abbruch war die Folge. Innerhalb der Forschung wird dieser, wenn auch vorerst gescheiterte148 Richtungswechsel im unmittelbaren Anschluss an Sein und Zeit als erste Kehre bezeichnet. Etwa ab Mitte der 30er Jahre schließt sich dann die sogenannte zweite Kehre an, welche häufig als Reaktion auf sein erstes Hauptwerk betrachtet wird.149 Es ist Heidegger selbst, der hierfür den Begriff der Kehre ins Spiel bringt. Zugleich streut er jedoch auch immer wieder Behauptungen darüber, dass doch eine Kontinuität zwischen Sein und Zeit und seinem späteren Denken anzunehmen sei.150 Im Umgang mit diesen widersprüchlichen Selbstzeugnissen, also der Frage nach der Existenz zweier Kehren, schließe ich mich Dieter Thomä an. Dieser argumentiert sehr überzeugend, dass die Entwicklung von Heideggers Denkweg sich keinesfalls als Kehre, also in Form von 180°-Drehungen vollziehe. Stattdessen spricht er sich für eine vorsichtigere Sprechweise von zwei Bewegungen aus.151 Thomäs Interpretation fügt sich insofern in meinen Gedankengang ein, als die Auffassung weiterhin Bestand hat, dass bestimmte Grundlinien, wie das Vollzugsdenken, sich durch Heideggers gesamtes Werk ziehen. Um meine Argumentation an seine Denkbewegung nach Sein und Zeit anschlussfähig zu machen, muss aber dennoch eine Erweiterung meiner Grundannahmen erfolgen: Während nämlich bisher das Verstehen als ursprünglichster Vollzug des Menschen angesetzt wurde, muss ab sofort eine Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen angenommen werden. Der Ursprung dieser Vollzüge darf zudem nicht mehr im Menschen allein gesucht werden, da Letzteres seinen Horizont grundsätzlich übersteigt. Vielmehr muss die Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen im Sein verortet werden.152 Der Anschaulichkeit halber werde ich für diesen

148 Der Begriff des Scheiterns muss hier im Hinblick auf den Ausgangspunkt von Sein und Zeit, die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, verstanden werden. Wird Sein und Zeit dagegen wie in der vorliegenden Arbeit existenzphilosophisch gelesen, bleibt sein Wert vom Scheitern dieser Frage unbetroffen. Genau in diesem Sinne nimmt auch Odo Marquard eine »Akzentumkehrung« bei der Lektüre von Sein und Zeit vor. (Odo Marquard: Der Einzelne, S. 208f) 149 Vgl. Dieter Thomä: Stichwort: Kehre, S. 135-137. 150 Vgl. ebd., S. 139. 151 Vgl. ebd., S. 135, 139. 152 Vgl. ebd., S. 138.

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Zusammenhang im Folgenden Heideggers spätere Ausdrücke der Wahrheit bzw. des Offenen verwenden. Zwar stellt die Wahrheit bereits in Sein und Zeit ein wichtiges Konzept dar.153 Hier ist sie jedoch noch gleichbedeutend mit dem, was ich als Grundvollzug des Verstehens bezeichnet hatte.154 Verstehend zu sein hieß also so viel wie in der Wahrheit zu sein.155 Nach Sein und Zeit ist die Wahrheit hingegen keine reine Eigenschaft des Menschen mehr, sondern muss wie gesagt mit dem Sein zusammen gedacht werden. Der Mensch bewegt sich folglich in der Wahrheit des Seins, die sich gleichursprünglich entbirgt und verbirgt bzw. gleichursprünglich Verstehen und Nicht-Verstehen des Menschen beherbergt.156 Heidegger gelangt über verschiedene Zwischenstufen zu dieser Akzentverschiebung und buchstabiert innerhalb mehrerer Jahre die komplexen Auswirkungen eines solchen Denkens aus.157 Dazu zählt unter anderem die Erkenntnis, dass nach dem ›Sinn von Sein überhaupt‹ wie in Sein und Zeit gar nicht gefragt werden kann. Offenbart sich Sein doch immer in konkreten Sachen und nicht als Sein überhaupt. Hinzu kommt die Annahme, dass diese konkreten Offenbarungen wiederum andere, alternative Möglichkeiten verdecken. Historisch zeigt sich dies beispielsweise daran, dass der Mensch sich über die Zeiten hinweg verschiedene theoretische Begriffe vom Sein gemacht hat. Keiner dieser Begriffe ist aber in dem Sinne wahr, dass die anderen vollkommen unwahr wären. Sie alle stellen lediglich unterschiedliche Möglichkeiten des Zugriffs auf das Sein dar.158 Und so lange ein Begriff die Vorherrschaft beansprucht, werden andere verdeckt. Die Möglichkeit verschiedener Seins-Begriffe ist folglich nicht im Menschen fun-

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Gemäß einem Vollzugsdenken sagen ›Sein‹, ›Wesen des Seins‹ und ›Wahrheit des Seins‹ dasselbe aus. (Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, Frankfurt a.M. 2012, S. 233f.) In Bezug auf die Synonyme zu Heideggers Wahrheitsbegriff vgl. Holger Zaborowski: Wahrheit und die Sachen selbst, S. 345. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 221. Vgl. Dorothea Frede: Stichwort: Wahrheit, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 127-134, hier: S. 130. John Sallis und Holger Zaborowski gehen beide von fünf Entwicklungsstufen des heideggerschen Wahrheitsbegriffs aus. (Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, S. 8-13 und Holger Zaborowski: Wahrheit und die Sachen selbst, S. 346-356.) Vgl. Günter Seubold: Stichwort: Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 302-306, hier: S. 303.

2. Philosophische Grundlagen

diert, sondern kommt vom Sein her, einem den Menschen übersteigenden Wahrheitsgeschehen.159 Insgesamt lässt sich in Heideggers Denken also durchaus eine Bewegung oder Akzentverschiebung, jedoch kein völliger Richtungswechsel feststellen. Neben Thomä und Cimino konstatieren dies auch andere Autoren wie beispielsweise Jean Grondin160 oder Martin Nitsche. Letzterer versteht Heideggers gesamtes Denken als Ausdruck der Frage nach der »Offenbarkeit des Seienden«161 . (Oder wie zuvor ausgedrückt: als Ausdruck der Frage nach der Wahrheit.) Heidegger geht auf seinem Denkweg lediglich von unterschiedlichen Ursprüngen aus: zunächst stellt er die Frage nach der Wahrheit vom Menschen und später vom Sein her. Konkretisieren werde ich diese Akzentverschiebung sowohl im folgenden Abschnitt als auch in Kapitel 2.7, in dem ich das Verhältnis von Verstehen und Nicht-Verstehen behandle.

2.4.4

Heideggers Zeit-Raum

Nachdem ich im vorangehenden Abschnitt von der Vorstellung abgerückt bin, der Mensch stehe den Sachen in seiner Lebenswelt, seinen Mitmenschen und sich selbst immer ursprünglich verstehend gegenüber, müssen auch die unter dieser Prämisse gesetzten Ausdrücke der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit überarbeitet werden. Zudem wird das Verhältnis der beiden genauer untersucht. Dabei wird sich zeigen, dass die Zeitlichkeit, entgegen der Auffassung von Sein und Zeit, ohne eine gleichursprüngliche Räumlichkeit kein sinnvolles Konzept darstellt. Verstehen vollzieht sich also gleichursprünglich in Zeit und Raum. Nach Sein und Zeit gewannen Fragen des Raums für Heidegger zunehmend an Bedeutung.162 Somit nimmt es nicht wunder, dass er im Wintersemester 1935/36 zu folgender Einsicht gelangte: »Das heißt jedoch ganz und gar nicht, der Raum lasse sich aus der Zeit ableiten und sei überhaupt gegenüber der Zeit etwas Zweitrangiges.«163 In seinen Beiträgen zur Philosophie, die zwischen 1936 und 1938 entstanden und als zweites Hauptwerk nach Sein 159 160 161 162 163

Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 40. Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 90. Martin Nitsche: Die Ortschaft des Seins, S. 15, Herv. i.O. Vgl. Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger, S. 167. Martin Heidegger: GA 41, S. 16. Heidegger behält diese Überzeugung bei. Siehe dazu Martin Heidegger: GA 14, S. 29.: »Der Versuch in ›Sein und Zeit‹ § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, läßt sich nicht halten.«

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und Zeit gelten,164 führte Heidegger diesen Gedanken dann zum ersten Mal weiter aus.165 Seine Hinwendung zum Sein ließ ihn Zeit und Raum hier nicht nur als gleichursprünglich, sondern überhaupt als ursprünglicher (also nicht mehr nur vom Menschen her) denken. Als Ergebnis führte er den sogenannten Zeit-Raum ein.166 Mit diesem kritisierte Heidegger die Vorstellung von Zeit und Raum als zwei voneinander getrennten »Leerformen der Ordnung«167 , wie sie das frühere, metaphysische Denken geprägt hatte, und setzte ihr den Zeit-Raum als ein »Entrückungs-Berückungsgefüge (Fügung)«168 gegenüber. Diese zugegebenermaßen kryptische Bestimmung werde ich im Folgenden analysieren. Sie deutet bereits an, dass Heidegger in seinem zweiten Hauptwerk sprachlich experimenteller verfuhr als in Sein und Zeit. Ich werde hier deswegen deutlich enger am Originaltext arbeiten. Als Textgrundlage dienen mir dabei neben den Beiträgen zur Philosophie weitere Aufsätze, Vorträge oder Vorlesungen Heideggers. Diese Erweiterung des Textkorpus erfolgt auf Geheiß des Autors selbst.169 Wesentlichen Anteil an der Bedeutung des Entrückungs-Berückungsgefüges hat das Konzept des Gefüges bzw. der Fügung. In den Beiträgen zur Philosophie bezeichnet dieses die Einheit von Strukturmomenten, die »nicht einfach zusammengeklebt, sondern aufeinander zugeschnitten, ineinandergefügt« sind.170 Demzufolge sind Zeit und Raum als Gefüge trotz ihrer Verschiedenheit in einer Einheit des Ursprungs miteinander verbunden.171 Beide entspringen nämlich dem ursprünglicheren Zeit-Raum. Dieser wiederum

164 Vgl. Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger, S. 158. 165 Vgl. ebd., S. 379. Als Haupttext zum Zeit-Raum gilt laut Vetter Kap. V aus den Beiträgen zur Philosophie. (Vgl. ebd., S. 169, Fn 388.) 166 Zeit-Raum bezeichnet nicht das, was man landläufig unter Zeitraum versteht, nämlich eine Spanne von Zeit. (Vgl. Martin Heidegger: GA 65, S. 378.) Die Bindestrichschreibung des Wortes scheint sich jedoch erst in den Beiträgen zur Philosophie zu etablieren. In der oben erwähnten Vorlesung aus dem Wintersemester 1935/36 fehlt sie noch (vgl. Martin Heidegger: GA 41, S. 16.). 167 Martin Heidegger: GA 65, S. 373, Herv. i.O. 168 Ebd., S. 371. 169 Das Miteinbeziehen weiterer Texte zur Auslegung der Beiträge zur Philosophie wird durch Heidegger selbst gefordert. Deswegen verfügte er auch, dass sein zweites Hauptwerk erst im Anschluss an seine Vorlesungen veröffentlicht werden sollte. Denn die Vorlesungen stellen laut Heidegger die Voraussetzung für das Verständnis der Beiträge dar. (Vgl. Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger, S. 158, Fn 359.) 170 Martin Heidegger: GA 29/30, S. 161f. 171 Vgl. Martin Heidegger: GA 65, S. 377.

2. Philosophische Grundlagen

zeichnet sich durch die Vollzüge der Ent- und Berückung aus. Als Gesamtzusammenhang formuliert Heidegger dies in seinem zweiten Hauptwerk so: »Raum ist die berückende Ab-gründung des Umhalts. Zeit ist die entrückende Ab-gründung der Sammlung. Die Berückung ist abgründiger Umhalt der Sammlung. Die Entrückung ist abgründige Sammlung auf den Umhalt.«172 Zunächst bestätigt das Zitat die Deutung des Ausdrucks Gefüge. So wirken sich Zeit und Raum zwar unterschiedlich aus: Erstere be-rückt, Letzterer entrückt. Aber beide werden analog besprochen, keinem wird also ein Vorrang über den anderen zugestanden. Die beiden letzten Zeilen verdeutlichen zudem den ursprünglichen Zusammenhang von Zeit und Raum als einem Gefüge. Als »Umhalt der Sammlung« bzw. »Sammlung auf den Umhalt« durchdringen sie einander. Auffällig ist darüber hinaus, dass sowohl Zeit als auch Raum mit der »Abgründung« in Verbindung gebracht werden. Der Ab-grund ist laut Heidegger die Art und Weise, wie sich Wahrheit vollzieht. Entsprechend muss auch »der Zeit-Raum als Ab-grund begriffen« werden.173 Damit ist gemeint, dass dieser einerseits den Grund jeglichen Verstehens, aber andererseits auch den Grund für das Ausbleiben des Verstehens darstellt. Er ist also Grund und Abgrund zugleich. In Das Wesen der Sprache (1953/54) bezieht Heidegger diese paradoxe Grundannahme auf Zeit und Raum. Hier stellt er fest: »Von der Zeit läßt sich sagen: die Zeit zeitigt.//Vom Raum lässt sich sagen: der Raum räumt.«174 Es wird deutlich, dass Zeit und Raum nicht mehr als Seinsweise des Menschen aufgefasst werden. Nicht im Verstehen des Menschen wird Zeit gezeitigt und Raum eingeräumt. Es sind vielmehr die Zeit selbst, die zeitigt, und der Raum selbst, der räumt. Als Bezugs- und Zielpunkt von Heideggers Denken zeigt sich hier folglich das Sein. Und da dieses den Horizont des Menschen übersteigt, ist sein Verstehen notwendig ein abgründiges. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass Heidegger den menschlichen Blickwinkel ablegt, um sozusagen aus der Perspektive des Seins selbst zu schauen. Die Gebundenheit an die Erste-Person-Perspektive, die in Sein und Zeit noch Dreh- und Angelpunkt seines Denkens war, wird lediglich nicht mehr expliziert. Damit beschreibt der spätere Heidegger zwar auch, wie sich das Vollziehen von Zeit und Raum

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Ebd., S. 385. Ebd., S. 379f. Martin Heidegger: GA 12, S. 201.

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für den Menschen darstellt. Vor allem betont er aber, dass das Zeitigen und Räumen vom Menschen nie vollständig eingefangen wird. Entzerrt man die beiden Tautologien, wird zudem ihr vollzugsmäßiger Charakter deutlich. So besagt ›Die Zeit zeitigt.‹, dass die Zeit sich vollzieht, indem sie die Zeit ist. Oder anders herum: Die Zeit ist, indem sie sich vollzieht. Analoges lässt sich auch über den Raum aussagen. Der Raum ist, indem er sich vollzieht. Zeit und Raum sind also keine abstrakten Ideen, die vor und damit unabhängig von konkreten Sachen wirken.175 Aus dem obigen Zitat lässt sich jedoch nicht nur eine Verhältnisbestimmung von Zeit und Raum sowie eine Einordnung in Heideggers Vollzugsdenken ableiten. Des Weiteren zeigen die Ausdrücke der Ent- und Berückung auch an, auf welche Art und Weise der Mensch zeitlich und räumlich versteht. So schreibt Heidegger über die Zeit: »Zeitigend entrückt uns die Zeit«176 . Damit ergibt sich analog für den Raum: Räumend berückt uns der Raum.177 Beide Vollzüge werde ich im Folgenden näher beschreiben. Ich beginne mit der Zeit. Wie in Sein und Zeit verwendet Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie den Begriff des Augenblicks. Bisher bezeichnete dieser die umfassende Integration von Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart. Durch diese sollte sich ein ästhetisches Verstehen einstellen, das im Gegensatz zum alltäglichen Verstehen eine Situation in besonders angemessener Weise bewältigt. Der Zukunft wurde dabei eine Vorrangstellung gegenüber der Vergangenheit eingeräumt. In Heideggers zweitem Hauptwerk wird der Augenblick nun als die »erinnernd-erharrende« Gegenwart oder auch die »Sammlung der Entrückungen«178 bestimmt. Beide deuten die Verschränkung der Gegenwart mit

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Im Sinne des Vollzugsdenkens äußert sich Heidegger auch in seinen Beiträgen zur Philosophie. Hier fasst er den Zeit-Raum »als entspringend aus dem und gehörig zu dem Wesen der Wahrheit« auf. Wahrheit gibt es also nur, indem sie sich als etwas, hier als der Zeit-Raum, vollzieht. Wahrheit ist keine Idee hinter dem Zeit-Raum. (Martin Heidegger: GA 65, S. 371.) Martin Heidegger: GA 12, S. 201. Im Argumentationszusammenhang bietet sich ein analoges Direktzitat nicht an, da Heidegger den Begriff des Berückens später gegen den des Einräumens ersetzt. Deswegen spricht er vom »entrückend-Zubringende[n] der Zeit« und dem »einräumendzulassend-Entlassende[n] des Raumes«. (Ebd., S. 202.) Martin Heidegger: GA 65, S. 383f. Die »Sammlung« stellt keinen zentralen Begriff für Heideggers Denken dar. Sie kann als Synonym zum Verstehen aufgefasst werden: »Sammeln steht hier im Gegensatz zum Verbergen. Sammeln ist hier ent-bergen, offenbarmachen.« (Martin Heidegger: GA 40, S. 179.) Um dem Wahrheitsbegriff des spä-

2. Philosophische Grundlagen

Vergangenheit und Zukunft an. Noch deutlicher wird diese allerdings in einer Vorlesung aus dem Wintersemester 1934/35 beschrieben: »In diesem Nach-vorne-walten des Gewesenen in die Zukunft, die rückweisend das schon früher sich Bereitende als solches eröffnet, waltet das Zu-kommen und Noch-wesen (Zukunft und Gewesenheit) in einem: die ursprüngliche Zeit. […] Diese ursprüngliche Zeit entrückt unser Dasein in die Zukunft und Gewesenheit, besser: macht, daß unser Sein als solches entrückt ist, gesetzt es eigentlich [d.h. ästhetisch verstehend, S. R.] ist. […] Die Wesensverfassung dieser ursprünglichen Zeitlichkeit und wesentlichen Möglichkeiten derselben habe ich in der Abhandlung ›Sein und Zeit‹ dargestellt.«179 In ihren Grundfesten bleibt die frühe Bestimmung der Zeit aus Sein und Zeit also auch in den Beiträgen zu Philosophie bestehen. Der Mensch ist ursprünglich nie gefangen in einer Schneise zwischen früher und später, sondern in jedem Moment der Gegenwart entrückt in die beiden anderen Zeitdimensionen. Die Zeit zeitigt für den Menschen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, das heißt, sie entrückt ihn in aus der Gegenwart in die anderen beiden Zeitdimensionen.180 Hinzu tritt in den Beiträgen zur Philosophie jedoch noch eine zweite Annahme, nämlich die, dass die entrückte Gegenwart eine »in die Entscheidung hinausgerichtete Gegenwart« ist. Und entschieden werden soll in ihr das »Ob oder Ob-nicht des Anfalls des Seyns«181 . In die Beschreibung des zeitlichen Verstehens hält also die oben beschriebene Grundannahme Einzug, dass die Zeit den Horizont des Menschen übersteigt, er also gleichursprünglich versteht und nicht versteht. Abschließend lässt sich festhalten, dass sich Zeit auch beim späteren Heidegger als Einheit der Zeitdimensionen für den Menschen vollzieht. Allerdings liegt diese nie ganz in seiner Verfügung. Anstelle der Zeitlichkeit des Menschen, die dessen Verstehen als theoretischen Bezugspunkt verabsolutiert, werde ich deswegen im weiteren Verlauf meiner Argumentation von der Entrückung in Vergangenheit und Zukunft sprechen. Dass auch in dieser Konzeption von Zeit ein Primat der Zukunft gewahrt bleibt, werde ich erst in Abschnitt 2.8 thematisieren.

teren Heidegger gerecht zu werden, wird im obigen Zitat deswegen auch betont, dass die Sammlung der Zeit abgründig sei. 179 Martin Heidegger: GA 39, S. 109. 180 Vgl. Martin Heidegger: GA 12, S. 201f. 181 Martin Heidegger: GA 65, S. 384.

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Nach der Bestimmung der Zeit als Entrückung muss danach gefragt werden, in welcher Weise der Mensch durch den räumenden Raum berückt wird. In der eingangs zitierten Gesamtbeschreibung des Zeit-Raums aus den Beiträgen zur Philosophie wird das Berückende des Raums mit dem Umhalt zusammengedacht. In diesem wird laut Heidegger »der Augenblick und damit die Zeitigung gehalten«. Im Umhalt erhält die Zeitigung also eine »Stätte«. Der Zeit-Raum insgesamt wird damit zur sogenannten »Augenblicks-Stätte«182 . Hier wird deutlich, inwiefern Raum und Zeit nicht mehr getrennt voneinander aufgefasst werden dürfen. Wie bereits dargestellt, verlöre der Raum ohne die Entrückung in die Zeit seinen Sinn. Denn der Verstehenshorizont würde auf einen singulären Punkt ohne sinnhafte Bezüge zu einem Vorher oder Nachher reduziert. Andererseits scheint aber der Raum gleichursprünglich wichtig für das Verstehen zu sein. So gibt dieser der Entrückung in die Zeit überhaupt erst eine Stätte. Im Raum ankert die Zeit, findet Halt. Nur was ist mit dem Geben einer Stätte eigentlich gemeint? Wie genau versteht der Mensch räumlich? Für dieses Verstehen habe ich bislang zwei zentrale Ausdrücke eingeführt. So spricht Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie meist von der Berückung. Aus Sein und Zeit stammt zudem der Ausdruck des Einräumens,183 den der spätere Heidegger auch wieder aufgreift. In dem folgenden Zitat wird das Verhältnis der beiden Ausdrücke geklärt: »Die Berückung gibt die Möglichkeit der Schenkung als wesende Möglichkeit zu, räumt sie ein. […] Das Einräumen gründet und ist die Stätte des Augenblicks.«184 Der erste Satz lässt erkennen, dass Berückung und Einräumen synonym verstanden werden können, allerdings in einem anderen Sinne als noch in Sein und Zeit. So treten Berückung und Einräumen jeweils als Agens auf. Folglich ist, wie oben dargestellt, nicht der Mensch, sondern der Raum derjenige, der berückt bzw. einräumt. Die vollständige Beschreibung dieses Vollzugs lautet dann folgendermaßen: »Der Mensch läßt den Raum als das Räumende, Freigebende zu und richtet sich und die Dinge in diesem Freien ein.«185 Einräumen geschieht also über zwei 182 183

Ebd., S. 384. In Sein und Zeit bedeutet das Einräumen das Freigeben der Sachen auf ihre Räumlichkeit hin, das vom verstehenden Menschen vollzogen wird. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 111.) Hier ist der Raum für den Menschen also noch völlig durchsichtig. 184 Martin Heidegger: GA 65, S. 384. 185 Martin Heidegger: Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, hg. von Hermann Heidegger, St. Gallen 1996, S. 13. Beim späteren Heidegger findet sich der Ausdruck Ding anstelle von Sache. Ich verwende beide Ausdrücke synonym.

2. Philosophische Grundlagen

Teilvollzüge, das Zulassen und das Einrichten. Im Zulassen lässt der Mensch sich vom Raum berücken. Ursprung ist dabei aber nicht eine abstrakte Leere, in der Sachen aufgehoben sind. Vielmehr sind es die Sachen, die »selbst die Orte sind und nicht nur an einen Ort gehören.«186 Dadurch »empfängt das Einräumen sein Eigentümliches aus dem Walten der versammelnden Orte« bzw. Sachen. Dennoch existiert der Raum nicht ohne den Menschen. »Vielmehr braucht der Raum, um als Raum zu räumen, den Menschen.«187 Wirklich anschaulich wird dieses Einräumen allerdings erst, wenn man den zweiten Teilvollzug, das Einrichten, betrachtet. In diesem bereitet der Mensch »den Dingen die Möglichkeit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören.«188 Ein ähnlicher Gedanke ist bereits aus Sein und Zeit bekannt: Raum ist, indem der Mensch Sachen beachtet (ent-fernt) und in einen Sinnzusammenhang stellt (in einer Gegend ausrichtet). Der spätere Heidegger unterzieht diese Vorstellung jedoch einer Akzentverschiebung. Damit berücken die Sachen in der Lebenswelt das Verstehen des Menschen. Dieser wiederum lässt die Berückung zu, indem er die Sachen wahrnimmt und sinnhaft einordnet. Erproben wir das eben entwickelte Raum-Konzept noch einmal an einer kritischen Frage: Wo bleibt bei all diesen Überlegungen eigentlich so etwas ›der Raum überhaupt‹, die Erstreckung in drei Raumrichtungen? Zunächst fällt auf, dass die obige Hauptthese, die Sachen seien die Orte, den Ort im Plural behandelt. Entsprechend betont Heidegger auch an anderer Stelle: »Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus dem Raum.«189 Wenn Raum aus Orten bzw. Dingen entlassen wird, kann es also nur jeweils diesen Raum bzw. mehrere Räume geben.190 Von ›dem‹ Raum spricht Heidegger überhaupt nur polemisch, dann nämlich wenn er sich auf die mathematische Anschauungsform, also die theoretische Beschreibung des Raums, bezieht.191 Gestützt wird diese These auch durch einen Umkehrschluss, den

186 Martin Heidegger: GA 13, S. 208 und vgl. Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 148. 187 Martin Heidegger: Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, S. 15. 188 Martin Heidegger: GA 13, S. 207. Diese Bestimmung erinnert erneut an Sein und Zeit. In Die Kunst und der Raum räumt der Mensch eine sogenannte Gegend ein. (Vgl. ebd., S. 207) Schon in Sein und Zeit wurde die Gegend als das »Wohin des möglichen zeughaften Hingehörens« bestimmt. (Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 103, Herv. d.Verf.) 189 Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 149, Herv. i.O. 190 Vgl. ebd., S. 150. 191 Vgl. ebd., S. 150, 153.

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Heidegger im Wintersemester 1935/36 formuliert. Dieser begründet, warum es ›ein Ding überhaupt‹ nicht geben kann, sondern lediglich jeweils einzelne Dinge:192 »Aber einmal angenommen, die zwei einzelnen Dinge seien schlechterdings gleich, so ist dennoch jedes je dieses Ding, denn jede[s] der beiden […] ist an einem anderen Ort; und wenn sie denselben Ort besetzen sollen, dann kann das nur geschehen zu einem je anderen Zeitpunkt. Ort und Zeitpunkt machen auch schlechterdings gleiche Dinge zu je diesen, d.h. zu verschiedenen.«193 Ein bestimmtes Ding entlässt also jeweils seinen Ort und seine Zeit. Oder auch: Dieses Ding ist jeweils dieses, weil es an seinem Ort und in seiner Zeit begegnet. Mit Heidegger lässt sich somit zeigen, dass die Frage nach ›dem Raum überhaupt‹ von vornherein falsch gestellt ist. Aber wie sieht es denn mit der Zeit aus? Zwar stellt sich das analoge Problem einer objektiven Zeit nach ihrer Bestimmung als Einheit der drei Zeitdimensionen nicht mehr. Aber womöglich muss gerade umgekehrt gefragt werden. Ist denn die Zeit nicht vielmehr etwas ›rein Ich-haftes‹ bzw. Subjektives? Schließlich bezeichnet die Zeitlichkeit des Menschen ja das Ineinander seiner vergangenen, aktuellen und zukünftigen Möglichkeiten. Auch Heidegger stellt diese Frage – jedoch nur, um sie in der Folge eindeutig zu verneinen.194 Denn die Zeit ist nicht nur die Entrückung des Menschen. Erinnern wir uns: Es ist die Zeit, die zeitigt. Und schon in Sein und Zeit, das heißt ohne die Wendung zum Sein und damit zur Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen, wäre die Behauptung einer rein subjektiven Zeit unhaltbar. Bereits hier fragt Heidegger nämlich ursprünglicher und entdeckt als Bedingung der Möglichkeit einer subjektiven oder auch objektiven Zeit die Tatsache, dass der Mensch immer schon versteht und darüber in Beziehung steht zu seinen Mitmenschen und der Lebenswelt.195 Der Mensch weist somit wesenhaft über sich hinaus. Er ist nie reines Subjekt. Zusammenfassend lassen sich Zeit und Raum als konkrete Ausformungen eines ursprünglichen Wahrheitsgeschehens fassen, das den Menschen übersteigt. So hat nicht nur der Mensch allein, sondern haben auch die konkreten

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Vgl. Martin Heidegger: GA 41, S. 14. Ebd., S. 15. Martin Heidegger: GA 65, S. 376. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 419f.

2. Philosophische Grundlagen

Sachen in der Lebenswelt entscheidenden Anteil daran, welche Möglichkeiten der Mensch ergreift oder auch übersieht. Zudem vollziehen sich Zeit und Raum grundsätzlich unterschiedlich, sind aber zugleich untrennbar aufeinander bezogen. Denn ohne Zeit wäre der Mensch ohne Sinn. Er könnte sich ohne Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen gestern, heute und morgen nicht orientieren. Und ohne Raum, also ohne die Sachen, fände er keinen Halt, von dem her er seine Möglichkeiten vollziehen könnte. Sein Verstehen wäre leer.196 Verstehen vollzieht sich aus einer Ersten-Person-Perspektive damit gleichursprünglich als Entrückung in die Zeit und als Berückung durch den Raum.

2.5

Fundierung: Kontinuität zwischen Heidegger und Gadamer

An dieser Stelle meiner Arbeit tritt mein zweiter theoretischer Gewährsmann, Hans-Georg Gadamer, auf den Plan. Da das Verhältnis seines Denkens gegenüber dem von Heidegger innerhalb der neueren Gadamer-Forschung kontrovers diskutiert wird, unterbreche ich meine Argumentation kurz, um dieser Problematik nachzugehen. Kapitel wie dieses, die meinen Gedankengang unterbrechen, überschreibe ich im Folgenden mit dem Ausdruck Fundierung. Diese dienen dazu, zusätzlichen Positionen aus der Forschung Raum zu geben. Fundierungen können dabei informierenden Charakter haben oder eine kritische Auseinandersetzung mit fremden Positionen enthalten. Insgesamt ist die Argumentation meiner Arbeit aber auch ohne Lektüre dieser Kapitel zu verstehen. Die neuere Forschung stellt die bisher behauptete Anschlussfähigkeit von Gadamers Denken an Heidegger teilweise in Frage. Entsprechend möchte ich noch einmal die Legitimität der geplanten produktiven Verknüpfung der beiden Denkwege überprüfen. Allerdings muss hier betont werden, dass das Anliegen meiner Arbeit kein philosophiegeschichtliches, sondern ein systematisches ist. Es soll eine systematische Beschreibung ästhetischen Verstehens vorgenommen werden. Fundierungen wie diese werden also nicht in eine Einflussgeschichte der Philosophie bzw. der Ästhetik in all ihren Winkelzügen ausufern. Vielmehr geht es mir darum, die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen philosophischen oder später theoretischen Positionen möglichst 196 »Die Zeit räumt ein, niemals berückend.//Der Raum zeitigt ein, niemals entrückend.« (Martin Heidegger: GA 65, S. 386.)

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kurz zu halten und auf die Gesamtargumentation meiner Arbeit hin zuzuspitzen. Nach wie vor trägt die neuere Forschung Gadamers eigener Berufung auf seinen Lehrer197 Rechnung. So erkennt sie insbesondere die Hermeneutik der Faktizität, das heißt Heideggers frühe Vorlesungen, als entscheidende Einflussgröße an.198 Für die späteren Werkphasen hingegen gilt dies nicht uneingeschränkt. Vor allem in Bezug auf Sein und Zeit, aber auch das Spätwerk sieht die Forschung Differenzen. Deswegen muss geprüft werden, ob diese einer systematischen Verbindung von Gadamers und Heideggers Denkwegen entgegenstehen. Eine genauere Betrachtung der Problemlage führt jedoch schnell zu ihrer Entschärfung. Rückendeckung gibt dabei nicht zuletzt Heidegger selbst, der eine Kontinuität zwischen seinen verschiedenen Werkphasen behauptet.199 Unter der Prämisse, dass Heideggers frühe Vorlesungen großen Einfluss auf Gadamer nahmen, sollte diese Kontinuität auch eine Anschlussfähigkeit von Heideggers späterer Philosophie an Gadamer ermöglichen. Dazu muss der Zugriff auf das Denken beider, wie im Falle meiner Arbeit, nur grundsätzlich genug gewählt werden. Denn schließlich ist mir nicht an den Spezialfragen Heideggers und Gadamers gelegen. Vielmehr geht es mir darum, für meine Beschreibung ästhetischen Verstehens basale Denkbewegungen der beiden zu entlehnen, die ich mit Heidegger als Vollzugsdenken fasse. Fragt man so grundsätzlich, zeigt sich, dass die Gadamer-Forschung durchaus zentrale Übereinstimmungen mit Heideggers Philosophie anerkennt. Diese konnte ich bereits bei meiner Sein und Zeit-Lektüre fruchtbar machen. Um innerhalb des komplexen Texts nicht den Überblick zu verlieren, lag es nämlich nahe, gerade die Gemeinsamkeiten im Denken der beiden Philosophen als Orientierungspunkte zu wählen. Dies betrifft zu allererst den Stellenwert des Verstehens als ursprünglichen Vollzug oder anders ausgedrückt, die Annahme, dass der Mensch nicht anders kann als zu verstehen, sobald er ist. Zweitens gehört dazu, dass Verstehen sich stets zeiträumlich vollzieht.200 Beide Grundannahmen teilt auch Gadamer.

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Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 81 und Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 102. 198 Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 92. und Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 99, 101. 199 Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 88. 200 Vgl. ebd., S. 91, 93.

2. Philosophische Grundlagen

Der von der Gadamer-Forschung herausgestellte wichtigste Unterschied zu Heidegger betrifft dagegen die Frage nach dem ›Sinn von Sein überhaupt‹ in Sein und Zeit.201 Für Gadamer stellt diese eine inkonsequente Ausweitung des Vollzugsdenkens der frühen Vorlesungen dar. Allerdings erkennt Heidegger diese Schwäche im Anschluss an sein erstes Hauptwerk selbst und nimmt, wie eben gezeigt, eine Akzentverschiebung in seinem Denken vor. Aus dieser Sachlage ergibt sich für mich, dass ich in Sein und Zeit schwerpunktmäßig die existenziale Analytik der menschlichen Existenz zur Kenntnis nehme. Hinweise auf den ›Sinn von Sein überhaupt‹ werden dagegen konsequent ausgelassen. Die Frage nach dem Sein bzw. nach der Wahrheit kann ich somit erst vom späteren Heidegger entlehnen. Damit ergeben sich erneut Übereinstimmungen mit Gadamer, der ebenfalls auf der Basis dieses Wahrheitsbegriff arbeitet. Im Gegensatz zu Heidegger setzt er ihn aber einfach voraus, ohne ihn zu erläutern.202 Mithilfe von Gadamer könnte ein vollzugsmäßiger Wahrheitsbegriff entsprechend kaum systematisch entwickelt werden. Ein Vorteil seiner Philosophie ist jedoch seine Perspektive. Während Heidegger nämlich meist von der Wahrheit her auf den Menschen schaut, nimmt Gadamer genau umgekehrt eine menschliche, das heißt eine Erste-Person-Perspektive, auf das Wahrheitsgeschehen ein. Insgesamt erarbeite ich deswegen die Grundlinien eines radikalen Vollzugsdenkens mithilfe von Heidegger, überführe diese aber mit Gadamer in eine Erste-Person-Perspektive. Durch eine Orientierung am Wahrheitsbegriff des späteren Heidegger entgehe ich zudem Vorwürfen an die Hermeneutik, wie sie die aktuelle ästhetische Diskussion teilweise formuliert. Laut dieser würden hermeneutische Ansätze komplexe Phänomene auf eindeutigen Sinn hin festlegen bzw. zu einer gewaltsamen Harmonisierung von Teil und Ganzem neigen. In Abschnitt 3.2.2 werde ich mich diesem Vorwurf ausführlicher widmen. Abschließend zeigt sich also, dass ausreichend Bezüge zwischen den Denkwegen Heideggers und Gadamers vorliegen, um eine sehr grundlegen201 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 103. und Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 92. Nicht zuletzt deswegen kommt Gadamer auch zu dem Schluss: »die Kehre Heideggers ist in Wahrheit eine Rückkehr.« (Hans-Georg Gadamer: GW 10, S. 74.) 202 Dieser Wahrheitsbegriff steht in Gadamers Hauptwerk zwar als wichtige Bezugsgröße im Hintergrund, wird aber kaum systematisch erläutert. (Vgl. Holger Zaborowski: Wahrheit und die Sachen selbst, S. 359.) Dass der Wahrheitsbegriff des späteren Heideggers für Gadamer tatsächlich zentral ist, zeigt sich vor allem in späteren Aufsätzen. Hier verweist Gadamer teilweise auf diesen. (Vgl. z.B. Hans-Georg Gadamer: GW 4, S. 46 oder GW 8, S. 40, 125, 388-391.)

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Das Lesen als Handlung

de wechselseitige Lektüre ihrer Texte zu legitimieren. Zugleich helfen mir die Differenzen zwischen beiden dabei, bestimmte Lektüreschwerpunkte zu wählen bzw. Denkformen und Argumente des einen gegen die des anderen zu ersetzen und so gezielt auf die Beschreibung ästhetischen Verstehens aus einer Ersten-Person-Perspektive hinzuarbeiten.

2.6

Selbst- und Fremdbezug des Verstehens

Heideggers Hermeneutik des menschlichen Lebens hat gezeigt, dass Verstehen ein ursprünglicher Vollzug ist, in dem sich der Mensch schon immer bewegt.203 Das Verstehen kann dabei unterschiedliche konkrete Ausformungen annehmen. So kann der Mensch praktisch mit Werkzeugen hantieren, theoretisch über ein Problem nachdenken oder ein Kunstwerk betrachten. Ist das Verstehen dabei besonders intensiv, nenne ich es ästhetisch. Mit Gadamer ließe sich auch von einem »erhöhte[n] Lebensvollzug«204 sprechen. Bisher habe ich menschliches Verstehen durch seine Zeiträumlichkeit charakterisiert und damit zwei Kategorien gewonnen, Zeitlichkeit und Räumlichkeit, mit der sich jegliches Handeln analysieren lässt. In diesem Abschnitt treten nun noch zwei weitere Kategorien hinzu, die bisher zwar implizit mitgedacht wurden, aber genau wie Zeit und Raum einer eigenständigen Erläuterung bedürfen. Diese Kategorien sind der Selbst- sowie der Fremdbezug jeglichen Verstehens. Mit Gadamer lassen sich diese entwickeln, da seine gesamte Philosophie der Begegnung mit dem Anderen und damit der Bezugnahme bzw. der Unterscheidung zwischen einem Ich und einem Du gewidmet ist.205 Dieser Interessenschwerpunkt wird es auch erlauben, den vom frühen Heidegger postulierten Primat der Zukunft in Form des Vorlaufens zum Tode in eine besser handhabbare Formulierung zu übersetzen. An die Stelle des Todes tritt dabei nämlich der oder das Andere. Damit sind Sachen oder Menschen in der Lebenswelt gemeint, die allein dadurch, dass sie nicht der Verstehende selbst, sondern fremd sind, diesen stetig herausfordern und ihn über sich selbst hinauswachsen lassen. Darüber hinaus ist Gadamers Denken für diese Arbeit wichtig, da er zwar die Akzentverschiebung in Heideggers Denken übernimmt, allerdings nicht das

203 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 101. 204 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 425. 205 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 134f.

2. Philosophische Grundlagen

Sein, sondern den Menschen ins Zentrum seines Denkens rückt.206 Mehr als Heidegger zielt Gadamers Perspektive also darauf ab, konkrete Situationen menschlichen Handelns zu analysieren. Um die Ausarbeitung der Kategorien des Selbst- und Fremdbezugs zu gliedern, ziehe ich eine Einteilung des Heidegger- und Gadamer-Experten Jean Grondin heran. Dieser unterscheidet in Gadamers Verstehensbegriff vier Ebenen, mit denen sich das Verhältnis zwischen Verstehendem und Anderem analysieren lässt. In lebendigen Verstehensvollzügen sind diese Ebenen natürlich immer ineinander verschränkt,207 hier haben sie jedoch heuristische Funktion. Sie helfen dabei, die verschiedenen Anteile des Selbst- und Fremdbezugs genauer zu beschreiben. Die erste Ebene des Verstehens stellen kognitive Verstehensvollzüge dar. Diese ermöglichen es dem Menschen, seine Umwelt intuitiv zu erfassen, also zum Beispiel einen Apfelkuchen als Apfelkuchen einzuordnen. Laut Grondin wird diese Ebene bei Gadamer einfach vorausgesetzt, ohne dass er sie genauer expliziert.208 Im Prinzip lässt sie sich deswegen mit der zweiten Ebene zusammenfassen, die Grondin mit der Phrase ›Verstehen als praktisches Können‹ umschreibt.209 Dieses zielt nicht auf theoretische Erkenntnis ab, sondern pflegt einen unmittelbareren, sowohl kognitiven als auch körperlichen Umgang mit den Sachen. Seine Bedeutung wird häufig in der Fügung ›sich auf etwas verstehen‹ zusammengefasst.210 Mit dem Satz ›Ich verstehe mich aufs Kuchenbacken.‹ verweise ich also nicht nur darauf, dass ich ein Rezept zur Kenntnis genommen habe. Ich äußere mich auch dazu, inwieweit ich wirklich Kuchen backen kann. Genauer gesagt, beziehe ich mich auf jegliches in Bezug auf das Kuchenbacken relevante Verstehen, das ich bis dato vollzogen habe und das mir in der Zukunft bestimmte weitere Möglichkeiten eröffnen wird. So kann ich den Kuchen rechtzeitig aus dem Ofen holen oder aber, weil ich mich eben nicht so recht aufs Backen verstehe, die Backzeit weit überziehen. Entsprechend ist die häufige Intuition, theoretisches Verstehen, also die Kenntnis eines Rezepts, sei dem praktischen, also dem Backen, notwendig überlegen, keinesfalls zutreffend. Es handelt sich lediglich um zwei 206 207 208 209

Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 445f. Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 97. Vgl. ebd., S. 93f. Vgl. Mit dieser zweiten Ebene greift Gadamer den Verstehensbegriff aus Heideggers frühen Vorlesungen sowie aus Sein und Zeit auf. (Matthias Jung: Die frühen Freiburger Vorlesungen, S. 17f.) 210 Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 94.

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verschiedene Verstehensvollzüge mit unterschiedlichen Zielen. Im Gegensatz zur theoretischen Einstellung blendet das praktische Verstehen den Verstehenden nicht aus. Schließlich geht es ja primär darum, sich auf etwas zu verstehen.211 Allerdings wird hier nur zugespitzt, was für jede Situation gilt, nämlich dass an einem Verstehensvollzug ein Verstehender maßgeblich beteiligt ist. Diese Dimension des Verstehens fasse ich im Folgenden unter dem Ausdruck des Selbstbezugs zusammen. Dieser stellt die dritte Kategorie zur Analyse menschlicher Handlungen in der vorliegenden Arbeit dar. Als Bezeichnung für die dritte Ebene des Verstehens wählt Grondin eine Phrase aus Gadamers Ästhetik-Teil in Wahrheit und Methode aus. Verstehen stellt demnach ein Spiel dar. Diese Metapher dient Gadamer dazu, ein Geschehen212 zu bezeichnen, das die Erste-Person-Perspektive des Verstehenden übersteigt. So betrachtet ist Verstehen weniger ein selbstbestimmtes Handeln als vielmehr ein Erleiden.213 Gadamer beschreibt dieses mithilfe des Spielbegriffs folgendermaßen: »Wir hatten gesehen, daß das Spiel nicht im Bewusstsein oder Verhalten des Spielenden sein Sein hat, sondern diesen im Gegenteil in seinen Bereich zieht und mit seinem Geiste erfüllt. Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit.«214 Der Spielende muss sich also den Regeln des Spiels beugen, um dabeizubleiben.215 Tut er dies nicht, befindet er sich gleichsam außerhalb, er scheidet aus dem Spiel aus. Das Spiel symbolisiert damit die Komplexität des Verstehens. Dieses wird eben nicht nur aus der Souveränität des Verstehenden gespeist. Genauso ursprünglich hängt es auch von der Sache ab, die begegnet. Denken wir an dieser Stelle

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Vgl. ebd., S. 95. Der Begriff des Geschehens kann analog zum Spiel verstanden werden. Verschiedene Textstellen aus Wahrheit und Methode legen dies nahe: »[A]lle Begegnung mit der Sprache der Kunst [ist] Begegnung mit einem unabgeschlossenen Geschehen und [ist] selbst Teil dieses Geschehens«, »Verstehen erwies sich selber als ein Geschehen«, »Geschehen [ist] nicht unser Tun an der Sache, sondern das Tun der Sache selbst« (Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 105, 314, 467, Herv. i.O.). Grondin betont zudem, dass der heideggersche EreignisBegriff Pate steht für Gadamers Rede vom Geschehen. (vgl. Jean Grondin: Heidegger und Hans-Georg Gadamer., S. 385) 213 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 47. 214 Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 115. 215 Zugleich wird hier das zentrale Moment der zweiten Ebene des Verstehensbegriffs wiederholt. So steht der Verstehende der Sache ja nicht objektiv gegenüber. Vielmehr ist er immer mit betroffen. Er ist es, der mitspielen muss, wenn ein Spiel zustande kommen soll.

2. Philosophische Grundlagen

noch einmal an das Kuchen-Beispiel zurück. Auch der Kuchen bereitet in gewisser Weise ein Spielfeld, auf dem ich mich bewegen kann: So drücke ich vorsichtig mit der flachen Gabel auf den Kuchen, um seine Saftigkeit zu prüfen. Dann trenne ich gezielt ein Stück ab und führe es langsam zum Mund. Vorher nehme ich noch den Duft des Kuchens wahr. Alternativ könnte ich den Kuchen aber auch einfach unzerkaut herunterschlingen. Dabei könnte ich einem Löffel benutzen und einen Teil des Kuchens in Krümelform auf dem Teller zurücklassen. Nicht denkbar wäre es dagegen, den Kuchen zu trinken. Ein Strohhalm würde sich deswegen als vollkommen ungeeignet erweisen. Insgesamt wird hier der Spiel-Charakter des Verstehens deutlich. So eröffnet eine Sache immer mehrere alternative Möglichkeiten des Umgangs mit ihr. Andere Möglichkeiten wiederum verwehrt sie. Damit zeigt sich, dass das Wahrheitsgeschehen des Verstehens nicht allein vom Menschen her gedacht werden darf. Das Verstandene hat gleichermaßen Anteil daran. Diese Dimension des Verstehens bezeichne ich im Folgenden als Fremdbezug. Er stellt die vierte Analysekategorie für menschliches Handeln dar. Als prototypische Situation, in der der Spiel-Charakter, also der Fremdbezug des Verstehens auffällig wird, gibt Gadamer die Begegnung mit Kunstwerken an.216 Grundsätzlich bestimmt er aber jegliches Verstehen des Menschen. Die vierte Verstehens-Ebene leitet Grondin schließlich aus der Zentralstellung des Konzepts der Sprache bei Gadamer ab.217 Dieses umfasst zwei Aspekte. So ist Verstehen erstens sprachlich verfasst und erhält damit zweitens einen dialogischen Charakter.218 Letzterer Aspekt wird im Folgenden im Fokus stehen, da er es erlaubt, die Analysekategorie des Fremdbezugs noch genauer zu fassen. Auf die Sprachlichkeit gehe ich hingegen nur insofern ein, als sie auf den dialogischen Charakter hinführt. Ausführlicher widme ich mich dieser in den Abschnitten 2.6.2 und 5.4.1. Gadamers Konzept der Sprachlichkeit nimmt eine Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Sprache an: Der Mensch versteht also, indem er Sprache nutzt. Oder anders herum: Diese zu benutzen, bedeutet zugleich Verstehen. Begleitet wird dieses allerdings stets von dem Gefühl, dass das Wort die Sache nicht trifft. Denn

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Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 95, 97. Damit steht er Heidegger erneut nahe, da dieser seinen Wahrheitsbegriffs ebenfalls am Gegenstand der Kunst weiterentwickelt und zwar in seinem Kunstwerk-Aufsatz. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 98f.

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Wort und Sache sind nie dasselbe, stimmen nie vollkommen überein. Folglich muss, wer eine Sache genau erfassen möchte, immer weitersprechen. »Erst im Vollzug des Sprechens, im Weitersprechen, im Aufbau eines sprachlichen Kontextes fixieren sich die bedeutungstragenden Momente der Rede, indem sie sich gleichsam gegenseitig zurechtrücken.«219 Die Bedeutung eines Wortes steht also nie alleine da.220 Sie wird immer aus früherem Verstehen gespeist und damit aus der Vergangenheit entlassen. Zugleich bedarf das angesichts der komplexen Wirklichkeit unvollkommene Verstehen der Fortführung, der Korrektur, es öffnet eine Zukunft.221 Beispielweise stelle ich beim Beschreiben des Apfelkuchens fest, dass keines der Attribute ›süß‹, ›würzig‹, ›weich‹ meinen Eindruck vollkommen trifft. Zudem fallen mir mit jedem Bissen des Kuchens neue Feinheiten auf, die es ebenfalls mit zu berücksichtigen gilt. »Die Sprache vollzieht sich also nicht in [isolierten, S. R.]222 Aussagen, sondern als Gespräch, als die Einheit von Sinn, die sich aus Wort und Antwort aufbaut.«223 Sie hat dialogischen Charakter. Der Dialog kann dabei im Prüfen des eigenen Verstehens, als Selbstbefragung und Selbstbeantwortung, stattfinden. Er eröffnet aber auch die Möglichkeit zur Begegnung mit einem Gesprächspartner. In der Sprache liegt also immer schon eine Offenheit für das Andere und den Anderen.224 Darüber erreicht Gadamer insgesamt eine Neubewertung des Verstehens und damit auch der Endlichkeit, die der Mensch ist. Diese ist nämlich nicht einfach die Grenze, die es zugunsten einer überzeitlichen Wahrheit zu überwinden gilt.225 In Überstimmung mit

219 Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 197. 220 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 462. 221 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 197f. Dies lässt sich als Anklang an die dekonstruktivistische Erweiterung der strukturalistischen Zeichentheorie lesen. Nicht umsonst erläutert Michael Wetzel Derridas Zeichenbegriff unter Verwendung des Konzepts der Zeitlichkeit. (Vgl. Michael Wetzel: Derrida, Stuttgart 2010, S. 22.) Das Verhältnis von Dekonstruktion und Hermeneutik gilt jedoch insgesamt als Desiderat (Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 259). 222 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 41. und GW 2, S. 194f. 223 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 359. 224 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 367. 225 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 129.

2. Philosophische Grundlagen

Heidegger226 sieht Gadamer vielmehr, dass es eine Grenze braucht, um diese zu übersteigen und über sich selbst hinauszuwachsen. »Das Unendliche liegt für die Hermeneutik in dem »Über«, in dem das Dasein [d.h. der Mensch, S. R.] beim Verstehen von Endlichem zu Endlichem bis ins Un-Endliche fortschreitet. Es ist […] der Vorgang des Verstehens, der das Bedürfnis der Hermeneutik deutlich macht, die Endlichkeit im Lichte eines Un-Endlichen, das dennoch möglich ist und deshalb unmöglich ausgelöscht werden kann, als eine unendlich endliche Endlichkeit zu lesen.«227 In Sein und Zeit wird als zentrale Grenze der eigene Tod angesetzt. Das Vorlaufen zu diesem lässt den Menschen laut Heidegger ein ästhetisches Verstehen vollziehen. Gadamer wendet sich jedoch von dieser Interpretation ab. Für ihn ist der Tod das radikal Andere, das nicht verstanden werden kann. Niemand, der ist, versteht sein eigenes Nichtsein. Und »[u]nser aller Antwort darauf ist unser Widerstand.« Widerstand meint dabei, dass sich vor diese letzte Grenze eine andere Grenze stellt, nämlich die Erfahrung des Anderen. Diesen verstehen wir zwar, erkennen jedoch auch seine Andersheit, die nie vollständig aufgehoben werden kann. »So zieht unser Denken notwendig weiter und muß über das hinausdenken, woran das Denkendsein ein Ende hat.«228 Gerade das Überwinden der Todesangst ermöglicht laut Gadamer also ästhetisches Verstehen. Es macht den Menschen frei dafür, der Andersheit des Anderen unaufhörlich mit neuem Verstehen zu begegnen.229 Es eröffnet einen unendlichen Dialog. Dabei bedeutet Dialog, den Anspruch des Anderen nicht zu überhören,230 ihn sein eigenes Recht geltend machen zu lassen.231 Denn nur wenn der Mensch den Anderen nicht als Kopie, sondern als Grenze seiner selbst versteht, ihn als den Anderen sein lässt, wird ihm dieser neue Möglichkeiten eröffnen. In der Sprache als unendlichem Gespräch gründen damit sowohl Endlichkeit als auch Offenheit des Menschen.232 In diesem Sin-

226 Beim späteren Heidegger gibt es ebenfalls den Gedanken vom Gespräch, das der Mensch ist. (Vgl. Matthias Flatscher: Dichtung als Wesen der Kunst?, in: David Espinet, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a.M. 2011, S. 110-122, hier: S. 115f.) 227 Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 230, Herv. i.O. 228 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 407, 408. 229 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 231. 230 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 367. 231 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 445. 232 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 235, 236.

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ne darf Grondins Unterscheidung zwischen der dritten und vierten Ebene in Gadamers Verstehensbegriff auch nicht zu streng gedacht werden. Beide verweisen nämlich auf den zentralen Unterschied zwischen dem frühen Heidegger einerseits und dem späten Heidegger sowie Gadamer andererseits: der Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen. Deswegen ist es auch kaum verwunderlich, dass Gadamer Spiel und Sprache in Analogie zueinander betrachtet: »So muß ich betonen, daß meine Analysen des Spiels oder der Sprache rein phänomenologisch gemeint sind. Spiel geht nicht im Bewußtsein des Spielenden auf und ist insofern mehr als subjektives Verhalten. Sprache geht nicht im Bewußtsein des Sprechenden auf und ist insofern mehr als subjektives Verhalten. Eben das lässt sich als eine Erfahrung des Subjekts beschreiben und hat nichts mit ›Mythologie‹ oder ›Mystifikation‹ zu tun.«233 Durch die vierte Ebene in Gadamers Verstehensbegriff kann die Erläuterung der zuletzt eingeführten Analysekategorie des Fremdbezugs noch um einen weiteren Bedeutungsaspekt ergänzt werden. So folgt aus der Annahme, dass Verstehen durch die verstandene Sache mitbestimmt wird, dass dieses Verstehen in eine potentiell unendliche Auseinandersetzung, einen unendlichen Dialog, mit der Sache eintritt. Denn diese stellt in ihrer Andersheit eine Grenze dar, die durch das Verstehen zwar sukzessive verschoben, nie aber vollständig überwunden werden kann. Indem der Fremdbezug der Begrenztheit menschlichen Verstehens Rechnung trägt, unterstellt er mein Analyseinstrumentarium der Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen. Allerdings ist diese Bestimmung, so wie auch die Bestimmung des Selbstbezugs, bisher noch vollständig formal entleert. Deswegen erfolgt in den folgenden beiden Abschnitten ein erster Schritt zur Konkretisierung der beiden Analysekategorien.

2.6.1

Der Selbstbezug des Verstehens als Wahrnehmung

An dieser Stelle wird der Selbstbezug des Verstehens als Wahrnehmung analysiert. Theoretischer Bezugspunkt ist dabei die phänomenologische Sinneslehre des Mediziners Hans Jürgen Scheurle, die mit den vollzugsmäßigen Grundannahmen meiner Arbeit kompatibel ist. So gilt Wahrnehmung

233 Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 446.

2. Philosophische Grundlagen

bei Scheurle als eine »nicht weiter ableitbare Gegebenheit«234 . Genau wie Heidegger und Gadamer geht er also davon aus, dass der Mensch immer schon auf die Sachen in seiner Lebenswelt bezogen ist.235 Allerdings wird Scheurle deutlich konkreter, indem er angibt, wie unterschiedlich diese Bezugnahmen ausfallen können. Dazu teilt er den Gesamtvollzug der Wahrnehmung in verschiedene Sinne bzw., in seiner Terminologie, Modalbereiche oder auch Modalitäten ein.236 Sein Modell ist dabei so umfassend, dass sich wirklich jegliches Verstehen in Kategorien der Wahrnehmung fassen lässt. Insgesamt unterscheidet er nämlich zwölf Sinne des Menschen: Lebens-/Behagenssinn,237 Tastsinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Farb-/Lichtsinn, Wärmesinn, Tonsinn, Laut-/Klangsinn, Wort-/Gedankensinn und Ich-Sinn. Quantitativ geht er damit weit über die klassische Sinnesphysiologie hinaus, die meist nur mit sieben Sinnen operiert.238 Aber auch qualitativ nimmt er eine Weiterentwicklung vor. So betont Scheurle, dass Sinne nicht einzeln, also voneinander isoliert, sondern immer als ursprüngliche Gesamtheit agieren.239 Konkret bedeutet das, dass dem Menschen stets eine Wahrnehmungswelt als Ganzheit gegeben ist. Oder anders herum: Der Mensch stellt sich in eine Wahrnehmungswelt ein, indem stets alle seine Sinne am Verstehen einer Situation beteiligt sind. Diese vollzugsmäßige Sichtweise ist auch titelgebend für Scheurles Monographie, die überschrieben ist mit Gesamtsinnesorganisation. Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre. Innerhalb eines solchen Denkens werden Synästhesien nicht mehr als Randphänomene, sondern als Regelfall der Wahrnehmung aufgefasst.240 Die Fokussierung einzelner Sinnesbereiche sowie die Abspaltung des wahrnehmenden Subjekts von einem Objekt dagegen entstehen als Resultat einer nachträglichen Reflexion. 234 Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation. Überwindung der SubjektObjekt-Spaltung in der Sinneslehre, Stuttgart, New York 1984, S. 4. Damit entfällt für Scheurle auch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt (vgl. ebd., S. 3, 31f). 235 Vgl. ebd., S. 36. 236 Vgl. ebd., S. 86. 237 Der Lebens-/Behagenssinn entspricht in meiner eigenen Terminologie den emotionalen Vollzügen, die ich in Kap. 4.4 behandeln werde. Scheurle ordnet diesem Modalbereich neben Emotionen noch zusätzlich das Schmerzempfinden zu. (Vgl. ebd., S. 87.) 238 Vgl. ebd., S. 78. Die klassische Sinnesphysiologie teilt die menschliche Wahrnehmung nur in einen Gesichts-, Gehör-, Geschmacks-, Geruchs-, Tast-, Gleichgewichts- und Wärmesinn ein. 239 Vgl. ebd., S. 78. 240 Vgl. ebd., S. 80.

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Um bei meinem Beispiel zu bleiben: Ich nehme nicht nur den Geschmack des Kuchens wahr. Zusätzlich sehe und rieche ihn auch. Ich höre die Geräusche beim Kauen, bewege dazu meinen Kiefer und ertaste mit der Zunge Konsistenz und Temperatur des Kuchens. Zugleich weiß ich, dass die Sache in meinem Mund einen ›Kuchen‹ darstellt, den ich normalerweise gerne esse, dessen ungewöhnlicher Geschmack mir aber gerade nicht zusagt. Verstehen vollzieht sich also immer als Gesamtsinnesorganisation, an der alle Sinne nicht nur beteiligt sind, sondern auf komplexe und für jede Situation eigene Weise miteinander interagieren. Des Weiteren kann angenommen werden, dass Sinne dem Menschen nicht einfach mit seiner Geburt als fertige gegeben sind. Vielmehr müssen sie im Verlauf des Lebens an den begegnenden Sachen geschult und damit verfeinert werden. Das heißt, dass der Mensch seine Wahrnehmungsfähigkeit in jeder Situation, in die er sich begibt, nicht nur erprobt, sondern zugleich entwickelt.241 Letztlich teilt Scheurle also auch meine Grundannahme der Zeiträumlichkeit des Verstehens. Für eine vollständige Anschlussfähigkeit werde ich jedoch einen seiner Modalbereiche, den sogenannten Ich-Sinn, verlagern. Laut Scheurle leistet dieser die Unterscheidung zwischen Ich und Anderem. Innerhalb meiner Argumentation ist er damit im Begriffspaar des Selbst- und Fremdbezugs aufgehoben.242 Kompatibilitätsprobleme ergeben sich durch diese Verschiebung nicht. Denn Scheurles Grundannahme einer Wechselwirkung zwischen Ich-Sinn und den übrigen Sinnen stellt nichts anderes als eine Gleichursprünglichkeit von Selbst- und Fremdbezug in jeglichem Verstehen dar. Er geht also auch davon aus, dass der Verstehende in jeder Situation Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen sich selbst und einem Anderen wahrnimmt. Im Folgenden werde ich aus den verbleibenden elf Modalbereichen sechs herausgreifen, die später für die Beschreibung des Lesevollzugs besonders relevant sind. Darunter verstehe ich hier das eigene stille sowie laute Lesen. An diesem hat erstens der Bewegungssinn Anteil, der sich laut Scheurle in jedem Wahrnehmungsvollzug als prominent zeigt. Denn dieser nimmt nicht 241 Vgl. ebd., S. 82. Bertram ist dieses Potential zur Schulung der Wahrnehmung ebenfalls sehr wichtig. (Vgl. Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin 2014, S. 127f.) Zugleich wird damit der These von der kulturellen Prägung der menschlichen Sinnlichkeit eine theoretische Basis gegeben. (Vgl. Waltraud NaumannBeyer: Art. »Sinnlichkeit«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck et al., Stuttgart 2010, Bd. 5, S. 534-577, hier: S. 534f.) 242 Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 174.

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nur Bewegungen im Sinne von Ortsveränderungen, sondern alles wahr, »was sich wandelt, ohne seine Existenz aufzugeben.«243 Einerseits registriert der Bewegungssinn also jegliche Form von Veränderung und ist damit auch für die Geschwindigkeitserkennung zuständig. Andererseits ist Wahrnehmung aber überhaupt nur möglich, wenn Veränderung herrscht, sowohl durch Bewegungen in der Lebenswelt244 als auch durch die Eigenbewegung der wahrnehmenden Organe. Über Letztere hat der Bewegungssinn auch zentralen Anteil am Erkennen von Formen. Durch ihn stehen uns Formen nämlich nicht einfach als statische Gebilde gegenüber, sondern werden durch die gleichursprüngliche Auflösung alter Eindrücke und den Aufbau neuer Eindrücke in der Wahrnehmung erzeugt. Schließlich bewertet der Bewegungssinn Veränderungen noch hinsichtlich ihrer Richtung und relativ zu ihrem Ziel.245 Im zweitem Modalbereich, dem Tastsinn, gründet schwerpunktmäßig das Gefühl eigener und fremder Körperlichkeit. Er ermöglicht es dem Menschen, seine Lebenswelt nach den beiden Prinzipien ›Etwas‹ und ›Leere‹ zu organisieren. Ersteres ist der Fall, wenn ein leiblicher Kontakt besteht, Letzteres wenn der leibliche Kontakt ausbleibt. Allerdings kann der Tastsinn auch noch deutlich differenzierter arbeiten, so zum Beispiel wenn er je nach Intensität des Kontakts zwischen den drei Stufen Berührung, Druck oder Kraft unterscheidet. Oder er identifiziert in Synästhesie mit dem Bewegungssinn Gewicht, Körperformen und Oberflächenbeschaffenheiten wie spitz, stumpf, glatt, rau, hart oder weich.246 Der Modalbereich, der klassischerweise als Seh- oder Gesichtssinn bezeichnet wird, vereint in sich eigentlich drei Modalbereiche, nämlich Gleichgewichts-, Bewegungs- und Farbsinn. Ersterer ist für den Vollzug des Lesens jedoch weniger relevant, das heißt nur synästhetisch beteiligt. Als dritten Modalbereich konzentriere ich mich deswegen auf den Farbsinn, der zusammen mit dem Bewegungssinn an der Formwahrnehmung beteiligt ist. Zu dieser trägt er bei, indem er sowohl Farb- als auch Hell-/Dunkeldifferenzen ausmacht.247

243 Ebd., S. 100. 244 Wenn sich ein Mensch in einem abgeschlossenen Objekt befindet, das sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, die Bewegung also zum Zustand wird, nimmt der Mensch diese Bewegung nicht mehr war. (Vgl. ebd., S. 102.) 245 Vgl. ebd., S. 100f. 246 Vgl. ebd., S. 91-95. 247 Vgl. ebd., S. 125.

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Auch der sogenannte Gehörsinn wird laut Scheurle durch die Zusammenarbeit mehrerer Modalbereiche konstituiert. Dazu zählt zunächst der Tonsinn als vierter für das Lesen relevanter Modalbereich. Mit diesem erfasst der Mensch Tonhöhen sowie Tonintervalle.248 Entsprechend wird der Tonsinn durch zwei unterschiedliche Ordnungssysteme bestimmt. Erstens werden Tonhöhen absolut erfasst und gehen in der Wahrnehmung kontinuierlich ineinander über. Ihr Unterschied wird dabei als größer empfunden, je weiter die Töne auseinanderliegen. Zweitens werden Tonhöhen relativ als Tonintervalle verarbeitet. Töne sind hier Teil eines Diskontinuums, in dem sie einerseits proportional zu ihrem Abstand als unterschiedlich, andererseits aber in periodisch wiederkehrenden Abständen als gleichartig empfunden werden. Beispielsweise erscheinen uns das ein- und zweigestrichene C trotz unterschiedlicher Tonhöhe als zusammengehörig. Das absolute und das relative Ordnungssystem sind dabei nicht voneinander zu trennen. Dies zeigt sich bei der Einschätzung von Einzeltönen. Ihre absolute Einteilung in hohe, mittlere oder tiefe Tonlagen erfolgt nämlich immer mit Bezug auf eine hypothetische Mittellage, für gewöhnlich die menschliche Stimme, und damit gleichermaßen relativ.249 In Synästhesie mit dem Bewegungssinn kann eine Sprechstimme zudem als monoton oder melodiös eingeschätzt werden, je nachdem, wie stark sie den eigenen Grundton variiert.250 Der Laut- bzw. Klangsinn ist ebenfalls konstitutiv für das Hören und macht damit den fünften Modalbereich des Lesens aus. Für Scheurle stellt er neben dem Tonsinn einen eigenständigen Sinn dar. Der Klangsinn erfasst die individuelle Qualität von Stimmen oder Geräuschen. Die Intensität eines Klangs wird dabei zusätzlich als Lautstärke wahrgenommen. Insgesamt kommt dem Klangsinn damit eine größere Bedeutung für die Identifikation der akustischen Umgebung zu als dem Tonsinn. Besonders gut gelingt dies über Klangdifferenzen. Bei langanhaltender Wahrnehmung desselben Klangs ist die Identifikation seiner spezifischen Qualität hingegen schwer bis unmöglich. Sie tritt dann hinter die Tonwahrnehmung zurück.251

248 Vgl. ebd., S. 152. 249 Vgl. ebd., S. 153f. 250 Vgl. Ekkehard König, Johannes G. Brandt: Die Stimme, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M. 2006, S. 111-129, hier: S. 113, 117. 251 Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 159f.

2. Philosophische Grundlagen

Scheurle fasst den sechsten für das Lesen relevanten Modalbereich terminologisch als Gedanken- bzw. Wortsinn.252 Ich werde diesen allerdings in einen Gedanken- bzw. Bedeutungssinn umbenennen, da auf diese Weise auch seine zweite Funktion, nämlich das Deuten, ausdrücklich wird. Deuten muss dabei zeiträumlich aufgefasst werden.253 So sorgt der Gedanken-/Bedeutungssinn dafür, dass Sachen in der Lebenswelt zueinander in Beziehung gesetzt werden, ihre Wahrnehmung folglich Sinn ergibt.254 In Kapitel 5.2 wird sich zeigen, dass auch sprachlicher Sinn genau auf diese Weise gebildet wird. Erst durch den Bedeutungssinn werden somit aus Geräuschen und Zeichen Sprache.255 Scheurles Ausdruck Wortsinn ist also durchaus treffend, stellt aber eben nur einen Spezialfall der Sinnerzeugung dar. Der Ausdruck Gedankensinn verweist schließlich noch darauf, dass dieser Modalbereich für das Denken zuständig ist. So ermöglicht der Gedanken-/Bedeutungssinn nicht nur das Sprechen in Gedanken, sondern auch das Erinnern oder Simulieren aller anderen Wahrnehmungsvollzüge in der Vorstellung.256 Sinnerzeugung und imaginative Erweiterung der anderen Modalbereiche sind damit Teil jedes Verstehensvollzugs. Folglich zeigt insbesondere die Beteiligung des Gedanken-/Bedeutungssinns an der Gesamtsinnesorganisation, dass Scheurle von einem existenzialen Verstehensbegriff ausgeht, den Menschen also als 252 Scheurles Wortbegriff muss hier als Synonym zu Gadamers Sprachbegriff verstanden werden. So betont Scheurle, dass das Wort immer mehr als der Begriff ist und es somit zwar falsche Begriffe, aber keine falschen Worte geben könne. (Vgl. ebd., S. 170f.) 253 Insgesamt basiert Scheurles Arbeit auf zeiträumlichen Grundannahmen. Lediglich bei der begrifflichen Bestimmung von Zeit und Raum und der daraus resultierenden Einteilung seiner Gesamtsinnesorganisation in Zeit- und Raumsinne bliebt er hinter diesen zurück. Deswegen kann ich dieser Einteilung hier nicht folgen. 254 In diesem Sinne spricht auch Scheurle von der »Bedeutungswahrnehmung« bzw. der »innere[n] Sprache« oder auch vom Auffassen einer »geistige[n] Qualität«, die zu anderen Eindrücken hinzutritt (ebd., S. 167.). Meine Deutung von Scheurles Wort- bzw. Gedankensinn wird zudem durch seine Aussage gestützt, dass die Intention des Wortbzw. Gedankensinns die Wahrheitsfindung sei. (Vgl. ebd., S. 171.) 255 Vgl. ebd., S. 166. 256 Vgl. ebd., S. 168. Diese Ansicht teilt auch Ingarden. Dieser geht nämlich sowohl von einer äußeren als auch einer inneren Wahrnehmung aus. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 38, 55fn.) Dafür, dass der Bedeutungs-/Gedankensinn tatsächlich als innere Wahrnehmung arbeitet, spricht zudem, dass laut Ingarden Vorstellungen sogar so intensiv sein können, dass sie für real gehalten werden. (Vgl. ebd., S. 206.) Sowohl Ingarden als auch Scheurle entlehnen ihr Verständnis der inneren Wahrnehmung bei Husserl. (Vgl. ebd., S. 100 und vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 164.)

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wesensmäßig verstehend auffasst.257 Zugleich grenzt er sich darüber von Ansätzen ab, die das Denken konzeptionell von der Wahrnehmung trennen, indem sie beides als prinzipiell unterschiedliche Formen der Sinnerzeugung auffassen. Entsprechend stellt sich hier der Eindruck einer ständigen Nachträglichkeit des Denkens ein.258 Vollzugsmäßig gedacht gehören Wahrnehmen und Denken dagegen gleichursprünglich zusammen und können sich beliebig überlagern. Damit besteht ein fließender Übergang zwischen Situationen, in denen wir eher nachdenken und solchen, in denen wir eher wahrnehmen.

2.6.2

Der Fremdbezug des Verstehens als Präsentation

In diesem Abschnitt erfolgt eine genauere Bestimmung des Fremdbezugs des Verstehens. Dafür soll Gadamers bisher nur kurz erwähntes Konzept der Sprachlichkeit fruchtbar gemacht werden. Auf seiner Basis lässt sich, komplementär zum selbstbezüglichen Vollzug der Wahrnehmung, die fremdbezügliche Präsentation erarbeiten. Sprachlichkeit bezeichnet bei Gadamer die Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Sprache. Das bedeutet, dass Verstehen nicht einfach im luftleeren Raum geschieht, wie es etwa ein Sinn-Materie-Dualismus impliziert. Verstehen ist keine Ideenschau, die sich im Durchgang durch die Zeichen der Welt ereignet. Es ist, indem es sich vollzieht. Und dabei bedarf es gleichursprünglich eines Mediums, oder wie Gadamer sich ausdrückt, einer Sprache. Gadamers Konzept der Sprachlichkeit des Verstehens ist dabei durch seinen Lehrer beeinflusst, der behauptet, die »Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren.«259 Die Sprache stellt für den Menschen also den Zugang zum Sein, das heißt zur Wahrheit, her. Während für Heidegger dabei das Sein an erster Stelle steht, nimmt Gadamer eine Schwerpunktverlagerung vor. Statt um das ›Haus des Seins‹ geht es ihm nämlich um die ›Behausung des

257 Vgl. ebd., S. 81. Deutlich wird dies auch, wenn Scheurle nach dem Sitz des Bedeutungsorgans fragt. Dabei stellt sich heraus, dass sich dieses nicht isolieren lässt. Vielmehr fungiere der gesamte Mensch als dieses Organ. (Vgl. ebd., S. 169.) 258 Vgl. ebd., S. 44. 259 Martin Heidegger: GA 12, S. 313.

2. Philosophische Grundlagen

Menschen‹260 , also um die Sprache als sein »universelle[s] Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht.«261 Als Konsequenz dieser Grundannahme ergibt sich, dass Sprache dem Menschen niemals als bloßer Gegenstand begegnet. Stattdessen umgreift sie »alles, was je Gegenstand werden kann.«262 Allerdings wird die Sprache dabei meist nicht thematisch. Das liegt daran, dass sie die »Bestimmung [hat], ihrerseits hinter dem zu verschwinden, was sie auslegend zum Sprechen bring[t].«263 Dies gilt besonders für Situationen, in denen sich Verstehen sehr leicht einstellt. Fast scheint es dann, als ergäbe sich der Zugang zur Lebenswelt ganz unmittelbar, ohne Medium. Aber auch im scheinbar automatischen alltäglichen Verstehen fällt der Mensch nicht aus der Sprachlichkeit heraus, er ist weiterhin auf sie angewiesen. Daneben gibt es noch den umgekehrten Fall. Hier wird Sprache auf belastende Weise thematisch, da sie nicht mehr auszureichen scheint: »Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht – und das ist das Wort, das den anderen erreicht –, zugleich das Bewußtsein hat, daß er es nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort – das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht.«264 Vor allem der späte Gadamer betont zunehmend diese Erfahrung der Begrenztheit von Sprache.265 Allerdings wäre es ein Missverständnis, seine Interessenverlagerung auch als Richtungswechsel in seinen Grundannahmen zu deuten.266 Zu keiner Zeit strebt er einen Bereich des Verstehens an, der ohne Sprache auskäme.267 Denn, so Gadamer, selbst der Zweifel an der Spra-

260 »Das ist auch die Sprache, etwas, worin man lebt und wohnt und zu Hause ist.« (HansGeorg Gadamer: GW 10, S. 28 und vgl. auch Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 181, 198.) 261 Hans Georg Gadamer: GW 1, S. 392, Herv. i.O. 262 Ebd., S. 408. 263 Ebd., S. 402. 264 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 361. 265 Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 100 und vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 199. 266 Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 101, 104. 267 Hans Ulrich Gumbrecht behauptet dies zwar, jedoch zeigen Grondins Ausführungen und meine eigenen Lektüren von Gadamers Texten, dass diese Behauptung nicht haltbar ist. Siehe dazu Kap. 3.2.2.

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Das Lesen als Handlung

che kann sich wiederum nur in der Sprache vollziehen.268 Oder andersherum: Was jenseits der Sprache liegt, bleibt für den Menschen unverstanden. Dabei zählen zur Sprache nicht nur verbalsprachliche Vollzüge, sondern auch solche, die »gar nicht von sprachlicher Natur, also gar kein Text […] [sind], sondern ein Bildwerk oder ein Tonwerk.«269 Nur wo liegt dann die Grenze der Sprache, wenn nicht im Unterschied zu anderen Medien? Erinnern wir uns zur Veranschaulichung noch einmal an meine Beispielsituation. In dieser esse ich den ausgefallen gewürzten Apfelkuchen meines Freundes, wobei mir ein Geschmack auffällt, den ich nicht so recht zuordnen kann. Ich kenne den Namen des entsprechenden Gewürzes nicht. Dennoch ist mir der Geschmack nicht völlig unbekannt. Ich habe ihn schon einmal wahrgenommen, nur die Kombination ist neu. Zusätzlich fühle ich mich durch den Geruch des Kuchens an etwas erinnert. Neben der säuerlichen Apfelnote duftet er würzig und vielleicht ein bisschen scharf. Mir kommt das Bild meiner letzten Weihnachtsfeier in den Sinn. Meine Familie und ich sitzen unter dem geschmückten Baum, vor uns ein Keksteller. Dann fällt mir der Geschmack von Lebkuchen ein, von Spekulatius und Chai Tee.270 Das Beispiel zeigt zweierlei: Erstens bricht mein Verstehen auch ohne den Namen des Gewürzes, also ohne Verbalsprache, nicht einfach ab. Jegliches Medium wie Geruch und Geschmack, aber genauso Geste, Ton oder Bild kann entsprechend als zeiträumliches Sinnsystem fungieren. Daraus folgt zweitens, dass jedes Medium, und eben nicht nur die Verbalsprache, an eine Grenze kommen kann. Dann nämlich, wenn es in ein anderes Medium übersetzt werden soll. Nicht nur das Wort scheitert also, wenn es beispielsweise einen Geschmack beschreiben soll. Genauso kann auch der Geschmack einen Geruch nicht ersetzen, der Geruch ein Bild, das Bild ein Wort usw. Die Grenze der Sprache zeigt damit auf, dass Übersetzungen niemals vollständige Eins-zu-eins-Abbildungen darstellen. Denn ein Medium drückt dem dargestellten Sinn stets seinen Stempel auf. Oder noch deutlicher: Jedes Medium hat seine jeweils eigene Weise, zeiträumlich Sinn zu erzeugen, das heißt Zusammenhänge in der Lebenswelt herzustellen. Diese spezifische Zeiträumlichkeit eines Mediums werde ich im Folgenden als Präsentation bezeichnen. Für Gadamer stellt sie das Gegenkonzept zur »idealistische[n] Verführung« dar, die den Menschen glau-

268 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 405f. 269 Ebd., S. 402. 270 Vgl. Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer, S. 103. Amüsanterweise wählt Grondin hier zur Veranschaulichung auch ein Kuchen-Beispiel.

2. Philosophische Grundlagen

ben machen will, dass Sprache nur »als der Übermittler einer Botschaft zu uns spricht.«271 Denn Sprache »verweist nicht nur auf Bedeutung, sondern läßt sie gegenwärtig sein«. In ihr ist das Präsentierte »selber da und so, wie es überhaupt da sein kann.«272 Das bedeutet, dass in jeder verstandenen Sache »eine paradoxe Art von Verweisung erfolgt, die die Bedeutung, auf die […] [sie] verweist, zugleich in sich selber verkörpert und sogar verbürgt.«273 Wie wichtig die Präsentation, das heißt die vollzugsmäßig gedachte Verkörperung von Sinn, für Gadamer ist, zeigt sich daran, dass er bereits in Wahrheit und Methode ein komplexes Begriffsnetz aufspannt, um sie angemessen zu erläutern.274 Der späte Gadamer stellt dann sogar explizit einen Bezug zwischen der Präsentation eines Kunstwerks und dem Vollzugsdenken her.275 1991 schreibt er: »So ist das Kunstwerk da und ist ›so wahr, so seiend‹. Es hat im Vollzug sein vollendetes Sein«276 .

2.7

Verborgenheit der Wahrheit/Nicht-Verstehen

Bisher war mehrfach angeklungen, dass sich das Sein bzw. das Wahrheitsgeschehen, in das der Mensch eingebunden ist, laut Heidegger gleichursprünglich ent- und verbirgt. Gleichwohl fehlt bisher eine systematische Beschreibung dieses Verbergens. Seine Bedeutung leite ich im Folgenden aus Texten des späteren Heidegger ab, nicht jedoch ohne am Ende eine Umperspektivierung mithilfe von Gadamer vorzunehmen. Aus der Gleichursprünglichkeit der Ent- und Verborgenheit der Wahrheit wird damit die Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen, gedeutet als Gleichursprünglichkeit von Kontinuität und Singularität des Verstehens. Als Orientierungspunkt innerhalb der Heidegger-Forschung dient dabei mir John Sallis. Dieser nimmt eine gut strukturierte Beschreibung der Entwicklung von Heideggers Wahrheitsbegriff vor, der ich an dieser Stelle 271 272 273 274

Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 123f, Herv. d. Verf. Ebd., S. 125. Ebd., S. 128. Gadamer selbst spricht nicht von Präsentation, sondern von Darstellung. Konzeptionell nahe stehen dieser die Repräsentation, das Spiel, das Gebilde und die Okkasionalität. Ich entscheide mich an dieser Stelle für den Ausdruck Präsentation, da sich mit diesem in Kap. 5 ein prägnantes Begriffspaar bilden lässt. Dabei steht die vollzugsmäßig gedachte Präsentation einer idealistisch gedachten Repräsentation gegenüber. 275 Vgl. Donatella Di Cesare: Gadamer, S. 66. 276 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 389f.

