Lehrbuch der Experimentalphysik. Band 1 Mechanik, Akustik, Wärme: Mit einem Anhang über die Weltraumfahrt 9783111628882, 9783110048612


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German Pages 866 [872] Year 1975

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Table of contents :
Vorwort zur 8. und 9. Auflage
Einleitung
Verwendete Ausdrücke und Buchstaben
Griechisches Alphabet
Inhaltsübersicht
Mechanik
I. Kapitel. Messen und Maßeinheiten
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe, Mechanik des Massenpunktes
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
IV. Kapitel. Anwendungen auf spezielle Bewegungen
V. Kapitel. Elastizität der festen Körper
VI. Kapitel. Mechanik der Flüssigkeiten und Gase
VII. Kapitel. Molekularphysik
VIII. Kapitel. Allgemeine Wellenlehre
Akustik
IX. Kapitel
Wärme
X. Kapitel. Temperatur und Wärmemenge
XI. Kapitel. Thermodynamik
ΧII. Kapitel. Tiefe Temperaturen
Anhang
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Lehrbuch der Experimentalphysik. Band 1 Mechanik, Akustik, Wärme: Mit einem Anhang über die Weltraumfahrt
 9783111628882, 9783110048612

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BERGMANN-SCHAEFER LEHRBUCH DER

EXPERIMENTALPHYSIK BAND I

MECHANIK, AKUSTIK,

WÄRME

BERGMANN-SCHAEFER LEHRBUCH DER E X P E R I M E N T A L P H Y S I K ZUM G E B R A U C H B E I

AKADEMISCHEN

V O R L E S U N G E N U N D ZUM S E L B S T S T U D I U M

Band I

Mechanik, Akustik, Wärme 9. verbesserte Auflage mit einem Anhang über die Weltraumfahrt und 803 Abbildungen Von

o. Prof. Dr.-Ing. H. Gobrecht Technische Universität Berlin

w DE

G WALTER DE G R U Y T E R . B E R L I N · N E W Y O R K

ISBN 3 11 004861 2 Ο Copyright 1955,1958, 1961,1964, 1969, 1974 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. — Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vorwort zur 8. Auflage

Der Band I des „Lehrbuches der Experimentalphysik" von L u d w i g B e r g m a n n und C l e m e n s S c h a e f e r erschien erstmals im Jahre 1943. Es war die Absicht dieser Autoren, ein mehrbändiges Lehrbuch zu schaffen, durch das der Leser die Grundlagen der Physik kennenlernen kann. Die leicht verständliche Darstellung, ergänzt durch viele hundert Abbildungen, sollte auch ein Selbststudium ermöglichen. So war ein „Lehrbuch der Experimentalphysik" besonderer Art entstanden, das schließlich drei Bände umfaßte. Den geplanten Band IV (Aufbau der Materie) haben die Autoren nicht mehr schreiben können. Auch F r a n k M a t o s s i , der diese Aufgabe übernommen hatte, wurde durch plötzlichen Tod aus der Arbeit gerissen.

Bei den Überlegungen, ob man dieses Lehrbuch erhalten und erneuern sollte, war im wesentlichen die Frage entscheidend, ob ein echtes Bedürfnis für ein so umfangreiches, vierbändiges Lehrbuch besteht. Denn es gibt bekanntlich mehrere gute Physikbücher, die den Stoff konzentrierter darbieten. Es wäre jedoch ein Mangel in der physikalischen Literatur, wenn nicht auch ein Lehrbuch zur Verfügung stünde, mit dem der Leser für sich allein aufgrund einer breiten, ausführlichen Darstellung in der Lage ist, die Physik zu verstehen. Das gerade ist das Ziel dieses Buches.

Hiermit wird nun der Band I neu bearbeitet vorgelegt. Die Einteilung konnte im wesentlichen bestehenbleiben. Die schnelle Entwicklung der Physik und die Entstehung neuer Anwendungsgebiete erforderten selbstverständlich Änderungen und Ergänzungen. Einige Gebiete mögen dem Leser zu stark betont erscheinen. Dies ist eine Frage der persönlichen Auffassung und läßt sich ebensowenig vermeiden wie der Kompromiß zwischen letzter Exaktheit und einfacher Verständlichkeit.

Jedes Kapitel beginnt absichtlich leicht verständlich. Der Anfänger möge dort aufhören, wo der Inhalt für ihn zu schwierig wird, und im nächsten Abschnitt weiterlesen. So wird er das Buch einmal durcharbeiten können und hierbei die einfachen Grundtatsachen der Physik kennenlernen. Beim zweiten Lesen wird er auch die schwierigen Stellen überwinden. Es läßt sich nicht vermeiden, daß Vorgriffe gemacht werden auf solche Gebiete, die erst später ausführlich beschrieben werden. Man nehme daher keinen Anstoß daran, daß gelegentlich ein neuer Begriff auftaucht, der nicht gleich in höchster Präzision erklärt wird. Die ausführliche Erklärung muß dann deshalb zunächst unterbleiben, weil sonst die Übersichtlichkeit des behandelten Stoffes leiden würde.

Vorwort

VI

Zur Selbstprüfung des Lesers wurden an jedes Kapitel einige Aufgaben angehängt. Die Lösungen befinden sich am Ende des Buches. Auch ein Deutsch-Englisches und ein EnglischDeutsches Fachwörterverzeichnis wurden hinzugefügt; denn die Physik bedient sich neuerdings in besonders starkem Maße der englischen Sprache. Dieses Verzeichnis gibt dem Leser mit englischen Schulkenntnissen die Möglichkeit, auch ein Physik-Lehrbuch oder eine Zeitschrift in englischer Sprache zu lesen. — Den internationalen Empfehlungen über die Einheiten und Formelzeichen wurde weitgehend entsprochen. Im Fall der neuesten Empfehlung für die Bezeichnung von Temperaturgraden der Kelvin-Skala wurden die alten Symbole gelegentlich beibehalten, um das Lesen zu erleichtern. So steht für Temperaturgrade der Kelvin-Skala überwiegend das neue Symbol Κ ( = Kelvin), daneben aber auch noch das alte ° K ( = Grad Kelvin). Für Temperaturdifferenzen wurde neben Κ auch noch grd benutzt. Am 20. Juli 1969 befanden sich die meisten Menschen unserer Erde in einer ungewöhnlichen Spannung: Sie konnten durch Fernseh- und Rundfunkübertragungen miterleben, wie die ersten Menschen den Mond betraten. Dieses Ereignis gab Anlaß zu einem besonderen Abschnitt, da diese Reise — wie ganz allgemein die Weltraumfahrt — eine sehr große Anzahl interessanter physikalischer Probleme enthält. Da sich das Buch schon im Druck befand, war diese Behandlung nur in einem Anhang möglich. Meinen Mitarbeitern am II. Physikalischen Institut der Technischen Universität Berlin habe ich für aktive Mitarbeit und zahlreiche Diskussionen sehr zu danken. Dies gilt besonders für die Herren Dr. J. W. B a a r s (jetzt Freiburg/Br.), cand. phys. J. D i e t r i c h , Dipl.-Phys. D. G a w l i k , Dipl.-Ing. W. H o f f m a n n , Dr. H. J u n g h ä n e l , Dipl.-Ing. K.-E. K i r s c h f e l d , Dr.-Ing. R. K r ü g e r und Dipl.-Phys. G. W i l l e r s . Ferner danke ich herzlich Frau Prof. Dr. C h r . T e n n y s o n (Inst. f. Mineralogie der TU) und Dr.-Ing. H. I s i n g (Inst. f. Techn. Akustik der TU). Auch meine drei Söhne Dr. K l a u s G o b r e c h t (Univ. Grenoble), Dipl.-Ing. J ü r g e n G o b r e c h t (Elektronenmikroskop. Lab. der TU) und Schüler J e n s G o b r e c h t , haben mitgeholfen. Der Verlag hat jeden Wunsch großzügig erfüllt. Berlin-Schlachtensee, im Juli 1969

Heinrich Gobrecht

Vorwort zur 9. Auflage Es wurden Fehler beseitigt und einige Erklärungen geändert, die zu Mißverständnissen führen konnten. Allen denen sei herzlich gedankt, die solche Verbesserungen vorgeschlagen haben. Ferner wurden weitere Anpassungen an die SI-Einheiten vorgenommen. Ich muß allerdings gestehen, daß ich nach Streichung eingeführter Einheiten (kp, at, Torr) diese später wieder eingesetzt habe. Man muß alte Einheiten doch wohl längere Zeit neben den neuen behalten. — Einige Aufgaben und Lösungen wurden hinzugefügt. Die Physik der Weltraumfahrt im Anhang wurde neu geschrieben, da in allerletzter Zeit viel Interessantes hinzugekommen ist. Verschiedene Neuigkeiten in der Physik wurden aufgenommen, so die (zwar noch unsichere) Entdeckung der Gravitationswellen und die Entdeckung der Suprafluidität des 3 Heliums. Berlin-Schlachtensee, im Herbst 1974

Heinrich Gobrecht

Einleitung

Die Natur hat zu allen Zeiten einen großen Eindruck auf den Menschen gemacht. Man denke an das Weltall, an den Sternenhimmel, an Blitz und Donner, an die wunderbaren, gleichmäßig geformten und gefärbten Kristalle. Man denke aber vor allem an Leben und Tod. Geistvolle Menschen haben die Natur beschrieben. Man beobachtete, sammelte und ordnete. Diese Naturbeschreibungen, teilweise in künstlerischen Bildern oder in dichterischer Sprache, erfreuten die Menschen sowohl zu den Zeiten des L u c r e z und des P l i n i u s , zu den Zeiten G o e t h e s als auch heute. Aber zunehmend ist der Wunsch erkennbar, die Natur nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen. Das Wissen der Ursachen und Gesetze eines Naturgeschehens würde es ermöglichen, dessen ganzen Verlauf, also auch die Zukunft, voraussagen zu können; denn daß einige Vorgänge in der Natur nach bestimmten Gesetzen ablaufen und nicht auf Zufälligkeiten beruhen, konnte man schon früh erkennen. Der Wechsel der Jahreszeiten, die Sonnen- und Mondstellungen, chemische Prozesse, das Feuer, das Gefrieren und Sieden des Wassers sind einfache Beispiele. So besteht der Wunsch des Menschen, die Naturerscheinungen zu verstehen und auf allgemein gültige Gesetze zurückzuführen. Die Triebfeder ist sowohl der reine Erkenntnisdrang als auch die Hoffnung, sich die Natur dienstbar zu machen. Die wichtigsten Hilfsmittel hierbei sind das Experiment und die Mathematik. Das Nachdenken allein und die reine Beobachtung der Natur reichen im allgemeinen nicht aus, um die Gesetzmäßigkeiten zu finden. Die größten Erfolge entstanden deshalb seit jener Zeit im 17. Jahrhundert, als man zu experimentieren bereit war und die Ergebnisse mathematisch formulierte. Die quantitativ gefundenen Gesetze wurden bei jeder Wiederholung erneut bestätigt und hingen nicht von der Person des Beobachters ab. So wurden Tatsachen durch Versuche festgestellt. Sie wurden in ein logisch zusammenhängendes System eingeordnet. Das griechische Wort „physis" bedeutet Ursprung, Naturordnung, das Geschaffene (Welt, Geschöpf). Das Wort Physik hat sich daraus entwickelt. Wir verstehen darunter die Ordnung und die geistige, quantitative Erfassung aller Erscheinungen in der unbelebten Natur unter Zurückführung auf allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten. Die stürmische Entwicklung der Physik in den letzten 200 Jahren hat ganz wesentlich die Entwicklung der Technik beeinflußt. U n d umgekehrt hat dann später die Technik zahlreiche und wichtige Experimente in der Physik ermöglicht. Beide Entwicklungen sind bekanntlich nicht abgeschlossen. Während das Ziel der Physik ist, das Verhalten der nicht lebendigen Natur zu verstehen, also die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Ursachen und Zusammenhänge der Naturvorgänge zu erfassen, ist das Ziel der Technik die Anwendung dieser Kenntnisse zum Wohle der Menschheit.

VIII

Einleitung

Jeder, der sich noch nicht mit der Physik beschäftigt hat, wird Begriffen begegnen, die im täglichen Leben weniger oft oder in anderer Bedeutung vorkommen (ζ. B. „Masse"). Deshalb ist eine strenge Definition, das ist eine genaue Festlegung eines Begriffes, erforderlich. Dies wird während der Behandlung des Stoffes in diesem Buch an geeigneter Stelle oftmals vorgenommen. Es gibt aber auch Ausdrücke, deren Kenntnis vorausgesetzt wird. Ihre Bedeutung soll hier im folgenden Text erklärt werden. Wenn der Ablauf eines Naturgeschehens erfahrungsgemäß immer wieder genau in der gleichen Art erfolgt, scheint ein Gesetz vorzuliegen, das offenbar auch die Natur befolgen muß. Man spricht auch von einem Naturgesetz. Ist ein solches Gesetz durch Erfahrung, also durch Beobachtungen oder Experimente erkannt worden, so sagt man, es sei empirisch (Empirie, gr., = Erfahrung) gefunden. Im Gegensatz hierzu stehen Gesetze, die nicht empirisch, sondern durch Logik oder durch mathematische Entwicklung entstanden sind. Oft steht am Anfang eine Hypothese (gr.), d. i. eine unbewiesene Annahme, eine Unterstellung. Aus dieser wird dann eine Theorie entwickelt, die ein Naturgeschehen exakt beschreibt und mathematisch begründet. Eine Theorie kann also entstehen, bevor das Naturgeschehen beobachtet wird. Ein Experiment kann dann die Richtigkeit einer Theorie bestätigen oder sie widerlegen. Häufiger entsteht eine Theorie, um einen bereits bekannten Vorgang in der Natur zu erklären oder zu verstehen. Mit Hilfe einer solchen Theorie können dann oft Voraussagen über Naturvorgänge gemacht werden, die noch nicht beobachtet sind. Man darf nicht vergessen, daß eine Theorie auch falsch sein kann, während ein Experiment, das ja nur eine Frage an die Natur darstellt, stets die Natur so zeigt, wie sie ist. Setzt man eine allgemein gültige Aussage als wahr voraus, ohne daß man sie beweisen kann, so spricht man von einem Axiom (gr. = Forderung). Ein solches Axiom ist ζ. B. in der Geometrie, daß sich zwei parallele Geraden niemals schneiden. Man kann dies nicht beweisen. Es wurde versucht, ähnlich wie die Mathematik auch die Physik auf einem solchen Axiomensystem zu gründen, was aber nicht gelang. Als Axiome der Physik kann man auch Prinzipe und Erhaltungssätze ansehen. Es sind heuristische (d. h. erfundene) Sätze, die durch Erfahrung zu bestätigen sind. Beispiele sind das Energieprinzip ( = Erhaltung der Energie), das Kausalitätsprinzip ( = jede Wirkung hat ihre Ursache), das Prinzip von actio = reactio (Wirkung = Gegenwirkung), das Trägheitsprinzip, das N e w t o n s c h e Grundgesetz der Dynamik, das P a u l i Prinzip (gültig im Atom). Daneben gibt es aber auch Prinzipe in der Physik, die sich auf bestimmte Gebiete beschränken und die auch beweisbar sind, wie das A r c h i m e d i s c h e Prinzip und das F e r m a t s c h e Prinzip. Postulate sind ebenfalls Forderungen, die nicht beweisbar sind. Ihr Geltungsbereich ist eingeschränkt, wiez. B. die Β ohrschen Postulate, die sich auf das B o h r sehe Atommodell beziehen. Durch die Ergebnisse der Theorie, deren Zahlenwerte mit den Experimenten übereinstimmen, werden die Postulate gerechtfertigt. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts konnten die Vorgänge in der Physik überwiegend anschaulich erklärt werden. Zwischen Ursache und Wirkung besteht ein kausaler Zusammenhang. Es ist dies der Bereich der klassischen Physik. Hierzu gehört die N e w t o n s c h e Mechanik, die Akustik, die M a x well sehe Theorie des Elektromagnetismus, die geometrische und die Wellenoptik sowie ein Teil der Thermodynamik. Die anschauliche Denkweise geht in der modernen Physik, begründet durch die Quantenmechanik und durch die Relativitätstheorie, weitgehend verloren. Die bei einem Experiment durchgeführten Messungen stimmen manchmal mit den aus einer Theorie berechneten Werten nicht überein; es zeigt sich eine Diskrepanz (lat. = Unstimmigkeit).

Einleitung

IX

Diese ist möglicherweise um so größer, je mehr, von den Meßpunkten ausgehend, extrapoliert wurde. Darunter versteht man die Übertragung von Meßergebnissen in Bereiche außerhalb der Meßpunkte in der Annahme, daß die Kurve den gleichen Verlauf habe wie zwischen den Meßpunkten. Ist der Kurvenverlauf innerhalb der Meßpunkte stetig und besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß der Kurvenverlauf außerhalb der Meßpunkte unstetig wird, dann ist eine nicht zu starke Extrapolation im allgemeinen zulässig. Eine Approximation ( = Näherung) ist eine angenäherte Bestimmung (theoretisch oder experimentell) einer unbekannten Größe. Invarianten ( = Unveränderliche) sind solche Größen, die sich bei bestimmten Operationen (Drehung, Spiegelung) nicht ändern. Bei Koordinatendrehungen ζ. B. sind skalare Größen (ζ. B. Temperatur) invariant. Einige Größen spielen in verschiedenen Gebieten der Physik und ebenso im Kosmos eine bedeutende Rolle und erhalten auch bei völlig verschiedenen Meßmethoden die gleichen Werte. Man spricht von Naturkonstanten. Ein Beispiel ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Als Konstanten werden also Größen bezeichnet, deren Werte sich nicht ändern. Zum Beispiel ist die Avogadro-Konstante unabhängig vom Stoff. Sie gibt an, wieviel Moleküle sich in einem Mol eines jeden Stoffes befinden. Der Wert ist für alle Stoffe gleich. Im Gegensatz zu den Konstanten sind die Koeffizienten vom Stoff abhängig. Der Ausdehnungs-Koeffizient ζ. B. bezieht sich jeweils auf einen bestimmten Stoff. Das Wort „spezifisch" bedeutet „auf die Art bezogen". Damit werden Größen bezeichnet, die auf das Volumen (ζ. B. spez. Gewicht = Gewicht/Volumen) oder auf die Masse (ζ. B. spez. Wärmekapazität = Wärmekapazität/Masse) oder auf eine andere Größenart bezogen sind. Der Leser wird beim Studium dieses Buches verschiedene neue Arten physikalischer Größen (auch Größenarten genannt) kennenlernen, deren genaue Kenntnis notwendig ist. Mehrere Arten physikalischer Größen sind bereits aus dem täglichen Leben bekannt: Länge, Fläche, Raum, Zeit, Temperatur, Arbeit usw. Eine physikalische Größe wird definiert durch eine Meßvorschrift und eine Maßeinheit. Die Meßvorschrift gibt an, auf welche Weise die Größe mit einem Normal, das die Maßeinheit dieser Größenart darstellt, zu vergleichen ist. Das Ergebnis jeder Messung ist die Angabe, wie oft diese Maßeinheit in der zu messenden Größe enthalten ist. Eine physikalische Größe ist also gekennzeichnet durch das Produkt: Zahl mal Einheit. Mißt man als physikalische Größe z.B. eine Länge von 914,4 Millimeter = 91,44 Zentimeter = 0,9144 Meter = 3 Fuß = 1 Yard usw., so sieht man stets dieses Produkt: Zahl mal Einheit. Man ist frei in der Wahl der Einheit. Die davorstehende Zahl ändert sich zwangsläufig mit der Änderung der Einheit. Die Zahl der Längeneinheiten ist wie auch die Zahl der Einheiten anderer Größenarten natürlich beliebig groß. Die Gesamtheit aller Einheiten einer Größenart wird umfaßt durch den Begriff Dimension. Die Dimension wird stets in Grundgrößenarten angegeben. Die Dimension ζ. B. der Geschwindigkeit υ ist gleich Dimension der Länge (L) dividiert durch Dimension der Zeit (Γ). Dies wird kurz so geschrieben: dim υ = LT'1. Es ist oft von Vorteil, Dimensionsgleichungen aufzustellen. Sie zeigen insbesondere bei Rechnungen durch Multiplikationen und Kürzung von Dimensionen, ob die erwartete Dimension erhalten wird. Wenn dies nicht der Fall ist, muß ein Fehler vorliegen. Ergibt die Kürzung zweier Dimensionen die Zahl 1, so spricht man von einer Verhältnisgröße der Dimension „Eins". So ist ζ. B. ein Winkel das Verhältnis zweier Längen, nämlich Länge des Bogens dividiert durch die Länge des Radius. Die Dimensionen der

χ

Einleitung

Länge kürzen sich also fort. Der Winkel hat somit die Dimension „Eins". Radiant, Grad und Neugrad sind verschiedene Einheiten der Dimension Eins. Die genaue Bedeutung der in der Physik verwendeten Ausdrücke dringt mit der Zeit zunehmend in das Bewußtsein des Lesers ein. Es lohnt sich aber, oft wiederkehrende Wörter gleich am Anfang kennenzulernen und sich über ihre Bedeutung ganz klar zu werden. Da der Wortschatz einer Sprache nicht ausreicht, haben die Wissenschaften Anleihen bei anderen Sprachen gemacht. Griechische und lateinische Wörter wurden bis jetzt bevorzugt. Die deutschen Übersetzungen treffen nicht immer den wirklichen Sinn des Fremdwortes; deshalb treten oft längere Umschreibungen an die Stelle einer Übersetzung. Auch die Zahl der lateinischen Buchstaben reicht nicht aus. Als Symbole für Begriffe werden deshalb zusätzlich große und kleine griechische Buchstaben verwendet. Man sollte sie zur Erleichterung so früh wie möglich lesen und schreiben lernen. Es gibt neuerdings internationale Empfehlungen zur Verwendung von Buchstaben für physikalische und technische Größen. Diesen Empfehlungen wird in diesem Buch entsprochen.

Verwendete Ausdrücke und Buchstaben Länge Radius Fläche Volumen Wellenlänge Zeit Frequenz Winkelgeschwindigkeit, Kreisfrequenz Geschwindigkeit Beschleunigung Fallbeschleunigung Masse Dichte Impuls Drehimpuls, Impulsmoment Trägheitsmoment Kraft Gravitationskonstante Gewicht Richtgröße (elast. Konst.) Drehmoment, Moment eines Kräftepaares Richtmoment oder Winkelrichtgröße Moment, Kraftmoment Druck Normalspannung Schubspannung Dehnung Elastizitätsmodul Schubmodul Kompressionsmodul Poisson-Zahl Dynamische Viskosität Kinematische Viskosität Reibungszahl Reibungskoeffizient Oberflächenspannung Energie Potentielle Energie Kinetische Energie Arbeit Leistung Wirkungsgrad Molekülanzahl Molekülanzahldichte molare Masse Masse eines Moleküls relative Atommasse relative Molekülmasse Stoffmenge (in mol)

I r A, S, f V λ t v, f ω ν, c α g m ρ p L J F G G k Τ D Μ p a r ε Ε G Κ μ η ν μ /, μαο σ E, W Ev, V Εk, T, A, W Ρ η Ν n Μ m0 Ar Mr ν

ω = 2 πν

ρ = ml V p = mv L= r χ p F(r) = Gmi mz/r2 Τ = r XF D = \T /x Μ = r XF

ε = AlfΙο σ = εΕ τ = G tan 1 4 C + 1 H . Dieser neu gebildete Kohlenstoff wird in der oberen Atmosphäre durch Ozon und Ionisation zu CO2 oxidiert und vermischt sich mit dem übrigen Kohlendioxid der Atmosphäre. So enthält die Atmosphäre stets den gleichen Anteil an 1 4 C. Die Halbwertszeit des 14 C beträgt 5568 ± 50 Jahre. Es lassen sich also Substanzen messen, wie ζ. B. altes Holz, Kalk (CaCC>3) von Tieren usw., in denen vor einigen tausend Jahren der Kohlenstoff in der natürlichen Zusammensetzung eingebaut worden ist. Man bestimmt das Verhältnis der Isotope 1 4 C zu 1 2 C in Massenspektrographen und vergleicht mit der natürlichen Zusammensetzung dieser Isotope in der Atmosphäre. In den letzten Jahrzehnten ist infolge der Industrialisierung der C02-Gehalt der Atmosphäre gestiegen. D a vorwiegend Kohle und Erdöl verbrannt werden, in denen wegen des hohen Alters das 1 4 C längst nicht mehr vorhanden ist, ist der prozentuale Anteil des 1 4 C in der Atmosphäre gesunken. Kernwaffenversuche hatten allerdings wieder einen Anstieg zur Folge. Die 1 4 C-Methode versagt jedoch, wenn die Objekte sehr klein sind, wenn also nur winzige Spuren von 1 4 C vorhanden sind. In diesen Fällen eignet sich besser eine andere Methode, die allgemein an Bedeutung gewinnt. Die meisten Gesteine und Mineralien enthalten kleine Mengen Uran, welches sehr langsam durch Aussendung von α-Teilchen zerfällt. Die Bahnen dieser energiereichen Helium-Kerne hinterlassen geringe Spuren im Material, ebenso der Rückstoß des neugebildeten Kerns. Diese sehr feinen Spuren können durch geeignete Ätzung verbreitert und im Mikroskop sichtbar gemacht werden. Man erhält also die Gesamtzahl der Zerfälle, die in Beziehung zur Menge des noch vorhandenen, nicht zerfallenen Urans gesetzt wird. Die Halbwertszeit des Urans ist gut meßbar und beträgt 4,56 • 109 Jahre.

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Messen und Maßeinheiten Aufgaben

I, 1 In den USA nennt man beim Treibstoffverbrauch eines Kraftwagens die Zahl der Meilen, die man mit 1 gallon fahren kann, während man in Deutschland die Zahl der Liter Treibstoff angibt, die man auf einer Strecke von 100 km verbraucht hat. Man berechne den Treibstoffverbrauch eines Kraftwagens in Ltr./lOO km, wenn er in den USA die Strecke von 15 Meilen mit 1 gallon fährt. 1 USA gallon (gal) = 3,785 Ltr. (Man beachte: In England 1 gallon = 4,546 Ltr.) 1 (USA) statute mile = 1,609 km I, 2 a) Wieviel Gon sind eine Neusekunde? b) Wieviel Gon sind eine Altsekunde? I, 3

1 Quadratneugrad oder 1 Quadratgon sind wieviel Quadrataltgrad und wieviel Steradiant ?

I, 4

Wieviel Moleküle enthält a) ein Gramm, b) ein Liter Luft bei 0 °C und Normaldruck?

I, 5 Wie kann man die Dichte eines unregelmäßig geformten Stückes Bernstein bestimmen? I, 6 Man berechne die Dichte von Sauerstoff bei 0 °C und Normaldruck. I, 7 Welchen Raum nehmen die folgenden Stoffe ein: a) 1 kg Wasserstoff, b) 1 kg Luft, c) 1 kg Aluminium, d) 1 kg Gold ? I, 8 Die Räder eines Wagens (Durchmesser = 1 m, je 16 Speichen) scheinen in einem Fernsehbild (50 Bildwechsel pro Sekunde) still zu stehen. Welche Geschwindigkeiten kann der Wagen haben? I, 9

In dem guten Vakuum einer Fernsehröhre ist der Luftdruck (und damit auch die Zahl der Luftmoleküle) um den Faktor 1010 kleiner. Wieviel Moleküle befinden sich noch in 1 mm 3 ?

I, 10 Die Unruhe einer Armbanduhr sollte 5 Schwingungen pro Sekunde machen. Die Uhr verliert aber am Tag 5 Minuten. Welchen Fehler macht die Unruhe? I, 11 Nach einem Wolkenbruch über einer Stadt, der sich auf ein Gebiet von 9 km2 erstreckte, wurde eine Regenhöhe von 20 mm gemessen. Welche Wassermenge mußte in kurzer Zeit abgeführt werden ? I, 12 Wie groß ist der relative Fehler in Prozent bei folgenden Messungen: a) Bei der Geschwindigkeit eines Kraftwagens von 100 km/h wird der mittlere absolute Fehler des Tachometers auf 5 km/h geschätzt. b) Bei der Messung einer Länge von 2 m mit einem Bandmaß beträgt die Ablesegenauigkeit etwa 1 mm. c) Eine sehr gute Armbanduhr geht am Tag auf eine Sekunde genau.

II. K a p i t e l

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes 6. Absolute und relative Ruhe und Bewegung; Begriff des Massenpunktes Ruhe und Bewegung sind bekannte Begriffe des täglichen Lebens. Dennoch müssen sie in physikalischer Hinsicht genauer betrachtet werden. Eine Bewegung wird dann eine gleichförmige genannt, wenn ein Körper in gleichen Zeitabschnitten gleiche Wege zurücklegt. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Bewegung ungleichförmig. Bewegen sich die einzelnen Punkte eines Körpers auf parallelen Geraden, so handelt es sich um eine fortschreitende Bewegung oder Translation. Behält dagegen eine im Körper festliegende Linie oder ein festliegender Punkt seine Lage im Raum bei, während die anderen Punkte des Körpers konzentrische Kreise um diese Achse bzw. Kugeln um diesen Punkt beschreiben, dann handelt es sich um eine Drehbewegung oder Rotation. Translation und Rotation können bei einem Körper zusammen vorkommen, also überlagert sein. Die Bewegung eines rollenden Rades ζ. B. ist zusammengesetzt aus einer Rotation und einer Translation. Von der Bewegung eines Körpers spricht man im allgemeinen nur dann, wenn der Körper seine Lage relativ zu seiner näheren Umgebung ändert. Wenn jemand ruhig in seinem Zimmer sitzt, spricht man von Ruhe und nicht von Bewegung, obgleich sich der Betreffende mit dem Haus und der Erde durch den Weltraum bewegt. Man spricht im allgemeinen also nur von der Bewegung des Menschen, wenn er sich relativ zur Erdoberfläche bewegt. Man spricht aber von der Drehung der Erde um eine Achse, von dem Lauf der Erde um die Sonne und von der Bewegung unserer Sonne mit den Planeten im Weltenraum. Man bezieht also eine Bewegung im allgemeinen immer auf die nächstgrößere Umgebung. Diese Umgebung nennt man das „Bezugssystem" und verzichtet meist auf den besonderen Hinweis. In manchen Fällen kann man jedoch auf die Angabe des Bezugssystems nicht verzichten: Wenn ζ. B. ein Mensch auf einem fahrenden Schiff stillsteht, dann befindet er sich relativ zum Schiff in Ruhe, andererseits bewegt er sich mit seinem nächsten Bezugssystem, nämlich dem Schiff, relativ zur festen Erdoberfläche. Dies ist ja der Zweck seiner Reise. Man muß also in einem solchen Fall bei Betrachtung von Ruhe und Bewegung die Frage stellen: Relativ zu welchem Bezugssystem erfolgt die Bewegung ? Ist die Bewegung eines Bezugssystems so offensichtlich wie ζ. B. die Bewegung eines Flusses, der ein fahrendes Boot trägt, dann werden die Bewegungen des Gegenstandes (in diesem Fall des Bootes) und des Bezugssystems (in diesem Fall des Flusses) zusammengesetzt. Die resultierende Bewegung wird dann auf das nächstgrößere Bezugssystem (in diesem Fall auf die feste Erdoberfläche) bezogen (siehe Zusammensetzung von Bewegungen). Ein Reisender, der in einem extrem langsam und gleichmäßig fahrenden Eisenbahnzug sitzt, weiß oft nicht, ob sich der eigene Zug oder der Nachbarzug bewegt. Erst durch einen Vergleich mit festen Punkten auf der Erde kann er die Entscheidung treffen. Man sieht daraus, daß es in bestimmten Fällen nicht möglich ist zu entscheiden, ob sich ein Gegenstand oder das Bezugssystem bewegt. Nur die relative Bewegung zwischen Gegenstand und Bezugssystem ist erkennbar. (Dies gilt aber nur für geradlinige Bewegungen von Körpern mit konstanter Geschwindigkeit, nicht dagegen für beschleunigte Bewegungen von Körpern.) Von absoluter Ruhe oder Bewegung zu sprechen, hätte nur dann einen Sinn, wenn man ein Bezugssystem zugrunde legen könnte, das sich wirklich in Ruhe befindet. Eine Reihe mechanischer Versuche wird später zeigen, daß als solches Fundamentalsystem ein Bezugssystem angesehen werden kann, das im

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Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Fixsternhimmel festgelegt ist. Natürlich ist auch dies im Grunde eine r e l a t i v e Bewegung, nämlich relativ zu der Gesamtheit der Fixsterne. Aber während es nach den Gesetzen der Mechanik u n z u l ä s s i g wäre, anzunehmen, daß die Erde r u h t und der Fixsternhimmel sich bewegt, ist die umgekehrte Annahme (ruhender Fixsternhimmel und bewegte Erde) mit ihnen verträglich; d. h. das ptolemäische Weltsystem widerspricht unserer Mechanik, während das kopernikanische mit ihr in Einklang ist. M a n benutzt zur Festlegung von P u n k t e n , Längen u n d Bewegungen sogenannte Koordinatensysteme, die in dem Bezugssystem verankert sind. D a s a m häufigsten benutzte System besteht aus drei zueinander senkrechten Geraden, den „ K o o r d i n a t e n a c h s e n " , die m a n mit den Buchstaben X, K u n d Ζ bezeichnet (Abb. II, 1). Die positiven Richtungen der drei Achsen sind

Abb. II, 1. Zur Erklärung des rechtwinkligen Koordinatensystems folgendermaßen gewählt: M a n d e n k t sich eine Rechtsschraube, die sich durch Rechtsdrehung von unten nach oben bewegt. D i e Fortschreitrichtung ist die positive Z - R i c h t u n g . Die X- u n d die Y-Achse bilden d a n n eine E b e n e senkrecht zur Z-Achse; sie liegen also in der D r e h e b e n e der Schraube, u n d zwar so, d a ß die F-Achse d u r c h eine Rechtsdrehung der Schraube u m 90° aus der X-Achse hervorgeht (rechtshändiges System). D e r Schnittpunkt dieser drei Geraden heißt der N u l l p u n k t oder der A n f a n g s p u n k t des Koordinatensystems. Die Lage eines Punktes Ρ im R a u m wird durch die drei senkrechten A b s t ä n d e x, y, ζ von den Achsen angegeben, wobei die Vorzeichen dieser Zahlen angeben, auf welcher Seite der Achse in bezug auf den N u l l p u n k t der betreffende P u n k t liegt. In der A b b . II, 1 hat somit der P u n k t P i die K o o r d i naten + χ ι , + y\ u n d + z\; dagegen h a t der P u n k t P ' 2 ) ] 2 + (zi - z 2 ) 2 . Bei den Betrachtungen dieses Kapitels ist es zweckmäßig, zunächst nicht von ausgedehnten K ö r p e r n zu sprechen, sondern n u r v o n materiellen Punkten oder Massenpunkten. Unter einem M a s s e n p u n k t versteht m a n einen K ö r p e r , der so klein ist, d a ß seine Lage hinreichend genau d u r c h e i n e n geometrischen P u n k t angegeben werden k a n n . D a s h a t den großen Vorteil, d a ß auch seine Bewegung sehr einfach bestimmbar ist. Bei einem P u n k t h a t es offenbar keinen Sinn, von einer R o t a t i o n zu sprechen; die Bewegung ist also rein translatorisch. Experimentell h a t m a n es freilich stets mit ausgedehnten K ö r p e r n zu tun. I m nächsten Kapitel wird neben der „ M e c h a n i k eines M a s s e n p u n k t e s " auch eine „ M e c h a n i k eines Systems von

Gleichförmig geradlinige Bewegung; Begriff der Geschwindigkeit

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Massenpunkten" behandelt werden. D a jeder ausgedehnte Körper als eine A n h ä u f u n g von sehr vielen Massenpunkten betrachtet werden kann, wird m a n dann auch die Bewegung ausgedehnter Körper beherrschen. Außerdem läßt sich zeigen, daß es in jedem System, also in jedem ausgedehnten Körper, e i n e n P u n k t gibt (den sogenannten Schwerpunkt), der sich genau nach den Gesetzen eines Massenpunktes bewegt. Wenn man daher bei der Behandlung der einzelnen Massenpunkte auch gezwungen ist, mit ausgedehnten Körpern zu experimentieren, so rechtfertigt sich das dadurch, daß immer anstelle eines Körpers sein Schwerpunkt gemeint ist.

7. Gleichförmig geradlinige Bewegung; Begriff der Geschwindigkeit Ein Massenpunkt bewegt sich geradlinig und gleichförmig, wenn er auf gerader Bahn in gleichen Zeiten gleiche Wege zurücklegt. Bezeichnet man mit s die in der Zeit t zurückgelegte Wegstrecke, so gilt f ü r die geradlinige und gleichförmige Bewegung, daß das Verhältnis s/t einen gleichbleibenden, d. h. konstanten Wert besitzt. Das Verhältnis heißt Geschwindigkeit. Geschwindigkeit ν = Weg s / Zeit t (sofern geradlinige und gleichförmige Bewegung) Aus dieser Definition folgt zwangsläufig, daß die Einheit der Geschwindigkeit das Verhältnis von Längeneinheit/Zeiteinheit sein muß. Die Dimension ist f ü r die Geschwindigkeit also dim ν = LT_1. Dies gilt für jede Geschwindigkeit und f ü r jede Art von Bewegung, also nicht nur für den Fall der geradlinigen und gleichförmigen Bewegung. Als Einheiten f ü r die Geschwindigkeit werden meist benutzt: m/s und km/h. Die Umrechnung erfolgt leicht, wenn man bedenkt, daß 1 m = 0,001 k m u n d l s = - ^ - h ist. Fährt ζ. B. ein Auto mit einer Geschwindigkeit υ = 72 k m / h und möchte man wissen, wie groß der Zahlenwert in den Einheiten m/s ist, dann hat man zu schreiben: 1000 m p = 72 k m / h = 7 2 - ^ = 20 m / s . Will man andererseits die Geschwindigkeit eines Rekord-Läufers umrechnen, welcher die Strecke von 100 m in 10 s durchläuft, dann hat man zu schreiben: 100m m 0,001km 1 Λ Λ Α „ , ,,„Jm -——=10 —= 10·—; = 10 0,001 - 3 6 0 0 - ^ = 36 k m / h . 10s s 1 h 36ÖÖ Werte einiger Geschwindigkeiten: Golfstrom (bei Florida) 100 m Schwimmer (Rekord) 100 m Läufer (Rekord) 10 km Radfahrer (Rekord) Rennpferd Ozean-Passagierschiff Schwertfisch Unterseeboot (ideale F o r m und in großer Tiefe) Schwalbe

m/s 2 1,87 10 12,4 18 18 21

km/s

km/h

0,002 0,00187 0,010 0,0124 0,018 0,018 0,021

7,2 6,7 36 44,6 65 65 75

36 80

0,036 0,080

130 288

30

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes Werte einiger Geschwindigkeiten m/s Elektr. Lokomotive mit 3 Wagen (Rekord) 92 Rennwagen (Rekord) 176 Schall in Luft bei 0 °C 331 Flugzeugrekorde 14 a) im Jahre 1903 b) im Jahre 1966 (XI5 in 30 km Höhe) 1889 Mond auf Bahn um die Erde 1000 Erde auf Bahn um die Sonne 29600 Licht im Vakuum «i 0,3 · 109

km/s

km/h

0,092 0,176 0,331

330 634 1192

0,014 1,889 1 29,6 299793

50 6800 3600 106000 «a 1,08 · 10»

Zur Angabe einer Geschwindigkeit ist also die Messung einer Strecke und einer Zeit erforderlich. Als Beispiel für eine Geschwindigkeitsmessung sei im folgenden die Bestimmung der Mündungsgeschwindigkeit einer Pistolenkugel ausgeführt (Abb. II, 2). Auf der verlängerten

Achse eines Elektromotors M, dessen Umlaufszahl pro Minute mit einem Umdrehungsmesser U gemessen werden kann, sind im Abstand d zwei Pappscheiben Sx und 52 befestigt. Feuert man aus der Pistole Ρ in der bezeichneten Richtung parallel zur Achse des Motors durch die Pappscheiben einen Schuß, der die erste Scheibe an der Stelle αχ trifft, so wird die Scheibe S2 an einer Stelle az durchschlagen, die gegenüber der Durchschußöffnung in Sj um den Winkel λ versetzt ist. Denn um den Winkel λ dreht sich die Scheibe, während das Geschoß die Strecke d zurücklegt. So erhält man die Flugzeit t des Geschosses zwischen den beiden Scheiben aus dem Winkel α und der Umdrehungszahl Ζ pro Minute. Der in einer Sekunde durchlaufene Winkel ist Ζ Der in t Sekunden durchlaufene Winkel ist /-mal so groß, also: α = ί ' 77T~' 360° 60s Daraus folgt _ α-60 ''mTz

s

·

Bei einem Versuch war ζ. B. d = 30 cm und Ζ = 1800 Umdrehungen/min. Für α ergab sich ein Winkel von 15°, für die Geschwindigkeit ein Wert von 216 m/s. Bei Überschall-Flugzeugen bezieht man die Geschwindigkeit ν meist auf die Schallgeschwindigkeit c. Man dividiert die Geschwindigkeit υ des Flugzeuges durch die Schallgeschwindigkeit c und nennt das Verhältnis die Mach-Zahl: Ein Mach entspricht der Schallgeschwindigkeit, zwei Mach der zweifachen Schallgeschwindigkeit. Mach-Zahl = v/c.

Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung

31

8. Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung Im vorangehenden Abschnitt wurde eine gleichförmige Bewegung behandelt. Es war daher möglich, bei der Bestimmung der Geschwindigkeit eine in einer beliebig großen Zeit zurückgelegte Strecke zu benutzen. Es ist leicht einzusehen, daß dieses Verfahren versagt, wenn der sich bewegende Punkt auf geradliniger Bahn in gleichen Zeiträumen verschieden große Wege zurücklegt, wenn also die Geschwindigkeit nicht mehr gleichförmig ist. In der Abb. II, 3 bewege sich

Abb. II, 3. Zur Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung

S4

ss

is

o = 0) weiterhin: (11,4)

t =

Iis

und

v=]/2as.

Das einfachste Beispiel für eine geradlinige, beschleunigte Bewegung liefert der freie Fall. Er wird in Nr. 10 eingehend behandelt.

•i litllttl f

Ν t "

Abb. II, 4

Abb. II, 5

t Abb. Π, 6

Abb. II, 4. Geradlinige gleichförmige Bewegung (konstante Geschwindigkeit) Weg s = J ν dt = ν • t (schraffierte Fläche) Abb. II, 5. Geradlinige ungleichförmige Bewegung mit konstanter Beschleunigung a Weg j = J υ dt = J a - t • dt =

(ν ~

'hat2

Proportionalitätsfaktor a = Beschleunigung = Steigung der Geraden tga)

Abb. II, 6. Geradlinige ungleichförmige Bewegung mit nicht konstanter Beschleunigung a Weg s = ί ν dt; ν = f ( t ) Der Weg läßt sich nur dann ausrechnen, wenn die Funktion υ = f i t ) bekannt ist Die bisher gebrauchte Definition der Beschleunigung versagt, wenn es sich um Bewegungen handelt, deren Geschwindigkeit sich ungleichmäßig ändert. In diesem Fall ist die Zunahme bzw. Abnahme der Geschwindigkeit in gleichen aufeinanderfolgenden Zeiträumen verschieden groß. Man muß in Analogie zu den bei der Definition der Geschwindigkeit gebrachten Überlegungen die Geschwindigkeitsänderung Δ ν in einem hinreichend kleinen Zeitelement At betrachten (Abb. II, 6). Macht man dann wieder den Grenzübergang zu unendlich kleinen Zeitelementen, so kann man schreiben: (11,5)

a = lim

v(t + At)-v(t)

dt-ο

Δt

dv

= —, dt

d. h. die Beschleunigung einer geradlinigen Bewegung wird durch den Differentialquotienten der Geschwindigkeit nach der Zeit bestimmt. Setzt man für ν den in Gl. (II, 1) angegebenen Wert dsjdt ein, so ergibt sich: (11,6)

ah

d2s =

dt*'

in Worten: Die Beschleunigung einer geradlinigen Bewegung ist der zweite Differentialquotient des Weges nach der Zeit. Es sei noch hinzugefügt, daß in diesem Fall die Richtung der Beschleunigung mit derjenigen der Geschwindigkeit, also des Bahnelementes, übereinstimmt, so daß man hier von einer Bahnbeschleunigung oder Tangentialbeschleunigung spricht. Um dies anzudeuten, wurde in Gl. (II, 6) der Beschleunigung der Index b hinzugefügt. Wegen des Vektorcharakters ändert sich nämlich eine Geschwindigkeit auch dann, wenn sich nur die Richtung, nicht aber ihr Betrag ändert. Auch in diesem Falle muß eine Beschleunigung vorhanden sein, die Normalbeschleunigung oder Radialbeschleunigung (ar) genannt wird. Darüber ausführlich in Nr. 11. 3

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

34

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Eine allgemeine Bemerkung sei noch hinzugefügt. Ebenso wie die Geschwindigkeit als zeitliche Änderung der Lage, die Beschleunigung als zeitliche Änderung der Geschwindigkeit eingeführt wurde, könnte man natürlich eine entsprechende zeitliche Änderung der Beschleunigung als „Beschleunigung zweiter Ordnung", deren Änderung wieder als „Beschleunigung dritter Ordnung" usw. einführen. Man hat aber derartige weitere Begriffsbildungen nicht notwendig: Die Mechanik kommt mit den Begriffen „Geschwindigkeit" und „Beschleunigung" aus. Für die „Beschleunigung zweiter Ordnung" wird allerdings gelegentlich auch der Ausdruck „Ruck" verwendet.

10. Zusammensetzung und Zerlegung von Bewegungen; Vektoraddition Es wurde bereits bei der Definition der Geschwindigkeit darauf hingewiesen, daß diese die Eigenschaft eines Vektors besitzt, d. h. neben ihrem Betrage noch die Angabe der Richtung verlangt. Dasselbe gilt auch von der Beschleunigung. Man kann daher solche Größen, d. h. Vektoren, nicht wie gewöhnliche Zahlen behandeln, also nicht in der gewöhnlichen Weise addieren oder subtrahieren. Wenn ζ. B. ein Massenpunkt gleichzeitig zwei Bewegungen mit absolut gleicher, aber verschieden gerichteter Geschwindigkeit ausführen soll, so weiß man von vornherein gar nicht, was überhaupt unter der „Summe" dieser beiden Geschwindigkeiten verstanden werden soll. Nur in dem einfachen Falle, daß die beiden zusammenzusetzenden Bewegungen (Geschwindigkeiten oder Beschleunigungen) die gleiche oder gerade entgegengesetzte Richtung haben, kann man diese Vektoren nach den gewöhnlichen Rechenregeln addieren (im ersten Falle) und subtrahieren (im zweiten Falle). — Im folgenden werden die Vektoren im Text stets mit großen oder kleinen fettgedruckten „Kursiv"-Buchstaben bezeichnet; also ζ. B. die Geschwindigkeit mit i>, die Beschleunigung mit α, ein (in bestimmter Richtung durchlaufenes) Wegelement mit ds usw. Wenn Anfang und Ende einer gerichteten Strecke durch Buchstaben, ζ. B. durch Α und Β bezeichnet sind, so wird der Vektorcharakter durch einen darübergesetzten Pfeil angedeutet, also AB. Komponenten von Vektoren nach bestimmten Richtungen (ζ. B. nach der x- oder ^-Richtung) erhalten einen entsprechenden Index, ζ. B. vx (^-Komponente der Geschwindigkeit v) oder ay (^-Komponente der Beschleunigung α). Allgemein wird der absolute Betrag eines Vektors durch lateinische Buchstaben bezeichnet, ζ. Β. υ und α für die Beträge der Vektoren ν und a. — Oftmals werden Vektoren auch durch normale Buchstaben mit einem Pfeil darüber gekennzeichnet, also z.B. υ = v. Dies geschieht wegen der besseren Übersichtlichkeit in diesem Buch auch bei den meisten Abbildungen.

4 4

Abb. II, 7. Zusammensetzung zweier Bewegungen. Durch Vektoraddition der Eigengeschwindigkeit des Flugzeuges und der Geschwindigkeit des Seitenwindes ergeben sich Richtung und Größe der „Reise"-Geschwindigkeit

Die Addition und die Subtraktion von Vektoren wird stets bei der Zusammensetzung von Bewegungen angewendet. Betrachten wir ein Flugzeug am Himmel, das vom Seitenwind abgetrieben wird (Abb. II, 7). Die Geschwindigkeit des Flugzeuges allein wird durch den Vektor Vi dargestellt. Der Betrag der Geschwindigkeit ist durch die Länge des Pfeils angegeben. Der Seitenwind allein würde das Flugzeug mit der Geschwindigkeit vz forttragen. Die vektorielle

Zusammensetzung und Zerlegung von Bewegungen; Vektoraddition

35

Addition zeigt, wie groß der Betrag und wie die Richtung der „resultierenden" Geschwindigkeit ist. Man erkennt, daß die wirkliche „Reise"-Geschwindigkeit »3 des Flugzeuges durch den Seitenwind etwas größer ist als die Geschwindigkeit «1 des Flugzeuges allein. Man erkennt ferner, daß die gesteuerte Richtung des Flugzeuges nicht mit der endgültigen Richtung des Flugs übereinstimmt.

Abb. II, 8. Zur Vektoraddition von Geschwindigkeiten. Ein Boot kann einen Fluß in verschiedener Weise überqueren.

In einem zweiten Beispiel (Abb. II, 8) soll ein Boot einen Fluß überqueren. Das Boot wird flußabwärts getrieben. Die Vektoraddition zeigt sofort Betrag und Richtung der Geschwindigkeit des Bootes. Man kann aber auch dem Boot eine solche Richtung geben, daß es genau gegenüber vom Abfahrtsort ankommt. Nur durch diese Darstellung in Vektoren kann man schnell und überzeugend die Richtung der Geschwindigkeit erfahren, welche das Boot haben muß, um genau gegenüber anzukommen. Es ist gleich, in welcher Reihenfolge die Vektoren addiert werden. Die Abb. II, 9 zeigt ζ. B. die Addition zweier Vektoren in verschiedener Reihenfolge. Es ergibt sich ein Parallelogramm, wie es besonders auch bei der Überlagerung und Zerlegung von Kräften angewendet wird. In der Abb. II, 10 sind vier Vektoren addiert. Die untere Hälfte des Bildes zeigt die Vektoraddition in umgekehrter Reihenfolge. Es ergibt sich die gleiche Vektorsumme. Man kann also solche Vektoren parallel verschieben. Ebenso, wie sich mehrere Vektoren zu einer Resultierenden zusammensetzen, läßt sich umgekehrt ein gegebener Vektor in verschiedene Komponenten zerlegen. Meist wird hierbei die Richtung der Komponenten vorgeschrieben. In Abb. II, 11 ist dargestellt, wie ein vorgegebener

Abb. 11,9

Abb. Π, 10

Abb. II, 11

Abb. II, 9. Zur Addition zweier Vektoren. Vertauschen der Reihenfolge führt zum Parallelogramm und zum gleichen Ergebnis Abb. II, 10. Addition von vier Vektoren. Die umgekehrte Reihenfolge in der unteren Bildhälfte führt zum gleichen Ergebnis Abb. II, 11. Zerlegung eines Vektors in zwei zueinander rechtwinklige Komponenten

36

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Vektor t in der xy-Ebene in die beiden Komponenten vx (parallel zur x-Achse) und vy (parallel zur y-Achse) zerlegt wird. Ist = a · t). Ähnliche Versuche kann man mit Pfeil und Bogen oder ganz einfach auch mit einem Stück federnden Stahlbandes machen, das an einem Ende eingespannt ist und das am freien Ende — leicht angeklebt — eine Kugel trägt, die beim „Abschuß" fortfliegt. Die Anfangsgeschwindigkeit » kann ζ. B. aus der „Wurfweite" berechnet werden, die Beschleunigung α aus der Anfangsfluggeschwindigkeit υ und der Wegstrecke s, während welcher die Kugel oder der Pfeil beschleunigt wird (ν = a · t; s = (α/2) t2; daraus a = d 2 /2 s). Man findet aus solchen einfachen Versuchen immer wieder bestätigt, daß die Kraft F proportional der Beschleunigung α ist. Aber man findet auch schnell, daß der Proportionalitätsfaktor nicht gleich eins sein kann. Man sieht nämlich sofort, daß bei Anwendung der gleichen Kraft die Beschleunigung klein ist, wenn man ζ. B. eine große Bleikugel nimmt; und daß die Beschleunigung im Verhältnis dazu viel größer ist, wenn man eine kleine und leichte Holzkugel nimmt. Dies weiß man auch aus der Erfahrung: Beim sportlichen Kugelstoßen ist die Wurfweite einer kleinen, leichten Kugel erheblich größer als die einer großen, schweren Kugel. Oder ein anderes Beispiel: Ein Personenkraftwagen kann auf ebener Straße die größte Beschleunigung erhalten, wenn er nur mit dem Fahrer besetzt ist. Dagegen ist die Beschleunigung viel kleiner (ebenfalls bei Ausnutzung der größten Kraft des Motors), wenn der Wagen voll beladen ist. Führt man genauere Messungen dieser Art durch, ζ. B. mit einer Spiralfeder und mit Kugeln gleicher Größe und gleichen Materials, dann findet man schon bei wenigen Versuchen, daß bei Anwendung der gleichen Kraft, also ζ. B. bei stets gleicher Spannung der Spiralfeder, die Beschleunigung umgekehrt proportional der Anzahl der Kugeln ist, die gleichzeitig geworfen werden (lose oder aneinandergeheftet). Hat die Beschleunigung bei e i n e r geschleuderten Kugel e i n e n b e s t i m m t e n Wert, so hat sie bei zwei Kugeln den h a l b e n W e r t usw. Das heißt: F = m· a; F — 2m· α/2; F = 3 m · α / 3 ; . . . oder allgemein: F = m· a. Der Buchstabe m ist in diesem Versuch zunächst nichts weiter als die Kurzbezeichnung dafür, daß e i n e Kugel verwendet wird. Die Ergebnisse solcher Versuche sind unabhängig davon, ob eine Spiralfeder, ein Gummiband oder irgendeine andere Kraftquelle verwendet wird. Sie sind ferner unabhängig davon, aus welchem Material die Kugeln bestehen und welche Form die Körper statt der Kugelform besitzen. Auch kann man zwei Kugeln jeweils zu einem Körper zusammenheften oder zu einer neuen Kugel von doppelter Materiemenge zusammenschmelzen. Dies, wie auch die halbe Beschleunigung bei zwei Kugeln, zeigt, daß die Größe m die Eigenschaft der Additivität besitzt. Trotz ihrer Einfachheit haben diese Versuche eine grundlegende Erkenntnis offenbart: Materielle Körper können dadurch gekennzeichnet werden, daß sie bei Anwendung einer bestimmten Kraft verschieden stark beschleunigt werden. Diese Kennzeichnung materieller Körper wird als M a s s e bezeichnet. Jeder materielle Körper hat eine bestimmte Masse m. Man kann die Massen der materiellen Körper dadurch vergleichen, daß man entweder bei gleicher Kraft die Beschleunigungen mißt (F = m · a) oder daß man bei gleicher Beschleunigung die Kräfte mißt bzw. vergleicht. Das letztere ist im täglichen Leben allgemein üblich. Man vergleicht die Kräfte ( = Gewichte), mit denen die Körper zur Erde gezogen werden. Da die Beschleunigung^ ( = Fallbeschleunigung) für alle Körper den gleichen Wert v o n g = 9,81 m/s 2 besitzt, können die Massen durch Gewichtsvergleich ( = Kraftvergleich) bestimmt werden (siehe hierzu Nr. 17). Die Einheit der Masse ist willkürlich dadurch festgelegt, daß man ein Metallstück genommen, bei Paris aufbewahrt und erklärt hat: Dieses Stück Materie soll die Einheit der Masse besitzen. (Es sollte ursprünglich die gleiche Masse wie ein Kubikdezimeter Wasser besitzen, was zwar ungefähr, aber nicht ganz genau stimmt.) Die Einheit der Masse ist 1 Kilogramm.

56

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Damit ist die Aufgabe, ein Maß für die Kraft zu finden, gelöst. Schon von N e w t o n wurde die Proportionalität und somit ein Maß für die Kraft gefunden: (II, 24) Kraft = Masse * Beschleunigung (F = m · a) (Zweites Newtonsches Axiom). Die Dimension der Kraft ist: dim F = MLT - 2 . Die Einheit der Kraft ist: 1 Newton (N) = 1 Kilogramm (kg) · 1

Sekundi

Eine andere Einheit der Kraft ist: 1 dyn = 1 g · 1 cm/s 2 = 10~5 N. Der Leser weiß, daß alle Körper beim Fall die gleiche Fallbeschleunigung erfahren. Da Gewicht = Kraft ist, sind die zur Erde gerichteten Kräfte bei Körpern verschiedenen Gewichts verschieden. Verschiedene Kräfte rufen aber bei Körpern gleicher Masse verschiedene Beschleunigungen hervor. Da nun aber beim freien Fall stets die gleiche Beschleunigung g gemessen wird, muß man den Schluß ziehen, daß die Körper verschiedenen Gewichts auch verschiedene Masse besitzen. Die gleiche Fallbeschleunigung für alle Körper beweist, daß die Massen der fallenden Körper genau proportional ihren Gewichten· sind. Nur dadurch ergibt sich die gleiche Fallbeschleunigung g für alle freifallenden Körper und die Gleichung Gewicht = Masse * Fallbeschleunigung (G = m · g) (ausführlich darüber siehe Nr. 17). Eine einfache Anordnung zur Demonstration des Gesetzes F = m • α ist die sogenannte A t w o o d s c h e Fallmaschine (Abb. II, 32). Zwei Körper gleicher Masse Μ sind durch einen Faden verbunden, der über eine Rolle geführt ist. Die beiden Körper hängen am Faden und

Abb. II, 32. Prinzip der A two od sehen Fallmaschine

sind natürlich im Gleichgewicht und daher in Ruhe. Beschwert man einen der beiden Körper durch ein kleines Metallstück der Masse m, dann bringt dieses kleine Gewichtsstück (Gewicht = Kraft) die beiden großen Körper langsam in Bewegung, den einen mit dem Gewichtsstück nach unten, den anderen nach oben. Das kleine Gewichtsstück der Masse m fällt nur langsam nach unten; es zieht mit der Kraft G = m · g. Aber die Beschleunigung ist gering wegen der großen Masse 2 M. Würde man die drei Körper der Masse 2 Μ + m zusammengebunden frei fallen lassen, dann würden sie selbstverständlich nach den Gesetzen des freien Falls viel stärker beschleunigt werden. In diesem Fall würde die nach unten ziehende Kraft sehr viel größer sein, nämlich (2 Μ + m) • g und nicht wie vorher m · g. Die Gleichung Kraft = Masse · Beschleunigung wird wegen ihrer fundamentalen Bedeutung auch als „Grundgesetz der Mechanik" bezeichnet. Es gilt im Universum ebenso wie auf der Erde. Es gilt für die Radialbeschleunigung ebenso wie für die Bahnbeschleunigung. Wie das

Zusammensetzung und Zerlegung von Kräften; Messung von Kräften

57

Trägheitsgesetz, so gilt das zweite Newtonsche Gesetz F = m- α natürlich auch nur im Bezugssystem des Fixsternhimmels bzw. einem der davon abgeleiteten Inertialsysteme (vgl. den Schluß der Nr. 14). Denn in j e d e m dieser Systeme, aber auch n u r in einem dieser Systeme, ist die Beschleunigung α die gleiche wie die vom Fixsternhimmel aus beobachtete; die Kraft F aber ist völlig unabhängig von jedem Koordinatensystem. In allen „berechtigten" Bezugssystemen gilt also die Gleichung F = m· α völlig unverändert. Vom experimentellen Standpunkt bedeutet dies, daß man niemals durch Versuche entscheiden kann, ob man sich in einem „ruhenden" oder „gleichförmig bewegten" Bezugssystem befindet. Mit anderen Worten: Die „absolute" Bestimmung einer Geschwindigkeit ist unmöglich. Das ist der physikalische Inhalt des Galileischen Relativitätsprinzips. Man bemerkt, daß die Unveränderlichkeit („Invarianz") der Newtonschen Bewegungsgleichung in den berechtigten Systemen offenbar darauf beruht, daß in ihr nur die Kraft F und die Beschleunigung α auftreten. Würde aber in der Newtonschen Gleichung auch die Geschwindigkeit υ enthalten sein, so könnte offenbar das G a l i l e i s c h e Relativitätsprinzip nicht gelten. 16. Zusammensetzung und Zerlegung von Kräften; Messung von Kräften Die Kraft F ist ein Vektor derselben Richtung wie die Beschleunigung α, aber vom w-fachen Betrage. Die Kraft läßt sich zerlegen und zusammensetzen, wie die Beschleunigung, nach dem Parallelogrammsatz. Dieser nimmt hier die spezielle Gestalt des Satzes vom Parallelogramm der Kräfte an: Zwei Kräfte, die in verschiedener Richtung an demselben Massenpunkte angreifen, können durch eine resultierende Kraft ersetzt werden, die ihrem Betrage und ihrer Richtung nach durch die Diagonale des aus den Einzelkräften gebildeten Parallelogramms dargestellt wird (Vektoraddition). Sind mehr als zwei an einem Massenpunkt angreifende Kräfte zusammenzusetzen, so vereinigt man zunächst zwei zu einer Resultierenden, diese dann mit der dritten zu einer neuen usw. Doch zweckmäßiger wendet man wie bei allen Vektoren die einfachen Regeln der Vektoraddition an (Nr. 10). Das Parallelogramm der Kräfte hat am Anfang den Vorteil, sehr anschaulich zu sein. Die Gültigkeit des Satzes vom Kräfteparallelogramm kann man ζ. B. mit der in Abb. II, 33 gezeichneten Anordnung zeigen. Drei Fäden sind in einem Punkt Μ zusammengeknüpft und an ihren Enden mit den Gewichten Gi, Gi und G3 belastet. Die Fäden 1 und 2 sind über zwei Rollen Ri und R2 geführt. Es stellt sich dann eine Gleichgewichtslage ein, bei der die vom Gewicht G3 am Punkt Μ senkrecht nach unten angreifende Kraft gleich und entgegengesetzt ist der Resultierenden der von den Gewichten Gi und G2 schräg nach oben gerichteten Kräfte. Zeichnet man auf Pappe ein Parallelogramm, dessen Seiten und Diagonalen sich wie die

02 Cj

Abb. II. 34. Demonstration des Kräfteparallelogramms mit Federwaagen

58

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Größen der drei Gewichte verhalten, und hält man diese Zeichnung hinter die Schnüre der Anordnung von Abb. II, 33, so kann man sich leicht von der Übereinstimmung der Winkel überzeugen. Eine andere Anordnung zum Nachweis des Parallelogramms der Kräfte ist in Abb. II, 34 wiedergegeben. Drei Federwaagen ( = Kraftmesser, bestehend aus Spiralfedern, deren Längenausdehnung proportional der Kraft ist) sind an je einem Ende zusammen befestigt und zwischen drei beliebig gelegenen Punkten auf einem Brett ausgespannt. Zeichnet man dann ein Parallelogramm, dessen Seitenlängen sich wie die von den beiden oberen Kraftmessern angezeigten Kräfte verhalten, so ergibt sich, daß die Diagonale die Verlängerung der Kraftrichtung des dritten Kraftmessers bildet und in ihrer Länge der von diesem Kraftmesser angezeigten Kraft entspricht. Ebenso wichtig wie die Zusammensetzung mehrerer Kräfte ist die Zerlegung einer gegebenen Kraft in mehrere Komponenten von vorgegebener Richtung. Hier gilt dasselbe, was früher über die Zerlegung von Geschwindigkeitsvektoren gesagt wurde. Besonders häufig ist die Zerlegung eines Kraftvektors in zwei bzw. drei den Achsen eines Koordinatensystems parallel gerichtete Komponenten. Ist F der vorgegebene Kraftvektor und bedeuten >) · dt

Der Kraftstoß J F dt ist also auch in dem allgemeinen Falle gleich der Änderung des Impulses (vom Anfangswert mv 1 auf den Endwert mv2). Häufig ist zu Beginn des Stoßes der gestoßene Körper in Ruhe, d. h. »1 = 0, so daß man einfacher erhält: to + t

(II, 33b)

J Fdt = mv. 90° ist; sie nimmt den kleinstmöglichen Wert an, falls a = 180°,

Abb. II, 46. Kraftkomponente in Richtung der Bewegung; c o s a = — 1 wird; jetzt sind Kraftrichtung und Verschiebungsvektor einander gerade entgegengesetzt gerichtet. In diesem Falle sagt man auch, daß die Arbeit gegen die Kraft geleistet werde. Nehmen wir das eben genannte Beispiel, daß ein Körper unter dem Einfluß einer der Schwere entgegengesetzten Kraft vertikal aufwärts bewegt wird: Hier sind Schwerkraft und Verschiebung einander entgegengesetzt, bei einer Hebung um die Höhe h ist die Arbeit der Schwerkraft selbst nach dem obigen negativ, gleich — mgh·, andererseits wird von der Kraft Fi, die den Körper veranlaßt, sich entgegen der Schwere nach aufwärts zu bewegen, Arbeit gegen die Schwere geleistet. Ist diese Kraft Fi gerade ebenso groß wie die Schwerkraft, so leistet F i = mg die positive Arbeit mgh, während die Schwere die negative Arbeit — mgh leistet; in diesem Falle bewegt sich der Massenpunkt unbeschleunigt nach oben. Ist aber Fi größer als das Gewicht, so bewegt sich der Massenpunkt beschleunigt nach oben, und die Arbeit dieser Kraft Fi Α ist größer als mgh; der Überschuß über diesen Wert wird gegen die d ' A l e m b e r t s c h e Trägheitskraft geleistet. Betrachten wir als speziellen Fall die Hubarbeit, die man aufbringen muß, um auf einer schiefen Ebene eine Last vom Gewicht G um die Höhe h emporzuschaffen, ohne sie zu beschleunigen. Nach Abb. II, 35 ist bei einem Neigungswinkel i und »2, die einander entgegengesetzt gerichtet sind; die Impulse sind also mivi bzw. w?2»2 und weisen natürlich gleichfalls in entgegengesetzte Richtungen. D a zu Beginn des Versuches (alles in R u h e ! ) der Gesamtimpuls jedenfalls Null ist, so muß er es auch nach dem Versuch sein; d. h. es muß gelten:

(111,5)

m1v1 + m2 v2 = 0.

D a s bedeutet aber, daß die Absolutbeträge der Geschwindigkeiten »1 und «2 sich umgekehrt wie die Massen mi und mi verhalten, was der Versuch auch wirklich ergibt. Besonders einfach ist der Sonderfall, daß beide Massen gleich sind; dann ist = — »2, d. h. auch die Geschwindigkeiten sind dann entgegengesetzt gleich. D e r S a t z von der E r h a l t u n g des I m p u l s e s stellt im G r u n d e g e n o m m e n nur e i n e a n d e r e F o r m u l i e r u n g d e s d r i t t e n N e w t o n s c h e n G e s e t z e s d a r . Zum Beispiel läßt sich die Wirkung der R a k e t e , die in der vorigen N u m m e r als Beispiel für das dritte Gesetz erörtert wurde, natürlich auch mit Hilfe des Impulssatzes erklären: D i e Verbrennungsgase mit der M a s s e mi werden mit einer großen Geschwindigkeit »1 von der R a k e t e ausgestoßen, erhalten also einen Impuls min 1. D a zu Beginn die R a k e t e in R u h e war, hatte sie den Gesamtimpuls Null; damit dieser erhalten bleibt, muß die R a k e t e mit ihrer Masse mz nach dem B r e n n schluß eine Bewegung mit der Geschwindigkeit 1)2 ausführen, so daß mivi + /W2t>2 = 0 ist. Hieraus berechnet sich

Das ist natürlich nur eine grobe Näherung. In Wirklichkeit muß man berücksichtigen, daß sich die Raketenmasse m2 während des Fluges durch das Ausströmen der Verbrennungsgase ändert und daß diese Gase nach dem Verlassen [der Düsenöffnung immer noch einen JTeil [des Impulses der Rakete besitzen. In der Ballistik macht man bei der Bestimmung der Geschoßgeschwindigkeit mit dem sogenannten b a l l i s t i s c h e n P e n d e l von dem Satz der Erhaltung des Impulses Gebrauch. D a s ballistische Pendel ( A b b . I I I , 5) besteht aus einer an einer Stange aufgehängten großen M a s s e Μ (ζ. Β . K i s t e mit Sand). D a s G e s c h o ß , dessen Geschwindigkeitsbetrag ν bestimmt werden soll und das die M a s s e m haben möge, wird in den Pendelkörper hineingeschossen, so daß es darin stecken bleibt; a u f diese Weise erteilt das G e s c h o ß dem Pendel eine bestimmte Geschwindigkeit vi. Bestimmt man diese (etwa aus der Steighöhe h des Pendels) zu vi = ]/2 gh, so gilt nach dem Impulssatz für ein freies System die Gleichung: mv = (Μ + m) vi; hierin ist mv der Impulsbetrag v o r und ( M + m) vi sein Wert n a c h dem Eindringen des Geschosses in den Pendelkörper. F ü r die Geschoßgeschwindigkeit ergibt sich damit der Ausdruck

86

Mechanik eines Systems von Massenpunkten

υ = γ2 gh (Μ + m)lm, in dem alle Größen auf der rechten Seite der Messung zugänglich sind. Mißt man statt h, was bequemer ist, den maximalen Ausschlagswinkel λ des Pendels, und die Pendellänge /, so hat man statt h die Größe /(I — cos«) einzusetzen. In dem Impulssatz treffen wir zum zweiten Mal auf ein Gesetz, das aussagt, daß eine gewisse Größe einen konstanten Wert besitzt oder daß die zeitliche Änderung einer Größe Null ist.

μΪΛ

Abb. III, 5. Ballistisches Pendel

Das erste „ E r h a l t u n g s g e s e t z " fanden wir bereits in Nr. 21 für die Energie. In der Physik ist man stets bemüht, solche Erhaltungssätze zu finden; sie ermöglichen in besonders einfacher und durchsichtiger Weise die Formulierung vieler Erscheinungen. 24. Massenmittelpunkt (Schwerpunkt); erster Impulssatz; Schwerpunktsatz In dem vorangehenden Abschnitt wurde eine andere Formulierung des ersten Impulssatzes angekündigt, die die Analogie zur Bewegungsgleichung F = ma eines Massenpunktes noch deutlicher herausstellen sollte. Dazu braucht man einen neuen Begriff: Die einzelnen Massen m\ bis mn des betrachteten Systems liegen zerstreut an verschiedenen Stellen des Raumes; wir wollen versuchen, sie durch die Gesamtmasse m\ + mi + ... + mn an einer Stelle des Raumes so zu ersetzen, daß das oben gesteckte Ziel erreicht wird. Zunächst ein ganz einfacher Fall: Wir betrachten zwei gleiche Massen m in einem bestimmten Abstände voneinander. In diesem Falle liegt es nahe, sie zu ersetzen durch die Gesamtmasse 2 m, die wir auf der Verbindungslinie, und zwar so anbringen, daß sie diese h a l b i e r t . Handelt es sich aber um zwei verschiedene Massen m\ und W2, so erhebt sich natürlich die Frage aufs neue, wo nunmehr die Gesamtmasse m\ + mi

=

f p .

Nun ist Qql die Masse Μ des ganzen Stabes, und es folgt damit: (III, 20)

J =

I

MP.

Geht die Drehachse durch die Stabmitte, so haben wir die Gleichung dJ = oqx2 dx von — //2 bis + //2 zu integrieren; dies liefert: (III, 20 a)

J ' = h MP.

dx

Abb. III, 16. Zur Berechnung des Trägheitsmomentes einer Halbkugel

Abb. III, 15. Berechnung des Trägheitsmomentes einer Kugel (Die dx kennzeichnenden Pfeile sind parallel der Drehachse zu denken)

Abb. III, 17. Berechnung des Trägheitsmomentes eines Stabes

5a. T r ä g h e i t s m o m e n t e i n e s g e r a d e n K r e i s k e g e l s vom R a d i u s R und der H ö h e h, b e z o g e n a u f die S y m m e t r i e a c h s e a l s D r e h a c h s e . Bei einem rotationssymmetrischen Körper wählt man als Massenelement dm zweckmäßig zylindrische Scheiben von der Dicke dy und dem Radius x ; es ist dann

(III, 21) Dieser Ausdruck gilt allgemein für jeden rotationssymmetrischen Körper. Durch Einführung der jeweils für einen gewählten Sonderfall geltenden Beziehung χ = f(y) läßt sich das Integral lösen, ζ. B. für die Kugel mit χ = YR? — y2. Für den Kegel (Abb. III, 18) gilt mit x = y R/h

ο =

Es ist (III, 21a) 7

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

r Α5 =

(f

ι'ο ρπΛ2Λ

Muegei

=

l gnR2h

JKegel

=

Λ

·

R2.

und damit

MR2.

98

Mechanik eines Systems von Massenpunkten

5b. T r ä g h e i t s m o m e n t Drehachse.

e i n e s K e g e l s t u m p f e s , b e z o g e n a u f die S y m m e t r i e a c h s e ,

(III, 21 b)

3

R

5

- r >

10

R

3

- r * '

als

wenn r und R die Radien der oberen und unteren Begrenzungsfläche des Kegelstumpfes sind. Einige numerische Werte für Trägheitsmomente sollen für späteren Gebrauch noch angegeben werden: 1. Polares Trägheitsmoment einer kreisrunden Messingscheibe von 5 cm Radius und 1 cm Dicke: / = 8246 gern2. 2. Trägheitsmoment einer Messingkugel von 5 cm Radius, bezogen auf eine durch den Mittelpunkt gehende Achse: J = 43981 gern2. 3. Trägheitsmoment eines Kreisels aus Messing nach Abb. III, 19: J = 22413 gern2 = 22,41 kg cm 2 . 4. Trägheitsmoment eines Rades von einem Fahrrad mit Bereifung ist etwa: j = 2,4 • 10« gern2 = 0,24 kg m 2 . 5. Trägheitsmoment der Erde, bezogen auf ihre Achse: (keine homogene Massenverteilung und keine Kugel): Λ = 65 · 1 0 " gern2 = 65 · 10 30 kg km 2 . y

Τ

dy l ' / / i / / / / ,

y L

Λ

\\

/

λ

\

!

Μ

Abb. III, 18. Zur Berechnung des Trägheitsmomentes eines geraden Kreiskegels

Abb. III, 20. Ableitung des Steinerschen Satzes

Abb. III, 19. Kreiselquerschnitt

D i e hier berechneten Trägheitsmomente beziehen sich überwiegend auf Achsen, die durch den Schwerpunkt gehen. E s ist indessen häufig notwendig, das Trägheitsmoment eines Körpers auch in bezug auf eine nicht durch den Schwerpunkt gehende Achse zu kennen. Bezeichnet J s das Trägheitsmoment um eine durch den Schwerpunkt gehende Achse und JA das Trägheitsmoment desselben Körpers um eine zu dieser Schwerpunktsachse parallele Achse, so gilt der sogenannte S t e i n e r s c h e Satz in der F o r m : 2

(III, 22)

wenn Μ die Gesamtmasse und α den Abstand der beiden Achsen bedeuten. D e r in A b b . I I I , 20 skizzierte K ö r p e r drehe sich um eine senkrecht zur Papierebene stehende Achse A, die vom Schwerpunkt S des Körpers den Abstand α habe. Bezeichnen wir den Abstand eines in Ρ befindlichen Massenelementes dm von Α mit ra und von S mit rs, so ist J

A



\ r l

d m

und

J

s

=

J

r

2

d m

.

Fällen wir von Ρ auf die Verlängerung von AS das L o t PB = y und bezeichnen wir die Entfernung SB mit x, so ist: r

a — (

a

+

x

)

2

+

y

2

=

a

2

+

2 a x

+

x

2

+

— x

2

) =

a

+ 2 a x

.

Trägheitsmoment (Drehmasse); Satz von Steiner

99

Wir können also für Ja schreiben:

JA = jr2 dm + a2 j dm+ 2 a J χ dm . Nun ist aber:

j f j dm = Js,

a2 \dm = Ma2,

und für J χ dm ergibt sich auf Grund der Gl. (III, 7 b), die die Definition des Schwerpunktes enthält, der Wert Null, so daß wir das Resultat JA = Js + Ma2 erhalten; das ist aber der S t e i n e r s c h e Satz. Er wird sehr häufig angewendet. Um seine Bedeutung zu zeigen, sind im folgenden einige wichtige Beispiele angeführt: Mit Hilfe des St e i n e r sehen Satzes findet man für das Trägheitsmoment einer zylindrischen Scheibe vom Radius R und der Masse Μ in bezug auf eine auf der Scheibe senkrecht stehende und durch einen Punkt des Umfanges gehende Achse, unter Berücksichtigung von Gl. (III, 17), den Wert (Abb. 111,21): (in,

17b)

J

A

= J

S I P O 1

+ M R

2

= ] M R

2

+

M R

2

= ^ M R

2

,

und in bezug auf eine zur Scheibenfläche parallele Achse, die vom Scheibenschwerpunkt den Abstand α hat (Abb. III, 22), mit Rücksicht auf (III, 18a): (III, 18b)

JA = h,^

S*

+ Ma2 = \MR2

+ Ma2 = M\-,R2

+ a2

7 2R

μ«-* Abb. III, 21. Trägheitsmoment einer zylindrischen Scheibe

ί

Abb. III, 22. Zur Anwendung des Steinerschen Satzes

Abb. III, 23. Berechnung des Trägheitsmomentes eines Zylinders mit Hilfe des Steinerschen Satzes

Für das Trägheitsmoment eines geraden zylindrischen Stabes von der Länge / und der Masse M, bezogen auf eine zum Stab senkrechte, durch seinen Schwerpunkt (Stabmitte) gehende Achse, fanden wir in Gl. (III, 20a) den Wert J' = j^ MI2. Für das Trägheitsmoment bezogen auf eine zum Stab senkrechte, am Stabende befindliche Achse folgt mittels des S t e i n e r s c h e n Satzes:

Ja = Js + JM = ±M12, was mit dem Ergebnis der Gl. (III, 20) übereinstimmt. Mit Hilfe des S t e i n e r s c h e n Satzes läßt sich ζ. B. auch das äquatoriale Trägheitsmoment eines Zylinders, bezogen auf eine durch die Mitte der Zylinderachse gehende, auf dieser senkrechten Drehachse berechnen (Abb. III, 23). Man zerlegt den Zylinder durch Schnitte senkrecht zur Zylinderachse in dünne Kreisscheiben. Eine Kreisscheibe der Dicke dx in der Entfernung χ von der Drehachse hat die Masse

dm = gnR2 dx 7*

100

Mechanik eines Systems von Massenpunkten

und das Trägheitsmoment (nach Gl. III, 18b): dJ = i dmR2+

Kreisscheibe:

Zylinder:

J=

R

dmx2 = qnR2 dx(^-

ί

+ x2

3 2 2 * R \ n2h n 2 l / K x'dx = gn — -h + enR*— =gnR h — + 12 4 12/'

I dx + gnR

(III, 23) Für die gleiche Bezugsachse ist das Trägheitsmoment eines Hohlzylinders Μ J = -(3R2

(III, 23 a)

+ 3R2 + h2).

Das Trägheitsmoment eines geraden Kreiskegels vom Radius R und der Höhe h, dessen Drehachse senkrecht auf der Symmetrieachse steht und durch den Schwerpunkt geht, ist (111,24)

j

=

b

M

( ^

+

>L

(Abb. III, 24, Drehachse b). Mit dem St e i n e r sehen Satz findet man das Trägheitsmoment eines Kegels bezogen auf eine zur Basis parallele Achse durch die Kegelspitze, deren Abstand vom Schwerpunkt | h beträgt:

(III, 24 a) (Abb. III, 24, Drehachse a).

Abb. III, 24. Trägheitsmoment eines geraden Kreiskegels für verschiedene Drehachsen

27. Drehmoment (Drehkraft); Drehimpuls Bereits im vorigen Abschnitt wurde darauf aufmerksam gemacht, daß bei Drehbewegungen an die Stelle der Kraft eine andere Größe zu treten habe. An einem einfachen Beispiel sei dies erläutert, bevor zur allgemeinen Begriffsbildung übergegangen wird. Um diese Betrachtung durchführen zu können, bedürfen wir einer Untersuchung über die Eigenschaften von Kräften, die am starren Körper angreifen. In Abb. III, 25 sei an einem solchen starren Körper im Punkte Pi die Kraft Fi angebracht. In einem beliebigen Punkt Ρ2, der auf der Geraden liegt, die durch P± geht und die Richtung des Vektors Fi besitzt, läßt man die Vektoren Fi und — Fi wirken. Diese beiden Kräfte heben sich, da sie am gleichen Punkte P2 angreifen, natürlich auf; sie ändern daher die Bewegung des starren Körpers nicht im geringsten.

Drehmoment (Drehkraft); Drehimpuls

101

Nun fassen wir in Gedanken die Kraft F i im Punkte PI und die Kraft — Fi im Punkte P2 zusammen. Wäre der Körper nicht starr, so würden diese beiden Kräfte die Entfernung P1P2 vergrößern; dies ist aber, wegen der Starrheit, nicht möglich, der starre Körper erleidet durch diese beiden Kräfte also k e i n e r l e i Veränderung. Mithin heben diese beiden Kräfte sich gegenseitig auf, und es bleibt als einzige wirksame Kraft Fi am Punkte Pz übrig, d i e d e m n a c h d i e g l e i c h e W i r k u n g h a t , wie d i e g l e i c h e K r a f t Fi a m P u n k t e Ρχ. Daraus ergibt sich: Man kann eine Kraft in ihrer eigenen Richtung beliebig im starren Körper verschieben, ohne an seinem Bewegungszustand etwas zu ändern. Eine Kraft hat am starren Körper keinen Angriffspunkt, sondern eine Angriffslinie, und jeder ihrer Punkte kann mit gleichem Recht als Angriffspunkt betrachtet werden. Diese Eigenschaft der Kräfte am starren Körper nennt man „Linienflüchtigkeit"; auf dieser Eigenschaft beruht der folgende Versuch (Abb. III, 26):

Abb. III, 25. Linienflüchtigkeit einer Kraft

Abb. III, 26. Nachweis der Linienflüchtigkeit von Kräften

Eine runde Metallscheibe ist um eine zu ihr senkrechte, horizontal liegende Achse Α leicht drehbar und besitzt eine Anzahl Löcher 1, 2 , . . . , 1', 2 ' , . . . , die auf parallelen, vertikalen Reihen angebracht sind; diese Reihen haben paarweise gleichen Abstand von der Achse A. In diese Löcher können kleine, gleich große Metallgewichte eingesteckt werden. Steckt man ζ. B. ein solches Gewicht in die Öffnung 1, so sucht es die Scheibe links herum zu drehen. Einstecken eines gleich großen Gewichtes in 1' dreht entsprechend in entgegengesetzter Richtung, beide Gewichte gleichzeitig in 1 und 1' belassen die Scheibe in ihrer Ruhelage. D i e s e r Z u s t a n d ä n d e r t s i c h n i c h t , wenn man das eine Gewicht aus der Öffnung 1 in die Löcher 2, 3, 4, 5 umsteckt. Dabei verschiebt man also nur den A n g r i f f s p u n k t der vertikal nach unten wirkenden Kraft in d e r K r a f t r i c h t u n g . Man übersieht ohne weiteres, daß die Scheibe ebenfalls im Gleichgewicht bleibt, wenn man etwa gleiche Gewichte in die Öffnungen 7 und 7' oder 7 und 8' oder in 8 und Τ bzw. 6' einsteckt. Wenn am starren Körper zwei Kräfte Fi und F2 an verschiedenen Punkten Α und Β angreifen (Abb. III, 27), so erhebt sich die Frage, ob und wie diese beiden Kräfte zu einer Resultanten vereinigt werden können; ohne weiteres ist dies nicht ersichtlich, da sie nicht am gleichen Punkt angebracht sind. Hier kommt uns ihre Linienflüchtigkeit zustatten, indem wir sie, jede in ihrer eigenen Richtung, zurückverlegen, bis sie sich im Punkt C treffen. Damit diese Konstruktion möglich ist, wollen wir vorläufig voraussetzen, daß die Kräfte Fi und F2 in der gleichen Ebene (Papierebene) liegen und nicht parallel sind. Am Schnittpunkt C der Angriffslinie können wir nun die beiden Kräfte nach dem Parallelogrammsatz zu einer Resultanten FR vereinigen, was in Abb. III, 27 ausgeführt ist, und dann kann FR vom Punkt C wieder in seiner Richtung verschoben werden, etwa bis zum Punkt Ο seiner Angriffslinie; wir wählen Ο so, daß er gerade auf der Strecke AB liegt. Denken wir uns in O, senkrecht zur Papierebene, d. h. senkrecht zur Ebene von Fi und F2, eine feste Achse durch den Körper hindurchgesteckt, so wird die Resultante FR durch deren Festigkeit aufgehoben. Der starre Körper bleibt also jetzt unter dem Einfluß der beiden Kräfte (und der Reaktion der Achse) in Ruhe.

102

Mechanik eines Systems von Massenpunkten

c

Abb. III, 27. Zusammensetzung zweier an einem starren Körper angreifender Kräfte Fi und F2 zu einer Resultierenden FR

Ο möge die Strecke AB im Verhältnis n'.rz teilen; ferner fällen wir von Ο aus die Lote Ο Ε und OD auf die Angriffslinien der Kräfte Fi und F2, die wir ai und a(F ds) = 0.

Dies gilt definitionsgemäß nur für sogenannte konservative Kräfte. Es sind ζ. B. solche, bei denen keinerlei Reibungskräfte wirksam sind, so daß die Erhaltung (conservatio) der Energie gilt. In dem beschriebenen, kugelsymmetrischen Kraftfeld wird also die potentielle Energie nur durch den Radius bestimmt. Es gibt zwei Extremwerte: a) der kleinste Radius, in welchem die potentielle Energie einen kleinsten Wert hat, ist der Radius der großen Materiekugel, ζ. B. der Radius der Erde; b) der größte Radius „unendlich", wo die Kraftwirkung Null ist und die potentielle Energie ihren größten Wert hat. Die Differenz zwischen diesen Extremwerten ist die gesamte Energie, die aufgewendet werden muß, um einen Massenpunkt von der Oberfläche der großen Kugel, ζ. B. der Erde, aus dem Bereich der Anziehungskraft herauszubringen. Für eine kleine Wegstrecke dr ist die Arbeit dA = — GMm/r2 · dr. Das negative Vorzeichen bedeutet, daß man Arbeit aufwenden muß, wenn man r vergrößern will (dr > 0). Man zählt also Arbeit, die ein System aufnimmt, negativ; Arbeit, die es abgibt, positiv. Die gesamte erforderliche Arbeit ist: (IV, 9) Daraus ergibt sich, weil 1 / r ^ = 0 ist:

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

134 (IV, 10)

A =

GMm

Auf der Erdoberfläche ist nun: (IV, 11)

GMm

g = 9,8 ms - 2 = Fallbeschleunigung r0 = 6378 km = Erdradius.

A=-mgr0.

Also

Um einen Körper also von der Erdoberfläche aus dem Schwerefeld der Erde hinauszutransportieren, ist eine Arbeit aufzuwenden, die gleich dem Gewicht des Körpers an der Erdoberfläche multipliziert mit dem Erdradius ist. Die Ausdrucksweise „aus dem Schwerefeld hinaustransportieren" ist dabei nicht ganz exakt, da ja das Schwerefeld der Erde, wie man aus dem N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz sehen kann, bis in beliebige Entfernungen reicht (\/r 2 > 0 für beliebige r). Wenn man sagt, ein Körper habe das Schwerefeld der Erde verlassen, meint man damit, daß er weder auf die Erde zurückfällt noch eine geschlossene Bahn um die Erde beschreibt. Es soll nun berechnet werden, mit welcher Mindestgeschwindigkeit man eine Rakete senkrecht nach oben abschießen muß, damit sie nicht auf die Erde zurückfällt. Dazu muß ihre kinetische Energie (m/2) t>2 gleich sein der Arbeit, die oben ausgerechnet wurde. Also mgro = (ml2) v2. Daraus berechnet sich, unabhängig von der Masse der Rakete, eine Geschwindigkeit von 11,2 km/s. Diese Geschwindigkeit nennt man auch Fluchtgeschwindigkeit (dabei ist wie üblich die Reibung, also der Einfluß der Atmosphäre, vernachlässigt). Seit dem Start des ersten Satelliten im Jahre 1957 ist es möglich, Raketen abzuschießen, die nicht wieder auf die Erde zurückfallen (oder erst nach langer Zeit, nachdem sie durch die restliche Luftreibung genügend abgebremst sind). Die Raketen werden gewöhnlich vertikal gestartet und biegen in größerer Höhe in die Horizontale ein. So wird ihre Bahn durch den dichten Teil der Atmosphäre möglichst kurz. Dieses Bahnstück ist in Abb. IV, 20a punktiert eingezeichnet. Biegt die Rakete nach Osten in die Horizontale ein, dann addiert sich zu ihrer Bahngeschwindigkeit noch die Geschwindigkeit des Startpunktes infolge der Erdrotation (1667 km/h am Äquator). Je nach der Endgeschwindigkeit der Rakete ergeben sich verschiedene Bahnen. Ist die Endgeschwindigkeit kleiner als 7,9 km/s, so fällt die Rakete zur Erde zurück. Für Geschwindigkeiten zwischen 7,9 und 11,2 km/s ergeben sich Ellipsenbahnen, für ν > 11,2 km/s

a Abb. IV, 20 a. Raketenbahnen bei verschiedenen Endgeschwindigkeiten Abb. IV, 20 b. Die Flugbahn des Raumschiffes Mariner 4 von der Erde zum Mars. Α bedeutet den Aufenthaltsort der Erde zum Zeitpunkt des Startes am 28. 11. 1964. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Mars am Ort C. D ist der Ort, wo das Raumschiff den Mars am 14. 7. 1965 erreichte. An diesem Tag befand sich die Erde am Ort Β

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

135

Ellipsenbahnen um die Sonne. Zum Verlassen unseres Sonnensystems muß ν > 7 5 km/s sein, bezogen auf die Sonne. Man beachte, daß die Fluchtgeschwindigkeit von der Abschußrichtung unabhängig ist. Die gesamte Arbeit, die aufzuwenden ist, um einen Massenpunkt aus dem kugelsymmetrischen Gravitationsfeld eines Körpers zu entfernen, ist also proportional 1 /r. Damit erhalten die kugelförmigen Äquipotentialflächen ihre einfachen Kennzeichen: es genügt die Angabe des Abstandes vom Mittelpunkt der Kugel, wenn man die potentielle Energie einer kleinen Kugel der Masse m im Gravitationsfeld einer großen Kugel der Masse Μ wissen will. Geht man mit der Probekugel von einer Niveaufläche zur anderen (Abstand dr), so bedeutet dies eine Arbeit bzw. Änderung der potentiellen Energie V: dA = ( F d r ) = -dV=

-(grad

V)dr.