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Das Lesen als Handlung

folgen werde: Bereits in Sein und Zeit wendete sich Heidegger gegen eine traditionelle Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung von Sache und Idee bzw. Aussage.277 Diese kulminierte in einer Bestimmung der Wahrheit als Erschlossenheit des Menschen, oder im Vokabular dieser Arbeit, als Grundvollzug des Verstehens. Im Anschluss an sein erstes Hauptwerk durchlief Heideggers Denken dann jedoch eine Akzentverschiebung: Entund Verborgenheit der Wahrheit wurden gleichursprünglich gesetzt. Den dieser Verschiebung korrespondierenden Wahrheitsbegriff entwickelt Heidegger schwerpunktmäßig in Vom Wesen der Wahrheit (1930), Der Ursprung des Kunstwerkes (1931-35/6)278 und in den Beiträgen zur Philosophie (1936-38). Mit diesen Texten werde ich Sallis’ Ausführungen im Folgenden ergänzen und an entscheidender Stelle erweitern. Nach Sein und Zeit verortet Heidegger den Ursprung der Wahrheit, wie bereits erläutert, nicht länger im Menschen allein. Verstehen liegt folglich nicht mehr in dessen alleiniger Verfügung. Vielmehr ist es jetzt die Wahrheit, die über ihn verfügt. Um dies zu umschreiben, führt Heidegger für die Wahrheit das Synonym des Offenen ein. In diesem bewegt sich der Mensch, indem ihm Sachen begegnen. Oder auch: Sachen begegnen ihm, indem er sich auf die Offenheit des Offenen einlässt.279 Pointiert fasst Heidegger diese Vorstellung in folgendem Satz zusammen: »[D]as Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens.«280 Mit dem erfundenen Verb ›wesen‹ wird hier die traditionelle philosophische Frage nach dem Wesen der Wahrheit in ein Vollzugsdenken übersetzt. Denn hinter der Wahrheit steht für Heidegger kein Wesen im Sinne einer Idee. Wahrheit ist, indem sie sich vollzieht oder mit Heideggers Worten, indem sie west.281 Wahrheit bezeichnet dabei jenes Geschehen, in dem Menschen und Sachen ein Offenes erschaffen und sich gleichursprünglich in diesem begegnen. In einem solchen Verständnis kann die Unwahrheit nicht mehr das logische Gegenteil der Wahrheit darstellen. Dieses bestünde schließlich in der reinen Nichtexistenz von Menschen und Sachen. Stattdessen vollzieht sich Unwahrheit als ein Verbergen oder ein Verzerren. Damit 277 Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, S. 175f. 278 Vgl. David Espinet, Tobias Keiling: Vorwort, in: David Espinet, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a.M., 2011, S. 11-18, hier: S. 17, Fn 16. 279 Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, S. 180-182. 280 Martin Heidegger: GA 9, S. 201, Herv. i.O. 281 Wesen wird von Heidegger nicht als Washeit, sondern als Vollzug gedacht. Wesen meint also so viel wie Währen. (Vgl. Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 33f.)

2. Philosophische Grundlagen

ist sie zugleich nicht mehr streng von der Wahrheit zu trennen. Unwahrheit schließt Wahrheit nicht aus, sondern ist vielmehr ein Teil von ihr. Oder andersherum: Wahrheit vollzieht sich nicht nur als Entborgenheit, sondern gleichursprünglich als Verborgenheit.282 Als Konsequenz daraus steht auch die Unwahrheit außerhalb der Verfügung des Menschen. Sie liegt nicht mehr in seinem Scheitern begründet. Um die Unwahrheit näher zu beschreiben, bietet es sich zunächst an zu sagen, was sie laut Heidegger nicht bezeichnet. So geht es nicht um »Rätsel, Unaufgeklärtes, Unentschiedenes, Fragliches.« Denn diese stellen nichts anderes als »Durchgänge und Zwischenstellen für die Gänge im Gangbaren«283 , also kurz gesagt Formen der Entborgenheit des Verstehens dar. Unwahrheit vollzieht sich stattdessen als Geheimnis und zwar nicht als irgendein Geheimnis, sondern im ursprünglichsten Sinne. Unwahrheit west als »die Verbergung des Verborgenen im Ganzen«284 . Sie ist das »eigentliche Un-wesen der Wahrheit«, wobei ›Un-‹ »in den noch nicht erfahrenen Bereich der Wahrheit des Seins (nicht erst des Seienden)« deutet.285 Mit dem Ausdruck des Geheimnisses verweist Heidegger also darauf, dass nicht nur Sachen und sinnhafte Bezüge verborgen sein können, sondern dass für den Menschen zugleich die Verbergung dieser Sachen verborgen ist. Oder aus der Ersten-PersonPerspektive gesprochen: Der Mensch versteht nur, was er versteht. Sein eigenes Nicht-Verstehen wird für ihn im Alltag nicht thematisch. Hier erhält er keine Anhaltspunkte darauf, dass es mehr oder anderes zu verstehen gäbe, als er aktuell versteht.286 Neben dem Geheimnis spricht Heidegger auch von der Irre.287 Im Irren erreicht der Mensch eine »Sicherung seiner selbst durch

282 Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, S. 183f. 283 Martin Heidegger: GA 9, S. 195. 284 Im Sinne eines Vollzugsdenkens lese ich das Zitat als Genitivus subjectivus. Verbergung und Verborgenes gehören hier zu einem Vollzug. Prozess und Resultat fallen zusammen. 285 Ebd., S. 194. Die von Heidegger im obigen Zitat gesetzte Klammer »(nicht erst des Seienden)« drückt aus, dass die Verborgenheit des Seins ursprünglicher ist als die Verborgenheit des Seienden. 286 »Verborgenheit ist einmal: Geheimnis des noch nicht Erfahrenen, nicht Erfahrbaren; zweitens: im Sinne der Verdeckung, der Verstellung, des Scheins.« (Martin Heidegger: GA 36/37, S. 188, Herv. i.O.) 287 Dass die Irre die Erste-Person-Perspektive des Geheimnisses darstellt, wird deutlich, wenn Heidegger schreibt: »Die Umgetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin zum Gangbaren, fort von einem Gängigen, fort zum nächsten und vorbei am Ge-

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Das Lesen als Handlung

das ihm jeweils zugängige Gangbare.«288 Das heißt, er begnügt sich mit alltäglichen Sachen und Umgangsweisen, die ihm wiederum den Blick auf das Geheimnis verstellen. Jedem konkreten Verstehen ist dabei »je seine Weise des Irrens« inhärent. Heidegger nennt als Beispiele »Sich-vertun, Sich-versehen und Sich-verrechnen bis zum Sich-verlaufen und Sich-versteigen«289 . Diese Grundzüge des obigen Wahrheitskonzepts aus Vom Wesen der Wahrheit, also die Ent- und Verbergung der Wahrheit, bleiben auch in Heideggers späteren Texten erkennbar. Allerdings überarbeitet er sie zugleich in entscheidender Weise. So erkennt er, dass seine Annahmen immer noch traditionellen Mustern der Philosophie anhängen. Denn auch in der Verneinung der Wahrheit als Übereinstimmung von Sache und Idee bzw. Aussage liegt immer noch ein Bezug zu dieser Grundannahme. In der Folge versucht Heidegger einen neuen Ursprung für sein Konzept zu finden oder, wie er es selbst ausdrückt, einen Sprung in einen neuen Anfang des Denkens zu wagen.290 Die späteren Beiträge zur Philosophie stehen deswegen im Zeichen einer erstaunlichen Einsicht, dass nämlich »zur Wahrheit das Nichthafte gehört, aber keineswegs nur als Mangel, sondern als Widerständiges«291 . Diese Annahme, die Unwahrheit nicht mehr als Mangel auffasst, führt Heideggers frühere Überlegungen konsequent weiter. Denn Unwahrheit ist damit nicht nur ursprünglicher Teil der Wahrheit, sie muss, so deutet es Sallis, letztlich bewahrt bleiben.292 Darüber, was dieses Bewahren der Unwahrheit bedeutet, schweigt sich Sallis jedoch aus. Seine Darstellung des heideggerschen Wahrheitsbegriffs bleibt bei der Setzung eines neuen Anfangs im Denken, das heißt bei dem radikalen Verzicht auf eine negative Bewertung der Unwahrheit, stehen. Um die Frage nach dieser und damit nach einem ursprünglichen Nicht-Verstehen hinreichend klären zu können, werde ich deswegen im nächsten Abschnitt noch einmal Heidegger selbst befragen.

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heimnis, ist das Irren.« Und weiter ergänzt er über Geheimnis und Irre: »Sie sind eines und dasselbe.« (Martin Heidegger: GA 9 S. 197, 196.) Ebd., S. 196. Ebd., S. 197. Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, S. 12f. Martin Heidegger: GA 65, S. 356. Vgl. John Sallis: Heidegger und der Sinn von Wahrheit, S. 12f. Alles andere wäre Dialektik, aber"[n]ichts wird in Heideggers Text(en) über das Wesen der Wahrheit ausdrücklicher ferngehalten als Dialektik.« (Ebd., S. 192.) Heidegger selbst äußert sich dazu z.B. in seinem zweiten Hauptwerk so: »Hier kann es sich nicht um irgend eine ›Dialektik‹ handeln, sondern nur um die Wesung des Grundes (der Wahrheit also) selbst.« (Martin Heidegger: GA 65, S. 383.)

2. Philosophische Grundlagen

2.8

Heideggers Kunstwerk-Aufsatz

Heideggers Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes gilt als einer der wichtigsten Beiträge zur philosophischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts und ist deswegen auch aus zahlreichen jüngeren Publikationen zur Ästhetik nicht wegzudenken.293 Für meine eigene Argumentation ist er zentral, weil Heidegger hier mit der Erarbeitung seines finalen Wahrheitsbegriffs beginnt.294 Gegenüber den Beiträgen zur Philosophie bietet der Kunstwerk-Aufsatz zudem den Vorteil, dass die Beschreibung der Wahrheit hier einer Ersten-Person-Perspektive noch näher steht und nicht nur vom Sein her angesprochen wird. An dieser Stelle werde ich also mithilfe des Kunstwerkaufsatzes die laut Sallis letzte Stufe des heideggerschen Wahrheitsbegriffs rekonstruieren. Dazu bedarf es erneut eines intensiven Mitgehens mit Heideggers Denken sowie einer detaillierten philologischen Arbeitsweise. Zugleich sichere ich meine eigene Lesart des Kunstwerk-Aufsatzes ab, indem ich eine nicht-vollzugsmäßige Deutung aus der Heidegger-Forschung widerlege.

2.8.1

Heideggers Streit von Welt und Erde

In Abschnitt 2.7 habe ich erläutert, dass Wahrheit nach Heidegger ein Geschehen ist, das darin besteht, dass der Mensch und ein Anderes in ein Offenes hereinstehen, indem sie dieses eröffnen. Auch in Der Ursprung des Kunstwerkes lässt sich diese Beschreibung wiederfinden.295 Ergänzend führt Heidegger hier jedoch noch eine Fülle von ausgezeichneten Situationen an, in denen sich Wahrheit vollzieht. Eine dieser besonderen Situationen steht dabei im Zentrum des Texts. Heidegger nennt sie das »Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« und meint damit die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk.296 Al293 Vgl. David Espinet, Tobias Keiling: Vorwort, S. 11. 294 Vgl. Jacques Taminiaux: L’origine de l’origine de l’oeuvre d’art, in: Daniel Payot (Hg.): Mort de Dieu, fin de l’art, Paris 1991, S. 175-194, hier: S. 175. 295 Dies gilt auch für den Kunstwerk-Aufsatz. (Vgl. Martin Heidegger: GA 5, S. 48.) 296 Ebd., S. 62. Andere ausgezeichnete Weisen sind »die staatsgründende Tat«, »die Nähe dessen, was schlechthin nicht ein Seiendes ist, sondern das Seiendste des Seienden«, »das wesentliche Opfer« und »das Fragen des Denkers, das als Denken des Seins dieses in seiner Frag-würdigkeit nennt.« Mit einer ausgezeichneten Situation ist jedoch keinesfalls gemeint, dass sich diese prinzipiell von anderen unterscheiden. Mit Heidegger lassen sie sich lediglich als Situationen beschreiben, in denen die Vergegenständlichung und Entfremdung graduell weniger stark ausgeprägt sind. Somit können in ihnen die Grundstrukturen des Verstehens graduell leichter abgelesen werden.

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lerdings erklärt er dabei nicht, was ein Kunstwerk ist. Dies ist, wie er selbst feststellt »eine jener Fragen, auf die in der Abhandlung keine Antworten gegeben sind.«297 Stattdessen geht es Heidegger darum zu zeigen, inwiefern das Werksein eines Kunstwerks einen besonderen Bezug zur Wahrheit aufweist. Deswegen ist das Ziel dieses Kapitels auch noch nicht, eine spezifische Position innerhalb der ästhetischen Diskussion zu beziehen, sondern eine letzte Weiterentwicklung des bisher erörterten Wahrheitsbegriffs vorzunehmen. Heideggers Ausführungen zum Verhältnis von Kunstwerk und Wahrheit sind durch zwei zentrale Ausdrücke geprägt: Welt und Erde. Ersterer stellte bereits in Sein und Zeit einen der zentralen Termini dar.298 Damit avanciert er auch im Zusammenhang meiner eigenen Arbeit, obgleich unter anderem Namen, zu einer zentralen vollzugsmäßigen Größe. So kann die Welt als die Ganzheit von Sinnbezügen betrachtet werden, in die ein Mensch schon immer eingestellt ist. Entsprechend versinnbildlicht sie in meiner Ausdrucksweise, dass Menschsein und Verstehen als gleichursprünglich aufgefasst werden müssen.299 Letzterer Begriff dagegen, die Erde, fand zum ersten Mal in Der Ursprung des Kunstwerkes Anwendung. Für Heideggers Schüler Gadamer klang er damals »wie ein mythischer und gnostischer Urlaut, der höchstens in der Welt der Dichtung Heimrecht haben mochte.«300 Gewisse Vorbehalte, die in dieser Einschätzung Gadamers mitschwingen,301 scheinen mir nicht unbegründet. So wirkt die Erde wie eine bewusste begriffliche Abkehr vom 297 Ebd., S. 73. 298 In meiner Zusammenfassung von Sein und Zeit habe ich jedoch aus Gründen der didaktischen Reduktion bewusst auf Heideggers Terminologie verzichtet. 299 Gadamer definiert: »Die Welt als das Bezugsganze des Daseinsentwurfs bildet den Horizont, der allen Entwürfen menschlicher Daseinssorge vorgängig war.« (Hans-Georg Gadamer: Zur Einführung, in: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 2010, S. 98.) 300 Ebd., S. 99. 301 Sallis wundert sich darüber, dass Gadamer Heideggers Konzept der Erde nicht übernimmt, obwohl die Ästhetiken der beiden Philosophen große Parallelen aufwiesen. Mithilfe der rhetorischen Frage, ob sich Gadamers Denken nicht notwendig der Erde zuwenden müsste, macht Sallis zudem deutlich, dass er Heideggers Überlegungen zur Kunst bevorzugt. (John Sallis: The Hermeneutics of the Artwork. Die Ontologie des Kunstwerks und ihre hermeneutische Bedeutung, in: Günter Figal (Hg.): Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2011, S. 39-50, hier: S. 48f.) Ich denke allerdings, dass Sallis hier irrt. Ich werde später in diesem Abschnitt zeigen, dass Gadamer zwar den Begriff der Erde nicht verwendet, aber durchaus im Sinne der heideggerschen Erde denkt. An einer Stelle deutet Gadamer dies sogar selbst an (vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 10.).

2. Philosophische Grundlagen

Wahrheitsbegriff, den Heidegger noch in Das Wesen der Wahrheit (1930) vertrat. Alternativ ist man verlockt, die Erde als dritte Instanz neben Irre und Geheimnis zu stellen. Beide Einschätzungen gehen allerdings fehl, da die Weiterentwicklung des Wahrheitsbegriffs noch ursprünglicher ansetzt. Dies werde ich im Folgenden zeigen, ohne jedoch den Begriff der Erde selbst zu übernehmen. Von Heideggers Begriff der Erde sind als Erstes »die Vorstellung einer angelagerten Stoffmasse als auch die nur astronomische eines Planeten fernzuhalten.« Stattdessen ist sie »das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden.«302 Die Erde erscheint damit als hochgradig paradoxes Konzept. Einerseits vollzieht sie sich als ein Bergen: Sie spricht den Menschen an, kann vom ihm verstanden werden. Zugleich jedoch verschließt sie sich ihm. Und ich meine hier nicht zugleich im zeitlichen Sinne einer zufälligen Koinzidenz. Durch das Adverb »dergestalt« zeigt das Zitat vielmehr, dass das Bergen und das Sichverschließen zwei gleichursprüngliche Seiten ein und desselben Vollzugs sind. An der Erde findet das Wahrheitsgeschehen also »seinen höchsten Widerstand und dadurch die Stätte seines ständigen Standes«303 . Heidegger betont weiterhin, dass Welt und Erde in einem Streit stehen. Damit wendet er sich gegen einen Geist-Materie-Dualismus. Denn das Kunstwerk ist nicht einfach etwas Dinghaftes, das auf ein zweites, eine Idee, verweist.304 Stattdessen besteht es in einem Streit und zwar in der Weise, dass sich »die Streitenden, das eine je das andere, in die Selbstbehauptung ihres Wesens [heben].«305 Insgesamt lässt sich als Zusammenhang zwischen Welt, Erde und Kunstwerk damit festhalten: »Das Werksein des Werkes besteht in der Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde.«306 Um der konkreten Bedeutung dieser Formel auf die Schliche zu kommen, muss der Begriff der Erde allerdings noch über ein formal leeres Sprechen hinaus erhellt werden. Schaut man dazu in die Forschungsliteratur, so etwa ins Heidegger Handbuch (2003 bzw. 2013) oder den Klostermann-Kommentar (2011), findet man eine einhellige Interpretation: In den drei einschlägigen Aufsätzen wird Heideggers Erde als spezifische Form eines Nicht-Verstehens gedeutet, die mit dem eben entwickelten Wahrheitskonzept aus Das Wesen 302 303 304 305 306

Martin Heidegger: GA 5, S. 28, 35. Ebd., S. 57. Ebd., S. 4. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36.

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der Wahrheit nicht kompatibel ist.307 Exemplarisch werde ich dies im Folgenden an Andrea Kerns Ausführungen im Heidegger Handbuch herausarbeiten, um im Anschluss daran eine alternative Deutung zur Erde anzubieten. Kern beginnt mit einer Interpretation des heideggerschen Wahrheitsbegriffs. Dabei betont sie, hier noch in Übereinstimmung mit meiner eigenen Lesart, dass Wahrheit nicht allein vom Menschen, sondern auch von den zu verstehenden Sachen abhängt. Den nächsten Schritt der Argumentation übereilt sie jedoch, wodurch auch die Folgeüberlegungen in Mitleidenschaft gezogen werden: So identifiziert Kern Wahrheit mit dem Verstehen von Seiendem.308 Damit unterläuft ihr ein fundamentales Missverständnis, nämlich Wahrheit nur als Ent- nicht aber gleichursprünglich als Verbergung der Sachen zu denken. Vor hier aus entwickelt Kern zwar folgerichtig, aber eben nicht im Sinne Heideggers einen Begriff der Verbergung. Dieser umfasst für sie »das Phänomen des Nicht-Verstehens und das Phänomen des irrtümlichen Verstehens.« Letzteres

307 So schreibt der erste Autor, Espinet:"Genauer, mit Erde wird ähnlich wie beim unerkennbaren Ding an sich kantischer Prägung das Unzugänglichkeitsmoment des beschrieben Erscheinungscharakters der φύ σις umrissen, die im Erscheinen des sinnlichen Stoffes immer verborgen bleiben muss.« (David Espinet: Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde, in: David Espinet, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a.M. 2011, S. 46-65, hier: S. 55.) Keiling, der zweite Autor, begeht den Fehler, »Welt und Erde den Phänomenen von Wahrheit und Unwahrheit zuzuordnen«, obwohl Heidegger dies im KunstwerkAufsatz ausdrücklich untersagt. (Vgl. Martin Heidegger: GA 5, S. 42.) Damit ergibt sich für Keiling in Bezug auf die Versagung als Teil der Erde folgende Schlussfolgerung: »Unser bislang selbstverständliches Referenznetz ist als Ganzes fraglich geworden, und die Möglichkeit der Bezugnahme ist entsprechend auf ein bloßes Zeigen reduziert.« (Tobias Keiling: Kunst, Werk, Wahrheit. Heideggers Wahrheitstheorie in Der Ursprung des Kunstwerkes, in: David Espinet, Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a.M. 2011, S. 66-94, hier: S. 85.) Keiling versucht diese Aussage noch mit einem Verweis auf Heideggers Die Frage nach dem Ding zu untermauern. In der angegebenen Textstelle befasst Heidegger sich jedoch lediglich mit Fragen der sprachlichen Deixis. Sie stützt in keiner Weise Keilings Aussage. 308 So etwa, wenn sie schreibt: »weil das Seiende selbst uns diesen Grund geben muss«. Oder wenn sie »das Maß der Wahrheit« mit dem »Verstehen von Seiendem« gleichsetzt. (Andrea Kern: ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 162-174, hier: S. 164 und vgl. ebd., S. 167.) In meinem Verständnis ist das Sein, und nicht etwa das Seiende, Grund bzw. Maß für die Wahrheit.

2. Philosophische Grundlagen

entspricht in etwa der zuvor beschrieben Irre.309 Das Nicht-Verstehen dagegen besagt laut Kern, dass der Mensch »etwas zwar in seinem Daß-Sein verstanden [habe], aber nicht in seinem Was-Sein und So-Sein.« In dieser Form des Nicht-Verstehens könne er über ein Anderes also nurmehr sagen, und hier dekontextualisiert Kern ein Zitat aus dem Kunstwerk-Aufsatz, »daß es sei«310 . Zusammengefasst stehen für Kern also ›nicht angemessenes Verstehen‹ und ›Verstehen des reinen Dass-Seins‹ nebeneinander. Diese Deutung überträgt sie schließlich auch auf Heideggers Kunstwerkbegriff. Hier formuliert Kern in einer Gleichsetzung, dass der »Streit zwischen Welt und Erde […] eine Gestalt des ›Urstreits‹ von Lichtung und Verbergung« sei.311 Ihre Deutung der Welt, im Sinne einer Bezugsganzheit des Menschen, ist dabei unstrittig. Problematisch erscheinen mir aber ihre Identifikation von Welt und Lichtung bzw. Erde und Verbergung sowie ihr Verständnis der Erde. Ich werde zunächst auf Letzteres eingehen. Kern interpretiert die Erde nämlich als »das Phänomen des bedeutungshaft Seienden selbst«, oder noch prägnanter, als das »Gegebensein des bedeutungshaft Seienden«312 . Das heißt, dass sich das Verstehen des Rezipienten nicht nur auf die Sinnganzheit der Welt bezieht, sondern auch darauf, dass uns diese überhaupt gegeben ist. Damit wird die Erde bei Kern zum »Hervorkommen des Daß-Seins des Werks«313 . Bei der Kritik dieser Interpretation gehe ich zweiteilig vor: Zuerst rücke ich Kerns Argumentation vollzugsmäßig zu Leibe. Dabei fasse ich mich allerdings kurz, weil ich in Abschnitt 3.2.4 ausführlich eine analoge Kritik gegenüber Martin Seel vorbringen werde. An dieser Stelle frage ich deswegen nur: Wie soll eine solche Erfahrung des bloßen ›Dass-Seins‹ einer Sache aus der Ersten-Person-Perspektive überhaupt aussehen? Mir wurde sie bisher nicht zuteil und auch Kern bleibt eine positive Bestimmung schuldig. Vielmehr scheint es mir, als vermische die Autorin hier die Erfahrung des Kunstwerks mit einer nachträglichen Reflexion dieser Erfahrung: So kann ich durchaus ein Kunstwerk wahrnehmen und später darüber nachdenken, dass ich es wahrgenommen habe. Vollzugsmäßig gedacht sind das jedoch einfach zwei graduell unterschiedliche Verstehensvollzüge und nicht Vollzug und 309 Streng genommen rekonstruiert Kern auch in Bezug auf die Irre nicht die volle Bedeutung. So lässt sie vollkommen außer Acht, dass Seiendes nicht nur anderes Seiendes verstellt, sondern damit auch die Verborgenheit überhaupt. (Siehe dazu Kap. 2.7.) 310 Andrea Kern: ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹, S. 166. 311 Ebd., S. 164. und vgl. ebd., S. 168. 312 Ebd., S. 169. 313 Ebd., S. 170.

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Vollzugsbewussheit, also so etwas wie Vollzug und Metavollzug. Gestützt wird meine Vermutung dabei durch Kern selbst. Denn sie ordnet ihre Interpretation von Heideggers Wahrheitsbegriff terminologisch einer reflexiven Lesart zu.314 Damit ist bisher jedoch nur bewiesen, dass Kerns Grundannahmen von meinen eigenen abweichen. Zusätzlich werde ich meine Bedenken gegenüber ihrer Heidegger-Lektüre deswegen philologisch untermauern. Mit diesem Schritt leite ich zugleich meine eigene Interpretation des Werkseins des Werks ein. Diese basiert auf drei zentralen Textstellen des KunstwerkAufsatzes, die Kern über- bzw. missliest. So schreibt Heidegger über die Verbergung (bzw. die Versagung): »Seiendes versagt sich uns bis auf jenes Eine und dem Anschein nach Geringste, das wir am ehesten treffen, wenn wir vom Seienden nur noch sagen können, daß es sei.«315 Der Ausdeutung bedürftig ist hier die Phrase »bis auf jenes Eine«. Kern scheint sie im Sinne von ›mit Ausnahme dieses Einen‹ zu lesen. Daraus ergibt sich für sie, dass auch bei vollständiger Versagung einer Sache ihr ›dass sie sei‹ immer noch verständlich bliebt. Hier leitet Kern also ihre Erfahrung des reinen Dass-Seins ab. Allerdings zeigt sich bei genauerer Lektüre, dass dieses den Zusammenhang nicht wirklich trifft. Denn Heidegger sieht die Versagung durch die Phrase »daß es sei« nur »am ehesten« getroffen. Entsprechend kann sie keinesfalls einen zentralen Stellenwert in seinem Denken einnehmen. Geboten ist also eine alternative Deutung der Präpositionalphrase ›bis auf jenes Eine‹, wie beispielsweise als ›einschließlich jenes Einen‹.316 Und tatsächlich ergibt sich damit eine Interpretation, die in Übereinstimmung mit dem Geheimnis-Begriff in Vom Wesen der Wahrheit steht. Versagung bezeichnet dann nämlich eine völlige Verbergung. Das heißt, dass sich die Verbergung selbst auch noch mit verbirgt. Kerns Fehleinschätzung des Dass-Seins zeigt sich darüber hinaus bei genauerer Betrachtung von Heideggers Bestimmung des Kunstwerks: »Das Hervorkommen des Geschaffenseins aus dem Werk meint nicht, am Werk soll merklich werden, daß es von einem großen Künstler gemacht sei[…], sondern das einfache ›factum est‹ soll im Werk ins Offene gehalten 314 315 316

Vgl. ebd., S. 172-174. Martin Heidegger: GA 5, S. 40. Der Duden paraphrasiert ›bis auf‹ entweder als »einschließlich« oder als »mit Ausnahme (von)«. Ich entscheide mich hier für erstere Lesart. (Art. »bis«, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim u.a. 2003, S. 293.)

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werden: dieses, daß Unverborgenheit des Seienden hier geschehen ist und als dieses Geschehene erst geschieht; dieses daß solches Werk ist und nicht vielmehr nicht ist. […] Dort, wo der Künstler und der Vorgang und die Umstände der Entstehung des Werkes unbekannt bleiben, tritt dieser Stoß, dieses ›Daß‹ des Geschaffenseins am reinsten hervor.«317 Die Besonderheit dieser Textstelle besteht in ihrer typographischen Gestaltung: So schreibt Heidegger das »ist« in der Mitte des Zitats kursiv, das »Daß« in der letzten Zeile dagegen in Anführungszeichen. Im Vergleich mit anderen Heidegger-Texten lässt sich diese Typographie deuten: Hier werden nämlich zentrale Begriffe kursiv gedruckt. Uneigentliches Sprechen, oft vollzogen als ein Anzitieren kritikwürdiger Positionen, wird dagegen in Anführungszeichen gesetzt.318 Daraus folgt, dass das Kunstwerk im obigen Zitat nicht etwa sein eigenes Dass-Sein ausstellt. Diese Beschreibung trifft das Phänomen, in Heideggers Worten, nämlich nur »am ehesten«. Genauer ist es stattdessen über das Kunstwerk auszusagen, dass es ist. Es stellt also sein Sein ins Offene. Und Sein meint immer mehr als das reine Dass-Sein. Es verweist auf das Wahrheitsgeschehen, das durch den Menschen und ein Anderes eröffnet wird. Es bezeichnet die Ent- und Verbergung.319 Kern kann nicht zu dieser Lesart gelangen, weil sie das Sein auf die Entbergung reduziert. An einer dritten Textstelle lässt sich schließlich noch zeigen, dass die von Kern vorgenommene Zuordnung von Lichtung und Welt sowie Verbergung und Erde nicht legitim ist. So schreibt Heidegger über das Offene, also die Wahrheit: »Dieses Offene geschieht inmitten des Seienden. Es zeigt einen Wesenszug, den wir schon nannten. Zum Offenen gehört eine Welt und die

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Martin Heidegger: GA 5, S. 52f. Dies zeigt sich sehr eindrücklich in Sein und Zeit. So setzt Heidegger den Begriff der Welt in § 19-21, in denen er den cartesischen Weltbegriff behandelt, in Anführungszeichen. Seine eigenen Begriffe der Welt bzw. Weltlichkeit in den Folgekapiteln stehen dagegen ohne Anführungszeichen. Des Weiteren werden zentrale Begriffe in jedem Kapitel kursiv gedruckt. Im Kapitel zur Räumlichkeit (§ 23) sind dies beispielsweise Dasein, Ent-fernung und Ausrichtung. Auch Sätze, in denen Heidegger zentrale Einsichten resümiert, werden kursiv gedruckt. Dazu findet sich bei Gadamer: »Heidegger hat uns gezeigt, daß die Wahrheit des Kunstwerks nicht die Herausgesagtheit des Logos ist, sondern ein Daß und ein Da zugleich, das im Widerstreit des Entbergens und des Bergens steht.« (Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 56.)

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Erde. Aber die Welt ist nicht einfach das Offene, was der Lichtung, die Erde ist nicht das Verschlossene, was der Verbergung entspricht.«320 Mit diesem Zitat endet meine Kritik an Kern, deren zwei Kernthesen zum Kunstwerk-Aufsatz ich jetzt zwei eigene Thesen gegenüberstellen will: Kern behauptete erstens, am Kunstwerk könne man dessen Dass-Sein erfahren. Ich halte dagegen, dass am Kunstwerk nicht sein Dass-Sein, sondern die Wahrheit des Seins erfahren werden kann. Im Zusammenhang dieser ersten These wird zu zeigen sein, inwiefern Heideggers Bestimmung des Werkseins des Werks und meine Bestimmung des ästhetischen Verstehens ineinandergreifen. Kerns zweite These fasste Welt und Erde als Konkretionen von Ent- und Verbergung auf. Meine zweite These lautet dagegen, dass Welt und Erde als Sinnkontinuität bzw. Singularität des Verstehens ausgedeutet werden müssen. Diese Einschätzung wird sich dadurch bestätigen lassen, dass sie anschlussfähig an den bisher entwickelten Wahrheitsbegriff nach Heidegger ist. Ich beginne mit der Erörterung der zweiten These, bei der es im Wesentlichen darum geht, die Bedeutung von Heideggers Erde weiter zu konkretisieren. Diese habe ich formal leer bereits als höchsten Widerstand und dadurch zugleich als Stätte der Wahrheit bezeichnet.321 Konkreter lässt sie sich jedoch noch als Singularitätserfahrung beschreiben. Diesen Problemkomplex eines einmaligen, unwiederholbaren Ereignisses, der sich im Verlauf des Kunstwerk-Aufsatzes immer wieder stellt, leitet Heidegger mit der Frage ein: »Wohin gehört dieses Werk?« Und er findet eine Antwort, die sich gleichermaßen auf die Produktion als auch auf die Rezeption eines Kunstwerks anwenden lässt: »Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird.«322 Jedes Kunstwerk ist damit ein singuläres Ereignis. In Bezug auf die Produktion bestätigt Heidegger diesen Befund, indem er das Kunstwerk als eine Sache bezeichnet, die »vordem noch nicht war und nachmals nie mehr werden wird.«323 Aber auch für den nachgeborenen Betrachter ist diese Singularität des Kunstwerks laut Heidegger noch zugänglich. »Das Ereignis seines Geschaffenseins zittert im Werk nicht einfach nach, sondern das Ereignishafte, daß das Werk als dieses Werk ist, wirft das Werk vor sich her und hat es ständig um sich geworfen.« Dabei gilt folgender Zusammenhang: »Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuch-

320 321 322 323

Martin Heidegger: GA 5, S. 42. Ebd., S. 57. Ebd., S. 27. Ebd., S. 50.

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tender wird die Einzigkeit dessen, daß es ist und nicht vielmehr nicht ist.«324 Innerhalb einer besonders intensiven Auseinandersetzung, in der Terminologie meiner Arbeit, innerhalb eines ästhetischen Verstehens also, erscheint das Kunstwerk als besonders singulär. Denn nur in einer ästhetischen Rezeption stößt das Kunstwerk sogar »das Ungeheure auf und stößt zugleich das Geheure, und das, was man dafür hält, um.« Besonders deutlich wird dies, wenn Heidegger noch hinzufügt: »Die im Werk sich eröffnende Wahrheit ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten.«325 Folglich ermöglicht das Kunstwerk einen »Sprung«, »in dem alles Kommende schon übersprungen ist, wenngleich als ein Verhülltes.«326 Die Kunst wiederum macht das zu einem »Ursprung«, denn sie »lässt die Wahrheit entspringen.«327 Damit sind wir bei der ersten These angelangt. Wenn die Kunst nämlich ein Ursprung ist, dann lässt sie eine Sache aus dem Geheimnis hervortreten, um sie in das Offene zu stellen. Die Kunst ist also ein graduell besonderer Anlass, um die Wahrheit des Seins dieser Sache zu verstehen. Entsprechend zeigt sich der Kunstwerk-Aufsatz anschlussfähig an Heideggers früheren Wahrheitsbegriff in Das Wesen der Wahrheit. Aber auch mit der Metapher des Sprungs bzw. Ursprungs ist noch keine Anschaulichkeit gewonnen. Ich greife deswegen auf die vollzugsmäßige Methode der Ersten-Person-Perspektivierung zurück, um die Erde noch konkreter zu fassen. Zunächst will ich zeigen, dass die oben bereits kritisierte Deutung der Erde als unangemessenes Verstehen oder reines Dass-Verstehen keinen Sinn ergibt. Fragen wir uns dazu, was passiert, wenn wir ein Bild betrachten oder ein Musikstück hören.328 Schlagen diese eine Bresche in unsere Sinnbezüge? Stehen wir nur staunend und lediglich noch zeigend vor einem Kunstwerk und sagen uns: »Ich verstehe dieses Grün nicht.« Oder auch: »Ich kann zu dieser tonalen Erscheinung keinerlei Bezug herstellen, ich verstehe nur, dass sie ist.«329 Sicherlich nicht! Das ästhetische Verstehen des Kunst324 325 326 327 328

Ebd., S. 53. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65f. Mit der Möglichkeit der Übersetzung von Musik in Sprache beschäftigt sich: Christoph Vratz: Die Partitur als Wortgefüge. Sprachliches Musizieren in literarischen Texten zwischen Romantik und Gegenwart, Würzburg 2002. 329 Ein Beispiel von Kern will genau das suggerieren. Sie schreibt: »Nicht-Verstehen findet dann statt, wenn sich uns das Seiende in seinem Was-Sein und So-Sein versagt: etwa wenn wir ein Geräusch hören, aber es nicht zuordnen können und nurmehr sagen können ›dass es sei‹«. (Andrea Kern: ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹, S. 166.) Mit Scheurle

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werks ist doch zunächst ein positives, es bleibt Teil unserer Welt und sei es auch auf ein Minimum reduziert: Im Bild sehen wir das Grünen genau dieses Grüns und innerhalb des Musikstücks hören wir das Klingen genau dieses Klangs. Auch Heideggers eigene Beschreibungen ästhetischen Verstehens nehmen sich in diesem Sinne, also als positive, aus. Beispielsweise beschreibt er das Verstehen von einer ziehenden Schwere des Steins, einer stummen Härte des Holzes, einer dunklen Glut der Farben.330 Hier ist nichts zu spüren von einem reinen ›Dass-Sein‹ des Steins, des Holzes und der Farben. Natürlich kann man nachträglich darüber reflektieren, dass man die Gestaltung dieser Skulptur nicht versteht, also nicht erkennt, was sie eigentlich darstellen soll oder nicht sieht, in welchem Zusammenhang zu zeitgenössischen Darstellungspraktiken sie steht. Aber all dies ist nur möglich auf der Basis einer positiven Wahrnehmung. Dieses prinzipiell positive Verstehen, das ich zu veranschaulichen versuchte, führt mich nun direkt zum Erdhaften, das heißt zur Singularität des Verstehens. Allerdings erscheint mir der Erd-Begriff selber nicht unbedingt hilfreich, um das Konzept zu illustrieren. So verstellt seine Metaphorizität eher den Blick auf das betreffende ursprüngliche Verstehen, als ihn freizugeben. Deswegen werde ich an dieser Stelle zwei Zitate Gadamers einführen, die mir sprechender erscheinen und das Konzept der Erde zudem in eine Erste-Person-Perspektive überführen. Bei genauer Lektüre von Wahrheit und Methode fällt auf, dass Gadamer bereits hier eine Einsicht formuliert, die als Paraphrase der Erde gelten kann: »Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze. Es erweist sich als bloßer Schein, daß sich alles rückgängig machen läßt, daß immer für alles Zeit ist und alles irgendwie wiederkehrt. Der in der Geschichte Stehende und Handelnde macht vielmehr ständig die Erfahrung, daß nichts wiederkehrt [und,

kann ich zeigen, dass diese Aussage überzogen ist. Denn selbst wenn ich die Quelle eines Geräusches nicht ausmachen kann, kann ich doch Aussagen über seine Lautstärke, Tonhöhe, Klangfarbe usw. treffen. Normalerweise kann ich sogar kontextbasierte Vermutungen über seine Herkunft anstellen, wenigstens aber gewisse Möglichkeiten ausschließen. Ich werde also keinesfalls aus meinen Sinnbezügen herausgerissen. 330 Vgl. Martin Heidegger, GA 5, S. 51.

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S. R.] […] daß alle Erwartung und Planung endlicher Wesen eine endliche und begrenzte ist.«331 Die Erde entspricht also den Erfahrungen, dass nichts wiederkehrt und dass Planung begrenzt ist. Noch ausdifferenzierter finden sich diese Überlegungen jedoch beim späten Gadamer, für den, wie ich in Abschnitt 2.6 ausgeführt habe, die Frage nach der Grenze des Verstehens immer wichtiger wird. In diesem Sinn schreibt er 1985: »Endlich sei auf das tiefste der Probleme hingewiesen, die der Grenze der Sprache wesenhaft eingeboren sind. […] Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht […], zugleich das Bewußtsein hat, daß er es nicht ganz trifft.«332 Zentral ist hier die Sprechweise vom Bewusstsein, dass das Wort nicht trifft. Was ist damit gemeint? Meiner Auffassung nach paraphrasiert Gadamer hier die nachträgliche Reflexion eines Verstehensvollzugs. Kommen wir dazu auf meine Beispielsituation zurück: So wird mir eine besondere Wahrnehmung zuteil, eine positive Wahrnehmung, das Schmecken eines ungewöhnlichen Geschmacks. Nach dem Wahrnehmen des Geschmacks versuche ich dann mir oder einer zweiten Person Rechenschaft darüber zu abgeben, was ich gerade geschmeckt habe. Dazu könnte ich meinen Gesprächspartner beispielsweise an der Speise riechen lassen oder ich könnte versuchen, meinen Eindruck sprachlich zu übermitteln. In jedem Fall aber würde sich für mich dabei das Gefühl einstellen, dass meine nachträgliche Reflexion, das heißt der Geruch oder auch die von mir gewählte Beschreibung, nicht trifft. Denn der wahrgenommene Geschmack ist nicht vollständig in ein anderes Medium, wie Geruch oder Sprache, übersetzbar. Zudem reagiert die zweite Person beim Essen ganz anders als ich, weil ihr der Geschmack deutlich vertrauter ist. Und auch mein eigenes, wiederholtes Schmecken der Speise bedeutet mir nicht mehr dasselbe wie beim ersten Mal. Schließlich ist mir der Geschmack jetzt bekannt. An diesem Beispiel zeigt sich, so meine These, welchen Anteil die Erde an jeglichem Verstehen hat. Sie ist die Unwiederholbarkeit eines jeden Verstehensvollzugs. Sie ist die radikale Zeiträumlichkeit, die Singularität des Verstehens, die sich jedes Mal zeigt, wenn ich nur genau genug hinsehe, -höre, -rieche, -schmecke, -fühle usw. In der nachträglichen Reflexion erscheint sie dann als die von Gadamer formulierte Einsicht, dass das Wort nicht trifft, dass nichts wiederkehrt oder dass Planung begrenzt ist. Erde meint also die

331 Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 363. 332 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 361.

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Singularität eines jeden Verstehens, die sich umso deutlicher auswirkt, je intensiver der Mensch versteht, das heißt, je weiter er entfernt ist von einem alltäglichen Verhalten. Deutlicher zeigt sich dies sogar noch in einer anderen Situation, in der die Erde nicht erst innerhalb der Reflexion, sondern bereits während der Wahrnehmung selbst merkbar wird. Gadamer nennt dies die »Plötzlichkeit des Umschlages […] in jedem Verstehen. Wir kennen das, wenn wir auf eine bloße Mitteilung im täglichen Leben hinhören: Wir hören dann zu, bis wir es ›haben‹.«333 Hier zeigt sich die Erde als die Erfahrung einer Veränderung. Plötzlich ist etwas anders. Etwas zeigt sich, das vorher nicht da war und das der Mitteilung unseres Gegenübers Sinn verleiht. Jetzt wird auch deutlich, was es heißt, wenn Heidegger schreibt: »Die im Werk sich eröffnende Wahrheit ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten.«334 Die Erde west nämlich als die Unwiederholbarkeit und Unvorhersehbarkeit eines jeden Vollzugs.335 Damit lässt sich auch der von Heidegger betonte Streit zwischen Welt und Erde aufs Neue veranschaulichen. Kern konnte diesen in ihrer Analyse nicht konsequent denken. Entspricht das pure ›Dass-Sein‹ der Sachen aus der Ersten-Person-Perspektive doch einer völligen Abwesenheit der Welt.336 Heidegger aber hält dagegen: »Welt und Erde sind wesenhaft voneinander verschieden und doch niemals getrennt.« Und er ergänzt in Bezug auf ihren Streit: »Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes. Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende jeweils die Welt in sich einzubeziehen und einzubehalten.«337 Heidegger beschreibt den Streit hier als Wechselwirkung zwischen 333 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 277. 334 Martin Heidegger: GA 5, S. 63. 335 Eine analoge Deutung des heideggerschen Wahrheitsbegriffs im Sinne einer Differenz findet sich auch bei Marchart. Dieser will im Ausgang von Heideggers Wahrheitsbegriff im Gegensatz zu mir nicht das Ästhetische, sondern das Politische denken. (Vgl. Oliver Marchart: Die politische Differenz. Kap. I.3.3.) 336 »Das Kunstwerk macht das Wesen der Erde […] nun dadurch eigens sichtbar, daß das Kunstwerk […] das bedeutungshaft Seiende […] als solches hervorkommen läßt.«(Andrea Kern: ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹, S. 170, Herv. i.O.) ›Seiendes als solches‹ kann dem Menschen laut Heidegger aber nicht begegnen. Die Tatsache, dass der Mensch in eine Welt eingebunden ist, stellt nämlich ein apriorisches Perfekt dar. Er hat die ihn umgebenden Sachen immer schon auf die Möglichkeiten hin erschlossen, die sie ihm bieten. Das gilt sogar für die Natur. Auch diese und damit auch Kunstwerke begegnen nicht ›als solche‹. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 85, 144f.) 337 Martin Heidegger: GA 5, S. 35.

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Welt und Erde. Beide fordern sich in ihren spezifischen Stärken gegenseitig heraus. Dabei stellt die Erde, wie oben erläutert, sowohl die Stätte dar, auf der die Welt aufruht, als auch das Verschlossene. Letzteres bedeutet wiederum, dass die Erde dazu neigt, die Welt in sich einzubehalten. Sie zeigt gemäß meiner obigen Deutung, dass keine Situation der nächsten gleicht, dass Wiederholungen unmöglich sind. Auf der anderen Seite birgt die Erde jedoch die Welt, sie ist die Stätte, auf der die Welt aufruhen kann. Die Erde lässt sich hier als die unendliche Vielzahl sich nie wiederholender möglicher Sinnbezüge deuten, mit der der Mensch in jeder Situation seines Lebens konfrontiert ist. Innerhalb dieser Sinnbezüge wählt er einige aus, integriert sie in die Sinnkontinuität seines Lebens und verdeckt dadurch wiederum andere. Das ist gemeint, wenn Heidegger von der Überhöhung durch die Welt spricht. Die Singularität eines jeden Vollzugs wird durch diese aufgehoben, indem der Mensch diesen als ähnlich oder unähnlich zu früheren und zukünftigen Vollzügen auffasst. Heidegger bezeichnet die Welt deswegen auch als »Lichtung der Bahnen der wesentlichen Weisungen, in die sich alles Entscheiden fügt.« Und er ergänzt: »Die aufgehende Welt bringt das noch Unentschiedene und Maßlose zum Vorschein und eröffnet so die verborgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit.«338 Die Erde dagegen ist das »Unmaß«339 . Sie kann keine Ordnung stiften, da für sie alle Möglichkeiten gleichermaßen ungleich sind. Der Streit von Welt und Erde kann sich unterschiedlich intensiv vollziehen. Insgesamt lassen sich dabei drei Intensitätsstufen unterscheiden: 1) In der Alltäglichkeit vollzieht sich die Erde nur schwach. Es wird nur ein kleiner Ausschnitt an möglichen Sinnbezügen angesprochen, der von der Welt eingeholt werden muss. Dabei entsteht der Eindruck einer stetigen Wiederholung des immer Gleichen oder eines kopflosen Umherirrens. 2) Von diesem Verhalten ist das basale ästhetische Verstehen zu unterscheiden. Dieses entspricht einer intensiven Wahrnehmung von Sinnbezügen, also einem intensiven Wirken der Erde, das durch die Welt intensiv eingeholt wird. Der dabei entstehende Eindruck ist sowohl von Ähnlichkeit als auch Unähnlichkeit zu früheren Situationen geprägt. In Kapitel 4 werde ich von der ästhetischen Wahrnehmung sprechen. Der Unterschied zur Alltäglichkeit ist dabei nur ein gradueller, die Übergänge zwischen beiden können entsprechend fließend vollzogen werden. 3) Das gleiche gilt zwar auch für die dritte Intensi338 Ebd., S. 42, 50. 339 Ebd., S. 58.

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tätsstufe, das singuläre ästhetische Verstehen. Auch dieses ist vom Wahrheitsgeschehen her betrachtet nur graduell intensiver. Allerdings wird es aus der Ersten-Person-Perspektive ganz anders empfunden. Die Intensität der Wahrnehmung ist hier nämlich so groß, dass das Verstehen nicht mehr als einer früheren Situation ähnlich empfunden werden kann. Es hat den Anschein, als trete plötzlich eine vollkommen neue Möglichkeit aus dem Geheimnis ins Offene. Später werde ich diesen Vollzug als ästhetische Erfahrung bezeichnen. In ihm wird ausdrücklich, was das Verstehen aufgrund der Erde schon immer ist. Es zeigt sich als singuläres Ereignis. Deswegen spricht Heidegger auch von einem Sprung ins Neue. Dieser hinterlässt immer einen tiefen Eindruck im Lebensgefühl des Menschen. Hier zeigt sich auch, wie Heidegger einen Primat der Zukunft in seinem Zeitlichkeitskonzept wahren kann. Der Sprung vollzieht sich nämlich an der Grenzfläche zwischen Gegenwart und Zukunft. Da die Erde, das heißt die Anzahl an möglichen Sinnbezügen, unendlich groß ist, gibt es in Richtung der Zukunft nichts, was die Freiheit des Menschen begrenzt. In jedem zukünftigen Moment kann der Mensch sich, zumindest potentiell, vollkommen neu erfinden. Sinnbezüge, die von der Gegenwart in die Vergangenheit reichen, sind dagegen begrenzt. Sie umfassen nur das, was faktisch ist und faktisch war.

2.8.2

Fundierung: Materialität

Heideggers hochgradig metaphorischer Ausdruck der Erde lässt Raum für verschiedene Deutungen. Unter diesen könnte insbesondere eine Auslegung Georg W. Bertrams wichtig für den weiteren Verlauf meiner Argumentation sein.340 Dieser versucht nämlich Heideggers Erde in ein Konzept zu übersetzen, das innerhalb der aktuellen Ästhetik zu einiger Popularität gelangt ist.341 Im Folgenden werde ich prüfen, ob seine Interpretation des KunstwerkAufsatzes mit einem Vollzugsdenken kompatibel und damit für spätere Überlegungen in meiner Arbeit relevant ist.

340 Eine weitere Deutung der Erde bietet Gumbrecht an, indem er diese mit Heideggers Räumlichkeit identifiziert. (Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 132.) Sowohl Kap. 2.4.4 als auch Kap. 2.8.1 meiner Arbeit zeigen jedoch, wie verkürzt diese Deutung ist. 341 Zu den Gründungsdokumenten dieser Diskussion zählt: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988.

2. Philosophische Grundlagen

In seiner Monographie Kunst. Eine philosophische Einführung präsentiert Bertram eine Lektüre des Kunstwerk-Aufsatzes, die meiner eigenen zunächst nahe zu stehen scheint: »[F]ür Heidegger sind unsere alltäglichen Verstehenspraktiken von einer übermäßigen Logik der Identität geprägt. Auch für Heidegger gilt, dass ästhetische Erfahrungen das Übermaß dieser Logik brechen können. Dieser Bruch muss aber mit den Verständnissen, die er bricht, in Zusammenhang gebracht werden. Die Dichterworte, die uns ästhetisch ansprechen, lassen uns demnach tatsächlich die Welt auf eine neue Weise sehen. Das heißt, dass sie unsere bestehenden Verständnisse möglicherweise ändern beziehungsweise dass sie sich unter andere bestehende Verständnisse einfügen. Die Erweiterung unserer Verständnisse durch die Kunst ist nach Heidegger als eine positive Erweiterung zu verstehen.«342 Bertram geht hier von Verstehenspraktiken, also Vollzügen aus und stellt alltägliches und ästhetisches Verstehen in einen Zusammenhang. Zudem bestimmt er Verstehen als positiven Vollzug. Und auch in Bezug auf die Deutung von Heideggers Welt besteht Konsens. So umschreibt Bertram diese als »ein wiedererkennendes und ein wahrnehmungsorientiertes Verstehen«, das »ein Kunstwerk als einen Gegenstand einer verständlichen Ordnung [ortet]«. Umso erstaunlicher und untersuchungswürdig erscheint mir deswegen eine grundlegende Differenz zu meiner eigenen Lektüre des Kunstwerk-Aufsatzes. Diese betrifft die Deutung von Heideggers Erde. Bertram fasst diese nämlich nicht wie ich als Singularität des Verstehens, sondern als »materiale[s] Verstehen« auf. Damit meint er, dass sich das Material eines Kunstwerks »als Material«, das heißt, »in eigenen Strukturierungen zeigt.«343 Farbe wird also als Farbe, Stein als Stein und Sprache als Sprache in ihrer jeweils eigenen Beschaffenheit sichtbar. Um diese Deutung zu prüfen, werde ich sie auf ihre Vereinbarkeit mit Heideggers Ausführungen zur Erde im Kunstwerk-Aufsatz hin untersuchen. Dazu erinnere ich zunächst an die zwei zentralen Vollzugsweisen der Erde: An dieser findet das Wahrheitsgeschehen nämlich »seinen höchsten Widerstand und dadurch die Stätte seines ständigen Standes«.344 Auf den ersten Blick

342 Georg W. Bertram: Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2005, S. 153. 343 Ebd., S. 236, 231, Herv. i.O. 344 Martin Heidegger: GA 5, S. 57.

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scheint Bertrams Materialitätskonzept der zweiten Vollzugsweise nahezustehen. So braucht das Verstehen schließlich etwas, woran es sich halten kann, ein Material, aus dem das zu verstehende Ding besteht. Befragt man dazu jedoch erneut Heideggers, so hält dieser eine Warnung bereit, die gegen Bertrams Lesart opponiert. So reiche für die Bestimmung eines Dinges, also zum Beispiel eines Kunstwerks, »weder der Hinblick auf den Träger von Eigenschaften zu, noch jener auf die Mannigfaltigkeit des sinnlich Gegebenen in seiner Einheit […]. Der maß- und gewichtgebende Vorblick für die Auslegung des Dinghaften der Dinge muß auf die Zugehörigkeit des Dinges zur Erde gehen.«345 Heidegger warnt also davor, ein Ding über seine sinnliche Gestalt, das heißt seine Materialität, zu bestimmen. Als sinnvolle Alternative dazu setzt er die Erde ein. Bertrams Interpretation wird damit ausgehebelt. Noch deutlicher wird sein Abstand zu Heidegger allerdings, wenn man ihn nach der Widerständigkeit der Erde fragt. Diese sucht man in seiner Kunstwerk-Lektüre nämlich vergeblich. Stattdessen findet sich eine gegenteilige Bestimmung. So spricht Bertram von einer »verständnistragenden Materialität« und führt hierzu aus, »dass das Material in einer ihm eigenen Verständlichkeit hervortritt.«346 Damit zeigt sich endgültig, dass das Materialitätskonzept wesentliche Bestimmungen der Erde ausblendet. Es kann keinesfalls als Alternative oder Erweiterung zu meiner eigenen Lesart des Kunstwerk-Aufsatzes dienen.347 Im Folgenden werde ich deswegen auf die Ausdrücke Materialität und materiales Verstehen verzichten. Andere Konzepte in Bertrams Ästhetik werden sich im Verlauf der Arbeit dagegen als durchaus anschlussfähig an meine Grundannahme erweisen.

2.9

Zusammenfassung: Menschliches Verstehen als Vollzug

Kapitel 2 stellte eine Einführung in das Vollzugsdenken meiner Arbeit dar. Abschließend fasse ich die daraus abgeleitete Methodik und zentrale Grundannahmen noch einmal zusammen: Ziel war es hier, ein vollzugsmäßiges Verständnis des Menschen in seiner Lebenswelt sowie ein Instrumentarium

345 Ebd., S. 57. 346 Georg W. Bertram: Kunst, S. 230, Herv. i.O. 347 Bertrams Identifizierung von Erde und Materialität findet sich auch bei Martin Seel. (Vgl. Martin Seel: Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik, Frankfurt a.M. 2007, S. 37.)

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zur systematischen Beschreibung seiner Handlungen zu gewinnen. Mit Heidegger und Gadamer zeigt sich dabei, dass der Mensch gleichursprünglich verstehend und nicht verstehend und damit an einem Wahrheitsgeschehen beteiligt ist, das seinen Horizont übersteigt. So ist der Mensch in jeder Situation seines Lebens in eine unendliche Fülle an potentiellen Sinnbezügen eingebunden. Von diesen aktualisiert er stets nur einige, die wiederum andere verdecken und unwiederbringlich verstreichen lassen. Damit wird deutlich, dass in einem Vollzugsdenken die entscheidende Differenz nicht zwischen Form und Inhalt, sondern zwischen Sinnkontinuität und Singularität besteht. Es wird dabei nicht gefragt, ob eine Sache überhaupt Sinn gibt, sondern nur welchen und wie viel. Aus dieser Grundannahme lässt sich zugleich eine Beschreibung ästhetischen Verstehens ableiten. Dieses stellt nämlich eine besonders intensive Form der Weltbegegnung dar, die aus einer Situation mehr Sinnbezüge gewinnt als der alltägliche Umgang mit den Sachen. Um Verstehen und zwar in jeder beliebigen Intensitätsstufe sowie Ausprägung analysieren zu können, wurden schließlich vier Kategorien entwickelt: Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Selbstbezug und Fremdbezug. Während die ersten beiden darauf verweisen, wie der Mensch im Herstellen von Sinnbezügen in die Zeit entrückt und durch die Sachen in der Lebenswelt berückt wird, verweisen die letzteren beiden darauf, dass das Verstehen bzw. Nicht-Verstehen des Menschen stets von zwei Seiten her, nämlich von ihm selbst sowie der verstandenen Sache, bestimmt wird. Insgesamt stellt die Unterscheidung der Kategorien aber eine nachträgliche theoretische Beschreibung dar. Denn im Vollzug des Verstehens sind diese als vier gleichursprüngliche Teile eines Wahrheitsgeschehens ineinander verschränkt. Die analytische Trennung hat heuristische Funktion. Sie dient dazu, die Ganzheit der Ersten-Person-Perspektive von verschiedenen Seiten her genauer zu erhellen. Dabei beschreibt jede Seite die drei übrigen implizit mit.348 Insgesamt gelten die vier Analysekategorien für jegliches menschliche Verstehen. Dennoch zeichnet Heidegger die Begegnung mit einem Kunstwerk in seinem gleichnamigen Aufsatz als außergewöhnliche Situation aus.

348 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 41. Safranski wählt zur Erhellung dieses Denkens ein sehr anschauliches Bild. Er schreibt, Heidegger greife ins menschliche Dasein »wie in eine Algenkolonie. Egal wo man sie ergreift, man wird sie immer als Ganzes herausziehen müssen.« (Rüdiger Safranski: Ein Meister in Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a.M. 2001, S. 179.) Für eine genauere Beschreibung dieses methodischen Zusammenhangs siehe Kap. 4.2.2.

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Somit scheint es, als böte ein Kunstwerk besonderen Anlass für eine intensive Begegnung. Es fällt auf, es »stößt das Ungeheure auf und stößt zugleich das Geheure, und das, was man dafür hält, um.«349 Bertram spricht in diesem Zusammenhang auch von der mangelnden Selbstverständlichkeit der Kunst und erläutert dazu: »Wäre Kunst selbstverständlich, könnte sie nicht in der Weise Resonanzen bei den Rezipierenden hervorrufen«350 . Allerdings darf diese Bestimmung keinesfalls gehaltlich, das heißt als Wesenszug der Kunst, gelesen werden. Diese kann nämlich nur besondere Resonanzen erzeugen, indem sie nicht selbstverständlich (bzw. nicht alltäglich) verstanden wird. Oder andersherum: Indem Kunst ästhetisch verstanden wird, erzeugt sie Resonanzen. Der Fokus meiner Betrachtung liegt also, wie in Kapitel 2.3 betont, in jedem Fall auf dem Vollzug. Dieser lässt das Kunstwerk »erst das Werk sein, das es ist.«351 Die mangelnde Selbstverständlichkeit der Kunst sagt entsprechend rein gar nichts darüber aus, welche Sachen notwendig ästhetische Vollzüge verursachen oder wie der Mensch garantiert in diese hineingelangt. Wie die vollzugsmäßigen Prämissen meiner Arbeit lehren, greift jeder Versuch, dieses Anfangsproblem über ein Ursache-Wirkungs- bzw. Folge-Verhältnis zu lösen, zu kurz. In einem Vollzugsdenken fragen wir »jetzt nicht mehr, was ein solcher Vollzug eigentlich ist, wie er anfängt, endet, wie lang er dauert«352 . Damit würde von vornherein falsch gefragt. Das menschliche Verstehen würde nicht ursprünglich genug gedacht. Seine Freiheit, die jede Situation zur Augenblicks-Stätte für diese oder auch eine ganz andere Möglichkeit macht, würde übersehen. In seiner Freiheit kann der Mensch sich in jedem Moment neu erfinden. Nur eines ist dabei unmöglich, auch wenn Kausalitätsmodelle genau dieses unterstellen, nämlich dass der Mensch seine Freiheit nicht vollzieht. Seine Vollzüge sind eben nie notwendige Folgen von früheren Entscheidungen, sondern Möglichkeiten, die ergriffen werden. Und auch das Verschmähen einer Möglichkeit ist dabei ein positiver Vollzug. Wer Verstehen vollzugsmäßig, und das heißt als Freiheitsvollzug, beschreiben möchte, handelt sich also notwendig ein Anfangsproblem ein. Es lässt sich nicht erklären, wie oder warum man in ein bestimmtes Verstehen hineinkommt. Die Antwort lautet immer: Man versteht in bestimmter Weise,

349 350 351 352

Martin Heidegger: GA 5, S. 63. Georg W. Bertram: Kunst, S. 49. Martin Heidegger: GA 5, S. 54. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 392.

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indem man in bestimmter Weise versteht. Eine gewisse Frustration über diesen vollzugsmäßigen Hang zu Tautologien ist verständlich, allerdings wird man sogleich entschädigt, wenn man nur am Ball bleibt. Vollzugsmäßig lassen sich zwar keine Kausalitäten, dafür aber die unerschöpflichen Möglichkeiten, die Sachen bieten, beschreiben – und zwar umso besser, als eben kein Zwang zur Kausalität herrscht. Die Lebenswelt erscheint dadurch in ihrer vollen phänomenalen Komplexität. Eine konkrete Sache, in meinem Fall wird dies später ein literarischer Text sein, kann so in der weitläufigen Räumlichkeit und Zeitlichkeit der sie betreffenden Vollzüge anschaulich gemacht werden.

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3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

Während das vorangehende Kapitel die allgemeinen Grundannahmen meiner Arbeit unter dem Begriff des Vollzugsdenkens erarbeitete, schlage ich mit diesem Kapitel einen Bogen zur Ästhetik. Dazu situiere ich meine Arbeit innerhalb der aktuellen ästhetischen Diskussion, die ich zunächst zu ihrer Verhältnisbestimmung von Kunst und ästhetischem Vollzug befrage. Daraufhin stelle ich drei Ansätze zur näheren Beschreibung des ästhetischen Vollzugs vor. Die Einordnung meiner Arbeit geschieht dabei rein funktional. Das heißt, dass der Bezug auf verschiedene Forschungspositionen nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stets im Hinblick auf meine Fragestellung erfolgt. Diese führe ich schwerpunktmäßig unter Berufung auf Heideggers und Gadamers Philosophie durch, deren Annahme eines gleichursprünglich verstehenden und nicht-verstehenden Menschen an dieser Stelle eine Unterscheidung von anderen Ansätzen innerhalb der Ästhetik erlaubt.

3.1

Das Verhältnis von Kunstwerk und ästhetischem Vollzug

An dieser Stelle widme ich mich dem Verhältnis von ästhetischem Vollzug und seinem Bezugspunkt. Bei Letzterem soll es zunächst um Kunstwerke gehen, die, wie Kapitel 2.6 und 2.8 zeigten, für den späteren Heidegger und Gadamer einen ausgezeichneten Anlass für ihr Denken darstellten. Dabei untersuche ich, inwiefern ästhetische Vollzüge für die Definition von Kunst relevant sind. Die aktuelle philosophische Ästhetik unterscheidet diesbezüglich vier Positionen, die eine erste theoretische Einordnung des vollzugsmäßigen Ansatzes erlauben.1

1

Bei der Ausdifferenzierung der vier Positionen halte ich mich im Folgenden an Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel: Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte,

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Das Lesen als Handlung

Die engste denkbare Verknüpfung zwischen Kunstwerk und ästhetischem Vollzug besteht, wenn Letzterer sowohl die hinreichende als auch die notwendige Bedingung für den Status eines Kunstwerks darstellt. Diese Position impliziert, dass Kunstwerke notwendig ästhetische Vollzüge erzeugen. Oder andersherum: Jeder Umgang mit einem Kunstwerk gilt dieser Position als ein ästhetischer. An zweiter Stelle steht der ästhetische Vollzug als nur noch notwendige Bedingung für das Vorliegen eines Kunstwerks. Demnach provozieren Kunstwerke zwar in jedem Fall ästhetische Vollzüge. Allerdings ist dies auch in der Begegnung mit anderen Dingen möglich. Ästhetische Vollzüge werden damit außerhalb der Kunst denkbar. Deswegen muss die zweite Position Zusatzbedingungen einziehen, um zu klären, was als Kunstwerk gelten kann und was nicht. Zur Unterscheidung von Objekten der Natur, des Designs oder des Kunsthandwerks kann Kunst beispielsweise als Artefakt beschrieben werden, das speziell für den Zweck hergestellt wurde, ästhetische Vollzüge zu bewirken. Die dritte Position lockert den Zusammenhang zwischen Kunst und Verstehen noch weiter, indem sie nicht nur die zuvor genannten Zusatzbedingungen beibehält, sondern auch den ästhetischen Vollzug als nur noch hinreichende Bedingung für den Status von Kunstwerken ansetzt. Kunstwerke rufen also nicht unvermeidlich und nicht bei jedem Rezipienten ästhetische Vollzüge hervor. Diese potentielle Verknüpfung von ästhetischem Gegenstand und Vollzug ermöglicht eine Unterscheidung zwischen Kunstwerken, die häufig oder wahrscheinlich ästhetische Vollzüge provozieren und solchen, die weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder sogar Verweigerung hervorrufen. Dadurch verleiht die dritte Position dem Rezipienten Freiheit gegenüber dem ästhetischen Gegenstand. Ästhetisches Verstehen vollzieht sich also nur, indem es sich vollzieht. Entsprechend wäre eine vollzugsmäßige Ästhetik hier einzuordnen. Insgesamt lässt sich diese dritte Position zu einer Theorie ausbauen, in der Kunst kaum oder gar keine Rolle mehr spielt. Im Fokus stehen nämlich ästhetische Vollzüge. Die Sachen, an denen sie sich entzünden, sind dagegen austauschbar. Vollkommen komplementär dazu verhält sich das Interesse der vierten und letzten Position. So geht es ihr nicht um ästhetische Vollzüge, sondern in erster Linie um die Kunstwerke. Sie lässt sich deswegen auch als nicht-ästhetische Theorie der Kunst charakterisieren. Ihr Ansatzpunkt stellt ein erweiterter Kunstbegriff dar, der neben einer ästhetischen auch eine nichtästhetische Kunst konstatiert. Letztere zeichnet sich in: Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer Kontroverse, Berlin 2013, S. 7-37, hier: S. 23-30.

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

dadurch aus, dass sie so etwas wie ästhetische Vollzüge gar nicht erst zulässt. Hier werden gerne die sogenannten Readymades angeführt, die in anderen Kontexten als Alltagsgegenstände dienen könnten. Für diese wird angenommen, dass sie überhaupt erst aus einer theoretischen Perspektive heraus verständlich sind. Innerhalb der vierten Position verliert der ästhetische Vollzug also vollständig seinen Stellenwert als Definiens für die Kunst. Innerhalb dieser vier Positionen lassen sich Heideggers und Gadamers Kunstphilosophie an dritter Stelle einordnen.2 Steht bei ihnen doch der Vollzug und nicht der Gegenstand im Zentrum. Weitere Differenzierungen zu dieser Position erfolgen im nächsten Teilkapitel.

3.2

Drei Paradigmen des ästhetischen Vollzugs

Die Beschreibung des ästhetischen Vollzugs werde ich hier in drei Paradigmen ausdifferenzieren. Dazu unterscheide ich die hermeneutische Ästhetik, zu der ich auch den von mir vertretenen vollzugsmäßigen Ansatz zähle, von einer nichthermeneutischen und einer metaisierenden Ästhetik. Zugunsten einer begrifflichen Anschlussfähigkeit an frühere und spätere Kapitel werde ich dabei das von mir bereits eingeführte Vokabular weitgehend beibehalten. Um die Gelenkstellen der nichthermeneutischen und metaisierenden Argumentationen zu kennzeichnen, führe ich darüber hinaus aber auch einige fremde Begriffe ein. Im Falle der nichthermeneutischen Ästhetik betrifft dies das Konzept der Präsenz, das der in Abschnitt 2.8.2 kritisierten Materialität nahe steht, sowie das Konzept des Erlebnisses, das ich gegenüber meiner eigenen Sprechweise von Verstehen und Erfahrung abgrenzen werde. Innerhalb der metaisierenden Ästhetik kommt noch dem Vollziehenkönnen des Vollzugs ein zentraler Stellenwert zu.

2

Deines/Liptow/Seel rechnen Heideggers Ästhetik der vierten Position zu. (Vgl. ebd., S. 30.) Im Vollzugsdenken wird diese Einschätzung jedoch umgewandelt. Dann erscheint die vierte Position nämlich nur als ein Spezialfall der dritten. So ist der Mensch immer frei darin, ästhetisch zu verstehen, auch wenn das Kunstwerk einen bestimmten Zugang verlangt.

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Das Lesen als Handlung

3.2.1

Hermeneutische und vollzugsmäßige Ästhetik

Ästhetiken, die sich wesentlich auf Begriffen wie Verstehen und Sinn gründen, können als hermeneutische Ästhetiken verstanden werden.3 Sinn kann dabei ganz Unterschiedliches meinen, etwa dass ein Kunstwerk dem Rezipienten etwas bedeutet, ihn angeht oder auch dass es dem Rezipienten bei der Betrachtung eines Kunstwerks um etwas geht, ihm etwas daran liegt.4 Hier fällt bereits die große Nähe zum Sinnbegriff aus Kapitel 2.4.1 auf, die zeigt, dass sich eine vollzugsmäßige Ästhetik durchaus als Teil der hermeneutischen Ästhetiken auffassen lässt. Deswegen stellen ihre Vertreter zentrale Bezugspunkte für meine Arbeit dar. Zu diesen zählen Martin Seels Ästhetik des Erscheinens (2003) und Georg W. Bertrams Kunst. Eine philosophische Einführung (2005) bzw. Georg W. Bertrams Kunst als menschliche Praxis (2014).5 Auch sie operieren mit einem existenzialen Verstehensbegriff, der die Seinsweise des Menschen als Verstehen fasst.6 Damit werden ästhetische Situationen nicht an Kunstwerke gebunden, sondern können sich an der Natur oder jedem anderen Bereich der Lebenswelt in seiner unerschöpflichen Komplexität entzünden.7 Trotz großer Nähe zu Seel und Bertram ergeben sich jedoch auch Unterschiede in unseren Grundannahmen. Auf diese gehe ich in den Kapiteln 2.8.2 und 3.2.4 ein, um von dort aus eine Anpassung an meinen vollzugsmäßigen Ansatz vorzunehmen. Die 1970er und folgenden Jahrzehnte trugen den hermeneutischen Ästhetiken zunehmend Kritik ein. Laut wurde dabei vor allem der Vorwurf einer zu 3 4 5

6

7

Vgl. Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 27f. Vgl. ebd., S. 32. Bertrams Grundannahmen sind meinen eigenen sehr ähnlich. Beispielsweise konstatiert er, dass Kunstwerke nicht einfach für sich alleine stehen, sondern notwendig an ästhetische Praktiken gebunden sind. (Vgl. Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis, S. 121.) Die Nähe von hermeneutischer und vollzugsmäßiger Ästhetik zeigt sich auch daran, dass sowohl Seel als auch Bertram Heidegger und Gadamer als wichtige Referenzen nennen. (Vgl. Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 33 und Georg W. Bertram: Kunst, S. 147-153 sowie Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis, S. 173-178.) Seel nennt hier in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht z.B. den Bereich des Sports. (Vgl. Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 31-33.) Bei Levinson findet sich zudem eine Bezugnahme auf Sex, pharmakologische Selbstexperimente und mystische Erfahrungen. (Vgl. Jerrold Levinson: Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung, in: Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer Kontroverse, Berlin 2013, S. 38-60, hier: S. 56-59.)

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

einfachen Sicht auf Kunst und ästhetische Vollzüge. Hermeneutische Ansätze wollten, so die Kritik, die Inkommensurabilität der Kunst auf einen objektiven Sinn hin dingfest machen und das Spiel des ästhetischen Erlebens auf ein Verstehen hin reduzieren. Hinfällig werden diese Anschuldigungen jedoch, wenn man das zugrunde gelegte hermeneutische Verständnis von Sinn und Verstehen näher beleuchtet. Wie am Beispiel von Gadamers Verstehensbegriff in Kapitel 2.6 ausführlich entwickelt versuchen diese, das Handeln, Denken und Fühlen des Menschen in seiner Vielseitigkeit und Komplexität zu beschreiben. Zu unterstellen, eine hermeneutische Ästhetik gäbe sich der Illusion völliger Gewissheit und Klarsicht hin, ist also weit gefehlt. Ganz im Gegenteil handelt es sich um einen hochgradig selbstkritischen Ansatz, der sich die eigenen Grenzen ständig bewusst macht. Damit sind hermeneutische und vollzugsmäßige Ästhetiken durchaus in der Lage, »das ganze Feld des Ästhetischen zu bestellen«8 . Deswegen kann Gadamer in Wahrheit und Methode auch mit Fug und Recht behaupten: »In diesem umfassenden Sinne schließt die Hermeneutik die Ästhetik ein.«9 Da ich in Kapitel 4 ausführlich die Grundzüge einer vollzugsmäßigen Ästhetik entwickeln werden, sollen diese einleitenden Bemerkungen zu Ästhetiken, die Sinn und Verstehen in ihren Mittelpunkt stellen, genügen. Sie dienen zunächst nur dazu, den Unterschied zu anderen Ansätzen zu veranschaulichen, die im Folgenden beschrieben werden.

3.2.2

Nichthermeneutische Ästhetik

Pate für einen nichthermeneutischen Ansatz der Ästhetik steht hier Hans Ulrich Gumbrechts 2004 erschienene Monographie Diesseits der Hermeneutik.10 8 9 10

Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 28. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 5. Ich spreche in Anlehnung an Gumbrecht von einer nichthermeneutischen, nicht aber von einer antihermeneutischen Ästhetik, da es ihm nach eigener Aussage nicht um eine Abschaffung von Sinn, sondern eine Aufwertung ihres Gegenstücks, der Präsenz, geht. (Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 18.) Weitere Beispiele für diesen Ansatz sind: Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001; Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Berlin 2012; Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.M. 1991; Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008; Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013; Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002; Dieter Mersch: Posthermeneutik, Berlin 2010; Wolfgang Welsch: Ästhetisches

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Das Lesen als Handlung

Diese wurde ausgewählt, weil sie eine der jüngeren Gegenstimmen zu einer hermeneutischen bzw. vollzugsmäßigen Ästhetik darstellt.11 Zudem bietet sie sich für einen Vergleich mit meinen eigenen Überlegungen an, da sie deutlich Bezug auf Heidegger und Gadamer nimmt. Darüber hinaus wartet sie mit einer Rhetorik auf, die besonders hohe Erwartungen weckt. So empfiehlt sich Gumbrecht selbst als einen der radikalsten Denker auf dem Gebiet der nichthermeneutischen Ästhetik an: »Denn alle Autoren, deren Arbeiten ich bisher als Bestandteile eines theoretischen Umfelds erörtert habe, das in einen Bereich ›jenseits der Sinnzuschreibung‹ vorstoßen (und damit auch den Universalitätsanspruch der Hermeneutik hinter sich lassen) möchte, verhalten sich nach wie vor zögernd, sobald sie vor der Herausforderung stehen, das Alternativrepertoire an Begriffen zu entwerfen, das durch einen solchen Schritt in einen ›jenseits des Sinns‹ gelegenen Bereich notwendig würde.«12 Scheinbar im Gegensatz zu seinen Kollegen fühlt sich Gumbrecht durchaus dazu bereit, den Vorwurf »philosophischer Naivität« auf sich zu nehmen und sich bei dem radikalen Unterfangen, den Primat der Interpretation in der geisteswissenschaftlichen Praxis zu kritisieren, »die Hände schmutzig zu machen«13 . Als Ziel bestimmt er die Einführung zusätzlicher Begriffe und Praktiken diesseits, das heißt vor der Hermeneutik.14 Gumbrecht versteht seine Monographie als Gegengewicht zu einem epistemologischen Wandel, den er in den Geisteswissenschaften seit 30 Jahren beobachtet.15 Dabei grenzt er sich insbesondere von Diltheys Hermeneutik ab, die die zentrale Stellung der Interpretation in den Geisteswissenschaften festigte, sodass diese geradezu »zum Synonym für ›Interpretation‹«16 wurde. Gumbrechts Vorwurf an

11 12 13 14 15

16

Denken, Stuttgart 1990; Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996; Wolfgang Welsch: Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik, Stuttgart 2012. Vgl. hierzu Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 27. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 85. Ebd., S. 72, 98. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 32, 40. Diese epistemologische Entwicklung stellt Gumbrecht wiederum in den größeren Zusammenhang der Entwicklung der abendländischen Philosophie seit der frühen Neuzeit. In seinem zweiten Kapitel erzählt er diese als eine Geschichte der zunehmenden Ausklammerung der Wahrnehmung und des sinnlichen Weltbezugs. Gumbrecht will dieser Entwicklung, die er auch als »Weltverlust« bezeichnet, entgegenwirken. (Ebd., S. 69) Ebd., S. 27.

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

die Hermeneutik lautet, dass diese lediglich sinnbezogene Phänomene in den Blick nehme, die Materialität ihrer Gegenstände jedoch ausklammere.17 Daraus resultiert der gegenüber der Literaturwissenschaft spezifische Vorwurf, dass sie der formalen Seite der Dichtung nicht gerecht würde. Dies gelte umso mehr, als Literatur ja gerade diese formale Seite selbst hervorhebe. Anders ausgedrückt: Gumbrecht kritisiert an der Literaturwissenschaft, dass diese die Materialität bloß als eine Verdopplung oder Verstärkung von Sinnstrukturen versteht.18 Um diesbezüglich Abhilfe zu schaffen, das heißt, angemessen erklären zu können, welche Auswirkungen die materielle Verfasstheit der Lebenswelt auf einen Rezipienten haben kann, führt Gumbrecht den Begriff der Präsenz ein. Dieser bezeichnet für ihn eine Form des Weltbezugs, die vermeintlich ursprünglicher ist als die Interpretation, also die Zuschreibung von Sinn. Präsenz erzeugt somit eine »Nähe-zu-den-Dingen«, die Gumbrecht in vorschneller Anlehnung an Heidegger als ein »räumliches Verhältnis zur Welt und deren Gegenständen«19 auffasst. Präsent ist dabei, was »greifbar« ist, sich an die Sinne richtet, also »unmittelbar auf menschliche Körper einwirken kann.« Statt eines allein sinnhaften Verstehens fordert Gumbrecht damit insgesamt »ein Verhältnis zu den Dingen […], das zwischen Präsenz- und Sinneffekten oszillier[t]«20 . Denn genau dieses macht für ihn den Kern ästhetischer Er17 18 19

20

Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 34f. Ebd., S. 10f. Nach Gumbrecht ist der zunehmende Verlust der Präsenz historisch auf Descartes zurückzuführen, der die Seinsweise des Menschen nur über dessen Geist bestimmt. Dies führt gleichzeitig zu einer Abwertung des menschlichen Körpers als res extensa. (Vgl. ebd., S. 34, 50f) An späterer Stelle erweckt Gumbrecht den Eindruck, als stütze er sich mit seiner Forderung nach einer Rehabilitierung des räumlichen Weltbezugs auf Heideggers Kritik an Descartes’ res extensa-Begriff. Das Anliegen Heideggers, so Gumbrecht, sei nämlich eine erneute Bejahung der »körperliche[n] Substantialität und d[er] räumlichen Dimension des menschlichen Daseins«. (Ebd., S. 65.) Ich halte dies allerdings für eine Fehllektüre von § 19 in Sein und Zeit. So fordert Gumbrecht in seiner Monographie nichts weiter als eine Aufwertung der res extensa gegenüber den res cogitans. Heideggers Anliegen dagegen ist, wie in den Kap. 2.3, 2.4, 2.7 und 2.8 dargestellt, wesentlich radikaler. Er will den Subjekt-Objekt-Dualismus überwinden und nicht, wie Gumbrecht schreibt, nur eine »Umformulierung« vornehmen. (Ebd., S. 65.) Entgegen Gumbrechts Aussage, »daß wir den Versuch machen sollten, unseren Kontakt zu den Dingen der Welt außerhalb des Subjekt/Objekt-Paradigmas […] wiederherzustellen« (Ebd., S. 76), konsolidiert er dieses Denken also gerade, indem er Materialität und Sinn einander gegenüberstellt. Ebd., S. 11f.