Darin bedeutet JT/

-

d V



ox

d V

dy

.

d V

oz

(i,j, k sind die Einheitsvektoren in Richtung der x-, y- und z-Achse). Die Differentialoperation grad ordnet also einer ortsabhängigen skalaren Größe (einem Skalarfeld) eine ortsabhängige Vektorgröße (ein Vektorfeld) zu. Und zwar stimmt die Richtung des Vektors grad V überein mit der Richtung der stärksten Änderung von V. Der Betrag von grad V ist gleich der differentiellen Änderung von V in dieser Richtung. Das Kraftfeld kann so durch das Skalarfeld der potentiellen Energie beschrieben werden. Dabei stört noch, daß diese potentielle Energie abhängig ist von der kleinen Masse m. Es soll jetzt versucht werden, einen Ausdruck zu finden, der die Potentialflächen kennzeichnet, aber von der Probemasse unabhängig ist. Dazu braucht man nur die potentielle Energie durch m zu dividieren. Den dann erhaltenen Ausdruck U = V/m = — GM/r nennt man Potential des Kraftfeldes. In vielen Lehrbüchern wird die potentielle Energie als Potential bezeichnet. Diese Festsetzung kann aber leicht zu Verwechslungen führen, weil sie von der physikalischen Definition des Potentials bei elektrischen und magnetischen Feldern abweicht, (nicht von der mathematischen). Der Nullpunkt des Potentials wird üblicherweise in die Entfernung r = oo gelegt. Man kann ihn aber auch anders festsetzen, da das Potential U' = U + const (wegen grad const = 0) dasselbe Kraftfeld beschreibt wie U. Auf der Erde sind horizontale Niveauflächen sehr gut bekannt als Wasseroberflächen. Man bezieht meist auf ein festgelegtes „Normal-Niveau" der Meeresoberfläche. Auf Landkarten sind oft Punkte gleicher Höhe verbunden ( H ö h e n l i n i e n ) . Es sind gleichzeitig Äquipotentiallinien ; denn die potentielle Energie im Schwerefeld der Erde ist mgh.

Abb. IV, 21 a. Kraftfeld einer Kugel bzw. Hohlkugel Nunmehr soll das Potential einer Hohlkugel berechnet werden, deren Oberfläche eine homogene Massenverteilung hat. Im Außenraum ergibt sich ein Potential Ua= — GM/r (Μ = Gesamtmasse der Hohlkugel), d. h. die Hohlkugel wirkt auf einen äußeren Massenpunkt so, als ob ihre Gesamtmasse im Zentrum konzentriert wäre. Das Potential im Inneren der Hohlkugel ist Ui= — GM/R = const (R = Radius der Hohlkugel). Daraus ergibt sich, daß eine Hohlkugel auf einen Probekörper in ihrem Innern keine Kraft ausübt. Dies läßt sich auch mit einer relativ einfachen Überlegung beweisen. Man betrachte die Abb. IV, 21 a. Durch den inneren Punkt Ρ

136

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

ist eine gedachte konzentrische Kugelfläche gezeichnet (in der Abbildung gestrichelt). Beachtet man nun, daß Kraftlinien nur an Massen enden, so erkennt man, daß durch die gedachte Fläche genauso viele Kraftlinien hineingehen wie herauskommen müssen, da sich in ihrem Innern keine Massen befinden. Aus der Kugelsymmetrie folgt weiter, daß die K r ä f t e in jedem Punkt der gedachten Fläche gleich sein müssen. Beide Forderungen sind nur erfüllbar, wenn gar keine Kraftlinien die Fläche durchstoßen, also die K r a f t auf ihr und damit auch im Punkte Ρ Null ist. D a Ρ innerhalb der Hohlkugel willkürlich gewählt wurde, ist der Satz bewiesen: Eine homogen mit Masse belegte Hohlkugel übt auf Massen in ihrem Inneren keine Kräfte aus. Mit dieser Überlegung, bei der n u r die Quellenfreiheit des Gravitationsfeldes im leeren R a u m und eine Symmetriebetrachtung benutzt wurden, kann das Problem wesentlich einfacher durchschaut werden als durch eine mathematische Ableitung. Symmetriebetrachtungen geben sehr oft eine tiefe Einsicht in Naturgesetze; sie spielen in der modernen Physik eine große Rolle.

Nach dieser anschaulichen Betrachtung des Potentials im Innern einer Hohlkugel soll wegen der besonderen Wichtigkeit nunmehr eine exakte Ableitung des Potentials einer Kugel folgen. Man betrachtet zunächst keine Vollkugel, sondern eine Hohlkugel vom Radius R und der kleinen Dicke h (Abb. IV, 21 b); das Potential Ua dieser Hohlkugel ist in einem äußeren Punkt Ρ im Abstand a vom Kugelmittelpunkt Ο zu berechnen. Man schlägt zu diesem Zweck um Ρ zwei Kugeln mit den Radien r und r + dr, die aus der Hohlkugel eine Kugelzone von der Breite db = Rd& ausschneiden; # selbst ist der Winkel zwischen dem nach db gezogenen Kugelradius R und der Richtung OP. Nach dem Cosinussatz ist die Größe von r: (a)

r = j/a 2 + R*~— TaR

cos &,

und durch Differentiation folgt daraus für dr, da α und R Konstanten sind: (b)

dr =

aR sin & d& Ya* + R 2 - 2 a Ä c o s 0

=

aR

.

„ ,„

—r sin & d&.

Alle Massenelemente der Kugelzone haben von Ρ nach Konstruktion die gleiche Entfernung r; der Flächeninhalt der Zone ist offenbar 2 nR sin & · R d&; wenn man sie nämlich auf die Ebene abwickelt, kann man sie auffassen als ein Rechteck der Höhe db = Rd& und der Länge 2 nR sin &. Denn der Umfang der Zone ist ein Kreis mit dem Radius R sin Da die Hohlkugel die Dicke h hat, ergibt sich das Volumen der Zone zu 2 R 2nh sin & d&. Durch Multiplikation mit der Dichte ρ endlich folgt für die in ihr enthaltene Masse dm: (c) dm = 2 R2πΑρ sind d&. In die Gleichung U = — G J dmjr ist dieser Wert von dm einzusetzen; daher folgt für Ua der Ausdruck: (d)

Ua = - G 2 R ^ j

S

~

ο Das Integral ist für alle Werte des Winkels # zwischen 0 und π zu bilden; denn dann bestreicht die Zone die ganze Kugeloberfläche. Mittels Gl. (b) können wir den Ausdruck für Ua vereinfachen, indem wir d& durch dr ausdrücken. Das liefert dann:

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

137

a+ R

(e)

α

f .ι* . a—R

Die Grenzen des Integrals ergeben sich durch folgende Überlegung: Ist ΰ = 0, so wird r = a — R; ist & = π, so nimmt r den Wert a + R an. Daher liefert die Ausführung des Integrals: U a =

_ G 2 R n h

+

Q [ a

R

_

a

+

R ]

_AGR^hQ

=

a

a

4 R2nh ist aber das ganze Volumen der Hohlkugel, 4 R2nho also die ganze Masse Μ derselben; folglich liefert die letzte Gleichung für das Potential Ua der Hohlkugel: (f) Ua = — GM/a, d. h., d i e H o h l k u g e l w i r k t auf einen ä u ß e r e n P u n k t s o , als o b i h r e G e s a m t m a s s e im Z e n t r u m k o n z e n t r i e r t w ä r e . Da man eine Vollkugel in eine Anzahl ineinander gesteckter Hohlkugeln zerlegen kann, so gilt dasselbe für eine Vollkugel, und damit ist der behauptete Satz bewiesen. Der Gradient des Potentials Ua ist dUajda und hat den Wert + GM/a2, und dieser Betrag ist gleich der Feldstärke, die demnach ebenfalls so berechnet werden kann, als ob die ganze Masse der Hohlkugel in ihrem Mittelpunkte vereinigt wäre. In genau der gleichen Weise kann man nun auch zeigen, daß das Potential Ut einer homogenen Hohlkugel vom Radius R in einem inneren Punkte konstant ist: Ut = — GM/R

= const.

Daraus ergibt sich nach: dUjds = grad U, da in diesem Fall grad Ui = dUi/da = 0 ist, weil Ui von a gar nicht abhängt, daß e i n e h o m o g e n m i t M a s s e b e l e g t e H o h l k u g e l auf e i n e n i n n e r e n M a s s e n p u n k t ü b e r h a u p t k e i n e G r a v i t a t i o n s k r a f t ausübt. Die einzelnen Massenelemente tun dies freilich, aber die Resultante aller Kräfte verschwindet. Betrachten wir jetzt eine Vollkugel mit dem Radius R und fragen nach dem Potential in einem inneren Punkt Ρ im Abstand α vom Kugelzentrum (Abb. IV, 21a), so können wir die Kugel in zwei Teile zerlegen: in eine Vollkugel mit dem Radius α durch den Punkt Ρ und eine Hohlkugel von der Dicke R — a. Die letztere übt nach dem soeben bewiesenen Satz auf den Massenpunkt in Ρ keinerlei Wirkung aus, sondern nur die kleinere Vollkugel, für die Ρ ein äußerer Punkt ist. Da man deren Potential Ua' auf Ρ so berechnet, als ob die Gesamtmasse M' = (4/3) α3πρ in Ο konzentriert wäre, so erhält man für Ua' unter Berücksichtigung des konstanten Zusatzpotentials der Hohlkugel von der Dicke R — a: Ua'

=

-

ψ

Gq ( 3 ä

2

-

α2);

d. h. das Potential und auch die Kräfte werden immer kleiner, je näher Ρ dem Kugelmittelpunkt Ο kommt. Denn der Gradient von Ua' ist gleich dUa' —— da

=

4 - Gnga 3

=

F m

.

Die Feldstärke im Punkt Ρ ist also direkt proportional dem Abstand α vom Kugelmittelpunkt, nicht mehr proportional 1/a2! — Die Erde ist keine homogene Vollkugel; daher nimmt beim Eindringen ins Erdinnere die Schwerkraft zunächst zu statt ab, wie es bei einer homogenen Vollkugel der Fall sein müßte. Nunmehr kann man zur Berechnung d e s E r d p o t e n t i a l s

an d e r E r d o b e r f l ä c h e

so

vorgehen, als o b ihre Gesamtmasse Μ = 5,99 · 1027 g im Mittelpunkt der Erde vereinigt wäre. D a der Erdradius R = 6,37 · 10® cm ist, erhält man für das Erdpotential: - UEräe = ^

8 1 0 5

8

9 9

'

1 0 2 7

= 62,8 · 1 0 1 0 erg/g = 62,8 · 10 3 J/g = 17,4 k W h / g ,

da, wie vorher festgestellt, U eine Arbeit p r o Masse ist. Es muß also eine Arbeit v o n 62,8 · 103 Joule aufgewendet werden, um ein G r a m m v o n der Oberfläche der Erde bis ins Unendliche zu transportieren, wobei ein entsprechender Betrag potentieller Energie in der Masse aufgespeichert wird. Umgekehrt verliert beim Übergang aus dem Unendlichen bis zur Erdoberfläche ein G r a m m die potentielle Energie 62,8 · 103 J und gewinnt den gleichen Betrag an kinetischer Energie \ m v 2 .

A u s j m v 2 = 62,8 · 103 J folgt für die Endgeschwindigkeit

ν der

Betrag

11,2 km/s. Umgekehrt müßte ein K ö r p e r mit dieser Geschwindigkeit v o n der Erdoberfläche abgeschossen werden, damit er aus ihrem Anziehungsbereich ins Unendliche gelangt. A m Schluß dieses Abschnitts noch einige Gedanken zur Ausbreitung des Gravitationsfeldes: Die Art der Kraftübertragung bei der Gravitation ist noch unbekannt. Bei einer solchen Betrachtung muß man an die Kraft zwischen zwei elektrischen Ladungen und an die Kraft zwischen zwei Magnetpolen denken.

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

138

In allen drei Fällen sinkt die Kraft mit dem Quadrat des Abstandes. Und in allen drei Fällen findet man, daß die Kraft immer „sofort" vorhanden ist. Man kann nicht feststellen, daß die Kraftwirkung allmählich aufgebaut wird. Es liegt nahe zu denken, als ob die Kraft den Zwischenraum überspringe. Aus diesen Gründen hat man früher von einer F e r n w i r k u n g und von F e r n k r ä f t e n gesprochen. Bereits N e w t o n hatte die logische Schwierigkeit solcher Fernkräfte gefühlt und nur gesagt, die Form des Gravitationsgesetzes lasse sich so interpretieren, „als o b " zwischen Massen eine Fernkraft wirke. Er war aber ein zu vorsichtiger Forscher, als daß er die tatsächliche Existenz von Fernkräften behauptet hätte; er lehnte dies vielmehr mit den berühmt gewordenen Worten ab: Hypotheses non fingo. Seine Nachfolger waren weniger vorsichtig; und als man später ganz ähnlich gebaute Gesetze auch für die Kräfte zwischen elektrischen Ladungen, zwischen Magnetpolen und zwischen elektrischen Strömen und Magnetpolen fand, wurde der Glaube an die Existenz von Fernkräften für lange Zeit in der Physik herrschend. Der erste, der wieder daran zweifelte, war M i c h a e l F a r a d a y . Er verfocht gerade umgekehrt die These, daß eine Kraft nur am gleichen Ort wirken könne, an dem sie auch entsteht. Wenn scheinbar räumliche Abstände zwischen Entstehungsort und Wirkungsort vorhanden seien, so müsse der Zwischenraum in irgendeiner Weise daran beteiligt sein. Wenn man eine Kraft auf einen Gegenstand ausüben will, so muß man ihn entweder direkt, ζ. B. mit der Muskelkraft der Hand, angreifen, oder man muß zwischen ihm und der Hand ein Seil (ζ. B. aus Gummi) spannen. Dann vermittelt das Seil die von der Hand ausgehende Kraft, indem dieses „gespannt" wird, d. h. in einen von dem Normalen abweichenden Zustand gerät. So wird die Kraft der Hand Punkt für Punkt „weitergeleitet" und befähigt, an dem Gegenstand anzugreifen. Wäre das Seil unsichtbar, so würde man den Eindruck einer Fernkraft haben. In dieser Weise stellt sich F a r a d a y vor, daß bei allen scheinbaren Fernkräften das Zwischenmedium die Fortleitung der Kräfte übernimmt. Er hat für die elektrischen und magnetischen Erscheinungen diese Anschauung zum Siege geführt. Seit dieser Zeit ist man der Überzeugung, daß Fernkräfte überhaupt nicht existieren, sondern daß man es immer mit N a h k r ä f t e n zu tun hat. Die Übertragung der Kraftwirkung erfolgt mit Lichtgeschwindigkeit. Auch bei der Gravitation nimmt man nach E i n s t e i n und D i r a c an, daß die Übertragung der Kraft durch gequantelte Gravitationswellen erfolgt, die sich ebenfalls mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen (sog. Gravitonen). Der Name „Nahkräfte" ist unglücklich gewählt, da es sich nicht um die Frage größerer oder kleinerer Entfernung handelt, sondern darum, daß bei Nahkräften überhaupt keine endliche Distanz vorhanden ist; Molekularkräfte ζ. B., auch wenn sie nur in Entfernungen von 10~6 mm wirken, wären in diesem Sinne echte Fernkräfte. Daher ist die Bezeichnung „Feldkräfte" besser, und hierin ist überhaupt historisch der Ursprung des Feldbegriffes zu suchen: D a s F e l d b e w i r k t die V e r m i t t l u n g d e r Kräfte. Obgleich man heute überzeugt ist, daß keine Fernkräfte existieren, vereinfacht man oft die Darstellung so, als ob es Fernkräfte gäbe. Wir sagen ja auch, daß die Sonne aufgeht, obwohl wir wissen, daß die Erde sich dreht. N o c h etwas unsicher k o n n t e n die Gravitationswellen jetzt nachgewiesen werden. Sie sind außerordentlich schwach im Vergleich zu anderen K r ä f t e n . Betrachten wir zum Beispiel ein Proton u n d ein Elektron und bilden das Verhältnis der Anziehungskräfte FEIFM (FE soll dabei die Anziehung sein, die die beiden elektrischen Ladungen aufeinander ausüben, FM die Massenanziehungskraft der beiden Teilchen), so ergibt sich unabhängig von der E n t f e r n u n g der beiden T e i l c h e n FFJFM

^



1039!

Der Nachweis v o n Gravitationswellen gelang J o s e f W e b e r vor wenigen Jahren in Maryland (USA). Er war seit 1958 mit den Vorbereitungen zu diesem k ü h n e n Experiment beschäftigt. Seit 1970 zeigen die Registrierungen, d a ß ein Gravitationswellensignal zweimal an einem Sterntag aus dem Z e n t r u m unserer Milchstraße k o m m t . Vielleicht ist ein Stern unter der Wirkung seiner Gravitation zusammengefallen (Gravitationskollaps) und hat dabei Gravitationswellen ausgesandt. Die Versuchsanordnung besteht aus Resonanzkörpern (Aluminium-Zylinder, 1,53 m lang, 66 cm Durchmesser, 1400 kp Gewicht), die infolge der auf treffenden Gravitationswellen zu Deformationsschwingungen angeregt werden. Piezoelektrische Plättchen liegen zwischen der erschütterungsfrei aufgehängten Halterung und dem Zylinder und zeigen die Deformationen elektrisch an. W e b e r vermutete eine Frequenz von etwa 1660 Hz und stimmte deshalb die Resonatoren durch ihre Größe auf diese Frequenz ab. Bei Ausbreitung mit Lichtgeschwindigkeit haben die Gravitationswellen somit eine Wellenlänge von 180 km. Weber stellte eine zweite Detektor-Anlage im Argonne-National-Laboratory bei Chicago auf, das ist rund 1000 km von der ersten entfernt. Die Signale wurden von beiden Detektoren gleichzeitig empfangen. Mit Zylindern anderer Größe wurden auch Wellen von 1580 Hz registriert (Lit). Es ist bemerkenswert, daß das Universum im Großen von den schwächsten Kräften beherrscht wird, die wir kennen. Die elektrischen Ladungen kommen im Gegensatz zur Masse bipolar vor und können sich dadurch in ihrer Wirkung kompensieren. Die über sehr kurze Entfernung noch stärkeren Kernkräfte haben nur eine geringe Reichweite (etwa 10~15 m).

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

139

Der englische Physiker P. Α. M . D i r a c hat im Jahre 1937 die Hypothese aufgestellt, daß sich der Wert der Gravitationskonstante G im Laufe der Zeit verringert. Dies hätte ζ. B. zur Folge, d a ß die Erde sich langsam ausdehnt. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der früher einmal üblichen, daß sich die Erde wie ein schrumpfender Apfel zusammenzieht und daß die Gravitationskonstante sich nicht verändert. Eine Veränderung der Gravitationskonstante würde fundamentale Folgerungen in den Auffassungen über die Geschichte des Universums nach sich ziehen. Denn die Schwerkraft hat die Sonnen gebildet und zusammengehalten ebenso wie unser Planetensystem und unsere Erde. Die R a u m f a h r t führt zu einer wichtigen Anwendung der N e w t o n s c h e n Bewegungsgleichung in ihrer Impulsform. Will man ζ. B. ermitteln, das Wievielfache ihres Eigengewichtes eine Rakete an Brennstoff braucht, um eine bestimmte Endgeschwindigkeit bei gegebener Geschwindigkeit des ausströmenden Treibstoffs zu erreichen, so m u ß man berücksichtigen, daß die Gesamtmasse nicht konstant ist, sondern durch den Verbrauch von Treibstoff sich mit der Zeit wesentlich ändert. Für die Bewegungsgleichung der Rakete muß man deshalb folgenden Ansatz machen: dp

rf(mi')

dv

dm

F = — = —-— = m — -f ~r r. dt dt dt dt Die Masse der Rakete (mr) setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der Anteil ms ( = Masse des Satelliten) entspricht der Nutzlast und ist auch nach vollständigem Treibstoffverbrauch noch vorhanden. Der Anteil m0 ist die Masse des Treibstoffes beim Start, die sich in der Flugzeit t um den Betrag /it verkleinert, wobei μ die Masse der pro Zeit ausströmenden Treibstoffmenge bedeutet. Zu irgendeiner Zeit t ist also die Gesamtmasse der Rakete:

m (t) = mr — /it = ms + m0 — /it.

Zur Zeit tlt der „Brennschlußzeit" der Rakete, sei der gesamte Treibstoff verbraucht; es ist dann/if, = m0. Die Geschwindigkeit der Rakete sei ν; die konstante Relativgeschwindigkeit des ausströmenden Treibstoffs, bezogen auf die Rakete, sei u. Die Absolutgeschwindigkeit des ausströmenden Treibstoffs ist dann ν' = ν + h, oder wenn man zu den Beträgen übergeht, ν' = ν — u. Zur Zeit t beträgt der Impuls der Rakete also m (t) • v; in dem nun folgenden Zeitabschnitt dt — in dem die Treibstoffmasse fidt — — dm ausströmt — setzt sich die Änderung des Gesamtimpulses aus der Änderung des Raketenimpulses d (mv) = m dv + dm ν und dem Impuls der ausgestoßenen Masse μ dt r — ( — dm) v' zusanunsn:

dp = d (mv) — dm v'. Es ergibt sich also f ü r die Bewegungsgleichung der Rakete m dvjdt F - u dm/dt. Setzt man nun voraus, daß die Rakete vertikal aufsteigt, so kann man in dieser Gleichung sofort zu den Beträgen übergehen und erhält:

m dvjdt = F — u dmjdt.

D i e Integration dieser Gleichung ist im allgemeinen (bei bekanntem Kraftfeld F) kompliziert. Deshalb soll zunächst zur Vereinfachung angenommen werden, daß keine äußeren Kräfte vorhanden seien oder daß sie sich gegenseitig kompensieren. Dies ist ζ. B. bei einer Rakete der Fall, die sich auf einer geschlossenen Bahn um die Erde bewegt. D a n n erhält man für die Bewegungsgleichung

dv = — u dm/m und nach Integration m(l) m (l,

ν (t) = — u

Γ dm "in

J

,

m,·

Ith i mο ms -I- mn — /it'

— = u In m (t) m

Wir betrachten nun die Rakete nach Ablauf der Brennzeit r, = m 0 //i, wenn sie die Endgeschwindigkeit v e erreicht hat. D a n n ist Lc = | n m 1 ± « L o = l n / 1 +,„,

ms oder nach ^

ms

aufgelöst: ^

ms

= ev°'u

\

ms,

-1.

D a s Verhältnis von Endgeschwindigkeit und Ausströmungsgeschwindigkeit hängt also nur vom Massenverhältnis mjms ab. Setzt man einige Zahlenwerte von v e /u in die obige Gleichung ein, so erhält man für mjms folgende Werte:

veju m0lm»

1 1,7

2 6,4

3

4

19,0

53,6

D a s bedeutet, d a ß ζ. B. zum Erreichen einer Endgeschwindigkeit, die gleich der vierfachen Ausströmungsgeschwindigkeit des Treibgases ist, etwa das 54fache des Leergewichtes der Rakete an Brennstoff

140

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

benötigt wird! Damit die Rakete keinen unnötigen Ballast mitschleppen muß, baut man sie gewöhnlich in mehreren Stufen. Dann kann jede Stufe nach Ablauf ihrer Brennschlußzeit abgeworfen werden, so daß nur die letzte Stufe die Endgeschwindigkeit erreicht. Berücksichtigt man in der Bewegungsgleichung der Rakete die Schwerkraft F = — mg, so erhält man für nicht zu große Steighöhen (d. h. g = const.) do dt

uu m (i)

u. ms + ma — μί

und daraus für die Geschwindigkeit , , = u ,In v(l)

l·1^ \ - gt t) ms + m0 J

ms + '«ο - gt = - u ,In L1 ms + mο — μί \

und für die Steighöhe der Rakete /»(0 = " ( m s μ+

mo)

((l l\

ln(l\ ms + m/) 0 /

/) + m^s + m„ /

2 m^s + m' 01 -) f ' 2-

32. System der Kräfte am starren Körper; Kräftepaar In Nr. 16 wurde die Aufgabe behandelt, Kräfte, die an e i n e m Massenpunkt angreifen, zu einer Resultierenden zusammenzusetzen. Die analoge Aufgabe tritt auch beim starren Körper auf, wenn an diesem mehrere Kräfte angreifen. Sie ist aber dadurch kompliziert, daß im allgemeinen die Kräfte an verschiedenen Punkten des ausgedehnten Körpers angreifen. Wir müssen versuchen, die Mannigfaltigkeit der Kräfte möglichst zu vereinfachen. Erst wenn dies gelungen ist, kann untersucht werden, wann ein starrer Körper unter der Wirkung mehrerer Kräfte im Gleichgewicht bleibt, bzw. welche Bewegungen er ausführt. Bei dieser Aufgabe hilft die in Nr. 27 erörterte L i n i e n f l ü c h t i g k e i t der Kräfte. Danach können wir im starren Körper den Angriffspunkt einer Kraft in ihrer eigenen Richtung beliebig verschieben, ohne die Wirkung der Kraft dadurch zu verändern. Eine Kraft am starren Körper hat, wie damals auseinandergesetzt, keinen Angriffspunkt, sondern eine Angriffslinie (Wirkungslinie).

Abb. IV, 22. Zusammensetzung zweier Kräfte, die an verschiedenen Punkten eines starren Körpers angreifen

Abb. IV, 23. Gleichgewicht dreier Kräfte an einem starren Körper

Wir betrachten den in Abb. IV, 22 dargestellten Fall, daß zwei K r ä f t e , Fi und Fi, die zunächst in e i n e r E b e n e liegen mögen ( „ k o m p l a n a r e " K r ä f t e ) , an zwei Punkten Α und Β des starren Körpers so angreifen, daß ihre Richtungen mit der Verbindungslinie ihrer Angriffspunkte verschiedene Winkel einschließen. Um die Resultante dieser beiden Kräfte zu finden, verlegen wir die Angriffspunkte der beiden Kräfte in den Schnittpunkt ihrer Wirkungslinien. Jetzt haben wir zwei Kräfte am g l e i c h e n Punkt, können also das Kräfteparallelogramm konstruieren, das uns die Resultante Fr nach Größe und Richtung liefert. Die Kraft Fr können wir nun wieder in ihrer Richtung beliebig, ζ. B. bis zum Punkt D, verschieben. Damit der starre

System der Kräfte am starren Körper; Kräftepaar

141

Körper unter der Einwirkung der beiden gegebenen Kräfte F i und F2 im Gleichgewicht bleibt, muß also eine dritte Kraft angreifen, die Fr gleich, aber entgegengesetzt gerichtet ist und die gleiche Angriffslinie mit Fr besitzt. Man kann dies auch so ausdrücken: Drei an einem starren Körper in einer Ebene angreifende Kräfte halten sich das Gleichgewicht, wenn ihre Angriffslinien durch einen Punkt gehen und jede der drei Kräfte der Resultierenden aus den beiden anderen gleich, aber entgegengesetzt gerichtet ist. Dies zeigen wir mit der Versuchsanordnung (Abb. IV, 23), bei der die durch die Gewichte Gi, G2 und Ga dargestellten Kräfte nicht an einem gemeinsamen Punkt, sondern an drei Stellen einer den starren Körper darstellenden leichten Scheibe angreifen. Im Gleichgewicht gehen die Angriffsrichtungen der drei Kräfte durch e i n e n Punkt. Die in Abb. IV, 22 benutzte Konstruktion scheint zu versagen, wenn die b e i d e n in e i n e r E b e n e l i e g e n d e n K r ä f t e Fi und F2 e i n a n d e r p a r a l l e l s i n d (Abb. IV, 24): Dann

c

Abb. IV, 24. Zusammensetzung zweier gleichgerichteter paralleler Kräfte

liegt nämlich der Schnittpunkt ihrer Angriffslinien im Unendlichen. In diesem Fall helfen wir uns dadurch, daß wir zwei gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Hilfskräfte + F, deren Richtung mit der Verbindungslinie der Angriffspunkte der gegebenen Kräfte zusammenfällt, in den Punkten Α und Β zu den gegebenen Kräften hinzufügen. Dadurch wird am Gleichgewicht des Körpers nichts verändert, denn die beiden hinzugefügten Kräfte + F heben sich am starren Körper wegen ihrer Linienflüchtigkeit auf. Wir setzen jetzt Fi mit — F zu einer Resultierenden F i und ebenso F2 mit + F zu einer Resultierenden Fz zusammen. Die Richtungen von Fi' und F2' sind nun nicht mehr parallel, sondern schneiden sich im Punkt C. Indem wir dort das Kräfteparallelogramm mit Fi und F2' konstruieren, erhalten wir die Resultierende F r , die wir nun so in ihrer Richtung verschieben können, daß ihr Angriffspunkt ζ. B. nach D fällt. F r ist gleich der Summe von Fi und F2; dies erkennt man, wenn man in dem gemeinsamen Angriffspunkt C die Kräfte Fi und F2' wieder in ihre Komponenten zerlegt. Dann heben sich die beiden Hilfskräfte + F und — F heraus, und es bleiben nur die Kräfte Fi und F2 übrig. Der Schnittpunkt D der Wirkungslinie von F r mit der Verbindungslinie der Angriffspunkte Α und Β der gegebenen Kräfte wird Mittelpunkt der parallelen Kräfte genannt. D möge die Strecke AB im Verhältnis ri'rz teilen. Bezeichnen wir den Winkel zwischen Fi und Fi mit

/ // 7

/ / / / / \7—' A / // / A χ \

\

\

Μ -

\

S

a

ο S'

r i Λ

Abb. IV, 42. Stabilisierung des Gleichgewichts durch Anordnung a, aber nicht durch Anordnung b zwei hinreichend große Hilfskörper an dem Bleistift an, so daß sie sich seitlich unterhalb der Spitze befinden, so bleibt der Stift auf seiner Spitze stehen. Jetzt befindet sich die Anordnung im stabilen Gleichgewicht, weil nunmehr der gemeinsame Schwerpunkt S so tief gelagert ist, daß er sich bei jeder Verrückung h e b e n muß. Dieser Versuch gelingt aber nur, wenn die Hilfskörper starr mit dem Bleistift verbunden sind. Ändert man den Versuch so ab, daß entsprechend Abb. IV, 42 b die beiden Kugeln aufgehängt sind, so befindet sich der Bleistift wieder im labilen Gleichgewicht. Denn obwohl der gemeinsame Schwerpunkt S des Systems, absolut genommen, jetzt ebenso tief liegt, senkt er sich noch tiefer, wenn man den Stift aus der vertikalen Lage ein wenig herausbringt. Sehr schön kann man die Richtigkeit der Gleichgewichtskriterien an den Ruhelagen erkennen, die eine Kugel annimmt, wenn sie entweder auf einer waagerechten Ebene oder in einer konkaven Kugelschale oder auf der konvexen Fläche einer Kugelschale ruht. Im ersten Fall (Abb. IV, 43 a) befindet sich die Kugel im indifferenten Gleichgewicht; denn bei einer Lagenänderung der Kugel bleibt ihr Schwerpunkt in derselben Höhe. Im zweiten Fall (Abb. IV, 43b) haben wir stabiles Gleichgewicht; denn bei jeder Lagenänderung wird der Schwerpunkt gehoben, und die Kugel rollt daher von selbst wieder in die tiefste Lage zurück. Im letzten Fall (Abb. IV, 43 c) nimmt der Schwerpunkt der Kugel die höchstmögliche Lage ein, kann also nur sinken: Die Kugel befindet sich im labilen Gleichgewicht. In den eben betrachteten drei Lagen der Kugel befindet sich in jedem Fall der Schwerpunkt o b e r h a l b des U n t e r s t ü t z u n g s p u n k t e s . Häufig findet man die Behauptung, das Gleichgewicht

Verschiedene Arten des Gleichgewichtes; Standfestigkeit

153

sei s t a b i l , wenn der Schwerpunkt u n t e r dem Unterstützungspunkt, l a b i l , wenn der Schwerpunkt ü b e r dem Unterstützungspunkt liege, i n d i f f e r e n t , wenn beide Punkte zusammenfielen. Wäre diese Behauptung richtig, so müßte die Kugel in allen drei Fällen im labilen Gleichgewicht sein, was offenbar unrichtig ist. D a h e r genügt dieses Beispiel, um zu zeigen, d a ß die oben wiedergegebene Behauptung nicht allgemein zutreffen kann. In gewissen speziellen Fällen, ζ. B. dem der Abb. IV, 41, ist sie zulässig; aber auch in diesem Fall gilt die allgemeine Definition des Gleichgewichtes.

Abb. IV, 43. Indifferentes (a), stabiles (b) und labiles (c) Gleichgewicht einer Kugel

Abb. IV, 44. Standfestigkeit eines schiefen Zylinders

Wir haben bisher nur die Gleichgewichtslagen bei solchen Körpern betrachtet, die entweder um eine Achse drehbar (Abb. IV, 41) oder nur in einem Punkt unterstützt waren (Abb. IV, 42 und IV, 43). Im allgemeinen wird jedoch ein Körper mit einer mehr oder weniger großen Fläche auf einer Unterlage ruhen. Damit er sich im Gleichgewichtszustand befindet, muß das von seinem Schwerpunkt gefällte Lot durch das Innere der Standfläche gehen, denn nur so wird die Wirkung der am Schwerpunkt angreifenden Schwerkraft durch die Auflagefläche aufgehoben. Abb. IV, 44a zeigt dies für einen schiefen Zylinder. Besitzt dagegen der schiefe Zylinder die in Abb. IV, 44b dargestellte Gestalt, so fällt er um; da die Angriffslinie der Schwerkraft jetzt nicht durch die Unterstützungsfläche des Körpers hindurchgeht, ruft die Schwerkraft am Körper ein Drehmoment hervor, das ihn um den Punkt α im Uhrzeigersinn dreht und zum Umkippen bringt. Liegt ein Körper nicht mit seiner ganzen Fläche auf der Unterlage auf, sondern berührt er diese nur an einzelnen Punkten (Stuhlbeine), so gilt als Unterstützungsfläche diejenige Fläche, die man erhält, wenn man die am weitesten außen liegenden Unterstützungspunkte durch gerade Linien miteinander verbindet. Man überlegt sich leicht, daß der Körper die Unterlage in mindestens drei Punkten berühren muß, die nicht in einer Geraden liegen, wenn überhaupt ein stabiles Gleichgewicht möglich sein soll. Als M a ß f ü r d i e S t a b i l i t ä t d e r G l e i c h g e w i c h t s l a g e gibt man die Größe der Standfestigkeit an. Um ein Maß für diese zu finden, machen wir folgenden Versuch. Wir stellen eine kleine Kiste nacheinander auf eine ihrer Flächen und versuchen sie durch eine an ihrem Schwerpunkt S, der in der Mitte der Kiste liegt, angreifende waagerechte Kraft F um eine Kante α ihrer Standflächen zu kippen (Abb. IV, 45). Wir stellen bei diesem Versuch fest, daß die Kraft F um so größer sein muß, je kleiner die Höhe h des Schwerpunktes über der Grundfläche ist. Verändern wir auch noch das Gewicht G der Kiste, indem wir sie mit Sand oder Bleischrot füllen, so finden wir weiter, daß F a u c h mit dem Gewicht G des umzukippenden Körpers wächst. Befestigen wir ein Brett unter dem Boden der Kiste, das größer oder auch kleiner als dieser ist, so daß die Standfläche der Kiste vergrößert oder verkleinert wird, so wird damit auch die Kraft F größer bzw. kleiner. Wir können zusammenfassend sagen: Die Standfestigkeit eines Körpers ist um so größer, je größer die Unterstützungsfläche des Körpers, je schwerer der Körper ist und je tiefer sein Schwerpunkt liegt. Damit also ein Körper sicher steht, muß man seine Bodenfläche möglichst groß machen und seinen Schwerpunkt (zum Beispiel durch Ausgießen des Bodens mit Blei) so tief wie möglich legen. Dieses Ergebnis wollen wir noch in Form einer Gleichung darstellen. Die Kraft F übt auf den Körper in bezug auf die Drehachse α ein Drehmoment Fh aus. Diesem wirkt das Drehmoment Gb entgegen, das die Schwere des Körpers bei einer Kippung um die gleiche Achse a ausübt. Nur wenn Fh 2: Gb ist, kann der Körper umkippen. Wir nehmen daher F = Gb/h als

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

154

M a ß der S t a n d f e s t i g k e i t . Neben diesem „dynamischen" Maß der Standfestigkeit gibt man gelegentlich als „geometrisches" Maß den Winkel α an, um den der betreffende Körper gekippt werden muß, damit er aus der stabilen in die labile Gleichgewichtslage kommt, die dann erreicht wird, wenn sein Schwerpunkt gerade über der Kippungskante liegt (Abb. IV, 46).

s -by

Λ

^

'///b/··:'/ a

Β Abb. IV, 45. Dynamisches Maß der Standfestigkeit

Abb. IV, 46. Geometrisches Maß der Standfestigkeit

Bei einer stehenden Person bilden nicht nur die beiden Fußsohlen, sondern auch die dazwischenliegende Fläche die Standfläche. Durch diese muß die Wirkungslinie der am Schwerpunkt des Körpers angreifenden Schwerkraft hindurchgehen, damit die betreffende Person nicht umkippt. Man steht daher mit auseinandergespreizten Füßen sicherer, als wenn man die Füße dicht zusammensetzt. Es gelingt ζ. B. nicht, sich mit der linken oder rechten Körperseite dicht an eine vertikale Wand zu stellen, wenn beide Füße neben- oder hintereinander parallel zur Wand und dicht an dieser stehen. Da der Schwerpunkt des Körpers in diesem Fall außerhalb der sehr schmalen Unterstützungsfläche liegt, kippt man unweigerlich um. Eine Person, die auf dem Rücken eine schwere Last trägt, muß sich nach vorn beugen, damit der gemeinsame Schwerpunkt von Last und Körper über die von den Füßen begrenzte Unterstützungsfläche zu liegen kommt. Damit ein Auto besonders in Kurven und bei Seitenwind sicher „liegt", macht man die Spurweite breit und legt den Schwerpunkt tief. Hat ein Körper keine homogene Massenverteilung, so kann er unter dem Einfluß der Schwere Bewegungen ausführen, die zunächst unnatürlich und unmöglich erscheinen. Hierher gehören die bekannten „Stehaufmännchen", die in ihrem unteren Teil mit Blei ausgefüllt sind, sowie der berganlaufende Zylinder. Bei dem letzteren befindet sich nahe dem Umfang ein Bleigewicht,

die Stellung 1 nicht beibehalten, sondern rollt die schiefe Ebene so lange hinauf, bis sein Schwerpunkt S in der Stellung 2 die tiefste Lage erreicht hat. 35. Prinzip der virtuellen Verrückungen; die „einfachen Maschinen" Die Größe der Arbeit ist durch das Produkt aus der wirkenden Kraft und der Wegstrecke, längs der sie wirkt, gegeben. Die sogenannten einfachen Maschinen der Mechanik beruhen auf der Möglichkeit, die beiden F a k t o r e n des (die A r b e i t d a r s t e l l e n d e n ) P r o d u k t e s zu ä n d e r n , o h n e d a ß das P r o d u k t selbst eine Ä n d e r u n g e r f ä h r t .

Prinzip der virtuellen Verrückungen; die „einfachen Maschinen"

155

Die Bedeutung des Ausdrucks Maschine hat sich gewandelt: Eine Maschine bewegt sich, sie „läuft". Deshalb werden im folgenden die „einfachen Maschinen der Mechanik" : Rolle, Hebel, Wellrad, schiefe Ebene, Keil, Schraube entweder als „einfache Maschinen", somit als historischer Begriff, oder als Geräte bezeichnet. D a es sich beim Gleichgewicht — die „einfachen Maschinen" werden im Gleichgewichtszustand betrachtet — nicht um kinetische, sondern nur um potentielle Energie handelt, könnte diese nur geändert werden, wenn Arbeit von den „einfachen Maschinen" gewonnen oder verloren würde. Letzteres ist bei den wirklichen Ausführungsformen tatsächlich der Fall, weil wir Reibung niemals ausschließen können; nur im Idealfall geht nichts verloren. Auf keinen Fall wird Arbeit gewonnen, sonst widerspräche man dem Energieprinzip. F ü r die „ e i n f a c h e n M a s c h i n e n " m u ß a l s o die A u s s a g e g e l t e n , d a ß die g e s a m t e A r b e i t d e r an i h r a n g r e i f e n d e n K r ä f t e g l e i c h N u l l ist. Um diese Aussage mathematisch zu formulieren, denken wir uns, daß das im Gleichgewicht befindliche Gerät eine kleine Bewegung ausführt; dadurch verschieben sich die Angriffspunkte der Kräfte F um gewisse kleine Strecken, die wir ös nennen wollen; wir benutzen das Zeichen „• Ist ζ. B. R = 10 cm und r = 9 cm, so wird F = 25 ß> d · h· e s läßt sich mit einer gegebenen Kraft eine zwanzigmal so große Last im Gleichgewicht halten. Um diese Last um 1 cm zu heben, muß der Angriffspunkt Ε der Kraft einen Weg von 20 cm zurücklegen. 3. Der Hebel. Eine weiter sehr wichtige „einfache Maschine" ist der Hebel. Im einfachsten Fall ist der Hebel eine gerade starre Stange, die um einen ihrer Punkte drehbar ist und an der zwei oder mehrere parallele Kräfte angreifen. Wirken diese Kräfte auf verschiedenen Seiten

158

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

des Drehpunktes, so spricht man von einem zweiarmigen Hebel. Beim einarmigen Hebel wirken die Kräfte auf der gleichen Seite des Drehpunktes. Nun befindet sich ein um eine feste Achse drehbarer Körper im Gleichgewicht, wenn die Summe der Drehmomente der an ihm angreifenden Kräfte in bezug auf den Drehpunkt Null ist. Greifen an einem Hebel (Abb. IV, 53) nur zwei Kräfte F und Q an und bezeichnen wir letztere, wie üblich, als die „Last" und dementsprechend die senkrechten Abstände ihrer Wirkungslinien vom Drehpunkt als K r a f t - bzw. L a s t a r m , so gilt das Hebelgesetz: Am Hebel herrscht Gleichgewicht, wenn das Drehmoment der Kraft gleich dem Drehmoment der Last ist.

1 1

Γ £3 F

f I 11

f I I I I I 1

t

0

Abb. IV, 53. Gleichgewicht am zweiarmigen Hebel: F = 2, / = 4, β = 4, q = 2

f

.....

I I I I I

^

Q

Abb. IV, 54. Gleichgewicht am einarmigen Hebel: F = 1, / = 6, β = 3, q = 2

Bezeichnen wir die Länge des Kraftarmes mit / und die Länge des Lastarmes mit q, so gilt die Gleichung Ff = Qq (Abb. IV, 54). Da die kleinere Kraft am längeren Arm, die größere am kürzeren angreift, so gilt auch hier wieder, daß die Arbeit der Kraft gleich der Arbeit der Last ist, d. h. d a ß d i e k l e i n e r e K r a f t l ä n g s des g r ö ß e r e n W e g e s w i r k e n m u ß . Zweiarmige Hebel finden bei allen Waagen als Waagebalken Anwendung. Abb. IV, 55 zeigt die r ö m i s c h e S c h n e l l w a a g e . Die beiden Arme des Waagebalkens sind verschieden lang, die zu wägende Last wird am kurzen Waagebalken aufgehängt. Am langen Arm des Waagebalkens ist ein Gewicht Ρ verschiebbar, das so eingestellt wird, daß die Waage im Gleichgewicht ist. Die Größe des gesuchten Gewichtes läßt sich dann an einer Teilung am langen Waagebalken ablesen.

Bei der meistgebrauchten Waage (Abb. IV, 56) ist der Waagebalken ein gleicharmiger Hebel, dessen in der Mitte liegender Drehpunkt aus einer Stahlschneide besteht, die auf einer ebenen Unterlage aus Stahl oder Achat ruht. Die beiden gleichschweren Waagschalen hängen an den beiden Enden des Waagebalkens ebenfalls auf Stahlschneiden, um die bei der Drehung auftretende Reibung so klein wie möglich zu halten. D i e d r e i S c h n e i d e n s o l l e n in e i n e r E b e n e l i e g e n ; dadurch wird erreicht, daß der Schwerpunkt der Waagschalen mit ihren Belastungen stets im Drehpunkt der Waage liegt und keinen Einfluß auf die Empfindlichkeit der Waage hat. Damit die Waage sowohl im unbelasteten Zustand als auch bei gleichbelasteten Waagschalen im stabilen Gleichgewicht ist, also eine feste Ruhelage einnimmt, muß der Schwer-

Prinzip der virtuellen Verrückungen; die „einfachen Maschinen"

159

punkt des Waagebalkens selbst etwas unterhalb seines Drehpunktes liegen. An einem am Waagebalken angebrachten, über einer Skala spielenden Zeiger erkennt man die Ruhelage der Waage. D a s Gewicht des Zeigers sorgt dafür, daß der Schwerpunkt des Waagebalkens unterhalb seines Auflagepunktes liegt. Moderne empfindliche Waagen sind anders angeordnet. Die eine Waagschale liegt vorn, die andere ist (im Gehäuse verdeckt) durch Haken ersetzt. Mechanisch werden Gewichtsstücke angehängt. D a s jeweilige Gewicht wird in Zahlen auf eine Mattscheibe nach vorn projiziert (Abb. I, 22). Solche Waagen werden hauptsächlich bei der chemischen Präparation und Analyse benutzt und heißen daher „Analysenwaagen". Ihre Meßgenauigkeit beträgt etwa 0,1 Milligramm. „Mikrowaagen" haben sogar Meßgenauigkeiten bis zu 1 Mikrogramm. Legt man auf eine Waagschale ein kleines Übergewicht p, so wird der Waagebalken aus seiner Ruhelage AB (Abb. IV, 57) in eine neue Lage A'B' verdreht, die dadurch bestimmt ist, daß dem vom Übergewicht ρ hervorgerufenen Drehmoment durch ein entgegengesetzt gerichtetes Drehmoment das

Α[ t>'r"

Abb. IV, 57. Empfindlichkeit der Waage

Gleichgewicht gehalten wird. Dieses zweite Drehmoment kommt dadurch zustande, daß der Schwerpunk; S des Waagebalkens in die Lage S' gehoben wird, wo er nicht mehr vertikal unter dem Drehpunkt C der Waage liegt. Infolgedessen versucht das im Schwerpunkt angreifende Gewicht des Waagebalkens die Waage in die alte Lage zurückzudrehen. Bezeichnen wir die Länge des Waagebalkens mit 2 /, die Entfernung des Schwerpunktes S vom Drehpunkt C mit s, das Gewicht des Waagebalkens mit G und den Winkel, um den sich der Waagebalken und damit der Zeiger bei der Belastung durch das Übergewicht ρ verdreht, mit α, so gilt die Gleichgewichtsbedingung: ρ • CE = G • CD oder pl cos α = Gs sin a. Hieraus folgt: tan α = pl/Gs, oder da für kleine Winkel tan « ? Μ α ist: Die Größe (IV, 17)

α = ρ l/Gs. φ

= IjGs,

d. h. der Ausschlag, der sich bei der Mehrbelastung von 1 mg einstellt, ist definiert als die Empfindlichkeit der Waage. Die Empfindlichkeit der Waage ist also nach Gl. IV, 17 der Länge des Waagebalkens direkt, dem Gewicht des Waagebalkens und dem Abstand des Schwerpunktes vom Drehpunkt umgekehrt proportional. Die Lage des Schwerpunktes S des Waagebalkens läßt sich bei guten Waagen durch Heraufschrauben eines Gewichtes am Waagebalken höher legen (Abb. IV, 56); dadurch wird die Empfindlichkeit also größer. Gleichzeitig wächst damit aber auch die Schwingungsdauer der Waage, die einen bestimmten Wert nicht übersteigen soll. Wie aus Gl. (IV, 17) hervorgeht, ändert sich die Empfindlichkeit der Waage nicht mit ihrer Belastung, die in dieser Gleichung gar nicht vorkommt. Bei sehr großen Belastungen kann sich jedoch der Waagebalken durchbiegen, d. h. daß der Abstand s des Schwerpunktes des Waagebalkens vom Drehpunkt zunimmt. Die Empfindlichkeit der Waage muß dann abnehmen. Um dies zu vermeiden, gibt man dem Waagebalken solche Formen, die gegenüber Durchbiegungen möglichst steif sind. Viele im täglichen Leben benutzte Werkzeuge sind Hebel oder Kombinationen mehrerer Hebel. Wie ζ. B. Abb. IV, 58 zeigt, kann der H e b e b a u m oder eine B r e c h s t a n g e je nach Lage des Drehpunktes D sowohl ein zweiarmiger als auch ein einarmiger Hebel sein. Das Ruder ist

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

160

ein einarmiger Hebel; der Drehpunkt liegt im Ruderblatt im Wasser, die Last greift an der Dolle, die Kraft am anderen Ende des Ruders an; die Zange ist eine Kombination von zweiarmigen Hebeln (Abb. IV, 59), das gleiche gilt von der Schere. Der Nußknacker (Abb. IV, 60) besteht aus zwei einarmigen Hebeln. Auch die Knochen der beweglichen Gliedmaßen eines

Abb. IV, 58. Hebebaum als zweiarmiger (a) und einarmiger (b) Hebel

Abb. IV, 59. Zange als zweiarmiger Hebel

Abb. IV, 60. Nußknacker als einarmiger Hebel

Körpers stellen Hebel dar, die um die Gelenke drehbar sind. Der Unterarm wirkt ζ. B., wie es Abb. IV, 61 schematisch andeutet, beim Heben einer Last als einarmiger Hebel, der sich im Armgelenk dreht und durch eine Verkürzung des am Schulterblatt befestigten Beugemuskels (Bizeps) bewegt wird; dabei ist der Kraftarm kleiner als der Lastarm, der vom ganzen Unterarm gebildet wird.

Abb. IV, 62. Wirkung des Keils

Abb. IV, 61. Unterarm als einarmiger Hebel

4. Schiefe Ebene und Keil. Die schiefe Ebene, die ζ. B. in Form der Rampe zum Hochbringen schwerer Lasten dient, wurde, wie auch Hebel und Keil, schon von den Ägyptern zum Bau der Pyramiden benutzt. Der Keil ist ein aus hartem Material (heute meistens Stahl) gefertigtes Prisma mit spitzem Winkel. Er dient dazu, wie es Abb. IV, 62a andeutet, vermittels einer Kraft F, die auf die der Schneide S gegenüberliegende Fläche, den Keilrücken, einwirkt, senkrecht zu den Seitenflächen größere Druckkräfte hervorzubringen, um damit ein Stück Holz zu spalten. Der Keil läßt sich als Kombination zweier mit ihrer Grundfläche aufeinandergesetzter schiefer Ebenen auffassen. Um die Gleichgewichtsbedingung für die am Keil wirkenden Kräfte zu finden, setzt man die auf die Seitenflächen des Keils wirkenden beiden gleich großen Kräfte ß i = 02 = Q zu einer Resultierenden R zusammen (Abb. IV, 62 b), die im Schnittpunkt α der Wirkungslinien von Q\ und 02 angreift. Damit der Keil im Gleichgewicht ist, muß die auf seinen Rücken wirkende Kraft F entgegengesetzt gleich R sein. Aus der Ähnlichkeit der beiden Dreiecke abc und ABC — letzteres stellt den Keilquerschnitt dar — folgt dann: R : und da R = F:

Q=ÄB:AC

„ AB F= Q - = . AC

Prinzip der virtuellen Verrückungen; die „einfachen Maschinen"

161

Versteht man also unter AB die Breite des Keilrückens, unter AC bzw. BC die Seitenlänge des Keils, dann gilt: Am Keil herrscht Gleichgewicht, wenn die senkrecht auf seinen Rücken wirkende Kraft sich zu der senkrecht zu seinen Seitenflächen wirkenden Last verhält wie die Breite des Rückens zur Seitenlänge des Keils. Auch hier überzeugt man sich leicht von der Gültigkeit des Prinzips der virtuellen Arbeit. Alle spaltenden und schneidenden Werkzeuge, wie Messer, Beil, Hobel, Meißel, Schere, usw. beruhen auf dieser Keilwirkung wie auch die Stichwerkzeuge Nadel, Ahle, Dorn usw. Je schmäler oder spitzer der Keil ist, desto größere Kraftwirkungen lassen sich mit ihm ausüben. Es gelingt ζ. B. ohne Schwierigkeit, mit einer gewöhnlichen Nähnadel eine Kupfermünze zu durchbohren, wenn man die Nähnadel in einem Stück Kork hält und sie mit einem kräftigen Hammerschlag in die Kupfermünze treibt. Als einen besonderen Fall der schiefen Ebene kann man die Schraube betrachten. Wickelt man um einen Zylinder (Abb. IV, 63) eine schiefe Ebene herum, so bildet diese auf dem Zylindermantel eine Schraubenlinie. Wählt man die Basis AB der schiefen Ebene gleich dem Zylinderumfang, so ist die Höhe AC die Ganghöhe der Schraubenlinie. Erhöht man den Zylinder längs dieser Schraubenlinie, so erhält man eine Schraubenspindel (Abb. IV, 64). Ein auf diese

Β Abb. IV, 63. Entstehung der Schraubenlinie

Abb. IV, 64. Schraubenspindel mit aufgeschnittener Schraubenmutter

Abb. IV, 65. Wirkung der Schraube

Schraubenspindel passender, mit einer Nut versehener Hohlzylinder heißt Schraubenmutter, die aufgeschnitten ebenfalls in Abb. IV, 64 zu erkennen ist. Dreht sich die Schraubenspindel in der feststehenden Mutter, so bewegt sie sich in Richtung der Zylinderachse bei einer ganzen Umdrehung um eine Ganghöhe weiter und kann in dieser Richtung eine Kraft Q ausüben. Die Kraft, die die Schraubenspindel dreht, greift tangential an der Peripherie der Spindel an. Wir denken uns für einen Augenblick die Schraubenlinie für eine Umdrehung in eine Ebene abgerollt (Abb. IV, 65) und können dann die in Richtung der Schraubenachse wirkende Last Q in zwei Komponenten Q' und Q" zerlegen, von denen Q" senkrecht auf der aufgerollten Schraubenlinie steht und von der Mutter abgefangen wird. Q' ist dann derjenige Anteil von Q, dem von der Kraft F das Gleichgewicht gehalten werden muß. Es gilt die Proportion F:Q = h:b oder, da b gleich dem Umfang U der Schraubenspindel ist, wird: Q=

(Ulh)F,

d. h. in Worten: Die an der Peripherie einer Schraube angreifende Kraft erzeugt in Richtung der Schraubenspindel eine Kraft, die um so größer ist, je größer der Umfang der Schraubenspindel und je kleiner ihre Ganghöhe ist. Für gewöhnlich läßt man die Kraft nicht direkt am Schraubenumfang, sondern an einem Hebelarm im Abstand R von der Schraubenachse angreifen. Dann tritt an Stelle von U der Wert 2 nR, und es ist

11 Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

162

36. Pendelbewegung; konisches, mathematisches und physikalisches Pendel Jeden Körper, der sich unter dem Einfluß der Schwerkraft um eine feste, nicht durch seinen Schwerpunkt gehende Achse drehen kann, nennt man allgemein ein Pendel. Besteht es — im Grenzfall — aus einem schweren Massenpunkt und einem gewichtslosen Aufhängefaden, so nennt man es, dieser Idealisierung wegen, ein mathematisches Pendel, zum Unterschied vom physikalischen Pendel, das durch einen Körper mit beliebiger Massenverteilung dargestellt wird. Wir betrachten der Einfachheit halber zunächst das m a t h e m a t i s c h e P e n d e l . Entfernt man es aus seiner Ruhelage und überläßt es dann sich selbst, so führt es eine periodische Bewegung aus, die „ P e n d e l s c h w i n g u n g " . Bevor wir uns mit der Gesetzmäßigkeit dieser e b e n e n Pendelschwingung näher befassen, ändern wir den Versuch in der Weise ab, daß wir dem aus der Ruhelage entfernten Massenpunkt einen Stoß geeigneter Stärke in horizontaler Richtung senkrecht zur Schwingungsebene versetzen, so daß sich der Massenpunkt auf einem horizontalen Kreis bewegt (Abb. IV, 66). Der Pendelfaden beschreibt dann den Mantel eines Kreiskegels, und wir nennen das so schwingende Pendel ein Kreispendel oder konisches Pendel (Kegelpendel). Damit der Massenpunkt auf einem Kreis mit dem Radius r umläuft, muß eine nach dem Kreismittelpunkt hin gerichtete Zentripetalkraft Fr vorhanden sein. Diese wird, wie Abb. IV, 66 zeigt, durch eine Komponente der an dem Massenpunkt m wirkenden Schwerkraft G = mg gebildet. Wir können nämlich G in die beiden Komponenten Gi parallel zum Pendelfaden und Gr, zum Kreismittelpunkt hinweisend, zerlegen. Die erste Komponente spannt nur den Faden, kommt also für die Bewegung nicht in Frage, die zweite Komponente stellt die zur Kreisbewegung notwendige Zentripetalkraft dar. Bezeichnet λ den Winkel des Pendelfadens gegen die Vertikale, so ist ihr Betrag: Gr = m g t a n a . Betrachten wir den Bewegungsvorgang als dynamisches Gleichgewicht im Sinne des d ' A l e m bertschen Prinzips, so müssen wir sagen, daß der Zentripetalkraft das Gleichgewicht gehalten wird durch die Zentrifugalkraft Fz, die die Größe 4 π2mr/T2 besitzt, wenn Τ die Umlaufszeit auf dem Kreis ist. Es ist also: An2mr mg tan α = . . Nun ist aber r = l sin = 2. Das bedeutet aber, daß sich die Schwingungen des unterbrochenen Wechselstromes im wesentlichen aus den beiden Frequenzen 49 und 51 Hz zusammensetzen. In der Tat werden beim Versuch auch nur diese beiden Schwingungen vom Frequenzmesser angezeigt. Abb. IV, 103 zeigt die Ausführung eines elektrischen Frequenzmessers. Oft ist es wichtig, Schwingungen an Maschinen, Fahrzeugen und Bauwerken schnell und einfach zu messen zur Vermeidung von Überlastung, Störung und Lärm. Ein für diese Meßaufgaben entwickeltes Gerät ist der Tastschwingungsschreiber. Er arbeitet folgendermaßen: Das Gerät einschließlich Schreibvorrichtung mit Uhrwerk besitzt eine Masse von etwa 1 kg. Man nimmt es fest in die Hand und drückt einen Taststift, der aus dem Gerät herausragt, fest gegen die schwingende Maschine. Zwischen Gerät und Taststift befindet sich eine Feder. Der Taststift folgt also den Schwingungen der Maschine, während das Gerät in Ruhe bleibt. Der Taststift ist mit einem leichten Schreibhebel verbunden, dessen vergrößerte Bewegungen auf laufendem Papier aufgezeichnet werden. Amplitude und Frequenz können auf diese Weise leicht gemessen werden. Ein besonderer Fall liegt vor, wenn das zu erregende System von einem zweiten Schwingungssystem zu erzwungenen Schwingungen angeregt wird, das die gleiche Eigenfrequenz besitzt. Dies ist ζ. B. bei zwei gleichen Pendeln der Fall, die entsprechend Abb. IV, 104 durch einen Faden verbunden sind, der in seiner Mitte durch ein kleines Gewicht Ρ belastet ist: „gekoppelte Pendel". Läßt man das Pendel Α in der Papierebene oder senkrecht dazu schwingen, so regt es das Pendel Β zu Schwingungen an; dabei beobachtet man, daß sich nach einer gewissen Zeit die gesamte Schwingungsenergie von Α auf Β übertragen hat. Das Pendel Α kommt in dem Augenblick zur Ruhe, wo das Pendel Β seine größte Schwingungsamplitude erreicht. Dann wiederholt sich derselbe Vorgang im umgekehrten Sinne: Das Pendel Β stößt das Pendel Α zu erneuten Schwingungen an und überträgt jetzt seine Energie auf A. Die Übertragung der Schwingungen erfolgt dadurch, daß das schwingende Pendel das Kopplungsgewicht etwas

anhebt, wodurch dieses auf das andere Pendel einen Zug ausübt. Die Kopplung wird um so fester, je größer das Koppelungsgewicht ist; je fester die Koppelung ist, um so rascher erfolgt die Übertragung der Schwingungsenergie von einem System auf das andere. In der Abb. IV, 105 ist die soeben beschriebene Schwingungsbewegung für beide Pendel in Abhängigkeit von der Zeit dargestellt. Man erkennt, daß jede dieser beiden Schwingungen eine Schwebungskurve darstellt. D a s b e d e u t e t aber, d a ß das g a n z e S y s t e m zwei v e r s c h i e d e n e E i g e n s c h w i n g u n g e n h a b e n m u ß , die d u r c h Ü b e r l a g e r u n g zu der b e o b a c h t e t e n S c h w e b u n g

Schwingungen; Resonanz

199

f ü h r e n . Diese beiden Eigenschwingungen lassen sich auch e i n z e l n leicht verwirklichen. L ä ß t m a n nämlich beide Pendel im Gleichtakt schwingen, so spielt die K o p p l u n g zwischen ihnen praktisch keine Rolle, da die E n t f e r n u n g beider Pendel in jedem Augenblick die gleiche ist. Die dabei auftretende Frequenz entspricht der einen Eigenschwingung. Die zweite erhalten wir, wenn beide Pendel gegeneinander schwingen; dann tritt f ü r jedes Pendel zu der rücktreibenden K r a f t der Schwere noch die durch das Kopplungsgewicht bedingte Zusatzkraft hinzu. Die Schwingungen erfolgen d a d u r c h rascher als im ersten Fall. (Mit fester werdender K o p p lung vergrößert sich der Unterschied zwischen den beiden Eigenfrequenzen und damit auch die Schwebungsfrequenz der Kopplungsschwingung.) Denkt m a n sich die beiden Pendel statt durch ein Gewicht durch eine Feder (Federkonstante k) gekoppelt, die an den Kugeln der Pendel angreift, so läßt sich im Fall Heiner Ausschläge die zweite Eigenfrequenz 012 leicht bestimmen. Die Entfernung jeder Pendelmasse m aus der Ruhelage sei x. D a in diesem Sonderfall die Pendel entgegengesetzt schwingen, beträgt die Auslenkung der Feder 2 x. 1st g die Fallbeschleunigung, so gilt f ü r die rücktreibende K r a f t :

Die Eigenfrequenz «J2 ist also die gleiche wie die eines einfachen Feder-Masse-Systems mit der Federkonstanten

mg Es gilt also;

zum Unterschied von der ersten Eigenfrequenz ωι = ]/gll. N u n zurück z u m Fall der Schwebung. W e n n das Pendel Β in Resonanz mit dem anstoßenden Pendel Α ist, hat es hinsichtlich seiner Bewegung eine Phasenverzögerung von j π gegenüber den Bewegungen des Pendels A. Infolgedessen beginnt das Pendel A, nachdem es zum Stillstand gekommen ist, seine neuen, von Β angeregten Schwingungen mit einem Phasensprung von π. M a n k a n n dies sehr bequem beobachten, wenn man mit dem Pendel Α den Zeiger eines entsprechend eingestellten M e t r o n o m s im Gleichtakt schwingen läßt. W e n n dann das Pendel A nach seinem Stillstand von neuem zu schwingen anfängt, hat es gegenüber dem M e t r o n o m eine Phasenverschiebung von π ; nach seinem zweiten Stillstand ist es dann schließlich wieder in Phase mit dem M e t r o n o m usw. Dasselbe gilt natürlich auch f ü r das Pendel B. In dem Fall der zwei gekoppelten Pendel handelt es sich u m ein System von zwei Freiheitsgraden; aber es gilt auch allgemein f ü r ein System von η Freiheitsgraden, d a ß es η Eigenschwingungen hat. K o p p e l u n g s e r s c h e i n u n g e n spielen in dem Gesamtgebiet der Physik eine große Rolle. Sie treten überall auf, wo zwei schwingungsfähige Systeme sich in irgendeiner Weise beeinflussen können. Beispiele: Hängt man, wie Abb. IV, 106 zeigt, an das untere Ende einer Schraubenfeder eine Querstange, die zwei auf ihr verschiebbare Gewichte trägt, so kann auch dieses System zwei Schwingungen ausführen: eine elastische Längsschwingung, bei der die Feder gedehnt wird, und eine Torsionsschwingung, bei der die Feder eine Torsion erfährt. Die Eigenfrequenz der Längsschwingung ist durch die M a s s e des angehängten Körpers und die Richtkraft der Feder bestimmt, während die Torsionsschwingung durch das T r ä g h e i t s m o m e n t des angehängten Körpers und das R i c h t m o m e n t festgelegt wird. Da man das Trägheitsmoment durch Verschieben der Massen auf der Querstange verändern kann, ohne die Größe der Massen selbst zu verändern, kann man beide Eigenschwingungen aufeinander abstimmen. Versetzt man das System in Längsschwingungen, so regen diese die Torsionsschwingungen an, da bei der Dehnung die Feder etwas tordiert wird; nach kurzer Zeit führt das System nur noch Torsionsschwingungen aus, während die Längsschwingungen abgeklungen sind. Dann wiederholt sich der Vorgang im umgekehrten Sinn, indem die Torsionsschwingungen die Längsschwingungen anregen, da bei der Torsion der Feder ihre Länge stets etwas geändert wird. Wir haben also auch hier das Bild einer Schwebung, bei der jetzt zwei verschiedene Schwingungsarten miteinander abwechseln. — Hängt man eine Taschen-

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

200

uhr mit ihrer Öse an einem Nagel auf, so kann sie wie ein gewöhnliches Pendel Schwingungen um den Nagel als Achse ausführen; diese Schwingungen können durch die Drehschwingungen der in der Uhr befindlichen Unruhe zu beträchtlichen Amplituden angeregt werden, wenn zufällig die Frequenzen der beiden Schwingungen übereinstimmen. Die pendelnde Uhr wirkt dann selbst wieder auf die Schwingungen der Unruhe zurück, so daß der Gang der Uhr dadurch erheblich gestört wird. Es ist deshalb unzweckmäßig, eine Taschenuhr so aufzuhängen, daß sie Pendelschwingungen ausführen kann. Eine wichtige Anwendung finden die Kopplungsschwingungen beim Frahmschen Schlingertank. Durch die Wasserwellen wird ein Schiff zu Schwingungen um seine Längsachse (Rollen)

m

m

Abb. IV, 106. Anordnung zur Vorführung miteinander gekoppelter Längs- und Torsionsschwingungen

Abb. IV, 107. Frahmscher Schlingertank als Schiffsstabilisator

und um seine Querachse (Stampfen) angeregt. Dabei können die Schiffsschwingungen recht beträchtliche Amplituden annehmen, wenn die Periode der Wasserwellen mit der Eigenschwingungsdauer des Schiffskörpers übereinstimmt oder in deren Nähe kommt. Da es sich hierbei um erzwungene Schwingungen handelt, ist die Schiffsbewegung um \ π gegen die Bewegung der Wellen verzögert. Um nun die Schwingungen des Schiffes um seine Längsachse zu dämpfen, baut man in das Schiff einen Wassertank ein, der aus zwei an den Seiten des Schiffes angebrachten Wasserbehältern I und II (Abb. IV, 107) besteht, die durch eine Rohrleitung R miteinander verbunden sind. Das in dem Tank befindliche Wasser kann ähnlich wie das in einem U-Rohr befindliche Wasser Schwingungen ausführen. Man bemißt nun die Wassermenge so, daß ihre Eigenfrequenz mit der Frequenz der Schiffsschwingungen um die Längsachse übereinstimmt. Schiff und Tankwasser stellen dann zwei miteinander gekoppelte Schwingungssysteme gleicher Frequenz dar. Gerät das Schiff in Schwingungen, so stößt es das Wasser im Tank zu erzwungenen Schwingungen an, die gegen die Schiffsschwingungen um j π in der Phase verschoben sind. Da anderseits die Schiffsbewegungen gegen die Bewegungen der Meereswellen ebenfalls um \ π in der Phase verzögert sind, schwingt das Tankwasser mit einer Phasenverschiebung von π gegen die Meereswellen und wirkt dabei den Stößen dieser Wellen gerade entgegen. Dadurch wird das Schiff vor zu starkem Rollen geschützt. Abb. IV, 108 zeigt die Schlingerbewegung eines • ausgeschaltet -»+*eingeschaltet V, 4 οj --t -vvvnfu\fiAAl]||fljlJll]|l^^ ^j/l^wi/w -!—μλλμμμλ#Μ^ 10Abb. IV, 108. Wirkung des Schlingertanks Schiffes ohne und mit Tankeinrichtung. Durch ein Ventil S kann der Luftausgleich zwischen den beiden Tankbehältern reguliert und damit die Bewegung der Wassermenge im Tank an den jeweils herrschenden Seegang angeglichen werden. Neuerdings werden zur Dämpfung von Schlingerbewegungen bei Schiffen auch Flossenstabilisatoren verwendet. Aus dem unter der Wasseroberfläche liegenden Schiffskörper können seitlich kleine Trag-

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

201

flügel ausgefahren werden. Durch eine elektronische Steuerung werden die Anstellwinkel während der Fahrt geändert und so aufrichtende hydrodynamische Kräfte erzeugt. Die bei Flossenstabilisatoren auftretende unvermeidliche Bremsung der Fahrt wird bei dem Schlingertank und auch bei den beiden folgenden Stabilisierungsarten vermieden: a) Ein elektronisch gesteuerter, motorgetriebener schwerer Wagen läuft auf Schienen senkrecht zur Fahrtrichtung über die ganze Schiffsbreite. Dies Verfahren ist natürlich nur dann wirksam, wenn das Gewicht des Wagens die Auftriebskräfte, die das Schlingern verursachen, ausgleichen kann. b) Mehrere große Kreisel stabilisieren die Lage des Schiffes. Hierbei werden allerdings die Lager der Kreisel außerordentlich stark beansprucht.

39. Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze Wenn ein starrer Körper sich um eine körperfeste Achse dreht, so muß diese, wenn sie auch im Raum eine feste Lage haben soll, im allgemeinen in zwei Punkten f e s t g e h a l t e n werden, was durch ein sogenanntes „Lager" geschieht. Denn es ist klar, daß im allgemeinen Kräfte und Drehmomente auf die Punkte der Achse wirken, die durch das feste Lager unwirksam gemacht werden müssen. Selbst in dem Fall, daß gar keine e i g e n t l i c h e n äußeren Kräfte vorhanden sind, wirken schon die Z e n t r i f u g a l k r ä f t e ( T r ä g h e i t s k r ä f t e ) und ihre Momente in diesem Sinn. D e n n o c h gibt es F ä l l e , in d e n e n die R o t a t i o n s a c h s e gar n i c h t beans p r u c h t wird, a l s o k r ä f t e f r e i ( p e r m a n e n t ) ist. Das ist von größter Wichtigkeit für alle Maschinen mit rotierenden Teilen, ζ. B. Elektromotoren und Dynamomaschinen. Wären bei solchen Maschinen die Achsen nicht kräftefrei, so würden bei den großen Umdrehungszahlen und Trägheitsmomenten außerordentlich große Beanspruchungen der Lager auftreten, was sowohl den ruhigen Lauf als auch die Haltbarkeit der Maschinen empfindlich gefährden würde. Als Beispiele für Körper mit kräftefreien Achsen seien ζ. B. die E r d e und der sogenannte K i n d e r k r e i s e l genannt. Die Erde dreht sich in 24 Stunden um eine Achse, die ihre Lage in der Erde und im Raum in erster Näherung beibehält,. Hier sind keine äußeren Kräfte vorhanden, denn die Anziehungskraft der Sonne wird gerade durch die vom Umlauf der Erde um die Sonne erzeugte Zentrifugalkraft kompensiert. Die von der Rotation herrührenden Zentrifugalkräfte sind offenbar so beschaffen, daß sie die Achse nicht beeinflussen1). Ganz ähnlich ist es bei dem Kinderkreisel. Auch hier haben wir eine kräftefreie Achse, die freilich in einem Punkt, dem Berührungspunkt des Kreisels mit der Unterlage, festgehalten ist, aber eben nur in e i n e m Punkt. Auch hier müssen also Bedingungen vorliegen, unter denen die Zentrifugalkräfte wirkungslos sind. Es fragt sich, welche Bedingungen dies sind. Um diese Frage zu beantworten, bedürfen wir einer kurzen Untersuchung über T r ä g h e i t s m o m e n t e um g e g e n e i n a n d e r geneigte, a b e r d u r c h d e n s e l b e n P u n k t g e h e n d e A c h s e n . Wenn ein Körper um eine durch einen festen Punkt gehende Achse rotiert, so hat er ein bestimmtes Trägheitsmoment J um diese Achse. Jetzt lassen wir die Achse nacheinander alle möglichen Richtungen durch diesen Punkt annehmen und bestimmen für jede Achsenrichtung das jeweilige Trägheitsmoment J. Wenn die Neigung der Achse s t e t i g verändert wird, so ändert sich auch das Trägheitsmoment stetig, und zwar besteht, was wir hier nicht beweisen wollen, eine relativ einfache Gesetzmäßigkeit, die sich geometrisch so ausdrücken läßt: Wenn wir auf jeder der unendlich vielen Achsen vom festen Punkt aus nach beiden Seiten Strecken auftragen, die der Wurzel aus dem zugehörigen Trägheitsmoment umgekehrt proportional, d. h. gleich Const./)// sind, so liegen die Endpunkte dieser Strecken nach dem Vorhergehenden auf einer stetig gekrümmten Oberfläche; und diese Oberfläche ist ein Ellipsoid, das sogenannte Trägheitsellipsoid. Im allgemeinen ist es d r e i a c h s i g ; dann entspricht der kleinsten Ellipsoidachse das g r ö ß t e , der größten Ellipsoidachse das k l e i n s t e Trägheitsmoment. Die Achsen, denen diese drei Extremwerte des Träg1 ) Tatsächlich ist infolge der Abplattung die Erde nicht vollkommen kräftefrei; vgl. hierzu die Ausführungen auf den folgenden Seiten.

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Anwendungen auf spezielle Bewegungen

heitsmomentes zukommen, stehen — als Hauptachsen des Ellipsoides — senkrecht aufeinander; man nennt sie daher die „Hauptträgheitsachsen" durch den betreffenden festgehaltenen Punkt des starren Körpers. Folglich gibt es d u r c h j e d e n P u n k t e i n e s s t a r r e n K ö r p e r s , insbesondere also auch durch seinen Schwerpunkt, drei zueinander senkrechte Achsen, um die das T r ä g h e i t s m o m e n t E x t r e m w e r t e (Maximum, Minim u m , S a t t e l w e r t ) b e s i t z t . In speziellen Fällen kann das Trägheitsellipsoid zu einem R o t a t i o n s e l l i p s o i d und sogar zu einer K u g e l ausarten. Bei einem verlängerten Rotationsellipsoid ist die große Hauptachse des Ellipsoides die des kleinsten Trägheitsmomentes. In der dazu senkrechten Ebene sind jetzt alle Achsenrichtungen einander gleichwertig, ihnen allen kommt das gleiche „größte" Trägheitsmoment zu. Bei einem abgeplatteten Rotationsellipsoid ist es analog; nur entspricht die kleinste Hauptachse des Ellipsoides hier dem größten Trägheitsmoment. Dieser Fall des Rotationsellipsoides tritt auf, wenn bezüglich des festen Punktes der starre Körper bestimmte Symmetrien aufweist. Zum Beispiel wenn wir die Gesamtheit der Achsen durch den — mit dem geometrischen Mittelpunkt zusammenfallenden — Schwerpunkt eines homogenen, langen Kreiszylinders betrachten, so ist das Trägheitsmoment um die Zylinderachse offenbar das kleinste; dagegen haben alle durch den Schwerpunkt senkrecht zur Zylinderachse gehenden Achsen das gleiche „größte" Trägheitsmoment. Das gilt offenbar für alle Körper, die eine Symmetrieachse durch den Schwerpunkt besitzen, ζ. B. Scheibe oder Ring. Im Fall eines kugelförmigen starren Körpers, aber auch eines Würfels, Oktaeders usw., sind alle Achsen durch den Schwerpunkt gleichberechtigt, weil dieser ein S y m m e t r i e z e n t r u m ist: Hier wird das Trägheitsellipsoid zur Trägheitskugel, und der Körper besitzt nur noch e i n Trägheitsmoment um alle durch den Schwerpunkt gehenden Achsen. Der Versuch zeigt nun — und das ist der Grund, weswegen wir diese Untersuchungen machen mußten —, daß bei Rotation um eine der drei Hauptträgheitsachsen durch den festgehaltenen Punkt des starren Körpers diese Achsen permanente oder freie Achsen sind; d. h. außer dem festen Punkt des starren Körpers braucht kein weiterer Punkt der Achse festgehalten zu werden. Die Symmetrie der Massenverteilung um eine Hauptträgheitsachse bewirkt, daß die Zentrifugalkräfte sich bezüglich dieser drei Achsen so kompensieren, d a ß k e i n e D r e h m o m e n t e a u f sie a u s g e ü b t w e r d e n ; die Kräfte selbst werden durch den festgehaltenen Punkt unwirksam gemacht. Liegen insbesondere — bei völlig frei beweglichem starrem Körper, auf den auch keine äußeren Kräfte wirken — Rotationen um eine Hauptträgheitsachse durch den S c h w e r p u n k t v o r , s o b r a u c h t d i e s e in k e i n e m P u n k t f e s t g e h a l t e n z u w e r d e n , weil weder Kräfte noch Drehmomente auf die Achse wirken. Im allgemeinen hat man es mit freien Achsen durch den Schwerpunkt zu tun. Darauf beziehen sich auch alle im folgenden besprochenen Beispiele und Versuche. Übrigens besteht zwischen den drei ausgezeichneten freien Achsen ein Unterschied bezüglich des Charakters der Bewegung. Rotiert nämlich der Körper um die Achse des g r ö ß t e n oder k l e i n s t e n Trägheitsmomentes, so ändert ein kleiner Stoß sämtliche Bestimmungsstücke der Bewegung (Achse, Geschwindigkeit usw.) um so weniger ab, je kleiner er ist; in Analogie zu den verschiedenen Arten des Gleichgewichtes nennt man daher eine Rotation um diese Achsen „ s t a b i l " . Anders verhalten sich die Körper bei Rotationen um die Achse des mittleren Trägheitsmomentes: Hier ruft der k l e i n s t e Stoß eine radikale Änderung des Bewegungscharakters hervor; man nennt diese Rotation daher „labil". Am stabilsten ist die Rotation um die Achse des größten Trägheitsmomentes; man kann daher durch einen h i n r e i c h e n d s t a r k e n Stoß (nicht durch einen beliebig kleinen!) einen an sich stabil um die Achse des kleinsten Trägheitsmomentes rotierenden Körper dazu bringen, sich um die Achse des größten Trägheitsmomentes zu drehen. Diese Tatsache hat vielfach die unrichtige Behauptung hervorgerufen, daß eine Rotation um die Achse des kleinsten Trägheitsmomentes auch labil wäre. Experimentell kann man sich von dem Vorhandensein freier Achsen durch folgende Versuche überzeugen: Die drei Hauptträgheitsachsen durch den Schwerpunkt einer Zigarrenkiste sind in Abb. IV, 109 mit A, B, C bezeichnet; Α ist die Achse des größten, C die des kleinsten, Β die des mittleren Trägheitsmomentes. Bringt man in den Flächenmitten Ösen an, hängt die Kiste dann mittels dieser an einem vertikalen Stab auf, der mit einem Motor in rasche Rotation versetzt wird, so rotiert die Kiste vollkommen ruhig um die Achsen Α und C. Wegen der

Bewegungen um freie A c h s e n ; Kreiselgesetze

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unvermeidlichen Störungen ist dies bei der labilen Rotation um die Achse Β nicht der Fall; die Kiste torkelt jetzt hin und her. Daß wir hier — ebenso bei dem vorhin erwähnten Kinderkreisel — einen Punkt der Achse festhalten, obwohl sie durch den Schwerpunkt geht, hat nur den Grund, daß wir die Schwerkraft auf diese Weise aufheben müssen. Übrigens können wir uns ganz frei von der Wirkung der Schwerkraft machen, indem wir die Kiste werfen und ihr gleichzeitig mit der Hand eine Rotation um eine der drei Achsen erteilen. Während des Fliegens der Kiste (d. h. während sie einen freien Fall ausführt!) kompensiert die d ' A l e m b e r t s c h e Trägheitskraft gerade die Schwere. Auch hier beobachtet man, daß die Kiste um eine der

A I

I

üüooooco

7

Β

Abb. IV, 109. Hauptträgheitsachsen eines Quaders

Abb. IV, 110. Rotation einer Scheibe und eines Kettenringes um die Achsen ihres größten Trägheitsmomentes

Achsen Α oder C ganz ruhig rotiert, d. h. daß die genannten Achsen ihre Richtung im Raum unverändert beibehalten. Gibt man aber der Kiste beim Hochwerfen eine Drehung um die 5-Achse, so schwankt sie hin und her; d. h. die Achse verändert dauernd ihre Richtung im Raum. Wir zeigen die Rotation um eine freie Achse für eine Scheibe, indem wir diese mit einer Schnur an das Ende einer vertikal nach unten gerichteten Achse eines Motors anhängen, wie es Abb. IV, 110a zeigt. Läuft der Motor, so gerät die Scheibe um die gestrichelt gezeichnete Achse ihres kleinsten Trägheitsmomentes in stabile Rotation. Bei h i n r e i c h e n d g r o ß e r Störung aber geht die Scheibe in die Lage b über, in der sie um die Achse ihres größten Trägheitsmomentes rotiert und die größte Bewegungsstabilität besitzt. Die Scheibe behält diese stabilste Rotation um die vertikal verlaufende Achse auch noch bei, wenn man den Motor abstellt, die Schnur in die Hand nimmt und die rotierende Scheibe hin- und herbewegt. Die bei einer solchen Rotation auftretenden zentrifugalen Kräfte zeigt sehr schön eine in sich geschlossene Kette, die man nach Abb. IV, 110c an Stelle der Scheibe an die Motorachse hängt. Bei der Rotation ziehen die Zentrifugalkräfte die Kette zu einem starren Ring auseinander, der schließlich wegen der großen unvermeidlichen Störungen die in Abb. IV, llOd gezeichnete stabile Lage einnimmt. Hier noch einige Beispiele von Rotationen um freie Achsen: Beim Sprung vom Turm ins Schwimmbad macht der Springer einen oder mehrere Saltos um eine horizontale, freie Achse. Dabei erhöht er zunächst seine Winkelgeschwindigkeit dadurch, daß er sein Trägheitsmoment verkleinert. Vor dem Eintritt ins Wasser stoppt er die Drehbewegung dadurch, daß er sein Trägheitsmoment stark vergrößert. — Eine Eiskunstläuferin dreht sich wie ein Kreisel um eine vertikale, freie Achse. Am Ende vergrößert sie ihr Trägheitsmoment wieder durch Ausbreiten der Arme und bleibt dadurch stehen. — Im Zirkus sieht man manchmal einen Artisten einen flachen Teller in der Luft drehen, den er mit einem Holzstab exzentrisch unterstützt. Der Teller dreht sich dabei um seine Symmetrieachse.

204

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Nunmehr sollen Rotationsbewegungen von solchen Körpern behandelt werden, die in einem Punkt festgehalten werden. Es sind Kreiselbewegungen. Sie sind etwas schwer zu verstehen, und zwar aus folgendem Grunde: Im allgemeinen liegt bei rotierenden Körpern die Drehachse fest und wird von wenigstens zwei Lagern gehalten. Bei den soeben behandelten freien Achsen fehlen die Lager; doch liegt die freie Achse im Körper fest. Bei dem Kreisel aber wechselt die Drehachse fortwährend ihre Richtung im Körper, obgleich sie in einem Punkt gelagert ist. Die Form des Kreisels kann beliebig sein. Es sollen aber nur die symmetrischen Kreisel besprochen werden, weil sie relativ einfach zu verstehen und außerdem am wichtigsten sind. Jeder rotationssymmetrische Körper, der auf einer Drehbank hergestellt werden kann, ζ. B. Kugel, Kreiszylinder, Rotationsellipsoid, Kegel, jedes Rad stellt einen solchen symmetrischen Kreisel dar. Die geometrische Figurenachse ist eine Hauptträgheitsachse durch den Schwerpunkt. Ist sie eine Achse größten Trägheitsmomentes (Scheibe oder abgeplattetes Rotationsellipsoid), so spricht man von einem „abgeplatteten" Kreisel; ist sie dagegen eine Achse kleinsten Trägheitsmomentes, von einem „verlängerten" Kreisel (länglicher Zylinder, Kegel usw.). Infolge der Rotationssymmetrie sind alle zur Figurenachse senkrechten Achsen gleichgerechtigt. Beim abgeplatteten Kreisel sind es Achsen kleinsten, beim verlängerten Kreisel Achsen größten Träghei tsmomen tes. Wir wollen nun einen abgeplatteten Kreisel völlig kräftefrei lagern, indem wir ihn in seinem Schwerpunkt unterstützen. Zu diesem Zweck geben wir dem Kreisel die in Abb. IV, 111 im Querschnitt gezeichnete Form. Der Kreiselkörper ist so ausbalanciert, daß sein Schwerpunkt genau in der Spitze S liegt, die in einer kleinen Pfanne ruht. So kann sich der Kreiselkörper in einem größeren Winkelbereich um seinen Schwerpunkt drehen. Die Figurenachse ist durch den Stift F erkennbar. Senkrecht zu ihr ist eine mit Zeitungspapier beklebte runde Platte Ρ angebracht. Wird ein solcher Kreisel in schnelle Rotation um die Figurenachse versetzt, so behält er seine Stellung im Raum bei. Gibt man aber, während der Kreisel läuft, der Figurenachse

einen seitlichen Stoß, so daß der Kreisel eine zusätzliche Drehung um eine zur Figurenachse senkrechte Achse ausführen muß, so gerät jetzt die Figurenachse in eine kreisende Bewegung und beschreibt dabei einen Kegelmantel. Der Kreisel führt nunmehr eine Drehung um eine Achse aus, die schräg zur Figurenachse durch den Schwerpunkt geht. Deren Durchstoßpunkt durch die Platte Ρ ist deutlich daran erkennbar, daß an dieser Stelle die Druckschrift in Ruhe bleibt, während sie an allen anderen Stellen infolge der Rotation der Scheibe verwaschen erscheint. Man nennt daher diese Achse die momentane Drehachse des Kreisels. Auch sie bewegt sich im Raum auf einem Kegelmantel. Neben diesen beiden Achsen unterscheidet man am Kreisel noch eine dritte Achse, deren Lage wir zwar nicht sichtbar machen können: die Achse des Drehimpulses, kurz als „Impulsachse" bezeichnet. Die Richtung der Impulsachse findet man durch folgende Überlegung. In der Abb. IV, 112 ist für einen bestimmten Augenblick die momentane Drehachse C des Kreisels eingezeichnet. Um sie rotiert der Kreiselkörper mit der Winkelgeschwindigkeit ω, deren Vektor mit der Richtung von C zusammenfällt. Wir zerlegen diese Winkelgeschwindigkeit in zwei zueinander senkrechte Komponenten, von denen o>i parallel zur Hauptträgheitsachse, also zur Figurenachse Α liegt und eine Umdrehung um diese

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

205

Achse mit der Winkelgeschwindigkeit töi bedingt, während a>2 parallel zu einer zweiten Trägheitsachse Β verläuft und um diese eine Drehung mit der Winkelgeschwindigkeit a>2 bewirkt. Multiplizieren wir o>i mit dem Hauptträgheitsmoment JA des Kreisels um die Λ-Achse und ct)2 mit dem Trägheitsmoment JB für die Drehung um die Trägheitsachse B, so erhalten wir die beiden Drehimpulse Li = JA(OI und L2 = JBG)2. Die Richtungen dieser Drehimpulse fallen mit den Richtungen der beiden Achsen Α und Β oder, was dasselbe ist, mit Ω\ und 0)2 zusammen. In Abb. IV, 112 sind LI und L2 nach Größe und Richtung eingetragen. Diese beiden Impulse

Abb. IV, 112. Festlegung der drei Kreiselachsen

Abb. IV, 113. Die drei Kreiselachsen

setzen sich zu dem resultierenden Impuls Lzusammen, s e i n e Richtung bestimmt die Impulsachse des Kreisels. Da der Kreisel keinerlei äußeren Kräften unterliegt und somit ein abgeschlossenes System darstellt, muß nach dem Erhaltungssatz des Drehimpulses dieser dauernd nach Größe und Richtung konstant bleiben. Das bedeutet aber, daß die Impulsachse während einer noch so komplizierten Bewegung des Kreisels i h r e R i c h t u n g im R a u m d a u e r n d b e i b e h ä l t . Um die Impulsachse rotieren auf Kegelmänteln sowohl die Figurenachse als auch die momentane Drehachse. Wie bereits der Versuch ergab, bewegt sich dabei die momentane Drehachse auch auf einem Kegelmantel um die Figurenachse. Es ergibt sich somit für einen abgeplatteten Kreisel (JA > JB) das in Abb. IV, 113 gezeichnete Bild: Die m o m e n t a n e D r e h a c h s e bewegt sich auf dem Mantel eines Kegels, dem sogenannten Rastpolkegel, um die raumfeste Impulsachse. Die F i g u r e n a c h s e bewegt sich ebenfalls auf dem Mantel eines Kegels, dem Nutationskegel, um die Impulsachse. Dabei rollt auf dem raumfesten Rastpolkegel ein mit der Figurenachse starr verbundener Kegel, der Gangpolkegel, ab. Die Spitzen sämtlicher Kegel liegen in demselben Punkt, nämlich dem festgehaltenen Punkt des Kreisels (hier also dem Schwerpunkt), die Berührungslinie von Rastpol- und Gangpolkegel liefert die Richtung der momentanen Drehachse. Es kann vorkommen, daß die Impulsachse des Kreisels mit der Figurenachse zusammenfällt. Man spricht in diesem Fall von einem nutationsfreien Kreisel. Dieser Fall liegt ζ. B. vor, wenn man den in Abb. IV, 111 gezeichneten Kreisel, während er rotiert, vorsichtig auf seine Unterlage aufsetzt, o h n e i h m e i n e n s e i t l i c h e n S t o ß zu ver-

A b b . IV, 114.