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Das Lesen als Handlung

lebnisse aus.21 Erreicht wird ästhetisches Erleben durch eine Epiphanie, also ein plötzliches Überwältigtwerden, das sich durch drei Merkmale auszeichnet: Erstens zählt dazu das bereits erwähnte Hervortreten der Präsenz der Dinge, zweitens die Unableitbarkeit aus früheren Erlebnissen sowie drittens die Einzigartigkeit des Erlebens. Die letzten beiden Merkmale sind interessant, weil sie eine bestimmte Zeitlichkeit ins Spiel bringen. Gumbrecht betitelt diese als den Augenblick, meint damit aber im Gegensatz zu Heidegger nicht die Entrückung in die Zeit, sondern gerade das Gegenteil. Ästhetisches Erleben vollzieht sich für ihn nämlich als Singularität eines einzelnen Moments.22 Folglich gilt, dass das ästhetische Erlebnis unableitbar aus der Vergangenheit ist und keine Konsequenzen in der Zukunft erzeugt. So initiiert es weder Selbstreflexion noch Lehre.23 Vielmehr verhilft das ästhetische Erleben dazu, im Jetzt »die räumliche und körperliche Dimension unseres Daseins wiederzugewinnen«. Oder anders herum: Es hindert uns daran, »das Gefühl für die physische Dimension unseres Lebens oder die Erinnerung an diese Dimension völlig zu verlieren.«24 Eine Zuschreibung von Sinn, die ja stets eine Entrückung in die Zeit mit sich bringt, kann hier laut Gumbrecht nur schaden.25 Deswegen ist es umso erstaunlicher, dass er, bei seiner Suche nach theoretischen Gewährsmännern, die »überzeugendste […] Affinität« gerade gegenüber Hans-Georg Gadamer empfindet. Zwar stehe dieser wie kein anderer stellvertretend für die Hermeneutik, jedoch habe »ausgerechnet er in einem gegen Ende seines Lebens geführten Gespräch gemeint, man solle den nicht-semantischen, d.h. materiellen Komponenten literarischer Texte mehr Geltung verschaffen.«26 In Abschnitt 2.6. konnte ich eine solche vorschnel21

22 23 24 25 26

Vgl. ebd., S. 18. Diese Annahme stellt eine metaphysische Umformulierung von Heideggers Streit zwischen Welt und Erde dar. So habe ich in Kap. 2.8.1 gezeigt, dass die Erde zwar eine unendliche Intensität des Verstehens ermöglicht, dabei aber gleichursprünglich von der Welt sinnhaft eingefangen werden muss. Welt und Erde stehen also immer in einem Gleichgewicht. Gumbrecht dagegen ersetzt diesen Gedanken durch einen Dualismus von Materie und Sinn, in dem die beiden Momente völlig unabhängig voneinander sind. Vgl. ebd., S. 131-134. Vgl. ebd., S. 120, 136. Ebd., S. 136f. Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 84f. und vgl. ebd., S. 127f. In Kap. 2.8.1 konnte ich zeigen, dass Gadamer nicht erst am Ende seines Lebens, sondern schon in Wahrheit und Methode mit Heidegger Wahrheitsbegriff arbeitet, der neben einer Entbergung gleichursprünglich einer Ver-

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

le Lesart bereits mithilfe von Grondin widerlegen. So unterstreicht Gadamer zwar die Wichtigkeit der Grenzen der Sprache, erkennt aber auch, dass man sich diesen nur innerhalb der Sprache und damit innerhalb des Sinns nähern kann. Dies als nichthermeneutische Prämisse auszulegen, findet keinerlei Anhalt in seinen Texten. Deswegen deutet Gumbrechts Bezugnahme auf Gadamer an, was er später dann auch explizit bekennen muss: Bei der Beschreibung ästhetischen Erlebens kann keinesfalls auf Sinn verzichtet werden.27 Gumbrechts Bestimmung ist also weniger radikal, als es die einleitende Rhetorik vermuten ließ. Stattdessen räumt er sogar ein, dass die menschliche Existenz überhaupt erst durch Sinn konstituiert wird und es damit grotesk wäre, auf Begriffe, Verstehen oder Interpretation zu verzichten.28 Sein Konzept der Präsenz kann diese folglich nicht ersetzen, sondern lediglich neben sie treten. Insgesamt operiert Gumbrecht damit über eine Dichotomie von Materialität und Sinn sowie eine Zeitlichkeit, die die Sinnkontinuität des Verstehens unterbricht. Ich werde seine spezifisch ästhetischen Überlegungen entsprechend nicht für eine vollzugsmäßige Beschreibung ästhetischen Verstehens fruchtbar machen können. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass die Ansätze der nichthermeneutischen Ästhetik einen interessanten Beitrag zur aktuellen Forschungsdiskussion leisten. So betont die Aushebelung der Sinnkontinuität den Sonderstatus ästhetischer Situationen mit einer Emphase, die ein Vollzugsdenken nur in Teilen aufbringen kann. Für meine eigenen Überlegungen gibt Gumbrecht zudem Anlass, sich mit einem weiteren zentralen Begriff der aktuellen Ästhetik auseinanderzusetzen. So spricht er selbst von ästhetischem Erleben, nicht aber von Verstehen oder Erfahrung. Denn diese Begriffe, so Gumbrecht, würden in der philosophischen Tradition stets mit Sinnhaftigkeit zusammengedacht.29 Seine terminologische Entscheidung sei darüber hinaus ganz im Sinne Gadamers. Denn dieser behaupte, dass es »eine systematische Beziehung zwischen der Ästhetik und der Dimension des Erlebens«30 gebe. Mit welcher Berechtigung sich ein solcher Zu-

27 28 29 30

bergung der Sachen in der Lebenswelt annimmt. Im Gegensatz zu Gumbrechts Unterstellung stellt dieses Denken aber keine dualistische Unterscheidung zwischen Sinn und Präsenz dar. Vgl. ebd., S. 121, 126f. Vgl. ebd., S. 159, 164f. Vgl. ebd., S. 120. Ebd., S. 148, Fn 33.

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Das Lesen als Handlung

sammenhang konstatieren lässt bzw. wie angemessen die Berufung auf Gadamer an dieser Stelle ist, werde ich im folgenden Abschnitt prüfen.

3.2.3

Fundierung: Erlebnis

Das Ziel dieser Fundierung ist es zu zeigen, dass Gumbrecht Gadamer zu Unrecht vereinnahmt, wenn er in seinem Namen ästhetische Situationen mit dem Begriff des Erlebnisses verknüpft. Vielmehr ist so, dass Gadamer bewusst Abstand von diesem Konzept nimmt, indem er zeigt, dass dessen Grundannahmen mit einem Vollzugsdenken unvereinbar sind. Gadamers Kritik am Erlebnisbegriff in Wahrheit und Methode fügt sich in sein Vorhaben ein, »ein angemessenes Verständnis dessen, was in den Geisteswissenschaften Wahrheit heißt«31 , zu entwickeln. Die Komplexität dieser Wahrheit stellt dabei eine Nähe zur Philosophie oder Kunst her.32 Als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Neuinterpretation der Geisteswissenschaften liegt es deswegen nahe, »die Erfahrung der Kunst [als] eine Erkenntnisweise eigener Art«33 zurückzugewinnen. Diese Erkenntnisweise unterscheidet sich laut Gadamer zwar von der der Naturwissenschaften, ist ihr jedoch keinesfalls unterlegen. Dennoch bedarf es ihrer Rehabilitierung, da Kant die Ästhetik um den Preis einer radikalen Subjektivierung zwar neu begründet, ihr zugleich aber jegliches Erkenntnispotential abgesprochen hat.34 Kants Standpunkt, so Gadamer, wurde dann in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts weitergeführt, indem diese die Kunstrezeption als Erlebnis deklarierte.35 Der Begriff selbst trat zwar erst in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und damit relativ spät auf. Verwandte Bildungen wie ›Erleben‹ oder ›Erleber‹ fanden sich jedoch schon 31 32 33 34

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Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 104. Vgl. ebd., S. 1f. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 47. Gadamers Einschätzung deckt sich hier mit jüngeren Einschätzungen aus der Philosophiegeschichte. Siehe hierzu Norbert Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Stuttgart 2010, S. 50f.: »Das Vermögen, das im Subjekt dabei [in der Anschauung des Schönen, S. R.] angesprochen wird, ist weniger (eigentlich sogar überhaupt nicht) die Vernunft als Instanz der Erkenntnis als die Einbildungskraft […]. Kant gibt somit der Ästhetik eine subjektivistische Fundierung, da es ihm um die Beschreibung zunächst der Affizierung geht, die schöne oder erhabene Gegenstände im Subjekt als Lust- oder Unlustgefühl auslösen, dann aber auch um die Möglichkeiten, Potenzen und Fähigkeiten des Subjekts, ästhetisch produktiv zu sein und von seiner Phantasie Gebrauch zu machen.« Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 85f.

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

früher und bereiteten seine Semantik vor.36 Gadamer leitet die Bedeutung des Erlebnisses unter anderem bei Dilthey ab. Dieser verwendet den Begriff als Erster in systematischer Weise und zwar als Teilhabe an einem Geschehen, dem besondere Bedeutung beigemessen und das als eine Einheit aufgefasst wird.37 Dabei hat das Erlebnis einerseits Bedeutsamkeit für das ganze spätere Leben. Das heißt, dass es erst aus der Erinnerung heraus verstanden werden kann, also den Erlebenden in Form einer nachträglichen Reflexion stets begleitet.38 Andererseits ist das Erlebnis aber auch »aus der Kontinuität des Lebens herausgehoben«, es schließt sich »nicht mit anderen zur Einheit eines offenen Erfahrungsfortgangs zusammen[…]«. Diese Doppelstruktur des Erlebnisses macht für Dilthey zugleich seine Affinität zum Ästhetischen aus. Indem nämlich auch die Rezeption eines Kunstwerks eine Bedeutungsfülle vergegenwärtigt, die sämtliche früheren und späteren Zusammenhänge abschneidet, dennoch aber »das Sinnganze des Lebens«39 repräsentiert, wird mit seiner Hilfe die typische Bewegung eines Erlebnisses durchlaufen. Es ist somit nicht erstaunlich, dass das Erlebnis bestimmten Ästhetiken als zentraler Bezugspunkt gilt. Entgegen der Vereinnahmung durch Gumbrecht lässt sich dies von Gadamers Ästhetik allerdings nicht behaupten. So argumentiert Gadamer: »Die Grundlegung der Ästhetik im Erlebnis führt zur absoluten Punktualität, die die Einheit des Kunstwerks ebenso aufhebt, wie […] die Identität des Verstehenden bzw. Genießenden.«40 Statt einer Gleichursprünglichkeit von Sinnkontinuität und Singularität setzt das Erlebnis nämlich allein auf Letztere. Damit eröffnet Sinn nicht mehr eine graduelle Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit zwischen Situationen, sondern erstarrt in einer bezuglosen Punktualität. Das Kunstwerk wird so zu einer reinen »Leerform« und der Rezipient der »Selbstvernichtung« überantwortet.41 Somit schließt Gumbrechts Ver36

37 38 39 40

41

Vgl. ebd., S. 66f. und ausführlicher Konrad Cramer: Art. »Erleben, Erlebnis«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1972, Bd. 2, S. 702-711, hier: S. 703. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 67. Vgl. ebd., S. 72f. und Hans-Georg Gadamer: GW 2, S. 30f. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 75f. Ebd., S. 101. In dem Zitat wurde bewusst die Aufhebung der »Identität des Künstlers mit sich selbst« ausgespart, da die Frage nach dem Künstler/Autor innerhalb der Themenstellung meiner Arbeit keine Rolle spielt. Ebd., S. 101. Zwar hatte ich in Kap. 2.8.1 darauf hingewiesen, dass auch ein vollzugsmäßiger Wahrheitsbegriff neue, aus nichts abzuleitende Ereignisse denken kann. Allerdings werden diese ab dem Zeitpunkt ihres Erscheinens gleichursprünglich in die Sinn-

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Das Lesen als Handlung

wendung des Erlebnisbegriffs zwar konsequent an seine Epiphanie-Ästhetik an. Seine gleichzeitige Berufung auf Gadamer ist aber vollkommen unberechtigt. Denn ein vollzugsmäßiger Ansatz, wie Gadamer ihn vertritt, kommt genau zum gegenteiligen Schluss: »Kunst ist Erkenntnis und die Erfahrung des Kunstwerks macht dieser Erkenntnis teilhaftig.«42

3.2.4

Metaisierende Ästhetik

Die von mir eingezogene Differenzierung in eine hermeneutische, eine nichthermeneutische und eine metaisierende Ästhetik stellt keine erschöpfende Charakterisierung der hier besprochenen Ansätze dar. Vielmehr dient sie als Heuristik, die es erlaubt, prototypische Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen aktuellen Forschungspositionen und meinem eigenen vollzugsmäßigen Ansatz aufzuzeigen. Dadurch ergibt sich zugleich, dass eine bestimmte Position mehreren Paradigmen zugeordnet werden kann. So auch im Fall von Martin Seels Ästhetik, die ich am Beispiel seiner Dissertation Die Kunst der Entzweiung (1985) behandeln werde, da hier seine Grundannahmen am besten deutlich werden.43 Zuvor habe ich Seel als Vertreter einer hermeneutischen Ästhetik gekennzeichnet. Diese Anteile innerhalb seiner umfassenden Überlegungen sind es auch, die eine Anschlussfähigkeit an meinen eigenen Ansatz erlauben werden. Allerdings verknüpft Seel seine hermeneutische Orientierung zusätzlich mit Grundannahmen, die einem Vollzugsdenken zuwiderlaufen. Ich werde Letztere im Folgenden unter dem Stichwort Metaisierung verhandeln. Darunter verstehe ich theoretische Setzungen, die das Ästhetische auf einer Metaebene verorten und darüber vom alltäglichen Verstehen absolut unterscheiden wollen.44 Die eingezogene

42 43

44

kontinuität des menschlichen Lebens eingebunden. Sie stellen also keine vollkommene Singularität dar. In Kap. 4.3 werde ich unter dem Stichwort ästhetische Erfahrung darauf noch genauer eingehen. Ebd., S. 103. Hier beschäftige ich mich mit Seels Dissertation, weil er in dieser seine Grundannahmen stärker expliziert. In Kap. 4 werde ich mich dagegen auf Seels jüngere Monographie Ästhetik des Erscheinens beziehen. Diese unterliegt den gleichen Grundannahmen wie seine Dissertation. Besonders gut zeigt sich dies an der von Seel beschriebenen »doppelte[n] Gegenwärtigkeit der Objekte der Kunst«, die ebenfalls eine Metaisierung darstellt. (Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München, Wien 2003, S. 159, 218.) Den vermutlich prominentesten metaisierenden Ansatz stellt Kants Kritik der Urteilskraft dar. Dies verdeutlicht bereits der erste Satz des ersten Buchs: »Um zu entscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Ver-

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

Metaebene ist dabei auf das alltägliche Verstehen bezogen, nicht aber auf die Lebenswelt als geteilten Erfahrungsraum. Im Folgenden wird es darum gehen, das Anliegen einer solchen Ästhetik-Konzeption zu erläutern sowie einen Weg zu finden, sie in einen vollzugsmäßigen Ansatz rückzubauen. In Die Kunst der Entzweiung grenzt sich Seel grundsätzlich von zwei Theorieströmungen ab. Erstens führt er sogenannte Entzugsästhetiken an, die den von mir als nichthermeneutisch bezeichneten Ansätzen entsprechen. Nichthermeneutische Positionen unterscheiden das Ästhetische kategorisch von anderen Weltzugängen, indem sie, und hier stimme ich mit Seel überein, das ästhetische Verstehen in »der reinen Reflexion bzw. sprachlosen Intensität« verorten, es also befreien wollen von »Bedeutungen und Begriffen eines kognitiven Weltverständnisses.« Die zweite Theorieschule, gegen die sich Seel wendet, sind sogenannte Überbietungsästhetiken. Zu diesen zählt er auch explizit Heidegger und Gadamer, die, in Seels Worten, »eine spezifische Rationalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen eines integralen Konzepts von Wahrheit und Erkenntnis«. Ästhetisches Verstehen gelte dabei als »ein herausragender – wenn nicht der herausragende – Modus des (emphatischen) Erkennens«45 , von dem sich weniger bedeutende Weltzugänge nur noch graduell unterscheiden ließen. Sowohl die nichthermeneutischen als auch die vollzugsmäßigen Ästhetiken weisen damit in Seels Augen bedeutende Schwächen auf. Erstere bekämen nämlich »die Substanz der ästhetischen Wahrnehmung nicht zu fassen«, weil sie diese als »schlechthin unbestimmbaren« Gegenstand vom Rest des Verstehens entzweiten. Dagegen würden die vollzugsmäßigen Ästhetiken »die Kapazität der ästhetischen Wahrnehmung notwendig überfrachten«46 , weil sie ästhetisches und nicht ästhetisches Verstehen nahezu ununterscheidbar miteinander versöhnten. Mit einem neuen Ansatz will Seel deswegen »gegen

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stand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft […] auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben.« Und auch für das Erhabene, das er im zweiten Buch behandelt, gilt, dass es »bloß auf das Gefühl der Lust und auf kein Erkenntnis des Gegenstandes Anspruch machen« kann. (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hg. von Manfred Frank, Véronique Zanetti, Frankfurt a.M. 2009, S. 479-880, hier: S. 521f, 575). Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a.M. 1997, S. 46. Auch Seel macht darauf aufmerksam, dass die strikte Gegenüberstellung der zwei Theorieschulen eine Zuspitzung darstellt. (Vgl. ebd., S. 47.) Ebd., S. 52f.

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Das Lesen als Handlung

den Gegensatz von Entzweiung und Versöhnung opponieren«. Er bezeichnet ihn als »Kunst der Entzweiung«47 . Diese soll ästhetisches Verstehen in einer Weise beschreiben, die weder distanziert ist, wie im Fall der nichthermeneutischen Ästhetik, noch distanzlos, wie im Fall der vollzugsmäßigen Ästhetik. Stattdessen verortet sich Seel zwischen diesen beiden Ansätzen und verfolgt dabei zusätzlich den Anspruch, die menschliche Lebenspraxis in ihrer Freiheit zur Erneuerung zu beschreiben.48 Einer solchen Zwischenstellung entsprechend wird ästhetisches Verstehen für Seel durch zwei Momente konstituiert, die eine Abgrenzung sowohl gegenüber nichthermeneutischen als auch gegenüber vollzugsmäßigen Positionen sicherstellen sollen: erstens den ästhetischen Vollzug und zweitens das Vollziehenkönnen dieses Vollzugs.49 Dabei ist Seels ästhetischer Vollzug mit dem Konzept der Präsentation vereinbar, wie ich es in Abschnitt 2.6.2 genauer erläutert habe. Er verweist also darauf, dass ein Anderes dem Menschen sinnvoll erscheint, indem es Sinn auf seine jeweils eigene Weise verkörpert, das heißt präsentiert. Seel fasst diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Die für die ästhetische Wahrnehmung relevante Signatur von Gegenständen und zumal die Konstitution von Kunstwerken ist das durch ihr SichtbarWerden zum Ereignis Werden von Erfahrungen, die nicht als etwas in der Welt zur Darstellung kommen, sondern als Sichtweisen der Welt sich artikuliert finden, die sich dem wahrnehmenden Verstehen in der inneren Ausprägung und Konstruktion seiner Objekte bieten.«50 Mit dem ersten Moment des ästhetischen Vollzugs setzt sich Seel von nichthermeneutischen Grundannahmen ab, die das Ästhetische außerhalb der alltäglichen Zeiträumlichkeit des Verstehens situieren. Das zweite Moment dagegen soll genau komplementär wirken, also Abstand vom Vollzugsdenken nehmen. Dazu zieht Seel das sogenannte Vollziehenkönnen des

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50

Vgl. ebd., S. 23. Dabei handelt es sich um das erste Anliegen. An dieser ›Rationalität des Ästhetischen‹ nimmt Seels Argumentation ihren Ausgang, um zweitens auch über das ›Ästhetische der Rationalität‹ zu sprechen. (Vgl. ebd., S. 1.) Laut Seel besteht ein ästhetischer Vollzug, bzw. in seinen Worten, eine ästhetische Erfahrung aus einer »Erfahrung […], die das ästhetisch gelungene Objekt bedeutet« und einem »Erfahrenkönnen dieser Erfahrung«. (Ebd., S. 280, Herv. i.O.) Ich passe Seels Ausdrucksweise hier an meine eigene an, um einer Verwechslung mit meinem eigenen Begriff der ästhetischen Erfahrung in Kap. 4.3 vorzubeugen. Ebd., S. 158.

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

Vollzugs als eine Art Metaebene ein. Er verdoppelt also in gewisser Weise den Vollzug oder genauer gesagt den Selbstbezug des Verstehens. So entsteht eine ästhetische Situation, in der sich die Verstehenden »als Subjekte ihrer Erfahrung« auffassen. Sie machen also »Erfahrungen mit Erfahrungen« oder, wie Seel alternativ formuliert, »Erfahrungen mit der Gemachtheit bedeutsamer Erfahrungen.« Dabei kommt dem Vollziehenkönnen des Vollzugs ein besonderer Stellenwert zu, denn »dieser strukturelle Gegenstand und nicht ein besonders zu qualifizierender Erfahrungsprozeß bestimmt allererst die Eigenart der ästhetischen Wahrnehmung.«51 Laut Seel geht es beim ästhetischen Verstehen also nicht um einen Erfahrungsprozess, sondern um den strukturellen Gegenstand der Erfahrung mit Erfahrungen. Vollzugsmäßig gedacht heißt das, dass dem Vollziehenkönnen des Vollzugs der Fremdbezug fehlt. Der Verstehende nimmt hier keinen Bezug auf eine geteilte Lebenswelt, sondern nur auf sein eigenes Verstehen. Entsprechend fasst Seel ästhetisches Verstehen als ein »distanzierende[s] Engagement« auf, dessen Freiheit von der Lebenswelt zugleich eine besondere Freiheit im Umgang mit den eigenen Möglichkeiten bieten soll: »In ästhetischer Einstellung sind wir auf Erfahrungen aus: andernorts nehmen wir diese oft nur in Kauf. Ästhetisch verfolgen wir keinen anderen Zweck als den, die Sinnhaftigkeit unserer Erfahrungen zu erfahren. Das ist nicht weniger paradox als schon bei Kant. Denn wenn Erfahrungen einsetzen mit der Nötigung, sich neu zu besinnen, dann folgt aus dem Willen zur Erfahrung die Bereitschaft, den Sinn aufs Spiel zu setzen.«52 Es zeigt sich, dass Seel ästhetisches Verstehen von anderem Verstehen nicht nur graduell, sondern absolut abzuheben versucht. Nur innerhalb des ästhetischen Verstehens richtet sich der Verstehende nämlich auf sich selbst. Zwar entzündet sich dieses zunächst an der Lebenswelt, ist aber letztlich doch unabhängig von ihr. Oder im Vokabular meiner Arbeit: Der wesentliche Teil des ästhetischen Verstehens besteht für Seel in einem verdoppelten Selbstbezug, der zwar »zugleich«53 mit einem Bezug auf die Lebenswelt geschieht, sich aber letztlich von dieser ablöst. Ästhetisches Verstehen impliziert für Seel

51 52 53

Ebd., S. 171, Herv. i.O. Ebd., S. 172. Ebd., S. 280.

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Das Lesen als Handlung

somit ein Metaverstehen bzw. ein Verstehen zweiter Ordnung.54 Soll dieses in einen vollzugsmäßigen Ansatz überführt werden, muss es zu einem einfachen Verstehen, also einer Ersten-Person-Perspektive rückgebaut werden. Dies ist möglich, da die Metaisierungen lediglich aufgepfropft sind. Entsprechend lässt sich die vollzugsmäßige Basis abtrennen und weiterentwickeln. Umsetzen werde ich dies in Kapitel 4.2. Nach der Rekonstruktion der Grundlinien von Seels Ästhetik gilt es nun zu fragen, inwiefern diese ernstzunehmende Lösungen für die Probleme nichthermeneutischer und vollzugsmäßiger Ansätze bereitstellen bzw. wie gravierend die vermeintlichen Probleme wirklich sind. Dabei beginne ich mit dem Vorwurf, ästhetisches Verstehen würde zu einem unbestimmbaren Gegenstand gemacht, wie ich ihn in Abschnitt 3.2.3 zwar mit anderem Vokabular, aber dem Kern nach ebenfalls gegenüber nichthermeneutischen Ansätzen geäußert habe. Unbestimmbar ist das ästhetische Verstehen hier, weil ihm der Bezug zur Lebenswelt verloren geht. Sowohl aus metaisierender als auch aus vollzugsmäßiger Perspektive drängt sich deswegen die Frage auf, wie über ein singuläres Erlebnis überhaupt gesprochen werden kann, wenn doch Sprache selbst aus Sinnbezügen besteht. Seel und ich nehmen deswegen Abstand von nichthermeneutischen Grundannahmen und ersetzen sie durch die Überzeugung, dass der Mensch immer in Sinn eingebunden ist, den die Sachen in der Lebenswelt präsentieren. Allerdings muss aus vollzugsmäßiger Perspektive weiter nachgefragt werden, ob Seel dieses Problem nicht kopiert, wenn er versucht, die Unterscheidbarkeit ästhetischer und nicht ästhetischer Vollzüge sicherzustellen. So scheint die dafür eingezogene Metaebene des Verstehens ebenfalls aus der Lebenswelt herauszufallen, da sie sich nur auf das Verstehen selbst bezieht. Eine Vermischung beider Positionen führt hier also keinesfalls dazu, dass das Problem der nichthermeneutischen Ästhetik gelöst wird. Wenn es dagegen um eine kategoriale Trennung von ästhetischem und nicht ästhetischem Verstehen geht, leistet Seels Konzept durchaus Abhilfe. Denn das Hinzuziehen einer Metaebene stellt ein eindeutiges Unterscheidungskriterium dar. Fraglich ist lediglich, welchen Zweck Seel hier verfolgt. So scheint es, als sei der Nutzen ein rein theorieimmanenter. Zwar schafft das Einziehen einer Metaebene Ordnung in den theoretischen Kategorien, 54

So wird Seel auch gedeutet von Markus Rieger-Ladich: Erkenntnisquellen eigener Art? Literarische Texte als Stimulanzien erziehungswissenschaftlicher Reflexion, in: Zeitschrift für Pädagogik 60 (2014), H. 3, S. 350-367, hier: S. 353f.

3. Die aktuelle ästhetische Diskussion

aber womöglich auch nicht mehr als das. Letztlich löst Seel hier nämlich ein Problem, das sich dem Vollzugsdenken selber gar nicht stellt. Denn sein Ziel besteht nicht primär im Schaffen begrifflicher Ordnung, sondern darin, menschliche Vollzüge möglichst treffend und situationsspezifisch zu beschreiben. Wenn eine Kritik also ins Schwarze träfe, dann wohl die, dass Seels Ansatz für diese Beschreibung angemessener ist als formal leere Begriffe. Klarheit schaffen könnten diesbezüglich zwei Kapitel in Seels Dissertation, Kapitel II.2.d und III.1.g, die genau das umzusetzen versprechen. In ihnen schildert er nämlich die Begegnung mit Kunstwerken aus einer ErstenPerson-Perspektive heraus.55 Genauer betrachten werde ich dabei die Auseinandersetzung mit Barnett Newmans Gemälde Who’s afraid of red, yellow an blue III. Dieses Bild lobt Seel für seine »ungebändigt-überwältigende Farbigkeit«, die den Eindruck »eines – nach Kantischen Begriffen zugleich mathematisch und dynamisch – Erhabenen freisetzt.« Ausführlicher zwar, jedoch keinesfalls konkreter sind die darauffolgenden Erläuterungen: So verunmögliche das überwältigende Bild dennoch nicht »das Finden schlechthin«. Es eröffne vielmehr eine »erfahrende Reaktion auf das sinnliche Überwältigtwerden, die das Zurückgeworfensein auf die Potentialität des Sehens erkennend bejaht.«56 Zugegeben: Die Komplexität dieser Ausführungen ist beeindruckend. Allerdings übergeht ihre Abstraktheit auch die naheliegenden Fragen zum ästhetischen Verstehen von Newmans Bild: Was wird konkret wahrgenommen? Und wie fühlt es sich an, diese Wahrnehmung wahrzunehmen, also eine Metaebene des Verstehens einzunehmen? Wer hierauf Antworten sucht, wird enttäuscht. Eher scheint es nämlich, als paraphrasiere Seel seine früheren theoretischen Erläuterungen: »Das Bild gibt den Anteil der untilgbaren, auch von ihren Objekten nicht absorbierbaren Selbsterfahrung in der ästhetischen

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56

An dieser Stelle widerspreche ich einer Rezension von Peter Christian Lang zu Seels Dissertation Die Kunst der Entzweiung. Dieser schreibt nämlich: »So […] verschiebt er [Seel, S. R.] bloß den theoretischen Gegensatz von Überbietung und Entzug in die konkrete Erfahrungspraxis, ohne indessen im Hin und Her der Analyse der ästhetischen Differenz das Problem schlüssig lösen zu können.« (Peter Christian Lang: Rezension zu Martin Seel. Die Kunst der Entzweiung, in: Philosophische Rundschau. Eine Zeitschrift für philosophische Kritik 34 (1987), S. 326-329, hier: S. 328.) Ein Denken wie Martin Seels oder auch ein Vollzugsdenken, die phänomenologischen Prämissen nahestehen, (vgl. dazu auch Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 28.) kommen ohne konkrete Erfahrungen nicht aus, denn letztlich stellen diese die einzige Überprüfungsmöglichkeit für eine Theorie dar. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung, S. 283f.

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Das Lesen als Handlung

Erfahrung ästhetisch zur Erfahrung«57 . Wer hier mehr Fragen als Antworten findet, kann meine Vorbehalte nachvollziehen. Ich kann aus Seels Beschreibung nämlich keine konkrete Vorstellung von der ästhetischen Situation und ihrem Metaverstehen ableiten. Allerdings muss diese Fantasielosigkeit keinesfalls von jedem Leser geteilt werden. Womöglich fühlt sich hier jemand in seiner Wahrnehmung von Newmans Bild vollkommen erfasst. Dann wäre Seels Ästhetik für ihn tatsächlich das treffendere Analyseinstrumentarium. Ich persönlich stehe jedoch vor dem Problem, dass ich das, was Seel als genuin ästhetisch auffasst, nämlich ein Metaverstehen, nie selbst erfahren habe. Zwar finde ich seine theoretische Argumentation interessant und in sich konsistent, aber sie ergibt für mich keinen Sinn. Sie bleibt mir fremd. Und genau deswegen kann sie mir auch nicht als theoretische Grundlage für meine Ästhetik dienen. Allerdings darf diese Entscheidung nicht mit subjektiver Willkür verwechselt werden. Denn es gibt keinen absoluten Maßstab, nach dem hier ›bessere‹ oder ›schlechtere‹ Grundannahmen für eine Ästhetik festgelegt bzw. widerlegt werden könnten. Was hier als vermeintlich subjektiv erscheint, ist nichts anderes als eine unhintergehbare Grundannahme des Vollzugsdenkens. Diese besagt, dass Verstehen in einer Ersten-Person-Perspektive erfolgt, die gleichursprünglich versteht und nicht versteht. Damit stehen sich notwendig verschiedene Perspektiven gegenüber, die alle einen Teil des inkommensurablen Wahrheitsgeschehens darstellen. Das heißt nicht, dass es keine falschen Beschreibungen geben könnte, es können aber durchaus mehrere treffende Beschreibungen nebeneinanderstehen, deren Differenzen aus ihren unterschiedlichen Grundannahmen und Zielsetzungen herrühren. Entsprechend stellt auch Seels harsche Kritik an einer vollzugsmäßigen Ästhetik mehr Rhetorik als echte Argumentation dar.58 Solange die aus ihr resultierenden Analysen menschlichen Verstehens nämlich als überzeugend angesehen werden, hat sie Berechtigung und sogar Notwendigkeit. Letztere umso mehr, als konsequente vollzugsmäßige Ästhetiken in der aktuellen Diskussion deutlich in der Unterzahl sind.

57 58

Ebd., S. 284. Seel bezeichnet die vollzugsmäßigen Ästhetiken als »totalitäre Bewegung« und unterstellt ihnen einen »hermeneutischen Imperialismus«. (Ebd., S. 50.)

4. Ästhetische Vollzüge

Bisher habe ich eine umfassende vollzugsmäßige Charakterisierung des menschlichen Verstehens vorgenommen. In Kapitel 4 soll diese nun in Richtung eines ästhetischen Verstehens erweitert werden. Dazu prüfe ich zunächst, inwiefern sich das Konzept der ästhetischen Einstellung mit meinen vollzugsmäßigen Grundannahmen verbinden lässt. Das zentrale Anliegen des Kapitels gilt dann aber der Einführung dreier ästhetischer Vollzüge, der ästhetischen Wahrnehmung, der ästhetischen Erfahrung und der ästhetischen Emotion. Insgesamt wird sich dabei zeigen, dass vor allem letztere beiden schwer vorhersagbar sind. Sie werden in meiner Arbeit deswegen nur formal leer behandelt. Zugleich avanciert die ästhetische Wahrnehmung, als Grundform ästhetischen Verstehens, damit zum Zentralbegriff meiner Arbeit, der in Kapitel 5 eine Konkretisierung am Beispiel der ästhetischen Textwahrnehmung erfahren wird.1

4.1

Fundierung: Ästhetische Einstellung

Das Vokabular zur Beschreibung der ästhetischen Weltbegegnung ist umfangreich.2 So findet sich neben der ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung häufig auch der Begriff der Einstellung. Ich werde in diesem Abschnitt prüfen, inwiefern er systematische Bedeutung für meinen eigenen Ansatz hat. Die ästhetische Einstellung lässt sich sowohl negativ als auch positiv fassen. In der ersten Hinsicht erscheint sie als der Abstand zu bestimmten stö1

2

Das Erkenntnisinteresse meiner Arbeit ist systematischer Natur. Mit der »Geschichte der ästhetischen Erfahrung« beschäftigt sich dagegen: Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 2015, S. 191. Vgl. Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel: Kunst und Erfahrung, S. 20.

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Das Lesen als Handlung

renden Einflüssen wie theoretischen oder praktischen Interessen. In einer positiven Bestimmung gilt die ästhetische Einstellung als »eine Haltung der Offenheit und Empfänglichkeit für die wahrnehmbare Form und die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstands«3 . Mit dem vollzugsmäßigen Ansatz meiner Arbeit ist jedoch nur die positive Bestimmung vereinbar. Denn die Vorstellung vom Unterlassen bestimmter Verstehensvollzüge führt häufig in einen Subjekt-Objekt-Dualismus zurück. Entweder wird das Unterlassen nämlich als Metavollzug bestimmt, der nicht ästhetisches Verstehen hemmt bzw. rein ästhetisches Verstehen befördert. Dieser Ansatz führt dann in eine metaisierenden Ästhetik. Oder die ästhetische Einstellung wird als Bezug zu einer dem Sinn enthobenen Gegenwart und damit antihermeneutisch gedeutet. Eine vollzugsmäßige Beschreibung versteht die ästhetische Einstellung dagegen als »die besondere Sichtweise (oder Hör- oder Leseweise usw.) eines Rezipienten, die vorliegt, wenn dieser sich mit einem Gegenstand als einem Kunstwerk auseinandersetzt.«4 Besonderes Augenmerk verdient die hier verwendete Konjunktion. Sie deutet daraufhin, dass ästhetische Einstellung und ästhetische Wahrnehmung nicht in einem kausalen, Ursache-Wirkungsoder wie auch immer gearteten Folge-Verhältnis zueinanderstehen. Die ästhetische Einstellung ist hier nicht eine »Grundlage ästhetischer Erfahrung«5 im Sinne eines »vorhergehenden geistigen Zustand[s]«6 . Vielmehr konstituieren sowohl Einstellung als auch Wahrnehmung gleichursprünglich die ästhetische Situation: Wer ästhetisch wahrnimmt, ist also ästhetisch eingestellt und anders herum. Damit wird deutlich, dass sich die ästhetische Einstellung nicht von einer entsprechenden Wahrnehmung trennen lässt. Sie bedarf also auch keiner gesonderten Behandlung.7 Vielmehr gelten für sie die gleichen Grundannahmen wie für die ästhetische Wahrnehmung, so zum Beispiel,

3 4 5 6 7

Jerrold Levinson: Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung, S. 38. Georg W. Bertram: Kunst, S. 201. Jerrold Levinson: Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung, S. 38. Ebd., S. 41. Systematisch lässt sich das Verhältnis von ästhetischer Einstellung und ästhetischer Wahrnehmung analog zu Heideggers Begriffspaar von Bezug und Vollzug fassen, wie ich es in Kap. 2.3 beschrieben habe. Damit gilt, dass der Bezug inhaltlich leer bleibt, also nicht stattfindet, wenn es keinen Vollzug gibt. Ich behandle deswegen den ästhetischen Vollzug.

4. Ästhetische Vollzüge

dass ein Rezipient »nicht einfach durch eigenen Entschluss eine ästhetische Einstellung einnehmen«8 kann. Entweder gerät er in diese hinein, wenn oder noch besser, indem er ästhetisch wahrnimmt oder eben nicht.

4.2

Ästhetische Wahrnehmung

Mithilfe von Heidegger und Gadamer konnte ich ästhetisches Verstehen als graduell unterschiedlich von weniger intensivem, also alltäglichem Verstehen charakterisieren. Damit ist jedoch noch kein vollständiges Analyseinstrumentarium gewonnen. Ziel dieses Kapitels ist es deswegen, meine bisherige Bestimmung weiter auszudifferenzieren. Die dabei entwickelten Kategorien können sowohl zur Beschreibung ästhetischer als auch anderer Vollzüge genutzt werden, da diese sich lediglich in ihrem Intensitätsgrad, nicht aber prinzipiell voneinander unterscheiden. Wichtiger Bezugspunkt ist die Ästhetik Martin Seels. Seine Ausführungen zählen zu den konkretesten und ausführlichsten innerhalb der aktuellen Ästhetik und bieten damit eine breite Grundlage für die Beschreibung ästhetischer Vollzüge. Heranziehen werde ich hier seine Ethisch-ästhetischen Studien und seine Ästhetik des Erscheinens. In diesen fasst Seel ästhetisches Verstehen ebenfalls als ein besonders intensives Verstehen auf. Beispielsweise spricht er von einer »sinnlichen Wachheit«, einer »Wahrnehmung der unfaßlichen Besonderheit eines sinnlich Gegebenen« oder auch vom »besonderen Spielraum ästhetischer Erfahrung«9 . Allerdings bedarf es für die Entwicklung einer differenzierten sowie zugleich anwendungsorientierten vollzugsmäßigen Ästhetik auch eines gewissen Augenmaßes im Umgang mit Seels Argumentation. So konnte ich in Kapitel 3.2.4 zeigen, dass er sich keinesfalls konsequent an vollzugsmäßigen Grundannahmen orientiert. Als problematisch zeigte sich ein metaisierender Einschlag, der systematisch abgewandelt werden muss. Dies betrifft den

8 9

Georg W. Bertram: Kunst, S. 201. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 9, 11; Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a.M. 1996, S. 46. Darüber hinaus nimmt Seel in seiner Ästhetik des Erscheinens an entscheidender Stelle Bezug auf Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, was den Anschluss an eine vollzugsmäßige Ästhetik erleichtert. Genauer gesagt will Seel Heideggers Zeit-Analysen in § 65ff fruchtbar machen. (Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 160.)

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Das Lesen als Handlung

Selbstbezug des Verstehens, dessen Verdopplung ich zu einer vollzugsmäßigen Beschreibung rückbauen werde. Dazu messe ich Seels Ausführungen zum Selbstbezug an meinen Begriffen der Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Seinen Hinweisen zum Fremdbezug kann ich dagegen folgen. Darüber hinaus fehlt es Seels Ausführungen manchmal an Bündelung und Systematik. Mithilfe der in Kapitel 2 entwickelten vollzugsmäßigen Methodik werde ich diese einführen. Die dabei erarbeiteten Kategorien der Zeitlichkeit, Räumlichkeit, des Selbst- und Fremdbezugs erlauben es mir im Folgenden, vier Teilvollzüge der ästhetischen Wahrnehmung zu unterscheiden. Indem diese später ebenfalls auf die ästhetische Erfahrung angewendet werden, wird zudem ein Vergleich der beiden Vollzüge ästhetischen Verstehens möglich.

4.2.1

Fremd- und Selbstbezug der ästhetischen Wahrnehmung

Ästhetische Wahrnehmung lässt sich laut Seel von zwei Perspektiven her betrachten. Einerseits nennt er die besondere Gegenwärtigkeit des Vollzugs und andererseits die besondere Gegenwärtigkeit des Gegenstands, die beide aneinandergebunden sind.10 In solcher Allgemeinheit scheint sich die Beschreibung zunächst mit einem Vollzugsdenken zu decken. Denn laut diesem ist Verstehen ein Wahrheitsgeschehen, an dem Verstehender und Sache gleichursprünglich mitwirken. Allerdings meint gleichursprünglich hier eben nicht, dass Vollzug und Sache einander gegenüberstehen, dass die Sache also ein Gegenstand ist. Vielmehr erzeugt der Mensch in seinen Handlungen Zeit und Raum, indem ihm Sachen begegnen. Oder andersherum: Sachen präsentieren verschiedene Handlungsmöglichkeiten, indem sie Handlungen für den Menschen zulassen.11 Diese Gleichursprünglichkeit kann in der theoretischen Be10 11

Vgl. ebd., S. 60. So wird Heidegger auch von David Espinet gedeutet. (Vgl. David Espinet: Kunst und Natur, S. 52.) Und auch Scheurle betont den Zusammenhang von Selbst- und Fremdbezug, indem er von einer »dynamischen Polarität« spricht. Veranschaulichen lässt sich diese anhand einiger Beispiele aus dem Bereich der menschlichen Wahrnehmung, die ich teilweise bei Scheurle entlehne. Man denke daran, dass Tastwahrnehmungen eines Gegenstands leicht in Selbstwahrnehmungen übergehen können, etwa beim Berühren einer heißen Herdplatte oder bei erotischen Berührungen. Zugleich kann ich die Selbstwahrnehmung durch theoretische Reflexion wieder stärker in Richtung Fremdbezug verschieben und damit die eigene Betroffenheit verringern. Dies zeigt sich z.B. im Bereich der Bewegungswahrnehmungen, wenn ich in einem Zug sitze und den langsam ausfahrenden, Zug gegenüber betrachte. Für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob dieser sich bewegt oder ich mich in meinem Zug. Der Zusammenhang von

4. Ästhetische Vollzüge

schreibung zwar unterschiedlich fokussiert werden, einmal interessiert stärker der Verstehende und einmal die verstandene Sache. Nie aber kann man einen Anteil des Geschehens gänzlich ausschließen. Im Gegensatz zu Seel bemühe ich deswegen eine Sprachregelung, die der wechselseitigen Verschränkung stärker Rechnung tragen soll. Als nützlich erweist sich hierfür die in Kapitel 2.6 eingeführte terminologische Unterscheidung zwischen dem Selbstund Fremdbezug des Vollzugs. Auf der fremdbezüglichen Seite der ästhetischen Wahrnehmung geht es laut Seel darum, dass sich dem Wahrnehmenden eine begrifflich unfassbare Fülle an Sinneseindrücken präsentiert. Ihm bietet sich gleichzeitig eine Viel- und Feinheit sinnlicher Eigenschaften dar, die zudem noch jeweils zueinander in Wechselwirkung treten. Jeder einzelne Eindruck steht im Spannungsfeld eines jedes anderen. Die wahrgenommenen Sachen erzeugen so einen hochgradig komplexen und dynamischen Raum. Alles in der Situation Inbegriffene kann potentiell an seiner Konstitution teilhaben, kann in das Offene der Wahrheit eintreten. Seel spricht im Zusammenhang dieses ästhetischen Teilvollzugs von einer Simultaneität der Eigenschaften eines Dings.12 Diese Simultaneität der Präsentation erhält eine zusätzliche Komplexitätssteigerung dadurch, dass sie nicht in einem einzigen isolierten Moment stattfindet. Vielmehr entrückt sie die Wahrnehmung zugleich in die Zeit. Das heißt, dass alle Präsentationen dieses Moments mit allen Präsentationen der vorausgehenden und folgenden Momente auf spezifische Weise wechselwirken können. Zur simultanen Präsentation tritt also noch der Vollzug einer, wie Seel es ausdrückt, momentanen Präsentation hinzu.13 Insgesamt entsteht so eine

12 13

Selbst- und Fremdbezug lässt sich schließlich auch an der Gleichgewichtswahrnehmung aufzeigen. So ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers als aufrecht zugleich mit der Wahrnehmung des umgebenden Raums als senkrecht verbunden. (Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 74f.) Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 54f und Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 53. Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 54f. Seels Beschreibung der momentanen und simultanen Wahrnehmung kann ich ohne Abwandlung übernehmen. Allerdings nimmt Seel zusätzlich eine Hierarchisierung der beiden Teilvollzüge vor, von der ich aufgrund meiner vollzugsmäßigen Grundannahmen deutlichen Abstand nehmen muss. So schreibt Seel: »Wie stark oder schwach aber die Momentaneität von Wahrnehmungsobjekten akzentuiert sein mag, immer ist die Simultaneität ihrer bleibenden oder vergehenden Erscheinungen der zentrale Gesichtspunkt ihrer ästhetischen Auffassung.« (Ebd., S. 56.) An dieser Stelle weicht Seel also erneut von Heidegger ab, der von einer Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit ausgeht. Vielleicht steht er

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Das Lesen als Handlung

unendlich große Anzahl möglicher Auffassungen einer Sache. Dabei gelten beide Teilvollzüge für alle Arten von Sachen. So räumen auch die transitorischen Kunstwerke im Bereich von Theater oder Musik, deren Darstellung sich offenkundig in die Zeit hineinerstreckt, einen Raum ein. Genauso entrücken statuarische, also vornehmlich raumerzeugende Kunstwerke aus der Plastik oder Malerei in die Zeit. Denn auch deren Wahrnehmung vollzieht sich in einem Nacheinander der Eindrücke, auch wenn die Gestaltung dieses Nacheinanders stärker dem Rezipienten obliegt als bei transitorischen Kunstwerken.14 Somit gilt, dass alle Künste Zeit-und-Raum-Künste sind. Allerdings präsentieren sie Zeit und Raum auf jeweils eigene Weise.15 Um diesem Sachverhalt terminologisch Rechnung zu tragen, werde ich anstelle von Seels Momentaneität bzw. Simultaneität von der ästhetischen Eigenzeit 16 bzw. vom ästhetischen Eigenraum einer Sache sprechen.17 Dadurch wird die fremdbezügliche Perspektive der ästhetischen Präsentation, also das Bereitstellen unzähliger Möglichkeiten durch eine Sache, begrifflich besser herausgestellt.

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mit dieser Hierarchie auch einer nichthermeneutischen Auffassung des ästhetischen Verstehens nahe. Diese geht nämlich von einer intensiven räumlichen Sinnerzeugung aus, die zeitliche Sinnbezüge abschneidet. Vgl. Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 50. Die Begriffe der statuarischen und transitorischen Kunst sind bei Gadamer entlehnt. (Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 139, 142.) Vgl. Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 53f. Den Begriff der Eigenzeit entlehne ich bei Gadamer. Der Begriff Eigenraum stellt eine Analogiebildung dar. Die Eigenzeit ist laut Gadamer keine »Folge von leeren Momenten«, die es mit Tätigkeiten auszufüllen gilt. Vielmehr ist Zeitlichkeit bzw. Eigenzeit immer eine »erfüllte Zeit«, »die uns sozusagen auferlegt« wird, wenn wir mit einer Sache umgehen. Damit weist jede Sache ihre jeweils »eigene Zeitstruktur« auf, die sie von anderen Sachen unterscheidet. (Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 133-135, 393.) In der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung wird das Konzept der Eigenzeit von dem 2013 angelaufenen DFG-Schwerpunktprogramm Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellungen in einer polychronen Moderne aufgenommen. Dieses untersucht das Konzept der Eigenzeit interdisziplinär und deckt damit Desiderate der Zeitforschung im Allgemeinen sowie der Kunst- und Literaturwissenschaft im Besonderen auf. Ziel ist eine systematische und historische Beschreibung der Eigenzeit als einer Wissensordnungen prägenden, epistemologischen Kategorie für den Bereich von Kunstwerken und anderen Artefakten. Darüber hinaus leistet das Schwerpunktprogramm eine gesellschaftliche sowie wissenschaftlich-technologische Verortung modernen Zeitwissens, um die bisher nicht erkannte Vielgestaltigkeit einer polychronen Moderne aufzeigen zu können. (Vgl. Michael Gamper, Helmut Hühn: Was sind Ästhetische Eigenzeiten?, Hannover 2014, S. 38-40.)

4. Ästhetische Vollzüge

Da es einem Vollzugsdenken neben der verstandenen Sache immer gleichursprünglich um den Verstehenden geht, schließe ich jetzt als zweites eine selbstbezügliche Betrachtung der ästhetischen Wahrnehmung an. Diese differenziere ich ebenfalls in Anlehnung an Seels Ästhetik weiter aus, modifiziere jedoch die enthaltenen metaisierenden Prämissen. So stellt Seel über die Selbstbezüglichkeit ästhetischer Wahrnehmung fest, dass der intensiv Wahrnehmende bestrebt ist, sich in dieser Wahrnehmung zu halten, weil ihm dies als »lohnend erscheint«18 . Damit impliziert er einen Selbsterhalt als Teilvollzug des ästhetischen Verstehens. Wenn dieser allerdings, wie es sich bei Seel durchaus andeutet, im Sinne eines Vollzugs zweiter Ordnung aufgefasst wird, mündet die Beschreibung in eine metaisierende Ästhetik ein. Die ästhetische Wahrnehmung würde dann nämlich von einer höheren Warte aus reguliert, das heißt stabilisiert oder gegebenenfalls abgebrochen, wenn sie sich nicht mehr lohnt. Auf der Basis vollzugsmäßiger Grundannahmen ist eine solche Beschreibung jedoch nicht denkbar. Denn Seels vermeintlicher Selbsterhalt des ästhetischen Vollzugs fällt aus der Zeitlichkeit des Verstehens heraus, da er sich nur auf die Wahrnehmung bezieht und entsprechend ohne äußeren Anlass beginnen oder enden kann. Zwar ließe er sich vollzugsmäßig umformulieren als theoretische Reflexion, die sich auf die ästhetische Wahrnehmung bezieht und sie dann und wann unterbricht, um ihren Wert abzuschätzen.19 Allerdings würde der Themenkreis ästhetischer Wahrnehmungsvollzüge damit verlassen. Alternativ gilt es deswegen, die Verdopplung einfach zu löschen. Damit erhält man die selbstbezügliche Seite dessen, was ich als ästhetische Eigenzeit bezeichnet habe, nämlich eine intensive Entrückung in die Zeit. In dieser weitet der Verstehende die Wahrnehmungssituation aus, indem er seinen Vollzug an der Sache mit ähnlichen und unähnlichen Vollzügen an der gleichen oder an anderen Sachen sinnhaft verknüpft. Damit entfällt Seels metaisierender Maßstab des ›Lohns‹, mit dem sich über die Dauer einer ästhetischen Situation entscheiden ließe.20 Voll18 19

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Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 52. An dieser Umformulierung zeigt sich sehr deutlich, dass Seel in seiner Ästhetik eine Metaebene einzieht. Denn bei ihm kommt es nicht zu einer Unterbrechung. Vielmehr ist für Seel die Selbstbezüglichkeit des Vollzugs im Vollzug »enthalten«. (Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 51.) Oder er betont, dass Erfahrung und Erfahrenkönnen dieser Erfahrung »zugleich« geschehen. (Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung, S. 280.) Hier ließe sich weiter nachhaken: Wenn der Selbsterhalt der ästhetischen Wahrnehmung ständig den eigenen Wert feststellt, ist fraglich, warum ästhetische Situationen

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Das Lesen als Handlung

zugsmäßig gedacht dauert die ästhetische Wahrnehmung dagegen, solange sie dauert. Denn sie beginnt oder endet, indem sie eben beginnt oder endet. Neben dem vermeintlichen Selbsterhalt der Wahrnehmung findet sich bei Seel noch der Hinweis auf einen zweiten selbstbezüglichen Teilvollzug der ästhetischen Wahrnehmung. Dieser besteht in einer spezifisch ästhetischen Form der Synästhesie. So kann sich ästhetische Wahrnehmung laut Seel nicht nur unter Einbeziehung eines jeden Sinns oder in Kombination aller Sinne vollziehen. Sie kann auch noch auf besondere Weise ausdrücklich werden. Dann nämlich, wenn der ästhetisch Wahrnehmende sich selbst dabei spürt, wie er sieht, hört, riecht und fühlt.21 Seel spricht auch von einem »spürende[n] Sich-gegenwärtig-Sein« bzw. der »Mitwahrnehmung der eigenen leiblichen […] Wahrnehmungsaktivität«22 . Auch wenn Seel hier deutlich davon Abstand nimmt, dass die Wahrnehmung innerhalb dieses Vollzugs explizit theoretisch reflektiert wird,23 liegt doch erneut eine Verdopplung vor.

21 22

23

überhaupt enden. Entweder wird die ästhetische Wahrnehmung durch diesen Metavollzug nämlich zum Perpetuum mobile, weil sie ja immer als lohnenswert erscheint, oder es gibt ästhetische Wahrnehmungen, die sich nicht lohnen. Dann müsste weiter ausgeführt werden, wie diese aussehen. Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 59 und Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 51. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 60, und Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 52. Spannend ist, dass auch Martin Buber eine Situation schildert, in der er eine Art Mitwahrnehmung der eigenen Wahrnehmungsaktivität spürt. In der Situation streichelt er einen Apfelschimmel: »Wenn ich über die mächtige, zuweilen verwunderlich glatt gekämmte, zu andern Malen ebenso erstaunlich wilde Mähne strich, und das Lebendige unter meiner Hand spürte, war es, als grenze mir an die Haut das Element der Vitalität selber […]. Einmal aber […] fiel mir über dem Streicheln ein, was für einen Spaß es mir doch mache, und ich fühlte plötzlich meine Hand. Das Spiel ging weiter wie sonst, aber etwas hatte sich geändert. Es war nicht mehr Das. Und als ich tags drauf nach einer reichen Futtergabe meinem Freund den Nacken kraute, hob er den Kopf nicht. Schon wenige Jahre später, wenn ich an den Vorfall zurückdachte, meinte ich nicht mehr, das Tier habe meinen Abfall gemerkt; damals aber erschien ich mir verurteilt.« Die Situation stellt für Buber, im Gegensatz zu Seel, keine Intensivierung der eigenen Wahrnehmung, sondern eine Entfremdung im Sinne einer reflexiven Abstandnahme dar. Er selbst spricht hier von einem »Abfall« und ergänzt später, dass man den Anderen auf diese Weise »nur als das eigene Erlebnis, nur als eine Meinheit bestehen lässt.« (Martin Buber: Zwiesprache, in ders.: Das dialogische Prinzip, Gütersloh 2012, S. 139-196, hier: 172f.) Vgl. Martin Seel Ästhetik des Erscheinens, S. 59f und Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 54f.

4. Ästhetische Vollzüge

Das spürende Sich-gegenwärtig-Sein fungiert nämlich als Metavollzug, der sich nur auf die Wahrnehmung als solche bezieht. Weil es ihm gleichgültig ist, wie eine Sache konkret gehört, gesehen oder erfühlt werden muss, löscht er sämtliche zeiträumlichen Bezüge. Im Sinne eines Vollzugsdenkens werde ich Seels Synästhesie zweiter Ordnung deswegen zu einer Synästhesie erster Ordnung rückbauen. Ästhetische Wahrnehmung zeichnet sich für mich entsprechend dadurch aus, dass sie stets alle Sinne miteinbezieht und sinnhafte Verknüpfungen zwischen ihren Eindrücken vornimmt. Folglich ist sie innerhalb einer komplexen Gesamtsinnesorganisation verortet, wie ich sie in Abschnitt 2.6.1 beschrieben habe.

4.2.2

Zeitlichkeit und Räumlichkeit der ästhetischen Wahrnehmung

Betrachtet man die eben entwickelten vier ästhetischen Teilvollzüge Eigenzeit, Eigenraum, Entrückung und komplexe Gesamtsinnesorganisation noch einmal im Vergleich, fällt auf, dass sich für diese neben einer Differenzierung in einen Selbst- und einen Fremdbezug noch eine weitere Grundunterscheidung einführen lässt. So räumen Eigenraum und Gesamtsinnesorganisation einen Raum ein – einen Raum der Sache und einen Leib-Raum, die natürlich gleichursprünglich zusammengehören. Weiterhin erzeugen Eigenzeit und Entrückung eine Zeitlichkeit der ästhetischen Wahrnehmung, wobei ebenfalls gilt, dass die Zeit, die bei einer und durch eine Sache verstreicht, nicht zu trennen ist von der Zeit, die der Wahrnehmende sich nimmt. Letztlich finden sich neben Selbst- und Fremdbezug somit auch die Analysekategorien der Zeitlichkeit und Räumlichkeit wieder. Diese Annahme eines besonderen Zeit- und Raumverstehens der ästhetischen Wahrnehmung teilt auch Martin Seel.24 Damit komme ich zum Abschluss einer Systematisierung und Konkretisierung meiner vollzugsmäßigen Beschreibung ästhetischer Wahrnehmung, die ich insgesamt in vier Teilvollzüge ausdifferenziert habe. Die Aufgliederung erfolgte dabei auf der Basis der vier in Kapitel 2 entwickelten Analysekategorien. Der Übersichtlichkeit halber führe ich diesen Zusammenhang noch einmal in Form einer Tabelle auf:

24

Vgl. ebd., S. 46.

131

132

Das Lesen als Handlung

Tab. 1: Struktur ästhetischer Wahrnehmung Fremdbezug

Selbstbezug

ästhetische Zeitlichkeit

Eigenzeit der Sache

Entrückung

ästhetische Räumlichkeit

Eigenraum der Sache

Gesamtsinnesorganisation

Alle Teilvollzüge der ästhetischen Wahrnehmung – Eigenzeit, Eigenraum, Entrückung und Gesamtsinnesorganisation – sind dabei ineinander verschränkt. Denn schließlich bilden sie nur verschiedene Sinnrichtungen eines einzigen Wahrheitsgeschehens. Ihre Trennung hat methodische Gründe. Sie bereichert die Perspektive des Vollzugsdenkers, indem sie ihn dazu anhält, die zu beschreibende Situation aus vier Richtungen zu betrachten. Die dabei entstehenden Teilbeobachtungen ergänzen oder korrigieren sich gegenseitig. Die methodische Anreicherung der Perspektive erfolgt dabei in zwei Richtungen. Erstens wird die Erste-Person-Perspektive, die dem Selbstbezug entspricht, durch eine Objektivierung, den Fremdbezug, erweitert. Zwar liegt der Schwerpunkt der Betrachtung immer auf dem Selbstbezug, da dieser der Alltagsperspektive nahesteht und damit, wegen regelmäßiger Anwendung, bereits sehr facettenreich ist. Allerdings ist es schwierig, Vollzüge zu explizieren, die inkorporiert und automatisiert ablaufen. Manchmal sind sie dem Verstehenden so nahe, dass er sie übersieht.25 Der Fremdbezug hat deswegen die Aufgabe, alltägliche Selbstverständlichkeiten zu verunsichern. Streng genommen entspricht er einer unmöglichen Perspektive. Denn er blickt von der Sache her auf den Vollzug und fragt, welche Möglichkeiten diese bereitstellt. Als theoretische Fiktion zwingt er aber dazu, Abstand von der Alltagsperspektive zu gewinnen und abgeblendete oder alternative Teilvollzüge zu bemerken. Als zweite methodische Verfremdung nimmt das obige Analyseinstrumentarium eine Aufspaltung der Zeiträumlichkeit des Verstehens vor. Erneut geht es dabei um eine Verunsicherung der Alltagsperspektive. So besteht Verstehen vollzugsmäßig gedacht darin, Sinnbezüge innerhalb einer bzw. mehrerer Situationen herzustellen. Die natürliche Sinnerzeugung, so zum Beispiel das Essen eines Kuchens oder das Sprechen über ihn, unterscheidet dabei nicht zwischen räumlichen und zeitlichen Bezügen. Die Aufspaltung dieser selbstverständlichen Einheit kann deswegen, genauso wie die Aufspaltung in einen Selbst- und Fremdbezug, Vollzüge 25

Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 15.

4. Ästhetische Vollzüge

beobachtbar werden lassen, die zuvor verdeckt waren. Insgesamt lässt sich so menschliches Verstehen aus verschiedenen Perspektiven und damit besonders aspektreich beschreiben. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um alltägliche oder ästhetische Vollzüge handelt. Denn beide Ausprägungen menschlichen Verstehens sind nur graduell unterschiedlich. Sie setzen sich aus den gleichen vier Teilvollzügen zusammen, die lediglich in unterschiedlicher Komplexität umgesetzt werden.

4.3

Ästhetische Erfahrung

Auch für den Begriff der ästhetischen Erfahrung26 finden sich wichtige Hinweise bei Martin Seel. So bestimmt er den Vollzug als »eine Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung«27 . Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, ob sich Seels Bestimmung auch für eine vollzugsmäßige Ästhetik eignet sowie welche Zusatzannahmen dafür eventuell eingesetzt werden müssen.

4.3.1

Drei Konzepte zur ästhetischen Erfahrung

Die Bestimmung ästhetischer Erfahrung als Steigerungsform ästhetischen Verstehens ist mit verschiedenen Grundannahmen vereinbar. Analog zu Kapitel 3 lassen sich die Ansätze dabei in metaisierende, nichthermeneutische und vollzugsmäßige einteilen. Pate für ein metaisierendes Konzept steht hier exemplarisch Jerrold Levinson, der ähnlich wie Seel danach fragt, was »notwendig ist, um aus einer ästhetischen Wahrnehmung eine ästhetische Erfahrung zu machen.« Als Antwort darauf gibt er eine konzise Definition.28 Levinson be26

27

28

Für eine Geschichte des Erfahrungsbegriffs siehe Georg Maag: Art. »Erfahrung«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2010, Bd. 2, S. 260-275. Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 57. Diese Bestimmung des Verhältnisses von ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischer Erfahrung ist jedoch nicht selbstverständlich. Darüber hinaus sind nämlich noch weitere Verhältnisbestimmungen denkbar. Noch komplexer wird es, wenn beispielsweise weitere ästhetische Grundbegriffe wie Einstellung, Emotion oder Urteil hinzutreten. (Vgl. Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel: Kunst und Erfahrung, S. 20f.) Insgesamt ist Levinsons Konzept recht komplex. So nimmt er neben der ästhetischen Erfahrung und Wahrnehmung noch einen weiteren Vollzug an, nämlich die ästhetische Aufmerksamkeit. Diese stellt die Grundlage der gesamten ästhetischen Situation

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Das Lesen als Handlung

stimmt ästhetische Erfahrung als »eine positive lustvolle, affektive oder evaluative Reaktion« auf die ästhetische Wahrnehmung.29 Darüber hinaus veranschaulicht er, was damit gemeint ist: »sich am Wahrnehmen erfreuen oder es genießen, vom Wahrgenommenen gerührt werden, eine Emotion mit Bezug auf das Wahrgenommene zur Kenntnis nehmen, die Tätigkeit des Wahrnehmens, die man vollzieht, für wertvoll halten und das Aufrechterhalten dieser Tätigkeit als lohnend begreifen, das, was in der Wahrnehmungserfahrung zutage kommt, bewundern usw.«30 Die hier von Levinson eingeführte Metaebene zeichnet die ästhetische Erfahrung in Übereinstimmung mit Seels Bestimmung durchaus als Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung aus. Denn Erstere schließt eine besondere Form der inneren Gestimmheit bzw. der Bewertung ein, die dem reinen Wahrnehmungsvollzug fehlt. Gleichsam verweist Levinson damit auf ein wichtiges Moment innerhalb der aktuellen Ästhetikdiskussion, das in meiner Beschreibung ästhetischen Verstehens noch nicht behandelt wurde: die ästhetische Emotion. Allerdings entkoppelt er auch Emotion und ästhetische Wahrnehmung, da letztere auch ohne ihre Steigerungsform vollzogen werden kann. Aus meiner persönlichen Ersten-Person-Perspektive heraus erscheint mir dies problematisch, weil ich jeder Situation, unabhängig von den konkreten Handlungen eine gewisse Gestimmtheit zuschreiben würde. Deswegen kann ich Levinsons Hinweis auf den zentralen Stellenwert ästhetischer Emotion an dieser Stelle nur würdigen, indem ich später eine alternative Bestimmung entwickle. Für ein vollzugsmäßiges Konzept ästhetischer Erfah-

29 30

dar und wird gehaltlich bestimmt. So richtet sich die ästhetische Aufmerksamkeit nur auf die Formen, Eigenschaften und Gehalte eines Gegenstands sowie die Beziehungen zwischen diesen drei Instanzen. Zur ästhetischen Wahrnehmung wird die ästhetische Aufmerksamkeit dann, wenn sie kognitiv und körperlich verarbeitet wird. Letzteres bedeutet auch, dass ästhetische Wahrnehmung notwendig Erkenntnis impliziert und zumindest häufig kontrolliert verläuft. Levisons Gesamtkonzept ist für mich jedoch nicht von Interesse, da seine Grundannahmen eindeutig von einem Vollzugsdenken abweichen. So gründet seine Argumentation auf einer Spaltung in Subjekt und Objekt, Körper und Geist sowie Gehalt und Erkenntnis. (Vgl. Jerrold Levinson: Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung, S, S. 55f, 58.) Ebd., S. 56, Herv. i.O. Ebd., S. 56.

4. Ästhetische Vollzüge

rung bedeutet das zudem, dass über eine alternative Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung nachgedacht werden muss. Eine solche Alternative bietet erneut Seels Ästhetik. Diese betont den Erlebnischarakter ästhetischer Erfahrung, der ihr zugleich eine besondere biographische Bedeutsamkeit verleiht. Als unberechenbarer Vollzug kommt sie aus dem Nichts und überwältigt den ästhetisch Erfahrenden. Verständlich wird diese Bestimmung, wenn man Seels zeiträumliche Einordnung des Vollzugs betrachtet. So charakterisiert er die ästhetische Erfahrung als »Unterbrechungen des Kontinuums der biographischen und historischen Zeit«, die »Risse in der gedeuteten Welt« hinterlässt. Noch deutlicher wird er, wenn er sie als »Aufstand der Gegenwart gegen die übrige Zeit« umschreibt.31 Erstaunlich ist, dass Seel hier mit einer Grundannahme arbeitet, die radikaler ist als seine Bestimmung der ästhetischen Wahrnehmung. Während bei Letzterer nämlich lediglich der Selbstbezug der geteilten Lebenswelt entzogen war, wird bei der ästhetischen Erfahrung der gesamte Vollzug aus der Kontinuität der Zeitlichkeit herausgehoben, denn schließlich probt er laut Seel einen Aufstand gegen die übrige Zeit. Damit argumentiert er nicht mehr metaisierend, sondern nichthermeneutisch. Entsprechend kann eine vollzugsmäßige Umformulierung nicht mehr nur darin bestehen, eine Annahme zu löschen. Vielmehr bedarf es einer Überprüfung der hier von Seel angesetzten Zeitlichkeit, die Diskontinuitäten sowohl zwischen der ästhetischen Erfahrung und ihrer Vergangenheit als auch ihrer Zukunft ansetzt. Dafür ist Gadamers Erfahrungsbegriff in Wahrheit und Methode richtungsweisend.32 Zentrales Moment ist für ihn die »Negativität der Erfahrung«33 . Gemeint ist damit, dass sich Erfahrung nicht durch induktives Ableiten allgemeiner Gesetzmäßigkeiten aus einzelnen Erfahrungssituationen bildet, sie also nicht einfach positiv aufsummiert werden kann. Vielmehr entsteht sie durch die Korrektur alter Verstehensvollzüge im wiederholten Abgleich mit der Lebenswelt und das heißt negativ. Entsprechend spannt jede Erfahrung »einen neuen Horizont«34 auf, vor dem wiederum neue Erfahrungen gemacht werden können. Um hier einen Unterschied zu Seels nichthermeneutischer

31 32

33 34

Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 59. Deines, Liptow und Seel bezeichnen Gadamers Ausführungen als paradigmatisch für eine komplexe existenzielle Konzeption von Erfahrung. (Vgl. Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel: Kunst und Erfahrung, S. 14.) Hans Georg Gadamer: GW 1, S. 359. Ebd., S. 359.

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Das Lesen als Handlung

Bestimmung herausstellen zu können, muss jedoch noch zusätzlich Gadamers Auffassung von der Zeitlichkeit der Erfahrung hinzugezogen werden. Eine Erkenntnis ist hierfür paradigmatisch. So verweist Gadamer auf seine »Einsicht in die Grenzen, innerhalb deren Zukunft für Erwartung und Planung noch offen ist – oder noch grundsätzlicher, daß alle Erwartung und Planung endlicher Wesen eine endliche und begrenzte ist.«35 Damit setzt er im Gegensatz zu Seel insgesamt nur eine Diskontinuität ein: Während sich Erfahrung nämlich immer auf Vergangenes bezieht, ist nur ihre Bezugnahme auf die Zukunft begrenzt. In Abschnitt 2.8 habe ich diese Setzung bereits unter Bezugnahme auf Heidegger als intensiven Streit zwischen Welt und Erde bzw. als Sprung in die Zukunft bezeichnet. Das bedeutet, dass dem Menschen in jeder Situation eine unerschöpfliche Fülle an Möglichkeiten präsentiert wird, die nicht aus früheren Möglichkeiten ableitbar sein muss. Folglich kann er in einen nie da gewesenen Vollzug hineinspringen. Ist dieser Sprung jedoch gemacht, wird er sofort Teil einer Sinnkontinuität. Der neue Vollzug entrückt den Verstehenden nämlich in die Vergangenheit, indem er Sinnbezüge zu früheren Möglichkeiten herstellt. Damit ist allerdings noch keinesfalls ein Erkenntnisfortschritt gegenüber der früheren vollzugsmäßigen Beschreibung des Verstehens gewonnen. Wodurch ergibt sich also ein Unterschied zwischen der ästhetischen Wahrnehmung als einem intensiven Verstehen und der ästhetischen Erfahrung als ihrer Steigerungsform? Wie immer ist diese Differenz im Vollzugsdenken eine graduelle. So vollzieht sich ästhetische Erfahrung intensiver, wodurch ein dichteres Netz an Sinnbezügen entsteht als bei der ästhetischen Wahrnehmung. In der theoretischen Beschreibung liegt hier also lediglich ein gradueller Intensitätsunterschied des Verstehens vor. Aus der Ersten-Person-Perspektive allerdings präsentiert die ästhetische Erfahrung etwas absolut Neues. Es erscheinen nämlich so viele Details, dass der sonst vorherrschende Eindruck einer Mischung aus Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zu früheren Situationen vollkommen zugunsten der Letzteren umschlägt. Gadamer spricht deswegen auch von der »Erfahrung, daß nichts wiederkehrt«36 . Wo sich die Grenze hin zur scheinbar gänzlichen Unähnlichkeit einziehen lässt, ist dabei unmöglich zu sagen. Denn diese wird von jedem Menschen in jeder Situation neu festgelegt, einfach indem sie erreicht wird. In den allermeisten Verstehensvollzügen jedoch bleibt sie unberührt. Und genau das macht auch ihren Ereignischarakter aus, von dem 35 36

Ebd., S. 363. Ebd., S. 363.

4. Ästhetische Vollzüge

Seel spricht. Um ihn zu postulieren, muss jedoch keinesfalls eine nichthermeneutische Isolierung der ästhetischen Erfahrung vorgenommen werden. Deswegen werde ich im Folgenden mit Seel von zwei Intensitätsstufen des ästhetischen Verstehens und gegen Seel von einem graduellen Unterschied zwischen beiden ausgehen. Im basalen Fall, in dem der Eindruck einer ungebrochenen Sinnkontinuität trotz hoher Intensität des Verstehens vorherrscht, werde ich von ästhetischer Wahrnehmung sprechen. Zerbricht diese Sinnkontinuität dagegen scheinbar an der Intensität des Augenblicks und erzeugt so den Eindruck eines Neuen, das aus dem Nichts plötzlich und unerwartet über den Menschen hereinbricht, spreche ich von einer ästhetischen Erfahrung. Um diesen existenziell bedeutsamen Verstehensvollzug noch besser zu veranschaulichen, nutzt Gadamer eine Metapher: Ästhetische Erfahrung wird in dieser so beschreiben, dass nicht nur der Verstehende intensiv wahrnimmt. Denn auch »auf der anderen Seite, von seiten des ›Gegenstands‹, bedeutet dieses Geschehen das Insspielkommen, das Sichausspielen […] in seinen je neuen, durch den anderen Empfänger neu erweiterten Sinn- und Resonanzmöglichkeiten.«37 Insgesamt zeigt sich in der ästhetischen Erfahrung damit, was an jedem Verstehensvollzug zwar teil hat, aber nicht ausdrücklich wird: Verstehen ist nicht nur Vollzug des Verstehenden. Es ist auch ein »Tun der Sache selbst«38 . Diese bietet verschiedene Möglichkeiten an, die der Verstehende natürlich selbst ergreifen muss. Allerdings unterscheidet sich die ästhetische Erfahrung in ihrer gesteigerten Intensität dabei so sehr von früherem Verstehen, dass sich der Eindruck einstellen kann, diese wäre von seinem Gegenüber bewirkt worden. In der aktuellen ästhetischen Diskussion finden sich Konzeptionen ästhetischer Erfahrung, die an diese Bestimmung anschlussfähig sind. Auf gewisse Übereinstimmungen mit Martin Seel hatte ich ja bereits hingewiesen. Noch deutlicher zeigen sich diese jedoch in seiner Monographie Aktive Passivität (2014). Die titelgebende Nominalphrase meint dabei, dass sich der ästhetisch erfahrende Mensch in der Begegnung mit Kunst »aktiv auf ein passives Bestimmtwerden hin [bestimmt].«39 Eine analoge Beschreibung findet 37 38 39

Ebd., S. 466. Ebd., S. 467 und vgl. 488f. Martin Seel: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste. Frankfurt a.M. 2014, S. 253, Herv. i.O. Seels Ausdruck erinnert sehr an Ingarden, der dem ästhetischen Verstehen Passivität und Aggressivität bzw. Aktivität zuspricht. Für Ingarden führt die Einstellung, einem Kunstwerk bei der ästhetischen

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Das Lesen als Handlung

sich auch bei Georg W. Bertram. In seiner Monographie Kunst als menschliche Praxis (2014) charakterisiert er ästhetische Erfahrung als »eine Erfahrung der Unselbständigkeit in der Selbständigkeit.«40 Beide Umschreibungen erinnern dabei stark an Gadamers Konzept des Tuns der Sache selbst. Bei Bertram findet sich sogar eine explizite Bezugnahme auf Gadamers Erfahrungsbegriff.41 Beiden aktuellen Stimmen innerhalb der ästhetischen Diskussion geht es also darum, dass der ästhetisch Erfahrende aktiv bzw. selbständig die Begegnung mit einem Anderen sucht, um sich von diesem anleiten zu lassen, also gleichursprünglich passiv bzw. unselbständig zu sein. Allerdings fehlt beiden eine systematische Einbindung dieses Konzepts, die verschiedene Intensitätsstufen ästhetischen Verstehens unterscheidet.

4.3.2

Die Teilvollzüge der ästhetischen Erfahrung

Abschließend werde ich den vollzugsmäßigen Begriff der ästhetischen Erfahrung analog zu Abschnitt 4.2.2 durch die Beschreibung seiner Teilvollzüge konkretisieren. Dabei tragen alle Teilvollzüge der Tatsache Rechnung, dass sich die ästhetische Erfahrung nicht einfach nach Belieben hervorrufen lässt. Während die ästhetische Wahrnehmung nämlich wenigstens zum Teil einübbar und durch den Verstehenden initiierbar ist, ist die ästhetische Erfahrung in besonderer Weise auf das Tun der Sache selbst angewiesen. Erst durch dieses kann unerwartet etwas Neues ins Offene treten. Zugleich entsteht dabei ein Verstehensvollzug, der den Möglichkeiten des Verstehenden wie denen der Sache in ungeahnter Weise gerecht wird.

40 41

Betrachtung gerecht werden zu wollen, zu größerer Aktivität. Er verweist zudem auf eine Debatte zum Thema Aktivität und Passivität des ästhetischen Verstehens zwischen Oswald Külpe und Johannes Volkelt. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 196, 203, 208f, 214f.) Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis, S. 172, Herv. i.O. Vgl. ebd., S. 173. Wie Seel kritisiert auch Bertram, dass Gadamer ästhetische Erfahrung als paradigmatischen Fall von Erfahrung überhaupt ansetzt. Bertram will Erstere deswegen über das Kriterium der Unselbständigkeit von Letzterer nicht nur graduell, sondern prinzipiell unterscheiden. (Vgl. ebd., S. 175f.) Bertram vergisst hier allerdings, dass die Unselbständigkeit, bzw. in Gadamers Worten, das Tun der Sache selbst einen wesentlichen Anteil von Gadamers Wahrheitsbegriff ausmacht. Er lässt sich systematisch nicht einfach von einigen menschlichen Erfahrungen abtrennen. Bertrams Argument ist also das Resultat einer sehr einseitigen Lektüre von Wahrheit und Methode.

4. Ästhetische Vollzüge

Tab. 2: Struktur ästhetischer Erfahrung Fremdbezug

Selbstbezug

ästhetische Zeitlichkeit

Eigenzeit des Neuen

Sprung

ästhetische Räumlichkeit

Eigenraum des Besonderen

besondere/erweiterte Gesamtsinnesorganisation

Erstens gilt, dass der Verstehende innerhalb der ästhetischen Erfahrung die Erfahrung der Eigenzeit eines Neuen macht. Das heißt, dass sich ihm plötzlich eine Sache präsentiert, die er so zuvor noch nie wahrgenommen hat. Für die Zukunft legt sie zugleich neue Möglichkeiten nahe, die der Verstehende ohne die ästhetische Erfahrung vermutlich übersähe. Zweitens wird dem Verstehenden die Erfahrung des Eigenraums eines Besonderen zuteil. Innerhalb seiner Wahrnehmung tut sich nämlich plötzlich eine Sache in besonderer Weise gegenüber anderen hervor und fordert einen ganz eigenen Zugang ein. Drittens vollzieht der Wahrnehmende, indem er eine ästhetische Erfahrung macht, einen Sprung in ein nie zuvor vollzogenes Verstehen. Dazu stellt er Sinnbezüge her, die gegenüber früheren eher unähnlich als ähnlich erscheinen. Viertens ergibt sich durch die Präsentation einer besonderen Sache auch ein besonderes Zusammenspiel der Sinne, eine im Vergleich zu anderen Möglichkeiten besondere Gesamtsinnesorganisation. Der Wahrnehmende lässt seine Sinne dabei auf eine Weise zusammenwirken, wie er sie noch nie zuvor vollzogen hat. Die naheliegenden Möglichkeiten seines Seh-, Tast-, Hörsinns usw. erweitert er dazu stärker als gewöhnlich.

4.4

Ästhetische Emotion

Ästhetische Emotionen erlangen in der aktuellen Ästhetik zunehmend an Bedeutung,42 auch wenn sie der Forschung schon lange als Gemeinplatz galten.43 Dabei herrscht Einhelligkeit darüber, dass sie einen theoretisch schwer

42 43

Vgl. ebd., S. 128 und Gernot Böhme: Aisthetik, S. 31. Vgl. Catrin Misselhorn: Gibt es ästhetische Emotionen?, in: Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013, S. 120-141, hier: S. 120.