Diskuswurf

s e t z e n . Dann behält auch die Figurenachse ( = Impulsachse) ihre Lage im Raum bei. Eine richtig abgeschleuderte Diskusscheibe ζ. B., die durch eine Drehung der Hand in Rotation um ihre Hauptträgheitsachse versetzt wird, stellt einen kräftefreien Kreisel dar, bei dem die Impulsachse mit der Figurenachse zusammenfällt, so daß die Scheibe während des Wurfes ihre Achsenlage im Raum beibehält (Abb. IV, 114). Dadurch wirkt die Scheibe auf dem absteigenden

206

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Ast b ihrer Bahn wie ein Tragflügel und erreicht so größere Wurfweiten als auf der normalen Wurfparabel a. Wir untersuchen nunmehr die Wirkung äußerer Kräfte auf einen rotierenden Kreisel. Zu diesem Zweck benutzen wir den in Abb. IV, 115 abgebildeten Apparat ( G y r o s k o p ) , bei dem ein in einem Kreisring C gelagerter Kreisel Κ an dem einen Ende eines Waagebalkens W angebracht ist, so daß seine Figurenachse mit der Richtung des Waagebalkens zusammenfällt. Der Kreisel ist also nutationsfrei, da Impuls- und Figurenachse zusammenfallen. Der Waagebalken f f ist in einem Gelenk um die Achse Α drehbar gelagert; und das Gewicht des Kreisels wird durch ein Gegengewicht G ausgeglichen. Dadurch ist der Waagebalken im Schwerpunkt unterstützt, und es wirken zunächst auf den Kreisel keinerlei äußere Kräfte. Das die Achse A tragende Gelenk ist schließlich noch um die vertikale Achse Β leicht drehbar. Wird der Kreisel in Rotation versetzt, so behält seine Figurenachse (zugleich Impulsachse) ihre Lage im Raum bei, da keinerlei Drehmomente auf den Kreisel einwirken. Wenn wir nun von oben auf das

linke Ende des Waagebalkens mit der Kraft F drücken (Abb. IV, 116a), so üben wir auf den Kreisel ein Drehmoment Taus, das ihn um die Achse Α in der eingezeichneten Pfeilrichtung zu verdrehen sucht. Wir beobachten dann, daß die Achse des Kreisels diesem Drehmoment nicht folgt, vielmehr ihm rechtwinklig ausweicht und eine Bewegung in horizontaler Richtung um die vertikale Achse Β vollführt. Dieses merkwürdige Ergebnis erklärt sich folgendermaßen: Der rotierende Kreisel besitzt einen bestimmten Drehimpuls Lk, dessen Richtung durch den Umlaufssinn des Kreiselkörpers gegeben ist. Bei der in Abb. IV, 116a angenommenen Drehrichtung zeigt der Impulsvektor LK in Richtung der Kreiselachse nach rechts. Durch das Drehmoment, dessen Vektor auf den Beschauer zu gerichtet ist, erhält der Kreisel einen weiteren Drehimpuls LT. der sich mit dem Drehimpuls LK in der gezeichneten Weise zu dem resultierenden Dreh-

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

207

impuls L zusammensetzt. Die Kreiselachse stellt sich nun in die Richtung dieses resultierenden Drehimpulses ein: der Kreisel vollführt also eine Drehung um die vertikale Achse B. Abb. IV, 116b zeigt, wie sich die Bewegung des Kreisels ändert, wenn wir auf das linke Ende des Waagebalkens eine Kraft F von unten nach oben wirken lassen. Dadurch kehren sich die Richtungen des Drehmomentes Τ und des Drehimpulses L t um, und der Kreisel weicht in einer umgekehrten Drehung um Β der ihm aufgezwungenen Drehung um Α aus. Schließlich zeigen die Abb. IV, 116c und d, wie sich die Verhältnisse gestalten, wenn wir dem Kreisel eine Drehung um die vertikale Achse Β aufzwingen. In diesen Fällen sind der Vektor des wirkenden Drehmomentes Τ und folglich der Drehimpulsänderung L t vertikal gerichtet. Die Kreiselachse stellt sich wieder in Richtung des resultierenden Drehimpulses L ein und vollführt zu diesem Zweck eine Drehung um die horizontale Achse Α in der jeweils eingezeichneten Drehrichtung. In Abb. IV, 116c s e n k t sich der Kreisel, während er sich in Abb. IV, 116d h e b t . Wir nennen diese B e w e g u n g des K r e i s e l s u n t e r d e m E i n f l u ß e i n e r ä u ß e r e n K r a f t die Präzession des Kreisels. Hängt man an das linke Ende des Waagebalkens ein kleines Übergewicht, das eine dauernd nach unten gerichtete Kraft auf den Waagebalken ausübt, so rotiert der Kreisel mit konstanter Winkelgeschwindigkeit um die vertikale Achse B. Versucht man diese Drehung um die Achse Β zu vergrößern, indem man kurzzeitig noch eine Kraft F in horizontaler Richtung gegen das linke Ende des Waagebalkens wirken läßt, so sinkt der Kreisel tiefer, d. h. er stellt seine Achse unter einem bestimmten Winkel zu der ursprünglich horizontalen Lage ein. Das der Schwere unterworfene linke Ende des Waagebalkens wird dabei g e g e n die S c h w e r k r a f t g e h o b e n . Umgekehrt hebt sich der Kreisel, wenn man die Präzessionsbewegung um die Achse Β zu bremsen sucht. Sehr schön lassen sich diese Vorgänge noch an dem in Abb. IV, 117 gezeichneten Kreisel verfolgen. Der Kreisel Κ ist in einem Ring R gelagert. In der Verlängerung der Kreiselachse ist an dem Ring ein kurzes Ansatzstück Β angebracht, das mit einem Gelenk C drehbar an einer

vertikalen Stange befestigt ist. Diese Stange S hängt (mit einem Stift um die vertikale Achse drehbar) in einer Öse H. Hält man die Anordnung an dieser Öse in der Hand und bringt man den Kreisel, nachdem man ihn in Rotation versetzt hat, in die gezeichnete Lage, so daß die Kreiselachse horizontal liegt, so beginnt der ganze Kreisel um die Stange S in der eingezeichneten Richtung zu „präzessieren". Es übt nämlich das Gewicht G des Kreisels ein Drehmoment um eine horizontale Achse aus, dem der Kreisel durch eine Bewegung um die Stange S dauernd auszuweichen sucht. Vergrößert man die Drehung des Kreisels um die Stange S, indem man dieser eine zusätzliche Drehung mit der Hand erteilt, so richtet sich die Kreiselachse auf, verzögert man dagegen die Drehbewegung um S, so sinkt die Kreiselachse ab. Die Präzessionsbewegung kann man auch an jedem Kinderkreisel beobachten. In Abb. IV, 118 ist ein kegelförmiger Kreisel gezeichnet, der für einen von oben schauenden Beobachter

208

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

gegen den Uhrzeigersinn rotiert. Der Impulsvektor LK der Kreiselrotation ist also nach oben gerichtet. Die im Schwerpunkt S des Kreisels angreifende Schwerkraft G versucht diesen, sobald sich seine Achse aus der Vertikalen entfernt, um die Kreiselspitze zu kippen. Dieser Kippbewegung weicht der Kreisel dauernd durch eine dazu senkrechte Bewegung aus; infolgedessen rotiert seine Achse auf dem Mantel eines Kegels, dessen Achse vertikal steht. Dieser letzte Versuch verläuft allerdings nur dann in der beschriebenen Weise, wenn der Kreisel eine scharfe Spitze besitzt, und wir von j e d e r Reibung zwischen Spitze und Boden absehen. T a t s ä c h l i c h ist jedoch das untere Ende des Kreisels abgerundet, und es besteht zwischen dem Kreisel und der Bodenfläche eine gewisse Reibung. Dann beobachtet man, daß sich der Kreisel, wenn seine Achse zunächst schief zur Vertikalen steht, bei genügend schneller Rotation aufrichtet (Abb. IV, 119). Das untere Ende des Kreisels bewegt sich dabei ebenfalls auf einer spiralförmigen Bahn, wobei es längs dieser Bahn noch kleine Schwankungen ausführt, von denen wir hier aber absehen. Wie kommt nun die Aufrichtung des Kreisels gegen die Schwer-

Abb. IV, 118. Präzession des Kinderkreisels

Abb. IV, 119. Präzession beim Kinderkreisel unter Berücksichtigung der Reibung

Abb. IV, 120. Aufrichtungeines rotierenden Kreisels

kraft zustande? Wir betrachten zu diesem Zweck Abb. IV, 120, die in starker Vergrößerung das untere Ende des Kreisels im Querschnitt zeigt. Die Berührung des Kreisels mit der Bodenfläche geschieht, wie man sieht, nicht im Endpunkt der Figurenachse A, sondern im Punkt B. Beschreibt nun der Kreisel eine Präzessionsbewegung, so ändert sich dieser Punkt dauernd und die Aufeinanderfolge der Berührungspunkte bildet einen Kreis, von dem in Abb. IV, 120 BB' einen Durchmesser darstellt. Längs dieses Kreises rollt der Kreisel bei seiner Präzessionsbewegung auf der Bodenfläche ab. Nun rotiert aber der Kreisel gleichzeitig um die Figurenachse A, und diese Rotation bewirkt, wenn zwischen Kreisel und Boden Reibung vorhanden ist, ein b e s c h l e u n i g t e s V o r r ü c k e n des Kreisels längs der Bahnkurve auf dem Boden. Oben haben wir aber gesehen, daß eine Beschleunigung der Präzessionsbewegung bei dem in Abb. IV, 116 und 117 skizzierten Versuch ein Aufrichten des Kreisels gegen die Schwere bewirkt. Das gilt auch für den in Abb. IV, 119 gezeichneten Kreisel, der sich demzufolge allmählich aufrichtet. Bedingung ist aber, daß das untere Ende des Kreisels gegen die Bodenfläche eine Reibung besitzt und der Kreisel genügend schnell rotiert. Selbstverständlich darf die Reibung dabei nicht zu groß sein; denn die dadurch verbrauchte Energie wird der Rotationsenergie des Kreisels entzogen, so daß dessen Umdrehungszahl rasch abklingt und der Kreisel umfällt. Auf dem soeben beschriebenen Vorgang des Aufrichtens eines Kreisels beruht auch die Erscheinung, daß sich ein gekochtes Ei, wenn man es auf einer waagerechten rauhen Ebene in genügend rasche Rotation versetzt, aufrichtet und auf seiner Spitze wie ein Kreisel rotiert. Durch diesen Versuch kann man ein gekochtes Ei von einem rohen unterscheiden. Das rohe Ei zeigt nämlich die Erscheinung des Aufrichtens nicht; die Kreiselgesetze gelten nur für starre Körper, und als ein solcher kann das rohe Ei wegen seines flüssigen Inhaltes natürlich nicht angesehen werden.

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

209

Die Kreiselgesetze spielen bei vielen Vorgängen des täglichen Lebens eine wichtige Rolle. Wirft man z . B . einen Bierdeckel wie eine Diskusscheibe schräg nach oben (Abb. IV, 121 a), indem m a n ihm gleichzeitig eine Drehung um die Achse seines größten Trägheitsmomentes erteilt, so richtet sich der Bierdeckel u m die Flugrichtung als Achse auf und nimmt schließlich die in Abb. IV, 121b gezeichnete Stellung ein. Dieser Vorgang erklärt sich folgendermaßen: D e r Bierdeckel stellt einen Kreisel dar mit

Abb. IV, 121. Als Diskus geworfener Bierdeckel

Abb. IV, 122. Freihändigfahren mit dem Fahrrad

dem Impuls Lk. Während des Fluges versucht die Luftströmung den Deckel um die Achse Α zu drehen und ihn mit seiner Fläche quer zur Wurfrichtung zu stellen. D a d u r c h erhält der Bierdeckel einen Zusatzimpuls La, und die Impulsachse Lk stellt sich in die Richtung des resultierenden Drehimpulses L ein. Dies führt zu einer Drehung des Bierdeckels um die Wurfrichtung als Achse. Diese Drehung ist beim Diskus wegen des viel größeren Trägheitsmomentes sehr klein. Auch das Freihändigfahren mit dem Fahrrad beruht zum Teil auf den Kreiselgesetzen, zum Teil auf der Zentrifugalkraft. In Abb. IV, 122 ist das Vorderrad eines Fahrrades gezeichnet. Bei der Rotation in der Pfeilrichtung besitzt es in Richtung seiner Achse den Drehimpuls Lk = Jo. Für das Trägheitsmoment eines einzelnen Fahrrades ergibt sich der Wert 2,4 · 106 g cm 2 . (Raddurchmesser 2 r = 70 cm). Bei einer Geschwindigkeit ν = 20 km/h ergibt dies eine Winkelgeschwindigkeit vom Betrag ω

=

ν r

=

20 · 10 5 cm ~365ÖT^35~cm~

=

und somit einen Drehimpuls vom Betrag 37,9 · 106 g cm 2 s _ 1 . Neigt sich nun der Fahrer ζ. B. nach rechts, so gelangt sein Schwerpunkt seitlich über den Unterstützungspunkt des Rades, und dieses erfährt eine Kippung um die Fahrtrichtung als Achse. Dadurch erhält das Rad ein Drehmoment um die Achse Α und dementsprechend einen Zusatzimpuls La. Der Wirkung dieses Zusatzdrehimpulses versucht das R a d als Kreisel durch eine D r e h u n g um die Achse Β in der eingezeichneten Pfeilrichtung auszuweichen. D a d u r c h beschreibt das Fahrrad eine Rechtskurve, und zwar so lange, bis die Spur des Rades wieder unter der Schwerpunktslinie durchgelaufen ist. D a n n versucht das Gewicht des Fahrers das R a d nach links zu kippen, so daß das Vorderrad die umgekehrte Bewegung wie vorher beschreibt und in eine Kurve nach links einbiegt. Indem sich dieses Spiel dauernd wiederholt, wird ein Umkippen des Fahrrades vermieden. Voraussetzung dafür ist aber eine hinreichend große Kreiselbewegung des Rades, was gleichbedeutend mit einer genügend großen Fahrgeschwindigkeit ist. Bekanntlich ist auch nur dann ein sicheres Freihändigfahren möglich. Sehr häufig macht sich bei schnell rotierenden Körpern großer Masse die Kreiselbewegung störend bemerkbar, wenn die Richtung der Rotationsachse geändert wird, ζ. B. bei großen Schwungrädern in bewegten Fahrzeugen. Die Tatsache, daß ein rotierender Kreisel seine Achsenrichtung im R a u m beizubehalten sucht, wird technisch viel verwendet. D a s bekannteste Beispiel ist der Kreiselkompaß. Er wird im nächsten Abschnitt bei der Erddrehung behandelt. Zur Verringerung der sogenannten Rollschwingungen eines Schiffes um seine Längsachse dient der Schlicksche Schiffskreise]. Der von einem Elektromotor angetriebene schwere Kreiselkörper ist mit vertikaler Achse in einem Gehänge gelagert, das als Ganzes um eine horizontale, zur Schiffsachse senkrechte Achse drehbar ist. U m diese Achse führt der Kreisel infolge der Präzession bei Schiffsschwingungen um die Längsachse schwingende Bewegungen aus. Durch geeignete D ä m p f u n g dieser Kreiselschwingungen werden infolge der Rückwirkung die Schiffsschwingungen erheblich gedämpft. Beim Blindflug von Flugzeugen benutzt man die Kreiselwirkung zur Schaffung eines künstlichen Horizontes, an dem man jede Neigung des Flugzeuges erkennen kann, sowie zur Herstellung eines Wendezeigers, der eine D r e h u n g des Flugzeuges um die vertikale Achse anzeigt. Schließlich spielt die Kreiselwirkung auch in der Ballistik eine bedeutende Rolle. Vor einigen Jahrhunderten verwendete man runde Kanonenkugeln. D a n n entwickelte die Kriegstechnik langgestreckte, 14

Beramann-Schaefer I, 9. Aufl.

210

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

zylinderförmige Geschosse. Wegen des Luftwiderstandes, auch um ein Überschlagen zu vermeiden, und damit ein Langgeschoß am Ziel stets mit der Spitze aufschlägt, erteilt man dem Geschoß beim Abschuß eine Rotation um seine Längsachse, den sogenannten Drall, indem man das Geschützrohr mit schraubenartigen Zügen versieht. In diese Züge schneidet sich der aus weichem Metall gefertigte Führungsring des Geschosses ein, so daß dieses eine Umdrehung um seine Längsachse erhält. (Als Beispiel sei angeführt, daß ein Infanteriegeschoß nach dem Abschuß in der Sekunde 3750 Umdrehungen macht; seine Winkelgeschwindigkeit beträgt also 23560 s - 1 .) Während des Fluges wirkt dann das Geschoß wie ein Kreisel. Die mit der Geschoßachse zusammenfallende Drehimpulsachse würde im luftleeren Raum entsprechend Abb. IV, 123 a ihre Richtung stets zur Abschußrichtung parallel beibehalten. Nun wirkt aber während des Fluges auf das Geschoß der Luftwiderstand, dessen Angriffspunkt im vorderen Teil des Geschosses liegt. Der Luftwiderstand sucht das Geschoß um eine durch seinen Schwerpunkt gehende, zur Flugrichtung senkrechte Achse zu drehen. Dieser Drehbewegung sucht

#

3

Abschuß

Abschuß

- θ

\

i

^

Β

Abb. IV, 123. Flugbahn eines Langgeschosses: a) im luftleeren Raum,

&

b) bei Luftwiderstand und Rechtsdrall Seite

'

Ziel

_

von der

c) von oben gesehen

Treffpunkt

das als Kreisel wirkende Geschoß durch eine Präzessionsbewegung auszuweichen. Bei dem meistens benutzten Rechtsdrall zeigt der Drehimpulsvektor Lk in die Flugrichtung nach vorn, die Spitze des Geschosses beschreibt demnach unter der Wirkung des Luftwiderstandes eine Rechtsdrehung, wenn man in Richtung der Flugbahn sieht. Bei geeigneter Wahl des Dralles erreicht man, daß die Spitze des Geschosses nach Durchlaufen der ganzen Geschoßbahn nach unten zeigt (Abb. IV, 123 b). Das Geschoß durchläuft dabei während seiner Präzessionsbewegung den Präzessionskegel nicht vollkommen, sondern die Spitze bleibt stets nach rechts abgelenkt. Infolge des dadurch einseitig wirkenden Luftwiderstandes erfährt das Geschoß eine Rechtsabweichung gegen die eigentliche Ziellinie, wie es in Abb. IV, 123 c in der Aufsicht von oben gezeigt ist.

40. Die Erde als rotierendes System; Nachweis der Erddrehung Die Erde rotiert um eine durch ihre Pole hindurchgehende freie Achse. Eine vollständige Umdrehung gegen den Fixsternhimmel erfolgt in 86164 s. Demnach beträgt die Winkelgeschwindigkeit der Erdkugel nur ω

= 8^Τ

7

>

3

·

1 ( Γ ν 1

·

Immerhin ergeben sich für die Bahngeschwindigkeit eines Punktes an der Erdoberfläche recht beträchtliche Werte. Für einen Ort unter dem Breitengrad φ ist νφ = ojR COS φ, wobei der Erdradius R = 6,37 · 108 cm ist. Für den Erdäquator ergibt dies vq = 465 m/s, für φ = 51° (ζ. Β. Breslau—Dresden—Eisenach—Köln) = 293 m/s. Infolge der Erdrotation erfährt jeder Körper mit der Masse m auf der Erde eine von der Erdachse fortgerichtete Zentrifugalkraft F = ma. Die für die Rotation des betreffenden Körpers erforderliche Zentripetalkraft wird von der Gravitation geliefert. Befindet sich der Körper auf der geographischen Breite φ, so ist der Radius des betreffenden Breitenkreises r = R cos φ und die auf den Körper wirkende Zentrifugalbeschleunigung hat den Betrag a = oo 2r

mit den obigen Werten ergibt dies:

= (o 2R

cos

φ;

Die Erde als rotierendes System; Nachweis der Erddrehung α = 3,4 c o s φ c m s

2

211

.

N a c h Abb. IV, 124 läßt sich diese Zentrifugalbeschleunigung in die beiden K o m p o n e n t e n an und at zerlegen, von denen die erste senkrecht, die zweite parallel zur Erdoberfläche gerichtet ist: (IV, 37)

Die Beschleunigung ÜR wirkt der nach dem Erdmittelpunkt gerichteten Fallbeschleunigung der ruhenden Erde, die wir mit go bezeichnen wollen, entgegen; sie ist Null an den Polen u n d hat ihr M a x i m u m am Äquator. Was m a n als Fallbeschleunigung „g" bezeichnet u n d im wesentlichen mißt, ist die Differenz von ^o und ÜR. D a h e r ändert sich die Fallbeschleunigung g mit der geographischen Breite φ : (IV, 38)

g„ = g 0 - 3 , 4 c o s 2 < p c m s

2

·

Die Schwerkraft nimmt also infolge der Erdrotation von den Polen nach dem Ä q u a t o r zu a b und ist a m Ä q u a t o r um r u n d 1/3oo kleiner als an den Polen. D e r zur Erdoberfläche parallelen K o m p o n e n t e at entspricht eine in Richtung des Meridians nach dem Ä q u a t o r hin gerichtete, auf die an der Erdoberfläche befindlichen Massen wirkende K r a f t . Diese verschwindet sowohl an den Polen als auch am Äquator u n d hat ihr M a x i m u m unter 45° Breite. Eine Folge dieser K r a f t selbst ist die Abplattung der Erde a n den Polen; die Massen der nichtstarren Erdoberfläche stellen sich so ein, daß die Erdoberfläche senkrecht auf der Resultierenden g' von ^o u n d α steht (Abb. IV, 124). Die dieser Bedingung entsprechende Gleichgewichtsfigur ist annähernd ein abgeplattetes Rotationsellipsoid. D e r Unterschied zwischen dem polaren und äquatorialen Erddurchmesser beträgt rund V300· Dies bedingt eine weitere Z u n a h m e der Schwerebeschleunigung an den Polen gegenüber dem Äquator, so d a ß der Unterschied zwischen gVol u n d ^ Ä q u a t o r 5,1 cm/s 2 beträgt. Denken wir uns die abgeplattete Erde in Ruhe, so würden die auf ihr befindlichen Wassermassen unter der Wirkung der (tangentialen K o m p o n e n t e der) Fallbeschleunigung nach den Polen hinfließen! N u r weil die Erde rotiert, bleiben die Wassermassen an jedem Ort der Erdoberfläche in R u h e unter der gleichzeitigen Einwirkung der Schwerkraft und der nach dem Ä q u a t o r hinweisenden K o m p o n e n t e der Zentrifugalbeschleunigung. Infolge der Abplattung stellt die Erde bei ihrer Rotation u m die N o r d - S ü d - A c h s e im Anziehungsfeld der Sonne keinen kräftefreien Kreisel dar. Die Erdachse bildet mit der Ebene der Ekliptik einen Winkel von 90° - 23,5° = 66,5° (Abb. IV, 125). W ä r e die Erde eine ideale Kugel, so würden sich die in ihrem Mittelpunkt angreifende Anziehungskraft der Sonne und die entgegengesetzt wirkende Zentrifugalkraft das Gleichgewicht halten. Bei der abgeplatteten Erde erfährt aber der der Sonne zugewandte Teil des u m den Äquator herumliegenden Wulstes eine größere Anziehung als der der Sonne abgewandte Teil infolge ihrer verschiedenen Entfernung von der Sonne; anderseits verhalten sich die an diesen beiden Wulsthälften angreifenden Zentrifugalkräfte gerade umgekehrt. Infolgedessen überwiegt bei dem der Sonne zugewandten Wulst die Gravitationskraft die Zentrifugalkraft, bei dem abgewandten die Zentrifugalk r a f t die Gravitationskraft. D a h e r greifen an den beiden Schwerpunkten S i u n d S2 der beiden Wulsthälften zwei gleiche, aber entgegengesetzt gerichtete K r ä f t e F i u n d F2 = — F i an, die ein K r ä f t e p a a r darstellen, durch das der Erde ein D r e h m o m e n t u m die zur Zeichenebene senkrechte Achse durch den Schwerpunkt erteilt wird. Der Vektor dieses Drehmomentes ist dabei auf den Beschauer der Abb. IV, 125 zugerichtet. Wie jeder Kreisel, so reagiert auch die E r d e auf dieses D r e h m o m e n t mit einer Präzessionsbewegung. D a ß die Figurenachse Nord— Süd u m die zur E r d b a h n oder Ebene der Ekliptik senkrechte Achse AÄ präzessiert, hängt mit der gleichzeitigen Bewegung der Erde um die Sonne u n d des Mondes u m die Erde zusammen. Die Erdachse beschreibt infolgedessen in 26000 Jahren (sogenanntes „Platonisches J a h r " ) einen

212

Anwendungen auf spezielle Bewegungen Ν

Sonne-*-

9ο

Abb. IV, 124. Verminderung der Schwerkraft durch die Zentrifugalkraft

Abb. IV, 125. Präzession der Erdachse

Kegelmantel mit einem Öffnungswinkel von rund 47° und verändert somit von Jahr zu Jahr ihre Richtung im Weltraum. Dadurch ändert sich für jeden Ort der Erdoberfläche im Laufe der Jahrtausende der Anblick des Sternhimmels; in etwa 12000 Jahren wird der Stern Wega Polarstern. Außer der Sonne bewirkt in ähnlicher Weise auch die Anziehung des Mondes eine Präzession der Erdachse. Nun ist weder die Einwirkung der Sonne noch die des Mondes wegen ihrer verschiedenen Stellung zur Erde im Laufe des Jahres gleichmäßig; im Sommer und Winter ζ. B. übt die Sonne entsprechend der in Abb. IV, 125 gezeichneten Stellung der Erde das größte Drehmoment auf die Erde aus, während im Frühling und Herbst ihre Einwirkung verschwindet, da dann die Sonne in der Ebene des Erdäquators steht. Die Folge davon ist, daß die Präzessionsbewegung der Erde kleinen, kurzperiodischen Schwankungen unterworfen ist, die in der Astronomie als Nutationen der Erdpräzession bezeichnet werden. Nunmehr soll ein Körper betrachtet werden, der sich auf der Erde mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegt. Der Leser wird sich wundern und fragen, warum eine so einfache Bewegung hier noch einmal behandelt wird. Das Besondere besteht darin, daß wir uns als Erdbewohner erinnern müssen, daß wir alle Bewegungen auf der r o t i e r e n d e n E r d e b e o b a c h t e n , und zwar als mitbewegte Beobachter. Wir haben sonst Bewegungen relativ zur festen, ruhenden Erde betrachtet. Unsere Erde rotiert aber. Diese Tatsache muß man bei einigen Bewegungen berücksichtigen. Zuvor ein paar einfache Versuche: Ein Motor mit vertikaler Achse dreht langsam eine horizontal liegende Pappscheibe. Über die Pappscheibe hinweg bewegt sich diametral ein Filzschreiber mit konstanter Geschwindigkeit. Ruht der Motor, dann ergibt sich ein gerader Strich durch den Mittelpunkt; die Pappscheibe wird durch den Strich genau in zwei Hälften geteilt. Dreht sich aber die Pappscheibe, dann ergeben sich Kurven, wie sie Abb. IV, 126 zeigt. Als außenstehender Beobachter sieht man, daß der Schreiber sich auf einer Geraden bewegt. Sitzt man aber auf der (sehr großen) Scheibe, etwa wie ein Beobachter auf dem Nordpol, dann beobachtet man die Figuren, wie sie der Schreiber aufgezeichnet hat. Zweiter Versuch. Der gleiche Motor mit vertikaler Achse und horizontaler Pappscheibe wird verwendet. Jedoch stößt diesmal die Achse durch die Pappscheibe hindurch und ist oberhalb der Scheibe etwa 1 cm lang. An diesem Ende der Achse wird eine mit Kreide oder mit Farbpulver versehene Kugel an einem kurzen Faden befestigt. Versetzt man den Motor mit der Scheibe in Umdrehungen, so stellt sich bald der stationäre Zustand ein, in dem die Kugel relativ zur Scheibe ruht und mit dieser eine Kreisbewegung ausführt. Dabei kompensiert die Spannung des Fadens die radial nach außen gerichtete Zentrifugalkraft. Brennt man während der Rotation der Scheibe den Faden durch, so beobachtet man als a u ß e n s t e h e n d e r B e o b a c h t e r , daß die Kugel infolge ihrer Trägheit tangential von ihrer Kreisbahn abfliegt, wie es sein muß. Da die Kugel mit Kreide eingeweißt ist, zeichnet sie gleichzeitig die Spur ihrer Bahn auf der Scheibe ein und diese ist, wie es Abb. IV, 127 andeutet, zunächst radial nach außen

Die Erde als rotierendes System; Nachweis der Erddrehung

213

gerichtet und krümmt sich dann nach rückwärts gegen den Umlaufsinn der Scheibe. Diese auf der Scheibe fixierte Kurve ist die Bahn der Kugel, wie sie ein mit der Scheibe mitrotierender Beobachter sieht. Denken wir uns diesen Beobachter im Mittelpunkt der Scheibe sitzend und die Scheibe im leeren R a u m rotierend, so wird er die Drehung der Scheibe von sich aus n i c h t feststellen können. Hält er den Faden mit der daran befestigten Kugel in der H a n d , so wird er lediglich eine von ihm weggerichtete K r a f t am Faden verspüren (nämlich die Zentrifugalkraft), die für ihn die Kugel in dieser Richtung beschleunigt, wenn er den Faden losläßt. Er beobachtet aber gleichzeitig, daß die Bahn der Kugel nicht geradlinig ist, sondern eine K r ü m m u n g aufweist. Daraus muß er notgedrungen schließen, daß außer der von ihm festgestellten Zentrifugalkraft die als einzige Kraft wirksam ist, solange die Kugel relativ zur bewegten Scheibe r u h t , n o c h e i n e z w e i t e K r a f t a u f t r i t t , w e n n s i c h d i e K u g e l b e w e g t . Diese Kraft nennt man nach ihrem Entdecker die Corioliskraft; sie ist ebenso wie die Zentrifugalkraft eine T r ä g h e i t s k r a f t . Infolge der Corioliskraft erfährt jeder Körper, der sich auf einem mit der Winkelgeschwindigkeit ω rotierenden System mit der Geschwindigkeit « bewegt, eine Coriolisbeschleunigung av quer zu seiner Bahn vom Betrag: ( I V , 39)

0^ = 2 cot; sin ( ω , υ).

Man gelangt zu dieser Gleichung etwa in folgender Weise: Ein Massenpunkt möge sich von A aus (Abb. IV, 128) mit einer Geschwindigkeit ν auf einer rotierenden Scheibe bewegen. Würde die Scheibe, die man sich in der Papierebene vorstellt, stillstehen, so würde der Massenpunkt in der Zeit t von Α nach Β gelangen. Rotiert dagegen die Scheibe mit der Winkelgeschwindig-

Abb. IV, 126. Auf einer rotierenden Scheibe wurde ein gerader Strich mit konstanter Geschwindigkeit gezogen, der durch den Mittelpunkt der Scheibe geht. Der außenstehende Beobachter hat die geradlinige Bewegung des Stiftes gesehen; ein im Mittelpunkt der Scheibe stehender, mitbewegter Beobachter hätte die Bewegung so wie die hinterlassenen Spuren gesehen. Geschwindigkeit des Stiftes: 21 cm/s. Umdrehungszahlen der Scheibe: 10, 20, 40 und 80 pro Minute bzw. Winkelgeschwindigkeiten von π/3, 2 π/3, 4 π/3 und 8 π/3 s" 1

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

214

keit ω , so gelangt der Massenpunkt vom Standpunkt des außenstehenden, also ruhenden Beobachters ebenfalls nach B. Dagegen sieht ein m i t r o t i e r e n d e r B e o b a c h t e r , der im Mittelpunkt der sehr großen Scheibe sitzt und nichts anderes sieht als die Scheibe (Erdoberfläche) und den Himmel, daß sich der Massenpunkt nach B ' bewegt. Der mitbewegte Beobachter muß also den Eindruck haben, daß der Massenpunkt unter dem Einfluß der beschleunigenden Corioliskraft in der Laufzeit t eine Ablenkung BB' erfahren hat. Nun ist AB = vt und der Winkel BAB' = ω ί ; somit ist BB' = ωυί2. Andererseits ist der Weg einer beschleunigten Bewegung gleich j avt2. Somit ist BB' = ωυί2 = \avf2. Daraus folgt, daß av = 2 ων ist. In dem besprochenen Fall bilden die Vektoren ω und υ einen rechten Winkel: Denn ω ist vom Punkt A senkrecht auf der Papierebene auf den Beschauer hin gerichtet. Ist dies nicht der Fall, so tritt noch der Sinus des von den beiden Vektoren gebildeten Winkels als Faktor auf der rechten Seite auf. Die allgemeine Form der Gl. IV, 39 lautet also:

(IV, 39 a)

av =

2(ν,χω),

wenn vr die Geschwindigkeit in radialer Richtung ist. Die Coriolisbeschleunigung spielt bei Bewegungen auf der Erde eine große Rolle. Der Vektor der Winkelgeschwindigkeit ω der Erde fällt mit der Erdachse zusammen und zeigt von Süden nach Norden, d. h., die Erde dreht sich für einen auf den Nordpol schauenden Beobachter gegen den Uhrzeigersinn. Für einen auf dem Breitengrad φ liegenden Punkt Ρ der Erde können wir ω nach Abb. IV, 129 in die beiden Komponenten ωα = ω sin φ und ων = ω cos φ zerlegen. Erstere steht senkrecht zur Erdoberfläche und heißt A z i m u t a l k o m p o n e n t e der Winkelgeschwindigkeit, die zweite ist parallel zur Erdoberfläche gerichtet und wird V e r t i k a l k o m p o n e n t e genannt. Denken wir uns in Ρ eine ebene Scheibe auf der Erdoberfläche angebracht, so führt diese während der Erdrotation für einen außenstehenden Beobachter zwei rotierende Bewegungen aus; sie dreht sich einmal um eine zu ihrer Fläche senkrechte Achse mit der Winkelgeschwindigkeit ωα und zum anderen um eine in ihrer Ebene liegende, zum Meridian parallele Achse mit der Winkelgeschwindigkeit a>v. Für einen von oben auf die Scheibe schauenden Beobachter erfolgt dabei die erstgenannte Drehung auf der nördlichen Halbkugel g e g e n den Uhrzeigersinn und auf der südlichen Halbkugel m i t dem Uhrzeigersinn. Jeder Körper, der sich auf der Erdoberfläche relativ zur Erde in horizontaler Richtung (West- und Ostrichtung nicht ausgenommen) mit der Geschwindigkeit e bewegt, erfährt daher auf der nördlichen Halbkugel in Bewegungsrichtung eine Abweichung nach rechts. Der Betrag der dabei wirkenden Coriolisbeschleunigung ist a = 2 ων sin φ. Wohlgemerkt: Diese Coriolisbeschleunigung erfährt der Körper nur relativ zur rotierenden Erde, die als b e s c h l e u n i g t e s S y s t e m k e i n I n e r t i a l s y s t e m ist. In bezug auf jedes Inertialsystem, wie es z . B . ein im Fixsternhimmel verankertes Koordinatensystem darstellt, vollführt der Körper natürlich eine mit der w

w

S

Abb. IV, 127. Erklärung der Coriolis-Kraft

Abb. IV, 128. Ableitung der C o r i o l i s Beschleunigung

Abb. IV, 129. Zerlegung der Winkelgeschwindigkeit ω der Erde in eine Azimutalkomponente o>a und eine Vertikalkomponente R cos φ besitzt. Wird der Körper losgelassen, so fällt er nicht nur vertikal nach unten, sondern bewegt sich gleichzeitig gegen die Erde mit einer relativen Geschwindigkeit vh — ve = Ηω cos ψ nach Osten. Unter Vernachlässigung des Luftwiderstandes und der Erdabplattung liefert die Theorie für diese Ostabweichung des freien Falles den Wert j = ^ gcütz cos φ, wenn t die Fallzeit bedeutet oder, wenn man t mittels der Beziehung t = y'2 Hjg durch die Fallhöhe Η ausdrückt, erhält man für 5: 2 Η ω , ,-—— s= ^ 1/2 g / / cos φ 3

g

und nach Einsetzen der Werte für ω und φ ergibt dies s = 2,189 -\0'6H]/H

cos φ c m .

Bei einer Fallhöhe von 158 m wird ζ. B. in Breslau oder Köln (φ = 51°) s gleich 2,74 cm. Durch Fallversuche, die ζ. T. in Bergwerksschächten durchgeführt wurden, konnte die Ostabweichung des freien Falles in guter Übereinstimmung mit der Theorie bestätigt werden; sie bildet somit einen weiteren Beweis für die Drehung der Erde. Ein vertikal nach oben geworfener Körper erfährt während des Aufstieges eine Abweichung in westlicher Richtung, so daß er stets westlich vom Ausgangsort wieder zur Erde fällt. Für diese westliche Abweichung liefert die Theorie nämlich den vierfachen Wert der beim freien Fall durch die gleiche Höhe sich ergebenden Ostabweichung.

Abb. IV, 134. N a c h w e i s der Erdrotation

A u c h der Satz von der Erhaltung des Drehimpulses kann zum N a c h w e i s dar Erdrotation dienen. D e n k e n wir uns am N o r d p o l einen horizontalen Balken von der F o r m der Abb. IV, 134 mit zwei schweren Kugeln an seinen Enden an einem Stahldraht aufgehängt, s o wird dieser Balken die Erddrehung mit der

218

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Winkelgeschwindigkeit ω mitmachen. Er bildet mit der Erde ein einheitliches, in sich abgeschlossenes System. Ist das Trägheitsmoment des Balkens einschließlich der an seinen Enden befindlichen Kugeln J', und nennen wir das Trägheitsmoment der Erde J, so ist der Drehimpuls des gesamten Systems (Erde + Balken): (7 + J') at. Läßt man jetzt die beiden Kugeln nach dem Mittelpunkt des Balkens rollen, so wird dadurch das Trägheitsmoment des Balkens kleiner, es möge den Wert J" annehmen. Entsprechend nimmt der Drehimpuls des ganzen Systems den Wert {J + J") ω an und würde sich somit um den Wert (J' — J") ω ändern. Da aber der Drehimpuls des ganzen Systems konstant bleiben muß, erhält der Balken durch die Verschiebung der Kugeln zur Mitte einen zusätzlichen Drehimpuls von der Größe J" ω' in Richtung der Erdrotation, so daß sich der Balken mit der Winkelgeschwindigkeit ω' = (]' — J")\J" ω relativ zur Erde im gleichen Sinn wie diese dreht. Befindet sich die Anordnung nicht am Pol der Erde, sondern am Breitengrad φ, so tritt an Stelle von ω wieder der Ausdruck ω sin φ. Mit dieser von P o i n s o t angegebenen, I s o t o m e o g r a p h genannten Vorrichtung hat H a g e n in Rom 1919 die Erdrotation nachgewiesen. Eine ähnliche Anordnung, die auf dem gleichen Prinzip beruht, wurde 1949 von H. B u c k a angegeben. Um eine kurze horizontale Achse kann ein Stab in vertikaler Ebene geschwenkt werden (Abb. IV, 135). Dieser Stab befindet sich zu Beginn des Versuchs in einer horizontalen Lage. Er wird dann durch ein Gewicht an einem Ende in die vertikale Lage gedreht. Hierdurch wird das Trägheitsmoment verkleinert. Dadurch dreht sich die ganze Anordnung im Sinne der Erddrehung. Die Drehung kann mit Hilfe eines Lichtstrahles und Spiegels leicht beobachtet und gemessen werden. Ein vollkommen kräftefrei, ζ. B. in einer kardanischen Aufhängung befindlicher Kreisel hat das Bestreben, seine Impulsachse im Raum beizubehalten. Demzufolge dreht sich die Achse eines Kreisels relativ zur rotierenden Erde, ähnlich wie die Schwingungsebene des F o u c a u l t s c h e n Pendels. Als erster hat F o u c a u l t bereits 1878 mit dem sogenannten K r e i s e l g y r o s k o p derartige Versuche angestellt, die später von G i l b e r t 1883 und insbesondere von F ö p p l 1904 in verbesserter Form wiederholt wurden. Wir gehen zum Schluß dieses Abschnittes noch kurz auf eine Anwendung dieser Kreiseleigenschaft beim Kreiselkompaß ein. Theoretisch müßte ein vollkommen kräftefrei aufgehängter Kreisel seine einmal zum Sternenhimmel eingestellte Kreiselachse dauernd beibehalten, auch wenn sich die Aufhängevorrichtung in beliebiger Weise etwa auf einem fahrenden Schiff verdreht oder verschiebt. Damit aber der Kreiselkompaß auf der Erde immer nach Norden zeigt, haben A n s c h ü t z und K ä m p f e 1910 das Problem des Kreiselkompasses mit einem Kreisel gelöst, der so aufgehängt ist, daß er der Anziehungskraft der Erde unterliegt. Um die Wirkungsweise eines solchen Gerätes zu verstehen, betrachten wir einen in Abb. IV, 136 in der Äquatorebene der Erde aufgehängten Kreisel. Die Kreiselachse möge zunächst in der Stellung I horizontal und parallel zum Äquator liegen. Der Aufhängepunkt des Kreisels liegt über seinem Schwerpunkt, so daß der Kreisel dem Einfluß der Schwerkraft unterworfen

Abb.IV, 135. Nachweis der Erdrotation nach H. B u c k a

Abb. IV, 136. Prinzip des Kreiselkompasses

ist. Dreht sich die Erde um den Winkel α, so kommt der Kreisel in die Stellung II; dabei möge er zunächst die Richtung seiner Achse beibehalten. Nun versucht aber die im Schwerpunkt des Kreisels angreifende Schwerkraft G den Kreisel um die durch Α senkrecht zur Zeichenebene gehende Achse zu drehen, um den Schwerpunkt wieder unter den Unterstützungspunkt Α zu bringen. Diesem Drehmoment (in der Zeichenebene rechts herum) weicht der Kreisel durch eine Drehung um die ebenfalls durch Α gehende Achse Β in der eingezeichneten Richtung aus. Der Kreisel führt diese Drehung so lange aus, bis seine Achse in der Nord-Süd-Richtung steht. In dieser Richtung bleibt sie, auch wenn sich die Erde weiterdreht, da nur in dieser Stellung der Schwerpunkt des Kreisels unter seinem Aufhängepunkt liegt. Was wir hier für einen Kreisel am Äquator abgeleitet haben, gilt selbstverständ-

Reibung fester Körper

219

lieh auch für jeden anderen Punkt der Erde mit Ausnahme der Pole, wo der Kreiselkompaß ebenso wie die Magnetnadel versagt. Bei der technischen Ausführung des Kreiselkompasses dient als Kreiselkörper der Anker eines Drehstrommotors, der bei einem Durchmesser von 14,8 cm ein Trägheitsmoment von 136000 g cm2 und bei 20000 Umdrehungen/min einen Drehimpuls von 28 · 107 g cm2 see - 1 besitzt. Zur Herabsetzung der Lagerreibung bei der Aufhängung hängt das ganze Motorgehäuse an einem Schwimmer, der in einem Topf mit Quecksilber schwimmt. Der große Vorteil eines solchen Kreiselkompasses ist, daß er von der magnetischen Mißweisung frei ist und ferner auf Schiffen mit großen Eisenmassen benutzt werden kann. Auf die Korrekturen, die bei gewissen Schiffsbewegungen zu beachten sind, gehen wir hier, wo wir nur das Prinzip der Anordnung behandeln, nicht näher ein. 41. Reibung fester Körper Die bis hier aufgestellten und angewendeten Gesetze der Mechanik beziehen sich auf eine i d e a l i s i e r t e Natur. In Wirklichkeit zeigen sich auf der Erde — selbst bei allen experimentellen Vorsichtsmaßregeln — stets Abweichungen von ihnen. Einige Beispiele: Eine sich selbst überlassene Kugel, die sich auf spiegelnd glatter und horizontaler Unterlage bewegt und auf die keine Kräfte wirken, soll die Größe und Richtung ihrer Geschwindigkeit bewahren. Tatsächlich beobachtet man dies auf der Erde niemals. Man kann die betreffende Kugel zwar weitgehend vor allen äußeren Einwirkungen schützen, aber niemals vollständig. Stets kommt ein sich bewegender und sich selbst überlassener Körper zur Ruhe. Das Trägheitsgesetz ist also nicht eigentlich ein Erfahrungssatz im engen Sinne des Wortes, sondern eine Extrapolation auf eine idealisierte Wirklichkeit. — Das Energiegesetz verlangt, daß die Summe von kinetischer und potentieller Energie konstant bleibt: Ein einmal angestoßenes Pendel ζ. B. sollte unendlich lange Zeit Schwingungen ausführen. Und doch beobachtet man immer, daß es allmählich zur Ruhe kommt. Man kann zwar durch Verbesserung der Aufhängung des Pendels, durch Entfernung der Luft aus dem Raum, in dem es schwingt, und ähnliche Maßnahmen die Zahl der von ihm ausgeführten Schwingungen recht erheblich steigern. Aber es gelingt nie, die Schwingungen dauernd aufrechtzuerhalten. Wenn man trotzdem den Energiesatz ausspricht und seine Richtigkeit behauptet, so liegt auch hier wieder eine weitgehende Abstraktion gegenüber der Wirklichkeit auf der Erde vor. D i e E i n w i r k u n g e n , v o n d e n e n g r u n d s ä t z l i c h a b s t r a h i e r t w i r d , s i n d o f f e n b a r e n e r g i e v e r z e h r e n d e K r ä f t e . Aus Versuchen, in denen man sie w e i t g e h e n d eliminieren kann, schließt man auf den idealen Fall, in dem sie g a n z fehlen, und auf diesen Idealfall allein beziehen sich die Gesetze der Mechanik, die in den Kapiteln I und III aufgestellt wurden. In der Himmelsmechanik (ζ. B. Planetenbewegung um die Sonne) ist der Idealfall „praktisch" vorhanden, ebenso auch bei den Raumfahrzeugen, sofern sie sich ganz außerhalb der Erdatmosphäre bewegen. Im Atom liegt der Idealfall wirklich vor: Bei der Bewegung der Elektronen um den Kern nach dem B o h r sehen Atommodell. Von physikalischen Gesetzen verlangt man Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Es müssen daher zur „reinen" Mechanik Ergänzungen hinzutreten, die in der Berücksichtigung jener bisher ausgeschlossenen Wirkungen bestehen. Dies erweist sich in der Tat als möglich. Dadurch erst rechtfertigt sich unser Verfahren, zunächst das Problem weitgehend zu idealisieren und erst nach Gewinnung der Gesetze für diesen Idealfall die Korrekturen anzubringen, die die Wirklichkeit erfordert. f Galilei hat dieses Verfahren begründet, indem er beim freien Fall von den Einwirkungen der Luft auf die fallenden Körper, dem sogenannten „Luftwiderstand", abstrahierte. Nur unter dieser Voraussetzung gilt seine Behauptung, daß alle Körper gleich schnell fallen. Nur so war er aber auch imstande, die Gesetze des freien Falls zu finden und damit die Fundamente der „reinen Mechanik" zu legen. Nicht mit Unrecht behaupteten seine Gegner, die Tatsachen sprächen gegen Galilei; denn ein Stück Blei falle rascher als eine Flaumfeder. Aber diese Gegner hätten (und haben) die Mechanik auch nicht begründet. Daß Galilei erkannte, daß man von gewissen Nebenumständen absehen müsse und könne, ist ein Schritt von geradezu unermeßlicher Bedeutung für die gesamte Physik gewesen. Diese Ergänzungen zur reinen Mechanik, von denen hier die Rede ist, faßt man unter dem Begriff Reibung zusammen. Die Reibung kann durch eine Kraft beschrieben werden, welche die Bewegung zu hemmen sucht. Wirkt diese Reibungskraft längs eines bestimmten Weges, so geht

220

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

dem System Reibungsenergie verloren. Sie tritt überwiegend als Wärme auf. Heißlaufen von Bremsen, Erhitzen von in die Erdatmosphäre eintauchenden Meteoriten oder Satelliten, Funkenschlagen mit einem Feuerstein sind Beispiele für die Reibungswärme. Man unterscheidet die innere von der äußeren Reibung. Innere Reibung ist ein Energieverzehr bei Bewegung der Atome, bzw. der Moleküle eines Stoffes gegeneinander, ζ. B. bei Schallwellen in Gasen oder bei Strömungen innerhalb von Flüssigkeiten. Die äußere Reibung hingegen ist ein Energieverlust bei Bewegungen zweier verschiedener Körper relativ zueinander. Die Bewegung einer Kugel erfährt beispielsweise in Wasser einen Widerstand. Wird das Kugelmaterial vom Wasser benetzt, so adsorbiert die Kugel eine feste Wasserhaut, so daß sich nur die Wassermoleküle gegeneinander bewegen. Der Widerstand kommt also durch innere Reibung im Wasser zustande. Wird das Material jedoch nicht benetzt, indem die Kugel ζ. B. mit einer Fett- oder Paraffinschicht versehen ist, so können die Moleküle der Oberfläche der Kugel und die unmittelbar benachbarten Wassermoleküle eine Relativgeschwindigkeit besitzen, so daß äußere Reibung an der Grenzfläche auftritt. Die innere Reibung in Gasen und Flüssigkeiten wird im IV. Kapitel (Mechanik der Flüssigkeiten und Gase) eingehend behandelt. Hier soll jedoch jetzt die für praktische Anwendungen außerordentlich wichtige äußere Reibung zwischen zwei festen Körpern beschrieben werden. Man muß unterscheiden zwischen Haftreibung, Gleitreibung, Rollreibung und Bohrreibung. Für alle Arten ist die Rauhigkeit der Oberfläche von Bedeutung. Man betrachte vergrößert die Rauhigkeit einer spiegelnden Metalloberfläche (Abb. I, 15). Die Kurve erinnert an das Profil einer wilden, zerklüfteten Gebirgslandschaft! Ein solches Bild muß man stets vor Augen haben, wenn man die Reibung zwischen festen Körpern verstehen will. Dazu spielen auch noch die Anziehungskräfte zwischen den Molekülen eine Rolle.

υ

Abb. IV, 137. Anordnung zur Messung des Reibungswiderstandes

w Haftreibung. Zunächst ein einfacher Versuch (Abb. IV, 137), der schon von C o u l o m b gemacht wurde: Auf der waagerechten Unterlage U liegt der Körper K. Er wird von einer Kraft, nämlich dem Gewicht auf der Waagschale W, gezogen. Damit die Kraft parallel zur Unterlage wirkt, wird die Schnur über eine Rolle R geführt. Man kann die Waagschale, die selbst ein Gewicht hat, noch mit weiteren Gewichten belasten, ohne daß der Körper Κ in Bewegung gerät. (Nach der „reinen Mechanik" sollte schon das kleinste Gewicht genügen, um Κ in eine beschleunigte Bewegung zu bringen!) D a s g r ö ß t e G e w i c h t , d a s d e n K ö r p e r Κ g e r a d e n o c h n i c h t in B e w e g u n g v e r s e t z t , ist d i e Haftreibungskraft ( o d e r d e r s o g e n a n n t e Haftrc ibungswiderstand). Vergrößert man die Kraft, die der Körper Κ auf die Unterlage U ausübt, etwa durch Aufsetzen von Gewichten auf K, so steigt im gleichen Maß die Haftreibungskraft, die also proportional der „ N o r m a l k r a f t " ist. Stellt man dagegen den als Quader ausgebildeten Körper Κ auf seine verschieden großen Flächen, so ergibt sich, daß bei g l e i c h e m G e w i c h t die Reibungskraft u n a b h ä n g i g v o n d e r G r ö ß e d e r B e r ü h r u n g s f l ä c h e ist. Dieses seltsame Ergebnis erklärt sich sehr einfach dadurch, daß zwei im technischen Sinne e b e n e Flächen natürlich in Wirklichkeit keine ebenen Flächen sind. Sie berühren sich daher im allgemeinen nur in d r e i P u n k t e n , wie groß die Flächen auch seien. Nennt man Fh die durch die Gewichte einschließlich Waagschale gemessene Haftreibungskraft und Fn die vom Körper senkrecht auf die Unterlage ausgeübte Normalkraft, so erhält man als Versuchsergebnis, daß F// proportional Fn ist, also

Reibung fester Körper ( I V , 40)

FH =

221

ßHFN.

D i e Proportionalitätskonstante μ η — Fh/Fn hängt n u r von der A r t der beiden einander berührenden Stoffe ab u n d heißt Haftreibungszahl, μα ist eine Verhältnisgröße ( K r a f t / K r a f t ) , hat also die Dimension Eins. Die Haftreibungskraft Fh ist abhängig von der Normalkraft Fy und von der Haftreibungszahl μα, dagegen unabhängig von der Größe der Berührungsfläche. Die Haftreibungszahl μα ist bestimmt durch die Rauhigkeit und durch die Stoffarten der reibenden Flächen. Die Gleitreibung ist stets kleiner als die Haftreibung. U m sie zu messen, m u ß ein K r a f t messer (Federwaage) zwischen dem Seil und dem K ö r p e r Κ (Abb. IV, 137) eingebaut werden. D u r c h D e h n u n g der F e d e r steigt die K r a f t mit der Zeit an. Ist der Wert der H a f t r e i b u n g s k r a f t erreicht, wird der K ö r p e r beschleunigt, u n d die kleinere Gleitreibungskraft ist maßgebend. M a n erhält d a n n etwa den in A b b . IV, 138 gezeichneten Verlauf der K r a f t . Die Gleitreibung ist praktisch unabhängig von der Geschwindigkeit, mit welcher die reibenden Flächen sich relativ zueinander bewegen. (Sie n i m m t sogar etwas ab mit zunehmender Geschwindigkeit.) Sie ist ebenfalls — wie die H a f t r e i b u n g — abhängig von der N o r m a l k r a f t und u n a b h ä n g i g von der G r ö ß e der reibenden Fläche. So ergibt sich die analoge Beziehung f ü r die Gleitreibungskraft: (IV, 40a)

FGl =

ßGlFN.

Die Gleitreibungszahl μαι ist stets kleiner als die Haftreibungszahl μ α bei gleichen Stoffpaaren. Von besonderem Interesse ist folgendes: Die Gleitreibungskraft ist j a immer der wirkenden K r a f t entgegengerichtet. Sind beide K r ä f t e gleich, d a n n k a n n keine beschleunigte Bewegung entstehen. Eine Bewegung k a n n n u r eine konstante Geschwindigkeit haben, da die K r a f t von der Gleitreibungskraft gerade aufgezehrt wird und somit keine K r a f t f ü r die Beschleunigung übrigbleibt. In der Tabelle sind f ü r einige Stoffpaare die Werte der Reibungszahlen μα und μαι zusammengestellt. Sie sind n u r als Mittelwerte zu betrachten, da sie von der Beschaffenheit der Oberfläche, der umgebenden A t m o s p h ä r e , der genauen Zusammensetzung der Materialien, der geometrischen F o r m der Reibpartner, der Temperatur, also von den Betriebsbedingungen schlechthin abhängen. Schon m o n o m o l e k u l a r e Fremdschichten auf den Oberflächen k ö n n e n die Reibungszahlen wesentlich verändern. Stoffpaar

μα

μα

Stahl auf Stahl Stahl auf Messing Stahl auf Eis Leder auf Metall Messing auf H o l z Eichenholz auf Eichenholz parallel zu den Fasern . M a u e r w e r k auf Beton Bremsbelag auf Stahl Blockierter Autoreifen bei 50 k m / h auf G u ß a s p h a l t trocken naß Glatteis

0,15

0,10-0,05 0,18-0,29 0,014 0,4 0,6 0,48



0,027 0,6 0,62 0,58 0,76 -



-



0,45 0,8 0,5 0,05

Ein einfaches Verfahren zur Bestimmung der Reibungszahlen und μαι bietet auch die schiefe Ebene. R u h t entsprechend A b b . IV, 139 ein K ö r p e r Κ auf der unter dem Winkel oc geneigten Bahn einer schiefen Ebene, so k a n n m a n das vertikal nach unten gerichtete Gewicht G

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

222

F

H,FGI

Gleitreibungskraft fr,

Haftreibungskraft F„

Zeit

Abb. IV, 138. Die Behinderung einer Bewegung durch Reibungskräfte

Abb. IV, 139. Bestimmung der Reibungszahl

von Κ in die beiden Komponenten Ν = G cos α und Ρ = G sin rx zerlegen, von denen Ν die Normalkraft des Körpers auf die Bahnebene und Ρ die Kraft darstellt, die den Körper längs der schiefen Ebene entgegen der Haftreibungskraft FH = PH' Ν in Bewegung zu versetzen sucht. Vergrößert man nun allmählich den Winkel so lange, daß g e r a d e e b e n e i n e B e w e g u n g e i n t r i t t , so ist Ρ = FH oder G sin λ = /J.HG cos oc, woraus folgt: (IV, 41)

ii H = t a n a .

Man nennt diesen Winkel den Haftreibungswinkel. U m die Gleitreibungszahl μαι zu bestimmen, muß man nach eingetretener Bewegung sofort den Winkel oc verkleinern, und zwar soweit, daß der Körper gerade m i t k o n s t a n t e r Ges c h w i n d i g k e i t abwärts gleitet. Dann ist Ρ = FGI• Jetzt ist FGI die Gleitreibungskraft, also ist G s i n α!

=

μβιΰ

c o s ot,

und

(IV, 4 1 a )

jt C( = t a n a ' .

Die Gleitreibungszahl wird heute oft mit einer Stift-Walzen-Maschine nach Abb. IV, 140 gemessen. Die mit einer konstanten Winkelgeschwindigkeit ω rotierende Walze W mit dem Radius r drückt mit der Normalkraft N, die an ihrer Achse angreifen möge, gegen einen Stift von der Länge /. Dieser Stift ist der eine Schenkel eines Winkels, der in der Achse Α gelagert ist und dessen anderer Schenkel als Meßarm ausgebildet ist. Über diesem läßt sich ein Gewicht

! ° ι I 11

0

A

Φ ι

I

I llllllllllllllll 1 1'—A

Abb. IV, 140. Stift-Walzen-Maschine zur Messung der Gleitreibungszahl

0

verschieben. Die Walze gleitet mit der Geschwindigkeit a>r auf dem Stift. Dabei entsteht eine Reibungskraft R, also ein Drehmoment IR um A. Dieses Drehmoment wird durch Verschieben des Gewichtes G auf dem Meßarm ausgeglichen, wobei zwei Anschläge die seitliche Bewegung des Stiftes begrenzen. Bei Gleichheit der Drehmomente ist dann: IR =

und die Gleitreibungszahl ist:

1'G

Reibung fester Körper μα

'~Ν~1Ψ' _

R

_

G

l

223

'

ί*

Der Haftreibungswinkel α ist identisch mit dem sogenannten B ö s c h u n g s w i n k e l von lose aufgeschichteten Sandhaufen, Haufen von Getreidekörnern usw. Hierunter versteht man den Neigungswinkel (gegen die Horizontale) der Böschungsfläche, welche nach Eintritt des Gleichgewichtes eine derartige Substanz begrenzt. Man kann den Versuch leicht machen, indem man aus einem Trichter Sand auslaufen läßt. Unter ihm bildet sich ein Bergkegel, dessen Kegelwinkel nach Erreichen des Gleichgewichtes stets gleichbleibt, ebenso wie die Neigung der Böschungsfläche, wie hoch man auch den Berg aufschüttet. In der folgenden Tabelle sind die Böschungswinkel für einige Stoffe angegeben. Hierbei wird der Leser den wegen der Lawinengefahr so wichtigen Wert für Schnee vermissen. Die Werte streuen aber zu sehr, da wegen verschieden hohen Wassergehalts und wegen der Nähe des Gefrierpunktes die einzelnen Schneekristalle entweder lose aufeinanderliegen oder zusammengefroren sein können. Stoff Trockene Erbsen Hirsekörner Trockener Sand Braunkohle Viehsalz Gips

Böschungswinkel 28°

31° 34°

35° 39° 45°

Natürlich sind auch diese Zahlen rohe Näherungswerte, da die Gestalt und die Größe der Körner einen wesentlichen Einfluß haben. Die Abb. IV, 141 zeigt, wie sich der Unterschied zwischen Haft- und Gleitreibung nachweisen läßt. Ein glatter runder Eisenstab S ist in zwei Lagern Lx und L2 drehbar horizontal gelagert. An dem Eisenstab hängt an einem lose darübergreifenden Haken Η ein Gewicht G. An dem oberen Teil des Hakens ist eine Schnur befestigt, die parallel zum Eisenstab zu einer Rolle R führt, die die Schnur nach unten umlenkt. Das Ende der Schnur trägt eine Waagschale, auf die Gewichte G' aufgelegt werden können. Man wählt das Gewicht G' etwas kleiner, als der Haftreibungswiderstand des Hakens Η auf der Stange beträgt, so daß der Haken von dem Gewicht G' nicht nach der Seite bewegt wird. Dreht man jetzt den Stab S mit der am rechten Ende angebrachten Kurbel, so daß der Haken Η relativ zur Stange nicht mehr ruht, sondern gleitet, so rutscht der Haken mit seinem Gewicht G auf der Stange nach links. Die Haftreibung ist in die kleinere Gleitreibung übergegangen, die jetzt von dem Gewicht G' überwunden wird. Der Haken kommt auch dann nicht zur Ruhe, wenn die Drehbewegung der Stange aufhört, da G' größer ist als die Gleitreibung. Auch bei dem folgenden Versuch, den Schwerpunkt eines Stabes (Spazierstock oder dgl.) zu bestimmen, spielt die Reibung und im besonderen der Unterschied zwischen Haftreibung und gleitender Reibung die entscheidende Rolle. Man legt den Stock waagerecht auf die in einiger Entfernung gehaltenen Zeigefinger und versucht, diese einander zu nähern. Dabei stellt man fest, daß die Finger nicht gleichmäßig unter dem Stock entlang gleiten, sondern abwechselnd bald der eine, bald der andere. Dort,

\

\

6 Abb. IV, 142. Bestimmung des Schwerpunktes eines Stabes unter Benutzung der Reibung

\

'!

'r

\

4

224

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

wo die beiden Finger sich treffen, liegt der gesuchte Schwerpunkt des Stabes. Um diesen Vorgang zu verstehen, betrachten wir die Abb. IV, 142 in der 1 und 2 die beiden Finger bedeuten, auf denen der Stab A waagerecht aufliegt. Das nach unten ziehende Gewicht G des Stabes greift im Schwerpunkt S an; wir zerlegen unter Benutzung der früher erörterten Zusammensetzung zweier paralleler Kräfte die Kraft G in die beiden in 1 und 2 angreifenden Kräfte G\ und G2, wobei G1· G2 — G ist. Man findet, daß Gl < G2 ist, wenn entsprechend der Figur die Finger sich an den Enden des Stabes befinden. Infolgedessen ist auch die Reibung des Stabes auf dem Finger 1 kleiner als die auf 2, und bei dem Versuch, die Finger einander zu nähern, verschiebt sich 1 allein. Diese Verschiebung würde so lange vor sich gehen, bis G1 = G2 geworden ist, wenn nicht noch zu beachten wäre, daß wir bei 2 H a f t r e i b u n g , bei 1 dagegen die k l e i n e r e G l e i t r e i b u n g haben. Infolgedessen verschiebt sich der Finger 1 etwas weiter, bis G1 um so viel größer als G2 geworden ist, daß nunmehr die Gleitreibung bei 1 gleich der Haftreibung bei 2 ist. Ist nun aber 1 zur Ruhe gekommen, so herrscht in 1 und 2 Haftreibung, und nun ist sie rechts, bei 2, k l e i n e r geworden als links, bei 1. Nunmehr setzt sich daher 2 in Bewegung und das ganze Spiel wiederholt sich, wobei nur 1 und 2 vertauscht sind: In einer gewissen Stellung bleibt 2 wieder stehen, 1 setzt sich wieder in Bewegung und so fort, bis beide Finger sich im Schwerpunkt treffen. Dieser Versuch ist daher sehr geeignet, namentlich dem Anfänger den Unterschied zwischen Haft- und Gleitreibung nachdrücklich vor Augen zu führen. Setzt man nach Abb. IV, 143 zwei aus Holz hergestellte, schiefe Ebenen riit ihren Hypotenusenflächen aufeinander, so gleitet bei Belastung durch ein größeres Gewicht G die obeer an der unteren herunter. Beklebt man aber die Hypotenusenflächen mit Samt, so tritt infolge der Rauhigkeit eine so starke Verhakung beider Flächen miteinander ein, daß man die Anordnung mit Gewichten von 50 k p und mehr belasten kann, ohne daß eine Gleitung eintritt (Anwendung als in der H ö h e leicht verstellbarer Tisch).

Abb. IV, 143. Durch Anwendung der Haftreibung in der Höhe verstellbarer Tisch

Abb. IV, 144. Nachweis der Seilreibung

Ein um einen Pfosten geschlungenes Seil hält infolge der Reibung einen beträchtlichen Zug aus. Dabei wird der Reibungswiderstand durch Vergrößerung der Berührungsfläche zwischen Seil und Pfosten durch mehrmaliges Umschlingen vergrößert. Diese „ S e i l r e i b u n g " läßt sich anschaulich mit der Versuchsanordnung von Abb. IV, 144 zeigen. Eine bei Α unter Zwischenschaltung einer Spiralfeder F befestigte Schnur hängt über einem runden Stab S und trägt an dem anderen Ende eine Waagschale mit einem Gewicht. Dadurch wird die Feder F um eine an einer Teilung ablesbare Strecke gedehnt. Schlingt man zur Vergrößerung der Reibung die Schnur einmal vollkommen um den Stab S herum, so muß man das Gewicht auf der Waagschale um ein Vielfaches vergrößern, um die Feder um den gleichen Betrag zu dehnen. Auf der Anwendung der Gleitreibung beruht der von P r o n y (1822) angegebene Bremskraftmesser ( P r o n y s c h e r Zaum), der zur Messung der Leistung rotierender Maschinen dient. Bei diesem in Abb. IV, 145 a dargestellten Gerät befindet sich auf der Achse der Maschine ein Zylinder Z, gegen den von oben und unten zwei kreisförmig ausgeschnittene Bremsbacken B± und Bi mittels der Schrauben und S2 angepreßt werden können. An der oberen Bremsbacke ist ein Hebelarm Η angebracht, der an seinem Ende eine Waagschale trägt; der Hebelarm H ' mit dem verstellbaren Gewicht G' dient zum Ausbalancieren der Anordnung bei ruhender Achse. Zieht man bei rotierendem Zylinder Ζ die Klemmbacken mit den Schrauben Si und S2 an, so wird durch die Reibung die ganze Anordnung in dem eingezeichneten Drehsinn mitgenommen,

Reibung fester Körper

225

s o daß der H e b e l a r m Η an den A n s c h l a g N± k o m m t ; durch Aufsetzen v o n G e w i c h t e n G auf die W a a g s c h a l e läßt es sich erreichen, d a ß der H e b e l a r m frei zwischen den A n s c h l ä g e n N i u n d N 2 spielt. In diesem Fall ist der an d e m R a n d des Zylinders Ζ wirkende Reibungswiderstand R gleich der v o n der M a s c h i n e ebenfalls a m Zylinderrand ausgeübten Kraft Κ (s. A b b . IV, 145 b). S1

S.i

Abb. IV, 145. Bremskraftmesser: a) A n o r d n u n g ;

b) Zusammensetzung der K r ä f t e

N u n wird d e m D r e h m o m e n t Rr der Reibungskraft v o n d e m M o m e n t Gl des a m E n d e des Hebelarms / wirkenden G e w i c h t e s G das Gleichgewicht gehalten, s o daß gilt: Rr = Gl

oder

R = G— . r

D a aber R = Κ ist, folgt: K = G— . r D i e Leistung L der M a s c h i n e ist Arbeit/Zeit; a l s o Kraft · Weg/Zeit. Legt also der Zylindermantel in t S e k u n d e n die Strecke 5 zurück, s o ist: L_Ks_Gls

~

t ~

rt

M a c h t der Zylinder in der Sekunde η U m d r e h u n g e n , s o ist j = 2 πrnt u n d somit L=

2nnGl,

oder, w e n n wir mit Ν die Tourenzahl pro M i n u t e bezeichnen: L = ^ ^ G / = 0,105GWkpm/s, 60 w e n n wir G in k p und / in m angeben. Gleitende Reibung tritt auch überall dort auf, wo sich Achsen in gewöhnlichen Lagern drehen. U m die Lagerreibung, die einen unerwünschten Verlust von mechanischer Energie darstellt, möglichst zu vermindern, wendet man „ S c h m i e r m i t t e l " an, die man meistens in der F o r m von Öl oder Fett zwischen die aufeinander gleitenden Flächen bringt. Bei der Bewegung gleiten dann die an den beiden sich gegeneinander bewegenden K ö r p e r n haftenden Ölschichten aufeinander, und die Reibungszahl ζ. B. f ü r Schmiedeeisen auf Gußeisen sinkt dadurch von 0,2 auf etwa 0,06. Zu beachten ist, daß bei Anwendung eines Schmiermittels der Reibungswiderstand nicht mehr von der G r ö ß e der sich berührenden Flächen unabhängig ist, da es sich um die Reibung von F l ü s s i g k e i t s s c h i c h t e n handelt, die sich nicht nur in drei, sondern in allen Punkten berühren. Die Schmiermittelreibung gehört deshalb streng gen o m m e n nicht hierher, da ein hydrodynamischer Vorgang vorliegt. Es handelt sich dabei um die „ i n n e r e R e i b u n g " der Flüssigkeitsteilchen untereinander, da die Flüssigkeit an den Wänden der Achse und des Lagers fest haftet. Dies gilt in gleicher Weise auch f ü r Luftlager, also f ü r Lager mit Luft als Schmiermittel. Sie werden zunehmend verwendet und haben große Bedeutung. Bei ihnen bildet sich infolge sehr schneller Rotation eine dünne Luftschicht zwischen den festen Lagerteilen. Diese Luftschicht wird dadurch ständig aufrechterhalten, daß durch spiralförmige Kanäle immer neue Luft von außen nach innen geführt wird. Eine 15

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

226

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Schwierigkeit bestent aber darin, daß beim Beginn und Ende der Rotation nicht genügend Luft zugeführt werden kann und dann die festen Teile des Lagers, wenn auch unter Verwendung eines festen Schmiermittels wie Graphit, Molybdändisulfid oder Wolframdiselenid aufeinanderreiben. Auch sogenannte wartungsfreie Lager werden vielfach verwendet. Bei ihnen besteht ζ. B. das Lager aus einem porösen Sintermetall (Cu + 11% Sn), das mit Öl oder Fett getränkt ist oder Graphit enthält. Ein weiteres Schmieren ist nicht notwendig. Oder die Achse besteht aus einem geeigneten Kunststoff. Dieser hat einerseits eine sehr kleine Gleitreibungszahl mit dem Lagermaterial, andererseits aber auch eine geringe Härte. So bestehen die unvermeidbaren kleinen Späne aus diesem weichen Kunststoff und stören nicht, sondern schmieren sogar noch, jedoch immer unter Mitwirkung eines größeren Vorrats an Fett oder an anderen schmierfähigen Stoffen wie Graphit, Wolframdiselenid, Molybdändisulfid u. a. Beim Skifahren verwendet man Kunstgriffe, um die Reibung zwischen Ski und Schnee besonders klein zu machen. Die Skier werden gelackt, gewachst oder mit einem Kunststoff belegt, da die Gleitreibungszahlen dieser Materialien gegen Schnee klein sind. Sie hängen eng mit der Benetzbarkeit für Wasser zusammen. Die Belastung läßt den Schnee in einzelnen kleinen Kontaktflächen schmelzen, so daß man auf einem Wasserfilm zu Tal fährt. Je stärker der Kunststoff das Wasser abstößt, je größer also der Benetzungswinkel (vgl. Nr. 70) des Materials ist, desto mehr tritt die innere Reibung des Wassers zugunsten der kleineren äußeren Reibung zwischen Kunststoff und Wasser zurück. In folgender Tabelle sind die Reibungszahlen bei — 5 °C und kleinen Geschwindigkeiten (einige km/h) einiger Materialien zusammen mit den Benetzungswinkeln aufgetragen. Reibpartner auf Schnee bei — 5 °C blankes Aluminium Polymethylmethacrylat Nylon Lacke, Wachse Polytetrafluoräthylen

μαι 0,35 0,30 0,28 ^0,1 0,04

Benetzungswinkel (°) 0 0 0 =«60 126

Während die Gleitreibung im allgemeinen eine lästige Nebenerscheinung ist (Lagerreibung), ist die Haftreibung jedoch von grundsätzlicher Bedeutung. Sie tritt im täglichen Leben so oft in Erscheinung, daß sie meist als Selbstverständlichkeit gar nicht beachtet wird, zumal man sie seit den ältesten Zeiten ausnutzt: Die dünnen und kurzen Fasern der Wolle und Baumwolle werden zu langen Fäden versponnen und durch die Haftreibung zusammengehalten. Unsere Kleidung ist aus solchen Fäden gewebt und gewirkt und fällt nur wegen der bestehenden Haftreibung nicht auseinander. Auch beim Knoten und beim Nagel in der Wand wird die Reibung ausgenutzt. Ohne die Reibung unseres Fußes auf dem Erdboden, der Räder auf den Straßen und Schienen usw. ist eine Fortbewegung nicht möglich. Man denke nur an Glatteis! Wer jemals versucht hat, aus dem Wasser in ein kleines Schlauchboot zu steigen, dessen Seite sich neigt, auf die man sich stützen will, kann den Raumfahrer verstehen, der in seine Kapsel zurückkehren will und dem keine Reibung hilft.

Abb. IV, 146. Zur Erklärung der rollenden Reibung (Die Normalkraft TV ist aus Gründen der Übersichtlichkeit außerhalb des Zylinders, also nicht im Schwerpunkt S angreifend, gezeichnet) Rollreibung. Diese liegt vor, wenn ein runder Körper, ζ. B. ein Rad oder eine Walze, auf der Unterlage abrollt. In Abb. IV, 146 ist der Querschnitt eines auf der schiefen Ebene U liegenden Zylinders Ζ gezeichnet, an dessen Achse (im Schwerpunkt S) die Schwerkraft G angreift. Der Winkel der schiefen Ebene sei Damit ist der Kompressionsmodul Κ durch Ε und μ ausgedrückt; für die Kompressibilität l/K ergibt sich also: _ 3(1 - 2μ) (V, 16) K~ Ε Die meisten A"-Bestimmungen fester Körper sind so auf indirektem Wege gemacht worden: Sie wurden aus Ε und μ berechnet. Die gewonnenen Zahlenwerte sind in der Tabelle angegeben. Eine weitere Beziehung besteht zwischen E, G und μ. Wir betrachten wieder den Würfel der Abb. V, 6 von der Kantenlänge a, auf dessen oberer Fläche a2 eine tangentiale Kraft F wirkt, während die Grundfläche festgehalten wird; die Schubspannung τ ist gleich F/α 2 ; diese bewirkt wie in Abb. V, 6 eine Scherung, d. h., die beiden parallel der Zeichenebene liegenden Quadrate werden Parallelogramme. In Abb. V, 12 zeigen wir nur die Vorderfläche des Würfels im unverzerrten und verzerrten Zustande. Es ist dann gemäß Gl. (V, 4): α = τ IG. Die ursprünglichen Diagonalen AD und BC werden durch diese Verzerrung übergeführt in die neuen AD' und BC', von denen die erstere verlängert und die letztere verkürzt ist. Sie schneiden sich zwar immer noch unter einem rechten Winkel, aber der rechte Winkel BAC ist übergegangen in Winkel ΒAC' = π/2 — α, und da dieser Winkel durch die Diagonale AD' halbiert wird, wird der Winkel BAD' = π/4 — α/2, wie in Abb. V, 12 eingetragen; der entsprechende Winkel bei Β ist C'BA — π/4 + α/2. Die Schubspannung r herrscht nun in jedem Punkte des Würfelinneren, und wir wollen diejenige, die in den Punkten der in der Abb. V, 12 zu C'B verkürzten Diagonalfläche herrscht, in zwei Komponenten, parallel und senkrecht zur Diagonalfläche zerlegen; beide Komponenten sind bei geringen Scherungen gleich r y2, da r einen Winkel von 45° mit der Diagonale bildet. Um nun die Schubspannungen parallel den beiden Diagonalflächen zu finden, müssen wir noch berücksichtigen, daß die Flächen, die von je einer der Diagonale und zwei Seitenkanten des Würfels gebildet sind, nicht gleich a 2 , sondern a 2 y2 sind; also sind die Ausdrücke { noch durch V2 zu dividieren, was also schließlich τ/2 ergibt. Längs der Diagonale AD wirkt also die Z u g s p a n n u n g τ/2, sie v e r g r ö ß e r n d , längs der Diagonale BC die D r u c k s p a n n u n g τ/2, sie v e r k l e i n e r n d . Die Verlängerung von AD in AD' kommt nun zum Teil durch den parallelen Zug τ/2, zum Teil durch den senkrechten Druck τ/2 zustande; das liefert, genauso berechnet wie schon vorher in dieser Nummer: AD' = α\ΐ\\

+|(1

(V, 17) BC' = αV2 11 — ^ (1 16a"

+μ)}·

244

Elastizität der festen Körper D'

/\ / - ν

X \

/

^ V ' ' "al

7 y

\

Abb. V, 12. Zur Ableitung der Beziehung: —— = 1 + μ 2G

Die eine Diagonale wird also um ebensoviel verlängert, wie die andere verkürzt. Was wir hier gemacht haben, ist einfach eine andere Auffassung der Wirkung der Schubspannung τ, die parallel der Fläche CD wirkt: Statt zu sagen, τ deformiere das Quadrat ABDC in das Parallelogramm ABD'C', wobei der ursprünglich rechte Winkel bei Α in π/2 — α übergeht, können wir auch sagen, daß die beiden Diagonalen in der durch (V, 17) angegebenen Weise verlängert bzw. verkürzt werden. Nun ist im Dreieck AO Β : ay2 1 - J(1 ta"

4 " 2

=

ayz

+μ)

1 + ^ ( 1 +/0 Ε

ι - | ( i

+μ)

ι

+μ)

Berücksichtigt man nun, daß α/2 und τ (1 + μ ) ! Ε kleine Größen sind, so kann man schreiben: α π - tan 4~ π a tan . tan 4 2

π α tan - — I = •

1



] 1-

α;

11 + ^Γ 2

(1 += i;sin , 0η i = y .

r^ucosy,

0^ =

y

π

'

d. h. die Stoßpartner schließen nach dem Stoß immer einen Winkel von 90° ein. Man sieht außerdem, daß beim zentralen Stoß (•&= π) V2 = 2 mij(mi + W2) · t> einen Maximalwert annimmt. Hieraus ergibt sich für die größte Energie, die auf das zunächst ruhende Teilchen übertragen werden kann: _^2v2max_

t2max_

2

4m1m2

~(ml + m2)2

P

'

Dynamische Betrachtung des Stoßes Durch die punktmechanische Beschreibung von Stoßvorgängen ist nur eine Aussage über die Ä n d e r u n g d e s B e w e g u n g s z u s t a n d e s v o r u n d n a c h dem Zusammenstoß möglich. In Wirklichkeit sind die einzelnen Volumenelemente nicht starr miteinander verbunden. So breitet sich die Störung, die an der Berührungsstelle entsteht, in das Innere des Körpers mit einer bestimmten Geschwindigkeit aus. Durch Reflexionen an den begrenzenden Oberflächen treten Eigenschwingungen und stehende Wellen auf. Das bedeutet, daß nicht alle Teile der kollidierenden Körper in gleicher Weise den Krafteinwirkungen durch den Stoß ausgesetzt sind. Diese lokalen, plötzlichen Deformationen und Spannungszustände lassen sich nicht mit dem Modell des starren Körpers beschreiben, sondern müssen vom Standpunkt der elastischen Wellenausbreitung behandelt werden. Voraussetzung für eine exakte mathematische Lösung des Problems ist allerdings, daß die Körper eine einfache geometrische Form besitzen. Der Stoßvorgang läßt sich entweder als Longitudinal-, Transversal- oder Torsionswelle beschreiben, je nachdem, welche der drei erzeugten Wellentypen in ihrer Amplitude dominiert. Hierdurch lassen sich nun auch die Energiedifferenzen erfassen, die durch lokale Kontaktdeformationen und Schwingungszustände entstehen. Der Einfluß der Schwingungen kann selbstverständlich vernachlässigt werden, wenn die Zeit, in der die Stoßkraft wirkt, also die Stoßdauer, groß ist im Vergleich zur Periodendauer der tiefsten Eigenfrequenz der beiden Körper. In diesem Fall sind während des Stoßvorganges bereits Reflexionen der Wellen an den Begrenzungen aufgetreten. Man kann den Zustand des Körpers als im Gleichgewicht befindlich ansehen, so daß ζ. B. für den Fall des Stoßes zweier Kugeln mit geringen Kollisionsgeschwindigkeiten die punktmechanische Betrachtung eine genügende Beschreibung des Vorgangs erlaubt. Der Quotient von Schwingungs- und Gesamtenergie während der Kollision läßt sich zu etwa v/50 · c angeben, wobei υ die Stoßgeschwindigkeit und c die Schallgeschwindigkeit ist. Diese ist wiederum c = \'E\q. Hierbei ist Ε der Elastizitätsmodul und ρ die Dichte. Auf der anderen Seite wird beim Stoß von Körpern, deren Eigenfrequenz sehr tief liegt, eine beträchtliche Energie in Schwingungsenergie umgewandelt. Derartige Objekte sind gekenn-

262

Elastizität der festen Körper

zeichnet durch ein hohes Verhältnis von Oberfläche zu Volumen, wie es etwa für den Fall stabförmiger Körper gilt. Erstmals stellte de S a i n t V e n a n t 1867 eine Theorie für den Stoß zweier stabförmiger Körper auf. Er vertrat die Meinung, daß die Gesamtdauer der Kollision durch die Zeit bestimmt ist, die eine elastische Druckwelle benötigt, um den Körper zu durcheilen und nach erfolgter Reflexion zurückzukehren. Die Geschwindigkeit einer solchen elastischen Kompressionswelle beträgt bei Metallen etwa 103 m/s. Für Zusammenstöße von Körpern, die senkrecht zur Stoßrichtung, also in Richtung der Normalen des Stoßes nur einige Zentimeter dick sind, würde so die Stoßdauer nach de S a i n t V e n a n t nur einige Mikrosekunden betragen, was im Widerspruch zu gemessenen Stoßzeiten derartiger Körper steht (ms). Zum anderen sind auch die Bedingungen, unter denen diese schwingungstheoretischen Betrachtungen durchgeführt werden, meist nicht realisierbar. So gibt es keine ideal glatte und ebene Oberfläche in der Normalen zur Richtung der relativen Kollisionsgeschwindigkeit, denn jede Oberfläche enthält mikroskopische Oberflächenrauhigkeiten. Elastostatische Betrachtung des Stoßes (H. Hertz) Da die meisten Körper durch eine nichtebene Oberfläche begrenzt sind, ist damit bereits der schwingungsmäßigen Betrachtung eine Grenze gesetzt. Einen ähnlichen Störungsanteil rufen die lokalen Deformationen hervor, die an der Berührungsstelle einen beträchtlichen Anteil der kinetischen Energie verbrauchen. Daher hat sich gezeigt, daß die Anwendung der Theorie der lokalen Berührungsdeformationen — H e r t z 1881 — trotz der elastostatischen Natur ihrer Herleitung eine umfassendere Lösung ermöglicht. Diese Lösung ist in Form einer Potentialverteilung gegeben, welche Spannung und Deformation in der Umgebung der Berührungsstelle als eine Funktion der geometrischen und elastischen Eigenschaften der zur Berührung gelangenden Körper beschreibt. Solange die Verformungen ideal elastisch sind, erlaubt die Hertzsche Theorie eine gute Beschreibung der Stoßvorgänge für eine große Anzahl von Stoßparametern. Für die Beschreibung des Stoßvorganges benutzte H e r t z eine Kraft-Deformations-Beziehung, welche er aus der statischen Kompression zweier isotroper, elastischer Körper mit idealen Oberflächeneigenschaften ableitete. Hierbei wurde vorausgesetzt, daß die in der Theorie der Härte aufgestellte Relation zwischen Preßkraft und Abplattung auch für den dynamischen Fall, d. h. für die während eines Stoßvorganges auftretenden Stoßkräfte anwendbar ist. Dies gilt für den Fall, daß die Stoßdauer groß gegenüber der Zeit ist, die die durch den Stoß hervorgerufenen elastischen Kompressionswellen benötigen, um die Körper in ihrer ganzen Ausdehnung zu durchlaufen. Der Zusammenhang zwischen Preßkraft F und Abplattung ξ ist gegeben durch: I=cf2/3 . Hierin ist

(Ri und Ri sind die Radien der kollidierenden Kugeln, μι und ,«2 = die Poisson-Zahlen, Gl, Gi = die Schubmoduln des Kugelmaterials). Die Bewegungsgleichungen mit Fit) als Stoßkraft lauten dann: m1^=~F(t)·, Daraus folgt: d2 j 7 i ( x I ~x2) —

m

2

f e = F(i).

263

Stoßgesetze

Ersetzt man die Differenz der Geschwindigkeiten der Körperschwerpunkte djdt {χι — χ·ζ) durch die Abplattungsgeschwindigkeit ξ und integriert, dann folgt aus den entsprechenden Anfangsbedingungen für die Maximaldeformation (f = 0):

4

m1 + m2J

v 1

2/

mit i>i — V2 = ξ (£ = 0). Für die maximale Stoßkraft ergibt sich dann:

Als Beispiel soll nun der Stoß einer Kugel der Masse m gegen eine zweite ruhende Kugel der gleichen Masse beschrieben werden. Es soll sich um einen geraden zentralen Stoß handeln. Die technischen Daten sind: Radius der Kugeln R— 5 cm, P o i s s o n - Z a h l μ = 0,3; Schubmodul G = 0,81 · 106 kp/m 2 ; Gewicht G = 4,0956 kp. Es ergeben sich die in Abb. V, 29 dargestellten maximalen Beschleunigungen in Abhängigkeit von der Kollisionsgeschwindigkeit.

ν [cm/s] Abb. V, 29. Stoßzeit und maximale Stoßkraft als Funktion der Stoßgeschwindigkeit bei der Kollision zweier Stahlkugeln; die gestoßene Kugel ruhte vor dem Stoß. Daten im Text

Wie die Abb. V, 29 zeigt, ergibt sich eine gute Übereinstimmung von berechneten und gemessenen Werten. Zur Messung der maximalen Stoßbeschleunigung wurde an der ruhenden Kugel gegenüber der Berührungsstelle ein elektrischer Beschleunigungsmesser befestigt. (Dieses Gerät beruht auf der Anwendung des piezoelektrischen Effektes, bei dem an den Enden eines bipolaren Kristalls eine elektrische Spannung auftritt, die der einwirkenden Kraft, bzw. bei bekannter Masse der Beschleunigung, proportional ist.) Zur Überprüfung der Hertzschen Theorie hinsichtlich der Aussagen über die Stoßdauer wurden Oszillogramme (Abb. V, 30) des zeitlichen Verlaufs der Stoßbeschleunigung ausgewertet. Nach H e r t z beträgt der Zusammenhang zwischen Stoßdauer und Kollisionsgeschwindigkeit : Τ = 2,94|/^———(

m

i

'

m 2

V = 7 , 4 8 - 1 0 " 4 ·ι>~ 1/5 .