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Das Lesen als Handlung

modellierbaren Gegenstand darstellen, der nicht nur als »hochgradig kulturspezifisch, sondern auch idiosynkratisch«44 aufgefasst werden muss. Deswegen bietet sich ein formal leerer Zugang an, wie ihn das Vollzugsdenken leistet. Dieser kann ästhetische Emotionen nämlich beschreiben, ohne sie konkret inhaltlich zu überformen. Theoretisch orientiere ich mich in diesem Abschnitt an Heidegger, mit dem sich Emotionen zunächst allgemein als eine Form des Verstehens bestimmen lassen, ohne diese jedoch schon ästhetisch zu wenden.45 Bisher wurden unter dem Ausdruck Verstehen praktische Vermögen bzw. Wahrnehmungen wie das Essen oder sinnliche Verarbeiten eines Kuchens gefasst. Diese stellen jedoch nur eine Seite des menschlichen Weltzugangs dar. Denn der Mensch versteht sich, seine Mitmenschen und seine Lebenswelt stets, indem er gleichursprünglich zu diesen Vollzügen auf bestimmte Weise gestimmt ist.46 Gleichursprünglich meint dabei, dass der Mensch nicht einmal gestimmt und im nächsten Augenblick zufällig nicht gestimmt ist. Vielmehr wird jeder seiner Vollzüge stets von Stimmungen bzw., in der Terminologie dieser Arbeit, von Emotionen flankiert. So ist auch die neutrale Einstellung gegenüber einer Sache eine Stimmung bzw. eine Emotion. Über die Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Emotionen hinaus lassen sich jedoch keine allgemeinen Aussagen darüber treffen, welche Emotion einen bestimmten Vollzug begleitet. Ein und derselbe Kuchen kann in zwei Personen Ekel oder Genuss auslösen. Die Gründe für diese Assoziation wurzeln tief in der Geschichte des jeweils eigenen Verstehens, wodurch sie schwer zu analysieren sind. Vollzugsmäßig gedacht bedeutet das, dass nur das jeweilige Dassund Sosein von Emotionen beschrieben werden kann. Ursachen und Kausalitäten stellen dagegen immer einen Abglanz der Ersten-Person-Perspektive dar. Oder mit Heidegger gesprochen: Die Tatsache, dass Emotionen da sind, ist stets ursprünglicher als ihr theoretisches Begreifen.47 Entsprechend un-

44

45 46

47

Matthias Vogel: Ästhetisches Erfahren – ein Phantom?, in: Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013, S. 91-119, hier: S. 106. Bei Heidegger selbst fällt der Begriff der Emotion nicht. Bei ihm finden sich nur Gefühl und Affekt als ontische Phänomene. (Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 139.) »Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen« und »Sie ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz«. (Ebd., S. 137, Herv. i.O.) Vgl. ebd., S. 134. Innerhalb von Heideggers existenzialer Analyse nimmt die Stimmung einen zentralen Stellenwert ein. So argumentiert er, »daß die Stimmung das Dasein

4. Ästhetische Vollzüge

berechenbar und unbeirrbar zeigen sie sich auch in den meisten Situationen. Sie kommen plötzlich und unerwartet. Sie überfallen. Eine Kontrolle ist kaum möglich. Zwar kann es gelingen, eine Stimmung abzublenden oder zu lenken, allerdings wird dieser Versuch ja seinerseits durch eine Stimmung, eine Gegenstimmung, motiviert:48 Wenn ich zum Beispiel Abscheu gegenüber einem Kuchen empfinde, kann ich versuchen, mich daran zu erinnern, wie viel Mühe seine Zubereitung gekostet hat. Auch dieser Versuch rührt dann aus einer ursprünglichen Gestimmtheit her, nämlich der engen Bindung zu meinem Freund, der den Kuchen gebacken hat. Darüber hinaus lässt sich mit Heidegger zeigen, dass sich Emotionen gleichursprünglich auf zwei Weisen vollziehen. So kann ein Wahrgenommenes einerseits rühren, missfallen oder einfach kalt lassen. Andererseits kann ich es rührend, erstaunlich oder spannend finden. Ersteres entspricht einem Gestimmt-sein, Letzteres einer wertenden Haltung.49 Diese Auffassung fin-

48 49

[d.h. den Menschen, S. R.] vor das Daß seines Da[, d.h. seiner Seinsweise, S. R.] bringt, als welches es ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt.« (Ebd., S. 136.) Diesem Dass entgegenzustarren bedeutet zu verstehen, dass der Mensch sein Sein zu sein hat, dass er, ohne Ursprung und Ziel zu kennen, in sein Sein geworfen ist. Der Mensch erschließt durch die Stimmung also indirekt seine Geworfenheit. Allerdings erschließt er die Stimmung »nicht in der Weise des Hinblickens auf die Geworfenheit, sondern als An- und Abkehr.« (Ebd., S. 135.) Ein Beispiel: Wenn eine Person in schlechter Stimmung ist, versteht sie sich in ursprünglicher Weise selbst, indem sie einfach in schlechter Stimmung ist. Wenn sie dagegen fragt: »Warum bin ich heute nur wieder so schlecht drauf?«, versucht sie ihre Stimmung aus einer theoretischen Perspektive heraus zu begreifen. Sie erschließt ihre Geworfenheit in Form einer Abkehr, indem sie nämlich nach dem Grund ihrer schlechten Laune fragt. Sie wendet sich von der Entzogenheit des Grundes für ihre Stimmung ab. Sie findet vermeintliche Antworten: zu wenig Schlaf, Hunger, Ärger über eine andere Person usw. All diese Antworten können jedoch keinen letzten Grund für das Dass der Stimmung und damit ihrer Existenz liefern, sie lenken vielmehr von diesem ab. Heideggers Hinweise dürfen hier allerdings nur rein deskriptiv verstanden werden. Sie stellen keinen Lebenshilferatgeber dar, der das Verweilen in einer Stimmung als positiv und die theoretische Reflexion als negativ auffasst. Ebd., S. 136. »Das Fürchten selbst ist das sich-angehen-lassende Freigeben des so charakterisierten Bedrohlichen.« (Ebd., S. 140, Herv. i.O.) Die Gleichursprünglichkeit von Gestimmt-sein und Bewertung zeigt sich im vorangehenden Zitat am Wort »so«, das ich im Sinne von ›auf diese Weise‹ lese. Auch Hans Jürgen Scheurle ordnet Bewertung und Behagen demselben Sinn zu. (Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 88.)

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Das Lesen als Handlung

det sich auch innerhalb der aktuellen ästhetischen Debatte wieder.50 Bei Heidegger lässt sie sich in seiner Beispielanalyse der Strukturen der Furcht ablesen. Innerhalb dieser unterscheidet er drei Hinsichten. So gibt es erstens das Wovor der Furcht, zweitens das Worum und drittens das Fürchten selbst.51 Während Letzteres den Vollzug als Ganzen darstellt, handelt es sich bei den zwei übrigen Hinsichten um Sinnbezüge, die der Vollzug des Fürchtens herstellt. Dabei verweist das Wovor auf die emotionale Bedeutung, die eine Sache hervorruft. Diese erscheint dann als etwas Furchtbares. Letzteres wiederum betrifft den Urheber der Emotion. Denn das, worum ich mich fürchte, bin ich selbst.52 Im Vokabular meiner Arbeit lässt sich hier auch vom Fremd- bzw. Selbstbezug der Emotion sprechen, die gleichursprünglich als wertende Haltung bzw. als Gestimmt-sein vollzogen werden. Das bedeutet auch, dass eine Situation prinzipiell durch beide Bezüge geprägt wird, wenn auch einer von beiden abgeblendet werden kann.

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51 52

So zum Beispiel bei den folgenden Autoren: Vgl. Noël Carroll: Neuere Theorien ästhetischer Erfahrung, in: Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013, S. 61-90, hier: S. 71; Jerrold Levinson: Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung, S. 56; Catrin Misselhorn: Gibt es eine ästhetische Emotion?, in: Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013, S. 120-141, hier: S. 130. Darüber hinaus wird diese Perspektive auch von der Forschung zur empirischen Ästhetik geteilt: Vgl. Winfried Menninghaus et al.: What are aesthetic emotions?, in: Psychological Review 126 (2019), H. 2, S. 171-195. Am Beispiel Letzterer sei noch einmal exemplarisch aufgezeigt, dass die Nähe in Bezug auf einen einzelnen Beschreibungsaspekt der ästhetischen Emotion noch keine grundsätzliche Nähe der theoretischen Grundannahmen bedeuten muss. So geht die empirische Ästhetik unter Berufung auf Kant davon aus, dass ästhetische Emotionen »full-blown discrete emotions« sind. (Ebd., S. 171.) Daraus folgt ein eigenständiger umfassender Gegenstandsbereich, der neben den Emotionen im engeren Sinne auch ihren sichtbaren körperlichen Ausdruck, neurologische Reaktionen und Einstellungen untersucht. (Vgl. ebd., S. 173.) Reformuliert im Vokabular meiner Arbeit geht die empirische Ästhetik also davon aus, dass das menschliche Verstehen aus mindestens zwei Gesamtsinnesorganisationen, nämlich einer ästhetischen und einer alltäglichen, besteht. Vollzugsmäßig gedacht ist diese Aufspaltung des Menschen jedoch nicht haltbar. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 140. Selbst das Fürchten um jemand anderen ist eigentlich ein Fürchten um seiner selbst willen, ein Fürchten um das Mitsein, das jeder Mensch ursprünglich ist. (Vgl. ebd., S. 142.)

4. Ästhetische Vollzüge

Nachdem ich eine allgemeine Beschreibung von Emotionen vorgenommen habe, widme ich mich nun solchen innerhalb ästhetischer Situationen. Dabei gilt, dass jegliche Emotion, die ein intensives Verstehen, egal ob eine ästhetische Wahrnehmung oder Erfahrung, begleitet, eine ästhetische Emotion darstellt.53 Spezifisch ästhetische Emotionen, also solche, die einen rein ästhetischen Bezug zu einer Sache aufweisen, sind innerhalb meines Ansatzes dagegen nicht denkbar.54 Dies liegt daran, dass eine formal leere Beschreibung ästhetischen Verstehens vollkommen verschiedene Situationen umfassen kann. Beispielsweise kann es um Natur, Kunst, Alltagsgegenstände usw. gehen, die gesehen, gehört, gerochen, ertastet usw. werden. Bindeglied ist dabei nur die Intensität des Verstehens, nicht aber eine bestimmte Sache oder ein spezifischer Sinnbezug. Ästhetische Emotionen oder genauer gesagt Emotionen, die ästhetisches Verstehen begleiten, können deswegen ganz unterschiedlich ausfallen. Ihre Klassifizierung wird damit zu einem Großprojekt, das in dieser Arbeit nicht weiterverfolgt werden kann. Allerdings lässt sich unter vollzugsmäßigem Vorzeichen immerhin eine nähere Bestimmung vornehmen. Diese betrifft das topisch gewordenen Argument, ästhetische Emotionen seien stets positive Emotionen.55 Dabei ist zu beachten, dass ästhetische Vollzüge vollzugsmäßig gedacht stets intensive Formen des Verstehens darstellen. In ihnen erschließt der Mensch sich selbst sowie seine Lebenswelt unverstellter als in alltäglichen Vollzügen. Oder anders ausgedrückt: Im ästhetischen Verstehen schöpft der Mensch in besonderem Ausmaß die Möglichkeiten aus, die er ist. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass auch 53

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Eine mögliche Gegenposition zu meiner Charakterisierung ästhetischer Emotionen vertritt Carroll. Er schlägt vor, »dass wir eine ästhetische Erfahrung machen können, ohne in einem emotionalen Zustand zu sein.« (Noël Carroll: Neuere Theorien ästhetischer Erfahrung, S. 61-90, hier: S. 71.) Für Carroll lassen sich ästhetische Erfahrungen beispielsweise von moralischen, zu denen er auch Emotionen zählt, völlig abtrennen. Behaupten kann er dies jedoch nur infolge eines extrem minimalistischen Konzepts von ästhetischer Erfahrung. So stellt diese für ihn lediglich die Beschäftigung mit formalen Eigenschaften eines Kunstwerks dar. Eine Moralische und damit emotionale Beschäftigung mit einem Kunstwerk entspräche dann einer Beschäftigung mit seinen moralischen Eigenschaften. (Vgl. ebd., S. 72f.) Catrin Misselhorn versucht derartige spezifisch ästhetische Emotionen einzuführen. Allerdings muss sich die Autorin dabei notwendig auf eine essentialistische Bestimmung von Kunst stützen, die mit meinen vollzugsmäßigen Grundannahmen nicht kompatibel ist. (Vgl. Catrin Misselhorn: Gibt es eine ästhetische Emotion?, S. 139f.) Vgl. Jerrold Levinson: Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung, S. 43f und Catrin Misselhorn: Gibt es eine ästhetische Emotion?, S. 134.

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144

Das Lesen als Handlung

ein Vollzugsdenken davon ausgeht, dass ästhetisches Verstehen mit einem ursprünglichen Gefühl der Freude oder Lust verknüpft ist.56 Denn diese begleiten eine dem jeweiligen Menschen gemäße Tätigkeit.57 Damit kann ich rückwirkend auch eine metaisierende Annahme Martin Seels umformulieren. Wie in Abschnitt 4.2.1 geschildert, geht dieser davon aus, dass ästhetisch Wahrnehmende sich in ihrer Wahrnehmung halten, solange diese als lohnend erscheint. Vollzugsmäßig lässt sich diese positive wertende Haltung nun als ästhetische Emotion auffassen, die sich gleichursprünglich mit dem ästhetischen Verstehen vollzieht. Auf den ersten Blick scheinen beide Beschreibungen zwar nahezu deckungsgleich. Ein entscheidender Unterschied ist jedoch, dass Seels aktivische Formulierung des sich in der Wahrnehmung Haltens eine gewisse Kontrolle über die ästhetische Situation impliziert. Ästhetische Emotionen dagegen sind für ein Vollzugsdenken genauso unkontrollierbar wie das Eintreten der ästhetischen Wahrnehmung bzw. Erfahrung selbst. Insgesamt gilt damit, dass ästhetisches Verstehen, wenn es sich ereignet, von einer positiven Emotion begleitet wird.58 Der Wahrnehmende empfindet 56

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Ich leite diese ursprüngliche Freude aus einer Analogie zu Heideggers Angst-Analysen ab: So geht für Heidegger mit der nüchternen Angst, in der der Mensch den Tod und damit sich selbst in seinem Sein am ursprünglichsten erschließt, eine »gerüstete Freude« einher. (Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 310.) Wenn ich nun, wie in Kap. 2.6 geschehen, den Tod durch den Anderen ersetzte, zeigt sich, dass auch in der selbstund fremdaufgeschlossenen Auseinandersetzung mit dem Anderen, wie sie sich im ästhetischen Verstehen vollzieht, der Mensch eine solche Freude empfindet. Eine analoge Argumentation findet sich zudem in einer Vorlesung von 1934, in der Heidegger einen emphatischen Arbeitsbegriff vertritt. So schreibt er, dass auch die Arbeit mit einer »Freude als Grundstimmung« einhergehe. (Martin Heidegger: GA 38, S. 154.) Vgl. Matthias Vogel: Ästhetisches Erfahren – ein Phantom?, S. 110f. Allerdings geht Vogel von einem metaisierenden Begriff ästhetischen Verstehens aus. (Vgl. ebd., S. 112f.) Darüber hinaus lässt sich meine Argumentation zur positiven ästhetischen Emotion auch umdrehen: Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Sinneswesen. Wenn er der Möglichkeit auf Wahrnehmung beraubt wird, führt dies bereits nach wenigen Stunden zu Angstzuständen und Halluzinationen. Der Fachausdruck hierfür lautet sensory deprivation. (Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 185.) Damit wird eine vollzugsmäßige Ästhetik des Hässlichen keinesfalls ausgeschlossen. Denn auch die Begegnung mit hässlichen Sujets oder deformierender bzw. abstrahierender Form kann ästhetisches Verstehen und damit positive ästhetische Emotionen auslösen. Ansätze dazu finden sich beispielsweise im aristotelischen Topos, dass hässliche Dinge schön gedacht werden können, oder bei Lessing, der dem Hässlichen nicht notwendig eine negative Wirkung zuschreibt. Hinweise könnte auch Baudelaire

4. Ästhetische Vollzüge

dann ein Gefühl der Anziehung, Aufregung oder Lust, indem sich die wahrgenommene Sache als schön, aufregend, lustvoll usw. zeigt. Eine genauere theoretische Klassifizierung des Selbst- und Fremdbezugs der hochgradig idiosynkratischen (ästhetischen) Emotion ist allerdings nicht leistbar. Deswegen können an dieser Stelle auch keine Ausdifferenzierung und tabellarische Übersicht der Teilvollzüge ästhetischer Emotionen gegeben werden. Festgehalten werden kann nur, dass ästhetische Emotionen wirkungsmächtige und unberechenbare Vollzüge sind. Innerhalb eines Analyseinstrumentariums ästhetischer Situationen müssen sie deswegen als Unbestimmtheitsstelle eingesetzt werden. Eine genauere Beschreibung kann dann nur für eine konkrete Situation aus einer Ersten-Person-Perspektive heraus erfolgen.

geben, der in der Verbindung des Schönen mit dem Hässlichen neue Schönheitsformen sucht. Einen besonderen Ausdruckswert des Hässlichen betont darüber hinaus Max Dessoir. (Vgl. Dieter Kliche: Art. »Häßlich«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2010, S. 25-66, hier: S. 34, 36, 46, 58.)

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5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Der gedankliche Weg meiner Arbeit führte mich von der Entwicklung hin zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Konkretisierung eines formal leeren Verstehensbegriffs. Dieser umfasst sowohl ästhetische als auch nicht ästhetische Verstehensvollzüge, da sich beide Ausprägungen nur graduell in ihrer Intensität unterscheiden. In diesem Kapitel findet die eingeschlagene Richtung ihren Abschluss, indem das bisher entwickelte allgemeine Analyseinstrumentarium menschlichen Verstehens nun auf den Vollzug des Lesens bezogen wird.

5.1

Lesen als Gesamtvollzug

Für meine vollzugsmäßige Beschreibung des Lesens greife ich auf die zuvor entwickelten formal leeren Kategorien der Zeitlichkeit und Räumlichkeit sowie des Selbst- und Fremdbezugs zurück. Diese helfen dabei, den Vollzug von verschiedenen Seiten her auszuleuchten. Dabei zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf die anschließende Übersichtstabelle, dass Lesen ein überaus komplexer Prozess ist. Daraus folgt zugleich, dass eine ästhetische Vollzugsweise keinesfalls alle beteiligten Teilvollzüge gleichermaßen umsetzen kann. Vielmehr ist zu vermuten, dass nur ein oder einige Teilvollzüge eine besondere Intensität erreichen können. Dies gilt nicht zuletzt, da die Komplexität des Vollzugs nicht proportional zur Anzahl der beteiligten Teilvollzüge steigt, sondern exponentiell. Denn schließlich stellen sich stets Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Teilvollzügen ein, die ein unüberschaubares Netz aus Sinnbezügen aufspannen. Die ästhetische Vollzugsweise stellt innerhalb des alltäglichen Lesens also eine Art plötzliche Eruption der Sinnkonstitution dar. Aus globaler Perspektive ist deswegen auch von einem Wechsel zwischen Phasen des besonders intensiven und weniger intensiven Lesens auszugehen.

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Das Lesen als Handlung

Die Komplexität des Lesevollzugs sowie seine formal leere Beschreibung implizieren, dass die hier angebotene Darstellung keinesfalls vollständig sein kann. Denn jede Beschreibung eines Teilvollzugs des Lesens ließe sich beliebig weiter vertiefen. Folglich darf die unterschiedliche Ausführlichkeit der Teilkapitel auch nicht als Gewichtung missverstanden werden, die bestimmte Teilvollzüge anderen vorzieht. Sie spiegelt vielmehr den aktuellen Erkenntnisstand dieser Arbeit wider, den es durch weitere Beschreibungen zu ergänzen gilt. Ein notwendiges Ungleichgewicht entsteht lediglich zwischen der selbstbezüglichen und der fremdbezüglichen Beschreibung des Lesens. So fällt eine Erste-Person-Perspektive, wie in Abschnitt 4.2.2 erläutert, immer reichhaltiger aus als ihre Objektivierung. Denn Letztere dient lediglich als methodischer Kunstgriff, der es der Ersten-Person-Perspektive erlaubt, sich für neue Beschreibungsansätze offen zu halten. Tab. 3: Struktur des Lesens

(ästhetische) Zeitlichkeit

Fremdbezug

Selbstbezug

Eigenzeit des Texts:

Entrückung in den Text:



• •

• •

(ästhetische) Räumlichkeit

Präsentationsreihenfolge festgelegte Textlänge Einfach- und Mehrfachlektüre

Eigenraum des Texts: • •



Sprachlichkeit Spannungsverhältnis von Schrift und Sprachlaut Spannungsverhältnis von Digitalität und Analogizität

als Erinnerung als Erwartung

Gesamtsinnesorganisation: • •



innerhalb der basalen Schriftwahrnehmung bei der Produktion und Wahrnehmung des Sprachlauts bei der komplexen Schriftwahrnehmung

Ich beginne dieses Kapitel mit einer allgemeinen Beschreibung der Präsentation bzw. Wahrnehmung von Sprache, um zu zeigen, wie sich das Medium, in dem sich Lesen bewegt, vollzugsmäßig denken lässt. Dies bildet

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

den Rahmen für die sich anschließende fremdbezügliche sowie später selbstbezügliche Beschreibung des Lesens. Zuerst wird also gefragt, wie Texte durch ihre Eigenschaften die Wahrnehmung prägen. Danach wird gezeigt, mithilfe welcher Teilvollzüge Leser Texte wahrnehmen. Eingebunden in diese selbstbezügliche Beschreibung sind konkrete Textlektüren, die es erlauben, die Darstellung der Teilvollzüge auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Darüber hinaus wird hier exemplarisch konkretisiert, wie sich eine ästhetische von einer alltäglichen Vollzugsweise unterscheidet. Als wichtige theoretische Orientierungspunkte dienen mir in diesem Kapitel Roman Ingardens Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks 1 sowie Wolfgang Isers Der Akt des Lesens. Ergänzt werden diese durch Ergebnisse aus der aktuellen Schriftbildforschung sowie aus der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik. Diese jüngeren Konzepte stehen vollzugsmäßigen Grundannahmen sehr nahe, wodurch Differenzen ausgeglichen werden können, die sich im Verlauf meiner Untersuchung sowohl gegenüber Ingarden als auch insbesondere gegenüber Iser ergeben. Zu diesen Differenzen sowie zur Unterscheidung von der aktuellen kognitionspsychologisch geprägten Leseforschung nehme ich allerdings erst am Ende Stellung. Die Auseinandersetzung erfolgt nachträglich, weil der Gedankengang des fünften Kapitels aufgrund der vielen Teilvollzüge des Lesens sehr verzweigt ist und nicht durch weitere theoretische Einlassungen gestört werden soll. Schließlich sei noch auf eine Einschränkung des Gegenstandsbereichs dieser Arbeit verwiesen. Diese ist notwendig, weil Lesen sich in Abhängigkeit von Textsorte, Ziel, Kontext, Kompetenz, Medium usw. sehr unterschiedlich vollziehen kann. Die unzähligen Spielarten können innerhalb einer einzigen Arbeit also nicht erfasst werden. Deswegen konzentriere ich mich auf eine bestimmte Vollzugsform des Lesens, nämlich die ununterbrochene Erstlektüre.2 Diese Festlegung stellt natürlich eine theoretische Verkürzung realer Leseprozesse dar, deren Sinn nicht nur während des ersten Lesens, sondern auch während Unterbrechungen, beim wiederholten Lesen einzelner Abschnitte, nach der Lektüre oder sogar während einer kompletten Relektüre gebildet werden. Allerdings stehen die dabei vorgenommenen Verstehensvollzüge in

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Gadamer kennt Ingardens phänomenologische Studien und hält sie für zu wenig beachtet. (Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 124 Fn, S. 166 Fn. und Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 48.) Damit folge ich Ingarden. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 15, 98.)

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Das Lesen als Handlung

einer Kontinuität zur ununterbrochenen Erstlektüre. Die hier vorgenommene Beschreibung kann deswegen auch als Grundlage für die Untersuchung weiterer Lesevollzüge dienen. Dafür müssen jeweils bestimmte Teilvollzüge fokussiert oder abgeblendet werden. Teilweise bedarf es sicherlich auch der Ergänzung um hier nicht aufgeführte Teilvollzüge. Ein Beispiel dafür findet sich in Kapitel 6.

5.2

Zeiträumlichkeit sprachlichen Sinns

Die Linguistik wird innerhalb der vorliegenden Arbeit vor allem durch Christian Stetter und Joan Bybee vertreten, deren Beschreibungen von Sprache beide mit vollzugsmäßigen Grundannahmen vereinbar sind. Während die theoretische Nähe zu Stetter aus seiner Beschäftigung mit Nelson Goodmans Symboltheorie herrührt, gehört Bybee einem jüngeren Zweig der Linguistik, der sogenannten gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik, an, der Sprache nicht als System, sondern in ihrem Vollzug und damit zeiträumlich auffasst.3 Zwar besteht dieser Forschungszweig im englischsprachigen Raum bereits seit den 1970ern, in der deutschen Sprachwissenschaft findet er jedoch erst mit der Jahrtausendwende Verbreitung.4 Seitdem tritt er in Konkurrenz zu Strukturalismus oder generativer Grammatik, die Sprache auf ein mehr oder weniger starres grammatisches System reduzieren und in ihrem faktischen Gebrauch (Performanz) von einem sprachlichen Wissen (Kompetenz) abtrennen.5 Genau wie Bybee stellt sich auch Stetter gegen diese Auffassung, wenn er die Beschreibung von Sprache nicht auf einen Mittel-Zweck3

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Entsprechend fasst Bybee Sprache ebenfalls als das Resultat eines Streits zwischen Singularität und Sinnkontinuität auf: »Language is also a phenomenon that exhibits apparent structure and regularity of patterning while at the same time showing considerable variation at all levels« (Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, Cambridge u.a. 2010, S. 1.) Vgl. Alexander Ziem: Konstruktionsgrammatische Konzepte eines Konstruktikons, in: Alexander Lasch, Alexander Ziem (Hg.): Grammatik als Netzwerk von Konstruktionen. Sprachwissenschaft im Fokus der Konstruktionsgrammatik, Berlin 2014, S. 15-34, hier: 16f. Zu den Standardwerken der gebrauchsbasierten Sprachwissenschaft zählen neben Bybees Language, Usage and Cognition (2010) noch Crofts Radical Construction Grammar (2001), Goldbergs Cognitive Construction Grammar (1995, 2006) und Langackers Cognitive Grammar (1987). Vgl. Christian Stetter: System und Performanz. Symboltheoretische Grundlagen von Medientheorie und Sprachwissenschaft, Weilerswist 2005, S. 9, 65f und Peter Auer,

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Dualismus beschränkt wissen will. Zwar diene Sprache immer einem Zweck, der Kommunikation nämlich. Allerdings könne man beides nicht voneinander trennen.6 Denn kommuniziert werden kann ja nur innerhalb des Rahmens, den die Sprache selber bietet. Sie bestimmt, wie und was ausgedrückt und damit auch verstanden werden kann.7 Als Begriffe für diesen vollzugsmäßig gedachten Zusammenhang habe ich im Kapiteln 2.6 die Wahrnehmung und die Präsentation eingeführt.8 Diese werden nun für das Verstehen von Sprache im engeren Sinne konkretisiert. Auf eine strikte Trennung verzichte ich dabei, da beide als Selbst- und Fremdbezug des Sprachverstehens ineinander verschränkt sind. Mit sprachlicher Präsentation ist gemeint, dass sprachliche Gebilde in ihrem Gebrauch bestimmte Eigenschaften herausstellen, indem sie diese Eigenschaften selber verkörpern.9 Innerhalb der Wahrnehmung bilden diese Eigenschaften dann situativ und übersituativ zeiträumliche Sinnbezüge aus. Beispielsweise tritt uns ein konkret verwendetes Wort, z.B. ›Backen‹1 in ›Ich liebe Backen.‹ oder ›backen‹2 in ›Wir backen Apfelkuchen.‹, exemplarisch entgegen für jede mögliche oder bereits geschehene Verwendung eben dieses Wortes. So präsentiert ›Backen‹1 hier bestimmte Eigenschaften von ›backen‹2 , jedoch nicht alle. Denn zwar bestehen beide aus derselben Buchstabenfolge, sie präsentieren aber unterschiedliche Wortarten. Insgesamt sind die Gemeinsamkeiten dieser beiden Verwendungen mit allen anderen möglichen Verwendungen ›backen‹n-2 aber dennoch groß genug, um sowohl ›Backen‹1 als auch ›backen‹2 als konkrete Ausformungen einer bestimmten Stelle im

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7 8 9

Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo konversationeller Alltagssprache, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 96 (1994), S. 78-106, hier: S. 79-81. So wie streng genommen jedes Mittel, z.B. ein Werkzeug, nicht einfach von seinem Zweck abzutrennen ist. Auch das Werkzeug, man denke an Heideggers Hammer, ist ein wesentlicher Teil des handwerklichen Vollzugs. Er bietet bestimmte Möglichkeiten und verweigert andere. Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 28f, 67f. Stetter selbst spricht anstelle von Präsentation in Anlehnung an Nelson Goodman von Exemplifikation. (Vgl. ebd., S. 22, Fn 3.) Vgl. ebd., S. 75. Zur Veranschaulichung verwendet Stetter das Beispiel einer Teppichprobe, die in ihrer Farbe oder Struktur die Eigenschaften eines Teppichs verkörpert, den ich womöglich in meinem Zimmer verlegen möchten. Die Probe exemplifiziert hier die Eigenschaften des Teppichs, nicht den Teppich in meinem Wohnzimmer selbst. Denn dieser unterscheidet sich schließlich in bestimmter Hinsicht von der Probe. So ist er z.B. 15 m² groß, die Probe dagegen nur 5 cm². (Vgl. ebd., S. 49.)

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Das Lesen als Handlung

Sprachsystem des Deutschen bzw. als einen und denselben Worttyp der deutschen Sprache wahrnehmen zu können, den Typ ›backen‹n→∞ nämlich.10 Teilweise führen Zeichentheorien neben der Präsentation auch noch einen zweiten Grundvollzug, den der Repräsentation, ein. Mit diesem ist dann nicht die Verkörperung von Sinn durch ein Zeichen, sondern ein eher zufälliger Bezug zwischen den beiden gemeint. Demnach würde das Zeichen einfach nur auf den Sinn verweisen. Oder anders herum: Die Wahrnehmung spräche dem Zeichen einen Sinn zu, ohne dass das Zeichen diese auch verkörperte.11 Träfe diese Beschreibung zu, müssten die beiden Vollzüge der Präsentation und der Repräsentation voneinander unterschieden werden. Beispielsweise ließe sich behaupten, dass ›backen‹x→∞ zwar die Buchstabenfolge ›b+a+c+k+e+n‹, nicht aber einen entsprechenden semantischen Sinn verkörperte. Denn wie sollten Buchstaben eine Tätigkeit verkörpern, bei der aus Mehl, Zucker, Ei usw. unter Nutzung eines abgeschlossenen erhitzten Systems ein Nahrungsmittel hergestellt wird? Prüft man letztere Behauptung allerdings genauer, stellt sie sich aus vollzugsmäßiger Perspektive als eine Verkürzung dar.12 Es drängt sich nämlich eine schwierige Frage auf: Wie soll diese repräsentative Zuordnung von Eigenschaft und Objekt eigentlich funktionieren? Woher weiß ein Sprecher, dass einer Buchstabenfolge gerade dieser Sinn und nicht ein anderer zugewiesen werden muss? Die naheliegende Antwort lautet: durch Konvention.13 Aber auch das muss weiter hinterfragt werden. So weist Gadamer zu Recht darauf hin, dass sprachliche Konventionen ja nie explizit als solche vereinbart werden.14 Wie können sie den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft also dennoch zur Verfügung stehen? Die ältere Linguistik und die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik geben hierauf jeweils unterschiedliche Antworten. Erstere geht von einem abstrakten Sprachwissen aus, das sowohl Grundeinheiten der Sprache als auch Regeln zu deren Kombination

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13 14

Vgl. ebd., S. 49-51 und Sybille Krämer: ›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: Horst Bredekamp und Sybille Krämer (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München 2003, S. 157-176, hier: S. 163f. Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 75f. Diese ursprüngliche Definition der Repräsentation entspringt einem nicht vollzugsmäßigen Denken über Sprache, das in einem Subjekt-Objekt-Dualismus verbleibt. In diesem werden die Repräsentationen »als Schemata oder Typen genommen«. (Ebd., S. 308.) Vgl. ebd., S. 125f. Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 260.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

und Abstimmung aufeinander enthält. Dabei gilt dieses Wissen als redundanzfrei, wodurch es das Gedächtnis eines Sprechers möglichst wenig belastet. Letztlich ergibt sich so jedoch das Problem, dass sich Sprachwissen und Sprachgebrauch kaum sinnvoll aufeinander beziehen lassen. Denn wie wird abstraktes Wissen in konkrete Worte und Sätze überführt? Die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik wählt deswegen einen anderen Ansatz. Sie traut der Gedächtnisleistung von Sprechern erheblich mehr zu, indem sie davon ausgeht, dass sich jede konkrete sprachliche Erfahrung in ihrer Varianz aber auch Redundanz im Gedächtnis niederschlägt und darüber die Strukturen des Sprachverstehens aufbaut, verstärkt und verändert.15 Sprachlicher Sinn entsteht also dadurch, dass häufig miteinander verwendete Einheiten im Verband gespeichert werden. Sie bilden sogenannte Konstruktionen, das heißt konkrete oder schematische sprachliche Fügungen, die Leerstellen für bestimmte Ergänzungen aufweisen können.16 Beispielsweise stellen die Sätze ›Ich backe Apfelkuchen.‹, ›Ich backe einen Gugelhupf.‹ und ›Er isst einen Gugelhupf.‹ eine Konstruktion mit lediglich unterschiedlich gefüllten Leerstellen dar: So wird jedes Mal die Rolle eines Handelnden über ein transitives Handlungsverb mit einer behandelten Sache verknüpft. Diese Konstruktionen, aber auch ihre Ergänzungen bilden dann im Gedächtnis sinnhafte Verknüpfungen aus:17 So stimmen zum Beispiel ›Apfelkuchen‹ und ›Gugelhupf‹ darin überein, dass sie Nomen sind, die Nahrungsmittel in fester Form bezeichnen. Nomen mit anderer Bedeutung ließen sich dagegen nicht ohne Weiteres einsetzen: ›Ich backe Joghurt.‹ und ›Er isst einen Hammer.‹ würden von einem Sprecher als sinnlos ausgelegt. Aufgrund von ähnlicher Erscheinung oder analoger Kombinierbarkeit bilden sich so langfristig Cluster innerhalb des sprachlichen Gedächtnisses aus. Diese verknüpfen unterschiedlich komplexe Konstruktionen bzw. Ergänzungen (Phonemgruppen, Morphem-

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Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 14f, 19. Vgl. ebd., S. 36, 64. Konkrete Konstruktionen stellen feste Phrasen oder idiomatische Wendungen wie z.B. ›versprechen, X zu tun‹ oder ›X auf den Kopf stellen‹ dar. Als schematische Konstruktionen lassen sich z.B. der Zusammenhang ›Subjekt + Prädikat + Akkusativobjekt‹ oder Dativergänzungen anführen. Allerdings ist es nicht sicher, ob die hier gewählte abstrakte Beschreibungsform auch der Präsentation im Gedächtnis eines realen Sprechers entspricht. Genauso gut könnte die Konstruktion ›Subjekt + Prädikat + Objekt‹ als konkrete Äußerung gespeichert sein. Die Forschung hat diesbezüglich unterschiedliche Ergebnisse geliefert. (Vgl. ebd., S. 102f.) Vgl. ebd., S. 58f.

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Das Lesen als Handlung

gruppen, Phrasen, Sätze)18 durch verschiedene Formen der Clusterbildung (klangliche, syntaktische, semantische, pragmatische).19 Insgesamt wird so die gesamte Breite an sprachlichem Sinn zeiträumlich wahrgenommen und erinnert.20 Denn dieser beruht nur »auf Bezugnahmeakten. Der symbolische Prozeß besteht auch auf dem Gebiet der Sprache aus nichts anderem«21 . Innerhalb einer solchen vollzugsmäßigen Sprachauffassung kann nun die ursprüngliche Definition der Repräsentation umgedeutet werden. Tatsächlich ist diese nämlich nur scheinbar ein absolut anderer Vollzug als die Präsentation, sie ist also lediglich eine (Re-)präsentation.22 Das heißt, sie unterscheidet sich nur graduell und zwar dadurch, dass sie Sinneinheiten zusammenfügt, deren Kombination in der Wahrnehmung statistisch seltener auftaucht. Somit ist insgesamt ein weitläufigeres Netz an sinnhaften Verknüpfungen nötig, um (re-)präsentierten Sinn zu stabilisieren. Oder konkret ausgedrückt: Während die Präsentation des Worttyps ›backen‹n→∞ vor allem auf ihrer Buchstabenkombination beruht, die in jeder konkreten Verwendung nahezu identisch ist, ist die (Re-)präsentation seines semantischen Sinns nicht so leicht zu erfassen. Beispielsweise ist es vorstellbar, dass ›backen‹n→∞ häufiger im Zusammenhang mit bestimmten Wörtern wie ›Kuchen‹ oder ›Ofen‹ geäußert wird, seltener hingegen mit ›Suppe‹ oder ›Topf‹. Hinzu treten außersprachliche Stabilisierungen des Sinns. So wird ›backen‹n→∞ mit größerer Wahrscheinlichkeit in einer Küche als in einem Schwimmbad oder häufiger von meinem backbegeisterten Freund als von mir selbst verwendet. Das Wort erhält seinen Sinn also darüber, dass seine konkreten Verwendungen einen zeichenhaften Kontext, eine situative Einbindung, eine Affinität zu bestimmten Sprechern usw. (re-)präsentieren.23 Diese Beschreibung ließe sich unend18 19 20

21 22 23

Vgl. ebd., S. 24f. Vgl. ebd., S. 14, 19, 22. Obwohl morphosyntaktische Zusammenhänge den häufigsten Gegenstand der Konstruktionsgrammatik ausmachen, sind sich die Theoretiker dieser Schule sicher, dass sich alle sprachlichen Phänomene mithilfe von Konstruktionen erklären lassen. (Vgl. ebd., S. 76, 78.) Christian Stetter: System und Performanz, S. 308f. Deswegen fasst Stetter seine Monographie System und Performanz auch als »Studium der Exemplifikation« zusammen. (Ebd., S. 315.) Bybee beschreibt, welche Informationen eine sprachliche Äußerung präsentieren kann: »This information consists of phonetic detail, including redundant and variable features, the lexical items and constructions used, the meaning, inferences made from this meaning and from context, and properties of the social, physical and lingustic context.« (Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 14.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

lich weiterführen. Mir geht es hier jedoch nur darum, dass die (Re-)präsentation von semantischem Sinn zwar insgesamt komplexer ist als die Präsentation eines Worttyps. Allerdings wird beides zeiträumlich wahrgenommen und ist damit nur graduell voneinander verschieden. Deswegen werde ich als Grundbegriffe für das sprachliche Verstehen auch nur die Präsentation sowie die Wahrnehmung nutzen. Die Zeiträumlichkeit des Sprachverstehens impliziert schließlich auch, dass Sprache in der Gleichursprünglichkeit von Singularität und Kontinuität verankert ist.24 So steht zwar jedes verwendete Sprachzeichen in einer zeiträumlich einmaligen Umgebung. Um es zu verstehen, muss es aber auf eine etablierte Stelle innerhalb des erinnerten Systems aus Konstruktionen und Ergänzungen, also auf Phrasen- oder Satztypen, klangliche oder syntaktische Ähnlichkeiten, situative Assoziationen usw. abgebildet werden. Mit jeder Sprachproduktion oder -rezeption werden dabei Systemstellen hinzugefügt. So wird beispielsweise eine Zeichenkombination durch Mehrfachbenutzung in ihrer Einbettung in ein bestimmtes Cluster verfestigt oder es wird eine ganz neue Zeichenkombination verwendet, zu der neue Verknüpfungen hergestellt werden. Mit dieser Vorstellung stellt sich eine vollzugsmäßige Sprachauffassung nicht nur gegen eine Beschreibung von Sprache als starrem System, sondern auch gegen die Annahme von so etwas wie reiner sprachlicher Materialität. Diese spricht der materiellen Grundlage von Sprache eine radikale Gegenwärtigkeit zu, also eine unmittelbare Wirkung, die keiner sinnhaften Einbettung des Sprachzeichens bedarf.25 Insgesamt stellt ein Voll24

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Auf den ersten Blick scheint es, als würde Eckard Lobsien in Wörtlichkeit und Wiederholung eine zu der vorliegenden Arbeit analoge Theorie der Textwahrnehmung entwickeln. Seine Kategorien der Wörtlichkeit und Wiederholung entsprächen dann meinen Kategorien der Singularität und Sinnkontinuität. Allerdings zeugt bereits Lobsiens erste Definition der Wiederholung von einem mentalistischen Einschlag in seinem Denken. So kann laut Lobsien »von Wiederholung nur gesprochen werden, wenn die Wahrnehmung […] von dem Bewusstsein begleitet wird, es handle sich um eine Wiederholung eines Früheren« (Eckard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache, München 1995. S. 15.) Damit ist es auch nicht verwunderlich, dass er die von Gadamer eingezogene Unterscheidung zwischen eigentlichem Leseund nachträglichem Interpretationsvollzug einebnen will. (Vgl. ebd., S. 62-64.) Natürlich sind sowohl Lesen als auch das Nachdenken über das Lesen sinnhafte Tätigkeiten, aber es sind eben zwei verschiedene Tätigkeiten. Entweder lese ich oder ich unterbreche die Lektüre. So z.B. Dieter Mersch: Spur und Präsenz, in: Susanne Strätling, Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 21-39, hier: S. 29-33. Merschs Ansatz ließe

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Das Lesen als Handlung

zugsdenken Sprache folglich weder still, noch hebt sie sie aus der Zeiträumlichkeit heraus. Stattdessen erreicht sie eine konkrete Situierung von Sprache im Vollzug. Dabei gilt, dass in jeder konkreten Äußerung Sprache nicht nur verwendet, sondern gleichursprünglich neu erfunden wird.26

5.3

Fremdbezug: Eigenzeit des Texts

Nachdem deutlich wurde, dass Sprache sich als ein zeiträumlicher Verstehensvollzug auffassen lässt, soll dies nun aufseiten des Fremdbezugs für das Lesen, als ebenfalls sprachlichen Vollzug, konkretisiert werden. Dabei soll gezeigt werden, inwiefern Texte die Wahrnehmung zeitlich und räumlich bestimmen. Methodisch bietet sich hier teilweise ein Vergleich mit anderen Medien an. Der Schwerpunkt liegt aber auf einer Beschreibung der Sinnpräsentation von Texten. Die Eigenzeit des Texts wird am besten ersichtlich, wenn man sie mit der eines Bildes vergleicht. Ein Bild schreibt seinem Betrachter nämlich nur sehr eingeschränkt eine bestimmte zeitliche Abfolge der Wahrnehmungsvollzüge vor. Das Auge kann nach Belieben über die Farboberfläche hinwegwandern.

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sich im Denken der Arbeit reformulieren, indem man davon ausgeht, dass Schrift genau dann Präsenz gewinnt, wenn sie zum Bild hin entgrenzt wird, also ihre Digitalität zugunsten einer Analogizität einbüßt. Der einfachste Fall einer solchen Entgrenzung liegt vor, wenn ein Schriftzeichen, z.B. innerhalb handschriftlicher Texte, unleserlich wird. (Vgl. dazu Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 17 Fn.) So lautet auch die Grundthese in Stetters System und Performanz: »Doch jedes Exemplifizieren, jedes Darstellen bleibt an effektive Inskriptionen gebunden, das des Individuellen ebenso wie des Schematischen. Auch dieses wird im Sprachvollzug erzeugt und je wieder neu erzeugt, es geht ihm nicht voran.« (Christian Stetter: System und Performanz, S. 316; Vgl. dazu auch Werner Kogge: Erschriebene Denkräume. Grammatologie in der Perspektive einer Philosophie der Praxis, in: Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 137-169, hier: S. 143f.) Die sprachliche Kreativität besteht entweder darin, neue Konstruktionen zu schaffen oder neue Ergänzungen für Konstruktionen zu nutzen. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass ein Großteil jeder sprachlichen Äußerung aus gespeicherten Einheiten besteht. Der Anteil sprachlicher Kreativität ist also verhältnismäßig klein. (Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 59, 64.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Zwar nimmt auch das Bild eine gewisse Lenkung vor, indem es zum Beispiel Vorder- und Hintergrund oder bestimmte Farbkontraste sowie Kompositionslinien präsentiert. Insgesamt ist der Betrachter jedoch frei darin, sich dieses in einer von ihm gewählten Sequenz von Eindrücken zu erschließen.27 Beim Lesen eines Texts liegt dagegen eine wesentlich stärkere Lenkung vor. So erklärt auch Ingarden, dass »sich das literarische Werk durch eine geordnete Aufeinanderfolge seiner Teile« auszeichnet. Diese ist es auch, die »dem Leser die Ordnung vor[schreibt], in welcher er diese Teile nacheinander zu lesen hat.«28 Zwar können auch bei der Rezeption eines Texts einige Teile ausgelassen und andere mehrfach gelesen werden. Der Großteil der Wahrnehmungsvollzüge folgt aber auch dann noch einer vorgegebenen Reihenfolge. Aus dieser erwachsen sukzessive die Gliederungseinheiten eines Texts. So werden aus Buchstaben Wörter, aus Wörtern Sätze, aus Sätzen Absätze usw. Weicht das Lesen zu stark von der vorgegebenen Präsentationsreihenfolge ab, entsteht entsprechend Zweifel daran, ob es sich wirklich noch um den ursprünglichen Text handelt oder ob nicht vielmehr ein neuer Text entstanden ist. Diese Haltung zeigen Leser besonders im Umgang mit literarischen Texten. Sie kulminiert im Begriff des literarischen Werks, das qua Definition abgeschlossen ist.29 Deswegen betont Ingarden: »Diese Ordnung kann nicht verändert werden, ohne im Bau des Werkes sehr wesentliche Veränderungen vorzunehmen, und manchmal kann die Umordnung der Sätze zur Zerstörung des Werkes und insbesondere seiner Einheit des Sinnes und überhaupt des künstlerischen Ganzen führen.« Selbst wenn die normativen Implikationen des Werk-Begriffs hier nicht mitgetragen werden, bleibt doch die Annahme bestehen, dass Texte ihren Rezipienten eine Präsentationsreihenfolge vorgeben. Dazu gehört auch die Annahme, der Text habe »eine gewisse ›Ausdehnung‹ (Länge) vom ›Anfang‹ bis ans ›Ende‹.«30 Natürlich lässt sich auch Bildern eine bestimmte Größe zuschreiben, aber diese sagt viel weniger über ihre Rezeption aus als die Länge eines Texts über seine Lektüre. Mancher Leser schreckt vor langen Texten vielleicht soweit zurück, dass er gar nicht mit der Lektüre beginnt. Die wenigstens Betrachter eines Bildes dagegen würden vollständig auf eine Rezeption verzichten, nur weil seine Abmes27 28 29 30

Vgl. Konrad Ehlich: Diskurs – Narration – Text – Schrift (= Sprache und sprachliches Handeln, Bd. 3), Berlin, New York 2007, S. 611, 614f. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 11, 97. Vgl. Horst Thomé: Art. »Werk«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin, New York 2007, Bd. III, S. 832-834, hier: S. 832. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 95f.

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Das Lesen als Handlung

sung besonders groß ist. Ein Bild ist, zumindest grob, eben doch auf einen Blick erfassbar. Genauso würde der Betrachter nicht behaupten, er sei gerade in der Mitte oder am Ende des Bildes angelangt, wie man es über die Lektüre eines Texts behauptet. Und auch das Zählen von Betrachtungsdurchgängen erscheint nur wenig sinnvoll. Mehrfachlektüren eines bestimmten Texts sind dagegen durchaus üblich. All diese Unterschiede im Umgang mit den beiden Medien sind letztlich darauf zurückzuführen, dass Texte im Vergleich zu Bildern ihren Sinn in einer graduell stärker festgelegten Abfolge präsentieren.

5.4

Fremdbezug: Eigenraum des Texts

Die Betrachtung des Eigenraums von Texten erfolgt hier in drei Abschnitten. Allerdings hängen die dabei behandelten Charakteristika eng miteinander zusammen. Ihre Trennung verfolgt lediglich das Ziel, die Übersichtlichkeit der Darstellung zu erhöhen.

5.4.1

Die Sprachlichkeit des Texts

Texte sind sprachliche Medien im engeren Sinne. So einleuchtend diese Bestimmung zunächst auch scheinen mag, ist sie doch erklärungsbedürftig. Erstens stellen Texte nämlich nur eine Ausformung von Sprache neben dem mündlichen Sprechen dar. Zweitens gibt es verschiedene Textsorten, literarische und pragmatische, die graduell unterschiedliche sprachliche Vollzüge ermöglichen. Und drittens ist auch der Unterschied zwischen sprachlicher und nicht-sprachlicher Präsentation lediglich ein gradueller. Mündlichkeit und Schriftlichkeit stellen zwei gleichberechtigte mediale Ausformungen von Sprache dar.31 Ein Unterschied besteht lediglich darin, auf welche Art und Weise sie Sinn präsentieren. So lässt sich gesprochene Sprache 31

Beide Vollzugsformen der Sprache haben ihre jeweils eigenen Vorzüge. Während Texte über weite Zeiträume hinweg verständlich bleiben, zeichnet sich das Sprechen durch eine besondere menschliche Nähe aus. Es ist also ein soziales und affektives Medium. (Vgl. Waltraud Wiethölter: Stimme und Schrift. Szenen einer Beziehungsgeschichte, in: Waltraud Wiethölter, Hans-Georg Pott, Alfred Messerli (Hg.): Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität, München 2008, S. 9-53, hier: S. 11, 21f. und Doris Kolesch: Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik, in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 267-281, hier: S. 267, 274.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

als ein flüchtiges, Schrift dagegen als ein dauerhaftes Medium beschreiben.32 Gesprochene Sprache ist also nur da, indem sie produziert wird. Mit Beendigung der Artikulation verklingt sie zugleich. Im Gegensatz dazu existiert die Schrift unabhängig von ihrem Produktionsprozess fort. Damit ist sie zugleich weitgehend unabhängig vom Klang. Zumindest ist sie befreit von der Kontingenz realer Stimmen, das heißt auch ohne individuellen Ton und Rhythmus verständlich. Andererseits kann ein Text gerade dadurch Missverständnisse provozieren, die im Sprechen gar nicht erst aufkämen oder sofort behoben würden.33 Um im gleichen Maße verständlich zu sein wie die mündliche Sprache, muss ein Text deswegen auf andere Mittel der Sinnpräsentation zurückgreifen. Beispielsweise kann er sich in einen bestimmten Kontext ein- sowie einer bestimmten Funktion unterstellen. Bei einem Gesprächsprotokoll ist es somit von Vorteil, den Hintergrund des Gesprächs sowie die Teilnehmer und ihre Überzeugungen zu kennen. Gleiches gilt für ein Backrezept. Erst wenn die Funktion des Texts bekannt ist und Zutaten sowie Gerätschaften bereitliegen, spielen Worte, Zahlen und Abkürzungen zusammen. Der Text verweist also zurück auf eine konkrete Situation. Je eher er dies tut, desto weniger wird er von einer zweiten Strategie Gebrauch machen. Diese besteht darin, nicht zurück-, sondern, im Gegenteil, gerade vorzuverweisen. Auf diese Weise kann ein Text nicht nur die zum Kontext gehörigen, sondern all seine potentiellen Leser und ihr Verstehen mit einbeziehen.34 Er kann »seine Stimme sozusagen von sich aus erheb[en] und in niemandes Namen«35 sprechen. Gadamer weist diese besondere Sagkraft vor allem literarischen Texten zu und bezeichnet sie deswegen auch als autonom oder als ein Ganzes.36 Wortwahl, Satz- und Textbau gehen hier eine besonders dichte Verbindung ein. Ein literarischer Text präsentiert seinem Leser also ein dichtes textimmanentes Netz aus Sinnbezügen, während pragmatische Texte stärker auf kontextuelle Bezugnahmen setzen.37

32 33 34 35 36 37

Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 52f, 70. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 261f. Vgl. ebd., S. 263. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 54, 75, 290. Innerhalb der mündlichen Sprache lässt sich natürlich eine analoge Leitdifferenz zwischen pragmatischer und literarischer Funktion einziehen. (Für weiterführende Überlegungen siehe Paul Zumthor: Einführung in die mündliche Dichtung, Berlin 1990.)

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Das Lesen als Handlung

Den Unterschied zwischen Sprache und anderen Medien bringt Gadamer mit dem Begriff der Idealität auf den Punkt.38 Diese Eigenschaft kommt »beiden, den Lauten der Sprache und den Zeichen der Schrift, zu[…]« und bezeichnet die Tatsache, dass »Sprache ihrem Wesen nach, genau wie die Schrift, in einem Spielraum des Kontingenten und Variablen auf wesentliche Konstanten hin idealisiert.«39 Oder anders ausgedrückt: Sprache präsentiert sich über Konventionen. Allerdings bedeutet dies nicht notwendig, dass explizite sprachliche Vereinbarungen getroffen werden.40 Aber auch ohne diese ist der Grad an Konventionalität bzw. Idealität so groß, dass Sprache komplexen Sinn relativ kontextunabhängig, das heißt für viele potentielle Adressaten und über lange Zeiträume hinweg, konserviert. Dabei erzielt Sprache sogar eine größere Reichweite bzw. Bedeutungskraft als andere Sinnsysteme wie nonverbale, stimmliche Äußerungen oder andere Medien.41 Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Sprache selbst doch lediglich eine Kombination aus Klang und Bild zu sein scheint. Lässt sie sich folglich überhaupt als eigenständiges Medium gegenüber anderen abgrenzen? Eine Antwort darauf erhält, wer von den sprachlichen Vollzügen ausgeht. So betont Gadamer am Beispiel der Schrift, dass erst das Lesen eine »Rückverwandlung von Schrift in Sprache«42 ermöglicht bzw. »Schrift mit Sprache zusammenschließt.«43 Analog ließe sich auch formulieren: Sprachlaut wird zu Sprache, indem man ihn auf besondere Art und Weise hört. Wenn Sprache entsprechend eine Sache des Vollzugs ist, den ein bestimmtes Medium ermöglicht, so können nicht nur Schrift und Sprachklang, sondern jegliches Medium zur Sprache werden. Es bedarf nur einer, wie Gadamer es umschreibt, gewissen Idealisierung auf wesentliche Konstanten hin. Man denke etwa an die Gebärdensprache oder das Lorm-Alphabet, in denen Bewegung und Berührungen die Lebenswelt erschließen. Sprache ist also nicht ein bestimmtes materielles Medium, das es von Bild, Ton, Bewegung, Berührung usw. abzugrenzen gilt. Sie

38

39 40 41 42 43

Gadamer verweist darauf, dass er den Begriff der Idealität »rein beschreibend gebraucht«. (Hans-Georg Gadamer: GW8, S. 259.) Er stützt sich hier also nicht auf metaphysische Prämissen. Deswegen kann Gadamer auch konsequent an der Zeiträumlichkeit der Textrezeption festhalten, indem er betont, dass eine Text »immer und immer wieder neu gelesen werden will«. (Ebd., S. 289.) Ebd., S. 259. Vgl. ebd., S. 260. Vgl. ebd., S. 21, 286, 288. Ebd., S. 272. Ebd., S. 261f.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

ist vielmehr ein bestimmter Grad des Übereinkommens in einem beliebigen Medium.44 »Das bedeutet für das Vorsprachliche, daß es im gewissen Sinne immer schon auf das Sprachliche hin unterwegs ist.«45 Schließlich zeigt sich damit auch, warum Gadamer einen engeren von einem weiteren Sprachbegriff unterscheidet bzw. von der Sprachlichkeit und nicht der Medialität des Verstehens spricht.46 So impliziert Sprachlichkeit einerseits, dass ein Medium genutzt wird. Andererseits drückt sie aber auch aus, dass das vollzogene Verstehen einen besonderen Intensitätsgrad erreicht. In diesem Sinne machen es uns Texte graduell leichter, sie intensiv zu verstehen, weil sie ein Medium nutzten, in dem wir alle zu Hause sind. Graduell leichter meint dabei, dass es natürlich auch im Umgang mit Texten verschiedene Expertisegrade gibt sowie dass natürlich auch Bild, Ton, Bewegung, Berührung usw. in gleicher Intensität verstanden werden könnten. Allerdings gilt für Sprachlaut und Texte in besonderer Weise, dass sich viele Nutzer hier einen erstaunlichen Grad an Übereinkunft und Dauerhaftigkeit geschaffen haben.

5.4.2

Schrift und Sprachlaut im Text

Auch wenn Texte, wie Gadamer erklärt, nicht auf eine bestimmte Stimme angewiesen sind, bewegen sie sich doch immer im Spannungsfeld von Schrift und Sprachlaut.47 Diese werden beim Lesen immer zusammengebunden. Denn sogar stilles Lesen ergänzt den Klang der Sätze in der Vorstellung des Lesers.48 Das Verhältnis der beiden medialen Ausformungen von Sprache ist dabei jedoch komplexer, als gemeinhin angenommen wird. Eine Schwierigkeit beim Lesen verdeutlicht der Linguist Christian Stetter, indem er einen 44

45 46 47 48

Vgl. ebd., S. 354. Dies bestätigt auch Stetter, wenn er die mündliche, die schriftliche und die Gebärdensprache als drei mediale Ausformungen derselben Sprache bezeichnet. (Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 130.) Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 357. Vgl. ebd., S. 350. Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 130 und Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 18. Es gibt beim stillen Lesen zwar Schnell-Lesemethoden, die eine Texterfassung auch ohne Subvokalisierung, also ohne bewusstes Vorstellen des Klangs, erlauben. Allerdings müssen diese extra erlernt werden. Zudem bleibt auch bei Verwendung dieser Methoden die Gehirnregion, die das Lautverstehen regelt, aktiv. (Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 50 Fn, 131 Fn und Stanislas Dehaene: Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in den Köpfen passiert, München 2010, S. 3842.)

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Das Lesen als Handlung

Vergleich zwischen dem Lesen von lateinischen Buchstaben und dem von Han-ze- bzw. Kanji-Charakteren vornimmt. Bei letzteren beiden kann ein und dasselbe Zeichen mehrere Worte mit jeweils eigener Bedeutung und eigenem Sprachlaut präsentieren und das nicht nur in einer, sondern in verschiedenen Sprachen (Japanisch oder Chinesisch). Um die Bedeutungen beim Lesen voneinander unterscheiden zu können, muss zuerst die Verknüpfung der Han-ze- bzw. Kanji-Charaktere mit der sprachlichen Umgebung erfasst werden. Erst danach ist eine korrekte Aussprache möglich. Damit machen diese besonderen Zeichen eine Abhängigkeit zweier Teilvollzüge ausdrücklich, die für jegliches Lesen gilt: Das Erkennen des Zeichensinns geht der Zuordnung des Sprachlauts voraus. Analoges lässt sich auch für die Alphabetschrift annehmen. Beispielsweise muss in den Sätzen ›Der Tenor sang ein Solo.‹ und ›Der Tenor seiner Rede war eindeutig.‹ zuerst die Verbindung des Wortes ›Tenor‹ mit den übrigen Wörtern im Satz verstanden werden, bevor entschieden werden kann, um welches der möglichen Homographe, ›Tenór‹ oder ›Ténor‹, es sich handelt. Erst dann kann eine sinnvolle Verlautlichung erfolgen. Ein noch extremeres Beispiel für diesen Zusammenhang stellen Programmiersprachen dar. Diese kommen sogar gänzlich ohne eine Verlautlichung aus.49 Schrift präsentiert somit primär Sinnbezüge innerhalb von Texten und erst sekundär eine Anbindung an die gesprochene Sprache.50

5.4.3

Digitalität und Analogizität im Text

Der komplexe Zusammenhang der schriftbasierten und mündlichen Teilvollzüge ist allerdings nicht die einzige Herausforderung, die sich beim Lesen stellt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Sinn in der Schrift digital, in der gesprochenen Sprache aber analog präsentiert wird.51 Damit ist Schrift ers49 50

51

Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 87, 123-125. Ingarden beschäftigt sich ebenfalls mit diesem Zusammenhang. Bei ihm wird er jedoch weniger deutlich als bei Stetter. Insgesamt geht Ingarden von einer Gleichursprünglichkeit von Wortsinn und Wortlaut aus. Dies symbolisiert eine indemFormulierung. Allerdings nennt Ingarden den Wortlaut vor der Bedeutung, wenn es um die Frage geht, was Schrift ausdrückt. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 17-20.) In der neueren Schriftbildforschung wird ein vollzugsmäßig gedachter Zusammenhang von Schrift und Sprachklang zudem von Sybille Krämer vertreten. (Vgl. Sybille Krämer: ›Schriftbildlichkeit‹, S. 160.) Auch wenn alltägliche Buchstabenschrift eindeutig digital funktioniert, ist ein fließender Übergang zwischen Digitalität und Analogizität durchaus möglich. (Vgl. Christian

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

tens effektiv differenziert, das heißt in klar unterscheidbare Einheiten unterteilt. (So muss zum Erkennen des Wortes ›backen‹ eindeutig erkennbar sein, ob es sich bei dem ersten Buchstaben um ein ›b‹ oder um ein ›p‹ handelt. Es gibt keine Übergänge zwischen den Zeichen.) Und zweitens sind ihre Einheiten disjunkt, das heißt aufgrund ihrer hinreichenden Ähnlichkeit mit einem Typ innerhalb dieses Mediums genau diesem Typ zuordenbar. (Der Anfangsbuchstabe in ›backen‹ muss eindeutig mit dem Typ ›b‹x→∞ identifizierbar sein. Ist dies nicht der Fall, verliert er gänzlich seinen Zeichencharakter und sagt nichts mehr aus.)52 An der Digitalität von Schrift orientiert sich auch ein bis heute hartnäckiges Vorurteil innerhalb von Schriftdidaktik und Lesepsychologie. So seien Abfolgen aus digitalen Buchstaben direkte Stellvertreter von Lautfolgen in der gesprochenen Sprache. Lesen bestehe demnach hauptsächlich in einem Medienwechsel, in dem isolierte Schriftzeichen in gesprochene Sprache übersetzt würden.53 Zweierlei ist hier entgegenzusetzen: Zum einen besteht lediglich eine Graphem-Phonem-Korrespondenz und keine Einszu-eins-Zuordnung von Lauten und Buchstaben. Man denke beispielsweise an den Laut /∫/, der den Anfang der Worte ›Schirm‹ und ›Stimme‹ markiert, aber jeweils unterschiedlich verschriftlicht wird. Zum anderen weist die gesprochene Sprache Klangbewegungen wie Lautstärke, Geschwindigkeit, Intonation oder Rhythmus auf, die von der Schrift überhaupt nicht erfasst werden können.54 Aber auch diese Ergänzungen reichen noch nicht aus, um das

52

53 54

Stetter: System und Performanz, S. 76-78, 119f) So gibt es Darstellungen, die Schrift in Richtung des Bildes entgrenzen. (Vgl. Gernot Grube, Werner Kogge: Zur Einleitung. Was ist Schrift?, in: Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 9-21, hier: S. 17.) Dazu zählen z.B. sog. Ambigramme. (Vgl. Sybille Krämer: ›Operationsraum Schrift‹. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift, in: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 23-57, hier: S. 49.) Zudem gilt, dass ein konkret verwendetes Zeichen nur relativ zu seinem Zeichensystem digital oder analog ist. (Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 95f) Vgl. ebd., S. 25. und Gernot Grube, Werner Kogge: Zur Einleitung, S. 15. Auch Ingarden erkennt bereits den Unterschied zwischen der Analogizität bildlicher Wahrnehmung und der Digitalität des Lesens von Schrift. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 16f Fn.) Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 101-103 und Waltraud Wiethölter: Stimme und Schrift, S. 17. Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 143, 53 und Pia Bergmann: Laute, in: Peter Auer (Hg.): Sprachwissenschaft. Grammatik – Interaktion – Kognition, Stuttgart, Weimar 2013, S. 43-90, hier: S. 44, 77f.

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Das Lesen als Handlung

obige Vorurteil in eine treffende Beschreibung des Lesevollzugs zu überführen. Vielmehr muss von Grund auf neu angesetzt werden. Denn gesprochene Sprache ist ein analoges Medium und kann damit zwischen unendlich feinen Nuancen der Sinnpräsentation unterscheiden. Dies liegt daran, dass jedes von ihr zur Erscheinung gebrachte Detail auch zum Sinn beiträgt.55 Während Sprachklang damit dem Medium des Bildes sehr nahe steht, lässt sich die Schrift eher als Partitur auffassen.56 Aufgrund der Unterschiedlichkeit der beiden Sprachmedien liegt es nahe, ihre jeweilige Wahrnehmung in Abschnitt 5.6 getrennt voneinander zu behandeln. Die Analyse der Räumlichkeit von Texten ergab insgesamt vier zentrale Eigenschaften: Erstens sind Texte dauerhafte Medien. Sie existieren also unabhängig von ihrem Produktionsakt fort. Zweitens sind sie sprachliche Medien im engeren Sinne, wodurch ihre Sinnpräsentation im Vergleich mit anderen Medien eine besondere Komplexität, aber auch eine besondere Zugänglichkeit erreicht. Dabei sind pragmatischer Text stärker auf Kontexte angewiesen als literarische Texte. Drittens wurde deutlich, dass sich Texte stets innerhalb eines Spannungsfelds bewegen, nämlich zwischen Schrift und Sprachlaut. Dabei präsentieren sie unmittelbar sprachlichen Sinn, aber nur mittelbar sprachlichen Klang. Viertens ist dieses Spannungsfeld ein doppeltes. Denn über die Verknüpfung von Schrift und Sprachlaut kombinieren Texte digitale Anteile der Sinnpräsentation mit analogen.

5.5

Selbstbezug: Entrückung in den Text

An dieser Stelle schließe ich eine selbstbezügliche Beschreibung des Lesens, also der Textwahrnehmung an. Diese wird durch den Text mitbestimmt, geht über seine Sinnpräsentation aber auch immer hinaus. Somit besteht eine »notwendige Verschiedenheit der Konkretisation vom Werk selbst«57 . Perspektiviert wird die Textwahrnehmung erneut von zwei Seiten her, nämlich zeitlich als Entrückung und räumlich als Gesamtsinnesorganisation. Damit wird schließlich auch das formal leere Instrumentarium zur Beschreibung des Lesevollzugs komplettiert. Sein Wert soll daran bemessen werden, ob es konkrete Verstehensvollzüge erfassen kann. Deswegen werden Textlektüren

55 56 57

Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 35f. Vgl. ebd., S. 26f. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 97.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

angeschlossen, die auf den formal leeren Kategorien aufbauen. Erscheinen diese plausibel, erweist sich das vollzugsmäßige Analyseinstrumentarium als gelungen. Lesen erfolgt als Entrückung, also als »Umsetzung von starren Zeichen in einen strömenden Fluß von Gedanken und Bildern.«58 Diese Annahme ergibt sich aus einer konsequenten Aneignung des vollzugsmäßigen Konzepts der Zeitlichkeit. Besonders deutlich zeigt sich dies in einem Aufsatz des späteren Gadamer. Hier betont er, dass Lesen bedeute, einen Text, und einen literarischen Text insbesondere, als Sinnganzes aufzufassen.59 Ganzes meint dabei wiederum: »Es ist kein Nacheinander, sondern ein Zugleich, das dem zukommt, das die Zeitstruktur des Verweilens besitzt. Es ist nicht ein Verrichten von diesem oder jenem, erst dies und dann das, sondern es ist ein Ganzes, das da gegenwärtig ist, im Sehen, im Nachdenken, im Betrachten, in das man versunken ist – oder […] ›in dem man aufgeht‹. Aristoteles fügt denn auch das Beispiel des Lebens an. So sagen wir auch, daß man ›am Leben ist‹. Solange einer am Leben ist, ist er mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft eines.«60 Lesen vollzieht sich also nicht als Jetzt- und damit Buchstaben- oder Wortfolge. Es ist tatsächlich Vollzug im Sinne einer Entrückung in die Zeit und hat damit die Struktur von Wahrnehmung überhaupt.61 Damit stellen die folgenden Ausführungen auch keine normative Textontologie dar. Keinesfalls soll hier vertreten werden, dass ein Text ein vollgültig harmonisches Gebilde sein müsse, also keine schwer integrierbaren Teile enthalten dürfe. Es geht mir stattdessen um die Zeitlichkeit des Lesevollzugs. Denn nur wenn sich ein Leser in Vergangenheit und Zukunft entrücken lässt, kann er Texte sinnhaft wahrnehmen, also Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Sprachzeichen ausmachen. Sowohl bei Roman Ingarden als auch bei Wolfgang Iser stellt der Fluss und damit die Zeitlichkeit des Lesens einen wichtigen Ausgangspunkt ihrer Argumentationen dar. Will man diesen etwas konkreter fassen als das obige Gadamer-Zitat, lässt sich sagen, dass in jedem Moment des Lesens der 58

59 60 61

Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 284. Und siehe: »Nicht das Nacheinander als solches, sondern die Präsenz des Nicht-Gleichzeitigen ist für alles Lesen konstitutiv.« (Ebd., S. 276.) Vgl. ebd., S. 393. Ebd., S. 387. Vgl. ebd., S. 278.

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Das Lesen als Handlung

Nachklang von bereits Gelesenem und der Entwurf auf noch zu Lesendes zusammentreten.62 In diesem Sinne bewegt sich der Leser laut Iser als perspektivischer Punkt durch den Text hindurch, wodurch ihm dieser stets in Teileinheiten, nie aber vollständig gegeben ist.63 Die Teileinheiten der Textwahrnehmung entsprechen dabei jedoch nicht einer festen Spanne von Wörtern oder Buchstaben. Vielmehr gliedert der Leser den Text in Sinneinheiten auf. Ingarden erläutert hierzu, dass der Blickpunkt unterschiedlichen Umfang annehmen kann. So hält dieser meist einen vollständigen Satz präsent. In Abhängigkeit von der Komplexität des Texts kann er aber auch mehrere zusammenhängende Sätze oder nur eine einzelne Phrase umfassen.64 Die verschiedenen Sinneinheiten schließt der Leser dann über Konsistenzbildungen zu immer größeren Elementen zusammen. Darüber ergeben sich komplexere Gebilde wie Textperspektiven, Handlungszusammenhänge,65 Motive, Bilder oder auch klangliche Erscheinungen.66 Schließlich kann die Konsistenzbildung auch so weit gehen, dass dem Text ein Gesamtsinn zuerkannt wird. Dieser wird gebildet, indem eine Sinnmöglichkeit gegenüber anderen ebenfalls denkbaren privilegiert wird. Dabei gelangt die Konsistenzbildung gleichsam zu einem vorläufigen Abschluss.67 Insgesamt strahlen also die textuellen Sinneinheiten ineinander bzw. steht in jeden Moment des Lesevollzugs potentiell der Text als ein Ganzes hinein.68 Zeitlich gedacht halten somit stets vergangener und möglicher Sinn in den Leseaugenblick Einzug. Diesem korrespondieren zwei Vollzüge, die sich mit Iser als Erinnerung bzw. als Erwartung bezeichnen lassen.69 Von der Warte der Vergangenheit her betrachtet beeinflusst die Erinnerung, welche Erwartungen überhaupt gebildet werden können. Auf der anderen Seite sinken die

62 63 64 65 66 67

68 69

Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 32f. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1994, S. 178. Ingarden spricht von der »gerade lebendig selbstgegenwärtigen Phase des Werkes«. (Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 98f.) Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 192. Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 393. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 200f. Ich verwende Sinn hier in Anlehnung an Heidegger, wie ich ihn in Kap. 2.4.1 bestimmt habe. Entsprechend trage ich Isers Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung nicht mit. (Vgl. ebd., 244f.) Beide dienen mir als Synonyme zum heideggerschen Sinnbegriff. Vgl. ebd., S. 179f, 193. Vgl. ebd., S. 193, 181. In Anlehnung an Husserl spricht Iser auch von Retention und Protention.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

einstigen Erwartungen beim Voranschreiten der Lektüre in die Erinnerung hinab. Dies nimmt sich laut Ingarden in Abhängigkeit von der Bedeutungsschicht des Texts jeweils anders aus. Beispielsweise wird die semantische Bedeutung längerer Textabschnitte in der Wahrnehmung verkürzt und miteinander verbunden. Für gewöhnlich vollzieht der Leser dies automatisch, also unreflektiert. Insgesamt bilden sich so Sinneinheiten, die im Gedächtnis niedergelegt werden. Erinnert sich der Leser an eine Sinneinheit, kann diese entweder als fragmentierter Originaltext, also als Satzteil oder einzelnes Wort oder auch als umgewandelter Sinn eines bestimmten Textabschnitts wieder in Erscheinung treten.70 Eine analoge Beschreibung nimmt Ingarden auch für das Erinnern von Anschauungen vor, die den Text in Gedanken ergänzen.71 Diese werden im Gedächtnis ebenfalls verkürzt und büßen damit, teils mehr, teils weniger, ihre Anschaulichkeit ein. Lebendig erinnert werden vor allem für den Gesamtsinn des Texts zentrale Zusammenhänge und Figuren oder auch Anteile, die den Leser besonders berührt haben. Letztere finden ihre Motivation allerdings eher in der Lebenssituation des Lesers als im Text selbst.72 Schließlich kann auch der Sprachlaut in Form von Rhythmen oder bestimmten Anordnungen wie Versen und Strophen im Gedächtnis nachklingen.73 Gleichermaßen für alle Formen des Erinnerns gilt, dass sie an Lebendigkeit verlieren, je weiter sie, gemessen am aktuellen Blickpunkt des Lesers, im Text zurückliegen.74 In der Summe verschiebt sich der Erinnerungshorizont also stetig. Auch mit Blick auf einen Erwartungshorizont lässt sich das Lesen beschreiben. Dieser steht ebenfalls nie still. Stetig vermittelt der Leser neue Eindrücke mit seinen Erwartungen, was entweder zur Erfüllung oder Enttäuschung der Letzteren führt. Die Erfüllung von Erwartungen bedeutet, dass diese angereichert werden und als gesättigter Sinn in den Erinnerungshorizont herabsinken. Die Enttäuschung hingegen ersetzt die alten Erwartungen durch neue und deutet zugleich Erinnerungen, die auf jene alten Erwartungen hinführten, um.75 Erwartungen gehen dabei notwendig über den im Text 70 71

72 73 74 75

Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 101. Insgesamt scheint sich eine Trennlinie zwischen dem Verändern der Präsentationsreihenfolge und der Vorstellungsbildung nur schwer einziehen zu lassen. (Vgl. ebd., S. 101.) Vgl. ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 103. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 181f.

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Das Lesen als Handlung

präsentierten Sinn hinaus, da sie sich auf etwas beziehen, das noch nicht gelesen wurde. Beispielsweise werden Teile der Handlung auf eine oder auch mehrere alternative Weisen weitergeführt. Denkbar ist aber auch eine Antizipation des Sprachlauts, so zum Beispiel des Rhythmus in regelmäßigen Metren.76 Schließlich gehört noch die Wahrnehmung des »Immer-wenigerWerdens der noch unbekannten Teile des Werkes«77 zur Erwartung. Durch diese geht die jeweilige Lektürephase mit einem spezifischen Gefühl von Dynamik einher: Während zum Beispiel der Beginn und das Ende eines Buches häufig verschlungen werden, kann die Lektüre des Mittelteils seine Längen haben. Abschließend lässt sich somit sagen, dass sich Lesen als Entrückung in die Zeit vollzieht. Der Augenblick des Lesens ist gleichursprünglich vergangene Erwartung sowie zukünftige Erinnerung, er vollzieht sich im Fluss.78 Diese Beschreibung der Zeitlichkeit des Lesens ist auch deswegen von großem Nutzen, weil sie erklärt, wie das Textverstehen verschiedener Leser voneinander abweichen kann. So ist der Text für Iser »ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird.«79 Allerdings kann dieses Wirkungspotential niemals vollständig ausgeschöpft werden.80 Leser sind nämlich alltäglich bestrebt, die Konsistenzbildung einem begreifbaren Ende, das heißt ohne zu großen Möglichkeitenüberschuss, zuzuführen.81 Und auch in ästhetischer Einstellung ist ihre Aufmerksamkeit Grenzen unterworfen, die das Wirkungspotential eines Texts niemals vollständig erfassen können. Dies lässt sich gemäß der Einteilung des Lesevollzugs in Erinnerung und Erwartung von zwei Seiten her veranschaulichen. Wenn nämlich der aktuelle Blickpunkt des Lesers dazu aufruft, den Textsinn durch frühere Präsentationen zu ergänzen, kann der Leser häufig Bezüge zu ganz unterschiedlichen Textabschnitten herstellen. Diese liegen unterschiedlich weit zurück oder wurden wiederum in jeweils eigenem Maße mit anderen Abschnitten verknüpft. Daraus ergeben sich letztlich verschiedene Erinnerungen von ganz unterschiedlicher Plastizität und Komplexität.82 Die individuellen Erinnerungen des Lesers wirken sich dann wiederum auf seine Erwartungen aus. Denn nur aktualisierte Erinnerungen können auch Erwartungen wecken. Zudem sind Erwartungen 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 104f. Ebd., S. 105. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 189. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 190.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

ebenfalls potentiell mehrsträngig.83 Auch hier kann der Leser in Bezug auf Anzahl und Bewertung der möglichen Entwicklungen also zu unterschiedlichen Schlüssen kommen, die die fortschreitende Lektüre beeinflussen. Dabei werden zunächst verworfene Möglichkeiten nicht völlig vergessen, sie blieben weiterhin im Hintergrund und können den eingeschlagenen Weg der Konsistenzbildung stören oder sogar abbrechen lassen.84 Textverstehen ist also, so wie Verstehen überhaupt, der Zeitlichkeit und darüber der Jemeinigkeit unterworfen.85 Abschließend gilt ist es noch klären, wie sich eine alltägliche von einer ästhetischen Entrückung durch das Lesen unterscheidet. Formal leer lässt sich nur wieder darauf hinweisen, dass diese in besonders intensiver Weise vollzogen werden muss. Dies gilt erstens für die Erinnerung, die möglichst weit im Text zurückgreifen können sollte. Womöglich bewegt sie sich sogar über den eigentlichen Text hinaus und bindet weitere Texte sowie andere Vollzüge als das Lesen mit in die Wahrnehmung ein. Zweitens lässt sich Analoges auch über die Erwartung sagen. So kann diese nicht nur auf die folgenden Sätze, sondern auch auf die nächsten Kapitel oder sogar auf den Schluss des Texts vorgreifen. Sie kann gleichzeitig mehrere Alternativen erzeugen. Oder die Erwartung bezieht zusätzlich zukünftige Situationen außerhalb des Lesens mit ein, die zwar in der Zukunft liegen, aber doch schon im Horizont des Lesers auftauchen. Im Folgenden will ich die Ausführungen zur Zeitlichkeit des Lesens an einer konkreten Lektüre überprüfen. Dazu wähle ich einen Text, Kafkas Erzählung Ein Landarzt,86 der auf verhältnismäßig überschaubarem Raum unzählige Erwartungen und Erinnerungen provoziert. Trotz ihrer Dichte werden diese beim Lesen allerdings, wie oben beschrieben, zu einer überschaubaren Anzahl an Themensträngen verknüpft. Drei dieser Themenstränge, die sich innerhalb meiner eigenen ununterbrochenen Erstlektüre herauskristallisierten, werde ich exemplarisch herausgreifen, um so die Bewegung meines Blickpunkts durch den Text nachvollziehbar zu machen. Der erste Themenstrang betrifft den titelgebenden Ich-Erzähler, der eine Reihe von für den Leser nicht erwartbaren Verhaltensweisen zeigt. Um diese einschätzen zu können, bedarf 83 84 85 86

Vgl. ebd., S. 188. Vgl. ebd., S. 207, 213. Vgl. ebd., S. 242f. Franz Kafka: Ein Landarzt, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe, Kritische Ausgabe, hg. Von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Neumann, 15 Bde., Frankfurt a.M. 19821996, Bd. Drucke zu Lebzeiten, S. 252-261.