264

Elastizität der festen Körper

V Abb. V, 30. Oszillogramm des zeitlichen Verlaufs der Stoßkraft beim geraden zentralen Stoß zweier Stahlkugeln. Man beachte die periodischen Überlagerungen der Kurve, die auf die elastischen Eigenschwingungen der Kugel zurückzuführen sind. 1 cm auf der Abszisse entspricht 10~4 s. ν = 21,40 cm/s; Τ = 4,05 · 10" 4 s; F m a x = 403 kp Die gemessenen und berechneten Werte sind im D i a g r a m m dargestellt. Die auf den Osziliog r a m m e n des Beschleunigungsverlaufs sichtbaren Oberwellen sind auf Eigenschwingungen zurückzuführen. Bemerkenswert ist, d a ß die Periodendauer der Eigenschwingung wesentlich kleiner ist als die Stoßdauer und somit die a n f a n g s aufgestellte Bedingung f ü r einen stationären Schwingungszustand erfüllt ist. A u ß e r d e m zeigt sich, d a ß wegen der kleinen A m p l i t u d e der entsprechende energetische Anteil der Eigenschwingungen vernachlässigbar klein ist. D a s hier vorliegende Problem der Berührung elastischer K ö r p e r hat Η . Η e r t ζ gelöst; u n d in seiner Arbeit sind die oben aufgeworfenen Fragen beantwortet. Zwei von ihm ausgerechnete Fälle mögen die G r ö ß e der Stoßdauer u n d den R a d i u s des Berührungskreises zeigen. Stoßen zwei Stahlkugeln von 2,5 cm R a d i u s mit gleichen Geschwindigkeiten i>i = V2 = 1 cm/s aufeinander, so h a t die Stoßdauer den Wert 0,00038 s, der R a d i u s des Berührungskreises ist gleich 0,13 m m . H ä t t e m a n dagegen zwei Stahlkugeln von der G r ö ß e der Erde, die mit der gleichen Geschwindigkeit aufeinander stießen, so würde die Stoßdauer 27 Stunden (!) betragen, während der R a d i u s der Berührungsfläche 32 k m wäre. Aufgaben V, 1 Darf ein Marmorblock mit den Abmessungen Länge / = 100 cm, Breite b = 160 cm, Höhe h = 120 cm und von der Dichte 2,7 g/cm 3 mit einem Stahlseil (Zerreißfestigkeit 200kp/mm 2 vom Querschnitt A = 1 cm 2 gehoben werden? V, 2 Könnte ein Stahlkabel vom Schiff aus im Meer bis zu einer Tiefe von 9000 m hängen, ohne zu zerreißen? V, 3 Ein Stahlstab von 20 cm Länge, 6 mm Breite, 0,5 mm Höhe wird einseitig eingespannt und am freien Ende mit einem Pfennigstück (2 g) belastet. Die Senkung s beträgt 4 mm. Es ist der Elastizitätsmodul Ε zu bestimmen. V, 4 Wie groß ist die Senkung s' des Stabes der vorangehenden Aufgabe bei gleicher Belastung, wenn der Stab hochkant gestellt ist? V, 5 Ein Platindraht von der Länge / = 10 m und dem Querschnitt von 5 mm 2 wird mit einem Gewicht von 10 kp belastet. Wie groß ist die Verlängerung? V, 6 Welche Kraft ist erforderlich, um einen Aluminiumwürfel von 10 cm Kantenlänge zum Fließen zu bringen? V, 7 Ein Auto der Masse mi = 1200 kg fährt mit der Geschwindigkeit von 108 km/h von hinten auf ein anderes Auto der Masse m2 = 600 kg auf, das eine Geschwindigkeit von 36 km/h hat. Die Wagen verhängen sich mit den Stoßstangen. Mit welcher gemeinsamen Geschwindigkeit bewegen sich die Autos nach dem Stoß?

VI. K a p i t e l

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase 48. Allgemeine Beschreibung des flüssigen und des gasförmigen Aggregatzustandes Die Flüssigkeiten unterscheiden sich von festen K ö r p e r n dadurch, d a ß ihre einzelnen Moleküle keine feste, einander zugeordnete Lage besitzen, sondern sich relativ frei gegeneinander verschieben können. Die Folge davon ist, daß eine Flüssigkeit keine bestimmte Gestalt besitzt, sondern stets die F o r m des Behälters annimmt, in dem sie sich befindet. M a n kann dies auch folgendermaßen ausdrücken: D i e F l ü s s i g k e i t b e s i t z t i m G e g e n s a t z z u m f e s t e n Körper keine Gestaltselastizität. Nur in dem besonderen Fall, daß es sich um sehr kleine Flüssigkeitsmengen handelt, nehmen diese Kugelgestalt an, scheinbar im Gegensatz zu dem Gesagten. In Nr. 69 wird gezeigt, daß in diesem Fall Oberflächenkräfte (die sogenannte Oberflächenspannung) wirksam sind, unter deren Einfluß die Flüssigkeit die Gestalt einer Kugel annimmt. Bei großen Flüssigkeitsmengen spielen diese Kräfte keine Rolle, weil dann die Oberfläche gegenüber dem Volumen zurücktritt. Bei kleinen Mengen aber ist es gerade umgekehrt: Dann überwiegen die Wirkungen, die von der Oberfläche ausgehen. I m Gegensatz zu den Flüssigkeiten haben die Gase das Bestreben, jeden ihnen gebotenen noch so großen R a u m vollkommen auszufüllen. I m gasförmigen Zustand sind die Anziehungskräfte zwischen den einzelnen Molekülen äußerst klein. D a s zeigt ζ. B. die Tatsache, d a ß man ausströmendes Leuchtgas schon nach kurzer Zeit an einer weit entfernten Stelle des R a u m e s durch den Geruch wahrnehmen k a n n . Die Abstände zwischen den einzelnen Molekülen des Gases sind infolge der kleinen Anziehungskräfte sehr viel größer als die der Flüssigkeitsmoleküle; demzufolge haben alle Gase eine viel kleinere Dichte als Flüssigkeiten: Sie beträgt nur etwa Viooo der Dichte des Wassers. Ebenso wie bei festen K ö r p e r n sind auch bei Flüssigkeiten u n d Gasen die Moleküle keineswegs in Ruhe, sondern führen eine lebhafte Bewegung aus, die durch die in dem betreffenden K ö r p e r herrschende Temperatur bestimmt ist. Im flüssigen u n d gasförmigen Zustand führen aber die Moleküle keine schwingende Bewegung u m eine feste Ruhelage aus wie beim festen K ö r p e r . Sie bewegen sich in einer gänzlich ungeordneten Zickzackbewegung, da sie mit benachbarten Teilchen immer wieder zusammenstoßen u n d entsprechend den Stoßgesetzen aus ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt werden. Diese Bewegung wirkt den Anziehungskräften der Flüssigkeits- und Gasmoleküle entgegen. D a bei den Gasen diese K r ä f t e sehr klein sind, reichen sie im allgemeinen nicht aus, u m diese Bewegungen merklich zu beeinflussen; jedes Gasmolekül bewegt sich daher zwischen den Zusammenstößen mit anderen Molekülen im wesentlichen frei und unabhängig von den übrigen. Darauf beruht der Expansionsdrang der Gase, d. h. die Fähigkeit, jedes Volumen völlig auszufüllen. Bei den Flüssigkeiten sind die Bewegungen nicht vollkommen frei, da die molekularen K r ä f t e merklich größer sind; auch ist die Gestalt der Moleküle von erheblichem Einfluß. D a h e r bleibt bei Flüssigkeiten einerseits das Volumen gewahrt, während anderseits die gleichzeitig vorhandene Beweglichkeit die Anpassung an jede Gefäßgestalt ermöglicht. D a ß solche Bewegungen der Moleküle in Flüssigkeiten und Gasen existieren, wird experimentell durch die sogenannte B r o w n sehe Molekularbewegung gezeigt, eine 1827 von dem Botaniker B r o w n entdeckte Erscheinung. Wenn man in einen Tropfen Wasser kleine Teilchen eines nicht löslichen Farbstoffes oder eines Stoffes mit hoher Brechzahl, ζ. B. Rutil (T1O2),

266

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

suspendiert, so beobachtet man unter dem Mikroskop bei etwa 500facher Vergrößerung, d a ß sie in lebhafter, zitternder Bewegung auf ganz unregelmäßigen, zickzackförmigen Bahnen sich befinden. Dadurch, d a ß die Wassermoleküle, die wir wegen ihrer Kleinheit einzeln nicht sehen können, regellos auf die in der Flüssigkeit befindlichen Partikel stoßen, überwiegt ihre Stoßkraft bald in der einen, bald in der anderen Richtung u n d erzeugt so die beobachtete regellose Hinund Herbewegung der Teilchen. Je kleiner sie sind, u m so schneller bewegen sie sich u n d geben uns indirekt dadurch ein Bild von der eigentlichen Molekularbewegung. Auch an Rauchoder Staubteilchen in Gasen läßt sich diese B r o w n sehe Bewegung beobachten, u n d zwar mit sehr viel kleinerer optischer Vergrößerung, da die Gasteilchen infolge ihrer großen gegenseitigen Abstände die Bewegungen der Staubteilchen weniger behindern. Bei Betrachtung verschiedener Flüssigkeiten, ζ. B. von Wasser und Öl, fällt auf, daß die „Beweglichkeit", d. h. ihr Reagieren auf äußere Krafteinwirkung ganz verschieden ist. Wir sprechen von „dünnflüssigem" Wasser und „zähflüssigem" Öl. Im ersten Fall genügt bereits eine sehr kleine K r a f t , um die F o r m der Wassermenge zu verändern, im zweiten Fall m u ß sie größer sein. Diese Erscheinung erklärt sich durch die verschiedene G r ö ß e der Molekularkräfte; jede Flüssigkeit hat eine sogenannte innere Reibung oder Zähigkeit. Im folgenden wollen wir eine solche Flüssigkeit voraussetzen, die k e i n e i n n e r e R e i b u n g besitzt, und die wir deshalb als „ideale" Flüssigkeit bezeichnen; bei r u h e n d e n Flüssigkeiten machen sich diese K r ä f t e ohnehin nicht bemerkbar. Wir wollen weiterhin annehmen, daß die Flüssigkeit i n k o m p r e s s i b e l sei, d. h. ihr Volumen unter der Einwirkung von äußeren Kräften sich nicht verändert. Dies ist zwar nicht streng erfüllt: Auch die Flüssigkeiten sind elastisch; doch ist ihre Zusammen drückbarkeit nur klein, so daß man sie in vielen Fällen vernachlässigen kann. Die idealisierende A n n a h m e der Inkompressibilität ist natürlich in der gleichen Absicht gemacht, wie die Bildung des Begriffes „starrer K ö r p e r " , nämlich u m die Behandlung der Erscheinungen zu vereinfachen. Im Gegensatz zu den Flüssigkeiten sind alle Gase leicht zusammendrückbar. Sie besitzen eine große Kompressibilität. Dagegen ist die innere Reibung bei Gasen etwa 100 mal kleiner als bei Flüssigkeiten, so daß m a n bei Gasen von der inneren Reibung zunächst vollkommen absehen k a n n .

49. Verteilung des Druckes in schwerelos gedachten Flüssigkeiten und Gasen Wir denken uns in einem beliebig geformten, allseitig geschlossenen G e f ä ß eine Flüssigkeit und setzen zunächst voraus, daß sie der Schwerkraft nicht unterworfen sei. D a s G e f ä ß (Abb. VI, 1) habe an zwei beliebig gelegenen Stellen zwei Rohransätze mit leicht verschiebbaren Stempeln S i und 5*2 von verschiedenem Querschnitt A\ u n d Auf den Stempel Si wirke eine K r a f t F\\ daher unterliegt die Flüssigkeitsoberfläche an dem Stempel dem D r u c k pi = Fi/Αι; nach dem Reaktionsprinzip drückt die Flüssigkeit mit dem gleichen D r u c k u n d der gleichen K r a f t gegen

Abb. VI, 1. Zur Druckverteilung in einer schwerelos gedachten Flüssigkeit den Stempel. Wird dieser u m die Strecke si in die Flüssigkeit hinein verschoben, so wird dadurch das Flüssigkeitsvolumen s\A\ verdrängt und dabei die Arbeit F j i i geleistet. D a die Flüssigkeit als nicht zusammendrückbar vorausgesetzt ist, wird der Stempel Sz von der Flüssigkeit durch eine K r a f t u m die Strecke .52 nach außen verschoben, wobei $2^2 = siA\ sein m u ß .

Verteilung des Druckes in Flüssigkeiten und Gasen

267

Da die am Stempel Si geleistete Arbeit nach dem Energiesatz nicht verlorengehen kann, muß Fiii = F2S2, also FijΑι = F2IA2 sein. Nun ist aber F2IA2 = P2 der von der Flüssigkeit auf den Stempel S2 ausgeübte Druck. Es ist demnach pi = P2, d. h. der Druck, den der Stempel Si gegen die Flüssigkeit ausübt, ist gleich dem Druck, mit dem die Flüssigkeit gegen den Stempel S2 wirkt. Was für den Stempel Sz gezeigt wurde, gilt natürlich auch für jede andere Stelle der Gefäßwandung und ebenso für jede Fläche eines in die Flüssigkeit gebrachten Körpers. Es gilt damit der von P a s c a l 1659 aufgestellte Satz: Ein auf eine Flüssigkeit ausgeübter Druck verteilt sich durch die ganze Flüssigkeit nach allen Seiten mit gleicher Stärke. Oder: Im Innern sowie an den Grenzflächen einer äußeren Kräften nicht unterworfenen ruhenden Flüssigkeit herrscht überall der gleiche Druck. Man nennt ihn den hydrostatischen Druck. Dieser übt auf jede mit der Flüssigkeit in Berührung befindliche Fläche in senkrechter Richtung eine Kraft aus, die der Größe der gedrückten Fläche direkt proportional ist. Kraft F Druck ρ = — Fläche A Es geht aus dieser Darlegung hervor, daß der Druck eine s p e z i e l l e F o r m d e r e l a s t i s c h e n S p a n n u n g e n ist, die den Flüssigkeiten und Gasen eigentümlich ist: In einer idealen (reibungslosen) Flüssigkeit existieren nur Normalspannungen, eben der Druck. Anders ist es in einer z ä h e n F l ü s s i g k e i t ; hier können auch Tangential- oder Schubspannungen infolge der Reibungskräfte auftreten, vgl. Nr. 55. Die allseitige Druckverteilung in einer Flüssigkeit erklärt sich aus der leichten Verschiebbarkeit der Flüssigkeitsteilchen. Das machen wir uns durch einen Modellversuch klar: In einem Metallklotz Κ (Abb. VI, 2a) befindet sich eine vertikale Bohrung, in die ein Metallstempel S genau hineinpaßt. In zwei seitlichen Bohrungen sind zwei Stempel Z\ und Z2 leicht verschiebbar. Üben wir auf den Stempel S von oben einen Druck aus, so überträgt sich dieser Druck durch den festen Stempel nur auf die Bodenfläche der vertikalen Bohrung; die Stempel Z\ und Z2 bleiben in ihrer ursprünglichen Lage. Füllen wir aber die Bohrung mit Sand oder kleinen Stahlkugeln (Abb. VI, 2 b), und drücken wir von oben auf diese, so überträgt sich der Druck nicht nur auf die Bodenfläche, sondern in gleicher Stärke auch auf die Seitenfläche der Bohrung. Die beiden Stempel Z\ und Z2 werden infolgedessen nach den Seiten herausgedrückt. Die gegeneinander leicht verschiebbaren Stahlkugeln stellen ein grobes Modell der Flüssigkeit dar. — Die allseitige Druckverteilung im Wasser sieht man an dem in Abb. VI, 3 dargestellten Gefäß. Eine Glaskugel mit einem zylindrischen Rohrstutzen besitzt eine große Zahl kleiner Öffnungen. Füllt man die Kugel mit Wasser und übt auf dieses durch einen in den Rohrstutzen eingeführten Kolben einen Druck aus, so spritzt das Wasser gleichmäßig aus den verschiedenen Öffnungen heraus.

a

b

Abb. VI, 2. Modellversuch zum Nachweis der Druckverteilung a) in festen Körpern (einseitig), b) in einer Flüssigkeit (allseitig)

Eine wichtige Anwendung der gleichmäßigen Druckverteilung in einer Flüssigkeit stellt die hydraulische Presse dar. Sie besteht nach Abb. VI, 4 aus zwei durch eine Rohrleitung R verbundenen zylindrischen Gefäßen Z\ und Z2, in denen sich zwei Kolben Si und 52 von ver-

268

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

schiedenem Querschnitt verschieben können. Beide Gefäße und die Rohrleitung sind mit einer Flüssigkeit (Wasser oder Öl) gefüllt. Der Querschnitt des Kolbens 5 i sei 1 cm 2 , der des Kolbens S2 sei 100 cm 2 . Drückt man den Kolben 5 i mit einer Kraft Fi = 1 kp in das Gefäß Z\ hinein, so übt man auf die Flüssigkeit einen Druck von 1 kp/cm 2 = 1 at aus; dieser Druck herrscht

Abb. VI, 3. Nachweis der allseitigen Druckverteilung in einer Flüssigkeit

Abb. VI, 4. Längsschnitt durch eine hydraulische Presse

dann auch im Zylinder Z2, so daß der Kolben 52 mit einer Kraft F2 = Druck mal Fläche = lOOkp nach oben gedrückt wird. Mit dieser Kraft drückt die auf dem oberen Ende des Kolbens befestigte Platte Ρ gegen einen zwischen Ρ und dem Widerlager W eingesetzten Körper. Die hydraulische Presse stellt also eine Maschine dar, die ähnlich wie der Hebel oder der Flaschenzug eine gegebene Kraft vergrößert. Das Übersetzungsverhältnis ist dabei durch das Verhältnis der Kolbenquerschnitte gegeben. Arbeit wird indessen auch hier nicht gewonnen, denn wenn der Kolben £1 um eine Strecke .η = 1 cm verschoben wird, so hebt oder senkt sich 52 nur um die Strecke s• 0

Svy

Δχ

..

A

.

,

οχ

dx

dt

Für die horizontale Verschiebung von Α in bezug auf M ' ergibt sich entsprechend also

Ε Μ ' = - - ^ Δ γ ΐ i t ; dy

dy

=

dt

.

Setzt man nun όφ/öi = — 6ψ'jdt, so ist tatsächlich die Bedingung (rot v) = 0 erfüllt, d. h. wenn sich die „Stäbchen" bei der Verformung des Flüssigkeitsteilchens um entgegengesetzt gleiche Winkel drehen, handelt es sich um keine Wirbelbewegung. Obwohl sich die Flüssigkeitsteilchen auf geschlossenen Umlaufbahnen bewegen, ist es eine echte Potentialströmung. Man nennt diese Strömung auch ein drehungsfreies Wirbelfeld oder einen Potentialwirbel. Daß sich die in Abb. VI, 51 bzw. Abb. VI, 53 skizzierten Strömungen tatsächlich unterscheiden, ist sofort anschaulich verständlich, wenn man die in den Abbildungen zu den „Flüssigkeitskreuzen" eingezeichneten Winkelhalbierenden betrachtet. Während diese in Abb. VI, 51 ebenfalls rotieren, behalten sie in Abb. VI, 53 ihre Orientierung im Raum bei, führen also keine Drehbewegung aus. Es zeigt sich allerdings, daß ζ. B. schon bei der vorher erwähnten Schichtströmung diese Winkelhalbierenden ihre Lage zueinander verändern, so daß die eben gemachte Zuordnung nicht allgemein möglich ist. Es muß deshalb betont werden, daß Gl. (VI, 15) allgemein nicht den Zustand eines Teilchens längs seiner Bahn, sondern nur den Strömungszustand in einem speziellen Raumpunkt beschreibt. Gerade hierin liegt auch die Leistung E u l e r s , daß er in seinen Gin. (VI, 11) — entgegen den Vorstellungen der Newtonschen Mechanik eines diskreten Teilchens — jede Zuordnung zu einem bestimmten Teilchen aufgab und statt dessen den Begriff des Strömungsfeldes einführte. Wie man aus der Gleichung des Potentialwirbels ν • r = const sieht, nimmt die Geschwindigkeit zum Drehungszentrum hin zu. Im Mittelpunkt müßte sie unendlich groß sein, was wegen der Reibung nicht möglich ist. Man hat hier einen singulären Punkt der Strömung, in dem eine echte Wirbelbewegung herrscht. Man spricht von einem „Wirbelfaden" oder im idealisierten Grenzfall von einer „Wirbellinie". Eine drehungsfreie (rotationsfreie) Wirbelströmung umschließt deshalb immer eine Rotationsbewegung, den sogenannten Wirbelkern. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Hohlwirbel über der Abflußöffnung einer Badewanne. z

F ü r den Fall der speziellen Z i r k u l a t i o n s s t r ö m u n g (kreisförmige Stromlinien, ν = const/r, ds = r dip), ergibt sich f ü r die G r ö ß e der Zirkulation längs einer Stromlinie: (VI, 16)

2

π

r = \ v r d t p

ο

=

2n

-

const.

K e l v i n hat den wichtigen Satz bewiesen, daB die Größe der Zirkulation längst einer beliebigen „flüssigen" Linie (d. h. einer Linie, die stets aus denselben Flüssigkeitsteilchen besteht u n d im S t r o m mitschwimmt), konstant ist. Diese K o n s t a n t e k a n n n u r d a n n von Null verschieden sein, wenn die K u r v e C einen Wirbelkern umschlingt, ζ. B. wie oben eine geschlossene Stromlinie ist. D a a n der G r e n z e (r = R) des Wirbels u n d der Z i r k u l a t i o n s s t r ö m u n g beide Geschwindigkeiten u>R u n d const /R gleich g r o ß sind, so ist const = ω Λ 2 ; f ü r Γ erhält m a n also im obigen Fall: Γ

=

2 π Α .

ist gleich dem P r o d u k t aus dem Querschnitt des Wirbels und seiner Rotationsgeschwindigkeit; es wird als Wirbelintensität I bezeichnet. Einer der oben erwähnten H e l m h o l t z s c h e n Sätze lehrt n u n gerade, d a ß f ü r einen bestimmten Wirbel die Wirbelintensität I eine k o n s t a n t e G r ö ß e ist. D a h e r ist die G r ö ß e der Zirkulation u m einen Wirbel ϋ 2πω

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

302 (VI, 17)

Ζ = 21

für diesen charakteristisch. W o g e s c h l o s s e n e S t r o m l i n i e n vorliegen, haben wir es natürlich nicht mehr mit einem Quellenfeld zu tun, sondern mit einem sogenannten Wirbelfeld. M a n macht sich leicht klar, daß eine Strömung überhaupt nur durch Quellen oder Wirbel verursacht sein kann. S i n d w e d e r Q u e l l e n n o c h W i r b e l v o r h a n d e n , so k a n n k e i n e S t r ö m u n g e x i s t i e r e n .

5 7 . Kontinuitätsgleichung; B e r n o u l l i sehe Gleichung; Druckmessung in bewegten Flüssigkeiten Ein R o h r (Abb. VI, 54) möge an zwei Stellen die Querschnitte Αι und A2 besitzen. Strömt nun eine Flüssigkeit an der Stelle A\ mit der Geschwindigkeit υχ, so muß sie an der Stelle mit einer solchen Geschwindigkeit V2 strömen, daß bei Inkompressibilität A1v1=A2V2

( V I , 18)

ist; denn beide Ausdrücke stellen das Flüssigkeitsvolumen dar, das pro Zeitintervall durch die beiden Querschnitte hindurchtritt. Wären diese Ausdrücke nicht gleich, so würde das bedeuten, daß eine Flüssigkeitsansammlung bzw. Flüssigkeitsverminderung an einem der beiden Querschnitte erfolgte, was unmöglich ist. Die obige Gleichung besagt, daß die S t r ö m u n g s -

iL Abb. VI, 54. Zur Ableitung der Kontinuitätsgleichung

g e s c h w i n d i g k e i t e n s i c h u m g e k e h r t w i e d i e Q u e r s c h n i t t e v e r h a l t e n . Sie heißt die Kontinuitätsgleichung oder Durchflußgleichung. Die G r ö ß e : Querschnitt Α mal Geschwindigkeit ν ist gleich A • ds/dt = dVjdt. M a n nennt diese Größe auch die Stromstärke. Die K o n tinuitätsgleichung besagt also, daß die Stromstärke in einem R o h r an allen Stellen den gleichen Wert hat. In einem bestimmten, abgegrenzten Volumen befindet sich zur Zeit t die Flüssigkeitsmasse J ρ dV, zur Zeit t + dt also die Masse J (ρ + öglöt dt) dV. Die in der Zeit dt zuströmende Flüssigkeit hat also die Masse f doldt dV. Für die in der gleichen Zeit durch ein Flächenelement dA tretende Flüssigkeitsmenge erhält man aber — in der gewählten Normalenrichtung η — auf die gesamte Oberfläche bezogen f ρυη · dA, oder A nach Umformung auf ein Volumenintegral mit Hilfe des G a u ß sehen Satzes — Γ div (ρν) dV. Diese ν beiden Massen müssen gleich sein und für ein beliebiges Volumen gelten, so daß hieraus die Gleichheit der Integranden folgt. Man erhält also (VI, 19)

^ y + div (ρ») = 0.

Dies ist die allgemeine Form der für ein quellenfreies Gebiet geltenden Kontinuitätsgleichung. Sie ist ein Erhaltungssatz (Erhaltung der Materie). Für konstantes ρ, d. h. Inkompressibilität, vereinfacht sich (VI, 19) und es ergibt sich: (VI, 20) div o = 0. Man nennt diese Gleichung deshalb auch Inkompressibilitätsbedingung. Nunmehr soll die D r u c k v e r t e i l u n g in d e r s t r ö m e n d e n F l ü s s i g k e i t behandelt werden. Wenn durch eine Querschnittsverkleinerung der Röhre die Geschwindigkeit einen Zuwachs erfährt, so bedeutet dies, daß jedes Flüssigkeitsteilchen eine Beschleunigung erfährt, deren Ursache eine in Richtung der Beschleunigung wirkende Kraft sein muß. Beziehen wir diese Kraft auf den Querschnitt, so erhalten wir den in der Flüssigkeit wirkenden Druck. E s

Kontinuitätsgleichung; Bernoullische Gleichung

303

muß demnach in einer strömenden Flüssigkeit der Druck mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit abnehmen und mit abnehmender Geschwindigkeit zunehmen. Wenn man beachtet, daß sich die Stromlinien in einem enger werdenden Querschnitt zusammendrängen und in einem sich erweiternden auseinanderrücken, kann man auch sagen: In Gebieten zusammengedrängter Stromlinien ist der Druck in der Flüssigkeit stets kleiner als dort, wo die Stromlinien weiter auseinander liegen. Die Richtigkeit dieser zunächst qualitativen Überlegung kann man an der in Abb. VI, 55 skizzierten Anordnung prüfen. Durch ein weites horizontales R o h r lassen wir aus der Wasserleitung Wasser strömen. Das R o h r der Abb. VI, 55a ist an der Stelle 2 verengt, an der Stelle 3 erweitert und besitzt zur Messung des Druckes an den Stellen 1, 2, 3, 4 vertikal angesetzte Glasrohre, die als Flüssigkeitsmanometer dienen. A m Ende des horizontalen Rohres wird die Strömung durch einen H a h n stark gedrosselt. Es ergeben sich dann in den Manometern die in Abb. VI, 55 a gezeichneten Einstellungen der Flüssigkeitssäulen, deren Höhen den an der Ansatzstelle herrschenden Druck zeigen. An der Stelle 2 (größere Geschwindigkeit) ist der Druck erniedrigt, an der Stelle 3 (kleinere Geschwindigkeit) erhöht gegenüber dem an den Stellen 1 und 4 herrschenden Druck.

B>

g

g

X —

Cl·----

Abb. VI, 55. Druckverteilung in einer durch ein Rohr strömenden Flüssigkeit: a) Rohr mit veränderlichem Querschnitt, b) Rohr mit konstantem Querschnitt In Wirklichkeit steht an der Stelle 4 das Wasser im Manometer niedriger als an der Stelle 1; dies ist natürlich eine Folge der n i c h t zu v e r m e i d e n d e n R e i b u n g ; um aber das Druckgefälle klein zu machen, haben wir den Rohrquerschnitt groß genommen. Zur experimentellen Elimination dieses Druckverlustes lassen wir das Wasser in einem zweiten Versuch durch ein Rohr von gleich großem und gleich bleibendem Querschnitt strömen und erhalten die in Abb. VI, 55 b wiedergegebene Druckverteilung, die einen gleichmäßig schwachen Abfall von 1 nach 4 zeigt.

U m den Zusammenhang zwischen Druck und Geschwindigkeit bei idealen ( = reibungsfreien) Flüssigkeiten q u a n t i t a t i v zu erfassen, werde das Energiegesetz auf ein Stück einer Stromröhre angewendet. Eine Flüssigkeitsmenge mit der Masse m, dem Volumen V und der Dichte ρ m u ß in einem sich verengenden R o h r von der Geschwindigkeit ν ο auf ν beschleunigt werden. Der statische Druck sinkt dabei von po (vor der Verengung) auf p (in der Verengung). D a s erfordert die Arbeit

V(p0 -p)

= j(v 2 -vi)

o d e r p0 V + yvl

= pV+ ~~v 2.

Bei schräg stehendem R o h r k o m m t noch der jeweilige Anteil der potentiellen Energie mgho bzw. mgh hinzu, wenn h — ho die Höhendifferenz zwischen den betrachteten beiden Rohrquerschnitten ist. Die Summe dieser drei Energien muß aber konstant sein, da diese Gleichung ja für jede beliebige Stelle des Rohres gilt, also:

304

Mechanik der Flüssigkeiten u n d Gase T,

m

2

pV + — v +mgh

= const.

Mit gV = m erhält man daraus die Bernoullische Gleichung für eine Stromröhre: £g/i + y i > 2 + p = c o n s t .

(VI, 21)

Dabei wird der numerische Wert der Konstante im allgemeinen von Röhre zu Röhre wechseln. Nur in dem Fall, daß die Bewegung durch einen Druck aus der Ruhe erzeugt wurde, d. h. für eine w i r b e l f r e i e Bewegung muß die Konstante für die ganze Flüssigkeitsmenge die gleiche sein. Denn in diesem Fall (ν = 0) geht (VI, 21) in die im g a n z e n R a u m geltende Druckgleichung der Hydrostatik (VI, 6) über (nur die Bezeichnung ist hier etwas anders). Allgemeiner läßt sich dieser quantitative Zusammenhang zwischen Druck und Geschwindigkeit f ü r eine ideale ( = reibungsfreie) Flüssigkeit aus der Integration der E u l e r s c h e n Gleichung gewinnen. Eine derartige Integration wird möglich, wenn für die äußeren K r ä f t e Κ = — grad Φ gelten soll und die Dichte nur vom D r u c k abhängt, d. h. ρ = ρ (p) ist. Die E u l e r s c h e Gleichung (VI, 11) erhält dann folgende vereinfachte F o r m , wenn man die Druckfunktion Ρ = $dp/o einführt.

dt

+ grad ^r — ν X rot ν = — grad (Φ + P ) .

2

Für den Fall der stationären Strömung (öv/öt = 0; daraus folgt: Bahnlinie und Stromlinie fallen zusammen) läßt sich diese Integration längs einer Stromlinie einfach ausführen, und man erhält ein Integral von großer Bedeutung. Denn wegen ds || ν verschwindet das P r o d u k t (ν χ rot ν, du) und man erhält grad

+Φ +

· ds = 0

und nach Integration (VI, 21a)

f — + ^ + Φ = const. J Q 2

Betrachtet man die Strömung einer inkompressiblen Flüssigkeit (ρ = const) unter Einfluß der Schwerkraft, d. h . 0 = +gh, so erhält man aus (VI, 21a) sofort die „ B e r n o u l l i s c h e Gleichung" (VI, 21)

p +

+ Qgh = const.

In dem besonderen Fall, daß äußere Kräfte ausgeschaltet sind (Stromröhre horizontal, h = const), nimmt die B e r n o u l l i s c h e Gleichung die Form an: (VI, 22)

P+ Y

v 2 =

const

·

In dieser Gestalt spricht sie quantitativ aus, was wir qualitativ schon vorher erkannt hatten, daß der Druck in einer strömenden Flüssigkeit um so kleiner ist, je größer die Geschwindigkeit an der betreffenden Stelle ist. Bezeichnen wir insbesondere den Druck in der ruhenden Flüssigkeit (υ — 0) mit po, so folgt aus (VI, 22): (VI, 23)

Po = P + y »

2

;

po wird als der Gesamtdruck, p als der statische Druck, die Größe (ρ/2) υ2, die ja von der Dimension eines Druckes ist, als hydrodynamischer Druck, auch kurz als dynamischer Druck oder Staudruck bezeichnet. In dieser Ausdrucksweise kann man die B e r n o u l l i s c h e Gleichung so schreiben: Gesamtdruck = statischer Druck + dynamischer Druck (Staudruck)

Kontinuitätsgleichung; Bernoullische Gleichung

305

D i e B e r n o u l l i s c h e Gleichung ist von ungeheurer Bedeutung f ü r die ganze Hydrodynamik reibungsloser Flüssigkeiten, u n d insoweit m a n die Reibung vernachlässigen kann, f ü r die H y d r o d y n a m i k überhaupt. Wie werden n u n der statische Druck ρ u n d der Staudruck \ ρ υ2 gemessen ? Die Messung der einzelnen D r u c k e geschieht zweckmäßig mit Hilfe besonderer Drucksonden, die man an die betreffende Stelle in die Flüssigkeitsströmung einführt. In A b b . VI, 56 ist eine Drucksonde im Längsschnitt gezeichnet, die zur M e s s u n g d e s s t a t i s c h e n D r u c k e s ρ in der strömenden Flüssigkeit dient; sie ersetzt die bisher von uns in A b b . VI, 55 benutzten, a n der Rohrleitung fest angebrachten Flüssigkeitsmanometer. D i e Öffnungen Ο befinden sich in dem Mantel der Sonde und l i e g e n p a r a l l e l z u d e n S t r o m l i n i e n . Die Sonde steht durch das R o h r / ? über eine Schlauchleitung mit einem Flüssigkeitsmanometer Μ in Verbindung. Z u r M e s s u n g d e s G e s a m t d r u c k e s po dient die in Abb. VI, 57 dargestellte Sonde, die nach ihren Erfinder Pitot-Rohr genannt wird. Sie besitzt eine axiale Bohrung B, die wieder über ein R o h r R u n d eine Schlauchleitung mit einem Flüssigkeitsmanometer Μ in Verbindung steht. F ü r die gegen das vordere Ende der Sonde anströmenden Strömungslinien bildet sich vor der Sonde ein S t a u g e b i e t , in dem die Flüssigkeit zur R u h e k o m m t (ν = 0), so d a ß der hier herrschende, vom M a n o m e t e r gemessene statische D r u c k ρ gleich dem Gesamtdruck po ist. Z u dem statischen D r u c k ρ tritt \ Qv2 hinzu, um als Summe beider po zu liefern; so erklärt sich auch die Bezeichnung , , S t a u d r u c k " f ü r \ ου1.

Po

Abb. VI, 56. Drucksonde mit Manometer zur Messung des statischen Druckes

Abb. VI, 57. Pitot-Rohr mit Manometer zur Messung des Gesamtdruckes

Die Differenz von Gesamtdruck po und statischem D r u c k ρ liefert nach Gl. (VI, 23) den S t a u d r u c k j ρυ2. Er läßt sich mit einem von P r a n d t l angegebenen Staurohr messen, das eine Vereinigung von Drucksonde und P i t o t - R o h r darstellt (Abb. VI, 58). Das mit zwei Schlauchleitungen an das Staurohr angeschlossene M a n o m e t e r gibt direkt den Staudruck als Differenz von Gesamtdruck po und statischem Druck p an. A u s dem so gemessenen Druckunterschied po — p bestimmt sich die Strömungsgeschwindigkeit ν aus der Gl. (VI, 23) zu: (VI, 24) D a s Staurohr stellt daher ein sehr bequemes Gerät zur Messung von Strömungsgeschwindigkeiten dar u n d wird ζ. B. beim Flugzeug zur Messung der Fluggeschwindigkeit relativ zur umgebenden L u f t benutzt. 20

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

306

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

^ — V -

Abb. VI, 74. Stromlinienverlauf um eine senkrecht zur Parallelströmung stehende Platte

Abb. VI, 75. Stromlinienverlauf um einen Stromlinienkörper

Besonders charakteristisch ist die Strömung um eine senkrecht zur Parallelströmung stehende Platte (Abb. VI, 74). Auch hier teilt sich die Stromlinie, die den Mittelpunkt Ρ dei Vorderseite dei Platte trifft, um die ganze Platte zu umhüllen und sich bei P ' wieder zu vereinigen, Ρ ist der vordere, P ' der hintere Staupunkt; in beiden hat der Druck seinen Maximalwert. Umgekehrt erreicht in C und D die Geschwindigkeit ein Maximum, der Druck also ein Minimum. Links und rechts herrscht vollkommene Symmetrie der Strömung und des Druckes: Auch hier existiert also kein Widerstand in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten. Wie die Flüssigkeit wirklich strömt, wird später gezeigt; hier genügt die Tatsache, daß infolge der Reibung in der Grenzschicht d i e V e r h ä l t n i s s e v o r u n d h i n t e r d e m K ö r p e r n i c h t d i e S y m m e t r i e b e s i t z e n , die nach der Behauptung der reibungslosen Hydrodynamik vorhanden sein sollte. D e r t a t s ä c h l i c h a u f t r e t e n d e W i d e r s t a n d h a t s e i n e n G r u n d in d e r A s y m m e t r i e d e r D r u c k v e r t e i l u n g v o r u n d h i n t e r d e m K ö r p e r ; er wird daher — im Gegensatz zum „Reibungswiderstand" bei der schleichenden Strömung — als Druckwiderstand bezeichnet. Die Strömungs- und Druck-Unsymmetrien stellen sich in besonderer Stärke bei solchen Körpern ein, die beim Übergang von der Vorderseite zur Hinterseite eine starke Krümmung der Stromlinien verursachen wie ζ. B. die Platte. In der Grenzschicht dürfen die von der Zähigkeit (η =j= 0) herrührenden Schubkräfte nicht ignoriert werden. Der Gradient dv/dh ist in der dünnen, dem eingetauchten Körper anliegenden Grenzschicht stets sehr groß, um so größer, je kleiner η ist. Die Strömungs- und Druck-Unsymmetrien treten aber um so mehr zurück, je länger gestreckt der Körper ist. In diesen Fällen schließen sich die Stromlinien wenigstens mit großer Näherung der Form der Körper an, so daß bei langgestreckten Körpern, wie sie die Natur etwa bei den Fischen zeigt, tatsächlich nahezu k e i n D r u c k w i d e r s t a n d bei der Bewegung auftritt. Solche Körper, die von den Stromlinien vollkommen umhüllt

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

314

werden (ζ. B. Abb. VI, 75), nennt man Stromlinienkörper. Bei ihnen ist der Druckwiderstand so klein, daß sich infolge der Zähigkeit nur der R e i b u n g s w i d e r s t a n d bemerkbar macht. Das Wesentliche ist also dies: Es g i b t K ö r p e r f o r m e n , b e i d e n e n d i e G e s e t z e der reibungslosen H y d r o d y n a m i k a n n ä h e r n d zutreffen. Für die Praxis ergibt sich daraus die Folgerung, daß man bewegten Körpern „Stromlinienform" gibt, wodurch man tatsächlich einen sehr geringen Widerstand erzielt. Wenn die Hinterseite der Körper durch geeignete Verkleidung so ausgebildet wird, daß die Stromlinien sich an diese anschmiegen, kann der Druckwiderstand sehr erheblich reduziert werden. In diesem Sinne kann man sagen, d a ß f ü r d e n D r u c k w i d e r s t a n d d i e H i n t e r s e i t e b e w e g t e r K ö r p e r w i c h t i g e r als die V o r d e r s e i t e ist.

a

b

c

Abb. VI, 76. Anordnung zum Nachweis des verschiedenen Druckwiderstandes bei einer Platte (a), einer Halbkugel (b) und einem Stromlinienkörper (c) von gleichem Durchmesser und gleichem Gewicht Von der Herabsetzung des Druckwiderstandes durch geeignete Formgebung kann man sich leicht experimentell überzeugen. Man bringt die zu untersuchenden Körper in einem Windkanal in eine Parallelströmung und hält sie mittels eines Federdynamometers an einer bestimmten Stelle fest. Die Kraft, die die Strömung auf die Körper ausübt, d. h. der Widerstand, wird durch die Spannung der Feder kompensiert und durch sie gemessen. Eine für Demonstrationsversuche geeignete Anordnung zeigt Abb. VI, 76. Die verschieden geformten Widerstandskörper, die gleichen Querschnitt und gleiches Gewicht haben, sind mit einer zentralen Längsbohrung versehen, so daß sie sich auf einem vertikal ausgespannten Draht leicht verschieben lassen. Bringt man diesen Draht in die Mitte eines vertikal von unten nach oben verlaufenden Luftstromes eines Gebläses, so wird der betreffende Körper von der Strömung infolge seines Widerstandes nach oben gedrückt. Da der Luftstrom nach oben hin divergiert, so nimmt mit zunehmender Divergenz der Stromlinien die Geschwindigkeit ab, was wiederum zur Folge hat, daß nach Gl. (VI, 21) der Druckwiderstand mit zunehmender Höhe kleiner wird. Es gibt dann eine Stelle, an der die vom Luftstrom auf den Körper ausgeübte Kraft dem nach unten wirkenden Gewicht des Körpers das Gleichgewicht hält. An dieser Stelle bleibt dann der Körper im Luftstrom schweben, und man kann, wie es Abb. VI, 76 für drei verschieden geformte Körper andeutet, aus der Höhe dieser Stelle über der Öffnung des Gebläses die Größe des Druckwiderstandes abschätzen.

Umströmung fester Körper; Magnus-Effekt

315

Bei einem gegebenen Widerstandskörper kann man mit einer solchen Vorrichtung aus der Höhe, in der der Körper zur Ruhe kommt, einen Rückschluß auf die Strömungsgeschwindigkeit und damit auf die in einer bestimmten Zeit durch den Rohrquerschnitt strömende Gasmenge ziehen. Auf diesem Prinzip beruht der R o t a - S t r ö m u n g s m e s s e r ; bei diesem strömt die zu messende Gasmenge, durch ein vertikales, sich nach oben konisch erweiterndes Glasrohr, in dem sich ein passend geformter Widerstandskörper befindet. Aus der Höhe, in der sich dieser Körper in der Strömung einstellt, kann man die etwa pro Stunde durch das Rohr strömende Gasmenge direkt ablesen. In der Abb. VI, 77 sind sechs Widerstandskörper gleichen Querschnittes, aber verschiedener Form gezeichnet, die von links angeströmt werden; die angeschriebenen Zahlen bedeuten die relativen Widerstände. Vergleicht man den ersten Körper (Halbhohlkugel) mit dem letzten (Stromlinienkörper), so erkennt man, daß bei letzterem der Widerstand auf den 24. Teil herabgesetzt ist! Von Interesse ist noch der Vergleich der beiden Halbhohlkugeln (1) und (4), deren relative Widerstände sich wie 4 zu 1 verhalten, je nachdem die konkave oder die konvexe Fläche dem Luftstrom zugewendet ist. Diese Verschiedenheit des Widerstandes wird bei der Konstruktion

Abb. VI, 77. Widerstandskörper gleichen Querschnittes, aber verschiedener Form; die angeschriebenen Zahlen bedeuten angenähert die relativen Widerstände bei Anströmung von links

eines Windmessers, des sogenannten Anemometers, benutzt. Bei diesem ist ein mit vier Halbkugelschalen versehenes Kreuz um eine vertikale Achse drehbar. Im Windstrom dreht sich das Kreuz so, daß sich die Kugelschalen mit ihrer konvexen Seite voran bewegen. Die Drehung, die um so schneller erfolgt, je größer die Windgeschwindigkeit ist, überträgt sich auf ein Zeigerwerk. Es könnte auffallen, daß die Formen der modernen Überschallflugzeuge keineswegs Stromlinienformen sind. Das liegt daran, daß man die Luft bei Überschallgeschwindigkeit nicht als inkompressibel betrachten darf. Die Luft wird vielmehr vor dem Körper stark komprimiert, während hinter ihm ein partielles Vakuum eintritt. Diese beiden Gebiete erhöhten und verminderten Druckes kann man sich von dem Körper mitgeschleppt denken; sie stellen demnach eine Überschallströmung gegenüber der ruhenden Außenluft dar, von der sie durch scharfe Grenzen getrennt sind. Die Strömungsgeschwindigkeit vi springt in dieser Grenzfläche unstetig auf einen Wert V2 unterhalb der Schallgeschwindigkeit. Nimmt man in vereinfachender Weise an, daß dabei Über- und Unterschallgeschwindigkeit die gleiche Richtung besitzen, so ergibt die Kontinuitätsgleichung (VI, 19) bei Berücksichtigung der Kompressibilität: ρ1ν1 = ρ2ν2

.

ρι und Q2 sind die Dichten vor und nach Überschreiten der Grenzfläche. Die Gleichung besagt, daß mit dem spontanen Absinken der Geschwindigkeit ein ebenso spontaner Anstieg der Dichte

316

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

und damit des Druckes verbunden ist. Diese Erscheinung heißt Verdichtungsstoß, wobei der „Stoß" kein einmaliges Ereignis, sondern ein Vorgang ist, der so lange anhält, wie sich der Körper mit Überschallgeschwindigkeit bewegt. Der Verdichtungsstoß ist die Ursache für die Kopf- und Schwanzknallwelle von Überschallflugkörpern. Er läßt sich durch geeignete Formgebung verringern, aber nicht völlig ausschalten. Dies ließe sich nur bei nahezu punktförmigen Flugkörpern erreichen. Verdichtungsstöße treten auch bei Explosionen auf, sofern eine Überschallströmung mit der Expansion verbunden ist. In einer reibungslosen Flüssigkeit müssen auf eine in eine Parallelströmung eingetauchte Kugel oder einen Zylinder Druckkräfte auftreten, s o b a l d es g e l i n g t , d i e S y m m e t r i e zu z e r s t ö r e n . Das kann in der Weise geschehen, daß man über die Strömung etwa um einen unendlich langen Zylinder, dessen Achse senkrecht zur Zeichenebene steht, noch eine Zirkulationsströmung überlagert. Eine solche Zirkulationsströmung ergibt sich ζ. B. dadurch leicht, daß der Zylinder rotiert und infolge der Rauhigkeit seiner Oberfläche gasförmige oder flüssige Materie mitnimmt. Die Geschwindigkeit der Strömung wird durch diese Zirkulationsströmung verändert: sie wird auf der einen Seite um diese vergrößert (in Abb. VI, 78 oben) und auf der anderen Seite (in der Abb. unten) verkleinert. Entsprechend sind die Stromlinien oben dichter, unten weiter auseinander gegenüber der Strömung um den ruhenden Zylinder. Nach der B e r n o u l l i s c h e n Gleichung ist also unten der Diuck größer, oben geringer; es resultiert mithin eine Querkraft auf jede Längeneinheit des Zylinders, senkrecht zur Parallelströmung, hier nach oben gerichtet. Diese Kraft A pro Längeneinheit ist um so größer, je größer die Geschwindigkeit der ursprünglichen Parallelströmung ν ist. Sie ist ferner proportional der Größe Γ der Zirkulation und der Dichte ρ der Flüssigkeit. Die genaue Rechnung liefert die Gleichung: (VI, 27)

Α = ρνΓ,

die nach ihren Begründern die Kutta-Joukowskische Formel genannt wird. Je größer die Stärke Γ der Zirkulation ist, um so mehr rücken die Staupunkte, die vorher an den Polen Ρ und P ' lagen, nach unten (Abb. VI, 78). Schließlich vereinigen sie sich am untersten Punkt D; wird Γ noch größer, so rückt der Staupunkt vom Zylinder nach unten in die Flüssigkeit hinein.