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Das Lesen als Handlung

es jedoch zunächst eines kurzen Überblicks über den Beginn der Handlung. Der Ich-Erzähler arbeitet als Landarzt in einem dünn besiedelten Gebiet. Zum wiederholten Male wird er im Winter nachts zu einem weit entfernten Notfall gerufen. Allerdings ist sein Pferd kurz zuvor wegen Überlastung verendet und kein Dorfbewohner ist aufgrund der Uhrzeit und eines aufbrechenden Schneesturms bereit, ihm seines zu leihen. Als der Ich-Erzähler an einem ungenutzten Stall vorbeigeht, vernimmt er den Geruch von Pferden. Dank dieses Hinweises, aber auch weil sich die Lektüre noch ganz am Anfang befindet und natürlich weil es sich um einen Kafka-Text handelt, erwartet der Leser, dass sich in diesem Stall eine, womöglich übernatürliche, aber wenigstens überraschende, Lösung für das Reiseproblem finden wird. Diese Annahme wird dann auch bestätigt. Denn im Innern des Stalls findet der Landarzt einen seltsamen Pferdeknecht vor, der ihm helfen wird: »›Hollah, Bruder, hollah, Schwester!‹ rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde, mächtige flankenstarke Tiere schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib, die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der Wendungen ihres Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten.« (S. 252) Die Textstelle ist interessant, weil ihr komplexer Satzbau in Kombination mit einem schwer zu antizipierenden, phantastischen Inhalt die durchschnittliche Verstehensgegenwart von einem ganzen Satz auf einzelne Phrasen verkürzt. Der Leser ist gezwungen, sich jede Phase der sich aus einem Türloch schiebenden Pferde einzeln vorzustellen: die Beine, dann die Köpfe, dann der Rumpf… Die Passage verlangt also ein intensives, wenn nicht gar ästhetisches Lesen, wenn sie in einem Durchgang verstanden werden soll. Kurz darauf setzt der erste Themenstrang ein: Dieser wird durch einen Vorfall eingeleitet, der die Erwartung einer ungewöhnlichen Begegnung sogar noch übersteigt. So beißt der Pferdeknecht dem Dienstmädchen Rosa, das diesem beim Anspannen helfen soll, ohne Vorwarnung in einem Anfall roher und erschreckender Gewalt ins Gesicht.87 Die erste Reaktion des Ich-Erzählers erscheint dabei noch erwartbar, denn er droht dem Pferdeknecht mit der Peitsche. Aber ab diesem Zeitpunkt zeigt er eine Reihe von Reaktionen, die sich der Vorhersagbarkeit entziehen. So »besinn[t]« sich der Ich-Erzähler sofort nach dem schaurigen Angriff wieder und ist erleichtert, dass der Reiterknecht, der ihm schließlich freiwillig hilft, seine vorangegangene Drohung überhört hat. Gleich darauf 87

Ein besonders intensives Lesen würde vielleicht sogar bemerken, dass die Unmittelbarkeit des Vorfalls zusätzlich durch einen Umschlag des Erzähltempus vom Präteritum hin zum Präsens gesteigert wird.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

steigt er sogar »fröhlich« (S. 254) in die Kutsche und vergisst vorübergehend das arme Dienstmädchen, als er in übernatürlichem Tempo zu seinem Zielort befördert wird. Als der Landarzt dann auf seinen Patienten trifft, der ihm mit der ernsten Bitte begegnet, ihn sterben zu lassen, rechnet der Leser aufgrund seiner Erinnerungen schon nicht mehr mit einer nachvollziehbaren Reaktion des Mitgefühls. Und tatsächlich setzt sich das befremdende Verhalten fort. Der Ich-Erzähler kramt mechanisch in seinen Gerätschaften und verliert sich in seinen eigenen Gedanken. Kurz darauf wird das Befremdende sogar bis zur Widersprüchlichkeit gesteigert. Beispielsweise sinniert der Ich-Erzähler darüber, dass er »kein Weltverbesserer« sei, weil er einfach nur seine Pflicht tue. Aber bereits im anschließenden Gedanken attestiert er sich selbst, »doch freigiebig und hilfsbereit gegenüber den Armen« zu sein, obwohl er »[s]chlecht bezahlt« werde. (S. 256f) Ebenfalls paradox erscheint sein Verhalten, als einige Dorfbewohner ihn bedrohen. Denn er bleibt völlig ruhig und lässt sich mit dem Hinweis auf seine Überlegenheit, die jedoch nichts nütze, gefangen nehmen. Allerdings hat bereits eine Gewöhnung des Lesers eingesetzt. Deswegen werden die Verhaltensweisen des Ich-Erzählers nur noch zur Kenntnis genommen, nicht mehr jedoch zu einem sinnvollen Verhaltensprofil zusammengefasst. Dies betrifft auch den Schluss der Erzählung, in dem der Patient dem Landarzt sein Vertrauen abspricht. Als Reaktion gibt sich dieser zunächst defensiv und fragt, was er als Arzt tun solle bzw. betont, dass es für ihn auch nicht leicht sei. Unmittelbar danach schlägt er jedoch einen belehrenden Ton an und versichert: »Es ist wirklich so, nimm das Ehrenwort eines Amtsarztes mit hinüber.« (S. 260) Insgesamt ergibt sich damit ein interessanter Trend im Erinnerungs- und Erwartungsmanagement des Lesers. So führen mehrere unerwartbare und widersprüchliche Verhaltensweisen des Ich-Erzählers dazu, dass diese nicht mehr zu einer größeren inhaltlichen Einheit verknüpft werden können. Allerdings wird das Erinnern dadurch nicht unterbrochen. Vielmehr kommt es beim Erinnern zu einer Transformation der gelesenen Inhalte: Statt sich nämlich auf einzelne Verhaltensweisen des Ich-Erzählers zu konzentrieren, etabliert sich eine Leseeinstellung, die einfach das Unerwartbare erwartet. So kann der Leser dennoch einen übergreifenden Sinnzusammenhang herstellen. Dieses Umdenken verlangt auch ein weiterer Themenstrang innerhalb der Erzählung. Dieser betrifft den Gesundheitszustand des Patienten, zu dem der Landarzt gerufen wird. Denn dieser wird innerhalb weniger Seiten gleich mehrfach neu eingeschätzt. So folgt auf die Sterbebitte des Patienten (vgl. S. 255), die einen kritischen Zustand erwarten lässt, sehr rasch die Feststellung des Landarztes, dass dieser doch gesund

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Das Lesen als Handlung

sei (vgl. S. 256), nur um dann später »irgendwie bereit [zu sein, S. R.], unter Umständen zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist.« (S. 258) Dabei verschärft die Reihung von modalen Adverbialen, »irgendwie«, »unter Umständen« und »vielleicht«, das Misstrauen des Lesers gegenüber der Zuverlässigkeit der ärztlichen Diagnose zusätzlich. Erwartet werden deswegen weitere Handlungsumbrüche, die sich mit einer kurz darauf entdeckten schweren Wunde (vgl. S. 258) auch erfüllen. Die Beschreibung dieser Wunde fällt allerdings derart detailliert und bildhaft aus, dass sie sich dem Trend der reinen Kenntnisnahme des Unerwartbaren entzieht. Für einen kurzen Moment ist der Leser nur bei dieser von Würmern zerfressenen Wunde, die sich »mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen« dagegen wehren, einfach unter eine Globalthese subsumiert zu werden. Hier verarbeitet der Leser also einen eigenständigen Sinnabschnitt, der, anders als die vorangehenden Aussagen zum Patienten, sogar sehr textnah erinnert wird. Neben dem Verwirrspiel und nur schwer integrierbaren Erzählpassagen enthält Kafkas Text aber auch einen Themenstrang, der sich weitgehend inhaltlich konsistent verhält. Dieser betrifft die Sorge des Landarztes um seine Dienstmagd. Rosa wird nämlich vom animalischen Reiterknecht verfolgt, sobald der Landarzt seine Fahrt in der Kutsche antritt. Diese katapultiert ihn in Windeseile an sein Ziel, wodurch er über das vermeintlich grausame Schicksal Rosas nur noch Vermutungen anstellen bzw. sein tiefes Bedauern ausdrücken kann. Dies tut er zwar nicht sofort, dann aber mehrfach und inhaltlich konsequent (vgl. S. 256, 257, 259, 261). Dabei verankert sich die häufig geäußerte Sorge um Rosa so stark im Gedächtnis des Lesers, dass sie auch an ganz unpassender Stelle erinnert wird und so eine Fehllektüre provoziert. Als der Landarzt nämlich die Farbe der Wunde seines Patienten beschreibt, setzt er folgendermaßen ein: »Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe…«. (S. 258) Rosas Leid ist also während der Lektüre so präsent, dass die Lesererinnerung den Inhalt der Erzählung kurzzeitig überlagert. Allerdings wird die falsche thematische Erwartung dann sofort korrigiert, wodurch ein anderer Gedächtnisinhalt, der Gesundheitszustand des Patienten, aufgerufen und ergänzt wird. Insgesamt stützt die obere Lektüre die Beschreibung der Zeitlichkeit des Lesens. Dabei stellte sich der von Ingarden und Iser beschriebene Lesefluss sogar für einen Text ein, der das Verstehen vor größere Hürden stellt. So führten Brüche in der Handlung oder im Figurenverhalten dazu, dass Informationen aus dem Text im Gedächtnis stark komprimiert und umgewandelt wurden. Allerdings gab es auch Passagen, die besonders eindrücklich waren und beim Erinnern weniger starken Veränderungen unterworfen waren. Zu-

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

dem ist es wichtig zu erwähnen, dass sich die beschriebenen Themenstränge während einer einzigen ununterbrochenen Lektüre in meinem Gedächtnis ausbildeten. Dadurch können verschiedene Erinnerungen und Erwartungen, wie oben beschrieben, miteinander in Wechselwirkung treten.

5.6

Selbstbezug: Gesamtsinnesorganisation des Lesens

Bei einer selbstbezüglichen Beschreibung der Räumlichkeit des Lesens geht es darum, zu zeigen, durch welche Sinneseindrücke ein Leser einen Text wahrnimmt. Dafür schicke ich eine allgemeine Betrachtung der Modalbereiche voran, die beim Lesen aktiv sind. Da diese nicht nur einzeln, sondern jeweils in komplexen Synästhesien arbeiten, kann die Darstellung nur exemplarischen Anspruch haben. Sie soll lediglich veranschaulichen, dass Lesen mehr ist als eine Kombination aus Sehen, Hören und Sprechen. Danach wird die allgemeine Gesamtsinnesorganisation des Lesens systematisch auf den Aufbau von Texten bezogen, wie er sich bei der Analyse ihres Eigenraums zeigte. Daraus resultiert eine Einteilung in drei Bedeutungsschichten.

5.6.1

Modalbereiche des Lesens

Ich werde im Folgenden die in Abschnitt 2.6.1 zunächst nur allgemein beschriebenen Modalbereiche auf ihren jeweiligen Beitrag am Lesen hin befragen. Bezugspunkt ist dabei erneut Jürgen Scheurle. An erster Stelle behandle ich den Bewegungssinn. Dieser registriert und erzeugt Veränderungen, die Voraussetzung für die Wahrnehmbarkeit einer Sache sind. So bedürfen »Gesten, Symbole oder Schriftzeichen […], um lesbar zu werden, ihrer inneren Verlebendigung und Verflüssigung durch den Bewegungssinn.« Lesen vollzieht sich entsprechend auf der Basis von »realisierten Eigenbewegungen«88 des Auges. Diese erzeugen auch die Lesegeschwindigkeit, wobei damit keine vollkommen regelmäßige Verteilung der Bewegungen über die Zeit gemeint ist. Denn auch bei objektiv wechselndem Tempo kann sich ein homogenes Geschwindigkeitsempfinden im Sinne eines langsamen

88

Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 101. Die neurobiologische Funktionsweise dieser Eigenbewegung erklären: Marc Wittmann, Ernst Pöppel: Neurobiologie des Lesens, in: Bodo Franzmann et al. (Hg.): Handbuch Lesen, München 1999. S. 224-280, hier: S. 226f.

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Das Lesen als Handlung

oder schnellen Lesens einstellen. Die Einschätzung erfolgt dabei anhand der Situation sowie aus der Erfahrung heraus.89 Darüber hinaus gibt der Bewegungssinn dem linearen Lesen eine Richtung und ein Ziel vor, so zum Beispiel das Ende oder den Beginn einer Zeile. Die Synästhesie mit dem Gleichgewichtssinn erzeugt zusätzlich eine relative Orientierung, die den Abstand des aktuellen Blickpunkts zum Ende der Zeile, der Seite oder des Gesamttexts abschätzt. So entsteht der Eindruck eines ›weiter links/rechts‹, ›weiter unten/oben‹ oder auch eines ›früher/später‹ im Text.90 Bewegungs- und Gleichgewichtssinn erzeugen somit die räumliche Gesamtorientierung im Text. Zweitens beteiligt sich auch der Tastsinn am Lesen. Dieser hat erheblichen Einfluss darauf, dass Dinge und der eigene Körper als real aufgefasst werden. Voraussetzung dafür sind leiblicher Kontakt und Eigenberührungen.91 So wird beim Festhalten die Haptik eines Buchrückens oder eines Tablets miterfasst92 oder der Finger dient als Lesezeichen und erspürt die Oberflächenstruktur des Papiers oder des Touchscreens. Aber auch beim lauten Lesen spielt der Tastsinn eine wesentliche Rolle. So dient die Zunge als Tastorgan, das den eigenen Mundraum ausmisst und den Luftstrom beim Sprechen reguliert.93 Dafür stehen rund ein Drittel aller Tastsinneszellen im gesamten Körper zur Verfügung.94 Mithilfe des Tastsinns lässt sich auch erklären, warum einige Lautkombinationen kulturübergreifend als eher rund oder eher spitz empfunden werden. Die Motorik in der Mundhöhle wird nämlich synästhetisch mit bestimmten Lauten verknüpft.95 Über eine Synästhesie zwischen Klangsinn und Tastsinn kann die Liste an Lautqualitäten sogar noch erweitert werden. So wirken Stimmen und Geräusche manchmal stumpf, dicht, hart, weich, rau, knarrend usw.96 Des Weiteren erfasst der Tastsinn die ei-

89 90 91 92 93 94 95

96

Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 101, 102f. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. dazu Lukas Weidenbach: Buchkultur und digitaler Text. Zum Diskurs der Mediennutzung und Medienökonomie, Hamburg 2015, S. 20f. Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 91, 95. Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung, Berlin 2012, S. 41 Fn. Eine der populärsten Studien innerhalb der Synästhesieforschung konnte beispielsweise zeigen, dass das Wort baluma‹ als rund und das Wort ›takete‹ als spitz empfunden wurde. (Vgl. Lawrence E. Marks: Weak Synesthesia in Perception and Language, in: Julia Simner, Edward M. Hubbard (Hg.): The Oxford Handbook of Synesthesia, Oxford 2013, S. 761-789, hier: S. 766) Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 97.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

gene Stimmbandschwingung. Diese zeigt sich als Differenz zwischen hohen und niedrigen Schwingungsfrequenzen, wodurch höhere und tiefere Töne erzeugt werden.97 Als Drittes lässt sich die Beteiligung des Licht-/Farbsinns beim Lesen anführen. Dieser kann Farbdifferenzen im Text wahrnehmen und beteiligt sich durch die Unterscheidung von Hell und Dunkel an der Formwahrnehmung beim Lesen. Allerdings bedarf es dafür einer Synästhesie mit dem Bewegungs- und dem Bedeutungssinns, damit aus den schwarzen Gebilden schließlich Buchstaben werden. Analog dazu arbeitet viertens der Laut-/Klangsinn. Dieser unterscheidet akustische Qualitäten innerhalb der sprachlichen Tonproduktion und identifiziert sie mithilfe des Bedeutungssinns als Vokale und Konsonanten.98 Bei Letzteren unterscheidet man zwischen stimmhaft und stimmlos. Stimmhafte Laute erscheinen dabei als Summen, Surren oder Brummen. Dieses wird stets in Kombination mit einer Tonhöhe produziert. Stimmlose Laute dagegen wirken wie ein Rauschen oder Brausen. Ihnen fehlt eine Tonhöhe. Vokalen kommt über eine synästhetische Verbindung mit dem Tastsinn zusätzlich eine Klangfarbe zu. So klingen ›u‹ und ›o‹ dumpfer, ›e‹ und ›i‹ heller. Der Vokal ›a‹ dient dabei als Mittellage, also als Bezugspunkt für die Bewertung der anderen Vokale.99 Über Synästhesien mit anderen Sinnen wie dem Bewegungssinn können Vokale mit bestimmten Eigenschaften assoziiert werden. Beispielsweise lässt sich eine Verknüpfung zwischen dem langen ›ē‹ und der Vorstellung von Weite und Ausdehnung vornehmen.100 Von Lautmalerei spricht man schließlich, wenn die spezifischen Lautqualitäten der Konsonanten und Vokale genutzt werden, um natürliche Geräusche nachzuahmen.101 Zusätzlich nimmt der Laut-/Klangsinn die Lautstärke des eigenen lauten Lesens wahr, die in Zusammenarbeit mit dem Tastsinn gedeutet werden kann. So gelten hohe Töne in Sprachproduktion und -rezeption als Intensitätssteigerung gegenüber tiefen Tönen. Fünftens spielt beim Lesen noch der Tonsinn eine Rolle. Die von ihm erfasste Tonhöhe hat nämlich ebenfalls Anteil an der paraverbalen Sinnerzeugung beim lauten Lesen. Das Sprechen unterscheidet sich beispielsweise vom

97 98 99 100 101

Vgl. Ekkehard König, Johannes G. Brandt: Die Stimme, S. 112f. Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 159. Vgl. ebd., S. 160f. Vgl. ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 161.

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Das Lesen als Handlung

Rufen durch das Anheben des Tons um eine Oktave. Auch bei der starken Betonung eines Wortes bzw. eines Satzendes steigt bzw. fällt der Ton um eine Quinte. Beim Fragen wird die Tonhöhe der Stimme um eine Quarte erhöht. Dieses Intervall wird als weniger harmonisch und damit als auffälliger empfunden als die Quinte. Die Wiederholung derselben Tonhöhe, die Produktion einer Prime also, wirkt schließlich einprägsam oder nachdrücklich.102 Dass sechstens auch der Gedanken-/Bedeutungssinn großen Anteil am Lesen hat, klang bereits an. Denn dieser übersetzt Geräusche und Formen zeiträumlich in Sprachlaute und Sprachzeichen und bindet sie zu einem Text zusammen.103 Dabei ist die Dominanz der Wahrnehmung von sprachlicher Bedeutung beachtlich. Diese überdeckt nämlich für gewöhnlich die Tatsache, dass Sprache über Laute und Formen vermittelt wird.104 Schließlich hat der Gedanken-/Bedeutungssinn auch wesentlichen Anteil an der Anschauungsbildung beim Lesen, da er in der Vorstellung andere Wahrnehmungsvollzüge erinnert oder simuliert.105 Damit bewirkt er auch die Subvokalisierung, also das Vorstellen von Laut- und Klangeigenschaften beim stillen Lesen. Die Ausführungen zur Modalität des Lesens zeigen, dass dieses stets in eine komplexe Gesamtsinnesorganisation eingebunden ist, auch wenn dies im alltäglichen Vollzug leicht abgeblendet wird. Je intensiver jedoch die einzelnen Sinne arbeiten bzw. Synästhesien ausbilden, das heißt, je mehr Wahrnehmungsvollzüge am Lesen teilhaben, desto deutlicher zeigt sich, dass das Lesen im gesamten Körper verankert ist. Für ein ästhetisches Lesen gilt dies in besonderem Maße.

102 Vgl. ebd., S. 157. Ich gebe hier Scheurles Darstellung wieder, die sich lediglich auf den abendländischen Kulturraum bezieht (vgl. ebd., S. 158). Für den Bereich der Tonsprachen beispielsweise gälte es, Scheurles Darstellung zu ergänzen. 103 Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 163. 104 Vgl. ebd., S. 172. 105 Vgl. ebd., S. 168. Diese Ansicht wird auch von Ingarden geteilt. Dieser geht sowohl von einer äußeren als auch einer inneren Wahrnehmung aus. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 38, 55fn.) Dafür, dass der Bedeutungs-/Gedankensinn tatsächlich als innere Wahrnehmung arbeitet, spricht zudem, dass laut Ingarden Vorstellungen sogar so intensiv sein können, dass sie für real gehalten werden. (Vgl. ebd., S. 206.) Sowohl Ingarden als auch Scheurle entlehnen ihr Verständnis der inneren Wahrnehmung bei Husserl. (Vgl. ebd., S. 100 und vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 164.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

5.6.2

Bedeutungsschichten der Textwahrnehmung

Um die Vielzahl an möglichen Wahrnehmungsvollzügen, aus der die Gesamtsinnesorganisation des Lesens besteht, zu ordnen, können die Grundstrukturen des Eigenraums von Texten herangezogen werden. Vorschläge zu einer solchen Ordnung macht Roman Ingarden in seiner Monographie Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Hier führt er verschiedene Bedeutungsschichten ein, in die sich die Teilvollzüge des Lesens einteilen lassen: Erstens, so Ingarden, wird ein Text durch »die Schicht der Wortlaute und der sprachlichen Gebilde und Charaktere höherer Ordnung« konstituiert. Diese bezeichne ich im Folgenden verkürzt als Wahrnehmung des Sprachlauts. Zudem setze ich sie erst als zweite Kategorie ein, da sich zeigte, dass Schrift erst nach der Zuordnung von morphosyntaktischer und semantischer Bedeutung auch als Sprachlaut wahrgenommen wird. Die Sinnerzeugung vom Morphem hin zur Wort- und Satzbedeutung wiederum zählt laut Ingarden zur »Schicht der Bedeutungseinheiten«. Ich selbst werde im Folgenden von der basalen Schriftwahrnehmung sprechen. Die ersten beiden Bedeutungsschichten stehen der eigentlichen Sinnpräsentation von Texten am nächsten. Darüber hinaus führt Ingarden aber noch »die Schicht der schematisierten Ansichten«106 an. Darunter fasst er Ergänzungen, die zwar im Text angelegt sind, deren Konstitutionsleistung aber in erster Linie dem Leser zuzusprechen ist. Dies geschieht einerseits über die Konkretisierung der im Text stets nur unvollständig dargestellten Sachen und andererseits über einen Medienwechsel, innerhalb dessen ursprünglich sprachlich präsentierte Sinnzusammenhänge in Bilder, Töne oder auch andere sinnliche Eindrücke übersetzt werden können. Schließlich ist noch Ingardens »Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten«107 zu nennen. Damit ist gemeint, dass innerhalb des Lesevollzugs die lineare Sinnpräsentation des Texts aufgebrochen und in eine eigene gedankliche Ordnung, einen globalen Textsinn, überführt wird. Dies gilt zumindest für das aktive Lesen. Beim passiven Lesen wird dieser Vorgang laut Ingarden nur rudimentär ausgeführt.108 Insgesamt zeichnen sich die letzten beiden Teilvollzügen gegenüber ersteren also dadurch aus, dass der Leser hier weit über den eigentlichen, das heißt als Schrift vorliegenden Text hinausgeht. Dies ist

106 Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 10, Herv. d. Verf. Die zentralen Kapitel zu dieser Schicht stellen §11 und §12 dar. 107 Ebd., S. 10. Ingardens zentrale Kapitel zu dieser Schicht stellen §9 und §10 dar. 108 Vgl. ebd., S. 39.

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auch der Grund dafür, warum ich sie unter dem Titel komplexe Schriftwahrnehmung/Anschauung zu einer Kategorie zusammenfasse. In der unteren Tabelle sind noch einmal die Bedeutungsschichten in angepasster Reihenfolge und Bezeichnung aufgeführt. Tab. 4: Einteilung der Gesamtsinnesorganisation des Lesens Bedeutungsschichten der Textwahrnehmung 1) basale Schriftwahrnehmung 2) Wahrnehmung des Sprachlauts 3) komplexe Schriftwahrnehmung/Anschauung

Zwischen allen drei Bedeutungsschichten besteht ein »wesensmäßiger innerer Zusammenhang«109 . Die ihnen zugehörigen Teilvollzüge werden also stets in Abhängigkeit voneinander ausgeführt. Dadurch entsteht sowohl innerhalb als auch zwischen den Schichten ein komplexes Geflecht aus Sinnbezügen.110 Allerdings können nicht immer alle Bedeutungsschichten mit der gleichen Intensität realisiert werden. Je nach Lektürepraxis kommt es notwendig zum Weglassen, unvollständigen Konstituieren oder Überkonstituieren bestimmter Details des Texts.111 Beim informativen Lesen beispielsweise gilt die größte Aufmerksamkeit dem Bilden übergreifender Sinneinheiten, also der komplexen Schriftwahrnehmung. Die erste und zweite Schicht dienen dabei nur dem Durchgang zur dritten, sie werden nicht bewusst wahrgenommen. Beim philologischen Lesen dagegen findet eine komplementäre Schwerpunktsetzung statt. Hier geraten verstärkt die ersten beiden Schichten in den Blick. Dabei wird ihr Zusammenhang mit der letzten weniger betrachtet.112 Im Vergleich dazu lässt sich die ununterbrochene Erstlektüre, also die Lesepraxis, auf der hier der Fokus liegt, nicht eindeutig abgrenzen. Sie stellt nämlich eine übergeordnete Kategorie für Lektüren mit unterschiedlichem Schwerpunkt dar. In Abhängigkeit von der betrachteten Bedeutungsschicht werde ich in den folgenden Kapiteln entsprechend ganz verschiedene Teilvollzüge in den Fokus nehmen und beschreiben. Gemeinsam ist den Analysen lediglich, dass sie eine Erstbegegnung mit dem Text ohne Unterbrechung, also ohne reflexive Einschübe oder träumerisches Abschweifen, behandeln. 109 110 111 112

Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 92f.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Schließlich stellt das ästhetische Lesen eine noch weniger fest umgrenzte Kategorie dar. Es lässt sich gar nicht über die Bevorzugung oder Vernachlässigung bestimmter Bedeutungsschichten fassen. Grund dafür ist die hier angesetzte vollzugsmäßige Bestimmung, nach der ästhetisches Lesen einfach in einer besonders intensiven Vollzugsweise besteht. Demnach können das informative, das philologische, das ununterbrochene und auch jedes andere Lesen ästhetisch vollzogen werden.113

5.6.3

Basale Schriftwahrnehmung

Mit Christian Stetter lässt sich die Bedeutungsschicht der basalen Schriftwahrnehmung in drei weitere Teilschichten ausdifferenzieren: 1.1) Die erste Teilschicht betrifft die Wahrnehmung eines Worttyps. Dabei zeigt sich erneut, dass Sprache nur innerhalb ihres Vollzugs beschrieben werden kann. Betrachtet man Buchstaben nämlich außerhalb konkreter Äußerungen, präsentieren diese nichts anderes als einen Platz innerhalb einer Liste, wie man sie in Form von Wörter- oder Telefonbüchern realisiert findet. Das Alphabet ist so gesehen zunächst ein Sortierungsverfahren,114 das darüber entscheidet, dass die Buchstabenfolge ›b+a+c+k+e+n‹ innerhalb dieser Liste vor ›k+o+c+h+e+n‹ steht. Die Buchstaben sind hier lediglich Teil eines formalen Ordnungszusammenhangs. Genauso gut könnten sie durch Ziffern ersetzt werden. Sprachlichen Sinn tragen sie erst innerhalb ihres Gebrauchs, also als Teile von Wörtern, Sätzen und Texten. Innerhalb dieser werden die Schriftgebilde nicht nur in ihrem Bezug zum Alphabet, sondern auch zu verschiedenen orthographischen Registern wahrgenommen. Dazu zählen a) die Reihenfolge der Buchstaben und b) die Getrennt- und Zusammenschreibung. Gemeinsam legen diese fest, was innerhalb der deutschen Sprache als Wort gilt und was nicht. Geübte Leser können dabei kleine Druckfehler überlesen115 und sogar Texte mit massiven Buchstabenverdrehern verstehen, solange nur 113

114 115

Mit dieser Einschätzung weiche ich allerdings deutlich von Ingardens Anliegen in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks ab. Dieses weist nämlich eine normative Schlagseite auf. So versucht Ingarden, angemessene von weniger angemessenen ästhetischen Lesevollzügen zu unterscheiden, indem er die Konstitution einer sogenannten polyphonen Harmonie eines Werks als höchstes Ziel der Textrezeption ansetzt. Diese Differenz zwischen Ingardens und meinem eigenen Anliegen werde ich in einer Fundierung in Kap. 5.8 genauer ausführen. (Vgl. ebd., S. 92, 156, 189, 206.) Vgl. Sybille Krämer: ›Operationsraum Schrift‹, S. 50. Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 17.

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Das Lesen als Handlung

Anfangs- und Endbuchstabe an der richtigen Stelle stehen.116 Weitere orthographische Register stellen die c) Groß- und Kleinschreibung und d) die Zeichensetzung dar. Letztere beiden stellen bereits den Übergang zur zweiten Teilschicht der basalen Schriftwahrnehmung, der Syntax, dar. So wird die Groß- und Kleinschreibung bestimmter Wortarten vor allem als Unterschied zwischen Nomen und Nicht-Nomen wahrgenommen. Die Zeichensetzung hilft zudem dabei, Teile des syntaktischen Bedeutungsgefüges zu markieren, indem sie zum Beispiel Phrasen und Sätze voneinander trennt.117 Schließlich ermöglicht die Alphabetschrift noch eine Form der Sinnkonstitution, die über Stetters Beschreibung hinausgeht. Diese wird wesentlich durch die Digitalität der Schrift geprägt und lässt sich mithilfe von Werner Kogge als e) »Erscheinungsweise in der Fläche« beschreiben.118 Diese Flächigkeit darf aber keinesfalls mit der Analogizität eines Bildes verwechselt werden. Denn ein Medium, so Kogge, lässt sich immer nur relativ zu den Vollzügen bestimmen, die es präsentiert.119 Und da Texte nun einmal nicht wie Bilder betrachtet, sondern gelesen werden, unterscheidet sich auch ihre Flächigkeit von der eines Bildes.120 Für das Lesen von Schrift sind Aspekte wie die Größe der Buchstaben, die Dicke ihrer Linien, Farbe, Serifen oder auch die Beschaffenheit des Untergrunds nur in Ausnahmefällen relevant, nämlich dann, wenn sie nur wenigen Schriftzeichen zukommen, um diese von anderen Schriftzeichen abzuheben. Selbst hier kommt es also nicht auf die Qualität der Schrift116

Die kognitionspsychologische Leseforschung spricht hier vom sogenannten jumbledwords-Effekt. (Vgl. Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 21-45, hier: S. 25.) 117 Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 115. 118 Werner Kogge: Elementare Gesichter. Über die Materialität der Schrift und wie Materialität überhaupt zu denken ist, in: Susanne Strätling, Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 85-101, hier: S. 86. 119 Der Zusammenhang zwischen Textgestaltung und verschiedenen Lesepraktiken wird ausführlicher in der Typographie-Forschung untersucht. Diese arbeitet jedoch nicht nach vollzugsmäßigen Prämissen, sondern vertritt eine traditionelle zeichentheoretische Position, nach der sich Form und Inhalt trennen lassen. Als Leitperspektive dieser Forschung ergibt sich somit folgender Zusammenhang: »Visuelle Aussage und Textinhalt müssen übereinstimmen, um Irritationen zu vermeiden.« (Ralf de Jong: Typographische Lesbarkeitskonzepte, in: Ursula Rautenberg und Ute Schneider (Hg.): Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 233-256, hier: S. 252f. 120 Vgl. Werner Kogge: Elementare Gesichter, S. 85, 94. In diesem Sinne betont auch Stetter: »Medien gehören der Ordnung der Performanzen an«. (Christian Stetter: System und Performanz, S. 90.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

gestaltung, sondern lediglich auf ihre Differenz zur Durchschnittsgestaltung an.121 Das Prinzip der Digitalität bleibt somit erhalten. Ein durchgehend relevantes Element der Flächigkeit von Schrift ist dagegen ihre Anordnung in verschiedenen »Lagebeziehungen auf der Fläche«122 . Die unmarkierte Form stellen hier einfache Fließtexte dar. Ihre Worte werden von links nach rechts und von oben nach unten angeordnet. Dieser Aufbau erscheint dem Leser der lateinischen Buchstabenschrift als derart natürlich, dass sie schon gar nicht mehr als räumliche Qualität begriffen wird. Besser ersichtlich wird diese dagegen »in den Listen der Buchhaltung, den Kolumnen von Lexikoneinträgen und Einkaufszetteln, den Formeln der Chemie, der Mathematik und der Logik, den Notengebilden der Musik- und Tanzschriften, den tentativen und wilden Skizzen von Schriftzügen, Pfeilen, Rahmen in Arbeitsmanuskripten, Projektentwürfen und Korrekturfahnen.«123 Hier erfolgt die Anordnung der Buchstaben »nebeneinander, übereinander, nah beieinander, entfernt voneinander, verbunden miteinander, getrennt voneinander etc.«124 . Dabei gilt erneut, dass die Regeln für diese Lagebeziehungen nicht vorgängig als System gegeben sind. Vielmehr können sie sehr flexibel, je nach Ausdrucksbedarf, stetig weiterentwickelt werden.125 Dies ist auch der Grund dafür, warum die Flächigkeit von Schrift in Bezug auf das Verhältnis von Schrift und Sprachlaut eine Ausnahme darstellt. So werden oft graphematische Gestaltungen genutzt, deren Sinn nicht ohne Weiteres verlautbar wäre. Wollte man beispielsweise den semantischen Beitrag einer Fußnote zu einem Fließtext in den mündlichen Sprachgebrauch übertragen, bedürfte es komplizierter Umschreibungen. Und letztlich gälte, wie für jeden Medienwechsel, dass eine Eins-zu-eins-Übertragung nicht möglich ist. Die nicht zu verlautbaren Sinnanteile in der Fläche werden deswegen auch als Ideographie bezeichnet.126 Diese ergänzen die Sinnbezüge innerhalb der ersten Teilschicht der basalen Schriftwahrnehmung, die insgesamt darin besteht, Worttypen, einfache morphosyntaktische Zusammenhänge sowie eine Erscheinungsweise in der Fläche zu verstehen.127

121 122 123 124 125 126 127

Vgl. Werner Kogge: Elementare Gesichter, S. 93, 95. Ebd., S. 89. Ebd., S. 88f. Werner Kogge: Erschriebene Denkräume, S. 164. Vgl. ebd., S. 155. Vgl. Sybille Krämer: ›Operationsraum Schrift‹, S. 36f. Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 82f.

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Das Lesen als Handlung

1.2) Innerhalb der zweiten Teilschicht wird die syntaktische Umgebung eines Wortes erkannt. Sie entsteht dadurch, dass jeder Worttyp nur in Kombination mit bestimmten anderen Worttypen auftreten kann, das heißt, er wird als Teil von Konstruktionen oder als Ergänzung zu diesen gelesen. Hier wird also der Wortkontext wahrgenommen. 1.3) Neben syntaktischen sind aber, wie in Abschnitt 5.2 bereits dargestellt, auch noch weitergehende Verknüpfungen zwischen Wörtern denkbar, die ihren semantischen und pragmatischen Sinn128 ausmachen. Diese dritte Teilschicht innerhalb der basalen Schriftwahrnehmung erzeugt damit jene Zusammenhänge, die im Alltagsverständnis als Bedeutung eines Wortes gelten. Im Verband mit der zweiten Teilschicht ermöglicht sie es, ein jedes Wort in ein Verhältnis zu allen anderen Wörtern desselben Satzes, Texts oder sogar derselben Sprache zu setzten.129 Die verschiedenen Teilvollzüge, die ich unter 1.2) und 1.3) hier nur kurz andeute, machen in Wirklichkeit einen wesentlichen Anteil am Lesen aus. Sie stellen Teilvollzüge dar, deren enorme Komplexität jeweils einer gesonderten Untersuchung bedürfte. Im Rahmen meiner Arbeit, die exemplarisch die Vorteile einer vollzugsmäßigen Beschreibung des Lesens aufweisen will, ist dies jedoch nicht zu leisten. Hinzu kommt, dass die Forschung zu einem konstruktionsgrammatischen Gesamtüberblick über die deutsche Syntax und Semantik noch am Anfang steht. Für diesen müsste zunächst eine Übersicht der zentralen Konstruktionen des Deutschen erstellt werden, deren Zusammenhänge dann auf formal leere Prinzipien der sprachlichen Sinnkonstitution hin

128

129

Der Unterschied zwischen einer konventionellen merkmalssemantischen und einer vollzugsmäßigen Beschreibung von Semantik sei hier kurz am Beispiel derlexikalischen Analyse der Wörter ›Junggeselle‹x→∞ und ›Jungfer‹x→∞ angedeutet. Eine merkmalssemantische Dekomposition würde die beiden Wörter für eine präzise Beschreibung und Unterscheidung lediglich im Hinblick auf zwei Bedeutungskomponenten betrachten, nämlich die Oppositionen [männlich/weiblich] und [verheiratet/unverheiratet]. Als Ergebnis ließe sich eine Übereinstimmung in Bezug auf letztere und ein Unterschied in Bezug auf erstere Opposition feststellen. (Vgl. William Croft, D. Alan Cruse: Cognitive Linguistics, Cambridge 2004, S. 8f.) In Wirklichkeit ist unser semantisches Verstehen dieser beiden Wörter allerdings wesentlich komplexer. Man denke nur an die unterschiedlichen Konnotationen der Phrasen ›alte Jungfer‹ und ›eingefleischter Junggeselle‹ sowie daran, dass die Sprechweise von der ›eingefleischten Jungfer‹ eher ungewöhnlich erscheint. Eine vollzugsmäßige Beschreibung müsste diesen Bedeutungsnuancen Rechnung tragen. Vgl. Christian Stetter, S. 83f, 124, 244f.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

extrapoliert werden könnten. Viele wichtige Einzeluntersuchungen dazu liegen bereits vor,130 der Schritt hin zu einer globalen Konstruktionsgrammatik ist jedoch noch weit entfernt.131 Für die Leseforschung kommt erschwerend hinzu, dass eine Anwendung konstruktionsgrammatischer Prinzipien auf den Bereich der Schriftwahrnehmung bisher fehlt bzw. nicht einmal angedacht ist. Bisher kann sich eine vollzugsmäßige Beschreibung des Lesens deswegen nur auf vereinzelte allgemeine konstruktionsgrammatische Veröffentlichungen stützen. Dazu zählen die Ausführungen Joan Bybees, die vier Basisvollzüge annimmt, mit denen sie Erwerb, Produktion und Rezeption von Sprache erklären kann. Im folgenden Abschnitt werde ich diese zur Strukturierung der komplexen Schriftwahrnehmung heranziehen. Womöglich könnten aber auch Beschreibungskategorien für Konstruktionen, wie zum Beispiel ›Produktivität‹ oder ›Vererbungsrelationen‹, hilfreich sein, um die Wahrnehmung syntaktischer und semantischer Sinnbezüge in Texten zu beschreiben.132 Für die semantischen Anteile der basalen Schriftwahrnehmung ließe sich zudem Fillmores Frame Semantik fruchtbar machen, die der Erfassung und Analyse der Bedeutung von Konstruktionen dient.133 Diese könnte auch Aufschluss über die Wahrnehmung bildlicher Ausdrucksweisen geben. Zumindest das Verstehen konventioneller Tropen bewegt sich nämlich innerhalb des syntaktischen und semantischen Verstehens.134 Bisher finden sich 130 Gegenstand konstruktionsgrammatischer Untersuchungen sind zum Beispiel Argument-Strukturen (agent, patient, recipient etc.), Funktionen (Subjekt, Objekt etc.), Verbvalenzen oder diachrone Entwicklungen einzelner Konstruktionen. 131 Vgl. Alexander Ziem: Konstruktionsgrammatische Konzepte eines Konstruktikons, S. 20, 31. Einen Vorschlag zur langfristigen Umsetzung dieses Großprojekts macht Hans C. Boas: Zur Architektur einer konstruktionsbasierten Grammatik des Deutschen, in: Alexander Lasch, Alexander Ziem (Hg.): Grammatik als Netzwerk von Konstruktionen. Sprachwissenschaft im Fokus der Konstruktionsgrammatik, Berlin 2014, S. 37-63. 132 Vgl. Alexander Ziem: Konstruktionsgrammatische Konzepte eines Konstruktikons, S. 21-23, 26f. Ziem nennt noch zwei weitere allgemeine Prinzipien zur Beschreibung von Konstruktionen: Frequenz, also Verteilungshäufigkeit, und Entrenchment, also Grad der Verfestigung einer Konstruktion im Gedächtnis. Diese werden von Bybee im Konzept ihrer Basisvollzüge aber implizit mit umgesetzt. 133 Vgl. Hans C. Boas: Zur Architektur einer konstruktionsbasierten Grammatik des Deutschen, S. 44f. 134 Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 25, 45. Ein gebrauchsbasierter Ansatz zum Metaphernverstehen hätte den Vorteil, dass dieser die komplexere metaphorische Bedeutungspräsentation in ihrer Kontinuität zur einfacheren metaphorischen Bedeutungspräsentationen im Bereich der Syntax und lexikalischen Semantik

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allerdings auch zur Bildlichkeit kaum Ansätze, die mit einem Vollzugsdenken kompatibel sind.135 Neben diesen konstruktionsgrammatischen Ansätzen gibt es natürlich auch kognitionswissenschaftliche Modelle, die sich mit syntaktischem oder semantischem Lesen auseinandersetzen. Diese werden vor allem zur Analyse des Satzlesens genutzt und als Bottom-up- oder Top-downVerstehensprozess sowie als Kombination aus beiden modelliert.136 Allerdings genügen diese, wie ich in Abschnitt 5.9 weiter ausführen werde, nicht den Anforderungen einer vollzugsmäßigen Beschreibung. Sie müssten deswegen mithilfe der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik überarbeitet werden. Dabei ergäbe sich, im Gegensatz zur kognitionswissenschaftlichen Modellierung, dass Semantik und Syntax nur graduell voneinander verschieden sind.137 Beide werden beim Lesen nämlich über den Abgleich von Schriftzeichen mit erinnerten Konstruktionen und Ergänzungen erzeugt. Ihr Unterschied besteht lediglich darin, dass die sinnhaften Zusammenhänge, die die Syntax bestimmen, tendenziell häufiger auftreten als die der Semantik. Letztere entrückt den Leser also stärker in die Zeit und räumt einen weitläufigeren Raum ein. Die vollzugsmäßige Beschreibung der syntaktischen und semantischen Sinnkonstitution beim Lesen müsste entsprechend zeiträumliche Sinnverknüpfungen als Wechselwirkungen zwischen dem Text und dem sprachlichen Gedächtnis beschreiben.138

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betrachteten könnte. Damit entgeht er der Kritik, die gegenüber kognitiven Metapherntheorien häufig geäußert wird, nämlich dass diese eine »Tendenz zur Abwertung beziehungsweise Ausblendung der Sprache« zeigten. (Katrin Kohl: Metapher, Stuttgart, Weimar 2007, S. 119.) Die prominente Metaphern-Theorie von Lakoff/Johnson steht dem konstruktionsgrammatischen Ansatz immerhin theoriegenetisch nahe. (Vgl. William Croft, D. Alan Cruse: Cognitive Linguistics, S. 194-198.) Allerdings stellt sie keinen vollzugsmäßigen Ansatz dar, da sie über einen Subjekt-Objekt-Dualismus operiert. Hinweise zu einer vollzugsmäßigen Anpassung gibt Kohl. (Vgl. Katrin Kohl: Metapher, S. 123-128.) Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 23, 28-31. Denn Konstruktionen haben eine Form, sind also auf bestimmte Art und Weise strukturiert, und präsentieren über diese Struktur ihre Bedeutung, also syntaktische und semantische Sinnbezüge. Ingarden gibt hierzu leider keine weiteren Hinweise. Zwar nimmt er eine sogenannte satzbildende Operation an, stellt aber keine näheren Überlegungen zu dieser an. In seinen beiden Monographien zum literarischen Kunstwerk verweist er lediglich in Fußnoten darauf, dass diese noch genauer ausgearbeitet werden müsste. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 31 Fn. und vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1972, S. 107 Fn.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

2) Erst wenn ein Leser alle drei Teilschichten der basalen Schriftwahrnehmung durchlaufen hat, schließt sich die zweite Bedeutungsschicht des Texts an. Innerhalb dieser wird die Schrift, abgesehen von Ideographien, schließlich in eine Lautgestalt, also eine Erscheinungsform innerhalb der gesprochenen Sprache, überführt.139 Dabei wird der Sprachlaut entweder laut artikuliert oder in Gedanken vorgestellt.140 Wie komplex diese Zuordnung ist, zeigt sich am besten, wenn man geübte Leser beim Identifizieren eines unbekannten Wortes oder Erstleser beobachtet. Diese hangeln sich nämlich zuerst buchstabenweise durch das Wort, gehen jedoch sofort in ein flüssiges Lesen über, sobald sie den Sinn des Gesamtwortes erkannt haben. Hier zeigt sich erneut, dass Schrift zuerst morphosyntaktischen und semantischen Sinn und erst danach den Sprachlaut präsentiert. Damit stellt das bruchstückhafte Lesen also nur eine Übergangserscheinung dar. Genau in diesem Sinne betont auch Ingarden einen Unterschied zwischen dem Buchstabieren und dem flüssigen Lesen.141 Zwar erlaubt die Alphabetschrift jenes stockende Lesen einzelner Buchstaben, Lesen im eigentlichen Sinn ist damit jedoch nicht gemeint.142 Denn dieses erfasst stets ganze Worte und Sätze. Wie dabei vereinzelte Sprachzeichen in einen dichten Klang überführt werden, stelle ich ausführlich allerdings erst im nächsten Abschnitt dar. An dieser Stelle dient der Hinweis auf den Sprachklang nur dazu, die folgende Übersicht über die basale Schriftwahrnehmung in einem größeren Zusammenhang darzustellen. Die grauen Kästen geben dabei die Bedeutungsschichten an. Die weißen Kästen stehen für die sie verbindenden Vollzüge. Im Folgenden will ich die formal leere Beschreibung der basalen Schriftwahrnehmung an zwei Beispieltexten aus dem Bereich der Optischen Poesie konkretisieren. Unter diesem Begriff werden ganz verschiedene Formen der Dichtung (Visuelle Poesie, Konkrete Poesie, Kinetische Poesie, Musikalische Grafik) verhandelt. Alle zeichnen sie sich jedoch dadurch aus, dass sie überdurchschnittlich große Teile ihres Sinns in der Schrift verorten. Als Gegenbegriff zur Optischen Poesie kann entsprechend auch die Akustische Poesie

139 Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 83-85. 140 Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 272. 141 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 16, 19f. Besonders häufig findet sich dieser Hinweis auch bei Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 119, 264, 276, 271, 394. 142 Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 85, 133f.

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Abb. 1: basale Schriftwahrnehmung der Alphabetschrift

betrachtet werden.143 Für die folgenden Analysen wähle ich zwei Beispiele aus dem Bereich der Konkreten Poesie, da diese der klassischen Textform und damit dem eigentlichen Lesevollzug am nächsten steht. Allerdings geht es mir nicht darum, die wirkungsästhetischen Programme dieser Strömung detailliert zu behandeln.144 Es muss deswegen ein kurzer Hinweis darauf ausreichen, dass konkrete Poesie sich als Wechselwirkung zwischen Literatur und bildender Kunst beschreiben lässt.145 Dadurch liefert sie geeignete Textbeispiele, um verschiedene Facetten der Sinnkonstitution innerhalb der ersten drei Teilschichten der basalen Schriftwahrnehmung zu beschreiben und zu konkretisieren. Zugleich kann ich anhand der Beispiellektüren konkrete Hinweise darauf geben, wie sich ein intensives, also ästhetisches Lesen von einem alltäglichen unterscheidet. Der erste Text stammt von dem belgischen Künstler Paul de Vree aus dem Jahr 1969.146

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Vgl. Klaus Peter Dencker: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart, Berlin, New York 2011. S. 1, 34f, 39, 42. 144 Für einen Überblick über die Konkrete Poesie vgl. Kap. V in Klaus Peter Dencker: Optische Poesie; Kap. 5 in Monika Schmitz-Emans: Die Sprache der modernen Dichtung, München 1997 oder Eugen Gomringer: Theorie der konkreten Poesie. Texte und Manifeste 1954-1997, Gesamtwerk, 2 Bde., Wien 1995-2006, Bd. 2. 145 Vgl. Klaus Peter Dencker: Optische Poesie, S. 312. 146 Paul de Vree: revolutie, in ders.: Verzamelde Gedichten, Nijmegen 1979, S. 303.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Der Titel des Gedichts entspricht der präsentierten Buchstabenfolge, revolutie. Im Zusammenhang dieses Kapitels ist es interessant, weil es im Spannungsfeld alltäglicher und künstlerischer Schriftverwendung steht und dadurch die Bedeutungsschichten der basalen Schriftwahrnehmung in ein Spiel verwickelt. Einerseits wählt das Gedicht eine Ausrichtung innerhalb der Fläche, die ihren Anfang im oberen linken Bereich nimmt. Da dieser der typischen Verwendung der Alphabetschrift entspricht, ist er als Einstieg für den Lesevollzug eigentlich gut zu identifizieren. Zudem präsentiert der Text differenzierte Einzelzeichen, die sich durch eine gut lesbare Typographie auszeichnen. Andererseits unterläuft er jedoch zugleich das alltägliche Schriftlesen, indem er ideographische Anteile der Sinnkonstitution nutzt. So ordnet er die Buchstaben in einem geschlossenen Kreis an und verschiebt ihre untere Hälfte konzentrisch gegen die obere. Es entstehen ein innerer und ein äußerer Kreis. Zusätzlich wird das Auffinden des Wort- und damit des Lesebeginns erschwert, da ›revolutie‹ mit einem kleingeschriebenen ›r‹ beginnt und auf einem kleingeschriebenen ›e‹ endet. Versuchte man das Gedicht zum Beispiel ins Deutsche zu übersetzen, also das Wort ›Revolution‹ in analoger Weise anzuordnen, entfiele diese zusätzliche Verzögerung des Lesevollzugs, da Groß- und Kleinschreibung sowie die Folge zweier Konsonanten den Wortbeginn sehr deutlich markieren würden. Durch das finale ›e‹ ergibt sich zu-

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dem die Möglichkeit einer intensiveren Lesart, die über das reine Erkennen des Worttyps ›revolutie‹ hinausgeht. Die Schriftwahrnehmung kann dabei in eine Bildwahrnehmung übergehen. So entstehen durch das finale ›e‹ gewisse Symmetrien des äußeren Kreises entlang verschiedener Mittelachsen. Erstens lassen sich bei einer Mittelsenkrechten nämlich das finale ›e‹ und das ›o‹ sowie das ›i‹ und das ›l‹ aufeinander abbilden. Bei einer Mittelwaagerechten stehen sich zweitens ›e‹ und ›o‹, aber auch ›r‹ und ›t‹ sowie ›v‹ und eine Kombination von ›l‹ und der ersten Hälfte des ›u‹ gegenüber. Das Lesen des Gedichts wird also insgesamt in Richtung einer analogen Wahrnehmung entgrenzt und damit verzögert bzw. verlängert. Besonders deutlich zeigt sich dies am Buchstaben ›u‹ im äußeren Kreis. Dieser erscheint beim Lesen nämlich als differenziertes Einzelzeichen ›u‹, im Modus der Bildwahrnehmung dagegen als zwei getrennte Striche. Insgesamt ließe sich die Beschreibung des Lesevollzugs dieses Gedichts natürlich noch über die Sinnkonstitution der basalen Schriftwahrnehmung hinaus weiterführen. Ich will dies aber nur kurz andeuten, da die komplexe Schriftwahrnehmung später ausführlicher behandelt wird. Es sei deswegen nur kurz darauf verwiesen, dass das Heranziehen externer Kontexte hilfreich sein könnte, so zum Beispiel die Tatsache, dass sich das lateinische Wort ›revolutio‹ mit Umdrehung übersetzen lässt. Genauso ließe sich die obige Lesart in Beziehung zu theoretischen Bestimmungen der konkreten Poesie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts setzen. So umfasste diese Poetologien, die ein kreatives Ausloten der textlichen Medialität forderten, um darüber die alltägliche Rezeption von Schrift zu entautomatisieren.147 Das zweite Textbeispiel gehört ebenfalls in den Bereich der konkreten Poesie. Es stammt von Jürgen Becker und erschien 1960 unter dem Titel material 1.148 Beckers Gedicht macht sämtliche oben besprochene Aspekte der basalen Schriftwahrnehmung ausdrücklich, indem es konventionelle und unkonventionelle Verwendungsweisen miteinander kombiniert bzw. zwischen diesen oszilliert. Der Übersichtlichkeit halber werde ich bei meiner Lektüre zu Beginn jedes Absatzes angeben, auf welche Bedeutungsschicht innerhalb der basalen Schriftwahrnehmung ich mich beziehe. Schicht 1.1: In Bezug auf die Wahrnehmung der Worttypen fällt zunächst auf, dass das Gedicht vollständig auf eine Groß- und Kleinschreibung ver147 Vgl. Klaus Peter Dencker: Optische Poesie, Kap. V.6. 148 Jürgen Becker: material 1, in: Hans Bender (Hg.): Junge Lyrik 1960. München 1960, S. 54.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

zichtet. Dadurch entfällt die Markierung von Nomen, wodurch an vielen Stellen ein mehrdeutiges Lesen ermöglicht wird. Das Ordnungsprinzip der Buchstabenreihenfolge wird dagegen in weiten Teilen des Gedichts konventionell umgesetzt. Es werden Worttypen wie ›still‹n→∞ , ›geschwür‹n→∞ , ›himmel‹n→∞ , ›ende‹n→∞ usw. präsentiert. Allerdings gibt es auch Ausnahmen. »e«, »z(w)isch-t« und »nd« (Z. 8, 9, 15) sind keine deutschen Wörter. Mit der Getrennt- und Zusammenschreibung und der Zeichensetzung verhält es sich analog. In Bezug auf Erstere stehen konventionelle Schreibweisen ungewöhnlichen Buchstabenfügungen wie »still/e‹, ›z(w)isch-/en‹ oder ›wi-/nd still« (Z. 9/10, 14/15) gegenüber. Mit Bindestrichen, Leerstellen und Zeilensprüngen werden Worttypen dabei aufgetrennt, bleiben aufgrund der Buchstabenreihenfolge und der räumlichen Anordnung jedoch weiterhin als diese erkennbar. Allerdings kann es auch zu Ambiguierungen kommen. So lässt sich »wi-/nd still!« (Z. 14/15) aufgrund der fehlenden Groß- und Kleinschreibung erstens als der Worttyp ›windstill‹n→∞ , zweitens als Ellipse des Deklarativsatzes ›Der Wind ist still.‹ sowie drittens als Imperativsatz ›Wind, (sei) still!‹ lesen. Die vorhandene Zeichensetzung stellt dabei lediglich einen groben Orientierungsrahmen für das Lesen des Gedichts dar. Zwar werden durch Kommas, Punkte, Frage- und Ausrufezeichen einige Satzgrenzen markiert. Zugleich gibt es aber auch eine Zeichensetzung innerhalb

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von Wörtern, die uneindeutige Sinnzusammenhänge stiftet. Beispielsweise oszillieren »wi-nd« und »glänz-t« (Z. 1, 3) zwischen einer konventionellen und einer nicht konventionellen Verwendungsweise. Einerseits zeigen die Bindestriche hier nämlich keine wie sonst üblichen Wort- oder Silbengrenzen an. Sie könnten also einfach überlesen werden. Andererseits markieren sie aber trotzdem einen möglichen Zeilensprung. Folgt man diesem, ergeben sich die beiden neuen Wörter »wi-/e« und »glänz-/ende(s)« (Z. 1/2, 3/5). Ähnlich verhält es sich mit den beiden wortinternen Klammern (Z. 5, 9). Auch diese orientieren sich zwar am normalen Schriftgebrauch, weiten ihn aber aus. Wie gewöhnlich kennzeichnen die Klammern nämlich eine mögliche Auslassung, hier einzelner Buchstaben. So muss in Zeile neun je nach Kontext entweder »z[…]isch-t« oder »z(w)isch/en« gelesen werden. Die Klammer in Zeile fünf verlangt sogar noch mehr Kreativität. Entweder liest man hier »glänz-/ende […] Vögel« und muss dabei das in der Mitte stehende ›u‹ überspringen. Oder man liest »glänz-/ende(s)/aluminum«, indem man hinter der Klammer einen nicht eindeutig markierten Zeilensprung vollzieht. Interessant ist, dass die vergleichsweise schwerer aufzulösende Klammerschreibweise früher im Text auftaucht. Somit ist sie vermutlich nicht im ersten Lektüredurchgang aufzulösen. Erst wenn der Leser die zweite Klammerschreibweise sinnvoll erlesen hat, kann er entweder zur ersten zurückkehren oder einen zweiten Lektüredurchlauf starten. Es wird also die Linearität des Texts aufgebrochen oder eine Mehrfachlektüre erzwungen. Schließlich gilt auch für die Erscheinungsweise in der Fläche, dass das Gedicht konventionelle mit unkonventionellen Verwendungsweisen kombiniert. So wird ein Großteil der Worte in waagerechten Zeilen angeordnet, die von links nach rechts verlaufen. Allerdings weisen diese teilweise große Lücken und in Zeile vier und fünf sogar überschüssige Buchstaben auf, die es zu überspringen gilt. Zusätzlich dazu verwendet das Gedicht zwei horizontale Ausrichtungen. Im ersten Fall stehen die beiden Buchstaben »n« und »u« (Z. 4/5) ohne Bezug zu den anderen Wörtern des Texts untereinander. Sie sind nicht Teil einer Phrase oder eines Satzes. Möglicherweise lassen sie sich aber in Beziehung zum zweiten senkrecht gedruckten Wort »Z/E/I/T« (Z. 10-13) setzen, wenn man sie als Adverb ›nu‹ bzw. als Nomen ›Nu‹ liest. In beiden Fällen würde die Kürze der »Z/E/I/T« betont. Allerdings gibt es für diese Beziehung keinen syntaktischen Anhaltspunkt. Sinn entsteht durch eine lose Assoziation, nämlich durch die semantische Nähe der beiden waagerechten Wörter. Im Gegensatz zu »n/u«, dessen räumlicher Zusammenhang auch für zufällig befunden werden könnte, wird die Verbindung der Buchstaben in

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

»Z/E/I/T« zusätzlich typographisch stabilisiert. Denn »Z/E/I/T« wird durch Großdruck und Leerstellen aus vier waagerecht verlaufenden Textzeilen herausgehoben. Dabei ist die Darstellungsweise so prägnant, dass sie das normale waagerechte Lesen sogar stört. Das hohe Maß an Vollendung dieser Sprachspielerei zeigt sich daran, dass der erste Buchstabe »Z« ein Akrostichon, die mittleren beiden »E« und »I« ein Mesostichon und der letzte »T« ein Telestichon darstellen. Noch interessanter ist allerdings der zusätzlich zu einer waagerechten und senkrechten Anordnung präsentierte Mittelweg einer diagonalen Ausrichtung des Texts. So gibt es zwei Zeilen, die von links oben nach rechts unten verlaufen: »flirr/ende/vögel/regen/die/luft.« sowie »glänz/ende(s)/aluminium/schlitzt die/luft.« (Z. 3-8). Beide enden auf dasselbe Wort »luft«. Befolgt man die Standardregel beim Lesen von kontinuierlichen Texten, nach der ein Wort nur einmal gelesen werden darf, stehen sie damit in Konkurrenz zueinander. Der Leser muss sich für eine der unvereinbaren Alternativen entscheiden. Beachtet man zudem, dass pro Zeiteinheit nicht mehr als ein Wort gelesen werden darf, stehen die diagonalen Zeilen sogar zusätzlich in Konkurrenz zu den waagerechten. So kann entweder »gänz-t und flirr-t.« oder »glänz/ende(s)/aluminium/schlitzt die/luft.« oder »glänz-t und flirr-/ende/vögel/regen/die/luft.« gelesen werden. Nicht jedoch könnten alle drei Varianten auf einmal realisiert werden. Insgesamt präsentiert die Anordnung in der Fläche so unzählige Ideographien. Ein lineares Lesen muss sich hier zwischen verschiedenen Richtungen entscheiden, ohne jedoch versprachlichen zu können, dass es noch andere gäbe. Alternativ fordert der Text ein vor- und zurückspringendes Mehrfachlesen der konkurrierenden Zeilen ein. Schicht 1.2: Die vorangehende Beschreibung der Wahrnehmung von Beckers Gedicht deutete bereits an, dass die syntaktischen Verknüpfungen gewöhnliche Verwendungsweisen deutlich erweitern. Am Beispiel von »wi-/nd still!« wurde beispielsweise erläutert, dass aufgrund der fehlenden Großund Kleinschreibung gar nicht eindeutig entschieden werden kann, welcher grammatische Zusammenhang zwischen den Wörtern herrscht. Noch komplizierter wird es jedoch, wenn alternative syntaktische Umgebungen für ein und dasselbe Wort angeboten werden. Zwar besteht das Gedicht insgesamt nur aus zwei bis drei Sätzen, deren Anfänge nicht eingerückt und damit deutlich markiert sind.149 Je nach Wahl der syntaktischen Umgebung können 149 Zeile 3 lese ich nicht als eigenständigen Satz, da ihm das Subjekt fehlt. Er stellt also eine Verlängerung von Zeile 1 dar.

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diese aber ganz unterschiedlich gebildet werden. So könnte man ab Zeile eins »wi-nd still?« oder alternativ »wi/e ein geschwür sticht der himmel/und glänz-t und flirr-t.« lesen. Und auch ab der dritten Zeile bieten sich zwei verschiedene Satzzusammenhänge an. Denkbar wären die Lesarten »und glänz/ende/vögel« und »und glänz-t und flirr/ende/vögel/regen/die/luft.« Deutlich gesteigert wird dieses Prinzip noch in der zweiten Hälfte des Gedichts. Hier werden die alternativen syntaktischen Umgebungen nicht nur durch Zeilensprünge voneinander abgegrenzt, sondern bestehen sogar innerhalb einer Zeile. Zudem zeigen die meisten Sätze eine zweifelhafte Grammatik. Noch recht eindeutig beginnt der Satz150 »still/raucht die heide« (Z. 8/9). Dieser lässt sich erweitern mit »heiser z[…]isch-t gras.« Allerdings gäbe es auch alternative Anschlussmöglichkeiten, die wesentlicher komplexer sind, da sie vom Standarddeutschen abweichen. So könnte man auch folgendermaßen lesen: »still/raucht die heide‹ heiser z(w)isch/en Z eichen/z E igen/s I ch/dor T« (Z. 8-13). Beim Ausdeuten bereiten nicht nur die syntaktischen Unregelmäßigkeiten, sondern auch die typographische Gestaltung Schwierigkeiten. Deswegen werde ich vorübergehend auf eine genaue Zitation verzichten. Somit ließe sich ab Zeile acht lesen: ›Still raucht die Heide, heiser[e] Zwischenzeichen zeigen sich dort, wo…‹. ›heiser‹ wird hier als Ellipse von ›heisere‹ und ›Zwischenzeichen‹ als das Bezugsnomen gedeutet. Weiter anschließen ließen sich dann mit: ›wo wie ein Geschwür sticht der Himmel.‹ (Vgl. Z. 13/14) Insgesamt erhält man so: ›heisere Zwischenzeichen zeigen sich dort, wo wie ein Geschwür sticht der Himmel.‹ Trotz der Auflösung bleibt jedoch ein Problem mit der Satzstellung bestehen. Im Standarddeutschen müsste nach der Konjunktion ›wo‹ das Prädikat nämlich an letzter Stelle stehen. Alternativ soll deswegen noch eine zweite Lesart erprobt werden: ›still raucht die Heide, heiser. Zwischen Zeichen zeigen sich dort: …‹. ›heiser‹ wird hier als Bezugswort zu ›raucht‹ oder ›Heide‹ gelesen und vom zweiten Teil durch einen Punkt abgetrennt. Der sich anschließende Satz wäre sogar grammatikalisch vertretbar: ›Zwischen Zeichen zeigen sich dort…‹ Allerdings fehlte in dieser Lesart das Objekt und damit eine Antwort auf die Frage, was sich dort eigentlich zeigt. Egal wie man die zweite Hälfte des Gedichts also

150 Der zweite Satz kann nur mit ›still‹ beginnen, wenn der erste Satz nicht auf ›still e luft‹ endet. Ist Letzteres der Fall, stellen ›wi-e ein geschwür sticht der himmel.‹ oder ›wi/nd still!« den zweiten Satz des Gedichts dar. Dies gilt zumindest, solange man dem Gestaltungsprinzip von Texten folgt, nach dem kein Wort innerhalb eines Texts doppelt gelesen werden darf.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

phrasiert, stets entzieht sich das, was es einem zu sehen aufträgt. In der ersten Lesart ist von rätselhaften ›Zwischenzeichen‹ die Rede, in der zweiten fehlt das zu Sehende sogar völlig. Schicht 1.3: Drittens lässt sich die semantische Sinnkonstitution betrachten. Bereits der erste Satz »wi-nd still?«, und zwar egal in welcher Lesart, deutet darauf hin, dass es um den Themenkreis Wetter gehen könnte, auch wenn außer »wi-nd« und »wi-/nd« in der ersten und (vor-)letzten Zeile keine direkten Wetterbegriffe mehr verwendet werden. Dennoch liest sich der Rest des Gedichts in seinen verschiedenen Varianten als Wahrnehmung einer Wetterlage aus der Ersten-Person-Perspektive. Verschiedene Verben wie ›stechen‹, ›glänzen‹, ›flirren‹ und ›rauchen‹ (vgl. Z. 2, 3, 9) verweisen auf große Helligkeit und Hitze. Die Metapher des ›wie ein Geschwür stechenden Himmels‹ (vgl. Z. 2) lässt sie unangenehm erscheinen. ›Himmel‹, ›Vögel‹ und ›Luft‹ (vgl. Z. 2, 5, 8) richten den imaginären Blick nach oben. Und sogar das ›glänzende Aluminium‹ (vgl. Z. 5/6) lässt sich in diese Richtung deuten. Denkbar wäre ein vorbeifliegendes Flugzeug. Insgesamt scheint das Gedicht also die Wahrnehmungssituation einer Himmelsbetrachtung im Hochsommer festzuhalten. Die eher assoziativ aneinandergereihten Eindrücke sowie die uneindeutigen Satzzusammenhänge versinnbildlichen den geblendeten Blick des Himmelsbetrachters, der bei keiner Sache lange verweilen kann, da ihre schemenhaften Umrisse ineinanderfließen. Die Deutung zeigt dabei exemplarisch, was zuvor über das semantische Verstehen behauptet wurde. Der sinnhafte Zusammenhang zwischen sprachlichen Zeichen wird gegenüber einem syntaktischen Verstehen noch einmal deutlich ausgeweitet. Zugleich bestehen Übergänge zur komplexen Textwahrnehmung, die Sinn ergänzt, der gar nicht im Geschriebenen präsentiert wird. Dies gilt auch für zwei weitere mögliche Deutungen. So präsentiert das Gedicht einen weniger thematisch ausgerichteten Sinn, wenn man seinen Titel mit in Betracht zieht. material 1 verweist dann auf eine unfertige, fragmentarische Leseweise, die das Gedicht selbst abverlangt. Deswegen lässt es auch erst nach mehreren vollständigen und unvollständigen Lektüredurchläufen die Bildung von Sätzen zu. Und selbst, wenn der Leser bis zu dieser Bedeutungsschicht vordringt, muss er sich immer noch den vielen unauflösbaren Ambiguitäten stellen, die das Fehlen von Groß- und Kleinschreibung, die über- und zugleich unterdeterminierende Syntax sowie die räumliche Gestaltung bewirken. Durchgehend zeigt das Gedicht damit einen zentralen Grundzug in der Sprache – dass diese nämlich niemals nur Regelerfüllung, sondern immer auch Schöpfung ihrer selbst ist. Zugleich ergibt sich so eine dritte Deutung. Denn das Gedicht präsentiert auch den Unter-

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schied zwischen ästhetischem und alltäglichem Lesen. So liegt der äußerste Grenzwert des Letzteren vor, wenn der Leser die Bedeutungsschichten des Gedichts nur rudimentär realisiert. Eine derart einfache Lesart könnte zum Beispiel nur die beiden Sätze »wi-nd still? […] wi-/nd still!« (Z. 1, 14/15) wahrnehmen und den Rest des Wortmaterials als unzugänglich abschreiben. Ästhetisch dagegen würde das Lesen, wenn es sich in das Gedicht verwickeln ließe, also die Sinnangebote mit früherem Verstehen verknüpfte, um so Zusammenhänge herauszulesen, die alltäglich übersehen werden. Buchstaben und Satzzeichen würden an-, zusammen-, gegeneinander- oder auch umgelesen, so wie es die obige Lektüre vorgemacht hat.

5.6.4

Wahrnehmung des Sprachlauts

Die gesprochene Sprache wird durch zwei Vollzüge konstituiert.151 Erstens zählt dazu das Sprechen. Zweitens ist dieses gleichursprünglich auf das Hören und damit einen Anderen ausgerichtet.152 Dabei ist es wichtig, dass beide Vollzüge gleichberechtigt sind, Sprechen also nicht das aktive Pendant zum passiven Hören darstellt.153 Beim Lesen können Sprechen und Hören auf zweierlei Weise miteinander verknüpft werden. Zum einen ist an das laute Lesen zu denken, bei dem der Leser spricht und dabei die eigene Stimme hört. Eine Variante davon ist das leise Lesen, bei dem die eigene Stimme vorgestellt wird. Zum anderen gibt es das Vorlesen, bei dem der Leser seine Stimme erhebt und ein Anderer diese vernimmt. In beiden Fällen präsentiert die Stimme die Identität des Sprechenden auf unterschiedliche Art und Weise,154 allerdings gibt es mehr Parallelen, als sich zunächst vermuten lässt.155 Denn auch das Lesen ohne Zuhörer darf nicht als die absolute Präsenz des eigenen Ichs 151

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Indem ich die mündliche Sprache vollzugsmäßig auffasse, stelle ich mich gegen Ansätze, die in der Stimme Sinnüberschüsse suchen. So z.B. bei Mladen Dolar: Sechs Lektionen über Stimme und Bedeutung, in: Brigitte Felderer (Hg.): Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004, S. 199-222, hier: S. 205f, 219. Vgl. Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz: Einleitung, in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 7-15, hier: S. 11. und Bernhard Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes, in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 19-35, hier: S. 19. Vgl. Doris Kolesch: Die Spur der Stimme, S. 272f. Entsprechend unterscheidet auch Waldenfels zwischen einem Sich-sprechen-Hören und einem Sich-angesprochen-Fühlen. (Vgl. Bernhard Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes, S. 22-25.) Vgl. Doris Kolesch: Die Spur der Stimme, S. 267, 270.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

bzw. der eigenen Seele missverstanden werden.156 Das Vernehmen der eigenen Stimme vollzieht sich genauso wie das Vernehmen eines Anderen gleichursprünglich als Verstehen und Nicht-Verstehen. Beispielsweise nehmen daran mehrere Sinne teil, deren Eindrücke sich nie restlos ineinander überführen lassen. Insbesondere besteht ein Widerstreit zwischen dem Tastsinn, der schwerpunktmäßig für die Stimmproduktion verantwortlich ist, und dem Ton- sowie Laut-/Klangsinn, die das Hören bestimmen.157 Dadurch kann die eigene Stimme überraschen, fremd klingen oder auch versagen. Man spürt eine Art Differenz zu sich selbst, vor allem, wenn das Sprechen technisch verstärkt wird.158 Dennoch wird die Situation komplexer, wenn zwei oder sogar mehr Personen im Spiel sind. Dies zeigt sich daran, dass das Hören eines Anderen meist von emotionalen Reaktionen begleitet wird.159 Entsprechend wurde Roland Barthes’ Feststellung, dass es »keine menschliche Stimme auf der Welt [gäbe], die nicht Objekt des Begehrens […] oder des Abscheus«160 wäre, zu einem Gemeinplatz der medientheoretischen Stimmforschung. Damit stellt die Verschränkung von Sprechen bzw. Lesen und Hören insgesamt ein komplexes Phänomen dar. Deswegen werde ich meinen Gegenstandsbereich auf die Vollzüge des lauten und in Gedanken stimmlich begleiteten leisen Lesens beschränken. Die Bezugnahme auf ein Publikum würde den Kreis der Untersuchung zu sehr ausweiten. Allerdings kann die Beschreibung entsprechender Vollzüge, wie das Hören von Lesungen oder Hörbüchern, auf der folgenden Bestimmung aufbauen.161 156 157

Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a.M. 2013, S. 24f. Für eine sprachwissenschaftliche Beschreibung der Selbstüberwachung des eigenen Sprechens siehe Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 41. 158 Diese gefühlte Selbstentzweiung ist jedoch kein einmaliges Phänomen in unserer Wahrnehmung. Analoge Effekte zeigen sich auch, wenn man die eigene Bewegung in einem Spiegel überprüft (vgl. Bernhard Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes, S. 24.), wenn man das Gefühl hat, aus dem Takt zu kommen oder nicht dazu in Lage ist, eine Melodie laut zu summen, obwohl das innere Ohr sie korrekt hört. 159 Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 31. 160 Roland Barthes: Die Musik, die Stimme, die Sprache, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 279-285, hier: S. 280. und vgl. Doris Kolesch: Die Spur der Stimme, S. 267, 276 und Waltraud Wiethölter: Stimme und Schrift, S. 19. 161 Weiterführende systematische und historische Forschung zum Hören bieten zum Beispiel: Lothar Müller (Hg.): Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka, Berlin 2007; Veit Erlmann: Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010; Marcel Krings (Hg.): Phono-Graphien. Akustische Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur von 1800 bis zur Gegenwart, Würzburg 2011; Natalie Bin-

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Bisher habe ich sehr allgemein darauf hingewiesen, dass die gesprochene Sprache ein analoges Medium darstellt. Jetzt will ich dies konkretisieren: Die Sinnpräsentation der mündlichen Sprache erfolgt über eine kontinuierliche Modulation der menschlichen Stimme.162 Dennoch stellen sich das Alltagsverständnis und ein Großteil der Sprachwissenschaft die gesprochene Sprache als Aneinanderreihung diskontinuierlicher Einheiten vor, weil sie in ihrem Denken wesentlich von der Schrift dominiert werden.163 In Analogie zur Alphabetschrift werden somit Einzellaute postuliert, die im Sprachlaut eigentlich nie isoliert auftreten.164 Vollzugsmäßig gedacht stellen diese lediglich theoretische Konstrukte dar, die entstehen, wenn der Sprachlaut nicht als Ganzer, sondern nur durch bestimmte Energiemaxima beim Sprechen abgebildet wird. Mithilfe eines digitalen Schemas werden die Einzellaute dann noch eindeutig nach den Kategorien Sonorität und Hemmung165 klassifiziert.166 Mit allem, was zwischen diesen Maxima liegt, tut sich die Sprachwissenschaft dagegen schwer. Letztlich betrachtet sie somit immer nur die Spitze des sprachlautlichen Eisbergs. Deswegen fordert Stetter eine Reästhetisierung ihrer Beschreibungspraxis.167 Als erster Schritt in eine solche Richtung können Forschungsansätze zu sogenannten prosodischen oder suprasegmentalen Merkmalen der Sprache betrachtet werden,168 die es seit den czek, Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens. Paderborn 2014 und das DFG-Netzwerk »Hör-Wissen im Wandel. Zur Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne« (Vgl. Daniel Morat: Forschernetzwerk »Hör-Wissen im Wandel«. www.hoer-wissen-im-wandel.de/(05.08.2019).) 162 Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 55f. 163 Vgl. ebd., S. 4, 58 und Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 23 und Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz: Einleitung, S. 8. 164 Ein Blick auf Oszillo- bzw. Spektrogramme, die Lautstärke bzw. die Lautstärke und Tonmelodie akustischer Signale visualisieren können, beweist dies eindrücklich. (Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 107f Fn und Pia Bergmann: Laute, S. 47.) 165 Sonorität erzeugt Vokale, Nasale und Approximanten. Die Hemmung der Ausatemluft erzeugt als Rauschen Frikative oder als Knallen Plosive. (Vgl. ebd., S. 48-51.) 166 Vgl. Christian Stetter: Stimme und Schrift, in: Waltraud Wiethölter, Hans-Georg Pott, Alfred Messerli (Hg.): Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität, München 2008, S. 115-131, hier: S. 120. 167 Eine solche »linguistische[…] Ästhetik« kommt laut Stetter »fast einem Umsturz der kategorialen Ordnung der modernen Sprachwissenschaft gleich.« (Christian Stetter: System und Performanz, S. 62, 65.) 168 Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 56. Für die Literaturwissenschaft ist die gesprochene Sprache innerhalb von Rezitationen seit Eduard Sievers Studien zur Schallanalyse in den 1910ern für textkritische Fragen von Nutzen. (Vgl. Reinhard

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

1950er und noch breiter aufgestellt seit den 1980er Jahren gibt. Die von ihnen verwendeten Kategorien können je nach Lehrbuch leicht voneinander abweichen. Grundlage der folgenden Ausführungen ist eine Einteilung nach Johannes Schwitallas Einführung Gesprochenes Deutsch,169 die sechs Suprasegmentalia unterscheidet.

Abb. 2: Suprasegmentalia in der gesprochenen Sprache

Dennoch bedeutet die Annahme suprasegmentaler Merkmale nicht automatisch ein grundsätzliches Umdenken innerhalb der Sprachwissenschaft. Meist werden diese nämlich lediglich als Ergänzung zu den Einzellauten, also als ihr Zwischen- oder Überbau, behandelt.170 Eigentlich stellen SupraKiefer: Art. »Sprachmelodie«, in: Ludwig Fischer (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Stuttgart, Weimar 1998, Sachteil Bd. 8, S. 1692-1698, hier: S. 1696f.) 169 Es gibt für diesen Bereich insgesamt wenig Überblicksliteratur. Ich habe mich für Schwitallas Einführung entschieden, da sie Stetters Vorbehalte gegenüber einer schriftzentrierten Sprachforschung teilt. Zudem wird die Einführung in einer Rezension gegenüber anderen als »umfassend« und »ausgezeichnet gelungen« gelobt. (Vgl. Harald Baßler Rezension zu Johannes Schwitalla. Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 17 (1998) H. 2, S. 269-272, hier: S. 269.) Dies dürfte erst recht für die von mir verwendete 4. Auflage gelten, die Schwitalla erneut um aktuelle Forschungsergebnisse ergänzt. 170 In sprachwissenschaftlichen Lexika werden Suprasegmentalia auf der Basis von Phonemen und nicht anders herum definiert, z.B. in Hadumod Bußmann: Art »Prosodisches Merkmal«, in: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart: Alfred Kröner 2002. S. 543 und Hadumod Bußmann: Art »Suprasegmentales Merkmal«, in: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart: Alfred Kröner 2002, S. 669.

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segmentalia innerhalb der gesprochenen Sprache aber die ursprünglichere Kategorie dar. Eine angemessene Beschreibung müsste deswegen diese und nicht Einzellaute als Ausgangspunkt nehmen. Denn Einzellaute lassen sich zwar aus einem sprachlichen Kontinuum herausschälen. Einen Weg zurück zu ihrer klanglichen Fülle gibt es dann aber nicht mehr.171 Die Erforschung gesprochener Sprache, die mir im Folgenden als zentraler Orientierungspunkt dient, steht somit vor dem Grundproblem, dass sie sich nicht auf die etablierten sprachwissenschaftlichen Theorien gründen kann.172 In weiten Teilen fehlt es ihr deswegen noch an geeigneten Grundbegriffen und Untersuchungsinstrumentarien.173 Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass ein Großteil der Forschung zur gesprochenen Sprache bisher an gelesenen, nicht aber an frei produzierten Äußerungen vorgenommen wurde. Oder es werden weiterhin möglichst eindeutige Form-Funktions-Beziehungen gesucht.174 Diese sind allerdings problematisch, weil Suprasegmentalia immer auf mehrere sprachliche Signale zurückzuführen sind. Die Merkmalsbündel weisen entsprechend relevante, aber auch redundante und irrelevante Merkmale auf, die ausgetauscht oder getilgt werden könnten, ohne dass der sprachliche Ausdruck dadurch unkenntlich würde. Daraus folgt, dass Suprasegmentalia text- und sprecherabhängig und damit nicht vollständig regelhaft geformt werden.175 Genauso wenig sind sie jedoch vollkommen vage in ihrer Bedeutung.176 Vielmehr werden sie, wie jede sprachliche Präsentation, als Verschränkung von Singularität und Sinnkontinuität gebildet. Ein einmaliger sprachlicher Laut wird auf unzählige geclusterte sprachliche Erinnerungen bezogen und darüber mit Sinn aufgeladen. Die Bezugnahme 171 172

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Vgl. Christian Stetter: System und Performanz, S. 120. Dazu bemerkt auch Barthes: »diese Phonetik schöpft die Signifikanz nicht aus (sie ist unerschöpflich)« (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 269-278, hier: S. 274.) »Die menschliche Stimme ist […] ein Ort, der sich jeder Wissenschaft entzieht, da es keine Wissenschaft gibt (Physiologie, Geschichte, Ästhetik, Psychoanalyse), die der Stimme gerecht wird« (Roland Barthes: Die Musik, die Stimme, die Sprache, S. 280.) Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo konversationeller Alltagssprache, S. 78; Schwitalla schlägt z.B. die folgenden Grundkategorien vor: Sprecherwechsel, Gliederungssignale, Höreräußerungen, Reparaturen und Gesprächsstrukturen. (Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 23.) Vgl. Eberhard Stock: Text und Intonation, in: Sprachwissenschaft 21 (1996), S. 211-238, hier: S. 219. Vgl. ebd., S. 215-217. Dies zeigen Untersuchungen zur Intonation. (Vgl. ebd., S. 221, 230.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

ist dabei besonders komplex, da Suprasegmentalia ein analoges Medium darstellen. Stetter spricht deswegen auch von einer unendlichen Genauigkeit der Bedeutung suprasegmentaler Eigenschaften,177 wodurch sie sich schwerer in Form-Funktions-Beziehungen zwängen lassen als die digitalen Einheiten der Schrift. Insgesamt ergibt sich für die Wahrnehmung und Präsentation gesprochener Sprache damit zweierlei: Erstens stellen Suprasegmentalia nicht messtechnisch eindeutig erfassbare Einheiten, sondern Korrelate der menschlichen Wahrnehmung dar. Sie sind so komplex, dass sehr aufwendige physikalische Messungen betrieben werden müssten, um zu erfassen, was der Wahrnehmung mühelos und unmittelbar gegeben ist.178 Teilweise klaffen Messung und Wahrnehmung deswegen sogar auseinander.179 Zweitens kann die hier gegebene Einteilung und Beschreibung des Sprachlauts beim Lesen sowie ihre Zuordnung zu bestimmten Bedeutungen nur als durchschnittliche Näherung betrachtet werden. Denn Suprasegmentalia sind keine invarianten Einheiten. Der Anspruch auf eine theoretische Neugründung der Erforschung gesprochener Sprache trifft in besonderer Weise die Untersuchung frei produzierter Äußerungen. Denn diese bewegen sich vollständig in einem analogen Medium. Der Sprachlaut beim Lesen dagegen bleibt auf die Schrift als digitales System bezogen. Im realen Vollzug zeigt sich dieser Unterschied darin, dass er insgesamt eine geringere Variationsbreite seiner suprasegmentalen Merkmale zeigt als das freie Sprechen.180 Methodisch bietet sich für meine Beschreibung des Sprachlauts beim Lesen deswegen ein Kompromiss an, den

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Vgl. Christian Stetter: Stimme und Schrift, S. 127. Stüben behauptet dies z.B. von der Lautstärke, die »subjektiv deutlich festzustellen, aber objektiv schwer zu fassen« ist. (Werner Stüben: Die Phänomenologie der Stimme, München 1976. S. 28.) Analoges findet sich bei Schwitalla zur Geschwindigkeit. (Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 72.) 179 Reuven Tsur erklärt, dass die mithilfe eines Spektrogramms aufgezeichneten Silben ›di‹ und ›du‹ unterschiedliche Werte für die beiden ›d‹-Laute ergeben. In der Wahrnehmung der beiden Silben werden die Initiallaute aber dennoch beide als ›d‹ erkannt. Dieser vermeintliche Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt, dass sprachliche Bedeutung über Differenzen und nicht über absolute Werte entsteht. Natürlich hören wir bei ›di‹ und ›du‹ nicht zweimal denselben Initiallaut, sondern zwei ›d‹-Laute, die nur relativ zu den Lauten ›i‹ und ›u‹ ›d‹-Laute sind. (Vgl. Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, Amsterdam u.a. 1992, S. 188-190.) 180 Gezeigt werden konnte dies für Intonation, Geschwindigkeit und Pausennutzung. (Vgl. Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 225.)

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Stetter vorschlägt: »Gibt man der Stimme ihren Grundmodus wieder, die Bewegung, die sie erst zur Stimme disponiert, dann heißt dies nicht, daß man die Parametermarkierungen gänzlich tilgt, die den semantischen distinktiven Wert der Phoneme ausmachen. Man bettet sie wieder in die ästhetische Fülle ein«181 . Demnach lässt sich in Bezug auf das Lesen die Grundannahme beibehalten, der Sprachlaut sei ein analoges Medium, ohne gleich völlig auf eine Orientierung an der Digitalität der Schrift zu verzichten. Vielmehr wird der digitale Blick auf den Text gleichursprünglich um eine analoge Perspektive erweitert. So gehe ich davon aus, dass die durch die Buchstaben angezeigten Einzellaute nur Ausschnitte aus suprasegmentalen Zusammenhängen sind, die bei einer Beschreibung konkreter Lektüren mitgedacht werden müssen. Hilfreich ist hierfür die folgende kurze Beschreibung der Wahrnehmung der verschiedenen Suprasegmentalia. Dem Akzent bzw. Rhythmus widme ich mich allerdings erst im nächsten Abschnitt. Da die literaturwissenschaftliche Forschung sich für diese beiden in besonderer Weise interessiert, sollen sie ausführlich untersucht werden. Dabei sind sie ohrenfälliger als die anderen Suprasegmentalia. Akzent und Rhythmus können also, zumindest solange es um gelesene und nicht frei produzierte Äußerungen geht, auch von musikalisch oder sprachwissenschaftlich nicht speziell geschulten Hörern sowie ohne aufwendiges empirisches Untersuchungsdesign erfasst werden. 1) Das am besten untersuchte suprasegmentale Merkmal gesprochener Sprache ist die Tonhöhe.182 Ihre globale Erstreckung wird auch als Intonation oder Sprachmelodie bezeichnet. Diese ist nur schwer bewusst und von den anderen Suprasegmentalia isoliert wahrnehmbar.183 So werden laute Signale meist zugleich auch als höher bewertet. Dies gilt ebenfalls für bestimmte Vokale. ›i‹ und ›e‹ klingen höher als ›a‹, ›o‹ und ›u‹. Beides sind Beispiele verbreiteter schwacher Synästhesien innerhalb der Sprachwahrnehmung.184 Obwohl nur bestimmte Laute eine Tonhöhe tragen, nämlich Vokale und stimmhafte Konsonanten, nehmen wir eine kontinuierliche Intonation wahr. In der 181 182

Christian Stetter: Stimme und Schrift, S. 127. Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 78 und Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 56. 183 Vgl. Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 217f. 184 Vgl. Lawrence E. Marks: Weak Synesthesia in Perception and Language, S. 767f, 769. Ich schließe mich mit Scheurle einem Denken an, nach dem alle Menschen mehr oder weniger stark zur Synästhesie fähig sind. Sogenannte schwache Synästhesien sind dann besonders typische bzw. bekannte Ausprägungen dieses Phänomens. (Vgl. ebd., S. 763.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Sprachwissenschaft gibt es deswegen unzählige Versuche, diese in Verlaufstypen einzuteilen. Wirklich ohrenfällig ist aber nur eine grobe Unterscheidung zwischen global fallenden, steigenden und gleichbleibenden Intonationsverläufen. Diese können wiederum mit bestimmten Satztypen korreliert werden.185 Der durchschnittliche Tonumfang beim Sprechen entspricht ungefähr einer Oktave. Schrumpft er auf eine Quarte, klingt das Sprechen monoton.186 Vor allem plötzliche Tonhöhenvariationen, meist in Kombination mit Lautstärke- und Geschwindigkeitsänderungen, werden dagegen als expressiv empfunden.187 Für das Lesen lyrischer Texte konnte festgestellt werden, dass die Tonhöhenbewegung kontrollierter verläuft als beim Lesen von Prosa oder beim freien Sprechen. So liegen die Hebungen hier ungefähr auf dem gleichen Tonniveau.188 Die Funktionen der Tonhöhe beim Lesen sind vielfältig. Dazu zählen a) die Beteiligung an der Konstituierung des Sprachrhythmus, b) die Formung eines Informationsprofils durch die Betonung zentraler Äußerungsabschnitte (innerhalb eines Satzes oder des Texts insgesamt), die Gruppierung von Worten und das Setzen von Endmarkierungen, c) die Emotionalisierung des Texts, d) die idiolektale, soziolektale, regionale Zuordnung des Sprechers sowie e) die Markierung der Sprechereinstellung bezüglich der Situation.189 Die übrigen Suprasegmentalia sind weniger gut erforscht. Die Beschreibung ihrer Wahrnehmung erfolgt deswegen kompakter: 2) Lautstärke und 3) Geschwindigkeit sind innerhalb der Sprachwahrnehmung miteinander sowie mit der Tonhöhe synästhetisch verknüpft. Insgesamt korrelieren dabei jeweils die hohen (Lautheit, Schnelligkeit, hoher Ton) und die niedrigen Intensitätsgrade (geringe Lautstärke, Langsamkeit, tiefer Ton) miteinander.190 In Bezug auf die Sprachproduktion verhalten sich Lautstärke und Geschwindigkeit interessanter Weise jedoch umgekehrt proportional. So werde wichtige Redeabschnitte häufig, wenn auch nicht notwendig, in großer Lautstärke, aber niedrigem Sprechtempo vorgetragen.191 Reuven Tsur behauptet zudem, dass die Sprechgeschwindigkeit beim lauten Lesen von Lyrik geringer ist als beim

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Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 65, 67. Vgl. Reinhard Kiefer: Sprachmelodie, S. 1694. Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 71. Vgl. Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, S. 176 und Werner Stüben: Die Phänomenologie der Stimme, S. 39. 189 Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 231-234. 190 Vgl. Lawrence E. Marks: Weak Synesthesia. S 767f. 191 Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 73, 74f.

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Das Lesen als Handlung

Lesen von Prosa. Wahrgenommen wird dies jedoch nicht als Tempounterschied, sondern als genauere Aussprache.192 Verstärkt wird diese Wahrnehmung noch durch 4) das Einfügen von Pausen. Diese häufen sich besonders am Ende thematischer Einheiten.193 In lyrischer Sprache sind Pausen zudem durchschnittlich länger.194 Das am schwersten zu fassende suprasegmentale Merkmal ist schließlich 5) die Klangfarbe. Zugleich ist ihr Beitrag an der Sinnpräsentation häufig größer als der der übrigen Merkmale. Kategorial werden eine helle und dunkle, klare und stumpfe, warme und kalte, weiche und scharfe Farbigkeit unterschieden. Diese präsentieren vor allem Emotionen. Eine genaue Korrelation von Farbigkeit und Stimmung ist jedoch sehr komplex.195 Die Beschreibung des Lesens ist insofern von dieser Kategorie entlastet, als Texte seltener mit besonderer Klangfarbe vorgetragen werden als freie Äußerungen.196

5.6.5

Wahrnehmung von Akzent und Rhythmus

Eine Erforschung des sprachlichen Akzents bzw. Rhythmus findet sich sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Literaturwissenschaft,197 hier insbesondere in der Metrik.198 Während Erstere jegliche sprachliche Äußerung zu ihrem Gegenstand machen kann, gilt die Aufmerksamkeit der Letzteren Verstexten, das heißt Sprache in gebundener Rede.199 Was auf den ersten Blick 192 193 194 195 196 197

Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, S. 176. Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 76. Vgl. Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, S. 176. Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 78f. Vgl. Werner Stüben: Die Phänomenologie der Stimme, S. 51. Für einen Forschungsüberblick siehe Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, Tübingen 1999, Kap. 2 und 3. 198 Historisch beschäftigt sich die Metrik auch mit anderen Suprasegmentalia. Bunia zeigt dies für Klopstock und Moritz. Dass heutige Metriken vor allem auf der Frage nach dem Akzent/Rhythmus beruhen, liegt daran, dass sich die opitzsche Metrik durchgesetzt hat. (Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik. Verstheorie bei Opitz, Klopstock und Bürger in der europäischen Tradition, Berlin 2014, S. 120.) 199 Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, München 2007, S. 13. Wagenknecht unterscheidet insgesamt drei Formen der Versifikation, die die Sprache in Verse binden, also gebundene Sprache überführen: 1) Silbenanzahl 2) Anzahl und Abfolge unterschiedlicher Silbenqualitäten 3) Reim. (Vgl. ebd., S. 20.) Lotman bietet eine formal leere Beschreibung gebundener Rede: Diese bestehe darin, »verschiedene Wörter in maximal äquivalente Positionen zu stellen.« Dabei unter-

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

wie eine quantitative Einschränkung des Interessengebiets der Metrik aussieht, verkompliziert die Beschreibung des Rhythmus jedoch in Wirklichkeit, da mit dem Anspruch, metrisch geregelte Texte zu betrachten, eine zusätzliche, normative Ebene eingezogen wird.200 Diese kann die Lesesituation prägen, indem die intuitive Textwahrnehmung in Richtung bestimmter metrischer Vorgaben verschoben wird. Deswegen ist es nötig, das Zusammenspiel von metrischem Wissen und Textwahrnehmung beim Lesen zu untersuchen, bevor ich mich der Beschreibung des Leserhythmus widme. Dazu ziehe ich Remigius Bunias Monographie Metrik und Kulturpolitik heran. Metrik leistet eine Beschreibung des Zusammenspiels zwischen den prosodischen Eigenschaften einer Sprache und einem Metrum, also dem formalen Muster, nach dem sprachliche Einheiten zu Versen zusammengebunden werden. Letzteres kann dabei auf unterschiedlichen Grundeinheiten aufbauen. Beispielweise wird das Metrum für deutsche Literatur primär über die Abfolge von Hebungen und Senkungen, also prominenten und nicht prominenten Stellen innerhalb einer Textzeile, bestimmt.201 Allerdings kann das Zusammenspiel von Prosodie und Metrum ganz unterschiedlich beschaffen sein und verlangt deswegen nach einer systematischen Beschreibung.202 Zu diesem Zweck führt Bunia drei sogenannte Versprogramme ein,203 die prosodische und metrische Größen in unterschiedlicher Abhängigkeit voneinander bestimmen. Versprogramme werden dabei sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig gedacht.204 Da ich mich jedoch nur Letzteren widme, tausche

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scheidet er rhythmische, phonologische, grammatische und syntaktische Äquivalenzen. (Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 244.) Diese Ebene ist auch der Grund für den Titel von Bunias Monographie. Metrik lässt sich eben nicht nur linguistisch erklären, sondern ist gleichermaßen ein kulturpolitisches Phänomen. Letzteres ist auch der Grund dafür, warum die in einer Metrik formulierten Gestaltungsprinzipien nicht immer mit der Beschaffenheit der jeweiligen Sprache sowie der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit übereinstimmen müssen. (Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 8, 12.) Bzw. innerhalb einer Strophe oder eines Gedichts. Bunia vernachlässigt letztere beiden jedoch, da der Versbau im Vergleich zu diesen die größte Komplexität aufweist. (Vgl. ebd., S. 11.) Vgl. ebd., S. 25-27. Schon Lotman unterscheidet zwei verschiedene Versprogramme: eines, in dem theoretisches Wissen über Epochen und Genres auf die Rezitation zurückwirkt, und eines, in dem die Rezitation rein aus dem Aufbau des Verses gewonnen wird. (Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 263-269.) Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 40f.

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Das Lesen als Handlung

ich den doppelsinnigen Begriff des Versprogramms gegen den der Leseeinstellung ein. Diese wird durch ein bestimmtes Zusammenspiel aus Textwahrnehmung und metrischer Überprüfung, also vorheriger oder nachträglicher Reflexion dieser Wahrnehmung, bestimmt. Die erste Form der Leseeinstellung unterwirft den Lesevollzug einem abstrakten metrischen Programm. Sie wird deswegen als Norm bezeichnet.205 Für eine erfolgreiche Umsetzung muss der Leser das Metrum kennen, bevor er den Text liest. Deswegen besteht der erste Teilvollzug der Textwahrnehmung meist in einer isolierten Betrachtung der Wörter und ihrer Hebungen. Aber auch später wird der Lesefluss immer wieder unterbrochen, um die eigene stimmliche Realisierung an das formale Muster anzupassen. Nicht selten ergeben sich dabei Spannungen zwischen dem Metrum und dem Lesen, die den Anteil der Reflexion noch erhöhen. Sie lassen sich nur dadurch auflösen, dass verschiedene mögliche Interpretationen nebeneinandergestellt werden. Einige der Lesarten stehen dem natürlichen Sprachempfinden dabei entgegen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die ihnen zu Grunde gelegte Metrik nicht ursprünglich an der natürlichen Prosodie der jeweiligen Sprache gewonnen wurde.206 Durch die Priorisierung des formalen Musters gegenüber den natürlichen Lauteigenschaften der Sprache ist die Leseeinstellung der Norm letztlich stark durch Reflexion und damit durch Unterbrechungen der eigentlichen Textwahrnehmung geprägt. Innerhalb der zweiten Leseeinstellung,207 der Reziprozität, nimmt der Leser eine wechselseitige Bestimmung von eigener Wahrnehmung und theoretischem Metrum vor. Auch hier muss das Metrum im Vorhinein bekannt sein. Und seine Überprüfung führt zur gelegentlichen Unterbrechung der Textwahrnehmung durch theoretische Reflexionen, die das Zusammenspiel von formaler Vorgabe und stimmlicher

205 Bunia führt im Laufe seiner Argumentation das sogenannte metrische Viereck ein. (Vgl. ebd., S. 36.) Dieses dient ihm später dazu, die drei Versprogramme zu veranschaulichen. Eine unnötige Erschwerung des Verstehens seiner Argumentation entsteht dadurch, dass die erste Abbildung des metrischen Vierecks spiegelsymmetrisch zu den folgenden (Vgl. ebd., S. 44, 49, 50.) abgedruckt wurde. Da Bunia nicht darauf hinweist, gehe ich von einem Druckfehler aus. 206 Vgl. ebd., S. 44-46. 207 Ich verändere hier Bunias Reihenfolge der Versprogramme zugunsten meiner eigenen Argumentation. Bei Bunia steht an zweiter Stelle das Versprogramm der Deduktion. Seine Argumentation ordnet die Versprogramme dialektisch. Damit ergibt sich eine Reihung nach dem Schema: 1) Norm = These; 2) Deduktion = Antithese; 3) Reziprozität = Synthese.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Umsetzung prüfen. Eine derartige Leseeinstellung ist allerdings nur möglich, wenn die zu Grunde liegende Prosodie sich an der realen Prosodie der entsprechenden Sprache orientiert. Dadurch bleiben in der Leseeinstellung der Reziprozität Spannungen zwischen Metrum und Wahrnehmung aus.208 Insgesamt hat die Reflexion aber auch hier noch einen großen Anteil am Lesen. Primär auf die Wahrnehmung des Texts ist dagegen nur die dritte Leseeinstellung der Deduktion ausgerichtet. Hier kennt der Leser das Metrum des Texts nicht im Vorhinein, sondern muss es durch Lesen ermitteln. Der Reflexion über die metrische Gestaltung geht hier also notwendig eine aufmerksame Wahrnehmung des Texts voraus.209 Und auch im Verlauf der Lektüre wird die Wahrnehmung gegenüber der Reflexion dominieren. Insgesamt steht die Deduktion damit dem Erkenntnisinteresse meiner Arbeit am nächsten, da sie der Leseeinstellung einer ununterbrochenen Erstlektüre entspricht. Ich werde mich bei meiner vollzugsmäßigen Beschreibung der Rhythmuswahrnehmung beim Lesen deswegen auf sie beschränken. Zudem leite ich aus Bunias Unterscheidung dreier Versprogramme ab, dass Rhythmus und Metrum nicht synonym verwendet werden sollten.210 Entsprechend fasse ich Ersteren als Eigenschaft einer konkreten sprachlichen Äußerung auf,211 Letzteres dagegen als ein theoretisches Konstrukt, das entweder als normative Vorgabe oder als verkürzte Beschreibungsform einer Rhythmuswahrnehmung dient.

208 Vgl. ebd., S. 50f. 209 Vgl. ebd., S. 48f. – In meiner Darstellung der Versprogramme habe ich Bunias Argumentation aus Gründen der Übersichtlichkeit verkürzt wiedergegeben. Dieser macht völlig zurecht darauf aufmerksam, dass das abstrakte Metrum und das konkrete Lesen eines Verses nur über den Umweg der abstrakten Prosodie und des konkreten Metrums zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Es werden also sowohl der metrische als auch der prosodische Raum durch Vollzüge der Konkretion und Abstraktion konstituiert. (Vgl. ebd., S. 35-39.) 210 Bunia löst in seiner Monographie das Problem des Verhältnisses von Rhythmus und Metrum. Während sich bei Lösener noch der Vorwurf findet, die Metrik würde den Rhythmus stets vom Metrum her bestimmen (vgl. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 43.), zeichnet Bunia mit seinen drei Versprogrammen ein differenziertes Bild von verschiedenen Bestimmungsverhältnissen. Über das Verhältnis von Rhythmus und Metrum kann also nur gesprochen werden, wenn zugleich das Versprogramm angegeben wird, auf das sich die Argumentation bezieht. Allerdings verzichtet Bunia selber bewusst auf den Begriff des Rhythmus. (Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 60.) 211 In Bunias Terminologie entspricht mein Rhythmusbegriff einer Realisierung im prosodischen Raum.

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Das Lesen als Handlung

Nachdem ich innerhalb der Metrik jenen Bereich eingrenzen konnte, der für meine Fragestellung relevant ist, beginne ich damit, Aspekte der sprachwissenschaftlichen sowie literaturwissenschaftlichen Erforschung des Rhythmus mit dem Ziel einer vollzugsmäßigen Beschreibung zu verknüpfen bzw. zu modifizieren. Dabei setze ich mit einem Rhythmuskonzept des Literaturwissenschaftlers Reuven Tsur ein, das auf den ersten Blick sehr überzeugend erscheint, gemessen an vollzugsmäßigen Grundannahmen jedoch nicht haltbar ist. Dieses ist Teil der von Tsur mitbegründeten cognitive poetics, die die Beziehung zwischen Textstrukturen und ihrer Wahrnehmung kognitionswissenschaftlich212 erklären möchten. Dabei dient eine der zentralen Annahmen des Russischen Formalismus als Orientierungspunkt, nach der gilt: »poetry exploits, for aesthetic purposes, cognitive (including linguistic) processes that were initially evolved for nonaesthetic purposes«. Ästhetische Verstehensvollzüge zeichnen sich demnach durch drei Phasen aus: »the normal cognitive processes; some kind of modification or disturbance of these processes; and their reorganization according to different principles.«213 Die zweite Phase des Verstehensvollzugs zeigt eine Grundannahme innerhalb der cognitive poetics an, die ich im Zusammenhang der mentalistischen Ästhetiken bereits kritisiert habe. So gilt ästhetisches Verstehen auch hier als qualitative Modifikation alltäglichen Verstehens und damit als absolut und eben nicht nur graduell anders. Daraus leitet sich wiederum eine bestimmte Vorstellung der Sprachwahrnehmung und damit des Lesens ab. So behauptet Tsur, dass »we have a speech mode and a nonspeech mode of listening, which follow different paths in the neural system. We seem to be tuned, normally, to the nonspeech mode; but as soon as the incoming stream of sounds gives the slightest indication that it may be carrying linguistic information, we automatically switch to the speech mode«214 . Auch hier operiert Tsur über absolute Differenzen. Die beiden Modi des sprachlichen sowie nichtsprachlichen Hörens folgen für ihn nämlich qualitativ unterschiedlichen Verarbeitungswegen, zwischen denen der Wahrnehmende hin- und herschalten kann. Dabei nimmt der nicht-sprachliche Modus eine akustische Fülle (precategorial auditory/acoustic information) wahr, die im sprachlichen Modus 212

Kognitionswissenschaft ist ein Sammelbegriff für »various disciplines that investigate human information processing: cognitive psychology, psycholinguistics, artificial intelligence, and certain branches of linguistics, and the philosophy of science.« (Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, S. 1.) 213 Ebd., S. 4f. 214 Ebd., S. 190.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

zugunsten eindeutiger Sprachlaute aus dem Bewusstsein ausgeschlossen wird. Allerdings setzt Tsur neben diesen beiden noch einen dritten Modus an, den poetischen Modus. Dieser entspricht der oben beschriebenen zweiten Phase kognitiver Prozesse und stellt sich beim Lesen von Dichtung ein. Der poetische Modus modifiziert dabei die Wahrnehmung innerhalb des sprachlichen Modus, indem er bestimmten vor-sprachlichen, akustischen Informationen den Zugang zum Bewusstsein gewährt und das sprachliche Verstehen damit verzögert. Kommt es zur Reorganisation innerhalb der dritten Phase, nimmt der Mensch nicht nur wie gewöhnlich Sprachlaute, sondern noch weitere nicht-sprachliche Qualitäten wahr, wie einen hellen oder dunklen, weichen oder harten Klang oder eine bestimmte Rhythmisierung.215 Wendet man Tsurs Modell auf die Rhythmuswahrnehmung in der Sprache an, ergeben sich folglich drei Modi. Erstens kann der Mensch Rhythmen vorsprachlich verstehen. Die wahrgenommenen Eindrücke erscheinen dann nur als eine Abfolge von Klängen und Geräuschen, eine Art Musik also. Zweitens kann der Mensch Sprache wahrnehmen, die für ihn keinen Rhythmus aufweist. Und drittens gibt es einen poetischen Modus, in dem die Sprache plötzlich doch rhythmisch klingt. Tsurs Vorstellung eines durch Literatur induzierten poetischen Modus ist ein typisches Beispiel für ein Kausalitätsmodell, wie ich es zuvor mit Heidegger kritisiert hatte. Ich möchte diesem deswegen eine vollzugsmäßige Beschreibung der Rhythmuswahrnehmung gegenüberstellen. Dabei kann ich mich in Teilen auf Hans Löseners Monographie Der Rhythmus in der Rede stützen. Eine vollzugsmäßige Vorstellung von der Funktionsweise von Sprache und Rhythmus entwickelt dieser in Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen Henri Meschonnic. Von Meschonnic entlehnt Lösener auch die zentrale Grundannahme, dass »der Rhythmus nicht mehr eine Unterkategorie der Form sein [kann]. Er ist eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) eines Ganzen. Wenn der Rhythmus in der Sprache ist, in einer Rede, dann ist er eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) der Rede. Und da die Rede sich nicht von ihrem Sinn trennen läßt, läßt sich der Rhythmus nicht vom Sinn der Rede trennen.«216

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Vgl. ebd., S. 10, 190-193. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 34.

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Vollzugsmäßig gedacht kann Sprache Rhythmus also nicht, wie Tsurs Modell vermuten ließ, in gewissen Situationen abstreifen.217 Vielmehr ist Sprache Rhythmus. Allerdings ist Sprache auch mehr als nur Rhythmus, wie die Einteilung in Suprasegmentalia der Sprechforschung zeigt. Genau diesen Schluss scheint jedoch Lösener zu ziehen, wenn er Rhythmus »als Prinzip der Sinngestaltung auf[…]faßt, also als Art und Weise, wie ein Text durch die jeweilige Beziehung seiner Signifikanten Sinn macht.« Rhythmus ist für Lösener damit das Resultat des Zusammenspiels »aller Signifikanten«218 . Zwar denkt er damit im Gegensatz zu Tsur vollzugsmäßig, eine Definition des Rhythmus von dieser Allgemeinheit scheint mir aber ebenfalls keine ergiebige Alternative zu sein. Um einen Mittelweg zwischen den beiden hier kritisierten Ansätzen zu finden, werde ich zuerst Tsurs Konzept der Rhythmuswahrnehmung im poetischen Modus nach dem Vorbild von Löseners umfassendem Rhythmusbegriff ausweiten. Danach grenze ich den Gegenstandsbereich wieder ein, indem ich frage, welche Anteile der Sprache es sind, die den Rhythmus konstituieren. 217

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Eine Erklärung für Tsurs Unterscheidung zwischen einem nicht-sprachlichen und einem sprachlichen Modus der Wahrnehmung habe ich bereits in Kap. 5.6.1 gegeben. Hier wurde darauf verwiesen, dass Sprache zwar über Form und Klang wahrgenommen wird, sobald diese allerdings zeiträumlich stark genug sinnhaft verknüpft werden, um eine sprachliche Bedeutung zu ergeben, kann der Wahrnehmende hinter diesen Eindruck nicht mehr zurück. Sobald er also Form und Klang als Sprache versteht, sieht er nur noch den sinnhaften Gesamtzusammenhang, nicht mehr aber seinen Ausgangspunkt. Gestützt wird dies auch durch Befunde der Gestaltpsychologie. Diese beobachtet ein analoges Phänomen bei der Formwahrnehmung. (Vgl. Evan Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie. Der Grundkurs, Berlin 2010, S. 110) Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 235, Herv. i.O. Nach einem Blick in eine aktuelle Einführung in das Werk von Löseners Gewährsmann Meschonnic scheint es mir, als sei das Anliegen Meschonnics von viel zu allgemeiner Natur, um darauf eine Theorie des Rhythmus gründen zu können. Laut der Einführung ist Meschonnic, ähnlich wie Derrida, primär an einer Kritik des metaphysischen Denkens über Sprache, nicht aber an einer Rhythmustheorie gelegen zu sein. Entsprechend fallen seine Ausführungen zum Rhythmus wenig konkret aus. (»Le rythme […] se veut le moyen d’une ›fondation nouvelle de la théorie du langage‹ […], car il permet d’échapper à la métaphysique du signe« und »Entre la notion du rythme comme ›configuration particulière du mouvant‹, reprise aux anciens, et sa ›natur‹ dans le discours comme ›organisation de marques‹, un maillon semble manquer. Meschonnic s’attache beaucoup à critiquer les conceptions métaphysique et métriques dy rythme, mais peu à la manière dont ce dernier, en l’absence de mesure, peut être appréhendé.« (Lucie Bourasse: Henri Meschonnic. Pour une poétique du rythme, Paris: Rhuthmos 2015, S. 85, 95.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

In Abschnitt 5.4.1 habe ich im Gegensatz zu Tsur nicht absolut zwischen einem sprachlichen und einem nicht-sprachlichen Verstehensmodus unterschieden,219 sondern erläutert, dass sich sprachliches Verstehen lediglich besonders intensiv und damit nur graduell verschieden von nicht-sprachlichem Verstehen vollzieht. Diese Einsicht wende ich jetzt auch auf die Wahrnehmung des sprachlichen Rhythmus beim Lesen an. Dazu gehe ich davon aus, dass jegliches Verstehen einer sprachlichen Äußerung das Verstehen einer bestimmten Akzentstruktur miteinschließt. Graduell lassen sich dabei drei Intensitätsgrade der Rhythmuswahrnehmung unterscheiden. Erstens kann ein Text primär im Hinblick auf seine Akzentstruktur gelesen werden. Dieser Fall liegt zum Beispiel vor, wenn ein Gedicht oberflächlich durchskandiert220 wird. Beachtet wird dann hauptsächlich die Abfolge von Hebungen und Senkungen innerhalb der Verszeilen, kaum aber die syntaktische Struktur oder die Verwendung bestimmter Wörter in einem bestimmten Kontext. Wird der Leser nach dem Skandieren gefragt, worum es in einer Strophe oder gar einem ganzen Gedicht inhaltlich geht, wird er lediglich einzelne Worte oder nur sehr rudimentäre Zusammenhänge erinnern. Damit bietet dieser Intensitätsgrad der Wahrnehmung auch keine Garantie dafür, dass der Rhythmus gemessen am Gesamtsinn des Texts angemessen erlesen wird. Teilweise tendiert das Lesen hier nämlich dazu, über ergänzende oder konkurrierende Gestaltungen zugunsten einer prägnanten Rhythmizität hinwegzulesen. Denn bestimmte rhythmische Einheiten sind auch syntaktisch oder semantisch fundiert und können beim rhythmischen Überfliegen des Texts nicht wahrgenommen werden. Ich werde diesen Intensitätsgrad221 der Rhythmuswahrnehmung musikalische Wahrnehmung222 nennen. Innerhalb dieser ist die 219

Ansätze der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik sehen ebenfalls davon ab, einen absoluten Unterschied zwischen sprachlicher und nicht-sprachlicher kognitiver Verarbeitung einzuziehen. (Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 1, 6f.) 220 Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik, S. 16f. 221 Die hier getroffene Einteilung dient nur einer groben Orientierung. Das heißt, sie gilt vor allem für durchschnittliche Leser. Natürlich sind auch noch andere Formen der Rhythmuswahrnehmung denkbar. Beispielsweise könnte ein musikalisch geübter Zuhörer ein Gedicht gezielt auf den Zusammenhang von Rhythmus, Pausenführung und Intonationsbögen hin hören. Auch dieser Wahrnehmungsvollzug ist, wenn er intensiv genug vollzogen wird, ein ästhetischer. Musikalisches Hören ist also keineswegs notwendig ein nicht ästhetisches Hören. 222 Ich wähle diese Bezeichnung in Anlehnung an Klopstock, der in seiner Dichtung bewusst auf identische Wiederholungen verzichtet, da diese sonst »eben den Weg [geht], den die Musik geht.« (Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poe-

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Zeiträumlichkeit des Verstehens geringer ausgeprägt als in den beiden anderen Dimensionen. Heuristisch lässt sich die musikalische Wahrnehmung am einfachsten abgrenzen, wenn man sie als eine übermäßige Fokussierung des Rhythmus oder als eine Abblendung dessen beschreibt, was die Sprachwissenschaft die syntaktische und semantische Dimension der Sprachbedeutung nennt. Innerhalb des zweiten Intensitätsgrads, der alltäglichen Wahrnehmung, tritt dann entsprechend jenes syntaktische und semantische Verstehen zur Rhythmuswahrnehmung mit hinzu. Dies geschieht, da der Lesevollzug sich hier durch eine stärkere Entrückung in die Zeit bzw. ein weitläufigeres Einräumen des Raums auszeichnet. Der Rhythmus fehlt hier also nicht einfach, wie Tsur behauptet. Vielmehr macht er nur einen Teil neben vielen weiteren sinnhaften Verknüpfungen zwischen den sprachlichen Einheiten aus. Innerhalb der alltäglichen Wahrnehmung kann es deswegen auch dazu kommen, dass der Rhythmus zugunsten anderer Eindrücke abgeblendet wird. Dass sprachliches Verstehen jedoch nicht einfach auf Rhythmus verzichten kann, wird deutlich, wenn man daran denkt, in welchem Maße künstlich erzeugte Sprechstimmen Irritationen hervorrufen, weil diesen eine natürliche Intonation und ein natürlicher Rhythmus fehlen.223 Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang auch ein Befund aus der Schreibprozessforschung. Diese konnte zeigen, dass die Revision selbst verfasster Texte maßgeblich über lautes Probelesen geschieht. Wichtige Orientierungspunkte sind dabei die durch den Text angeleitete Intonations- und Rhythmusgestaltung beim Lesen.224 Die Akzentstruktur ist also Teil jeglichen Lesens. Der dritte Intensitätsgrad der Rhythmuswahrnehmung zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass sowohl der Rhythmus als auch die anderen Sinnstrukturen beim Lesen sehr genau wahrgenommen werden. Zwar wird die Rhythmizität hier bevorzugt beachtet, aber eben immer im Zusammenhang der vielen anderen Eindrücke.225 Erst innerhalb dieses Intensitätsgrads sie. Dichtungstheoretische Schriften, hg. von Winfried Menninghaus, Frankfurt a.M. 1989, S. 113. und vgl. ebd., S. 287.) 223 Vgl. Carsten Günther: Prosodie und Sprachproduktion, Tübingen 1999, S. 1. 224 Vgl. Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 236. 225 Dass eine ästhetische Wahrnehmung des Textklangs immer mit anderen Sinnbezügen verknüpft sein muss, betont auch Ingarden: »Der Leser des literarischen Kunstwerks muß also ein ›Ohr‹ für die Eigentümlichkeiten der sprachlautlichen Schicht des Werkes (für seine ›Musik‹) haben, obwohl man auch nicht sagen kann, der Leser solle sich auf sie besonders konzentrieren. Sie müssen aber ›nebenbei‹ gehört werden und

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bemerkt es der Leser, wenn Rhythmus und natürliche Intonation nicht miteinander harmonieren. Er muss dann eine Entscheidung darüber treffen, ob er Ersterem oder Letzterer beim Lesen größeres Gewicht verleiht, das heißt den Rhythmus weiterführt oder ihn zugunsten eines anderen Sinnsystems beugt.226 Dieser Intensitätsgrad entspricht einer ästhetischen Wahrnehmung. Die zeiträumliche Ausdehnung des Verstehens ist hier insgesamt am größten. Nach der Unterscheidung verschiedener Intensitätsgrade der Rhythmuswahrnehmung beschreibe ich jetzt, über welche Suprasegmentalia Rhythmus konstituiert wird. Dabei gilt zunächst, dass der Akzent als lokale, der Rhythmus aber als globale Ausdehnung der betreffenden sprachlichen Merkmale verstanden werden muss.227 Um diese wahrnehmen zu können, muss eine Reihe komplexer interpretativer Transformationen vorgenommen werden. Als Erstes müssen verschiedene lautliche Erscheinungen als zusammengehörig verstanden und als Akzente interpretiert werden.228 Um welche Suprasegmentalia es sich dabei genau handelt, wird innerhalb von Metrik und Sprachwissenschaft aber unterschiedlich diskutiert. Während erstere Disziplin immer noch davon ausgeht, dass Akzente sprachliche Betonungen sind, die durch Lautstärkeunterschiede hervorgerufen werden,229 nimmt die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik eher an, dass Akzente Bündel aus mehreren suprasegmentalen Eigenschaften darstellen, die vor allem durch Tonhöhe und Dauer, weniger jedoch durch Lautstärke bestimmt werden. Deswegen sind Rhythmus und Intonation auch nur schwer voneinander zu trennen.230 Für eine

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in der ganzen Gestalt des Werkes mitklingen.« (Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 20f.) Lotman unterscheidet ebenfalls zwischen einer eher rhythmischen und einer eher semantisch orientierten Intonation als Varianten eines ästhetischen Lesens. (Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 267f.) Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 56. Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 86. Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 29. Bunia betont sogar: »Im Deutschen ist die Tonhöhe weitgehend semantisch irrelevant (sieht man etwa von Fragemarkierungen ab).« (Ebd., S. 61.) Hinter dieser Aussage steht vermutlich ein strukturalistisches Verständnis, nach dem sich mündliche Sprache durch eindeutig voneinander trenn- und bezifferbare Eigenschaften beschreiben lässt. Vgl. Pia Bergmann: Laute, S. 79, 81; Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 57, 64; Christian Stetter: System und Performanz, S. 107 Fn; Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 216f.

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vollzugsmäßige Herangehensweise muss diese Frage allerdings nicht endgültig geklärt werden. Wichtiger ist für mich die Tatsache, dass die Fähigkeit zum Erkennen von Wortakzenten zum intuitiven grammatischen Wissen von Muttersprachlern gehört und für gewöhnlich leicht zu vollziehen ist.231 Insgesamt werden Akzente im Deutschen als kontinuierlicher Verlauf realisiert. Deswegen ist es hier auch schwieriger, eindeutig zwischen schweren und leichten Silben zu unterscheiden, als es für die Längen und Kürzen im Griechischen und Lateinischen der Fall ist. Eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, ist es, Wortakzente mit verschiedenen Schweregraden zu beschreiben, wie sie Christian Wagenknecht für die deutsche Metrik eingeführt hat.232 Ähnliche Abstufungen finden sich ebenfalls in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur gesprochenen Sprache. Allerdings führt diese zusätzlich zu den Wortakzenten noch zwei Satzakzente ein.233 Damit ergibt sich die folgende aufsteigende Reihenfolge für den Schweregrad von Akzenten: 1) Schwa-Silben; 2) Artikel, Präfixe bei Präfixverben, Präpositionen und Pronomen, Nebenakzente mehrsilbiger Wörter; 3) Wortakzente mehrsilbiger nicht nominaler bzw. verbaler Wörter, Partikeln in Partikelverben,234 der rechte Wortakzent in nominalen oder verbalen Komposita, der Wortakzent in Hilfsverben; 4) Wortakzente in Nomina und Verben; 5) sekundäre/r bzw. metrische/r Satzakzent/e; 6) primäre/r Satzakzent/e. Während die ersten vier Schweregrade Wortakzente sind und als grammatisches Wissen feststehen, verhält es sich mit den letzteren beiden komplexer. Für gewöhnlich wird darauf hingewiesen, dass diese semantisch reguliert sind.235 So markiert der primäre Satzakzent beispielsweise wichtige, das heißt neu hinzukommende (rhematische) Informationen. Er liegt bei normaler Satzstellung eher im hinteren Teil des Satzes. Es kann jedoch auch mehr als einen Satzakzent geben

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Vgl. Pia Bergmann: Laute, S. 79 und Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, S. 157. Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 89 Fn und Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik, S. 35-37. Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 56-58. Wagenknecht ist sich der Existenz dieser über die Wortebene hinausführenden Akzentuierung durchaus bewusst, vernachlässigt sie aber aus Gründen der Komplexität. (Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik, S. 37.) Vgl. Jörg Meibauer: Lexikon und Morphologie, in: Jörg Meibauer (Hg.): Einführung in die germanistische Linguistik, Stuttgart, Weimar 2002, S. 15-69, hier: S. 60. Vgl. Pia Bergmann: Laute, S. 79f.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

bzw. mehr als nur eine Silbe betont werden. Der sekundäre Satzakzent übernimmt eine analoge Funktion, allerdings nicht für den Satz, sondern für die Phrase als nächst kleinerer syntaktischer Einheit. Er tendiert ebenfalls eher zum Ende einer Phrase hin und ist mit der letzten betonten lexikalischen Silbe assoziiert.236 Im Zusammenhang gebundener Sprache kommt ihm jedoch noch eine weitere Funktion zu. Um dies zu erklären, ist es zunächst notwendig zu wissen, dass beide Satzakzente den ursprünglichen Wortakzent einer besetzten Silbe auf ihren Schweregrad anheben.237 Damit können auch Silben, die keinen schweren Wortakzent tragen, betont werden. Während dies beim primären Satzakzent wie gesagt semantische Gründe hat, können beim sekundären Satzakzent metrische hinzukommen. So werden sprachlich gebundene Texte verhältnismäßig stärker betont als nicht gebundene. Dies führt dann zu einem Problem, wenn mehrere Einsilber des Schweregrads 2 hintereinanderstehen. In alltäglicher Einstellung werden diese einfach in schwebender Betonung gelesen. Beim langsamen und betonten metrischen Lesen geht dies hingegen nicht. Es müssen in stärkerem Maße Entscheidungen über die Betonungsverhältnisse getroffen werden. Zur Illustration führe ich eine Gedichtzeile an, die mich später noch ausführlicher beschäftigen wird: »Wenn einst ich todt bin, wenn mein Gebein zu Staub«238 . Hier stehen am Anfang drei Einsilber der Betonungsstufe 2. Für diese lassen sich innerhalb ihres Kontexts zwei wahrscheinliche Lesarten annehmen: ›Wénn einst ich tódt bin‹ oder ›Wenn eínst ich tódt bin‹. Die Präferenz einer der beiden Betonungsweisen, das heißt der sekundäre Satzakzent, ergibt sich jedoch erst aus dem weiteren metrischen Kontext, also der folgenden und vorausgehenden Akzentstruktur. Deswegen setze ich neben dem seman-

236 Vgl. Peter Gilles: Regionale Prosodie im Deutschen. Variabilität in der Intonation von Abschluss und Weiterverweisung, Berlin 2005, S. 353. – Schwitalla führt zur Veranschaulichung die mündlich gesprochene Aussage ›Sind alle weg nachher.‹ an. Dabei liegt der primäre Satzakzent auf dem Wort ›weg‹ als der wichtigsten Information der Aussage. Zusätzlich liegt aber noch ein schwächerer Satzakzent, nämlich der sekundäre Satzakzent, auf der ersten Silbe des Worts ›alle‹, da auch dies eine wichtige Informationen präsentiert. (Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 56.) 237 Schwitalla bringt aus dem Bereich der frei produzierten, gesprochenen Sprache sogar ein Beispiel an, in dem eine Schwa-Silbe maximal betont wird: ›keine poLIN sondern poLE.‹ (Vgl. ebd., S. 57.) 238 Friedrich Gottlieb Klopstock: An Fanny, in: ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Karl August Schleiden, 2 Bde., München o.J., Bd. 1, S. 39.

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tischen noch einen metrisch fundierten sekundären Satzakzent an, den ich als metrischen Satzakzent bezeichne. Trotzdem führe ich für die Analyse der Rhythmuswahrnehmung beim Lesen insgesamt nur vier Betonungstufen, nämlich zwei leichte und zwei schwere, ein. Dazu fasse ich die Stufen vier bis sechs zu einer maximalen Betonungsstufe zusammen. Dies reicht aus, da beim Lesen, wie oben beschrieben, insgesamt weniger Betonungsunterschiede vorliegen als beim frei produzierten Sprechen. In der Anzahl der Stufen richte ich mich damit scheinbar nach Wagenknecht, allerdings begründet dieser seine Einteilung lediglich grammatisch, nämlich nur über den Wortakzent verschiedener Wortarten. Dagegen zähle ich zur vierten Betonungstufe zusätzlich noch den metrischen Satzakzent sowie den semantisch motivierten Satzakzent hinzu. Dadurch können auch Worte, die aufgrund ihrer Wortart nur einen leichten Akzent tragen, im Zusammenhang eines Verses stark betont werden. Tab. 6: Einteilung der Schweregrade von Akzenten Betonungsstufen 1) sehr leicht: Schwa-Silben 2) leicht: Artikel, Präfixe bei Präfixverben, Präpositionen und Pronomen, Nebenakzente mehrsilbiger Wörter 3) schwer: Wortakzente mehrsilbiger nicht nominaler bzw. verbaler Wörter, Partikeln in Partikelverben , der rechte Wortakzent in nominalen oder verbalen Komposita, Wortakzente in Hilfsverben 4) sehr schwer: Wortakzente in Nomina und Verben, metrischer Satzakzent, Satzakzent

Die sprachliche Rhythmuswahrnehmung beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Identifizierung einzelner Akzente und ihrer Schweregrade. Vielmehr interpretiert sie ganze Akzentfolgen in ihrem Zusammenhang.239 Als Normalverteilung schwerer und leichter Silben im Deutschen ist in der Sprachwissenschaft häufig eine Akzentalternanz behauptet worden.240 Halt239 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 85f. 240 Für einen Forschungsüberblick siehe Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede. Kap. 3.2. In die deutsche Metrik wird das Prinzip der Alternanz von Opitz eingeführt. Bunia betont jedoch, dass die Beschränkung auf dieses Prinzip eine verkürzte Lesart seiner Poetik darstellt. Eine solch strenge metrische Formel ist nämlich nur dadurch realisierbar, dass Opitz als Erster zugleich eine flexible Betonung von Einsilbern annimmt. (Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik. S. 82.) Innerhalb der Metrik wird das

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bar ist jedoch nur die Annahme, dass niemals zwei Silben mit identischem Schweregrad aufeinanderfolgen können. Laut psychologischen Tests ist die unmittelbare Abfolge gleicher Laute sogar für 0,2 Sekunden gehemmt.241 Zudem bewirkt die sogenannte Koartikulation, dass sich praktisch niemals zwei Akzente identisch wiederholen können. Denn Laute beeinflussen sich immer gegenseitig. Beispielsweise wird die Tonhöhe von Vokalen durch stimmhafte Konsonanten abgesenkt und durch stimmlose erhöht.242 In diesem Sinne beeinflusst jeder Einzellaut jeden weiteren. In die Schrift übersetzt bedeutet das, dass identische Buchstaben in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Umgebung für ganz unterschiedliche Laute stehen.243 Für die Akzentuierung ergibt sich damit, dass auch jede Silbe streng genommen eine individuelle Betonung trägt. Um innerhalb dieser Komplexität Akzentfolgen identifizieren zu können, ist die Sprachwahrnehmung sehr stark auf das Erkennen rhythmischer Ähnlichkeiten disponiert. So erfolgt die Wahrnehmung von sprachlichem Klang immer relativ. Die absoluten Schweregrade einer Betonung werden demnach nicht wahrgenommen. Stattdessen erscheint eine Silbe einfach als betont, weil in ihrer unmittelbaren Umgebung vergleichbar leichtere Silben vorliegen und umgekehrt.244 Zudem konnten nicht nur Hemmungen von identischen Folgelauten, sondern unmittelbar danach auch Bahnungseffekte festgestellt werden, die zu Lautwiederholungen führen. Die Varianz der Betonungen wird damit eingeschränkt.245 Wie sehr unser Verstehen auf Muster ausgerichtet ist, wird schließlich noch dadurch deutlich, dass die menschliche Wahrnehmung eine Folge von identischen Tönen nach gewisser Zeit automatisch in Zweier- oder Dreiereinheiten mit einem scheinbar prominenten Ton am Anfang einteilt.246

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Alternanzprinzip bereits durch die Buchner-Reform abgeschwächt. (Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik, S. 84.) Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 42. Vgl. Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 218. Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 42 und Pia Bergmann: Laute, S. 67, 84. Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 94 und Pia Bergmann: Laute, S. 79. Diese Bahnungseffekte zeigen sich an unserer Freude an Wortspielen, die auf Lautähnlichkeiten basieren. (Vgl. ebd., S. 86 und Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 42.) Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 82.

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Systematisch lässt sich dieser Hang zur Ordnung mithilfe der in den 1910er Jahren begründeten Gestaltpsychologie beschreiben.247 Diese beobachtete verschiedene Prinzipien, denen die menschliche Wahrnehmung folgt. Dazu zählt erstens die Orientierung an Ähnlichkeiten. Entsprechend werden ähnliche Laute im Sprachverstehen zu Gruppen zusammengefasst.248 Aus diesem Grund bewertet die Wahrnehmung Akzente lediglich anhand ihrer Differenz als höher oder tiefer, nicht aber als unendlich unterschiedlich. Zweitens führt die Gestaltpsychologie das Prinzip des gemeinsamen Schicksals an. Dieses besagt in Bezug auf Laute, dass sprachliche Signale, die einen analogen Verlauf aufweisen, als zusammengehörig empfunden werden. Somit wird ein Akzentverlauf, anstelle mehrerer parallel verwendeter Suprasegmentalia vernommen. Zusätzlich unterstützt wird diese gemeinsame Wahrnehmung durch ein drittes Prinzip, die zeitliche Synchronizität. Gleichzeitig produzierte Suprasegmentalia werden also miteinander assoziiert. Viertens gehorcht die Wahrnehmung dem Prinzip der guten Gestalt. Dieses kann sogar als die zentrale Grundannahme der Gestaltpsychologie angesehen werden. Es steht dafür, dass sinnhafte Verknüpfungen möglichst einfache Gestalten erzeugen. Oder anders herum: Besonders prägnante Lautgestalten werden bevorzugt wahrgenommen. Für die Rhythmuswahrnehmung lässt sich das Prinzip der guten Gestalt sogar methodisch fruchtbar machen. Durch die Orientierung an Komplexität bzw. Prägnanz lässt sich nämlich die Wahrnehmbarkeit von Akzentfolgen einschätzen. Dementsprechend werde ich im Folgenden vier Rhythmustypen nach ihrer Eingängigkeit unterscheiden. Der am schwersten wahrnehmbare Rhythmustyp findet sich in nicht gebundener Sprache, also Prosa. Texte dieser Art weisen wenige bis gar keine regelmäßigen Akzentuierungen auf. Die Wörter mit feststehenden schweren

247 Vgl. ebd., S. 82. Goldstein fasst in seinem Lehrbuch zur Wahrnehmungspsychologie zusammen, warum zwar die Gestaltpsychologie, nicht aber die aktuelle psychologische Forschung mit vollzugsmäßigen Grundannahmen kompatibel ist. Letztere bewertet nämlich Messungen höher als Beschreibungen und spitze die Fülle der Wahrnehmung damit auf einzelne Mechanismen hin zu. (Vgl. Evan Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie, S. 116.) Die Nähe zwischen Vollzugsdenken und Gestaltpsychologie zeigt sich sehr gut an der leitenden Grundannahme der Disziplin. Diese lautet: ›Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.‹ Gemeint ist damit, dass Verstehen bzw. Wahrnehmung auf dem sinnhaften Verknüpfen kleinerer Einheiten zu größeren beruht, also auf zeiträumlichen Sinnbezügen. (Vgl. ebd., S. 107.) 248 Vgl. zu den Prinzipien der Gestaltpsychologie im Folgenden ebd., S. 108-111.

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Wortakzenten (Schweregrad 3 und 4) sind hier nicht so angeordnet, dass eine regelmäßige Abfolge entsteht. Stehen dann mehrere Einsilber mit Schweregrad 2 hintereinander, ist nicht eindeutig zu entscheiden, welche von diesen stärker und welche schwächer zu betonen sind. Die Betonung schwebt. Insgesamt kann sich so kein rhythmischer Eindruck einstellen. Begrifflich fasse ich diesen ersten Typ deswegen als nur rhythmisch im weiteren Sinne, also als unregelmäßig akzentuiert, auf. Lösener versucht zwar am Beispiel des grimmschen Kinder- und Hausmärchens Die Sterntaler einen Prosatext rhythmisch zu analysieren. So bestimmt er mehrere in den Text eingestreute jambische Sequenzen, die zugleich semantische Zusammenhänge stiften sollen.249 Allerdings machen diese weniger als ein Drittel des Gesamttexts aus. Zwischen ihnen liegt entsprechend oft mehr als ein ganzer Satz. Es erscheint mir daher zweifelhaft, dass sich hier wirklich eine Rhythmuswahrnehmung einstellt. Gestützt wird mein Vorbehalt durch einen Befund aus der Wahrnehmungspsychologie. Diese schätzt die Verstehensgegenwart des Menschen, also die Zeitspanne, innerhalb derer Wahrnehmungseindrücke als Einheit aufgenommen werden können, nämlich auf nur ca. drei Sekunden. Dies entspricht ungefähr der Länge eines Satzes bzw. eines Verses. Beim Hören verkürzt sich die Spanne sogar noch auf ein bis zwei Sekunden.250 Tauchen regelmäßig akzentuierte Sequenzen also nur isoliert in Teilsätzen auf, ist es kaum wahrscheinlich, dass diese als Rhythmus wahrgenommen werden können. Dagegen spricht auch, dass an sprachlichen Äußerungen stets mehrere Suprasegmentalia beteiligt sind. So können der Akzentstruktur nach rein jambische Sequenzen durchaus in ihrer syntaktischen Einteilung voneinander abweichen. Dies erzeugt Differenzen in der globalen Intonation und Pausensetzung und damit auch in der Rhythmuswahrnehmung. Trotz ähnlicher Akzentuierung kann sich also ein unterschiedlicher Gesamteindruck einstellen.251 Löseners Versuch, Prosa als regelmäßig akzentuiert zu lesen, ist sicherlich seinem weiten Rhythmusbegriff geschuldet. Damit nimmt er nämlich eine reziproke, nicht aber eine deduktive Leseeinstellung ein. So ist zu vermuten, dass seine theoretische Annahme, Sprache sei (nur) Rhythmus, dazu verleitet,

249 Vgl. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 173. 250 Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 28. 251 Vgl. dazu Löseners Gegenüberstellung von ›das ganze Stückchen Brot und sagte‹ und ›Es friert mich so an meinem Kopfe‹. Im ersten Satz liegt eine Pause bzw. das Ende eines Intonationsbogens nach der sechsten Silbe vor, im zweiten Satz dagegen eher nach der vierten Silbe. (Vgl. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 173.)

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überall nach regelmäßigen Akzentfolgen zu suchen und damit den tatsächlichen auditiven Eindruck beim Lesen überformt. Letztlich erscheint mir eine Einteilung in rhythmische und nicht rhythmische Akzentfolgen deswegen nach wie vor plausibel. Demnach wird zwar immer eine Akzentuierung, nicht aber notwendig ein Rhythmus wahrgenommen.252 Innerhalb der wahrnehmbaren Rhythmustypen lassen sich verschiedene Grade an Prägnanz unterscheiden.253 Ich beginne dabei mit einer minimalen Einprägsamkeit.254 Dieser Eindruck entsteht bei besonders komplexen Akzentverteilungen, die isometrische, aber nicht isochrone Rhythmen umfassen.255 Damit ist gemeint, dass die Abstände zwischen den betonten Silben nicht immer identisch sind, zwischen ihnen also unterschiedlich viele unbetonte Silben stehen können. Allerdings wiederholt sich das Muster aus betonten und unbetonten Silben in gewissen Abständen. Diese Form liegt beispielsweise in Odenstrophen vor.256 Welch hohe Anforderungen dieser Rhythmustyp an die Wahrnehmung stellt, will ich kurz anhand eines Ausschnitts aus Klopstocks Ode An Fanny vorführen. Wenn einst ich tot bin, wenn mein Gebein zu Staub Ist eingesunken, wenn du, mein Auge, nun Lang über meines Lebens Schicksal, Brechend im Tode, nun ausgeweint hast,   Und stillanbetend da, wo die Zukunft ist, Nicht mehr hinauf blickst, wenn mein ersungner Ruhm,

252 Auch Lotman weist darauf hin, dass die Musikalität eines Texts sich nur »bei höchster Gebundenheit der verbalen Struktur« einstellt, andernfalls wird kann sie nicht wahrgenommen werden. (Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 181.) 253 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 88. 254 Eine interessante Form der sprachlichen Bindung scheinen mir Freie Rhythmen zu sein, die in Klopstocks Verständnis in jeder Strophe das Silbenmaß verändern. (Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik, S. 122.) Stehen diese rhythmisch zwischen dem ersten und zweiten Typ? Oder ist es vielleicht sinnvoller, ihren Klang nicht rhythmisch, sondern eher über Intonation und Pausennutzung zu erklären? Innerhalb meiner Arbeit kann ich diesen Fragen leider nicht nachgehen. 255 Bei der folgenden Einteilung folge ich Auer/Couper-Kuhlen. Allerdings untersuchen diese selbst nur isochrone Typen. (Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 86f.) 256 Teilweise findet sich dieser Rhythmustyp auch in den stichisch gebauten antikisierenden Versmaßen.

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Die Frucht von meiner Jünglingsträne, Und von der Liebe zu dir, Messias!257 An Fanny weist gemessen an anderen Oden ein verhältnismäßig prägnantes Metrum auf. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass die ersten beiden Verse identisch sind. Dabei alterniert ihre erste Hälfte jeweils regelmäßig zwischen Senkungen und Hebungen. Lediglich in der zweiten Hälfte wird diese Regelmäßigkeit durch zwei aufeinanderfolgende Senkungen unterbrochen. Der dritte Vers schließt als erweiterte Alternation bruchlos an den zweiten an. Der vierte Vers weist das größte Maß an Unregelmäßigkeit auf: v – v – v, – v v – v –, v – v – v, – v v – v –, v – v – v – v – v, – v v – v v– v – v .258 Die ersten konkreten Versuche, die Ode deduktiv, also ohne Kenntnis des Metrums, rhythmisch zu lesen, zeichnen sich durch Unsicherheit aus. Zwar ist der Text in weiten Teilen auch ohne größere Versprecher laut lesbar. Allerdings strengt das laute Lesen an, da sich nicht das Gefühl eines festen Rhythmus einstellt. Jeder Vers fordert aufs Neue ein Höchstmaß an Konzentration. Es lässt sich also kaum vermeiden, den Text zuerst ohne deutliche Betonung zu überfliegen. Beim ersten Anlauf eines rhythmischen Lesens bereitet dann bereits der erste Vers Schwierigkeiten, da er zu Beginn aus drei Wörtern des Betonungsgrads 2 besteht: »Wenn einst ich‹«. Eine Möglichkeit, diese laut zu lesen, setzt bei einer starken Betonung des initialen ›Wenn‹ an. Der Anreiz, dieses betont zu lesen, ist relativ groß, da auf den ersten Temporalsatz mit ›wenn‹ sofort ein zweiter und im zweiten Vers sogar ein dritter folgt. (An dieser Stelle wirkt sich natürlich die nicht rhythmische Erstlektüre aus, die einen Überblick über mehrere Verse gibt.) Zudem wird die Konjunktion in alltäglicher Verwendung auch eher betont als unbetont verwendet. Ich schätze den Schweregrad der Betonung auf 3 ein. Somit ergibt sich: ›Wénn einst ich…‹, ›wénn mein Ge…‹, ›wénn du mein…‹. Wird ›wenn‹ hier jedes Mal betont, stellt sich eine einigermaßen regelmäßige Akzentuierung ein, die durchaus ohrenfällig ist. Auf das betonte Wort ›wenn‹ folgen nämlich stets zwei unbetonte Silben. Es werden also jeweils drei Daktylen gelesen, die danach in eine weniger

257 Friedrich Gottlieb Klopstock: An Fanny, S. 39. 258 Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 228.

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prägnante Akzentuierung auslaufen. Der rhythmische Eindruck wird dabei jeweils von einem bestimmten Geschwindigkeitseindruck begleitet und stabilisiert. Durch die zwei aufeinanderfolgenden schwachen Betonungen hat der daktylische Beginn ein hohes Tempo, das sich danach deutlich verringert.259 Die annähernd daktylische Gestalt ist sogar auffällig genug, um zu Beginn des vierten Verses wieder in Erinnerung zu treten. So kann man hier erneut daktylisch ansetzen: ›Bréchend im…‹, Dies gelingt, auch wenn der dritte Vers dem Schema der auslaufenden Daktylen zuwiderläuft. Er macht den Eindruck eines rhythmisch amorphen Zwischenspiels. Dies ist faszinierend, da der dritte Vers laut theoretischem Metrum eigentlich ein streng alternierender Vers ist und damit eine prägnante Gestalt aufweisen sollte. Durch die Konditionierung auf die Daktylen wird dies jedoch nicht mehr erkannt. Versucht der Leser diesen Rhythmus der auslaufenden Daktylen dann in die nächste Strophe zu tragen, scheitert er endgültig. Keinesfalls kann er ›Únd stillanbétend‹ lesen, da dies jeglicher sprachlichen Intuition zuwiderläuft. Soll über diesen Punkt hinaus weitergelesen werden, muss die einmal gewonnene rhythmische Orientierung also aufgegeben und durch eine andere ersetzt werden. Vielleicht verändert der Leser an dieser Stelle auch seine Leseeinstellung und nimmt das oben angegebene Metrum zur Hilfe. Dafür wechselt er solange zwischen Lesen und Abgleichen hin und her, bis er sich das abstrakte Metrum in sein Gedächtnis eingeprägt hat. Dies benötigt etliche Anläufe, um schließlich in der Lage zu sein, das Gedicht ohne Unterbrechung zu lesen. Aber selbst dann stellt sich kaum das Gefühl prägnanter Rhythmizität ein. Womöglich gelingt es, die ersten beiden Verse rhythmisch zu lesen, nämlich als durchgängig alternierende Verse mit einer doppelten schwachen Betonung im hinteren Teil. Dadurch erhöht sich gegen Ende der beiden Verse jedes Mal das Tempo, weil die beiden schwachen Betonungen zusammengezogen und also schneller gelesen werden. Aber selbst dies ist schwierig, da die Verse unterschiedliche Wortgrenzen und syntaktische Strukturen aufweisen. Auch sind die Verse in gedruckter Form unterschiedlich lang. Der visuelle Eindruck kann den auditiven also zusätzlich irritieren. Durch die relativ prägnante zweimalige Doppelung schwacher Silben am Ende wird es zudem schwierig, in das streng alternierende Metrum des dritten Verses überzugehen. Der vierte Vers, der eine Art Spiegelung der ersten beiden Verse darstellt, sorgt schließlich endgültig 259 Diese Lesart ist deswegen verlockend, weil sie einem prägnanteren Rhythmustyp entspricht, den ich im Folgenden erläutern werde: dem isochronen, aber nicht isometrischen Rhythmus.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

dafür, dass die Erinnerung an diese verblasst. Beim Übergang in die nächste Strophe muss die Gestaltsuche also von vorne beginnen. Die Beschreibung eines Leseversuchs von Klopstocks Ode zeigt, wie komplex isometrische, aber nicht isochrone Rhythmen zu verstehen sind. Um wirklich einen Rhythmus zu erkennen, muss sich der Leser hier weit in die Eigenzeit des Gedichts hinein entrücken lassen, im Idealfall mindestens fünf Verse, das heißt eine ganze Strophe weit. Dies übersteigt jedoch deutlich die Gegenwart des Verstehens, die ungefähr einen Vers lang währt. Stärker kommt dieser Aufmerksamkeitspanne der nächst prägnantere dritte Typus entgegen. Bei diesem handelt es sich um isochrone, aber nicht isometrische Rhythmen. Schwere Betonungen stehen hier im gleichen zeitlichen Abstand zueinander, wobei sich zwischen ihnen unterschiedlich viele leicht betonte Silben befinden können. Insgesamt weist die menschliche Wahrnehmung dabei eine recht hohe Toleranz gegenüber objektiven Abweichungen von isochronen Gestalten auf. Bis zu 30 Prozent längere oder kürzere Abstände müssen nicht notwendig als Störung empfunden werden.260 Die Menge an möglichen Beispieltexten für diesen Rhythmustyp ist schier unendlich. Letztlich zählen nämlich alle Texte in gebundener Sprache dazu, die annähernd regelmäßig gebaut sind. Regelmäßig meint hier den Aufbau aus nur einem Versfuß. Es geht also um jambische, trochäische, daktylische und anapästische Metren mit geringen Abweichungen. Als Beispiel ziehe ich einen Ausschnitt aus Heinrich Heines Ballade Belsatzar heran. Belsatzar Die Mitternacht zog näher schon; In stummer Ruh lag Babylon.   Nur oben in des Königs Schloß, Da flackerts, da lärmt des Königs Troß.   Dort oben in dem Königssaal Belsatzar hielt sein Königsmahl.   Die Knechte saßen in schimmernden Reihn, Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.  

260 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 82, 91f.

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Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht; So klang es dem störrigen Könige recht.   Des Königs Wangen leuchten Glut; Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.   Und blindlings reißt der Mut ihn fort; Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.   Und er brüstet sich frech, und lästert wild; Der Knechtenschar ihm Beifall brüllt.   Der König rief mit stolzem Blick; Der Diener eilt und kehrt zurück.   Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt; Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt.   Und der König ergriff mit frevler Hand Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.261 Das Gedicht weist in weiten Teilen ein regelmäßiges jambisches Metrum auf. Das rhythmische Lesen gestaltet sich damit recht einfach. Bereits mit den ersten beiden Worten wird der Grundstein dafür gelegt: ›Die Mítternácht‹. Dadurch dass das Gedicht mit einem Kompositum einsetzt, muss sich der Leser lediglich am Wortakzent orientieren. Dieses grammatische Wissen ist leicht abrufbar. Verstärkt wird die Prägnanz der Gestalt noch durch das Aufeinanderprallen der Akzentschwere 4 in »Mit« mit der Akzentschwere 1 in »ter«. Entsprechend gibt es keine andere Möglichkeit, als die Phrase insgesamt auftaktig alternierend zu lesen. Dieser leicht zu erkennende Rhythmus wird deswegen auch auf den Rest des Verses sowie den zweiten Vers übertragen. Die Prägnanz des Beginns täuscht dabei sogar darüber hinweg, dass in der ersten Strophe die beiden Verben »zog« und »lag« entgegen ihrem schweren Wortakzent unbetont gelesen werden. Und auch die zweite Strophe beugt sich nahezu problemlos dem jambischen Rhythmus. Ins Stocken

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Heinrich Heine: Belsatzar, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, 6 in 7 Bde., München 2005, Bd. 1, S. 54f.

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geraten könnte man höchstens im vierten Vers. Hier prallen zwei unbetonte Silben, die zweite Silbe in »flackerts« und »da«, aufeinander. Für den geübten Leser wird die Isochronie des Rhythmus hier allerdings nicht gestört. Statt einer schweren Betonung liest er eine Pause nach »flackerts«. Innerhalb einer sonst prägnanten Gestalt stellt diese Ersetzung durch einen leeren Schlag nur eine geringe Herausforderung dar.262 Eine weitere Adaption des Leseflusses muss in Vers sieben erfolgen. In dem Wort ›schímmernden‹ folgen statt einer zwei unbetonte Silben auf den Wortakzent. Allerdings fügt sich dies erneut problemlos in die etablierte Isochronie ein. Die beiden unbetonten Silben werden einfach schneller gelesen, so dass man nicht aus dem Takt kommt. Die verschliffene Silbengrenze zwischen »schim-« und »-mernden« gestaltet dies artikulatorisch einfach. Zugleich bereitet die kleine Unregelmäßigkeit die Umstellung auf einen daktylischen Rhythmus im nächsten Vers vor, der in Vers neun und zehn dann auch regelmäßig weitergeführt wird. Im Übergang zu Vers elf stockt der Lesefluss jedoch ein wenig. Dies liegt daran, dass der Rhythmus erneut zu einem jambischen rückgebaut wird. Im Versuch mit verschiedenen Lesern war in diesem Vers meist ein Versprecher zu beobachten. Statt »leuchten« wurde ›leuchteten‹ gelesen. Dabei diente die Präteritalform vermutlich dazu, den daktylischen Rhythmus aufrechtzuerhalten. Der Versprecher kann also als Hinweis darauf gewertet werden, dass der Übergang in ein neues Metrum eine gewisse Zeitspanne, vermutlich einen Vers lang, benötigt. Diese Deutung wird noch durch einen analogen Versprecher in Vers 21 gestützt. So wird in Vers 19 und 20 erneut ein daktylischer Rhythmus etabliert und vom Leser in Vers 21 einfach fortgesetzt. Dadurch formt er das Wort »frevler« in ›freveler‹ um. Die Beschreibung zeigt, dass das laute Lesen isochroner, aber nicht isometrischer Rhythmen verhältnismäßig leichtfällt. Der Rhythmus wird hier innerhalb einer Verstehensgegenwart ein- und weitergeführt. Die besondere Schwierigkeit besteht eher darin, sich nicht von der Einprägsamkeit mitreißen zu lassen, also Abweichungen von einem etablierten Rhythmus nicht zu überlesen. Diese Prägnanz lässt sich jedoch noch steigern. Dies erreichen sowohl isochrone als auch isometrische Rhythmen. Auf Seiten des Metrums entspricht dies der durchgehenden Nutzung nur eines Versfußes. Bisher habe ich diesbezüglich immer vier in der deutschen Metrik gängige Füße unterschieden.263 Zu

262 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 87. 263 Vgl. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik, S. 38.

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diesen zählen Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst.264 Betrachtet man diese Reihe jedoch von der Warte der Wahrnehmung aus, reduziert sie sich auf zwei Füße. Im Deutschen werden regelmäßige Rhythmen nämlich stets so gehört, dass ihre Einheit mit einer Betonung beginnt.265 Damit entfallen der jambische und der anapästische Rhythmus, weil sie nicht ohrenfällig sind. Zwar wird durchaus wahrgenommen, ob ein Vers auftaktig beginnt. Dieser einmalige Eindruck verliert sich jedoch innerhalb einer sich anschließenden längeren Akzentfolge. Insgesamt erscheint mir die Unterscheidung mehrerer Versfüße deswegen höchstens bei sehr komplexen Rhythmen sinnvoll, wie ich sie am Beispiel einer Ode betrachtet habe. In Bezug auf den dritten und vierten Rhythmustyp gehe ich dagegen nur noch von einem binären und einem ternären Rhythmus aus. Dabei sind binäre und ternäre Gestalten gleichermäßen prägnant.266 Unterschiede ergeben sich nur durch zusätzliche Bedingungen, die die Prägnanz eines Rhythmus abschwächen bzw. erhöhen können. Diese (De-)stabilisierungseffekte gelten natürlich für alle Rhythmustypen. Zur Veranschaulichung führe ich sie jedoch am Beispiel sowohl isochroner als auch isometrischer Strophen aus Goethes West-östlichem Divan auf. Eine Beeinträchtigung regelmäßiger Rhythmen üben zum Beispiel unterschiedliche syntaktische Grenzen aus.267 Diese stören die IsochronieWahrnehmung. Ihre stärkste Form stellen Satzgrenzen dar, die auch innerhalb der Buchstabenschrift markiert werden und so optisch den auditiven Eindruck einer Trennung stützen. Bräunchen komm! Es wird schon gehen. Zöpfe, Kämme groß und kleine, Zieren Köpfchens nette Reine Wie die Kuppel ziert Moscheen.268

264 Zur Spondeus-Debatte vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 98f. 265 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 87. 266 Dies zeigt sich daran, dass, wie bereits erwähnt, auch eine Folge von identischen Tönen in der Wahrnehmung in Zweier- oder Dreiereinheiten eingeteilt wird. (Vgl. ebd., S. 82 und Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 95.) 267 Zu diesem Schluss kommt auch Schwitalla, wenn er schreibt, dass zwar Akzente, nicht aber Intonationsverläufe von syntaktischen Strukturen abhängen. (Vgl. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, S. 67) 268 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter, 21 in 33 Bde., München 2006, Band 11.1.2, S. 78.

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Alle Verse weisen hier ein durchgängig alternierendes Metrum auf. Durch die syntaktische Zäsur nach dem Imperativsatz im ersten Vers entsteht beim Sprechen jedoch eine kurze Pause. Dagegen erhöht die Aufzählungsstruktur im zweiten Vers deutlich das Sprechtempo sowie den inneren Zusammenhang des Verses. Der rhythmische Eindruck der beiden Verse unterscheidet sich damit deutlich, trotz vorliegender Isometrie. Aber nicht nur Satz-, auch Wortgrenzen können einen Einfluss auf die Rhythmuswahrnehmung nehmen, wenn diese innerhalb der Verse sehr stark variieren. Nun wer weiß was sie erfüllet! Kennt ihr solcher Tiefe Grund? Selbstgefühltes Lied entquillet, Selbstgedichtetes dem Mund.269 Innerhalb der vier isometrischen Verse steigt kontinuierlich die durchschnittliche Wortlänge an. Diesem korrespondiert der Eindruck eines sinkenden Sprechtempos. Zudem wirkt der vierte Vers im Vergleich zum zweiten etwas kürzer, obwohl die Zahl der Silben und damit der rhythmischen Schläge identisch ist. Grund dafür sind Wechselwirkungen zwischen zwei intonatorische Größen. So stellt die Grundeinheit gebundener Sprache die Silbe dar. Anhand dieser wird die Akzentverteilung eines Verstexts bestimmt. Hier ist sie besonders einprägsam, da sich durchgängig binär ist. Dagegen ist die Grundeinheit der Alltagssprache das Wort.270 Dies gilt insbesondere für das Deutsche, das sich durch verschiedene Gestaltungsprinzipien auszeichnet, die die Silbengrenze schwächen, dafür aber die Wortgrenze stärken. Letztere ist somit im Gegensatz zu Ersterer wirklich hörbar. Die Sprachwissenschaft bezeichnet das Deutsche deswegen auch als Wortsprache.271 Insgesamt konkurrieren beim Lesen von Goethes Versen also Silben- und Wortgrenzen miteinander.

269 Ebd., S. 79. 270 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 186. Schon Klopstock beschreibt, dass Wortfüße die formale Ordnung des Metrums überlagern. (Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 130, 305f und Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 107-109.) 271 Vgl. Remigius Bunia: Metrik und Kulturpolitik, S. 109 und Pia Bergmann: Laute, S. 75. Im Gegensatz zu Silbensprachen, wie dem Französischen, sind Wortsprachen zwar artikulatorisch aufwendiger, aber dafür besser in der Lage, Informationen für Hörer aufzubereiten. Dies begünstigt eine phänomenologische Untersuchung des deutschen Rhythmus.

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Oder in literaturwissenschaftlichem Vokabular: Neben die bestehenden Versfüße treten Wortfüße. Beide Größen können einander entweder stabilisieren, dann nämlich, wenn die Wortgrenzen ähnlich regelmäßig verteilt sind wie die Akzente, beispielsweise wenn Vers- und Wortfüße sich regelmäßig treffen. Oder ihre Verteilung verringert die Prägnanz des Rhythmus. Dies geschieht, wenn das Verhältnis von Akzentverteilung und Wortgrenzen stark variiert, beispielsweise wenn die Versfüße regelmäßig verteilt sind, während sich die Länge der Wörter ständig verändert. Schließlich nimmt auch das Akzentverhältnis von Versende und -anfang Einfluss auf die Rhythmuswahrnehmung. Es macht nämlich einen Unterschied, ob der Rhythmus nach dem Zeilensprung ungebrochen weitergeführt wird oder ob eine betonte Kadenz und ein betonter Versanfang aufeinanderprallen. Deinem Blick mich zu bequemen, Deinem Munde, deiner Brust, Deine Stimme zu vernehmen War die letzt‹ und erste Lust.272   Kaum daß ich dich wieder habe, Dich mit Kuß und Liedern labe, Bist du still in dich gekehret; Was beengt? und drückt und störet?273 Der Unterschied zeigt sich im Vergleich der beiden obigen Strophen. In der ersten Strophe prallen mit ›Brúst‹ am Ende des zweiten und ›Deíne‹ am Anfang des dritten Verses zwei betonte Silben aufeinander. Beim lauten Sprechen fühlt es sich so an, als müsse man zu Beginn des dritten Verses neu ansetzen. Obwohl die ersten drei Verse syntaktisch identisch gebaut sind, sich also als durchgängige Aufzählung lesen ließen, erzeugt dies ein kurze Pause. In der zweiten Strophe dagegen können die Verse ohne Unterbrechung am Versende gelesen werden, da die alternierende Akzentverteilung im Übergang zum folgenden Vers beibehalten wird. Auch der deutlich unterschiedliche Satzbau in Vers zwei und drei stört dabei nicht. Für eine Pause sorgt hier höchstens das Fragezeichen in Vers vier. Interessant ist dabei, dass das Satzzeichen an dieser Stelle eigentlich ungrammatisch ist. Der Leser würde 272 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, S. 85. 273 Ebd., S. 83.

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den intonatorischen Fluss also nur unterbrechen, weil er ein bestimmtes Zeichen sieht, nicht aber weil es syntaktisch geboten wäre. Entsprechend können auch optische Eindrücke die Rhythmuswahrnehmung beeinflussen. Auslöser stellen beispielsweise Satzzeichen oder unterschiedliche Verslängen dar. Bisher konnten auf Grundlage des Prinzips der guten Gestalt insgesamt drei Rhythmustypen im engeren sowie ein Typ im weiteren Sinne, also mit unregelmäßiger Akzentuierung, bestimmt werden. An dieser Stelle führe ich nun noch zwei weitere Prinzipien aus der Gestaltpsychologie ein. Mit ihrer Hilfe lässt sich der Blick auf die Prägnanz von Rhythmen noch erweitern. So soll erläutert werden, wie sich der Eindruck von Rhythmizität über längere Textpassagen hinweg aufbaut und verändert. Das fünfte Prinzip des guten Verlaufs besagt, dass Verläufe oder Bewegungen vom Menschen stets so eingeschätzt werden, dass sie dem einfachsten Weg folgen. Das wiederum bedeutet, dass etablierte Teilvollzüge der Wahrnehmung fortgesetzt werden, solange kein gegenläufiger Anreiz geboten wird. Diese Annahme greift mit dem sechsten Prinzip der Vertrautheit ineinander, nach dem Elemente besser sinnhaft aufeinander bezogen werden können, wenn der Zusammenhang zwischen ihnen ein vertrauter ist. Ist der sinnhafte Zusammenhang erst einmal etabliert, wird es entsprechend schwierig, die Elemente in andere Bezüge einzuordnen. Aus diesen beiden Prinzipien lässt sich eine These zur länger anhaltenden Wahrnehmung der Akzentverteilung beim Lesen ableiten: Rhythmus ist ein dynamisches Phänomen.274 Damit ist gemeint, dass es einen Rhythmus nicht einfach vorgängig gibt. Vielmehr muss er erlesen werden. In einen Rhythmus muss man hineinkommen, indem man ihn beim Lesen aufbaut. Er muss einem Kontinuum aus unterschiedlichen Lauten nach und nach abgerungen werden. Dies zeigten auch die obigen Gedichtlektüren. Rhythmen prägten sich hier besonders gut ein, wenn sie über mehrere Verse hinweg isochrone und isometrische Gestalten zeigten, also innerhalb mehrerer Verstehensgegenwarten konstant blieben. Damit wuchs die Gewöhnung an den Rhythmus stetig. Diese bestimmte zugleich die Erwartungshaltung an spätere Verse. Wurde nämlich die Isometrie leicht gestört, konnte es dazu

274 Fraisse beschäftigt sich zwar mit motorischen und nicht mit sprachlichen Rhythmen, er kommt aber zum gleichen Schluss wie ich: »rhythmic groups are dynamic organizations.« und »rhythm appeared when a rapid movement became automatic.« (Paul Fraisse: Is Rhythm a Gestalt?, in: Suitbert Ertel, Lilly Kemmler, Michael Stadler (Hg.): Gestalttheorie in der modernen Psychologie, Wolfgang Metzger zum 75. Geburtstag, Darmstadt 1975, S. 227-232, hier: S. 230.)

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kommen, dass die vertraute Gestalt die eigentliche Wahrnehmung des Verses überlagerte. In der Folge wurden kleine Abweichungen im Text überlesen, also dem etablierten Sinn angeglichen. Als besonders schwer stellte sich dagegen das Lesen isometrischer, aber nicht isochroner Rhythmen heraus. Diese zeigten nämlich Gestalten, die eine Verstehensgegenwart teilweise weit überstiegen. Hier ergaben sich Isometrien erst zwischen zwei Versen oder sogar zwischen zwei Strophen. Dies erschwerte in hohem Maße die Eingewöhnung in den Rhythmus, weil die Erinnerung hier sehr weit über die Verstehensgegenwart hinaus zurückgreifen und zugleich weit entfernte Akzentuierungen antizipieren musste. Der zu überblickende Zeitraum war hier besonders groß bzw. komplex. Insgesamt ergibt sich damit, dass sich die Prägnanz eines Rhythmus umgekehrt proportional zur Lesezeit bzw. zur Textmenge verhält, die benötigt wird, um einen Rhythmus deutlich wahrzunehmen.275 An dieser Stelle sollen nun die zunächst getrennt voneinander behandelten Intensitätsgrade der Wahrnehmung und die Rhythmustypen aufeinander bezogen werden. Dabei helfen mir die Analysekategorien des Selbst- und Fremdbezugs. Während nämlich der Intensitätsgrad der Wahrnehmung stärker vom Leser abhängt, wird die rhythmische Prägnanz vom Text vorgegeben. Tab. 7: Selbst- und Fremdbezug des Rhythmusverstehens Intensitätsgrade der Rhythmuswahrnehmung

Rhythmustypen in aufsteigender Prägnanz

1) musikalische Wahrnehmung

1) isometrisch, aber nicht isochron

2) alltägliche Wahrnehmung

2) isochron, aber nicht isometrisch

3) ästhetische Wahrnehmung

3) isochron und isometrisch

Bei der Verknüpfung von Intensitätsgraden und Rhythmustypen dürfen im Sinne meines Vollzugsdenkens natürlich keine kausalen Zusammenhänge angenommen werden. Grundsätzlich gilt somit, dass jeder Intensitätsgrad des Verstehens in Kombination mit jedem Rhythmustyp auftreten kann. Ich will hier lediglich auf einige typische Beispielsituationen eingehen: Natürlich bieten besonders komplexe Rhythmusformen den größten Spielraum für ei-

275 Zu diesem Ergebnis kommen auch Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 86.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

ne ästhetische rhythmische Wahrnehmung.276 Verschärft gilt dies noch, wenn die Akzentverteilung im Text und andere Sinnsysteme innerhalb der gesprochenen Sprache, wie beispielsweise die natürliche Intonation, nicht übereinstimmen. Dann muss der Leser aus einer Vielzahl unterschiedlicher Lesarten auswählen. Zugleich gilt der Umkehrschluss aber nicht. Denn auch einfache Rhythmen können ästhetisch wahrgenommen werden. Dann bietet sich dem durch die rhythmische Prägnanz entlasteten Verstehen die Möglichkeit, den Rhythmus in reichhaltige syntaktische und semantische Verknüpfungen einzukleiden.277 Beispielsweise findet sich in der Forschung zur gesprochenen Sprache der Hinweis, dass rhythmisierte Sprache besser erinnert werde.278 Ich deute dies als den eben geschilderten Fall: Ein prägnanter279 rhythmischer Text wird ästhetisch wahrgenommen, wodurch auch Wortfolgen und syntaktische Struktur so eindrücklich sind, dass der gesamte Text langfristig im Gedächtnis bleibt. Während sich die ästhetische Wahrnehmung allen Rhythmustypen adäquat zuwenden kann, besteht jedoch eine gewisse Affinität zwischen einer musikalischen Wahrnehmung und sehr prägnanten Texten. Einerseits führen komplexe Rhythmen bei dieser Form des Lesens nämlich sehr wahrscheinlich zum Abbruch der Lektüre. Andererseits begünstigt ein auffälliger Rhythmus eine Konzentration auf seine prägnante Gestalt und damit eine Vernachlässigung anderer Sinnzusammenhänge. Die Verknüpfung von Rhythmusgestalt und Rhythmuswahrnehmung führt weiterhin zu der Frage, wie der Rhythmus eigentlich in den Gesamtsinn eines Texts eingebunden ist. Oder vollzugsmäßig ausgedrückt: Welche Bedeutung präsentiert der Rhythmus? Wie für alle Suprasegmentalia gilt dabei, dass sich keine einfache Form-Funktionszuordnung aufstellen lässt. Entsprechend sollte die Beschreibung der Rhythmusbedeutung formal leer 276 Allerdings darf die Akzentstruktur auch nicht so komplex sein, dass sie gar nicht mehr verstanden werden kann. 277 Als Beispiel lässt sich hier Gryphius’ Sonett Thraenen des Vaterlandes anführen, das fast durchgehend aus jambischen Alexandrinern besteht. Nur an einer einzigen Stelle, im dritten Vers nämlich, wird dieses Schema variiert. Hier muss sich der Leser entscheiden, ob er dem Rhythmus gemäß ›Das vóm Blutt fétte Schwért‹ liest oder sich eher an der natürlichen Intonation orientiert und zunächst schwebend und dann das wichtige Inhaltswort ›Blútt‹ akzentuiert. (Vgl. Andreas Gryphius: Thraenen des Vaterlandes/Anno 1636, in: ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. von Marian Szyrocki, Hugh Powell, 10 Bde., Tübingen 1963-, Bd. 1, S. 48.) 278 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 84. 279 Es muss sich hier um einen prägnanten Rhythmus handeln, da niemand behaupten würde, dass eine Klopstock-Ode aufgrund ihres Rhythmus einfach zu erinnern sei.

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erfolgen.280 Deswegen fällt es der traditionellen literaturwissenschaftlichen Forschung auch schwer, Rhythmus oder Klang überhaupt in ihre Textinterpretationen einzubinden. Dies kann so weit gehen, dass ihr Sinn vollständig negiert oder als gegenüber semantischer Bedeutung subversiver Überschuss deklariert wird.281 Wird der Rhythmus dagegen in die Deutung eines Texts aufgenommen, erfolgt dies häufig rein gehaltlich. Dies ist besonders problematisch, wenn übersehen wird, dass die Bedeutung eines Rhythmus streng situativ erzeugt wird, das heißt stets innerhalb eines bestimmten Texts bzw. Textabschnitts ausgedeutet werden muss.282 Eine annähernd lautgenaue Wiederholung in einem anderen Text gibt es für den Rhythmus folglich nicht. Aussagen wie, Anapäste hätten einen dramatischen und Jamben einen komödiantischen Klang,283 verleugnen dies allerdings konsequent.284 Ebenfalls unangemessen, wenn auch schon situativer gedacht, sind Interpretationen, die den Rhythmus so deuten, als spiegele er direkt den Inhalt eines Gedichts wieder. Lösener führt hierzu Beispiele aus der Erlkönig-Rezeption an, die den unregelmäßigen Rhythmus teils als Figuration eines Pferdegalopps, teils als Tanz der schönen Töchter hören.285 All dies sind jedoch nur nachträgliche Projektionen, für die während des eigentlichen Lesevollzugs kein Raum ist. Sie nehmen den Rhythmus als etwas, das er nicht ist, nämlich als eine Aneinanderreihung von Worten, einen syntaktischen Zusammenhang oder eine bildliche Vorstellung. All dies sind Sinnbezüge, die sich durch eine weitläufige Zeiträumlichkeit auszeichnen. Der Rhythmus kann diese aber gar nicht aufweisen, eben weil er nur für diesen einen Text

280 Vgl. Eberhard Stock: Text und Intonation, S. 230f. 281 Vgl. Reuven Tsur: Toward a theory of cognitive poetics, S. 182 und Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 46, 59. 282 Auch Lotman stellt fest, dass Rhythmus eine rein »textimmanente Struktur« ist. (Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 230.) 283 Vgl. Peter Auer, Elisabeth Couper-Kuhlen: Rhythmus und Tempo, S. 89 und Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 45, 62, 72. 284 Auch Lotman betont, dass derartige semantische Deutungen des Rhythmus aus extratextuellen Bezügen herrühren. So kann ein bestimmtes Versmaß zwar an ein Genre oder einen Themenkreis und die dazugehörigen semantischen Implikationen gekoppelt sein. Diese Zuordnungen stellen aber Konventionen dar, die der Leser kennen muss, sie sind nicht aus dem Text ablesbar. (Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 230.) 285 Vgl. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 120f, 122. Vollzugsmäßig gedacht kann der Rhythmus hier lediglich als passend zum semantischen Sinn der Ballade empfunden werden. Einen Pferdegalopp oder Tanz präsentieren kann er alleine jedoch nicht.

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bzw. Textabschnitt gilt. Vollzugsmäßig gedacht wäre es am treffendsten, Folgendes zu behaupten. Erstens: Der Akzent akzentuiert. Und zweitens: Der Rhythmus rhythmisiert. Zugegebenermaßen sind diese Aussagen jedoch genauso präzise wie unbefriedigend. Entsprechend werde ich eine Umschreibung wagen, die zwar nicht die Genauigkeit einer Tautologie, dafür aber größere Relevanz erreicht. Akzente dienen im Deutschen in erster Linie der Hervorhebung und zwar von wichtigen und zugleich schwer vorhersagbaren Anteilen der gesprochenen Sprache.286 Deswegen liegt der Wortakzent im Deutschen auf der Stammsilbe. Diese stellt den semantischen Kern des Wortes und damit jenen Teil dar, der am stärksten in den Zeitraum hineinragt. Oben hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die semantische Bedeutung eines Wortes nicht aus seiner unmittelbaren Umgebung abzulesen ist. Vielmehr wird sie aus unzähligen ähnlichen Kontexten heraus aufgebaut. Und die Betonungsverhältnisse im Deutschen erleichtern dies, indem sie den semantischen Kern herausheben. Dies gilt jedoch nicht nur innerhalb eines Wortes, sondern im ganzen Satz. So werden die Stammsilben innerhalb von Inhaltswörtern stärker betont als innerhalb von Funktionswörtern. Dies spiegelte die Zuordnung der Schweregrade eindeutig wieder. Auch dies ist nötig, da Nomen und Verben in ihrer Bedeutung nur wenig durch den unmittelbaren Satzkontext gestützt werden. Insgesamt gilt also, dass die Akzentverteilung kein musikalisches Prinzip ist, das der Sprache nur zufällig anhaftet. Sie hebt wichtigen, aber schwer vorhersagbaren Sinn innerhalb des Sprachlautes hervor. Bevor ich diese Bestimmung über die Wort- bzw. Versgrenze hinaus erweitere, muss noch eine Differenzierung eingezogen werden. Um formal leer beschreiben zu können, was Akzent und Rhythmus bedeuten, sollte nämlich auch immer transparent gemacht werden, in welcher Art von Lesevollzug sie etwas bedeuten. Dabei liegt der Fokus dieser Arbeit wie gesagt auf der ununterbrochenen Erstlektüre. Genauso gut kann sich das Verstehen von Rhythmen aber auch als eine von Reflexionen durchzogene Mehrfachlektüre vollziehen. In Bezug auf die Leseeinstellung entspricht dies annäherungsweise einer Unterscheidung zwischen Deduktion und Norm bzw. Reziprozität. Während erstere Einstellung sich als textnahe Wahrnehmung vollzieht, erweitern die letzteren beiden die Textwahrnehmung während oder nach der Lektüre durch 286 Vgl. Georgiades Thrasybulos: Sprache als Rhythmus, in: Bayrische Akademie der schönen Künste (Hg.): Die Sprache, Darmstadt 1959, S. 75-92, hier: S. 78 und Pia Bergmann: Laute, S. 86.

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theoretisches Wissen oder thematische Assoziationen. Alle drei sind gleichberechtigte Varianten eines rhythmischen Verstehens. Macht der Leser sich jedoch nicht bewusst, welche davon er gerade umsetzt, kann er ungewollt eine der Vollzugsformen verabsolutierten. Dagegen öffnet es den Blick für alternative Lesarten, wenn transparent gemacht wird, ob eine Lektüre schwerpunktmäßig deduktiv oder normativ bzw. reziprok verläuft. Um den Unterschied der beiden Vollzugsformen zu veranschaulichen, rekapituliere ich erneut eine Textlektüre von Lösener.287 In seiner Erlkönig-Interpretation versucht dieser zu zeigen, wie die syntaktische Versaufteilung verschiedene Textabschnitte enger zusammenbindet bzw. voneinander abrückt. Beispielsweise parallelisiert er die folgenden Verse: 1) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? 2) Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? 3) Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Als Begründung führt Lösener an, dass alle drei Verse eine dreiteilige syntaktische Struktur aufweisen und sich damit von anderen Versen mit einer Mittelzäsur unterscheiden. Nach diesem Muster hebt er die folgenden Verse vier bis sechs von den Versen eins bis drei kontrastiv ab. Zudem semantisiert er den Unterschied zwischen binärer und ternärer Struktur, indem er in den Versen vier bis sechs ein kontrolliertes Sprechen, in den Versen eins bis drei dagegen Angst, Bedrohung und das Unheimliche verwirklicht sieht.288 4) Es ist der Vater mit seinem Kind: 5) Er hat den Knaben wohl in dem Arm, 6) Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm. Löseners syntaktische Beschreibung scheint mir zwar plausibel. Allerdings schätze ich ihren Einfluss auf den rhythmischen Eindruck beim Lesen als eher gering ein. Dies lässt sich besonders gut anhand der ersten drei Verse zeigen. So halte ich eine Betonung des ersten Verses mit drei Zäsuren, wie Lösener sie vorschlägt, für eher unwahrscheinlich: ›Wer reitet/so spät/durch Nacht und Wind‹. Vielmehr weist das Gedicht als Ganzes einen isochronen, aber nicht isometrischen Rhythmus auf. Dadurch werden in Vers eins die Stamm287 Ähnliche Analysen finden sich auf den folgenden Seiten: Vgl. Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede, S. 147, 150, 173, 174, 175, 177, 179. 288 Vgl. ebd., S. 140.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

und Schwa-Silbe in »reitet« zusammengezogen. Zudem lässt sich eine weitere Zäsur nach »Nacht« einfügen, um den Vers in vier dem Gefühl nach isochrone Abschnitte einzuteilen: ›Wer reí(tet)/so spát/durch Nácht/und Wínd?‹ Und auch Löseners rhythmische Einteilung des zweiten Verses erscheint mir nicht sinnvoll. So schlägt er die Lesart ›Siehst,/Vater,/du den Erlkönig nicht?‹ vor. Allerdings ist diese ternäre Struktur sprachlautlich kaum umzusetzen. Wie sollte die Konstituente ›du den Erlkönig nicht?‹ als einheitliches lautliches Gebilde realisiert werden? Innerhalb einer isochronen Lesart würde sie vielmehr noch weiter unterteilt. Möglich wird dies durch den schweren Hauptakzent des Kompositums ›Érlkönig‹, der es erlaubt, die letzten beiden Silben zusammenzuziehen. Vor »Vater« wird zudem eine kurze Pause gelesen, um die Isochronie zu erhalten. Dadurch ergäbe sich die folgende Struktur: ›Síehst,/_ Váter,/du den Érl/(kön)ig nícht?‹ Weitere Schwierigkeiten zeigen sich, wenn man die Verse drei und sechs sowie drei und zwei vergleicht. Laut Lösener müsste sich innerhalb des ersten Vergleichspaars eine deutliche klangliche Differenz ergeben, innerhalb des zweiten dagegen eine klangliche Ähnlichkeit. Dabei scheint mir eher das Gegenteil der Fall zu sein: Die Verse drei und sechs sind regelmäßig bzw. annähernd regelmäßig alternierende Verse, wodurch die Komplexität ihres Lautlesens sowie ihr Klangcharakter vergleichbar ausfallen. Dagegen heben die Initialbetonung in Vers zwei sowie der Hebungsprall, der nur durch die Integration einer Pause gelesen werden kann, diesen von allen übrigen Versen ab. Die Unterschiede zwischen Löseners und meiner eigenen Rhythmuswahrnehmung ergeben sich wie zuvor beschreiben: Löseners Lektüre ist geprägt durch sein theoretisches Wissen über syntaktische Strukturen. So beschreibt er Vers zwei und drei als »Subjekt-Prädikat-Gruppe + Adverbialgruppe«, Vers eins dagegen als »Sub.-Präd.-Gruppe + Adverb.-Gruppe1 + Adverb.-Gruppe2 «289 . Diese Aufteilung nimmt natürlich auch in einer textnahen Lektüre Einfluss auf den Leseeindruck, allerdings ist sie weniger eindrücklich als die Akzentstruktur. Löseners starke Gewichtung der syntaktischen Struktur muss also daher rühren, dass er in seinem Lesevollzug eine

289 Ebd., S. 140. Zudem erscheint mir Löseners syntaktische Beschreibung nicht überzeugend: In einer syntaktischen Analyse des Satzes lägen das Verb ›reitet‹, die adverbiale Ergänzung ›so spät‹ und die Präpositionalphrase ›durch Nacht und Wind‹ direkt unterhalb des Satzknotens. Die Präpositionalphrase ist also nicht dem Verb, sondern dem Satz untergeordnet. (Vgl. Peter Eisenberg: Der Satz. Grundriss der deutschen Grammatik, Stuttgart, Weimar 2006, S. 225f.)

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Das Lesen als Handlung

nachträgliche Reflexion gegenüber dem unmittelbaren Eindruck privilegiert. Was seine Rhythmusanalyse zusätzlich fragwürdig erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass die von ihm angeführten Verse eins bis drei einmal vier und einmal zwei Verse weit auseinander liegen, sie also die Verstehensgegenwart weit übersteigen. Innerhalb eines ununterbrochenen Lesevollzugs ist ihre Parallelisierung deswegen kaum zu leisten. Dies gilt auch für die Ausdeutung der Rhythmen im Sinne von Angst und Bedrohung. Diese entspricht der oben bereits kritisierten Semantisierung von Rhythmen, die die Wahrnehmung von Akzentstrukturen zugunsten eines primär semantischen Verstehens abblendet. Vieles spricht also dafür, dass die Sinnbildung sich hier eher als nachträgliche Reflexion vollzieht. Damit möchte ich keinesfalls eine Wertung von Löseners Analyse vornehmen. Es geht mir lediglich darum aufzuzeigen, dass unterschiedliche Lesevollzüge unterschiedlichen Sinn generieren. Beim ununterbrochenen Lesen beispielsweise findet eine Gewöhnung an einen bestimmten Rhythmus statt. Das heißt, der Lesefluss gewinnt mit der Zeit stetig an Sicherheit. Verändert sich die Akzentstruktur allerdings plötzlich, wird er unsicher oder stolpert sogar. Der Leser spürt, dass sich etwas verändert. Vielleicht setzt dann ein Einlesen in einen neuen Rhythmus ein oder das Zaudern währt nur kurz und der alte Rhythmus wird weitergeführt. In der Ersten-Person-Perspektive stellt das Rhythmisieren des Rhythmus also durchaus Sinnverknüpfungen her, allerdings besitzen diese nicht die klare und weitläufige Struktur, die Lösener aufzuzeigen versucht. Vielmehr versteht man eine Rhythmusveränderung beim Lesen, soweit sie denn bemerkt wird, lokal als plötzliche Veränderung, der Leser merkt an dieser Stelle auf. Global zeigt sich ein Rhythmus damit als Gefühl der (Un-)Sicherheit bzw. (Nicht-)Anstrengung beim Lesen. Es können also durchaus Textabschnitte beim Lesen rhythmisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Allerdings wird dies als Gleichmaß, als konstante Anstrengung beim Lesen, wahrgenommen. Und auch Kontrastierungen sind möglich. Allerdings nicht so trennscharf, wie sie eine nachträgliche Reflexion einzuziehen vermag. Der Leser nimmt nicht wahr im Sinne von: ›Dieser, dieser und dieser Textabschnitt unterscheiden sich voneinander.‹ Rhythmische Veränderungen zeigen sich eher als: ›Eben war es noch so, jetzt ist es plötzlich anders.‹ Besonders die obige Belsatzar-Interpretation mit ihrem Wechsel zwischen einem binären und ternären Rhythmus machte dies offenkundig.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

5.6.6

Komplexe Schriftwahrnehmung oder Anschauung

Die bisherige Beschreibung des Lesens beschäftigte sich mit Sinnpräsentationen der Schrift und der unmittelbar daraus ableitbaren Wahrnehmung. Allerdings muss dieser enge Begriff des Lesens noch um Formen einer nur mittelbaren Schriftwahrnehmung erweitert werden. Diese entstehen, wenn ein Leser, mit Ingarden gesprochen, aktiv und nicht nur passiv liest. Denn nur dann zeigt er eine »mit-schöpferische Einstellung«290 und geht insofern nicht nur mit dem Text mit, sondern zugleich über ihn hinaus. Mit Gadamer lässt sich auch von einer beim Lesen beteiligten Anschauung sprechen. Damit ist gemeint, dass während des Lesens »etwas Sichtbares geweckt wird, das wir ›Anschauung‹ nennen«, und das in einer »Präsenz des Nicht-Gleichzeitigen« besteht. Dieses aber »wird nicht Wort für Wort aufgebaut, sondern ist als dieses Ganze da, wie mit einem Schlag.«291 Was Gadamer hier beschreibt, stellt eine sehr komplexe Form des sprachlichen Verstehens dar, das die Wahrnehmung eines Einzelworts oder auch eines Satzes weit übersteigen kann. Zugleich schließt es aber auch eine gewisse Abstandnahme vom Text ein. Die spezifische Eigenzeit des Texts, die in einer festen Präsentationsreihenfolge besteht, wird dabei nämlich suspendiert und der schriftsprachliche Eigenraum stark erweitert. Unter Bezugnahme auf Ingarden, Iser sowie die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik werde ich dies im Folgenden näher beschreiben. In Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks finden sich drei Teilvollzüge, die die Anschauung beim Lesen ausmachen: Objektivierung, Konkretisierung und Aktualisierung. Ingarden selbst ordnet diese zwar innerhalb von zwei verschiedenen Textschichten, nämlich in der Schicht der schematisierten Ansichten (der Ergänzungen des Textsinns) und in der Schicht der Gegenstände (des globalen Textsinns), an. Innerhalb eines Vollzugsdenkens werden sich diese jedoch als nur graduell unterschiedliche Formen des sprachlichen Verstehens zeigen. Hinzu kommt, dass Objektivierung, Konkretisierung und Aktualisierung komplexere Formen der Sinnkonstitution als das Verstehen von Worten, Syntax oder einfachen semantischen Zusammenhänge darstellen. Insgesamt grenze ich sie deswegen von der basalen Schriftwahrnehmung ab und fasse ich sie unter dem Begriff der Anschauung bzw. komplexen Schriftwahrnehmung zusammen. 290 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 39. 291 Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 274, 276, 277.

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Das Lesen als Handlung

Unter dem Vollzug der Objektivierung versteht Ingarden eine besondere Syntheseleistung des Lesers. Dieser ist nämlich dazu in der Lage, in seinem sprachlichen Gedächtnis die Ordnung der präsentierten Bedeutungen innerhalb eines Texts aufzubrechen. In der Vorstellung entsteht dabei eine »QuasiWirklichkeit«292 , die gegenüber dem Text »eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit«293 beansprucht. Nicht nur, dass diese Quasi-Wirklichkeit eine andere Ordnung aufweist als die Sinnpräsentation des Texts, sie mutet auch als ein in sich stimmiges Ganzes an. Sie erscheint dem Leser als fertig gegeben, so als könne er sie auch unabhängig von seiner Lektüre vorfinden. Allerdings muss diese Illusion dem Text über eine längere Lektürezeit hinweg abgerungen werden. So können sich zwar auch in einem einzigen Satz gleich mehrere komplexe Zusammenhänge finden. Oft speist sich die Objektivierung aber aus mehreren teils weit auseinander liegenden Sätzen, um eine einzige Komponente der Vorstellung zu entwerfen. Über unzählige Schritte der Sinnkonstitution entsteht so schließlich die Quasi-Wirklichkeit. Zugleich übersteigen die im Text angelegten potentiellen Sinnbezüge die Auffassungsgabe des Lesers, sodass er niemals alle realisieren kann.294 Vielmehr wird er sich für einige wenige entscheiden. Der Objektivierung sind somit stets mehrere Möglichkeiten gegeben, die sie in unterschiedlichem Umfang berücksichtigen kann. Das Einschlagen einer bestimmten Lesart hängt dabei sowohl von der Machart des Texts sowie vom Interesse und Vermögen des Lesers ab. Darüber hinaus richtet sich die Komplexität der Objektivierung nach der Art des Lesevollzugs. Innerhalb einer ununterbrochenen Lektüre vollzieht sie sich normalerweise als unwillkürlicher Wissenszuwachs bzw. automatische Vorstellungsbildung. Komplexere Formen dagegen verlangen tendenziell eine Unterbrechung oder erfolgen erst nach der Lektüre. Erst Letzteres ermöglicht es, mehrere und sogar konkurrierende Objektivierungen präsent zu halten.295 Der zweite Teilvollzug der Anschauung basiert darauf, dass Texte neben direkten sprachlichen Äußerungen auch Nicht-Gesagtes präsentieren.296 292 293 294 295 296

Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 39, 47. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 41-43. Vgl. ebd., S. 43f. Im Gegensatz zu Isers Annahmen basieren Ingardens Teilvollzüge des anschaulichen Lesens gleichursprünglich auf im Text Gesagtem sowie Nicht-Gesagtem. Iser dagegen interessiert sich schwerpunktmäßig für letzteren Fall. (Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 283.) Diese Präferenz resultiert aus einem Fiktionalitäts-Begriff, der davon

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Letzteres ist dadurch bedingt, dass ein Text, als endliche Menge sprachlicher Zeichen, seine Gegenstände immer nur in Ausschnitten bestimmen kann, er also notwendig sogenannte Unbestimmtheitsstellen aufweisen muss. Diese entsprechen dem im Text Nicht-Gesagten im Sinne eines absichtsvoll NichtGesagten.297 Denn schließlich gibt es Eigenschaften oder Zustände einer behandelten Sache, die für die Bedeutung des Texts irrelevant sind.298 Oder der Text enthält Informationen aus verschiedenen Gründen, zur Erzeugung von Spannung oder Irritation, bewusst vor.299 Mithin provozieren Unbestimmtheitsstellen zwei graduell verschiedene Formen des Lesens. Erstere entspricht eher einer philologischen Praxis. Sie stellt in ihrer konsequentesten Ausprägung die Unbestimmtheitsstellen lediglich fest, um letztlich die Beschaffenheit eines Texts im Nachhinein reflektieren zu können. Die zweite eher private Praxis dagegen füllt die Unbestimmheitsstellen mit Anschauungen aus. Sie geht somit über den Text hinaus. Ingarden bezeichnet diesen Verstehensvollzug als Konkretisierung. Seinen Ursprung sieht er in einer Kontinuität zwischen text- und anders gerichteter Wahrnehmung. Vollzugsmäßig lässt sich dies so formulieren, dass der Mensch seine Lebenswelt stets in einer Gesamtsinnesmannigfaltigkeit wahrnimmt und dies auch auf seinen Lesevollzug überträgt. Entsprechend ergänzt er völlig selbstverständlich Details, die in der Textwelt nicht gegeben sind. Dies geschieht jedoch nicht als bewusster Entschluss. Vielmehr überlässt sich der Leser dem freien Spiel

ausgeht, dass ein literarischer Text »im Durchbrechen seiner Referentialisierbarkeit erst seinen Sinn zu gewinnen vermag«. (Vgl. ebd., S. 281, 347.) Die die Schriftwahrnehmung begleitende Vorstellungsbildung muss Iser konsequenterweise abwerten. Diese stellt für ihn lediglich einen Referenzakt dar und keine Kommunikation zwischen Text und Leser. (Vgl. ebd., S. 280-282.) Insgesamt setzt Isers Beschreibung des Lesens damit ihren Schwerpunkt auf fiktionale, literarische Texte, die verstärkt eine Vorstellungsbildung auf der Basis von Leerstellen fordern. Ich betrachte dagegen sowohl die Anschauung als auch die basale Schriftwahrnehmung als wesentliche Teile des Lesevollzugs. 297 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 49-51. Ingarden behauptet also keinesfalls, dass alles Nicht-Gesagte einer Unbestimmtheitsstelle entspricht. Es geht ihm darum, dass die potentiellen Ergänzungen sinnvoll, also zum Beispiel nicht überflüssig, sein müssen. (Vgl. ebd., S. 251f.) 298 In Bezug auf einen literarischen Text muss man sogar noch strenger argumentieren. Für ihn gilt, was Bertram unter dem Stichwort definitive Bestimmtheit fasst: »Kunstwerke zeichnet aus, dass jedes ihrer Details als ein genau bestimmtes zu verstehen ist.« (Georg W. Bertram: Kunst, S, 190.) 299 Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 275.

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Das Lesen als Handlung

seiner Vorstellung und ergänzt, was im Einklang mit der Textwelt steht oder ihr auch zuwiderlaufen kann. Dies vollzieht sich in hohem Maße individuell. Insgesamt hat die Konkretisierung wesentlichen Anteil daran, dass sich beim Leser der Eindruck einer in sich geschlossenen Quasi-Wirklichkeit einstellt, selbst wenn die Vorstellung nie eine vollständige Bestimmung der im Text präsentierten Sachen leistet.300 Ein Text kann nicht nur mehrere Vorstellungen gleichzeitig zulassen, sondern auch in unterschiedlichem Maße suggestiv sein, also Konkretisierungen verschieden stark lenken. Es ist Isers Verdienst, Ingardens Überlegungen an dieser Stelle genauer ausdifferenziert zu haben. Iser unterscheidet nämlich zwischen einer Unbestimmtheitsstelle als einer »Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstands« und einer Leerstelle als der »Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text«301 . Letztere liegt überall dort vor, wo zwei Textteile unvermittelt aufeinanderprallen und somit eine sinnstiftende Anschauung erzwingen. Das im Text schlichtweg Nicht-Gesagte muss also vom systematisch Ausgesparten unterschieden werden. Beides kann Konkretisierungen auslösen. Allerdings schätzt Iser das Potential der Leerstellen als deutlich größer ein. Die Vorstellungsbildung auf Basis von Unbestimmtheitsstellen dagegen ist für ihn lediglich ein unwahrscheinlicher Sonderfall, da sie zu wenig Antrieb durch den Text erhalte.302 Aus vollzugsmäßiger Perspektive lässt sich diese Setzung jedoch nicht ohne Weiteres teilen. Denn was Iser nicht berücksichtigt, ist die Verfasstheit der menschlichen Wahrnehmung als Gesamtsinnesorganisation. Nach dieser liegt eben keine prinzipielle Trennung von Vorstellung und Wahrnehmung vor.303 Vielmehr vollziehen sich beide immer zugleich, wodurch die Ergänzung des Texts zu einer Quasi-Wirklichkeit automatisch geschieht. In Abweichung von Iser werde ich deswegen die Konkretisierung von Leerstellen und Unbestimmheitsstellen gleichermaßen in 300 301 302 303

Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 52f. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 284. Vgl. ebd., S. 277. Auch die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik und die Lesepsychologie gehen davon aus, dass die Anschauung beim Lesen durch Situationsmodelle bestimmt wird. Das heißt, dass Leser nicht einzelne Bausteine, sondern geschlossene, aus der Erfahrung abgeleitete Sinnzusammenhänge nutzen, um Texte in ihrer Vorstellung zu ergänzen. Dabei ist es nur natürlich, dass auch Gegebenheiten mit vorgestellt werden, die nicht explizit im Text erwähnt werden. Iser irrt also. (Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 7, 14 und Ursula Christmann: Lesen als Sinnkonstruktion, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 169-184, hier: S. 177f.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Betracht ziehen. Ihre Differenz ergibt sich lediglich aus einer graduell unterschiedlichen Integration des im Text Nicht-Gesagten. Dieses wiederum resultiert aus einer graduell unterschiedlichen Suggestionskraft des Texts. Beim dritten Teilvollzug der komplexen Schriftwahrnehmung geht es schließlich um die Frage, wie die konkretisierten Anschauungen »zur vorstellungsmäßigen Erscheinung« gelangen können. Unter dem Titel Aktualisierung bestimmt Ingarden diesen als eine »zum Wahrnehmen analoge Funktion«304 , die »der rein sprachlichen Bestimmungsweise zu Hilfe komm[t]«305 . Damit ist gemeint, dass die beim Lesen ergänzten Sinnbezüge in vorgestellte Sinneseindrücke eingekleidet werden, wodurch eine besonders lebendige Anschauung entsteht.306 Der modale Umfang von Aktualisierungen entspricht dabei der Gesamtsinnesorganisation. So können Leser beispielsweise »visuelle Ansichten«, »akustische Phänomene« oder auch »taktuelle[…] Ansichten«307 aktualisieren. Ingarden geht hier weit über Isers Begriff der Vorstellung hinaus, der lediglich optische Formen der Anschauung konstatiert.308 Innerhalb eines vollzugsmäßigen Ansatzes ist diese Einschränkung auf das Bild jedoch nicht haltbar. So kann der Gedankensinn, wie in Abschnitt 5.6.1 beschrieben, jeglichen anderen Modalbereich simulieren. Isers Fokus auf das Bild lässt sich dadurch erklären, dass das Sehen den quantitativ

304 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 56. 305 Ebd., S. 58. 306 Diesen Zusammenhang formuliert Ingarden explizit auf S. 57. Entsprechend geht die folgende Kritik von Iser an Ingarden fehl: »Die beiden Operationen [Konkretisierung und Aktualisierung, S. R.] sind kaum miteinander synchronisiert. Wenn daher Unbestimmtheitsstellen ausgefüllt oder ergänzt werden, heißt dies für Ingarden nicht, daß sie sich dadurch in Antriebe für die Aktualisierung der potentiellen Elemente wandeln würden.« (Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens S. 272.) Isers Kritik bezieht im nächsten Satz noch Ingardens Ursprungsemotion mit ein. Diese wird von Ingarden jedoch gar nicht explizit auf die Aktualisierung bezogen, sondern stellt einen wesentlichen Teil seines Konzepts des ästhetischen Erlebnisses dar. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 195.) Eine Aktualisierung kann deswegen entgegen Isers Aussage auch unabhängig vom ästhetischen Erlebnis stattfinden. Insgesamt übt Iser hier also nicht berechtigte Kritik an Ingarden, sondern stellt eine wenig gewissenhafte Textarbeit unter Beweis. 307 Ebd., S. 60, 62. 308 Diese Verkürzung speist sich aus Isers Überzeugung, dass nur das Bild eine Zwischenstellung zwischen bloßer Wahrnehmung und Sinnkonstitution einnehme und damit die Voraussetzung für eine Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus zwischen Leser und Text darstelle. (Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 220.)

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Das Lesen als Handlung

wichtigsten Anteil an der menschlichen Sinneswahrnehmung ausmacht.309 Dies führt sowohl aufseiten der Literaturproduktion als auch -rezeption zu einer Bevorzugung optischer Phänomene. Dennoch bleibt der Mensch stets in eine Gesamtsinnesorganisation eingebunden. Allerdings bedeutet dies nicht notwendig, dass die Anschauungen immer den vollen Umfang aller Modalbereiche ausspielen. Meist treffen sie eine Auswahl.310 Auch die jeweilige Textnähe der Aktualisierungen kann dabei ganz unterschiedlich ausfallen. Sie umfasst nämlich die gesamte Bandbreite vom Scheitern über textnahes und -fernes Vorstellen bis hin zum Ausmalen bisher unbekannter Gegenstände. Entsprechend betrifft die Anschauung weder den ganzen Text noch nur den Text allein. Einige präsentierte Sachen bleiben womöglich unanschauliche Verweisungen, während andere ihre Plastizität aus der Lebenswelt des Lesers und ohne explizite Textaufforderung beziehen. Daraus folgt zweierlei: Zum einen stellt die Aktualisierung nie ein vollständiges Vorstellungskontinuum dar, sie tritt immer nur an einigen Stellen der Lektüre auf.311 Zum anderen steht sie in besonderer Weise in der Gefahr, vom Text abzuweichen.312 Da Lesen nichts anderes als eine spezifische Form sprachlicher Wahrnehmung ist, lässt sich Ingardens und Isers Beschreibung der Anschauung mithilfe der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik noch weiter vertiefen. Denn auch die komplexe Schriftwahrnehmung vollzieht sich als ein Abgleich mit Clustern im Gedächtnis des Lesers. Je komplexer der dabei zu verstehende Sinn ist, desto mehr sowie stärker vernetzte Gedächtniscluster müssen abgerufen werden. Zur Darstellung dieser sprachlichen Prozesse kommt Bybee mit erstaunlich wenigen Basisvollzügen aus:313 Erstens nennt sie einen Vollzug, der sich leicht aus der Grundthese des gebrauchsbasierten Ansatzes ableiten lässt. Da nämlich jede sprachliche Wahrnehmung und Produk309 Vgl. Martin Fontius: Art. »Wahrnehmung«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2010, S. 436-461, hier: S. 438. Natürlich lässt sich das Sehen in weitere Sinne, Licht-/Farbsinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn, unterteilen. Insgesamt macht aber der Licht-/Farbsinn den wichtigsten Fernsinn des Menschen aus. (Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 125.) 310 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 61f. 311 Vgl. ebd., S. 62. 312 Vgl. ebd., S. 58. 313 Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition. S. 7f. Ich unterschlage hier den Grundvollzug der Analogie (analogy), da Bybee diesen nur auf die Produktion neuer sprachlicher Formen bezieht. In Bezug auf die Rezeption neuer sprachlicher Formen sind analogische Verstehensvollzüge im Begriff der Kategorisierung mit enthalten.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

tion Einfluss auf unser sprachliches Gedächtnis nimmt, gehen diese immer mit einer Speicherung (rich memory storage) einher.314 Damit dies möglich ist, müssen zweitens die sprachlichen Äußerungen den bereits vorhandenen Clustern zugeordnet, das heißt kategorisiert (categorization) werden. Dies geschieht auf der Basis von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten auf ganz unterschiedlichen Ebenen der Sprache. Treten dann drittens bereits bekannte sprachliche Einheiten gehäuft in Kombination auf, wachsen die ihnen korrespondieren Gedächtniseinheiten zusammen (chunking). Je nach Frequenz des gemeinsamen Auftretens entstehen dabei verschiedene Stufen der Zusammengehörigkeit vom losen Verbund bis hin zu abgeschlossenen Einheiten.315 Viertens kann sprachliches Verstehen im engeren Sinne auch an andere Modalitäten anknüpfen (cross-modal association). Insgesamt beachtet die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik damit jede einzelne sprachliche Äußerung sowohl in ihrer Singularität als auch in ihrer Bezugnahme auf frühere und potentielle Äußerungen. Meine Beschreibung der Anschauung beim Lesen lässt sich nun restlos in die vier sprachlichen Basisvollzüge der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik übersetzen. Dies zeigt sich an einer Beispiellektüre, die von Ingarden selbst stammt. So präsentiert der Beispielsatz ›Wołodyjowski hat Bohun im Zweikampf besiegt.‹ aus dem polnischen Roman Mit Feuer und Schwert laut Ingarden mindestens drei mögliche Objektivierungen: a) ›Herr Wołodyjowski, der Sieger über Bohun‹ b) ›der vom Herrn Wołodyjowski besiegte Bohun‹ und c) ›ein Sieg, und zwar von Wołodyjowski über Bohun‹.316 Ingardens Ausführungen lassen sich hier in dem Sinne deuten, dass für ein Verstehen des Beispielsatzes verschiedene Gedächtniscluster aufgerufen werden müssen, denen die im Satz präsentierten Informationen zuordenbar sind. Zu diesen zählt zunächst das semantische Cluster ›Sieg‹, das wiederum mit Clustern wie ›Gegner‹ oder ›Kampf‹ verknüpft ist und dem Leser so bedeutet, dass für einen Sieg zwei oder mehr gegnerische Parteien in einer Konfrontation aufeinandertreffen, wobei eine dieser Parteien sich der anderen als körperlich oder in anderer Hinsicht überlegen zeigt. Zudem müssen die beiden Cluster ›Wołodyjowski‹ und ›Bohun‹ aktiviert werden. Diese bestehen aus einer Vielzahl ihrerseits bereits objektivierter sprachlicher Einheiten, die über einen längeren Lektürezeitraum hinweg gespeichert wurden. Wird ›Wołodyjowski‹ dabei

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Vgl. ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 42.

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häufig genug mit dem Attribut ›Sieger‹ bedacht oder in entsprechenden Situationen gezeigt, schlägt sich diese Verknüpfung im Gedächtnis nieder. Das Beispiel zeigt, dass bereits die sinnhaften Zusammenhänge eines einzigen Satzes unfassbar viele Assoziationen wecken. Je reicher die Objektivierung sprachlicher Einheiten dabei ausfällt, desto eher kann von einer ästhetischen Anschauung gesprochen werden. Formal leer vollzieht sich aber auch diese nicht anders als über eine Kombination aus Kategorisierung, Speicherung und Zusammenwachen von Clustern. Der zweite Teilvollzug der Anschauung, die Konkretisierung, besteht im Füllen von Unbestimmtheits- und Leerstellen. (Die Sprachwissenschaft spricht an dieser Stelle von Inferenzbildung.) Für seine Übersetzung in die Teilvollzüge der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik komme ich erneut auf Ingardens obiges Beispiel zurück. So lässt die semantische Kategorie ›Sieg‹ den Bezug auf das semantische Cluster ›Verlierer‹ zu. Dieses war im obigen Beispielsatz nicht angegeben, es ist aber notwendig, um die geschilderte Situation umfassend zu verstehen. Darüber hinaus lässt sich das semantische Cluster ›Sieg‹ auch innerhalb eines weiter gefassten pragmatischen Clusters ›Sieg‹ verorten. Dieses spielt Weltwissen und Alltagserfahrungen mit ein und verdeutlicht zum Beispiel, dass ein Sieg stets mit einem guten, eine Niederlage dagegen mit einem schlechten Gefühl einhergeht sowie dass es ›gute‹ und ›schlechte Verlierer‹ gibt usw. Je nachdem, wie Wołodyjowski sich verhält, wird er also zusätzlich als glücklich und guter bzw. schlechter Verlierer imaginiert. Damit zeigt sich, dass auch die Konkretisierung insgesamt auf sprachlichen Clustern aufbaut, die wiederum aus Teilclustern bestehen, untereinander vernetzt sind, sich überschneiden oder ineinander verschachtelt sind.317 Entsprechend stellt das Füllen von Unbestimmtheits- und Leerstellen eine komplexe Form der Kategorisierung, Speicherung und des Zusammenwachsens sprachlicher Wahrnehmungen im Gedächtnis dar. Dabei geht der Leser im einfachsten Fall nur bereits gespeicherten Sinnbezügen nach und vertieft diese. In komplexeren Fällen hingegen muss er innerhalb eines Clusters neue Gedächtniseinheiten einfügen. Allerdings geschieht auch dies auf der Basis bereits vorgefundener Sinneinheiten, die der aktuellen ähnlich sind. Oder der Leser stellt neue Verknüpfungen zwischen bisher nicht miteinander assoziierten Clustern her. Die beiden letzteren Teilvollzüge lassen sich sogar als ästhetische Konkreti-

317

Vgl. William Croft, D. Alan Cruse: Cognitive Linguistics, Kap. 2.4.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

sierung auffassen. In diesem Sinne unterscheidet auch Ingarden zwischen originellen und flachen Konkretisierungen.318 Schließlich lässt sich auch der dritte Teilvollzug der Anschauung, die Aktualisierung, mithilfe der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik erhellen. Allerdings halte ich es für lohnenswert, den Begriff dabei stärker auszuweiten, als Ingarden es selbst tut. Dieser bezieht die Aktualisierung nämlich lediglich auf konkretisierte, das heißt zusätzlich vorgestellte Sinneinheiten.319 Darüber hinaus betrifft diese aber auch objektivierte Sinneinheiten. Dies erscheint vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Objektivierung und Konkretisierung nur graduell unterschiedliche Vollzüge sind, als konsequent. Demnach lassen sich auch im Text explizit erwähnte Sinnzusammenhänge unter Nutzung einer nicht-sprachlichen Anschauung wahrnehmen. Die Objektivierung ›Herr Wołodyjowski, der Sieger über Bohun‹ könnte beispielsweise mit dem Bild eines Mannes in Siegerpose einhergehen. Diese Sinnkonstitution lässt sich dann durchaus als Aktualisierung oder, in der Terminologie der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik, als crossmodale Assoziation beschreiben. Ingardens Zurückhaltung bei der Verknüpfung von Aktualisierung und Objektivierung scheint mir aber dennoch nicht ganz unberechtigt. So ist davon auszugehen, dass sprachlich präsentierter Sinn zunächst auch sprachlich verarbeitet wird. An diesen können sich dann jedoch weitere sprachliche oder eben Verstehensvollzüge anderer Modalitäten anschließen. Genauso kann aber eine nach der Lektüre stattfindende Rückübersetzung einer bildlichen Anschauung in Sprache als Aktualisierung aufgefasst werden.320 Zudem können sich nach einer Aktualisierung noch weitere Objektivierungen und Konkretisierungen innerhalb der neuen Modalität vollziehen. Eine bildliche Vorstellung kann beispielsweise zugespitzt oder ausgeweitet werden. Werden die Assoziationsketten der Anschauung jedoch zu

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Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 54. »Die Objektivierung und Konkretisierung der im literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenstände geht mit der Aktualisierung und Konkretisierung mindestens mancher schematisierten Ansichten Hand in Hand.« (Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 55.) Die schematisierten Ansichten, also Bedeutungsschicht c) in Ingardens Textmodell, bezeichnen hier das Ergebnis der Konkretisierung von Unbestimmtheitsstellen. 320 Die Wahrnehmung eines Bildes ließe sich analog beschreiben. Hier erfolgt die Bedeutungspräsentation zunächst ebenfalls innerhalb der Ausgangsmodalität, das heißt bildlich. An diese kann sich jedoch eine nicht-bildliche, also zum Beispiel sprachliche, Aktualisierung anschließen.

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Das Lesen als Handlung

lang oder ist die Anschauung zu komplex, kann sie nicht mehr während der Lektüre geleistet werden. Der Lesefluss wird unterbrochen. Insgesamt entsteht so ein unendlich komplexes Netz der Anschauungen beim oder neben dem Lesen. In der unteren Übersichtsgrafik kann dies durch die schwarzen Kästen lediglich angedeutet werden. Die grauen und weißen Felder stellen dabei den Bereich der ununterbrochenen Erstlektüre dar.

Abb. 3: komplexe Schriftwahrnehmung/Anschauungsbildung beim Lesen

Die ausführliche Beschreibung der komplexen Schriftwahrnehmung erlaubt es abschließend nun auch, die eingangs zitierten Metaphern aufzulösen, die Gadamer und Ingarden zur Erläuterung der Anschauung verwenden. So war die Rede von einer Präsenz des Nicht-Gleichzeitigen, die als Ganzes mit einem Schlag da sei oder von einer unabhängigen und geschlossenen Quasi-Wirklichkeit. Unabhängig vom Text erscheinen Anschauungen dabei, weil die Wahrnehmung sprachlichen Sinns stets weitere sprachliche und nicht sprachliche Assoziationen weckt, die sogar ein Eigenleben neben dem Text entwickeln können. Damit verknüpft die Anschauung Nicht-Gleichzeitiges, also Wahrnehmung von Schrift mit Erinnerungen und neuen Vorstellungen. Die Erinnerungen können dabei unterschiedlich

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

komplex sein. Teilweise rufen sie ganze Situationsmodelle im Gedächtnis ab.321 Im äußersten Fall hat dies den Anschein der schlagartigen Schöpfung einer neuen Welt. Diese wirkt stets geschlossen bzw. wie ein Ganzes, weil menschliches Verstehen positiv ausgerichtet ist. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Verstandenen. Lücken in der Sinnbildung werden nicht mit erwogen. Deswegen erscheinen uns Anschauungen als Quasi-Wirklichkeiten und nicht wie fragmentarische Abbilder. Wie in den vorangehenden Abschnitten zum Selbstbezug der Textwahrnehmung möchte ich auch die formal leere Beschreibung der Anschauung noch anhand eines Textbeispiels konkret füllen. Dazu ziehe ich die ersten Zeilen von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften heran. Bei den folgenden Ausführungen muss jedoch beachtet werden, dass die Freiheitsgrade für eine Interpretation größer werden, je komplexer die zugrundeliegenden Verstehensvollzüge sind. In Bezug auf die komplexe Schriftwahrnehmung gilt also noch mehr als in Bezug auf die basale, dass meine Beschreibung nur exemplarischen Anspruch haben kann. Denn die Vielzahl an möglichen Anschauungen speist sich nicht nur aus dem Text, sondern, wie die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik zeigt, aus der gesamten Biographie des Lesers.322 »Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen.«323 Zunächst ist auffällig, dass der Text viele Wörter verwendet, deren semantischer Sinn fassbare Gegenstände und sinnliche Eindrücke präsentiert. Diese sind aufgrund ihrer Konkretheit und Anschaulichkeit leicht zu erfassen 321 Vgl. Joan Bybee: Language, Usage and Cognition, S. 8. 322 Da die Assoziationskette der Anschauung potenziell unendlich lang ist, steht die Rekapitulation der folgenden Lektüre in besonderer Weise in der Gefahr, die Grenze der Anschauungen, die während des ununterbrochenen Lesens möglich sind, zu überschreiten. Denn eine Beschreibung bedeutet auch immer eine Verlangsamung und Verzerrung des normalen Vollzugs. 323 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1987, Bd. 1, S. 9.

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und laden zu einer modalitätenübergreifenden Lektüre ein. Den Schwerpunkt meiner Textbetrachtung lege ich deswegen auf die Aktualisierung. Bereits der erste Satz beginnt mit dem anschaulichen Nomen »Autos«, das leicht bildlich aktualisiert werden kann. Diese »schossen aus schmalen, tiefen Straßen« heraus (Z. 1). Das metaphorisch verwendete Verb wird in diesem Kontext als schnelle Bewegung objektiviert und aktualisiert. Die assoziative Brücke hierzu stellt eine Konkretisierung des semantischen Clusters ›Flusslauf‹ dar. Analog zu den Autos in den Straßen fließt ein Fluss nämlich schnell, wenn sein Bett schmal und tief beschaffen ist. Verstärkt wird diese Assoziation noch durch den Beginn der sich anschließenden Phrase, in der von »Seichtigkeit« die Rede ist. Auch diese ist Teil des Clusters ›Flusslauf‹ und wird als Verlangsamung der Autos aktualisiert. Die »helle[n] Plätze« fügen sich in das Bild ein. Im Gegensatz zum ersten stellt der Beginn des zweitens Satzes den Leser direkt vor eine Herausforderung. Das Wort »Fußgängerdunkelheit« (Z. 2) stellt nämlich kein gängiges deutsches Kompositum dar. Allein die Wahrnehmung des Worttyps ist deswegen schon anspruchsvoll. In der Folge wird vermutlich lediglich der Versuch einer sprachlichen Objektivierung unternommen. Diese scheint allerdings erst zu glücken, als der Leser den Satz zu Ende liest. Denn dann kann das Kompositum auf die Nominalphrase »wolkige Schnüre« bezogen werden. Dies gelingt ohne größere Verzögerung, da die »Fußgängerdunkelheit« bereits eine ästhetische Einstellung des Lesers etabliert hat, der Leser also durchaus ungewöhnliche Wortverbindungen erwartet. Damit ist es wahrscheinlich, dass erst eine sprachliche Objektivierung der »wolkige[n] Schnüre und im Anschluss direkt eine bildliche Aktualisierung im Zusammenhang mit der »Fußgängerdunkelheit« gebildet wird. Diese erscheint in Form schwarzer, weichgezeichneter Linien, die sich durch einen Straßenzug oder über eine Kreuzung bewegen. Eine unabhängige bildliche Aktualisierung der »wolkige[n] Schnüre«, beispielsweise in Form eines Himmelspanoramas, wird durch den auffälligen Satzanfang dagegen vermutlich blockiert. Der dritte Satz scheint die bildliche Aktualisierung der Fußgängerbewegung zunächst aufzunehmen und dann weiterzuführen. Denn gleich zu Beginn werden »kräftigere Striche« (Z. 2) genannt. Das aktualisierte Bild der weichgezeichneten dunklen Linien wird folglich in das kräftigerer Linien überführt. Womöglich erfolgt hier zur Überprüfung zudem eine Rückübersetzung, also Aktualisierung, in Sprache. Die »kräftigere[n] Striche« präsentieren so eine steigende Zahl an Fußgängern. Wird diese Objekti-

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vierung tatsächlich gebildet, bringt sie den Lesefluss jedoch bereits nach wenigen Worten ins Stocken. Plötzlich taucht mit »ihre lockere Eile« (Z. 3) nämlich eine unerwartete Textdeixis auf, die sich nicht objektivieren lässt. Es ist unklar, worauf »ihre« zurückverweist. Das Lesen wird an dieser Stelle vermutlich unterbrochen und setzt zu Beginn des zweiten Satzes erneut ein, um eine alternative Anschauung zu entwickeln. Dabei wird der semantische Wert der »Schnüre« mit dem der »kräftigere[n] Striche« kontrastiert. Und die Erinnerung an den ersten Satz erlaubt schließlich eine Assoziation von Fußgängern und Schnüren sowie Autos und kräftigeren Strichen. Diese Objektivierung wird zusätzlich durch die »Geschwindigkeit« (Z. 3) gestützt, die den kräftigeren Strichen zugeschriebene wird. Das Personalpronomen »ihre« kann damit eindeutig auf die Schnüre bzw. die Fußgänger bezogen werden. Beim Fortgang der Lektüre bietet sich zudem eine Verknüpfung von »lockere Eile« und »wolkige Schnüre« an. Diese wird gespeist aus einer Assoziation mit dem Konzept der ›Konsistenz‹ oder der ›Dichte‹. ›Wolkig‹ und ›locker‹ scheinen diesbezüglich ähnliche Zustände zu beschreiben. Insgesamt entsteht so bereits innerhalb der ersten zweieinhalb Sätze die sprachliche und bildliche Anschauung einer zügigen, dichten Autokolonne sowie eines gemächlichen und veränderlichen Fußgängerstroms. Im dritten Satz wird die Anschauung des Fußgängerstroms dann noch weiter ausgebaut. Insgesamt werden ihr nämlich vier Zustände zugeschrieben. Die Fußgängerbewegung 1) ›verdickt sich‹, 2) ›rieselt rascher‹, 3) erzeugt ›Schwingungen‹ und 4) hat wieder einen ›gleichmäßigen Puls‹ (vgl. Z. 3-5). Die Beschreibungen 1), 3) und 4) erinnern dabei an das Verhalten von Flüssigkeiten, das mit der Fluss-Assoziation aus dem ersten Satz bereits eingeführt und deswegen besonders anschaulich ist. Beschreibung 2) dagegen hebt sich von den übrigen ab, da sie mit ›rieseln‹ ein Verb bemüht, das für gewöhnlich in Zusammenhang mit kleinen Festkörpern verwendet wird. Für das Lesen des Hauptsatzes bieten sich damit mehrere Möglichkeiten an. Vielleicht geht der Leser nur sehr schnell über die vier Beschreibungen hinweg. Dies ist möglich, da auf die »lockere Eile« (Z. 3) der Fußgänger mehrere Wörter folgen, deren semantischer Sinn ebenfalls eine Bewegung anzeigt, beispielsweise »rascher«, »Schwingungen« und »Puls« (Z. 4f). Solange beim oberflächlichen Lesen der Wörter keine größeren Diskrepanzen auftauchen, wird der Leser einfach davon ausgehen, dass die zuvor entwickelte Objektivierung zum Fußgängerstrom weiterhin Gültigkeit hat und nur näher beschrieben wird. Eine stärker ästhetische Lektüre dagegen würde versuchen, die einmal erstellte Objektivierung und Aktualisierung der sich bewegenden Schnüre mit

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den folgenden Beschreibungen in Einklang zu bringen. Während dies durch die Nähe zum Cluster ›Flusslauf‹ zuerst gelingt, bricht das Bild wie gesagt bei der zweiten Beschreibung, um dann erneut aufgenommen zu werden. Die Folge kann ein Oszillieren zwischen verschiedenen bildlichen Aktualisierungen sein, das nicht zur Ruhe kommt: »Schnüre« auf den Straßen, ›rieselnder‹ Sand, ein ›schwingender‹, elastischer Schlauch, der ›Puls‹ in einer Ader. Mit dem vierten Satz werden die Anforderungen an die Anschauung beim Lesen schließlich noch einmal gesteigert. Die Objektivierung der ersten beiden Wörter führt nämlich ganz ohne Übergang eine neue Modalität ein. Plötzlich erscheinen »[h]underte Töne« (Z. 5). Diese werden in der Folge des Satzes noch weiter erläutert. Sie seien zu »einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden« (Z. 5f). Die Schwierigkeit beim Verstehen besteht hier darin, dass die Objektivierungen der Nominalphrase und ihrer Erläuterung semantisch nicht unmittelbar zusammenpassen. So geht es um Töne, denen mit ›drahtig‹ eher eine Qualität aus dem optischen oder haptischen Sinnesbereich zugeordnet wird. Und auch die nachfolgenden Erläuterungen gehören noch in diesen Bereich: »Spitzen« und »schneidige Kanten« (Z. 6) lassen sich besser ertasten als hören. Mit diesem Widerspruch ergibt sich erneut eine Vielzahl möglicher Lesarten. Ein extrem passives Lesen könnte sich beispielsweise mit einer Objektivierung der einführenden Nominalphrase ›hunderte Töne‹ begnügen. An diese schließt sich nämlich das Vollverb »waren« in typischer Verbzweitstellung an. Die hohe Frequenz des Verbs in der Alltagssprache sowie die einfache Satzstellung erlauben eine unkomplizierte Antizipation des restlichen Satzsinns, nämlich eine nähere Erläuterung der ›hundert Töne‹. Beim Überfliegen des Texts bestätigt sich diese Vermutung auch, da am Ende des Satzes das Wort »Töne« (Z. 7) zum zweiten Mal fällt. Die passive Lektüre kann also ungestört fortgeführt werden. Ein ästhetisches Lesen dagegen würde dem Satz deutlich detailliertere Informationen entnehmen. Dazu muss zunächst das Prädikativ zum Vollverb »waren« gefunden werden. Als Objektivierung des Hauptsatzes ergäbe sich dann ›hundert Töne waren ein drahtiges Geräusch‹. Werden zusätzlich die Signale für den sich anschließenden Attributsatz zu ›drahtiges Geräusch‹ wahrgenommen (Komma, Relativpronomen), kann die sprachliche Objektivierung sogar noch erweitert werden. So lassen sich ›drahtig‹, ›Spitzen‹, ›schneidige Kanten‹ und auch ›absplittern‹ gut miteinander assoziieren. Darüber entsteht letztlich in etwa die folgende Objektivierung: ›hundert Töne waren ein drahtiges Geräusch – mit Spitzen und schneidigen Kanten – Töne splittern ab.‹ Dieser rein sprach-

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liche Zugriff kann darüber hinaus jedoch noch von Aktualisierungen begleitet werden. Gemäß der vorangehenden Objektivierung könnten diese haptischer oder akustischer Natur sein. Allerdings weist Ingarden darauf hin, dass Leser bei ihren Aktualisierungen meist innerhalb einer Modalität verbleiben. Damit scheint eine bildliche Anschauung doch wahrscheinlicher. Zwar könnten durch die ersten beiden Sätze das Situationsmodell ›Stadt‹ und darüber typische Verkehrsgeräusche im Gedächtnis aktiviert werden. Insgesamt verlangt dies jedoch sehr viel Weltwissen und stellt damit hohe Anforderungen an die Anschauung des Lesers. Deswegen würde eine Aktualisierung vermutlich aus der Nominalphrase »drahtige[s] Geräusch« gespeist. Dass ›Geräusch‹ hier semantisch eigentlich dem akustischen Bereich zuzuordnen ist, wird dabei überlesen. Das Hauptaugenmerk gilt vielmehr der Aktualisierung von ›drahtig‹, das mit dem Verb »verwunden« eine anschauliche Verbindung eingeht. Als Aktualisierung ergibt sich so ein Knäuel bzw. Netz aus Draht. Durch den sich anschließenden Relativsatz kann die Anschauung außerdem um hervorstehende Spitzen an den Enden des Knäuels und um absplitternde Stücke erweitert werden. Nicht so leicht in die Aktualisierung zu integrieren sind dagegen die »schneidige[n] Kanten«, die in irgendeiner Weise »längs« (Z. 6f) zu dem drahtigen Gespinst verlaufen sollen. Vermutlich werden diese nur objektiviert oder auch überlesen. Insgesamt scheinen damit auch für den vierten Satz bildliche Anschauungen wenigstens partiell möglich zu sein. Für kaum umsetzbar innerhalb einer Erstlektüre – und sei diese noch so ästhetisch – halte ich dagegen eine Anschauung, die die Metaphorik des drahtigen Geräuschs mit seinen Spitzen und schneidigen Kanten auflöst. Dazu ist nämlich neben einer Objektivierung auch eine Konkretisierung nötig. So kann die Objektivierung mit dem semantischen Cluster ›Metall‹ und darüber auch mit ›städtischen Verkehrsmitteln‹ assoziiert werden. Entsprechend ergäbe sich das Bild von Straßenbahnen und Autos. All dies erfolgt allerdings vermutlich erst bei einer Relektüre oder in einer nachträglichen Reflexion. Mit einem zweiten Textbeispiel möchte ich den Vollzug der Konkretisierung ins Zentrum stellen. Dazu ziehe ich Das Wiedersehen von Bertolt Brecht heran.

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Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹, sagte Herr K. und erbleichte.324 Der Text stellt ein sehr prägnantes Beispiel dafür dar, dass Objektivierungen in hohem Maße von Konkretisierungen abhängen können. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Texte nicht nur Unbestimmtheitsstellen, wie bei Musil, sondern auch Leerstellen aufweisen. Der vorliegende Brecht-Text erfüllt diese Anforderung. Neben mehreren Unbestimmtheitsstellen muss sein Leser zwei Leerstellen, erstens die Nachnamensabkürzung ›K.‹ und zweitens den Grund für das Erbleichen von Herrn K., bewältigen. Bereits eine Erstlektüre des Texts ist also gezwungen, gleich mehrere Konkretisierungen zu vollziehen. Die erste betrifft wie gesagt den Nachnamen K. und hängt stark von der Kontextualisierung des Texts ab. Steht dieser innerhalb einer Sammlung der sogenannten Keuner-Geschichten, lässt sich der Name schnell qua Konkretisierung vervollständigen. Aber sowohl mit als auch ohne diese Kenntnis bleibt die Abkürzung deutungsbedürftig. Ob diese dann allerdings durch eine Konkretisierung aufgelöst wird, hängt stark von der Leseeinstellung ab. Eine passive Lektüre ginge über die Abkürzung einfach hinweg. Eine aktivere Lektüre dagegen würde wenigstens eine Irritation spüren. Denn obwohl Herr K. nicht eingeführt, also als bekannt vorausgesetzt wird, weiß der Leser nichts über ihn. Er kennt nicht einmal seinen vollständigen Nachnamen. Die Kontrastierung mit der zweiten als nicht definit eingeführten Figur ›ein Mann‹ verstärkt diesen Eindruck noch. Eine weitere Auflösung dieser widersprüchlichen Textsignale ist dann allerdings sehr komplex, da sie nicht innerdiegetisch erfolgen kann. So adressiert die Abkürzung ›K.‹ zum Beispiel ein bestimmtes Genrewissen, nach dem Nachnamen innerhalb von journalistischen Texten abgekürzt werden, um die Identität von Tätern zu schützen. Herr K. wird darüber unter Umständen zum Protagonisten einer Verbrechensgeschichte konkretisiert. Alternativ ließe sich die Abkürzung aber auch als bewusstes Ausstellen der Anonymität der Figur auflösen. In jedem Fall bedarf es für eine Ausdeutung aber einiger Erfahrung im Umgang mit Literatur. Eine Konkretisierung kann innerhalb der Erstlektüre also nur in stark ästhetischer Einstellung erfolgen. Dies betrifft auch die Reaktion von Herrn K. auf die Feststellung, dass er sich gar nicht veränderte habe. Das sprachliche

324 Bertolt Brecht: Das Wiedersehen, in: Gesammelte Werke, hg. von Elisabeth Hauptmann, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1967, Bd. 12, S. 383.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Gedächtnis wird diese häufig verwendete Floskel vermutlich als Kompliment konkretisieren. Daraus folgt wiederum eine bestimmte Objektivierung der sprachlichen Äußerung von Herrn K. Sein ›Oh!‹ wird entsprechend als Zeichen der Freude oder des Geschmeicheltfühlens gedeutet. Allerdings entsteht damit eine weitere Irritation in der Folge des Texts. Das vermeintlich freudige ›Oh!‹ und das Erbleichen von Herrn K. sind nämlich nicht miteinander zu vereinbaren. So wird die körperliche Reaktion des Erbleichens in durchschnittlicher Objektivierung als Anzeichen von Unwohlsein oder als Schockreaktion gedeutet. Durch den entstandenen Widerspruch wird also schließlich noch eine weitere Konkretisierung nötig. Ein alltägliches Lesen wäre immerhin in der Lage, die disparate Sinnpräsentation wahrzunehmen. Ein aktives oder sogar ästhetisches Lesen ginge nach der Objektivierung direkt zur Konkretisierung über. Diese besteht hier zunächst im Erinnern des ursprünglichen Auslösers des Widerspruchs. Da der Text kurz ist, lässt sich dieser leicht als die zuerst vorgenommene Objektivierung der Floskel, Herr K. habe sich nicht verändert, identifizieren. Dieses Erinnern geht aber zugleich mit einer neuen Objektivierung einher, indem nämlich die Floskel und das Erbleichen miteinander assoziiert werden. Die dabei entstehende Konkretisierung hängt sowohl von der Leseeinstellung als auch von der Lebenserfahrung, das heißt von den im Gedächtnis niedergelegten Situationsmodellen ab. Möglich wären: 1) ›Herr K. sieht Veränderungen als etwas Positives und empfindet die Ansprache entsprechend nicht als ein Kompliment.‹ 2) ›Der Mann ist im Gegensatz zu Herrn K. stark gealtert, Herrn K. ist es aber unangenehm, dies auszusprechen.‹ 3) ›Herr K. weiß, dass der Mann Veränderungen als etwas Positives empfindet, dass er Herrn K. also kein Kompliment macht.‹ 4) ›Herr K. weiß, dass der Mann ihn früher schon nicht leiden konnte, und wertet seine Aussage als erneute Bekräftigung dessen.‹ Die vier alternativen Konkretisierungen erscheinen mir angesichts ihrer Komplexität ungefähr gleich wahrscheinlich. Genauere Einschätzungen können deswegen immer nur im Hinblick auf einen konkreten Leser getroffen werden. Schon die formal leere Beschreibung der Lektüre zeigte aber, dass Leerstellen unterschiedliche Anforderungen an diesen stellen oder auch überlesen werden können. Zudem wurde deutlich, dass die Konkretisierung von Leerstellen komplexer ist als die von Unbestimmtheitsstellen. Deswegen geht die Anschauung hier oft mit einer Korrektur von früheren Objektivierungen einher. Leerstellen bieten damit potentiell Anlass zur Unterbrechung des Lesens. Schnell entgrenzen sie den Lesevollzug nämlich in Richtung textferner Anschauungen und Reflexionen. Dies ist vermutlich auch der Grund dafür, dass Ingarden, der sich schwer-

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punktmäßig ebenfalls mit ununterbrochenen Lesevollzügen beschäftigt, in seinen Beispielanalysen vor allem Unbestimmtheitsstellen behandelt. Abschließend will ich noch eine weitere Lesart der Brecht-Kurzgeschichte zitieren, die Wolfgang Herrndorf einer seiner Romanfiguren in den Mund gelegt hat. Die dabei vorgenommenen Konkretisierungen sind derart komplex, dass sie nur innerhalb von Unterbrechungen oder nach der Lektüre erfolgen können. »Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Brechts Geschichte liest, ist logisch, wer sich hinter dem rätselhaften Buchstaben K. versteckt. Ohne viel Übertreibung kann man wohl sagen, dass es ein Mann ist, der das Licht der Öffentlichkeit scheut. Er versteckt sich hinter einem Buchstaben, und zwar dem Buchstaben K. Das ist der elfte Buchstabe vom Alphabet. Warum versteckt er sich? Tatsächlich ist Herr K. beruflich Waffenschieber. Mit anderen dunklen Gestalten zusammen (Herrn L. und Herrn F.) hat er eine Verbrecherorganisation gegründet, für die die Genfer Konvention nur einen traurigen Witz darstellt. Er hat Panzer und Flugzeuge verkauft und Milliarden gemacht und macht sich längst nicht mehr die Finger schmutzig. Lieber kreuzt er auf seiner Yacht im Mittelmeer, wo die CIA auf ihn kam. Daraufhin floh Herr K. nach Südamerika und ließ sein Gesicht bei dem berühmten Doktor M. chirurgisch verändern und ist nun verblüfft, dass ihn einer auf der Straße erkennt: Er erbleicht. Es versteht sich von selbst, dass der Mann, der ihn auf der Straße erkannt hat, genauso wie der Gesichtschirurg wenig später mit einem Betonklotz an den Füßen in unheimlich tiefem Wasser stand. Fertig.«325

5.7

Fundierung: Kritik an Iser

Um das Hauptanliegen dieses Kapitels, nämlich eine vollzugsmäßige Beschreibung des Lesevollzugs und die dafür nötige dichte Argumentation, nicht zu unterbrechen, führe ich die zugrunde liegende kritische Auseinandersetzung mit Iser und Ingarden sowie der kognitionspsychologischen Leseforschung erst am Schluss dieses Kapitels durch. Ich beginne dabei mit Iser.

325 Wolfgang Herrndorf: Tschick, Reinbeck bei Hamburg 2012, S. 55.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Zwar ließ sich Isers Konzept zur Zeitlichkeit des Lesens unter Aussparung einiger Differenzen mit meinen eigenen Überlegungen harmonisieren. Darüber hinaus war dies jedoch nicht ohne Weiteres möglich, da seine Grundannahmen sehr häufig von meinen eigenen abweichen. So operiert Isers Beschreibung des Lesens in Teilen mit einem Subjekt-Objekt-Dualismus. Deutlich zeigt sich dies bereits im Vorwort von Der Akt des Lesens, in dem Iser seine Wirkungsästhetik als »dialektischen Dreischritt von Text und Leser sowie der sich zwischen ihnen ereignenden Interaktion«326 erläutert. Daraus ergibt sich für ihn als zentrales Anliegen, den »Transfer des Textes in das Bewußtsein des Lesers«327 aufzuklären. Text und Leser werden hier also eindeutig als zwei voneinander getrennte Sphären aufgefasst.328 Damit unterscheidet sich Iser von meinem eigenen vollzugsmäßigen Verstehensbegriff, der davon ausgeht, dass das (Nicht-)Verstehen die Seinsweise des Menschen darstellt und nicht ein zufälliges Beiwerk. Die Frage nach dem Zusammenkommen von Subjekt und Objekt, wie Iser sie hier aufwirft, stellt sich in einem Vollzugsdenken deswegen gar nicht. Aus Isers Subjekt-Objekt-Dualismus folgt also, dass er den Transfer zwischen Text und Leserbewusstsein aufklären muss. Diesen fasst er als »Verlauf« auf, in dem verschiedene »Stadien voneinander unterscheidbar [sind], weil in ihnen jeweils eine Veränderung dessen erfolgt, was ihnen vorauslief.« Innerhalb des Leseprozesses grenzt Iser somit »die in der Verarbeitung erfolgenden Sinnbildungsprozesse« von der darauffolgenden »ästhetische[n] Erfahrung« ab.329 Den Übergang zwischen beiden Phasen erklärt er durch große Diskrepanzen bei der Konsistenzbildung. Aufgrund dieser empfinde der Leser die von ihm erzeugten Sinngestalten als unzulänglich und nehme Abstand von seinem eigenen Lektüreprozess. Er beobachte sich in der ästhetischen Erfahrung also selbst dabei, wie er Sinn generiere. Deswegen wird laut Iser das Verstehen in der ästhetischen Erfahrung thematisch.330 Gemessen an meinen eigenen Grundannahmen ist diese Beschreibung gleich auf zweierlei Weise

326 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 8. 327 Ebd., S. 175. 328 Damit verdoppelt sich auch Isers Beschreibung der Zeitlichkeit des Lesens. So muss Iser stets zwischen einer objektiven Ebene der Zeichen im Text und einer subjektiven Ebene der Bewusstseinskorrelate bzw. Gestalten unterscheiden. Isers Sprechposition ist dabei aus vollzugsmäßiger Perspektive problematisch, stellen doch sowohl die Zeichen des Texts als auch ihre Sinnbeziehungen Wahrnehmungseinheiten dar. 329 Ebd., S. VII. 330 Vgl. ebd., S. 217f.

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problematisch: Zum einen besteht Iser in der oben zitierten Beschreibung darauf, dass innerhalb der ästhetischen Erfahrung die Struktur der Erfahrung selbst thematisch wird. Damit ergeben sich für mich die gleichen Schwierigkeiten, wie ich sie bereits in Bezug auf die metaisierenden Grundannahmen Martin Seels in Abschnitt 3.2.4 thematisiert habe. Zum anderen konstruiert Iser den Übergang vom alltäglichen Lesen hin zur ästhetischen Erfahrung als ein Ursache-Wirkungs- bzw. Folge-Verhältnis.331 Gegen derartige theoretische Denkfiguren hegt ein Vollzugsdenken ebenfalls grundsätzliche Zweifel.332 In diesen erscheinen alle Sachen nämlich als objektiv gesichert, als offenbar. Sie werden zum Gegenstand.333 Das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen, also die Gleichursprünglichkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen wird dabei abgeblendet.334 Zudem wird hier die menschliche Freiheit verleugnet, nach der unsere Verstehensvollzüge niemals vorherbestimmt sind. Vollzugsmäßig gedacht steht es einem Leser dagegen frei, in jedem Moment dieses oder etwas ganz anderes zu tun. Statt einer theoretischen Beschreibung von Folgeverhältnissen habe ich deswegen auf formal leere Kategorien zurückgegriffen. An Isers Subjekt-Objekt-Dualismus schließt sich drittens ein Denken an, das sich als Leib-Geist-Dualismus charakterisieren lässt. So unterscheidet er zwischen »Wahrnehmen und Vorstellen als zwei verschiedenen Weltzugängen«335 . Während in der Wahrnehmung die Gegenstände für Iser einfach gegeben sind, gilt Vorstellen ihm als ein kreativer Akt und impliziert stets ein 331

Heidegger führt drei Beispiele für problematische theoretische Denkfiguren an: »In dieser Weise ist alle Vergegenständlichung des Wirklichen ein Rechnen, mag sie kausal-erklärend den Erfolg von Ursachen nachsetzen, mag sie morphologisch sich über die Gegenstände ins Bild setzen, mag sie einen Folge- und Ordnungszusammenhang in seinen Gründen sicherstellen.« (Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 54.) 332 »Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis aber ist das Gemeinste und Gröbste und Nächste, was alle menschliche Berechnung und Verlorenheit an das Seiende sich zuhilfe nimmt, um etwas zu erklären, d.h. in die Klarheit des Gemeinen und Gewohnten zu rücken. Hier, wo das Seiende das Gewohnteste sein muß, ist notwendig das Seyn das erst recht Gewöhnliche und Gewöhnlichste.« (Martin Heidegger: GA 65, S. 110, Herv. i.O.) 333 Die hier vorgebrachten Argumente gegen die Kausalität entlehne ich aus dem Zusammenhang von Heideggers Technik- und Wissenschafts-Kritik. Da Heidegger beide über die Kausalität bestimmt, können die Argumente hier Anwendung finden. (Vgl. Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 11, 46f.) 334 Vgl. ebd., S. 63f, 55f. 335 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 222 und vgl. ebd., S. 8. Interessanterweise erkennt Iser die Wahrnehmungsillusion als speziellen Fall von Vorstellung an. Hier deutet sich eine Aufhebung der strikten Trennung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung an. (Vgl. ebd., S. 277.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Deuten.336 Dazu passt auch, dass Iser der Wahrnehmung jegliche Zeitlichkeit abspricht. Diese werde einmal vollzogen und könne danach nur noch wiederholt werden. Vorstellungen dagegen würden vermeintlich immer wieder aktualisiert, ihre Bildung sei also unabschließbar.337 Insgesamt stellt Iser damit den leiblichen Vollzug der Wahrnehmung dem geistigen deutenden Vollzug der Vorstellung gegenüber. Mit meiner eigenen Annahme einer Gesamtsinnesorganisation des Menschen lässt sich diese Unterscheidung nicht vereinbaren.338 Diese bestreitet nämlich so etwas wie ›bloßes‹ Wahrnehmen oder eine Trennung von Wahrnehmen und Denken. Damit entfällt auch Isers Unterscheidung zwischen literaturgebundener und anderer Vorstellungsbildung. So schätzt er Erstere als genuin schöpferisch ein, während Letztere lediglich real existierende, aber abwesende Gegenstände vergegenwärtigen soll. Um diese Unterscheidung aufrecht erhalten zu können, muss Iser zugleich davon ausgehen, dass die Textwahrnehmung selbst nicht Teil der schöpferischen Vorstellung ist.339 Auf der Basis vollzugsmäßiger Grundannahmen lassen sich die beiden Formen der Vorstellung dagegen nicht prinzipiell unterscheiden. Vielmehr besteht jegliche Vorstellungsbildung, egal ob auf textueller oder anderer Basis, im Erinnern und Simulieren von Wahrnehmungsvollzügen. Und auch Isers Zusatzargument reicht nicht für eine prinzipielle Abhebung literaturinduzierter Vorstellungen von anderen aus. So können sich Assoziationen an beliebigen Sachen entzünden, ohne dass diese Sachen zugleich selbst Teil der Vorstellung werden. Folglich liegt nur ein gradueller Unterschied zwischen den beiden Vollzügen vor – insofern nämlich als Texte eine stärkere Kontrolle über die Vorstellungsbildung ausüben als andere Sachen. Isers Trennung von Vorstellung und Wahrnehmung sorgt viertens dafür, dass er die Unbestimmtheitsstellen im Text gegenüber der Sinnpräsentation 336 Die klare Unterscheidung von Wahrnehmen und Vorstellen verleitet Iser auch dazu, die Literaturrezeption gegenüber der Filmrezeption zu privilegieren. Letztere erfolgt für Iser primär wahrnehmend, was zugleich bedeutet, dass keine Deutungsaktivität stattfindet. Iser verkennt hier, dass der Unterschied zwischen Film- und Literaturrezeption lediglich in ihrer unterschiedlichen Modalität liegt. Denn natürlich weisen auch Filme Leerstellen auf und sprechen damit die Vorstellungsaktivität an. (Vgl. ebd., S., 223-225.) 337 Vgl. ebd., S. 291f. 338 Dagegen stellt sich auch Waldenfels, indem er betont, dass jeglicher inneren Vorstellung ein Außen korrespondiert bzw. jeder vermeintlichen Originalität eine Erinnerung an bereits Wahrgenommenes. (Vgl. Bernhard Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes, S. 25.) 339 Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 228.

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durch den Text privilegiert. Lesen konstituiert sich entsprechend vor allem durch das, was nicht da ist.340 Denn nur Leerstellen und Negationen stellen laut Iser Kommunikationsantriebe dar, die den Text im Leser entstehen lassen.341 Dies entzieht ihm jedoch letztlich die Grundlage dafür, Lesen als sinnlichen Vollzug zu fassen. Wenn der Text sich nämlich vor allem durch das konstituiert, was nicht da ist, kommt das einer völligen Abblendung seiner bildlichen und klanglichen Gestalt als eminenten Teilen seiner Sinnpräsentation gleich. Ästhetisches Verstehen, wie ich es bisher aufgefasst habe, wäre also mit Isers Theorie des Lesens allein nicht greifbar. Bisher betraf meine Kritik an Iser primär den Subjekt-Objekt-Dualismus, der seinem Denken zugrunde liegt. Abschließend will ich jedoch noch zeigen, dass dieser in Der Akt des Lesens nicht einmal konsequent durchgehalten wird, was zu zusätzlichen Problemen führt.342 Insgesamt ergeben sich damit nämlich Widersprüche innerhalb der Gesamtargumentation. Dies geschieht insbesondere, wenn Iser zu zeigen versucht, wie Leserbewusstsein und Text trotz einer grundsätzlichen Trennung zusammenfinden können: So wird der Leser während der Lektüre vermeintlich zum Subjekt fremder Gedanken.343 Oder anders ausgedrückt, er wird durch die Gedanken des Autors besetzt. Dadurch verlagert sich der Subjekt-Objekt-Dualismus in den Leser hinein, wodurch dieser künstlich gespalten wird. Die fremden Gedanken stünden im Moment des Lesens nämlich so sehr im Vordergrund, dass der Leser sich von sich selbst abhebe.344 Diese Spaltung wiederum ließe sich in eine zeitliche Struktur übersetzen. Sie entspricht laut Iser nämlich einer Vergegenwärtigung des Texts durch den Leser. Und »Gegenwärtigkeit heißt Herausgehobensein aus der Zeit; die Vergangenheit ist ohne Einfluß, und die Zukunft bleibt unvordenklich.«345 Mit dieser nichthermeneutischen Definition zerbricht Isers Argumentation letztlich in zwei Teile. Denn einerseits beschreibt er die Konsistenzbildung beim Lesen über eine Entrückung in die Zeit. Andererseits hebt er aber das lesende, vergegenwärtigende Subjekt aus der Zeit heraus.346 340 Vgl. ebd., S. 302. 341 Vgl. ebd., S. 266f, 283f. 342 Dies ist auch der Grund dafür, warum ich das Konzept zur Zeitlichkeit des Lesens weitgehend von Iser übernehmen konnte. 343 Vgl. ebd., S. 227, 248. 344 Vgl. ebd., S. 251f. 345 Ebd., S. 252f. 346 Iser argumentiert weiter, dass über den Selbstverlust des Lesers sonst nicht zugängliche Teile des Bewusstseins durch den Text reaktiviert werden können. (Vgl. ebd., S. 254-256.) Dies würde allerdings implizieren, dass diese Teile des Bewusstseins ir-

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

5.8

Fundierung: Kritik an Ingardens Ästhetik

Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Iser widme ich mich nun Ingarden. Für meine allgemeine Beschreibung des Lesevollzug stellte dieser aufgrund seiner differenzierten und gut strukturierten Beobachtungen zu den Bedeutungsschichten des Texts einen wichtigen Referenzpunkt dar. Bisher nicht erwähnt habe ich hingegen, dass auch er in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks das Ziel verfolgt, ästhetisches Verstehen zu beleuchten.347 Warum ich ihm in diesem Punkt dennoch nicht gefolgt bin, erläutere ich im Folgenden. Als erster Grund lässt sich anführen, dass Ingardens Betrachtung ästhetischen Verstehens eher von allgemeiner Natur ist. In ihrem Konkretisierungsgrad entspricht sie ungefähr meinen Ausführungen in Kapitel 4. Ingarden leistet also nicht eine spezifische Beschreibung ästhetischen Lesens. Aber auch für meine formal leere Argumentation haben seine Überlegungen keine Bedeutung. Dies liegt daran, dass fundamentale Unterschiede zwischen Ingardens und meinen eigenen Grundannahmen entstehen, sobald das Verstehen auf einen ästhetischen Vollzug hin zugespitzt werden soll. Dann nämlich denkt Ingarden nicht mehr vollzugsmäßig.348 Dies lässt sich im Folgenden vor allem an zwei Punkten in seiner Argumentation festmachen, erstens an seinem Verlaufsmodell ästhetischen Verstehens und zweitens an seiner HarmonieÄsthetik. In §24 seiner Monographie Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks entwickelt Ingarden ein Modell zum ästhetischen Verstehen. Dieses zeigt, dass ästhetisches Verstehen – »sofern es sich nur ungestört entwickelt – in seinem typischen Verlauf aus mehreren, sinnvoll zusammenhängenden Phasen besteht, die in einer bestimmten Ordnung aufeinanderfolgen.«349 Damit trifft gendwann aus der Zeitlichkeit des Lebens ausgeschlossen wurden und als Kopien eines früheren Bewusstseins separat weiterexistieren könnten. Haruki Murakami widmet sich dieser Idee in seinem Roman Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt (1985, dt. 1995). Interessanter Weise wird der abgespaltene Persönlichkeitsteil bei Murakami unter Aufwendung moralisch fragwürdiger, wissenschaftlicher und technischer Mittel erzeugt. 347 Vgl. dazu vor allem Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, § 24. 348 Einen weiteren Vorwurf erhebt Gadamer. So kritisiert er an Ingarden, dass dieser seine Ästhetik nicht im Spannungsfeld von Verstehendem und Anderem entwickelt. Für Ingarden stehe stattdessen nur der Verstehende im Zentrum, der das Kunstwerk in seiner Wahrnehmung erzeugt. (Vgl. Hans-Georg Gadamer: GW 1, S. 124 Fn.) 349 Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 185 Fn.

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Das Lesen als Handlung

Ingarden zunächst die gleiche Kritik wie zuvor Iser: Ursache-Wirkungs- bzw. Folge-Verhältnisse verleugnen die menschliche Freiheit. Dennoch denkt Ingarden an dieser Stelle vollzugsmäßiger als Iser. So kennzeichnet er die verwendeten Begriffe innerhalb seines Modells als formal leere Beschreibungen. Er betont nämlich, dass seine Ausführungen »vom Leser in seiner eigenen Erfahrung und mit eigener Kraftanstrengung lebendig erlebt und im Erlebnis für sich herausgehoben werden« müssen. Zusätzlich will er in seinem Modell sogar für »individuelle Abwandlungen der Erlebnisse«350 Raum schaffen. Und auch an anderer Stelle zeigt sich, dass Ingarden ein strenges Kausalitätsdenken unterläuft. Beispielsweise enthält sein Modell mögliche Abbrüche sowie alternative Verläufe eines ästhetischen Verstehens. Hinzu tritt eine nahezu vollzugsmäßige Bestimmung des Verhältnisses von ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischer Emotion. In seinem Modell wechselt Ingarden zwar zunächst streng Phasen der einen mit der anderen ab.351 Zugleich geht er aber davon aus, dass beide niemals völlig voneinander getrennt sind, also stets beide vorliegen, wobei lediglich eine der beiden dominiert.352 Im Zusammenhang anderer Grundannahmen ließe sich dies in eine Gleichursprünglichkeit überführen. Exemplarisch zeigt sich damit, dass zwar ein kritisches Augenmaß im Umgang mit Ingardens Ausführungen geboten ist, er aber zurecht als wichtiger Referenzpunkt meiner Arbeit dient. Es ist auffällig, dass Ingarden nicht schon bei der allgemeinen Beschreibung des Lesens auf Kausalitätsvorstellungen zurückgreift. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die sein Verlaufs-Modell fundierenden Grundannahmen nur im Bereich der Ästhetik greifen. Genauer gesagt rühren sie aus seiner Harmonie-Ästhetik her. Diese lässt sich erneut im Ausgang von Ingardens Emotions-Konzept erläutern. So kündigt sich ein grundlegender Unterschied 350 Ebd., S. 197 Fn. 351 Folgende Phasen lassen sich unterscheiden: 1) Ausgangspunkt: reine sinnliche Wahrnehmung 2) eigentlicher Beginn des ästhetischen Verstehens: Ursprungsemotion zur Steigerung der Wahrnehmungstätigkeit 3) ästhetische Wahrnehmungstätigkeit 4) eventuell zweite Ursprungsemotion 5) zweite Phase ästhetischer Wahrnehmungstätigkeit (Vgl. Ebd., S. 194f, 204f.) 352 So schreibt Ingarden in Bezug auf die (von mir so bezeichnete) Phase 3): »Die Ursprungsemotion […] geht also – ohne daß sie völlig verschwände – in eine solche Phase ästhetischen Erlebens über, in welcher das anschauliche Erfassen […] überwiegt.« (Ebd., S. 204.) Noch deutlicher wird diese Übergängigkeit in Ingardens Phasenmodell, wenn er seine eigenen Überlegungen an späterer Stelle theoretisiert: »Stabilisiert, unberechtigterweise statisch erfaßt wird ein Vorgang nur dann, wenn er in voneinander abgegrenzte Phasen zerlegt wird«. (Ebd., S. 293.)

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

zu meinen Grundannahmen darin an, dass Ingarden neben positiven auch negative ästhetische Emotionen annimmt. Diese entstehen dann, wenn »der ästhetische Gegenstand keinen einheitlichen qualitativen Zusammenhang bildet, der durch eine letztliche Qualität zusammengehalten würde. Dann bildet er eigentlich keine echte Ganzheit, sondern ist eher aus nicht genügend harmonisierten ästhetisch wertvollen Qualitäten zusammengewürfelt, die sich gegenseitig gar nicht fordern oder die sogar von sich aus die Forderung stellen, nicht an einem und demselben Ganzen teilzuhaben.«353 Die negative ästhetische Emotion wird hier also an eine mangelhafte Beschaffenheit des ästhetischen Gegenstands gebunden. Alternativ kann diese neben der negativen Emotion aber auch noch einen anderen Vollzug provozieren. So kann es dazu kommen, dass »wir die vorhandenen Mängel des Kunstwerks übersehen, dann kommt es zu einer Vervollkommnung des Werkes. Denn wir konstituieren dann einen ästhetischen Gegenstand, dessen qualitativer, ästhetisch valenter Gehalt reicher ist, als derjenige, den das betreffende Kunstwerk selbst suggeriert.«354 Beide Zitate zeigen, dass Ingardens Werk- und Verstehensbegriff auf eine bestimmte Zielperspektive hin gedacht werden, nämlich auf Ganzheit355 , Vollkommenheit oder auch »Harmonie«356 . Darunter versteht er das perfekte Zusammenspiel aller Teileindrücke des Verstehens, das zugleich ein ästhetisches ist. Mögliche Überschüsse oder Brüche werden dabei entweder imaginativ korrigiert oder sorgen für eine Abwertung des vermeintlich unvollkommenen Gegenstands. Worin der Unterschied eines solchen Denkens gegenüber meinen eigenen Grundannahmen besteht, lässt sich am besten erklären, wenn ich noch einmal an meine Auseinandersetzung mit der metaisierenden Ästhetik in Abschnitt 3.2.4 erinnere. Ingardens Auffassung ästhetischen Verstehens verhält sich nämlich analog zu der von Martin Seel. Denn auch Ingardens Harmonie-Ästhetik verdoppelt den Selbstbezug des menschlichen Verstehens. So muss das ästhetische Verstehen immer eine zusätzliche Reflexionsebene einziehen – eine Prüfung darauf, ob

353

Ebd., S. 218f. Eigentlich nennt Ingarden hier zwei Gründe. Letzterer betrifft aber meinem Verständnis nach keine ästhetische Emotion, da sich diese bei Ingarden lediglich auf den Gehalt des Kunstwerks richten soll. 354 Ebd., S. 206. 355 Ganzheit wird bei Ingarden ganz anders aufgefasst als bei Gadamer, der den Begriff vollzugsmäßig ausdeutet. Siehe dazu Kap. 5.4 und 5.5. 356 Ebd., S. 206.

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die gesammelten Eindrücke auch harmonisch zusammenwirken – um ästhetisch sein zu können. Befindet dieses Metaverstehen den Eindruck schließlich für harmonisch, stellt sich kausal eine positive ästhetische Emotion ein. Zeigt sich das Verstehen dagegen als fragmentiert oder brüchig, folgt eine negative emotionale Reaktion. Insgesamt wird damit bei Ingarden im ästhetischen Modus der Weltbegegnung die eigene Wahrnehmung von ihrem Fremdbezug abgeschnitten. Mit meinen eigenen Grundannahmen ist ein solches Modell nicht vereinbar. Nach diesen liegt nämlich entweder eine intensive und das heißt ästhetische Wahrnehmung vor oder nicht. Damit stellen auch Brüche und Überschüsse nicht mehr das Gegenteil von Sinn dar. Erstere lassen sich nämlich als das plötzliche Beenden oder Ersetzen eines Verstehensvollzugs durch einen anderen deuten. Dies führt zu einer Verschiebung innerhalb des synästhetischen Zusammenspiels und hat damit stets Einfluss auf jeden der beteiligten Sinne. Überschüsse können weiterhin als Fokussierung eines eher kleinen, abseitigen Weltausschnitts gedeutet werden, bei der die Sinne komplex miteinander in Synästhesie treten. Diese können durchaus einen anders gearteten ästhetischen Vollzug unterbrechen oder sich auch einfach nur an einen solchen anschließen. In jedem Fall aber gilt für meine Überlegungen: Ästhetisches Verstehen geschieht, indem es vollzogen wird. Es ist keiner Zielperspektive unterstellt, die sich in Form eines Metaverstehens vollzieht. Letztere kann höchstens in einer unterbrechenden oder nachträglichen Reflexion über die ästhetische Wahrnehmung eingezogen werden. So könnte ich mir vornehmen, besonders auf die Klangfarben eines Musikstückes oder die Textur eines Bildes zu achten. Sollte sich dabei eine ästhetische Wahrnehmung einstellen, wird diese jedoch, soweit sie ästhetisch ist, eine Eigendynamik entwickeln, die mich womöglich von meinem theoretischen Ziel entfernt. Durch seine Harmonie-Ästhetik nimmt Ingarden also wie Seel eine Verdopplung des ästhetischen Vollzugs vor. Dies zeigt sich weiterhin, wenn er behauptet, dass ästhetisches Verstehen von thetischen Momenten, das heißt Momenten der Seinsannahme begleitet wird. Dabei unterscheidet er insgesamt zwei Formen. So könne sich die Seinsannahme erstens auf die im Kunstwerk dargestellten Gegenständlichkeiten oder zweitens auf das Kunstwerk als Ganzes beziehen. In ersterem Fall gehe es darum, dass wir zwar nicht uneingeschränkt glauben, »daß die in einem Roman oder in einem Drama dargestellten Gegenstände, Menschen, Schicksale, Kämpfe, Siege und Niederlagen wirklich existieren, wir verhalten uns aber so, als ob wir uns selbst vormach-

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

ten, wir glaubten daran so ganz ernst und schlechthinnig.«357 Im zweiten Fall gehe es um eine Verwunderung über das Kunstwerk als solches, eine Verwunderung, »daß ›so etwas‹ überhaupt möglich ist – so etwas, d.h. eine derartige Harmonie, ein solcher Kontrast, ein derartiger Rhythmus, eine solche Linie usw.« Und es komme zu einem »Moment des Postulierens, des Forderns, der betreffende qualitative Zusammenklang solle weiterhin bestehen, irgendwie dauerhaft gemacht werden.«358 Erneut zieht Ingarden hier eine Verdopplung ein. So entspricht die Verwunderung über das Kunstwerk als Ganzes ebenfalls einem Metavollzug. Der Selbstbezug im ästhetischen Verstehen bezieht sich hier nur auf sich selbst. Er versucht sich selbst im Vollzug zu halten. Analoges gilt schließlich auch für Ingardens erstes thetisches Moment. Auch das Sotun-als-ob entspricht einem Metavollzug und muss in einem Vollzugsdenken deswegen rückgebaut werden. Vorbehalte gegen eine derartige Harmonie-Ästhetik zeigen sich auch bei Gadamer. So beschreibt er, was es aus der Ersten-Person-Perspektive bedeutet, einen Text zu lesen: »Bleiben wir bei dem Gedicht. Da ist, wenn man ein Gedicht liest oder es ›sich aufsagt‹, allerhand zu verstehen, […] und am Ende sagt man sich vielleicht: ›Wie schön!‹, oder vielleicht sagt man: ›Wie da alles sitzt und wie da alles richtig ist!‹«359 Wichtig ist hier Gadamers Verweis auf das ›Ende‹ der Lektüre, der die Wertungen als nachträglichen Reflexionsvollzug ausweist und ihn von der eigentlichen Textwahrnehmung unterscheidet. Entsprechend führt Gadamer weiter aus: »Aber nein – das ist gerade nur, was wir sagen, wenn wir nachträglich reflektieren. Im Vollzug ist es anders. Da ist es ›richtig da‹, das Bild, das Gedicht, das Lied. Es ist herausgekommen.«360

5.9

Fundierung: Kritik an der kognitionswissenschaftlichen Leseforschung

Seit der kognitiven Wende in den 1970er Jahren wurde die Beschreibung des Lesevollzugs zu einem wichtigen Forschungsbereich der Neurowissenschaften und Kognitionspsychologie.361 Als Vergleichspunkt zu meinen eigenen

357 358 359 360 361

Ebd., S. 222. Ebd., S. 224f. Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 392. Ebd., S. 392. Vgl. Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 22.

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Das Lesen als Handlung

Überlegungen bietet sich jedoch nur Letztere an, da sich das neurowissenschaftliche Anliegen, die beim Lesen beteiligten Hirnareale zu identifizieren und zu kartographieren, doch erheblich von meinem eigenen Interesse unterscheidet. Allerdings basieren neurowissenschaftliche Experimente auf kognitionswissenschaftlichen Modellen.362 Die hier vorgetragene Kritik an Letzteren ließe sich also auch auf Erstere übertragen. In Bezug auf Gegenstandsbeschreibung und Zielsetzung zeigen sich durchaus Parallelen zwischen kognitionspsychologischer und vollzugsmäßiger Leseforschung. So wird Lesen von beiden als hochgradig komplexer Vorgang betrachtet, dessen Teilprozesse im Einzelnen sowie in ihrem Zusammenspiel untersucht werden sollen.363 Allerdings resultieren aus unterschiedlichen theoretischen und methodischen Grundannahmen zugleich Differenzen, die für den aufmerksamen Beobachter bis in die Feinheiten konkreter Untersuchungen hinein merkbar bleiben. Somit wird ein produktiver Dialog zwischen Kognitionspsychologie und Vollzugsdenken möglich, der Unterschiede nicht einebnet, sondern bewusst danach fragt, welche Problemstellung mit welchem Ansatz zielführender zu bearbeiten ist. Im Zusammenhang meiner Arbeit können vollzugsmäßige Ergänzungen bzw. Alternativen zur kognitionspsychologischen Leseforschung jedoch nur exemplarisch anhand einzelner theoretischer Grundlinien sowie einzelner Teilvollzüge erörtert werden.364 Die Grundannahme einer sprachlichen Kompetenz sowie eines angeborenen grammatischen Wissens bezieht die kognitionspsychologische Forschung von der generativen Grammatik.365 Trotz eigener Weiterentwicklungen in den 1970er Jahren arbeitet sie damit, epistemologisch gesehen, mit einem Subjekt-Objekt-Dualismus und dessen theoretischen und methodischen Folgeerscheinungen. Dies ändert auch eine zusätzliche Einbettung

362 Vgl. Silvia Brem, Urs Maurer: Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 3-19, hier: S. 4-6, 9f. 363 Vgl. Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 21. 364 Auch Ingarden betont, dass er mit seiner Beschreibung des Lesens keine Psychologie treibe. Und an späterer Stelle spricht er etwas polemisch noch von der Primitivität einer psychologischen Behandlung. (Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 174, 194,) 365 Vgl. Markus Bader: Leseverstehen und Sprachverarbeitung, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 141168, hier: S. 144f.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

konstruktivistischer Prämissen nicht.366 Eine dieser Folgeerscheinungen stellt ein entzeitlichtes Verständnis von Sprache dar, wie ich es bereits in Abschnitt 5.2 kritisiert habe. Mit diesem einher geht der Anspruch auf möglichst objektive Aussagen über die untersuchten Gegenstände. Texte sollen demnach weitgehend unabhängig von ihrer Rezeption sowie vollständig beschreibbar sein. (Gemessen an diesem Maßstab käme ein vollzugsmäßiger Zugang geradezu »einer Subjektivierung des Leseverstehens«367 gleich.) Im Denken der Kognitionspsychologie ergänzen sich also unterschiedliche Rezeptionsvollzüge, ästhetische, alltägliche, wissenschaftliche und unterbrechende Reflexionen, gegenseitig und ergeben schließlich den ›einen Text‹.368 Nicht in Rechnung gestellt wird dabei, dass jeder Wahrnehmungsvollzug systematisch andere verdeckt und dass niemals ein objektiver Gegenstand, also der eine für alle Zeit gültige Text, erreicht werden kann. Eine weitere Folgeerscheinung des Subjekt-Objekt-Dualismus besteht darin, dass Texte als Form-Bedeutungs-Dualismus bestimmt werden.369 Für den Leser ergibt sich damit, dass er einerseits über eine Formwahrnehmung und andererseits über ein davon separates semantisches Gedächtnis verfügen muss. Dieses wiederum soll Informationen modalitätenunabhängig speichern können.370 Damit wird impliziert, dass Bild, Klang oder eben Sprache ohne Bedeutungsverlust ineinander übersetzt werden können. Schließlich verhindert ein Form-Bedeutungs-Dualismus noch, dass kognitionspsychologische Modelle Kontinuitäten zwischen den verschiedenen Komplexitätsstufen des Lesens aufzeigen können. Jede Stufe scheint dabei nämlich ganz eigenen

366 Vgl. Ursula Christmann: Lesen als Sinnkonstruktion, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 169-184, hier: S. 170. 367 Werner Graf: Leseverstehen komplexer Texte, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 185-205, hier: S. 187. 368 Vgl. Martin Heidegger: GA 79, S. 139. 369 Beispielsweise gehen modulare Theorien zum Satzverstehen davon aus, dass zunächst eine syntaktische Lesart vor jeglichem semantischen Verstehen stattfinden kann. (Vgl. Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 29.) Als prominentes Beispiel lässt sich die sogenannte Garden-Path-Theorie anführen. (Vgl. Markus Bader: Leseverstehen und Sprachverarbeitung, S. 149.) 370 Vgl. Silvia Brem, Urs Maurer: Lesen als neurobiologischer Prozess, in: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2015, S. 129-140, hier: S. 128.

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Das Lesen als Handlung

Gesetzen zu folgen. Vollzugsmäßig gedacht lassen sich dagegen alle Teilvollzüge des Lesens als Formen der zeiträumlich organisierten sprachlichen Wahrnehmung und damit als zusammenhängend beschreiben. Ihre Modelle gewinnt die Kognitionspsychologie, genau wie das Vollzugsdenken, noch auf der Basis von Introspektion, auch wenn diese aufgrund ihrer mangelnden Objektivierbarkeit seit Beginn des 20. Jahrhunderts in die Kritik geriet.371 Auf der Ebene der gewählten Methoden und Gegenstände wirkt sich der Objektivitätsanspruch dagegen konsequenter aus. Angestrebt werden eindeutige Messungen, denen es aus vollzugsmäßiger Perspektive häufig an Differenziertheit mangelt. Beispielsweise dienen bei der Blickbewegungsmessung und der Registrierung von Lesezeiten lediglich Zeitmessungen als Hinweis auf die Teilvollzüge des Lesens. Lexikalische Entscheidungsfragen, Multiple-Choice-Aufgaben und auch komplexere Fragebögen bringen zudem das Problem mit sich, dass sie meist erst nach der Lektüre angewendet werden können.372 Objektive Ergebnisse werden also dadurch generiert, dass die Methoden die Komplexität des Lesens beschränken. Und komplexere Methoden sind auf eine nachträgliche Erfassung angewiesen. Gegenstandsseitig sind ähnliche Tendenzen festzustellen. So beschäftigt sich ein Großteil der kognitionspsychologischen Leseforschung lediglich mit dem Lesen von Einzelwörtern. Werden die beobachteten Einheiten dagegen komplexer, geht es also um experimentelle Studien zum Satz- oder Textverstehen, steht nicht mehr das Lesen, sondern nur noch menschliches Verstehen im Allgemeinen im Fokus.373 Auch die Auswahl an Textsorten ist mit ihrer Präferenz für Sachtexte und kurze narrative Texte recht beschränkt. Generell ist Literatur im engeren Sinne als Gegenstand stark unterrepräsentiert – und das obwohl in der Kognitionspsychologie Einhelligkeit darüber herrscht, dass nur diese den Leseprozess in vollem Umfang herausfordern kann.374 Daraus folgt weiterhin, dass sich eine Leseforschung, die nur alltägliche Vollzugsweisen untersucht, keinen Begriff vom ästhetischen Lesen machen kann.375 Insgesamt ist es des-

371 Vgl. Silvia Brem, Urs Maurer: Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften, S. 4. 372 Vgl. Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 34-37. 373 Vgl. Silvia Brem, Urs Maurer: Lesen als neurobiologischer Prozess, S. 118f und Markus Bader: Leseverstehen und Sprachverarbeitung, S. 143. 374 Vgl. Ursula Christmann: Lesen als Sinnkonstruktion, S. 171, 176. 375 Es ist bezeichnend, dass nicht einmal der Artikel zum Lesen komplexer Texte innerhalb des Handbuchs zur Leseforschung von 2015 einen ernstzunehmenden Beitrag zum Konzept des ästhetischen Lesens liefert. Der Autor Werner Graf stellt hier die kognitiven Anteile des Leseprozesses den sinnlichen gegenüber. Innerhalb der Kognitionspsy-

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

wegen kaum verwunderlich, dass keines der kognitionspsychologischen Modelle zum Lesen »in der Lage ist, die Flexibilität dieses Prozesses vollständig zu modellieren.«376 Diesem Problem ist allerdings auch mit neuen Modellen oder einer Kombination früherer Modelle im Zeichen der alten Prämissen, wie Ursula Christmann sie fordert, kaum beizukommen. Vielmehr bedarf es der Ergänzung durch ein grundsätzlich anderes Denken, wie es die vollzugsmäßige Leseforschung mit ihren formal leeren Kategorien bereitstellt. Die bisherige Kritik an der Kognitionspsychologie war von sehr grundsätzlicher Natur. Abschließend sollen deswegen exemplarisch noch einige konkrete Unterschiede in der Beschreibung und theoretischen Modellierung des Lesens benannt werden. Als Vergleichspunkt ziehe ich meine eigenen vollzugsmäßigen Überlegungen heran. Klassischerweise teilt die Kognitionspsychologie das Lesen in drei hierarchische Stufen ein. So unterscheidet sie zwischen Teilprozessen auf Wort-, Satz-, und Textebene. Zur Beschreibung der Wortebene setzten sich vor allem zwei Modelle durch, das Zwei-Wege-Kaskadenmodell und das Konnektivistische Triangelmodell.377 Ersteres unterscheidet genauso wie ich insgesamt zwei Wege, Wörter laut zu lesen: einerseits das buchstabenweise Erlesen unbekannter Wörter und andererseits die automatische Sprachlautzuordnung nach dem Erkennen der Bedeutung eines Worts. Daneben stößt die kognitionspsychologische Empirie aber auch auf Befunde, die das Zwei-Wege-Kaskadenmodell aufgrund seiner Entzeitlichung nicht zu deuten vermag. Beispielsweise blieb unerklärlich, warum Leser Kunstwörter, denen sich viele Reimwörter zuordnen lassen, leichter aussprechen konnten als Kunstwörter mit nur wenigen Reimwörtern.378 Mithilfe des Vollzugsdenkens lässt sich dagegen eine Erklärung finden: So wird jegliche gehörte oder geäußerte Lautfolge im komplexen

chologie gilt sinnliche Wahrnehmung allerdings durchaus als kognitiver Prozess. Für ästhetisches Verstehen sei weiterhin »die Kenntnis von dem Text zugrunde liegenden literarischen Normen und Regeln relevant«. Wie dies mit dem von ihm ebenfalls bemühten typischen Vorurteil eines interesselosen Wohlgefallens am Schönen zusammengehen soll, wird allerdings nicht erläutert. (Werner Graf: Leseverstehen komplexer Texte, S. 199.) 376 Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 40. 377 Vgl. Silvia Brem, Urs Maurer: Lesen als neurobiologischer Prozess, S. 119. 378 Vgl. Anke Treutlein: Rekodieren im Deutschen und Englischen. Wie rekodieren Englischlehrer/-innen mit deutscher Muttersprache englische Wörter?, Diss. masch, Tübingen 2011, https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/ 49535/pdf/gesamt_17.4.pdf?sequence=1&isAllowed=y (07.04.2020), S, 22.

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sprachlichen Gedächtnis gespeichert. Je häufiger eine Lautfolge dabei auftritt, zum Beispiel weil sie Teil vieler Reimwörter ist, desto leichter lässt sie sich abrufen. Aber auch beim Deuten anderer sprachlicher Aktivitäten tut sich das Zwei-Wege-Kaskadenmodell schwer. So wurde innerhalb einer Studie die Gehirnaktivität beim Übersetzen in eine Fremdsprache mit der Gehirnaktivität beim normalen Lesen verglichen. Forscher gingen hierbei davon aus, dass im ersteren Fall mehr Hirnareale beteiligt sein müssten, die für spezifisch semantisches Verstehen zuständig seien. Tatsächlich zeigte sich aber eine geringere Aktivität der entsprechenden Regionen.379 Erneut liefert das Vollzugsdenken eine Antwort. Die geringere Aktivität beim Übersetzen ist dadurch zu erklären, dass der Streit zwischen Singularität und Sinnkontinuität innerhalb einer fremden Sprache geringer ausfällt als in der Muttersprache, da auf weniger Spracherfahrung und damit eine geringere Anzahl an Gedächtnisclustern zurückgegriffen werden kann. So übersetzten die Probanden vermutlich eher Wort für Wort bzw. Satz für Satz. Beim Lesen des muttersprachlichen Texts dagegen fand eine reiche Vorstellungsbildung statt, innerhalb der neben dem semantischen Sinn ganze Situationsmodelle aus dem Gedächtnis abgerufen werden konnten. Darüber hinaus erscheint es aus vollzugsmäßiger Perspektive fraglich, ob sich Hirnareale, die semantischen Sinn verarbeiten, wirklich trennscharf von anderen abgrenzen lassen. Wird nämlich davon ausgegangen, dass jeglicher sprachliche Sinn zeiträumlich erzeugt wird, unterscheidet sich das semantische Verstehen nur graduell von anderem. Mit diesem Ansatz lässt sich schließlich auch das jüngere Konnektivistische Triangelmodell kritisch beleuchten. Bezeichnenderweise verengt dieses die Betrachtung des Lesevollzugs erneut, indem es nur noch von einem einzigen Leseweg ausgeht. Von der Buchstabenfolge eines Wortes, so das Modell, soll der Leser direkt auf seine Lautgestalt schließen können. Dabei erfolgt die Übersetzung einzelner Buchstaben, Buchstabenketten und ganzer Wörter vermeintlich analog über die Anwendung von PhonemGraphem-Korrespondenzen.380 Wie in den Abschnitt 5.4.3 und 5.6.4 bereits gezeigt, stellt diese Korrespondenz-Annahme allerdings eine Verkürzung dar. Der Sprachlaut von Wörtern und Sätzen kann also keinesfalls aus einzelnen 379 Vgl. ebd., S. 23. Zudem gibt es Kritiker des Modells, die für Sprachen, in denen sehr regelmäßige Graphem-Phonem-Korrespondenzen vorherrschen, nur ein buchstabenweises Lesen annehmen. Damit bestätigt sich die Kritik von Stetter an der in der Linguistik und Kognitionspsychologie immer noch vorherrschenden Vorstellung vom Lesen. 380 Vgl. Silvia Brem, Urs Maurer: Lesen als neurobiologischer Prozess, S. 120f. Damit bestätigt sich erneut Stetters Kritik.

5. Ästhetische Vollzüge und Literatur

Buchstaben erlesen werden. Dies gilt insbesondere für längere sprachliche Einheiten, für die ganze Intonationsbögen und Pausen gebildet werden müssen. Folglich macht es einen erheblichen Unterschied, ob ein einzelner Buchstabe oder ein Satz laut gelesen wird. Diese Unterscheidung kann von dem Modell jedoch nicht berücksichtigt werden. Deutlich zeigt sich dies an seinem bevorzugten Gegenstandsbereich, einsilbigen Wörtern.381 Somit steht der heuristische Nutzen des Konnektivistischen Triangelmodells für komplexe und insbesondere ästhetische Lesevollzüge überhaupt in Frage. Ähnliche Kritik lässt sich auch an der kognitionspsychologischen Modellierung der Ebene des Satzlesens formulieren. Für diese gibt es zwei verschiedene Theorieschulen. Die modularen Theorien gehen davon aus, dass das syntaktische Verstehen dem semantischen zeitlich vorgeordnet ist. Damit ist auch impliziert, dass beide Verstehensformen prinzipiell unterschiedlich sind. Die interaktiven Theorien dagegen stehen vollzugsmäßigen Überlegungen näher, da sie behaupten, dass syntaktisches und semantisches Verstehen parallel verlaufen. Empirisch konnten vor allem letztere Theorien nachgewiesen werden. Allerdings blieben einige Ergebnisse uneindeutig, was zu der Interpretation führte, dass nur in eindeutigen Sätzen eine parallele, in hochgradig mehrdeutigen Sätzen jedoch eine serielle Verarbeitung von Syntax und Semantik erfolgen müsse.382 Vollzugsmäßig gedacht erscheint allerdings ein anderer Schluss naheliegend. So erfolgt unabhängig von der Komplexität eine parallele Verarbeitung des syntaktischen und semantischen Sinns. Allerdings scheint die Parallelität im Falle semantisch eindeutiger Sätze leichter nachweisbar zu sein. Denn bei mehrdeutigen sprachlichen Einheiten werden gleich mehrere Verarbeitungsdurchgänge benötigt. Zwar folgen diese durchaus aufeinander, innerhalb dieser vollziehen sich syntaktisches und semantisches Verstehen jedoch gleichursprünglich. Für die Textebene stellt schließlich das Konstruktions-IntegrationsModell den wichtigsten Bezugspunkt der Kognitionspsychologie dar. Dieses geht von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Prozessphasen, einer Leseund einer nachträglichen Reflexionsphase, aus.383 Diese klare Zweiteilung stellt sich innerhalb eines vollzugsmäßigen Denkens allerdings als zu einfach heraus. Erstens muss nämlich, wie ich in Kapitel 6 darstellen werde, ein gradueller Unterschied zwischen eigentlichem Lesen und unterbrechender

381 Vgl. Ursula Christmann: Kognitionspsychologische Ansätze, S. 27. 382 Vgl. ebd., S. 29f. 383 Vgl. ebd., S. 33.

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Reflexion angenommen werden, wodurch eine Vielzahl möglicher Zwischenformen denkbar ist. Zweitens darf keinesfalls von einem eindeutigen Folgeverhältnis ausgegangen werden. Vielmehr steht es dem Leser frei, in jedem Moment zwischen den graduell unterschiedlichen Vollzügen hinund herzuwechseln. Ein Modell, das von einer klaren Zweiteilung ausgeht, muss damit bei der empirischen Untersuchung des Lesevollzugs notwendig wichtige Teilvollzüge übersehen. Bei dieser exemplarischen Betrachtung der kognitionspsychologischen Leseforschung werde ich es an dieser Stelle belassen. Allerdings genügte bereits die Auseinandersetzung mit einzelnen Forschungsergebnissen, um zu zeigen, dass eine Ergänzung um vollzugsmäßige Annahmen sehr produktiv sein könnte. Dabei bestünde der Beitrag der Kognitionspsychologie in ihrer jahrzehntelangen Erfahrung darin, komplexe Vollzüge in bewältigbare empirische Forschungsdesigns zu übersetzten. Das Vollzugsdenken dagegen könnte Grundannahmen und Deutungen an neuralgischen Punkten ausschärfen und Untersuchungsmethoden und Deutungen entsprechend ausdifferenzieren. Darüber hinaus schließt dieser Abschnitt eine Reihe von Fundierungen ab, die über eine zentrale Gemeinsamkeit verfügen und mit dieser bereits in das nächste Kapitel meiner Arbeit verweisen: Alle drei Konzepte zur Beschreibungen des Lesevollzugs operieren nämlich teilweise, wie Ingarden und Iser, oder vollständig, wie die kognitionspsychologische Leseforschung, über einen Subjekt-Objekt-Dualismus. Dieser fasst Mensch und Lebenswelt nicht nur als getrennt voneinander auf, sondern zeigt auch die Tendenz, den Menschen als vollkommen souverän gegenüber einer zu beherrschenden Lebenswelt anzunehmen. Neben der Wahrnehmung selbst wird dazu ein Vollzug angenommen, der die Wahrnehmung kontrollieren kann. Letzterer wird dann als theoretisches Verstehen oder Reflexion bezeichnet. Mithilfe des Vollzugsdenkens lässt sich jedoch eine alternative Beschreibung entwickeln. In Kapitel 6 werde ich mich mit diesem beschäftigen, um meine bisherige Beschreibung der ununterbrochenen Erstlektüre zu ergänzen.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

Ziel dieser Arbeit war es, ästhetisches und alltägliches Lesen in wechselseitiger Bezugnahme zu bestimmen. Grundlage dafür war ein Vollzugsdenken, das beide als nur graduell unterschiedlich auffasst. An dieser Stelle soll nun ein weiterer Vollzug näher beschrieben werden, der bisher lediglich als abstrakter Gegenbegriff diente: das theoretische Verstehen bzw. die Reflexion. Die Abgrenzung von dieser spezifischen Form des Verstehens zeigte sich bereits an einer heuristischen Einschränkung im vorangehenden Kapitel. So galt das Hauptaugenmerk der vollzugsmäßigen Beschreibung einem bestimmten Typus der Textwahrnehmung, der ununterbrochenen Erstlektüre. Unterbrechende oder nachgelagerte Reflexionen, die Teil jeder realen Lesepraxis sind, wurden dagegen vorerst aus dem ohnehin schon komplexen Gegenstandsbereich ausgeklammert. Die Konkretisierung anhand von Beispiellektüren verwies allerdings schon darauf, dass die bisher vorgenommene formal leere Beschreibung des Lesens ergänzungsbedürftig ist. So provozierten die Texte Unterbrechungen und sogar Fehllektüren, die dazu führten, dass das Lesen von einem früheren Punkt aus neu beginnen musste. Wollte man meine Ansätze zur Beschreibung alltäglichen und ästhetischen Lesens hin zu einer Beschreibung des Lesevollzug überhaupt ausweiten oder um Überlegungen zum wissenschaftlichen Lesen ergänzen, gälte es also in erster Linie, eben diese beiden Begriffe, theoretisches Verstehen und Reflexion, näher zu bedenken. Abschließend will ich deswegen kurz darstellen, welchen Ausgangspunkt eine solche Beschreibung nehmen könnte. Methodisch folge ich damit der typisch vollzugsmäßigen Bewegung eines Kreisgangs.1 Denn die zunehmende Ausdifferenzierung und Konkretisierung der formal leeren Begriffe des ästhetischen und alltäglichen Verstehens verwies auf ein bisher nicht beachtetes

1

Vgl. Martin Heidegger: GA 5, S. 3.

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Phänomen, die Reflexion, das an dieser Stelle nun eine positive formal leere Bestimmung erhalten soll. Ich beginne mit einer Verhältnisbestimmung der beiden Begriffe des theoretischen Verstehens und der Reflexion. Dazu gilt es zunächst, zwischen einem engen und einem weiten Begriff des Theoretischen zu unterscheiden. Im engeren Sinne besteht eine Nähe zwischen dem Theoretischen und dem Praxisfeld der Wissenschaft, da dieses überwiegend theoretisch arbeitet. Die Reflexion stellt dabei nur einen neben vielen anderen wissenschaftlichen Vollzügen, wie der Beobachtung oder Beschreibung, dar. Im weiteren Sinne dagegen umfasst das Theoretische jegliche Form theoretischen Verstehens unabhängig von seinem konkreten Anwendungskontext. Entsprechend werden theoretische Vollzüge auch als Teil der durchschnittlichen Lebenswelt betrachtet. Reflexion dient dann als Sammelbegriff für die Gesamtheit theoretischer Vollzüge, also für ein Verstehen, das seine Lebenswelt versachlicht, vergegenständlicht, objektiviert.2 Innerhalb meiner Arbeit schließe ich mich letzterer Begriffsbestimmung an und verwende deswegen die Begriffe des theoretischen Vollzugs und der Reflexion synonym. Laut ihrer Selbstbeschreibung zeichnen sich theoretische Vollzüge durch eine zentrale Eigenschaft aus.3 Sie verstehen sich als »Rückbeugung auf sich selbst. Insofern das Denken als Vorstellen etwas vorstellt, erscheint es sich in gewisser Weise in dem von ihm Vorgestellten und findet darin den Anlaß, sich auf sein Vorstellen selber zurückzubeugen, zu re-flektieren.« Reflexion wäre demnach ein Vollzug der »Selbstbespiegelung«, also eine Abbildung des Verstehens auf sich selbst.4 Veranschaulichen lässt sich dies anhand der bereits eingeführten Beispielsituation aus der Ersten-Person-Perspektive: Stellen wir uns vor, ich würde gemäß dieser Beschreibung über den ungenießbaren Apfelkuchen meines Freundes nachdenken. Dann würde ich mir diesen im Nachhinein erneut vor mein geistiges Auge stellen. Ich könnte beispielsweise den an diesem Kuchen gewonnenen Sinneswahrnehmungen und Gefühlen folgen und sie auf ihre Stimmigkeit hin überprüfen oder nach besonders wichtigen Eindrücken forschen. Anhand dessen könnte ich mir dann darüber bewusst werden, dass ich den Kuchen in der nämlichen Situation vor

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Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt a.M. 2000, S. 17. »Das Denken geht sich in seinen von ihm selbst gesetzten Grundsätzen selbst an und bescheint so sich selber.« (Martin Heidegger: GA 79, S. 137) Ebd., S. 138, 140.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

allem als Freundschaftsbeweis, nicht aber als mangelhaftes Exemplar einer Nährstoffquelle bzw. eines Genussmittels aufgefasst habe. Aber damit nicht genug. Das theoretische Denken kann durch eine weitere Rückbeugung auf sich selbst sogleich jegliche Beschränkung aufheben. So könnte ich erkennen, dass diese Hinsicht nur eine unter vielen darstellt und dass ich nur genügend unterschiedliche Betrachtungsweisen ein und desselben Kuchens anstellen müsste, um ihn als Gegenstand vollständig zu bestimmen.5 Und selbst wenn dies erneut nicht ausreichte, würde ich einfach eine weitere Rückbeugung vornehmen und noch eine und noch eine… Extrapoliert man diese Bewegung, wird deutlich, wie theoretisches Denken seinen Objektivitätsanspruch begründet. So scheint es, als ließe sich die Reflexion unendlich potenzieren und so jegliche Situationsabhängigkeit des Denkens abstreifen. Dadurch bewegt sich das theoretische Denken in einer seiner »selbst absolut gewissen Subjektivität«. Oder anders ausgedrückt: Die Regeln, denen das theoretische Denken unterstellt ist, sind »Regelsätze, die vom Denken selber gesetzt sind. […] Das Denken ist zumal das Subjekt und das Objekt für seine als Regeln gemeinten Grundsätze.«6 Im Gegensatz zur Selbstbeschreibung des Theoretischen geht das Vollzugsdenken zwar auch davon aus, dass sich jegliches Verstehen auf gewisse Weise selber versteht,7 also einen Selbstbezug aufweist. Allerdings ist es damit weit davon entfernt, theoretisches Denken als Eins-zu-eins-Abbildung früherer Wahrnehmungen aufzufassen. Denn Reflexion ist »keine bloße Passivität, vielmehr ein Tun«8 . Diese Korrektur erscheint zunächst paradox. So zeigte das oben skizzierte Selbstverständnis doch gerade die unbegrenzte Aktivität und Produktivität der Reflexion. Allerdings werden diese erkauft, indem das eigentlich Vollzugsmäßige, nämlich die Zeiträumlichkeit theoretischen Denkens ausgeklammert wird. Denkt man Reflexion dagegen zeiträumlich, kann sie keine unveränderten Abbildungen früherer Wahrnehmungen mehr vornehmen, sie wird zu einem Tun. Oder konkret gesprochen: Das theoretische Nachdenken über Kuchen kann seine Situationsgebundenheit niemals aufheben. Denn jedes Nachdenken verändert das Verstehen nachhaltig und unwiderruflich. Zeit und Raum können nicht still gestellt werden, um durch beliebig viele Hinsichten einen vollständigen Eindruck von einem

5 6 7 8

Vgl. ebd., S. 139. Ebd., S. 137f. Vgl. ebd., S. 140. Ebd., S. 146.

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Das Lesen als Handlung

Gegenstand zu generieren. Vielmehr realisiert das theoretische Nachdenken über Kuchen bestimmte Möglichkeiten, wie den extra für mich zubereiteten Kuchen als Freundschaftsbeweis aufzufassen, die mit früheren Möglichkeiten in Verbindung stehen und spätere Möglichkeiten vorbereiten. Weder hinter die realisierten noch hinter die ausgelassenen Möglichkeiten kann der Verstehende vollzugsmäßig gedacht zurückfallen. So verändert die theoretische Einsicht, dass ich den Kuchen als Geschenk des Bäckers betrachtet habe, nachhaltig meinen Bezug zur Situation. Beispielsweise wird mein schlechtes Gewissen erleichtert, in Bezug auf die Genießbarkeit des Kuchens nicht ehrlich gewesen zu sein. Zugleich nehme ich mir aber auch die alternative Möglichkeit, meinem Freund ein verbessertes Kuchenrezept vorschlagen zu wollen. In dieser allgemeinen zeiträumlichen Beschreibung lässt sich theoretisches Denken kaum von einem anschauenden Denken unterscheiden, wie es in Abschnitt 5.6.6 beschrieben wurde. Beide beruhen nämlich auf dem Erinnern oder Vorstellen der Aktivitäten anderer Modalbereiche. Sie vollziehen sich also als innere Wahrnehmung.9 Um Unterschiede herauszuarbeiten, greife ich erneut auf die obige Beispielsituation zurück und schlüssle sie mithilfe der konstruktionsgrammatischen sprachlichen Basisvollzüge, Speicherung, Kategorisierung, Zusammenwachsen und crossmodale Assoziation, auf: Im anschauenden Nachdenken über einen Apfelkuchen ist es mir beispielsweise möglich, mir seinen Geschmack, seinen Geruch, seine Farbe, Temperatur, Konsistenz usw. vorzustellen oder sie mir ins Gedächtnis zu rufen. Darüber hinaus kann ich überlegen, ob nicht Schlagsahne den Geschmack des Kuchens angenehm abrunden würde. Es werden also gespeicherte und kategorisierte Sinneseindrücke abgerufen und durch inter- sowie crossmodale Assoziationen miteinander verknüpft. Über viele thematisch benachbarte Sinnbezüge können sogar ganze Cluster zusammenwachsen, so zum Beispiel die Vorstellung von Apfelkuchen und Schlagsahne. Daneben kommen mir sprachliche Umschreibungen wie ›fruchtig‹ und ›süß‹ in den Sinn, die als gespeicherte Sinneinheiten ebenfalls assoziativ mit den übrigen Modalitäten verknüpft sind. Je einfacher und naheliegender dabei die sprachliche Information ist, desto spontaner und unaufwendiger lässt sie sich in Gedanken äußern. Für alle gedanklichen Wahrnehmungen gilt dabei, dass sie im Vollzug die gespeicherten Sinnbezüge verändern. Assoziationen

9

Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, S. 163.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

werden nämlich durch Wiederholung gefestigt oder durch Abwandlungen erweitert bzw. umgebaut. Dies gilt in gleicher Weise auch für das theoretische Denken. Allerdings fallen die konkreten Gehalte der Reflexion anders aus: So kann ich zum Beispiel theoretisch darüber nachdenken, welche besondere Zutat im Kuchen verarbeitet wurde. Dazu rufe ich mir Situationen ins Gedächtnis, in denen ich die unbekannte Geschmacksnote schon einmal wahrgenommen habe: Zubereitung von Chai-Tee, Lebkuchen an Weihnachten, Dessert im TürkeiUrlaub… Beim Suchen nach einer Gemeinsamkeit fallen mir dann schließlich Nelken als gesuchte Zutat ein. Und mit dem Finden des Begriffs erscheint mir auch der Geschmack des Kuchens gleich deutlich greifbarer. Darüber hinaus erinnere ich mich daran, dass Nelken ätherische Öle enthalten, die ich in meinem Chemiestudium einmal mithilfe einer Wasserdampfdestillation gewonnen habe. Wie im obigen Beispiel zum anschauenden Denken lässt sich auch dieser Gedankengang mithilfe der Basisvollzüge abbilden. So wird die erinnerte Geschmackswahrnehmung des Kuchens mit verschiedenen anderen Clustern abgeglichen, bis eine Assoziation mit dem Begriff ›Nelke‹ erfolgt. Auffällig ist dabei jedoch die Komplexität der Vergleichscluster. Hier werden nicht nur Geschmacksnoten zueinander in Bezug gesetzt, sondern ganze Situationen assoziiert. Allerdings stehen mir diese nicht in ihrer breiten Sinnlichkeit vor Augen, sondern nur im Hinblick auf einen ganz bestimmten Sinnbezug: Rezepte für einige Lebensmittel. Die Situation erscheint phänomenal entleert. Analog verhält es sich mit den Clustern zum naturwissenschaftlichen Wissen über Inhaltstoffe und Trennverfahren. Zwar liegen auch diesen komplexe Situationen wie das Recherchieren und Experimentieren zugrunde, jedoch werden aus ihnen nur bestimmte Sinnbezüge abgerufen. Und schließlich büßt sogar die Erinnerung an den Geschmack des Kuchens in Abgleich mit einem Begriff an Details ein, dafür erscheint er jedoch besser greifbar. Bestimmte Wahrnehmungen werden hier also nicht als dichte sinnhafte Zusammenhänge erinnert oder vorgestellt, sondern sie »winken in eine Welt, aus der sie sind, was sie sind«, wodurch sie letztlich »immer einfacher und mächtiger« erscheinen. Heidegger fasst diesen Verstehensvollzug formal leer auch als ein »Zum-Scheinen-Bringen des Vorliegenden von ihm selbst her« zusammen.10 Im theoretischen Denken erscheinen also wie beim anschauenden Denken Sinnbezüge, die schon in

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Martin Heidegger: GA 79, S. 139, 143.

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Das Lesen als Handlung

Form von Gedächtnisclustern vorliegen. Allerdings tun sie dies auf besondere Weise. Sie winken nämlich immer einfacher. Theoretische Sinnbezüge verfügen damit nicht über die gleiche Dichte wie anschauende Sinnbezüge, sie bemühen nur wenige Assoziationen innerhalb eines großen Zusammenhangs. Zugleich sind sie aber mächtig, das heißt repräsentativ für die Ganzheit dieses umfassenden Zusammenhangs. Vollzugsmäßig lässt sich dieser Unterschied zwischen Reflexion und Anschauung so erklären, dass nicht alle Sinnbezüge gleich häufig aktiviert werden. So gibt es bestimmte Assoziationen, die sehr oft hergestellt werden und ihren Vollzug so wiederum selbst verstärken. Denn jedes Abrufen verankert die Assoziation tiefer im Gedächtnis und erleichtert somit eine Wiederholung in einer späteren Situation. Andere sinnhafte Verknüpfungen werden dagegen seltener abgerufen. Sie stabilisieren das Cluster nur noch, um bei Bedarf, zum Beispiel im Falle einer Störung etablierter Assoziationsketten, aktiviert zu werden. Insgesamt entstehen so Hauptverkehrswege und Nebenstraßen der Sinnbildung. Dabei befährt das theoretische Denken Erstere, wodurch es auch weit voneinander entfernte Sinnbezüge, zum Beispiel zwischen Apfelkuchen und Destillation, herstellen kann. Der Vorteil theoretischen Denkens besteht also in der erhöhten Reichweite der Sinnbildung. Als Nachteil ergibt sich folglich eine Entleerung der sinnhaften Bezugnahme, also der Verlust thematisch eng verwandter Assoziationen, wie sie das anschauende Denken oder die Wahrnehmung vornehmen. Die vollzugsmäßige Beschreibung der beiden Denkvollzüge zeigt damit insgesamt drei Dinge: Erstens stellen Anschauung und Reflexion beide Formen einer inneren Wahrnehmung dar. Sie lassen sich über dieselben Basisvollzüge beschreiben und sind damit lediglich graduell verschieden. Der Unterschied liegt dabei in ihrer Vollzugsweise. So bemüht theoretisches Denken etablierte Sinnbezüge, die auch weit entfernte Gedächtniscluster verknüpfen können. Dagegen orientiert sich anschauendes Denken an der phänomenalen Fülle der Wahrnehmung. Sein Netz aus Sinnbezügen ist besonders dicht, dafür jedoch von geringerer Reichweite. Daraus folgt zweitens, dass keiner der beiden Vollzüge gegenüber dem anderen bzw. gegenüber der Wahrnehmung eine Vorrangstellung behauten kann. Vollzugsmäßig gedacht kann theoretisches Denken die gleiche Komplexität wie die beiden anderen Vollzüge aufweisen. Es kommt lediglich auf die Intensität des Vollzugs an und diese ist frei wählbar. Drittens wird damit ebenfalls der oft behauptete Gegensatz zwischen Ästhetik und Theorie aufgehoben. Vielmehr kann Reflexion selber ästhetisch sein. Dafür muss sie nur besonders intensiv vollzogen

6. Wahrnehmung versus Reflexion

werden, also möglichst viele und möglichst weit entfernte Sinnbezüge ansprechen. Als zentraler Bezugspunkt diente mir in dieser Arbeit deswegen auch nicht die strenge Dichotomie zwischen ästhetischer und theoretischer, sondern die graduelle Unterscheidung zwischen ästhetischer und alltäglicher Vollzugsweise. Wenn theoretisches und anschauendes Denken nur graduell verschieden sind und zudem jeweils ganz unterschiedliche Intensitätsgrade einnehmen können, muss ihre Verhältnisbestimmung zur Textwahrnehmung qua Definition festgelegt werden. Es muss ein bestimmter Punkt auf der graduellen Skala zwischen einfachem die Wahrnehmung begleitendem und komplexem Denken gefunden werden. Dabei scheint es mir sinnvoll, auf die eingangs eingeführte Einschränkung meiner Fragestellung zurückzukommen. Demnach zählen jegliche Vollzüge, die ein Leser ohne Unterbrechung seiner Lektüre vollziehen kann, als Lesen im engeren Sinne. Dazu zählen also einfache Formen des anschauenden und theoretischen Denkens. Daraus folgt, dass jedes Verstehen, das aufgrund seiner Komplexität zu einer Unterbrechung der Lektüre führt, als anschauende oder theoretische Reflexion gewertet wird. Wo genau diese Grenze zwischen Lesen und Reflexion innerhalb der verschiedenen Bedeutungsschichten einzuziehen ist, kann innerhalb dieser Arbeit nicht beantwortet werden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine Unterscheidung immer vom jeweiligen Leser sowie Text abhängt. Es bedürfte also etlicher konkreter Textlektüren von mehr als einer einzigen Leserin, um sich dieser Frage zu nähern. Insgesamt kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die im fünften Kapitel formal leer beschriebene basale Schriftwahrnehmung sowie die Zuordnung des Sprachlauts zum Lesen im engeren Sinne zu gehören. Diese erfolgen also in gewissem Ausmaß nicht nur nacheinander, sondern auch parallel. Der Bereich der komplexen Schriftwahrnehmung stellt dagegen einen Übergangsbereich zur Reflexion dar. Die Überlegungen zur Reflexion dienen aber nicht nur dazu, meine vollzugsmäßige Beschreibung des ästhetischen Lesens zu erweitern. Sie können im Zusammenhang einer Praxeologie der Literaturwissenschaft auch dabei helfen, nur selten hinterfragte Grundbegriffe der Disziplin kritisch zu bewerten. Ich möchte dies im Folgenden exemplarisch am Beispiel des Fiktionalitätsbegriffs vorführen. Dabei wird sich zeigen, dass dieser, zumindest für eine vollzugsmäßige Literaturwissenschaft, entbehrlich ist.

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Das Lesen als Handlung

6.1

Fundierung: Fiktionalität

Innerhalb der aktuellen Forschung gilt Fiktionalität11 als eine »Eigenschaft von Medien (Texten, Filmen, Comics usw.)«, die »eine eigene Wirklichkeit erschaffen«. Zu fragen ist dabei erstens, in welchem Sinne sich dieses Erschaffen realisiert und zweitens was damit mehr gemeint ist als die Behandlung von »Lügen, Falschaussagen vor Gericht oder Schilderungen einer technischen Innovation beim Patentamt«, die man gemeinhin als lediglich ausgedacht, also nicht real existierend auffasst. Da fiktive Medien »eine enorme Rolle in unserem Leben, und zwar von klein auf«, spielen, kommt dem Forschungsfeld der Fiktionalität eine zentrale Rolle für die Literatur-, Medienoder Kunstwissenschaft zu.12 Darüber hinaus gibt es jedoch auch Ansätze, die den Begriff in einem weiteren Sinne, nämlich als allgemeine menschliche Praxis auffassen. Damit wird seine Bedeutung weit über die Grenzen von Einzeldisziplinen innerhalb der Wissenschaft ausgeweitet. Zudem wird deutlich, dass Fiktionalität nicht unabhängig von philosophischen Fragen wie beispielsweise der »Beziehung zwischen Sprache und Welt«13 verhandelt werden kann, wie sie auch die vorliegende Arbeit beschäftigen. Im Folgenden werde ich eine vollzugsmäßige Position zur Fiktionalität in Anlehnung und Abgrenzung von Forschungspositionen entwickeln, die das interdisziplinäre Handbuch zur Fiktionalität von Klauk und Köppe von 2014 versammelt. Bei der Ausarbeitung eines vollzugsmäßigen Fiktionalitätsbegriffs gilt es, sich zunächst zwischen zwei sehr grundlegenden alternativen Bestimmungen zu entscheiden. Auf der einen Seite steht die Fiktionalitätsforschung, die 11

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Unter den Begriffen Fiktionalitätsforschung bzw. Fiktionalitätstheorien verstehe ich im Folgenden solche Ansätze, die als Kernthese von einer Trennung fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte bzw. Vollzüge ausgehen. Die Gegenposition, der ich mich anschließe, bezeichne ich als Panfiktionalismus. Diese verneint eine grundsätzliche Trennbarkeit. (Vgl. Eva-Maria Konrad: Panfiktionalismus, in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2014, S. 235254, hier: S. 235, 239.) Damit werde ich dem komplexen Spektrum an Argumentationslinien innerhalb der beiden Positionen natürlich kaum gerecht. Mein Ziel ist es jedoch nicht, einen differenzierten Forschungsüberblick zu geben, sondern lediglich die unterschiedlichen theoretischen Grundannahmen der Positionen einander gegenüberzustellen. Tobias Klauk, Tilmann Köppe: Bausteine einer Theorie der Fiktionalität. in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2014, S. 3-34, hier: S. 3f. Ebd., S. 5.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

nach dem Unterschied fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte bzw. Praktiken fragt. Auf der anderen steht der sogenannte Panfiktionalismus. Ich werde hier zuerst Letzterem nachgehen, da er vollzugsmäßigen Grundannahmen nahesteht. Dabei beziehe mich auf den Beitrag von Eva-Maria Konrad, die hier allerdings als Kritikerin des Panfiktionalismus auftritt. Es wird sich jedoch zeigen lassen, dass Konrads Einwände im Wesentlichen auf Widersprüchen beruhen, die nicht im Panfiktionalismus selbst, sondern in ihrer Beschreibung dieser Position liegen. So verläuft ihre Argumentation logisch zirkulär, indem sie Schwachpunkte kritisiert, die sie erst durch eigene Missverständnisse in den Panfiktionalismus hineinprojiziert. Panfiktionalismus stellt laut Konrad die Gegenposition zur Fiktionalitätsforschung dar. Denn Ersterer hebe »die Grenze zwischen Fiktionalem und Faktualem auf« und halte damit »alle Texte für gleichermaßen fiktional«14 . Besonders seit den 1990er Jahren wird diese Position verstärkt diskutiert. Legitimation erhält sie durch bestimmte erkenntnistheoretische Grundannahmen. So beruft sich der Panfiktionalismus laut Konrad entweder auf einen radikalen Konstruktivismus oder die Semiotik. Denn aus beiden Grundlegungen solle sich das Folgende ergeben: »Eine Bezugnahme auf die reale Welt ist unmöglich, jegliche Art von Referenz ist fiktional. Ergo: Es gibt keine Grundlage für die Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten.«15 Für den Konstruktivismus ergebe sich diese Annahme durch einen Begriff von Wirklichkeit, der diese als vollständig konstruiert ansieht.16 Für die Semiotik beruhe die Nichtunterscheidung dagegen auf de Saussures Zeichentheorie. Sein Argument, dass Sprache nicht weltabbildend, sondern weltbildend sei, vermeide nämlich laut Konrad in letzter Konsequenz ebenfalls eine Trennung zwischen Sprache und objektiver Wirklichkeit und bestreite damit eine sprachliche Referenz auf Außersprachliches.17 Auffällig an dieser Argumentation ist, dass Konrad keinen einzigen Autor anführen kann, der einen solchen Panfiktionalismus, wie sie ihn beschreibt, wirklich vertritt. Zwar behauptet sie, dass sich doch zumindest der Poststrukturalismus hierfür ins Feld führen ließe, einen Beweis dafür bleibt sie aber schuldig. Die Textstellen Derridas und Barthes’, die Konrad zitiert, lassen sich bei genauerer Lektüre nämlich lediglich als Zeugnisse gegen eine essentialistische Vorstellung von

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Eva-Maria Konrad: Panfiktionalismus, S. 236, 235. Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 239,

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Fiktionalität als wesenhafter Eigenschaft von Texten anführen,18 nicht jedoch als Hinweise auf eine konsequente Nichtunterscheidung zwischen Fiktionalem und Faktualem. Am Ende ihrer Ausführungen fasst Konrad ihre »Einwände und Kritik«19 gegenüber dem Panfiktionalismus schließlich noch einmal zusammen. Dabei lautet ihr erstes Argument, dass mit einer Unterscheidung zwischen einer fiktionalen und nicht-fiktionalen Referenz auf fiktive bzw. reale Gegenstände der Kern des Problems gar nicht getroffen werde. Vielmehr müsse Fiktionalität nämlich als eine menschliche Praxis aufgefasst werden.20 Konrads erstem Argument ist dabei aus vollzugsmäßiger Perspektive ohne Weiteres zuzustimmen. Allerdings stellt es kein Argument gegen den Panfiktionalismus dar, da aus dessen Perspektive systematisch nichts gegen die Annahme von Textpraktiken spricht. Konrad betont zweitens, dass die radikal konstruktivistischen und semiologischen Grundannahmen des Panfiktionalismus gar nicht notwendig ausschlössen, dass sich dieser einen Begriff von Wahrheit und Unwahrheit machen könne – auch wenn er eben nur indirekt, das heißt durch Konstruktion oder über die Sprache auf die Welt zugreifen könne.21 Hier liegt erneut ein Missverständnis aufseiten Konrads vor. Denn weder eine semiologische noch eine konstruktivistische Argumentation verzichten vollkommen auf einen Wahrheitsbegriff oder analoge Konzepte. Die Positionen bestreiten lediglich den Zugriff auf eine objektive Wirklichkeit bzw. Wahrheit. Sie greifen also, wie Konrad dies selbst formuliert, indirekt auf die Welt zu. Drittens behauptet Konrad, dass selbst innerhalb einer radikalkonstruktivistischen bzw. semiologischen Grundlegung menschlichen Denkens die Differenz zwischen einer fiktionalen und einer nicht-fiktionalen Praxis nicht völlig nivelliert sei.22 Auch hier teile ich Konrads Auffassung. Eine solche Grenzziehung ist nicht nur möglich, sie ist sogar notwendig. Denn nur weil jede menschliche Praxis aufgrund der gleichen epistemologischen Grundlage beschreibbar ist, sei es die eine Konstruktion oder die eine Sprache, sind nicht zugleich alle menschlichen Handlungen identisch. Sie sind durchaus unterschiedlich, wenn auch nur graduell unterschiedlich. Letztlich zeigt sich, dass keines von Konrads Argumenten gegen den Panfiktionalismus wirklich greift. Tatsächlich verhandelt sie hier gar nicht die Frage nach Fiktionalität, sondern 18 19 20 21 22

Vgl. ebd., S. 242f. Ebd., S. 243. Vgl. ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 244f. Vgl. ebd., S. 245f.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

stellt nur verschiedene epistemologische Entwürfe einander gegenüber. So versucht sie, das eigene Denken gegenüber konstruktivistischen, poststrukturalistischen oder semiologischen Positionen zu privilegieren. Wie in Abschnitt 3.2.4 argumentiert, lässt sich diese Entscheidung aber gar nicht rein theorieimmanent verhandeln. Sie bedarf des Abgleichs mit dem Verstehen aus einer Ersten-Person-Perspektive. Ich habe Konrads Einwände gegen einen Panfiktionalismus hier deswegen zerstreut, da die kritisierte semiologische Position meiner eigenen vollzugsmäßigen sehr nahesteht. So verstehe ich Sprache ebenfalls als weltbildend. Im Vokabular meiner Arbeit habe ich diese Position mit Gadamer als Sprachlichkeit des Verstehens gefasst. Aus dieser resultiert letztlich die Annahme einer lediglich graduellen Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Vollzügen. Sie impliziert aber auch, »dass die Eigenschaft bestimmter Texte (und anderer Medien), fiktional zu sein, auf einer sozialen Praxis koordinierten, konventionsbasierten Handelns beruht.«23 Kurz gesagt: Fiktionalität muss in ihrem Vollzug betrachtet werden. Diesen praxeologischen Blickwinkel teile ich wiederum mit der sogenannten institutionellen Theorie. Auch diese geht nämlich davon aus, dass Fiktionalität nicht eine wesensmäßige Eigenschaft bestimmter Texte darstellt, sie also nicht vorgängig existiert. Vielmehr wird sie erst innerhalb eines Vollzugs erzeugt. Die institutionelle Theorie unterteilt diese Vollzüge dann weiterhin in fiktionale Äußerungsakte durch die Produzenten fiktionaler Medien und fiktionstypische Rezeptionshaltungen durch die Rezipienten fiktionaler Medien. Beide sind dabei über gemeinsame Konventionen und geteiltes Wissen miteinander verknüpft.24 Genauer bestimmt werden die Vollzüge dabei erstens über ein Verbot. Demnach sei es der fiktionalen Einstellung untersagt, Textgehalte als real aufzufassen.25 Entsprechend steht ein So-tun-als-mache-man-eine-Behauptung 23 24 25

Tilmann Köppe: Die Institution Fiktionalität, in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2014, S. 35-40, hier: S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Bezüge zur Wirklichkeit dürfen laut Köppe nur sekundär durch Interpretation hergestellt werden (vgl. ebd., S. 47). Diese Feststellung erscheint mir jedoch erklärungsbedürftig. Was bedeutet sie z.B. für wörtliche Lesarten eines Texts? Nehmen wir an, ein fiktiver Text konstatierte: »Hannover ist das kulturelle Zentrum Norddeutschlands.« So könnte ich diesen fiktiven Satz ironisch interpretieren, wodurch sich ein sekundärer Schluss über Hannover ergäbe, so z.B. »Hannover ist provinziell.« Angenommen jedoch meine Interpretation fiele so aus, dass ich die Aussage des fiktiven Texts ernstnähme. Dann würde meine Interpretation lauten: »Hannover ist das kulturelle Zentrum Norddeutschlands.« Ist diese Aussage dann trotzdem eine sekundäre Behaup-

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einem So-tun-als-verstehe-man-diese-Behauptung-als-eine-Behauptung gegenüber.26 Fiktionalität entspricht damit im Verständnis der institutionellen Theorie nicht einem eigenständigen Vollzug,27 sondern lediglich dem Vorgeben eines Vollzugs im Sinne eines So-tun-als-ob. Dies spiegelt auch das Gebot wider, das fiktionale Vollzüge in diesem Denken zweitens bestimmt. Für die Rezeptionshaltung eines Lesers besagt dieses nämlich, dass der fiktionale Text die Forderung stellt, sich mit ihm imaginativ auseinanderzusetzen. Und Imagination meint dabei erneut, dass der Leser nur so tun solle, als fasse er den Text als Behauptung auf. Damit liegt für die institutionelle Theorie schließlich keine Referenz auf etwas, sondern lediglich eine Vorstellung von etwas vor.28 Umgesetzt werden könne dies, indem der Leser nicht nur liest, sondern seinen Vollzug zugleich objektiviert, ihn also als fiktional oder nichtfiktional einschätzt. Anhand des Vorhandenseins eines solchen Metavollzugs ließe sich schließlich auch eine eindeutige Grenze zwischen fiktionalen und nicht fiktionalen Vollzügen ziehen. Aus dem fiktionserzeugenden Verbot bzw. Gebot und seinen epistemologischen Folgen ergeben sich nun allerdings Kompatibilitätsprobleme zwischen institutioneller Theorie und Vollzugsdenken. So wird mit einem Sotun-als-ob eine Verdopplung des Selbstbezugs des Verstehens angesetzt. Zudem sorgt die daraus resultierende absolute Unterscheidung dafür, dass die institutionelle Theorie »[k]eine Erklärung […] für sogenannte ›Grade‹ der Fiktionalität [hat], also für die Auffassung, dass ein Text mehr oder weniger fiktional sein kann.« Stattdessen kann sie nur behaupten, dass »es neben fiktionalen und nicht-fiktionalen noch eine dritte Gruppe von Texten gibt, oder sie [die Abgrenzung fiktionaler von nicht-fiktionalen Texten, S. R.] kann ihre Exklusivität einbüßen, sodass ein bestimmter Text sowohl fiktional als auch nicht-fiktional sein kann.«29 Wie aber sollte eine solche dritte Gruppe von Texten aussehen, die zwischen fiktionalen und nicht fiktionalen Texten steht?

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tung über Hannover? Oder anders herum: Stellen wörtliche Lesarten niemals Interpretationen dar bzw. stellen wörtliche Lesarten einen Text oder einen Teil des Texts automatisch als nicht-fiktional dar? Vgl. Edgar Onea: Fiktionalität und Sprechakte, in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2014, S. 68-96, hier: S. 81, 85. Vgl. ebd., S. 79f, 94. Mit dieser Erklärung bedient sich die institutionelle Theorie bei der Sprechakttheorie. (Vgl. Tilmann Köppe: Die Institution Fiktionalität, S. 37.) Ebd., S. 47.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

Oder wie kann ein Text zugleich fiktional und nicht-fiktional sein? Die einzige Lösung für dieses Dilemma scheint mir eine Rezeptionshaltung zu sein, die faktisch jeden einzelnen Teil eines Texts darauf zu prüfen hätte, ob er fiktional ist oder nicht. Doch wie ließe sich dafür eine sinnvolle Einteilung einziehen? Wird satz- oder phrasenweise entschieden? Wird gar jedes Wort bzw. jedes einzelne Morphem auf seine Fiktionalität hin geprüft? Insgesamt ist der oben beschriebene Fiktionalitätsbegriff der institutionellen Theorie also nur teilweise kompatibel mit einem Vollzugsdenken. Allerdings lässt er sich umformulieren. Dazu wird das So-tun-als-ob nicht mehr als ein zur Wahrnehmung simultanes Metaverstehen aufgefasst, sondern als eigener Vollzug, der von der Textwahrnehmung nur graduell verschieden ist. Dieser unterbricht die Wahrnehmung, geht ihr voraus oder folgt ihr nach. In Bezug auf das Lesen stellt Fiktionalität folglich keine Kategorie der eigentlichen Textwahrnehmung mehr dar. Vielmehr ist sie eine Form von Reflexion der Wahrnehmung von Literatur. Fiktionsbewusstes Lesen wird also von ständigen Unterbrechungen begleitet und steht einem ununterbrochenen immersiven Lesen gegenüber, wie Gadamer es beschreibt: »Im Vollzug ist es anders. Da ist es ›richtig da‹, das Bild, das Gedicht, das Lied. Es ist herausgekommen.«30 Beispiele für einen derartigen Vollzug lassen sich unzählige anführen: die Sympathie für eine Figur in einem literarischen Text, das Erschrecken beim Schauen eines Horrorfilms oder das automatische Initiieren von Bewegungen beim Tragen einer Virtual Reality Brille. In all diesen Fällen scheint zunächst eine Wahrnehmung des jeweiligen Mediums vollzogen zu werden. Die Überzeugung, es handle sich um etwas Ausgedachtes, bleibt dagegen hinter dieser zurück. Dass Fiktionalität sich vollzugsmäßig als eine Reflexionskategorie darstellt, zeigt sich jedoch nicht nur in Auseinandersetzung mit der institutionellen Theorie. Diese Einschätzung folgt ebenfalls aus einer genaueren Betrachtung von Ansätzen, die den Wahrheitsstatus fiktionaler Texte untersuchen. Diese unterscheiden zunächst zwischen fiktionsinternen und fiktionsexternen Aussagen. Erstere werden dabei innerhalb und Letztere außerhalb von literarischen Texten situiert.31 Interessiert man sich für den eigentlichen Lesevollzug, die Textwahrnehmung, sind also besonders die fiktionsinternen

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Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 392. Vgl. Jan C. Werner: Fiktion, Wahrheit, Referenz, in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2014, S. 125-158, hier: S. 128.

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Das Lesen als Handlung

Aussagen von Interesse. Bezeichnenderweise geht die Fiktionalitätstheorie jedoch davon aus, dass mit diesen »von vorne herein kein Wahrheitsanspruch verbunden wird«32 bzw. diese »ohne Einschränkung die Unwahrheit«33 sprechen. Ein Wahrheitswert kommt also nur den fiktionsexternen Aussagen zu, die nach oder vor einer Lektüre liegen sollen. Sobald die Fiktionalitätstheorie also über Wahrheit spricht, ist sie bereits keine Theorie mehr über das Lesen. Sie ist eine Theorie über die Reflexion des Lesens, denn wahr kann für sie lediglich die Welt außerhalb des Texts sein. Grund dafür ist ein stark begrenzter Begriff von Wahrheit, der diese mit der Satzwahrheit gleichsetzt. Demnach ist eine Behauptung wahr, wenn der »propositionale Gehalt der Behauptung (das Behauptete) wahr ist.« Oder noch prägnanter: Es wird von »Propositionen als primären Wahrheitswertträgern ausgegangen«34 . Mit Heidegger ließe sich hier auch von einem rein gehaltlichen Wahrheitsbegriff sprechen, dem es lediglich um Referenz, also um die Übereinstimmung von Satz und bezeichnetem Objekt geht. Dabei muss gefragt werden, welchen heuristischen Nutzen ein derart fundierter Fiktionalitäts-Begriff für die Beschreibung des Lesevollzugs haben könnte. Wird er doch dem Einfluss, den das Lesen auf innere Bilder, Überzeugungen, Gefühle oder sogar praktisches Handeln haben kann, in keiner Weise gerecht. Insgesamt zeigt sich damit, dass die Kategorie der Fiktionalität vollzugsmäßig gedacht nur eine Kategorie der Reflexion, nicht aber der eigentlichen Wahrnehmung von Texten sein kann. Denn andere Bestimmungen verhindern geradezu, dass Lesen als ein wirksamer Vollzug aufgefasst wird. Zudem bleibt die Frage, was genau da reflektiert wird, wenn es, wie zu Beginn erläutert, um mehr gehen soll als die Frage, ob etwas ausgedacht ist oder nicht. Worin besteht dieses Mehr? Etwa in einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Gestalt eines Texts, in der Offenheit gegenüber bildlicher Bedeutung, in

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Maria Elisabeth Reicher: Ontologie fiktiver Gegenstände, in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin, Boston 2014, S. 159189, hier: S. 161. Jan C. Werner: Fiktion, Wahrheit, Referenz, S. 142. Werner stützt hier auch die These zum fehlenden Wahrheitswert: »Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass einfache fiktionsinterne f-Aussagen von einer kleinen Einschränkung abgesehen selbst dann nicht wahr sein können, wenn fiktionsintern verwendete fiktionale Namen als referierende Namen betrachtet werden.« (Ebd.) Die Ausnahme, von der hier die Rede ist, betrifft solche fiktionsinternen Aussagen, die sowohl in der fiktiven Welt als auch außerhalb wahr sind. So z.B. »Sherlock Holmes ist berühmt.« Vgl. ebd., S. 143.

6. Wahrnehmung versus Reflexion

der Toleranz gegenüber Widersprüchen bzw. Mehrdeutigkeiten oder in einem bewussten Umgang mit Intertextualitäten? Wer diese Aufzählung von Reflexionseinstellungen beim Lesen als passende Umschreibungen einer fiktionalen Praxis empfindet, verwickelt sich zugleich in ein neues Problem. Die angeführten Vollzüge werden nämlich für gewöhnlich als Kennzeichen eines literarischen Lesens bzw. als Effekte der Literarizität von Texten aufgefasst.35 Fiktionalität und Literarizität würden damit zu Synonymen. Als einziger Ausweg aus diesem Dilemma bliebe dann nur ein Vorschlag Gadamers. Dieser spricht sich nämlich grundsätzlich dafür aus, den Begriff der Fiktionalität als »ungemäße Kategorie«36 aus der Literaturwissenschaft zu verabschieden. Nicht, weil er keinen Sinn ergäbe. Er könnte in einem Vollzugsdenken als Bezeichnung für eine theoretische Einschätzung von Medien dienen, nach der diese ausgedacht sind. Wem das allerdings zu wenig ist, wird abwägen müssen, ob es für die von ihm gemeinten Verstehensvollzüge nicht genauere Begriffe als den der Fiktionalität gibt.

6.2

Zu einer ›realistischen Haltung‹

Mit Dieter Thomä habe ich zu Beginn dieser Arbeit gefragt, wie sich eine ›realistische Haltung‹ innerhalb der Literaturwissenschaft zurückgewinnen und damit eine Alternative zum gängigen konstruktivistisch motivierten ›Fetischismus der Anführungszeichen‹ finden lässt.37 Als Ansatzpunkt erscheint mir dafür ein vollzugsmäßiger Zugang zur Disziplin jetzt umso mehr als sinnvoll. Was aus Thomäs Forderung nach einer ›realistischen Haltung‹ nämlich resultieren würde und was die vorliegende Arbeit gezeigt hat, ist das Folgende: Die Literaturwissenschaft sollte die eigenen Gegenstände als wirklich und die eigene Praxis entsprechend als wirksam betrachten. Geklärt werden muss dafür nur, wie Literaturwissenschaft eigentlich wirkt. Ein vollzugsmäßiger Ansatz führt also notwendig zur Reflexion der eigenen Praxis. Je genauer die Beschreibung der verschiedenen Vollzüge dabei ausfällt, desto besser 35

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Diese Beschreibungen lassen sich in etwa aus Cullers Bestimmungen von Literatur ableiten, nämlich aus dem aktualisierenden Sprachgebrauch, der Mehrfachkodierung der Sprache, der Ästhetizität und der Intertextualität. (Vgl. Jonathan Culler: Literaturtheorie, S. 45-54.) Hans-Georg Gadamer: GW 8, S. 255 und vgl. ebd., S. 205. Eine analoge Forderung findet sich auch bei: Hubert Dreyfus, Charles Taylor: Retrieving Realism, Cambridge, Massachusetts, London 2015, Kap. 7.

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lässt sich abschätzen, wie der wissenschaftliche und gesamtgesellschaftliche Beitrag der Literaturwissenschaft aussieht. Hilfreich dafür ist ein differenziertes Analyseinstrumentarium, wie ich es in dieser Arbeit entwickelt habe. Exemplarisch wurde dieses zur Unterscheidung alltäglicher und ästhetischer Praxen herangezogen und am Beispiel alltäglichen und ästhetischen Lesens konkretisiert. Der große Nutzen dieser ausführlichen Beschreibung des Lesens zeigte sich im Vergleich mit der kognitionswissenschaftlichen Leseforschung. Diese produziert nämlich empirische Ergebnisse, die die eigene Theorie nicht erklären kann, eine vollzugsmäßige Beschreibung des Lesens dagegen schon. Zugleich bedient sie sich methodischer Settings, die es grundsätzlich zu hinterfragen und auf Alternativen hin zu überprüfen gilt. Auch das kann ein Vollzugsdenken leisten. Zukünftig besteht ein umfassendes Desiderat also in der Kooperation kognitionswissenschaftlicher und vollzugsmäßiger Forschung, um die komplexe Praxis des Lesens besser auszuleuchten. Dies ist wichtig, da Texte nicht einfach als etwas Gegebenes vorliegen. Vielmehr konnte das Vollzugsdenken dieser Arbeit zeigen, dass sie erst durch den Leser erzeugt werden und dass bestimmte Lesarten unabwendbar andere verdecken. Deswegen müssen der wissenschaftliche Dialog und die Lehre wissen, über welche konkreten Verstehensvollzüge sie sich ihre jeweiligen Texte zurichten. Aber nicht nur innerhalb der Literaturwissenschaft muss diese Frage gestellt werden. Auch andere textbasierte Wissenschaften würden davon profitieren zu erkennen, wie Texte jeweils erzeugt und welche anderen Zugänge so systematisch ausgeschlossen werden. Wurde ununterbrochenen oder eher durchsetzt von Reflexionen gelesen? Wurde in Teilen oder in einem Stück, mehrfach oder einfach, immanent oder intertextuell gelesen? All diese Lektüren leiten nämlich jeweils eigene Texte aus ein und demselben Schriftstück ab. Damit müssen auch für jeden Lesevollzug passende Begriffe gefunden werden. Diese können sehr globalen Anspruch haben, wie das Konzept der Literarizität oder Fiktionalität. Sie können aber auch die Form konkreter Analysekategorien für Lyrik, Drama, narrative und pragmatische Texte annehmen. Für all diese Begriffe lohnt es sich zu fragen, ob sie Wahrnehmungskategorien im engeren Sinne oder doch Reflexionskategorien darstellen. Denn für die Anwendung der Letzteren bedarf es nicht nur, wie oben gezeigt, eines Höchstmaßes an Erfahrung, da sie die Dichte und Anschaulichkeit unmittelbarer Wahrnehmung zugunsten komplexer und weit auseinanderliegender Sinnbezüge entleeren. Die Reflexion impliziert auch, dass wesentliche Teile des Texts und der Anschauung systematisch ausgespart blei-

6. Wahrnehmung versus Reflexion

ben. Jede Lesesituation braucht deswegen ihre jeweils eigenen Kategorien. Darüber ließen sich auch Vermittlungssituationen gezielter gestalten. Welcher Lehrende hat nicht schon die Erfahrung gemacht, dass Schüler oder Studierende die theoretischen literaturwissenschaftlichen Kategorien nicht mit ihren eigenen Lektüren in Einklang bringen können. Grund dafür ist, dass diese eine andere privat erlernte Textwahrnehmung und folglich andere Beschreibungskategorien nutzen als die philologische Lesepraxis. Langfristig sollten also, und darin besteht ein zweites Desiderat, literaturwissenschaftliche Begriffe daraufhin geprüft werden, welche Texte sie erzeugen, das heißt, ob sie Wahrnehmungs- oder Reflexionskategorien darstellen.

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Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

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Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

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Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3

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