Die Größe Γ hängt bei einem rotierenden Zylinder selbstverständlich von dessen Rotationsgeschwindigkeit und Rauhigkeit ab. Auch muß die Reibung in der Grenzschicht berücksichtigt werden, also muß von der idealen, reibungslosen Flüssigkeit schon abgewichen werden. Es wird später gezeigt werden, daß diese Zirkulationsströmung auch dann auftreten kann, wenn keine Rotation eines Körpers vorliegt. Sie ist beim Flugzeug von großer Bedeutung: Auch um den Tragflügel bildet sich eine Zirkulationsströmung aus.

Umströmung fester Körper; Magnus-Effekt

317

Es sollen nun ein paar einfache Versuche beschrieben werden, in welchen die Kraft-Wirkung bei überlagerter Parallel- und Zirkulationsströmung deutlich erkennbar ist. Man beachte, daß in allen Fällen die Flüssigkeit bzw. das Gas als ideal, also reibungslos, angenommen wird. Ein leichter Pappzylinder mit seitlichen Randscheiben zur Verhinderung von Störungen (Abb. VI, 79 a) rollt an zwei Schnüren von oben nach unten ab und erfährt dabei eine Drehung (in der Zeichnung gegen den Uhrzeigersinn). Bei der Fallbewegung strömt die Luft relativ zu dem Zylinder von unten nach oben, und der Zylinder erfährt eine Querkraft (von links nach rechts), so daß er nicht senkrecht nach unten, sondern auf einer (nach rechts) gekrümmten Bahn herunterfällt. — Um den Einfluß der Dichte ρ zu zeigen, kann man folgendermaßen verfahren. Rollt eine leichte Tonkugel Κ auf einer schiefen Ebene S (Abb. VI, 79b) in einen mit Wasser gefüllten Trog, so beschreibt sie nach dem Eintritt in das Wasser eine abnorm gekrümmte Bahn. Da sich die Kugel um eine horizontale Achse dreht und beim Fallen das Wasser an ihr von unten nach oben vorbeiströmt, erfährt die Kugel eine Querkraft. Wegen der großen Dichte des Wassers (rund lOOOmal größer als Luft) ist hier die Abweichung von der gewöhnlichen parabolischen Bahn sehr beträchtlich. — Der gleiche Effekt macht sich bei „geschnittenen" (d. h. rotierenden) Tennisbällen dadurch bemerkbar, daß diese gekrümmte Bahnen

Abb. VI, 79. Zwei Versuchsanordnungen zum Nachweis des Magnus-Effektes, a) Seitliche Ablenkung eines fallenden und gleichzeitig rotierenden Pappzylinders, b) Ablenkung einer schräg ins Wasser rollenden Kugel durchfliegen. — Auch in der Ballistik hat die Erscheinung eine Rolle gespielt, indem die aus glatten Rohren abgefeuerten Geschosse infolge zufällig exzentrischer Lage des Schwerpunktes Rotationen ausführten und unerklärliche Abweichungen von der normalen Flugbahn aufwiesen. Diese Abweichungen fliegender Geschosse von ihrer ursprünglichen Flugrichtung waren der Anlaß, daß sich 1853 G. M a g n u s mit der experimentellen Untersuchung dieses Effektes befaßte, der nach ihm Magnus-Effekt genannt wird; er wurde später von Lord R a y l e i g h (1879) theoretisch behandelt. F l e t t n e r hat (1920) versucht, durch Benutzung großer rotierender Zylinder mit vertikaler Achse auf Schiffen an Stelle der Segel den M a g n u s - E f f e k t zum Antrieb der Schiffe durch den Wind auszunutzen ( „ R o t o r s c h i f f e " ) . Noch in einem anderen Fall bewährt sich die Annahme der Reibungslosigkeit wenigstens qualitativ. In Abb. VI, 74 betrachteten wir die ideale Strömung um eine senkrecht zur Parallelströmung stehende Platte. Nunmehr wollen wir die Platte unter einem Winkel α gegen die Strömungsrichtung neigen. Das Stromlinienbild wird dann durch Abb. VI, 80 gegeben, aus dem man durch Vergleich mit Abb. VI, 74 folgende Einzelheiten entnehmen kann; Die beiden Staupunkte Ρ und P', die bei senkrechter Stellung in der Mitte der Platte liegen, verschieben sich bei schräger Lage der Platte, auf der Vorderseite nach oben, auf der Hinterseite nach unten; die Lage von Ρ und P ' ist lediglich eine Funktion des Winkels o übt auf die zunächst folgende eine T a n g e n t i a l k r a f t aus, die letztere gleichfalls in Bewegung setzt; das gleiche tut diese Schicht mit der nächsten nach unten folgenden und so fort. Jede Schicht übt auf die nach unten folgende eine beschleunigende Kraft aus und erfährt von ihr nach dem Reaktionsprinzip eine gleich große, aber verzögernde Kraft. Diese K r a f t ist nach der Erfahrung proportional der Fläche Α der aneinander vorbeigleitenden Schichten, ihrem Geschwindigkeitsunterschied Δν, einem von der N a t u r der Flüssigkeiten abhängenden Faktor η und schließlich umgekehrt proportional dem Abstand Ah der beiden ins Auge gefaßten Schichten. Demnach folgt für die Tangentialkraft: Δν F = A t ]

T h '

ein Ausdruck, der in der Grenze für verschwindend dünne Schichten in den folgenden übergeht: Γ

Ρ =

Λ

λ η

dv

Μ ·

Die auf die Flächen wirkende Kraft Fl A = r ist also die Größe der T a n g e n t i a l - oder S c h u b s p a n n u n g (wie im vorigen Kapitel): (VI,28)

T

= „ g .

In einer realen F l ü s s i g k e i t existiert also außer der allein betrachteten N o r m a l s p a n n u n g , d. h. dem Druck p, auch eine T a n g e n t i a l s p a n n u n g , die durch (VI, 28) gegeben ist. Die

320

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Normalspannung ρ ist eine eigentlich elastische Spannung; denn sie ist der D e f o r m a t i o n proportional, während die S c h u b s p a n n u n g r der Flüssigkeiten der r e l a t i v e n G e s c h w i n d i g k e i t (dem Geschwindigkeitsgradienten) zweier Nachbarschichten proportional ist. Sie ist also k e i n e e l a s t i s c h e K r a f t , die ja bestrebt wäre, die Deformation rückgängig zu machen. Sie hat vielmehr die Tendenz, die schnellere Schicht zu verlangsamen, die langsamere zu beschleunigen, d. h. den Geschwindigkeitsunterschied auszugleichen, mit anderen Worten so zu wirken, wie wir es von der Reibung fester Körper her kennen. Man nennt daher η auch den K o e f f i z i e n t e n der i n n e r e n R e i b u n g . Allgemein ist üblich, η als die dynamische Viskosität oder die Zähigkeit zu bezeichnen. Der reziproke Wert 1 Ιη wird auch F l u i d i t ä t genannt. Der Quotient ν = η/ρ wird als k i n e m a t i s c h e Z ä h i g k e i t bezeichnet (ρ = Dichte). Mit Hilfe des von N e w t o n angegebenen Ansatzes hat S t o k e s versucht, die E u l e r s c h e Bewegungsgleichung der Hydrodynamik (Gl. VI, 13) durch Zusatzglieder so zu erweitern, d a ß damit auch die Strömungsverhältnisse in einer zähen Flüssigkeit beschrieben werden können. Es soll hier jedoch auf eine Herleitung verzichtet und nur das Ergebnis angegeben werden. Der interessierte Leser sei auf die spezielle Literatur der Theoretischen Physik verwiesen. D a n a c h erhält man die allgemeinste F o r m der Bewegungsgleichung der Hydrodynamik, die jetzt auch zähe Flüssigkeiten beschreibt, solange man sich auf Strömungsgeschwindigkeiten unterhalb der Schallgeschwindigkeit beschränkt, (VI, 29)

ι>3

öv

-j- + grad — — c χ rot υ = Κ 0

/

2

1 ρ

Α η

ν

3

ρ

grad p + - • - grad div ν — - rot rot ν. ρ

Diese Gleichung wird nach ihren Entdeckern die N a v i e r - S t o k e s s c h e Gleichung genannt. Im Gegensatz zu Gl. (VI, 13) treten hier zusätzlich Glieder auf, die zweite Ableitungen der Strömungsgeschwindigkeit nach dem Ort enthalten, so daß sich eine strenge Lösung als noch schwieriger herausstellt. Wie man erkennt, geht die Gl. (VI, 29) f ü r ideale Flüssigkeiten (keine Reibung, d . h . η = 0) oder f ü r kleine Unterschiede der Strömungsgeschwindigkeiten (wenn rot rot ν und grad div ν gegenüber den anderen Gliedern zu vernachlässigen ist) in die E u l e r s c h e Bewegungsgleichung der Hydrodynamik Gl. (VI, 13) über. Somit wird nachträglich verstanden, daß die bisherigen, an idealen Flüssigkeiten angestellten Überlegungen in vielen Fällen so gut auf reale Flüssigkeiten zutreffen. Betrachtet man den Sonderfall einer inkompressiblen Flüssigkeit (ρ = const, d. h. nach der Kontinuitätsgleichung (VI, 19) div ν = 0), erhält man die N a v i e r - S t o k e s s c h e Gleichung f ü r inkompressible Flüssigkeiten Öl? l!^ 1 f) grad p — - rot r o t » . (VI, 29 a) r - + grad — — ν χ rot ν = Κ Or

2

ρ

ρ

Der letzte Ausdruck der Gl. (VI, 29a) stellt das sogenannte Zähigkeits- oder Reibungsglied dar. Betrachtet man weiterhin Flüssigkeiten, bei denen die Zähigkeit den Strömungsverlauf entscheidend beeinflußt, wird sofort ersichtlich, daß rot ν φ 0 sein muß, da das letzte Glied der Gl. (VI, 29a) als einziges die Zähigkeit enthält. Man erhält damit die wichtige Erkenntnis: Strömungen, bei denen die Zähigkeit eine entscheidende Rolle spielt, können nicht überall wirbelfrei sein.

Wie groß ist die Zähigkeit η und wie wird sie gemessen ? Es soll zunächst der Fall betrachtet werden, in dem die Reibungskräfte die Trägheitskräfte bei weitem überwiegen; gerade dieser Extremfall eignet sich am besten zur Bestimmung der Reibungskoeffizienten. Es gibt zwei einfache Versuchsanordnungen. Die erste bezieht sich auf die Strömung von Flüssigkeiten durch Rohre. Diese wurde fast gleichzeitig von dem deutschen Ingenieur H a g e n (1839) und dem französischen Arzt P o i s e u i l l e (1840) untersucht. Jener wurde durch naheliegende technische Fragen dazu geführt, dieser von dem Wunsch geleitet, die Art der Blutbewegung in den Arterien und Venen verstehen zu lernen. — Um die Schwerkraft auszuschließen, sei ein langes Rohr vom Radius r horizontal gelegt. Es ist an ein Vorratsgefäß angeschlossen, in dem die zu untersuchende Flüssigkeit bis zur Höhe h steht. Durch geeigneten Zufluß hält man diese Höhe und damit den Druck am Anfang des Rohres konstant (Abb. VI, 83). Die Flüssigkeit fließt dann durch das Rohr aus, und zwar wird im stationären Zustand offenbar in jeder Sekunde ein bestimmtes Flüssigkeitsvolumen austreten (Stationäre Strömung: dV/dt = i = const). Es tritt an die Stelle jedes Teilchens im nächsten Augenblick ein genau gleiches mit gleicher

Zähigkeit; Gesetze von Hagen-Poiseuille und Stokes

321

Geschwindigkeit. Das durch den Rohrquerschnitt pro Zeit strömende Flüssigkeitsvolumen wird Stärke des Flüssigkeitsstromes oder Stromstärke i = V/t genannt. Wie geht nun die Strömung in dem Rohr vor sich? Zunächst haftet an der kreisförmigen Rohrwand die Flüssigkeit in einer sehr dünnen Schicht fest, die die Gestalt eines Hohlzylinders hat. Die daran nach innen anschließende Schicht — ebenfalls ein Hohlzylinder von etwas kleinerem Radius — bewegt sich mit kleiner Geschwindigkeit, die dann folgende mit etwas größerer, und so fort, bis man in die Mitte des Rohres kommt, wo die größte Durchflußgeschwindigkeit herrscht. Entsprechend der Abb. VI, 82 gleiten die gedachten Flüssigkeits-

Zr

I

-

Abb. VI, 83. Flüssigkeitsströmung durch ein R o h r

Abb. VI, 85. Ausbildung des Geschwindigkeitsprofils bei einer Rohrströmung

s c h i c h t e n aneinander vorbei, ohne sich zu stören. Deshalb nennt man diese Strömung auch Schicht- oder Laminarströmung. Die Stromlinien, die mit den Bahnlinien identisch sind, sind offenbar Geraden parallel der Rohrachse (Abb. VI, 84). Natürlich werden diese einfachen Verhältnisse beim Einlauf vom Vorratsgefäß ins Rohr etwas gestört und sich erst in einiger Entfernung vom Anfang des Rohres rein ausbilden, wenn die „Einlaufstörungen" infolge der Reibung abgeklungen sind. Man kann sich auch durch folgenden Versuch davon überzeugen, daß die Geschwindigkeitsverteilung im Rohr der gegebenen Schilderung ent-

Abb. VI, 84. Beispiele von Flüssigkeitsströmungen zwischen zwei vertikal stehenden Glasplatten. Oben strömte aus mehreren Düsen nebeneinander ungefärbtes und gefärbtes Wasser herab. Diese Technik eignet sich gut für Demonstrationszwecke 21

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 9. Aufl.

322

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

spricht, wenn man nämlich gefärbte Flüssigkeit hinter der ungefärbten einströmen läßt. Zu Beginn hat man dann eine scharfe vertikale Trennungsebene zwischen der gefärbten und ungefärbten Flüssigkeit (Abb. VI, 85); nach einiger Zeit hat sich diese in eine gekrümmte Fläche deformiert. Das „ G e s c h w i n d i g k e i t s p r o f i l " ist, wie Versuch und Rechnung ergeben, parabolisch. Die treibende Kraft für die Flüssigkeit besteht hier lediglich in einer D r u c k d i f f e r e n z , da andere äußere Kräfte ausgeschaltet sind, d. h. der Flüssigkeitsdruck muß in Abb. VI, 83 von links nach rechts abnehmen. Wäre die Flüssigkeit ideal, r e i b u n g s l o s , so würde zur Aufrechterhaltung dieser Strömung, die in jeder Schicht mit konstanter Geschwindigkeit vor sich geht, nach dem Trägheitsgesetz gar keine Kraft, d. h. keine Druckdifferenz erforderlich sein, und umgekehrt würde eine D r u c k d i f f e r e n z der r e i b u n g s l o s e n F l ü s s i g k e i t e i n e b e s c h l e u n i g t e B e w e g u n g e r t e i l e n . Hier, bei der w i r k l i c h e n F l ü s s i g k e i t , wird der treibenden Druckdifferenz in jedem Zeitpunkt und an jedem Teilchen durch die Reibungskraft das Gleichgewicht gehalten. Man kann sich in der Tat leicht überzeugen, daß der Druck längs des Rohres fällt; man bohrt zu dem Zweck das Rohr an verschiedenen Stellen an und setzt vertikale Steigrohre ein, wie es Abb. VI, 83 zeigt. In diesen Rohren steigt die Flüssigkeit so hoch, bis der Druck der Flüssigkeitssäule gerade so groß ist, wie der Druck der im horizontalen Rohr strömenden Flüssigkeit. Der Versuch zeigt, daß die Flüssigkeit in den Steigrohren um so tiefer steht, je weiter entfernt das Steigrohr vom Druckgefäß angesetzt ist. Für eine reibungslose Flüssigkeit würden die Druckhöhen natürlich gleich hoch sein, ebenso für r u h e n d e Flüssigkeiten, weil dann die Anordnung der Abb. VI, 83 ein System kommunizierender Röhren bildet. Das in der Zeit t ausfließende Flüssigkeitsvolumen sei V. Die Drucke an zwei Steigrohren, die um die Strecke / voneinander entfernt sind (Abb. VI, 83), seien pi und p%. Ist die Druckabnahme pro Länge, das sogenannte D r u c k g e f ä l l e , gleich (p\ — P2)ß, so ergibt sich aus den Versuchen von H a g e n und P o i s e u i l l e folgendes Gesetz für die Stromstärke i: (VI 30) V ' }

_Κ = t

π / (

Ρ ι

-

8 ηΐ

Ρ 2

)

Es wird nach den beiden Entdeckern als das Hagen-Poiseuillesche Gesetz bezeichnet. Das zeitliche Durchflußvolumen V/t ist danach um so größer, je größer der Rohrradius r und das Druckgefälle (pi —pz)jl sind; es ist anderseits umgekehrt proportional dem Koeffizienten η der inneren Reibung der untersuchten Flüssigkeit. V, pi, p% I, t, r sind leicht genau zu messen; Gl. (VI, 30) kann daher dazu dienen, η zu bestimmen und wird tatsächlich mit Vorliebe dazu benutzt. Für die Strömung einer zähen, inkompressiblen Flüssigkeit durch ein axiales Rohr mit kreisförmigem Querschnitt vom Radius R iäßt sich die Geschwindigkeitsverteilung aus der N a v i e r - S t o k e s s c h e n Gleichung direkt bestimmen. Unter der Voraussetzung, daß die Bewegung unbeschleunigt bleibt, d. h. keine Trägheitskräfte wirken und auch die Schwerkraft vernachlässigt werden kann, vereinfacht sich die Beziehung auf die Betrachtung der aus der Druckdifferenz herrührenden Kraft /·", und der ihr entgegengesetzt gerichteten Reibungskraft F2. Es muß gelten 4- F.z = 0. Setzt man weiter voraus, daß R nicht zu groß und die Flüssigkeit dem N e w t o n s c h e n Ansatz für die Reibungsspannungen (Gl. VI, 28), also τ = — η dvjdr genügt, so erhält man unter der Randbedingung v(r = R) = Q tatsächlich eine Geschwindigkeitsverteilung v(r) der in Abb. VI, 85 b skizzierten Form. Für die an einem Flüssigkeitszylinder vom Radius r und der Länge l angreifende Kraft F, erhält man nämlich — bei einem Druckunterschied Δ ρ = px— p2 (Pi > Pi) zwischen Anfang und Ende des Zylinders — Δ ρ • nr2 und für die ihr entgegenwirkende, an der Mantelfläche angreifende Reibungskraft 2 π • r · l • r. Nach Voraussetzung müssen die Beträge dieser Kräfte nun gleich sein, d. h. es muß gelten: Δρ nr2 = 2 π/7 · η-y-. dr Daraus läßt sich durch Integration aber die Geschwindigkeitsverteilung bestimmen. Man erhält

Zähigkeit; Gesetze von Hagen-Poiseuille und Stokes

323

χ

31)

dXr) = j ^ r d r =

(R* -

Das Geschwindigkeitsprofil ist also, wie zuvor angenommen, wirklich parabolisch. Aus dem pro Zeit durch ein Flächenelement dA = 2 nr dr strömenden Flüssigkeitsvolumen ν • dA läßt sich nun mit diesem Wert durch eine erneute Integration zwischen den Grenzen 0 < r < Ä das pro Zeit durch den Rohrquerschnitt strömende Volumen, die sogenannte Stromstärke, ermitteln λ (VI,30) / = — = ί 2πΓ· v(r)· dr = R * . t J 8η l ο Das ist aber das Gesetz von H a g e n - P o i s e u i l l e . Man beachte, daß die Stromstärke, also das Verhältnis Volumen/Zeit, bzw. das pro Sekunde durch den Querschnitt (Rohrradius r) fließende Volumen, mit r4 steigt! Das ist ungeheuer viel. Verengt sich ζ. B. eine Ader auf 1 U des ursprünglichen Radius', was keineswegs selten ist, so kann bei gleicher Druckdifferenz in der gleichen Zeit nur 1j256 des Volumens an Blut hindurchströmen. Andererseits verlangt ζ. B. eine Steigerung der Muskeltätigkeit eine Zunahme der Blutstromstärke dVjdt. Das wird höchst wirksam durch eine Erweiterung der Kapillaren (wiederum r 4 !) erreicht. Das erweiterte Rohrnetz muß nachgefüllt werden. Die erforderliche Blutmenge wird den „Blutspeichern" (Milz, Leber) entnommen. Das Kapillarsystem des Menschen hat eine Länge von 105 km = 2,5-fachem Erdumfang! Gl. (VI, 30) kann nur gelten, wenn die F l ü s s i g k e i t am R a n d e h a f t e t , wie bisher vorausgesetzt; da Gl. (VI, 30) mit großer Genauigkeit (auch für Gase) zutrifft, enthält das Hagen-Poiseuillesche Gesetz den experimentellen Beweis für die Tatsache des Haftens. Nur bei sehr verdünnten Gasen tritt ein Gleiten an der Rohrwand und damit eine Abweichung von Gl. (VI, 30) auf. Man kann das H a g e n - P o i s e u i l l e s c h e Gesetz noch in eine andere Form bringen, wenn man statt der verschiedenen Geschwindigkeiten der einzelnen Schichten die m i t t l e r e Ges c h w i n d i g k e i t ν d e r S t r ö m u n g einführt; das läuft offenbar darauf hinaus, das ganze Rohr als e i n e einzige Stromröhre, die durchfließende Flüssigkeit als e i n e n Stromfaden zu betrachten. Für ν gilt offenbar: V

2

Stromstärke ί = — = r πυ; denn beide Seiten der Gleichung stellen das zeitliche Durchflußvolumen dar. Führt man diesen Ausdruck für V/t in (VI, 30) ein, so erhält man für das Druckgefälle (ρι—ρ·ζ)/1, das bei gegebenem Rohrradius r zur Erzeugung der mittleren Strömungsgeschwindigkeit υ erforderlich ist, den Wert: (VI, 3 0 a )

ElZJUj-p.

Multipliziert man noch mit dem Rohrquerschnitt r2n und mit der Länge /, so gibt ( p \ — ρ2) r2π die K r a f t , die in dem Rohr von der Länge / und dem Radius r die Durchflußgeschwindigkeit ν erzeugt: (VI, 3 0 b )

Ρ = &πηΙν.

Dieser Kraft ist gleich und entgegengesetzt die Reibungskraft, d. h. der sogenannte Reibungswiderstand fV, den das Rohr der Strömung entgegensetzt; der Betrag des Reibungswiderstandes ist also auch: (VI, 32)

W = 8

πηΐν,

und man erkennt, daß er verschwindet, wenn η = 0 ist, d. h. für eine ideale, d. h. reibungslose Flüssigkeit, wie es offenbar auch sein muß. Für einen sehr flachen Kanal aus zwei ebenen Glasplatten ist F = (8/3) πηΐυ. 21*

324

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Eine zweite, ebenfalls sehr wichtige Formel für den Reibungswiderstand stammt von S t o k e s . Dabei bewegt sich eine Kugel vom Radius r unter dem Einfluß einer äußeren Kraft F in einer (unendlich ausgedehnten) reibenden Flüssigkeit. Wegen der Reibung stellt sich bald ein stationärer Zustand her, in dem die Kugel sich mit konstanter Geschwindigkeit ν bewegt. Umgekehrt kann man auch die Flüssigkeit stationär mit der konstanten Geschwindigkeit ν strömen und auf die Kugel eine solche Kraft F wirken lassen, daß sie gerade in Ruhe bleibt. Nach dem von S t o k e s aufgestellten und durch zahlreiche Versuche bestätigten Gesetz ist der Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit ν und der Kraft F bzw. dem ihr gleich großen Reibungswiderstand W, den die Kugel bei der Bewegung erfährt, gegeben durch das Stokessche Gesetz: (VI, 33)

W —

βπψν.

Man kann sich leicht überzeugen, daß unter dem Einfluß einer konstanten Kraft eine in einer Flüssigkeit bewegte Kugel konstante Geschwindigkeit annimmt: Die kleinen Gasbläschen, die im Wasser aufsteigen, zeigen dies deutlich, solange ihr Radius konstant bleibt. Man kann auch eine kleine Stahlkugel etwa in Wasser, Öl oder Glyzerin (unter dem Einfluß der Schwerkraft) fallen lassen. Auch die Fallgeschwindigkeit der Regentropfen und Hagelkörner gehorcht dem S t o k e s s c h e n Gesetz. Aus Gl. (VI, 33) folgt auch hier, daß der Reibungswiderstand verschwindet, wenn η = 0, d. h. in einer reibungslosen Flüssigkeit. — Die Gestalt der Stromlinien ist hier schon recht kompliziert; sie wird durch Abb. VI, 86 wiedergegeben,

Abb. VI, 86. Strömung um eine Kugel bei Berücksichtigung der Reibung (sehr kleine Strömungsgeschwindigkeit)

und zwar in einem Meridianschnitt durch die Kugel; die Strömung erfolgt von links nach rechts. Man erkennt daraus folgendes: Diejenige Stromröhre, die den Pol Ρ der Kugel trifft, spaltet sich auf, umfließt die Kugel, um am Gegenpol Ρ ' wieder zusammenzufließen. Die benachbarten Stromlinien weichen in ähnlicher Weise vor der Kugel aus, um sich hinterher der Parallelströmung wieder anzunähern. Weiter außerhalb ist die Parallelströmung nicht mehr merklich gestört. Das Bild dieser Strömung ist also der Umströmung einer Kugel durch eine reibungsfreie Flüssigkeit sehr ähnlich (Abb. VI, 71), jedoch mit einem entscheidenden Unterschied. Das Strömungsfeld zerfällt auch hier in einzelne Schichten, die mit verschiedener Geschwindigkeit unter Reibung aneinander vorbeiströmen, wobei die innerste Schicht fest an der Kugel haftet, d. h. die Geschwindigkeit Null besitzt. Es handelt sich also auch hier um eine typische Laminarströmung. Das Strömungsbild ist bezüglich der Achse P P ' (in Abb. VI, 86 oben und unten) völlig symmetrisch, ebenso in bezug auf die Achse QQ' (links und rechts in der Figur). Dagegen ist — wegen der Reibung! — d e r D r u c k a u f d i e l i n k e K u g e l h ä l f t e g r ö ß e r a l s a u f d i e r e c h t e : Die Resultierende der Druckkraft liefert eben den Widerstand nach Gl. (VI, 33). Man erkennt dies leicht, wenn man eine S t r o m r ö h r e betrachtet; ein Schnitt ist in der Abbildung VI, 86 schraffiert. Da durch die Wände der Stromröhre keine Flüssigkeit hindurchtritt, hat man in der Strömung durch eine Stromröhre das genaue Ana-

Zähigkeit; Gesetze von Hagen-Poiseuille und Stokes logon zum röhre nicht eine hinter nimmt hier

325

H a g e n - P o i s e u i l l e s c h e n Fall vor sich, nur daß hier der Querschnitt der Stromüberall der gleiche ist. Faßt man zwei Stellen einer Stromröhre ins Auge, eine vor, der Kugel und symmetrisch gelegen, also Stellen vom gleichen Querschnitt, so wie dort der Druck in der Bewegungsrichtung (von links nach rechts) ab.

Die Flüssigkeit ist natürlich nie unendlich ausgedehnt, sondern etwa in einem zylindrischen Gefäß eingeschlossen; das bedingt Korrekturen an der einfachen Form des Gesetzes (VI, 33). Mit Hilfe des H a g e n - P o i s e u i l l e s c h e n Gesetzes (VI, 30) und des Stokesschen Gesetzes (VI, 33) hat man zahlreiche Messungen von η ausgeführt. Die Dimension der Viskosität η ergibt sich aus (VI, 32) oder (VI, 33): Da W die Dimension einer Kraft hat, findet man für die gesuchte Dimension der dynamischen Viskosität: (VI, 34)

dim η = MU

1

T~1.

Die gleiche Dimension folgt auch aus der Definitionsgleichung (VI, 28) für die Schubspannung τ. Eine Flüssigkeit hat danach die Zähigkeit η = 1 g c m - 1 Λ - 1 , wenn sich in ihr unter demEinfluß einer Schubspannung r = 1 dyn/cm 2 ein solcher Geschwindigkeitsgradient ausbildet, daß die relative Geschwindigkeit zweier um 1 cm voneinander abstehender Schichten gerade 1 cm/s beträgt. Diese Einheit heißt 1 Poise (P); ihr hundertster Teil heißt Centipoise (cP). Die neue SI-Einheit ist Pascalsekunde (Pa s). 1 Poise = 1 Dezipascalsekunde (dPa s). — Die folgende Tabelle gilt für 20 °C und Normaldruck. Stoffe

V (cP)

Hg Diäthyläther Benzol Glyzerin (wasserfrei) Rizinusöl

1,554 0,240 0,648 1480 990

Stoffe

V (cP) 0,02211 0,01961 0,01819 0,00884

Argon Helium Luft Wasserstoff

Abhängigkeit von η von der Temperatur für Wasser bei Normaldruck (°C) | 0 | 10 | 20 | 30 | 50 1,792 1,307 1,002 0,798 | 0,548 V (cP)

Abhängigkeit der relativen Zähigkeit vom Druck für Wasser bei 0 °C ρ (kp/cm2) | 1 | 500 | 1000 0,938 0,921 vlm | 1,000

| |

70 0,404

2000 0,957

100 0,282

5000 1,218

Man sieht am Beispiel des Wassers in dieser Tabelle, daß die Viskosität η mit zunehmender Temperatur sehr stark abnimmt: Das gilt für alle F l ü s s i g k e i t e n . Gerade umgekehrt verhalten sich die G a s e : Bei ihnen wächst die Zähigkeit mit zunehmender Temperatur. Bei Messungen der Zähigkeit ist daher auf genaue Temperaturbestimmung und Temperaturkonstanz zu achten. Die innere Reibung in Gasen beruht auf einer ganz anderen Ursache, nämlich auf der Diffusion. Strömen zwei Gasschichten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten nebeneinander her, so werden — infolge der Brownschen Molekularbewegung — Moleküle mit höherer mittlerer Geschwindigkeit in den langsameren Gasstrom und umgekehrt übertreten. Die dabei übertragenen Impulse werden dem Betrage nach gleich, aber entgegengesetzt gerichtet sein. Sie werden damit eine Kraftwirkung ausüben, die für eine Angleichung der Geschwindigkeiten der Gasschichten sorgt. Die Zähigkeit η hängt also von der mittleren Geschwindigkeit c der Gasmoleküle ab. Diese wiederum steigt aber mit zunehmender Temperatur.

326

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Die Betrachtung der obigen Zahlen zeigt, daß für Wasser und Luft, d. h. für die in der Praxis wichtigen Substanzen, die Zähigkeit η sehr klein ist; wenn daher — siehe Gl. (VI, 28) — dvldh nicht sehr groß ist, ist m a n im a l l g e m e i n e n b e r e c h t i g t , v o n d e r R e i b u n g a b z u s e h e n u n d d i e F l ü s s i g k e i t a l s i d e a l zu b e t r a c h t e n . Allerdings gilt das nur, wenn wie oben betont, die Kleinheit von η nicht durch einen sehr großen Geschwindigkeitsgradienten dvldh kompensiert wird; in diesem Fall dürften die von der Zähigkeit herrührenden Schubkräfte gemäß (VI, 28) nicht ignoriert werden. Wo ist dies der Fall? S t e t s an d e r O b e r f l ä c h e e i n g e t a u c h t e r K ö r p e r . Halten wir etwa den Körper fest und lassen die Flüssigkeit daran vorbeiströmen, so ist wegen des H a f t e n s die Strömungsgeschwindigkeit am Körper selbst gleich Null; in zunehmender Entfernung vom Körper aber steigt sie — wegen des kleinen Wertes von η — sehr rasch zu dem vollen Wert an, den sie für eine reibungslose Flüssigkeit hat. D e r G r a d i e n t dv/dh ist a l s o in e i n e r m e h r o d e r w e n i g e r d ü n n e n , d e m K ö r p e r a n l i e g e n d e n S c h i c h t i m m e r g r o ß , u m s o g r ö ß e r , j e k l e i n e r η ist. D a h e r m u ß in d i e s e r „Grenzschicht", wie P r a n d t l 1904 zuerst erkannt hat, d i e R e i b u n g s t e t s b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n , w i e k l e i n a u c h η sei. Außerhalb der Grenzschicht jedoch darf die Flüssigkeit als ideal betrachtet werden. Man hat dies lange übersehen und irrigerweise die Reibung bis dicht an die Oberfläche des eingetauchten Körpers vernachlässigt. So kam es, daß die reibungslose Hydrodynamik in vielen Fällen nicht mit der Erfahrung übereinstimmte, obw o h l η klein war. Man kann die Gin. (VI, 32) und (VI, 33) für den Widerstand eines durchströmten Rohres und einer umströmten Kugel noch etwas anders fassen. Man schreibt nämlich im Anschluß an ein ursprünglich von N e w t o n aufgestelltes Widerstandsgesetz, in dem Druckwiderstand und Reibungswiderstand im Flüssigkeitswiderstand W zusammengefaßt sind: (VI,35)

W

f-^-v2-A,

=

wo Α die angeströmte Fläche, (ρ/2) ν2 die kinetische Energie pro Volumen und / ein als Widerstandsziffer oder Widerstandsbeiwert bezeichneter Faktor ist. Vergleicht man die Dimensionen, so ergibt sich / als d i m e n s i o n s l o s , d. h. als reine Zahl, und es ist vorteilhaft, alle Widerstände einfach durch ihren dimensionslosen Beiwert zu charakterisieren. Wir wollen daher / f ü r den H a g e n - P o i s e u i l l e s c h e n und den S t o k e s s c h e n Fall bestimmen. Im durchströmten Rohr vom Radius r und der Länge / benutzt man zweckmäßigerweise die umströmte Fläche A — 2 ml, bei der Kugel jedoch die angeströmte Fläche Α = Γ2π. Wenn man die Widerstandswerte W aus (VI, 32) und (VI, 33) und die eben angegebenen Werte von Α in (VI, 35) einsetzt, so erhält man folgende Widerstandsbeiwerte: (VI, 36)

/„_P

8

=

rgv Ά

(VI, 37)

12

/st = '

Γρν'

n Man erkennt, daß in beiden Fällen der Widerstandsbeiwert nur von der dimensionslosen Zahl: (VI, 38)

ReJW η

abhängt, die als „Reynoldssche Zahl" bezeichnet wird, da O. R e y n o l d s ihre Bedeutung zuerst (1883) erkannt hat. Mit den obigen Ergebnissen kann man den Reibungswiderstand im H a g e n - P o i s e u i l l e s c h e n wie im S t o k e s s c h e n Fall schreiben:

Zähigkeit; Gesetze von Hagen-Poiseuill; jnd Stokes (VI, 36 a)

(VI, 39)

Re

327

2

W=xp{Re)-^v2-A,

womit zum Ausdruck gebracht wird, daß der Widerstandsbeiwert lediglich eine Funktion ψ von Re ist. Dies gilt für alle Arten hydrodynamischer Widerstände. Die Widerstandsziffer ist also — da das Produkt (ρ/2) v2A allen Widerständen gemeinsam ist — das eigentlich Charakteristische an dem Gesetz des Widerstandes, auf das sich daher das Interesse lenkt, da man leicht übersehen kann, wie ψ von der Dichte ρ der Flüssigkeit, ihrer Zähigkeit η, ihrer Geschwindigkeit υ und von einer linearen Abmessung r des umströmten Hindernisses abhängt: Sie ist von den genannten Größen eben n u r in der Verbindung Re = rovjrj abhängig. Das bedeutet, daß man eine Veränderung des Widerstandsbeiwertes durch Übergang zu anderem η durch geeignete Wahl von r, ρ oder υ kompensieren kann, ζ. B. bei festgehaltener Abmessung r der Widerstandskörper und gleicher Dichte ρ der Flüssigkeit durch geeignete Wahl der Geschwindigkeit v. Oder: Bei v e r k l e i n e r t e m r — d. h. bei einem in kleinen Abmessungen ausgeführten Modellkörper — hat man bei gleichen ρ und η die Geschwindigkeit ν im gleichen Verhältnis zu vergrößern, in dem r verkleinert wurde usw. Solange nur Re konstant ist, ist es auch der Widerstandsbeiwert. Diese Erkenntnis, die als das hydrodynamische Ähnlichkeitsgesetz bezeichnet wird und von R e y n o l d s zuerst betont wurde, ermöglicht es, aus Versuchen an kleinen Modellen und mit gegebener Flüssigkeit auf andere Dimensionen der Widerstandskörper und andere Flüssigkeiten zu schließen. M a n s i e h t a l s o , d a ß d i e G r ö ß e Re f ü r d e n S t r ö m u n g s z u s t a n d u n d d a m i t f ü r d e n W i d e r s t a n d in j e d e m F a l l c h a r a k t e r i s t i s c h ist. Den beiden bisher untersuchten Fällen ( H a g e n - P o i s e u i l l e und S t o k e s ) war das Merkmal gemeinsam, daß die R e i b u n g s k r ä f t e d i e T r ä g h e i t s k r ä f t e s t a r k ü b e r w o g e n . Auch diese Betrachtung führt übrigens auf d i e R e y n o l d s sehe Zahl, da ein Vergleich ergibt:

0

Reibungskräfte Trägheitskräfte

Die Gesetze von H a g e n - P o i s e u i l l e und S t o k e s sollten also durch kleine R e y n o l d s s c h e Zahlen charakterisiert sein. Die Erfahrung ergibt in der Tat, daß das S t o k e s s c h e Gesetz nur für Re < 1 Gültigkeit besitzt; nur unterhalb dieser Grenze können die Trägheitskräfte gegenüber den Reibungskräften vernachlässigt werden. Eine Besonderheit liegt aber beim H a g e n - P o i s e u i l l e - s c h e n Fall vor, insofern hier die Trägheitskräfte u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n g l e i c h N u l l s i n d : Jedes Flüssigkeitsteilchen beschreibt ja eine geradlinige Bahn mit konstanter Geschwindigkeit, ist also u n b e s c h l e u n i g t , ganz gleichgültig, wie groß oder wie klein die R e y n o l d s s c h e Zahl ist. Man sollte daher für alle Werte von Re H a g e n P o i s e u i l l e s c h e Strömung erwarten. Überraschenderweise zeigt sich indessen, daß dies nicht der Fall ist. Nur u n t e r h a l b eines gewissen Wertes von Re tritt mit Sicherheit Hagen-Poiseuillesche Strömung auf; wird dieser kritische Wert von Re überschritten — er liegt bei Re = 1160 —, so k a n n zwar bei hinreichender Vorsicht (möglichste Vermeidung der „Einlaufsstörung") immer noch Hagen-Poiseuillesche Strömung bestehen; es k a n n aber auch eine total abweichende Art von Strömung auftreten, die im Gegensatz zur Laminarbewegung als Turbulenz bezeichnet wird. Dies gilt von allen Laminarbewegungen: Wird ein f ü r die b e t r e f f e n d e S t r ö m u n g c h a r a k t e r i s t i s c h e r Re-Wert ü b e r s c h r i t t e n , so kann eine t u r b u l e n t e S t r ö m u n g eintreten. Mehr darüber in Nr. 63.

328

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Kleine R e y n o l d s s c h e Zahlen bedeuten nach (VI, 38) entweder großes η oder kleines rov. Man kann also in jeder Flüssigkeit, d. h. für jedes noch so kleine η und beliebiges ρ, ζ. Β. für Luft, einen vorgeschriebenen Wert Re durch geeignete Wahl von r oder durch geeignete Geschwindigkeit ν erzielen, also mit jeder Flüssigkeit H a g e n - P o i s e u i l l e s c h e Strömung oder den Stokesschen Fall herstellen. Wegen des kleinen Wertes von Re, d . h . wegen der (im allgemeinen) k l e i n e n Geschwindigkeit ν nennt man eine solche Bewegung der Flüssigkeit schleichende Strömung. Geht man aber zu großen Werten von Re über, was ζ. B. bei beliebigem r, ρ, υ durch Verkleinerung von d. h. durch Übergang zu weniger zähen Flüssigkeiten geschehen kann, so gelten a n d e r e G e s e t z e . Die r e i b u n g s l o s e H y d r o d y n a m i k insbesondere ist durch η — 0, d. h. Re — oo charakterisiert. 60. Wirbelbewegungen Nunmehr sollen die Gesetze der Wirbelbewegungen behandelt werden. Sie wurden von H e l m h o l t z aufgestellt. Einige Kenntnisse darüber sind notwendig, bevor man untersuchen will, wie sich eine wirkliche Flüssigkeit beim Umströmen von solchen Körpern verhält, die keine Stromlinienform haben (Kugel, Zylinder, Platte). Diese Frage mußte ja bis jetzt offengelassen werden. Zunächst einige Versuche über derartige rotierende Flüssigkeits- oder Gasbewegungen, die man Wirbel nennt. Wenn man eine Platte im Wasser bewegt, so entstehen hinter der Platte zwei entgegengesetzt rotierende Flüssigkeitswirbel (Abb. VI, 87). Man kann sie durch schwebende Kunststoffteilchen oder durch schwimmendes Korkpulver sichtbar machen. — Bringt man auf den Boden eines Becherglases etwas gefärbtes und darüber klares Wasser und erwärmt die

Wasser bewegten Platte Abb. VI, 88. Wirbelbildung bei Erwärmung von Wasser in einem Gefäß (schematisch)

Flüssigkeit in der Mitte durch eine unter das Gefäß gestellte kleine Flamme, so beobachtet man, daß die farbige Flüssigkeit in der Mitte des Gefäßes infolge der Erwärmung hochsteigt, sich oben ausbreitet und an den Seiten wieder herabsinkt, so daß sich in dem Gefäß eine kreisende Strömung einstellt (Abb. VI, 88). — Geschickte Raucher verstehen es, den Tabaksrauch stoßweise so aus dem Mund zu blasen, daß sich „ R a u c h r i n g e " ergeben, die sich als Ganzes langsam durch den Raum bewegen und einen sogenannten Wirbelring darstellen. Man kann solche Wirbelringe auch mit einer alten Trommel erzeugen, bei welcher das eine Trommelfell durch eine feste Platte mit einem Loch in der Mitte ersetzt ist. Schlägt man mit dem Klöppel kräftig auf das andere Trommelfell, so tritt aus dem Loch ein Wirbelring aus. Man kann damit leicht eine Kerze in 10 m Entfernung ausblasen. - Auch in Flüssigkeiten kann man solche Wirbelringe

329

Wirbelbewegungen

erzeugen, indem man ζ. B. in Wasser aus einem Rohr stoßartig etwas Farbflüssigkeit austreten läßt. Abb. VI, 89 zeigt im Querschnitt wie die aus der Rohröffnung austretende Farbflüssigkeit zuerst Pilzgestalt annimmt und sich dann durch Einrollen ihrer Ränder allmählich in einen Wirbelring verwandelt. Wir betrachten diesen in Abb. VI, 90 schematisch gezeichneten Wirbelring etwas näher. Die den Wirbelkern bildende Flüssigkeits- oder Gasmasse rotiert um eine innere Kreislinie, die sogenannte W i r b e l a c h s e . Die Flüssigkeitsteilchen des Wirbelkerns besitzen also die gleiche Winkelgeschwindigkeit. Infolgedessen ist die Bahngeschwindigkeit der äußeren Teilchen größer als die der inneren; sie nimmt proportional mit dem Radius des

Wirbelkörpers zu. Die den Wirbelkern bildenden Teilchen vermischen sich nicht mit der sie umgebenden Flüssigkeit; sie versetzen aber (infolge der in jeder Flüssigkeit und in jedem Gas vorhandenen inneren Reibung) die ihn umgebende Flüssigkeit in eine strömende Bewegung. Es ist die schon erwähnte Zirkulationsströmung um den Wirbelkern. Diese Zirkulationsbewegung unterscheidet sich, wie nochmals betont sei, wesentlich von der Wirbelbewegung, da die Geschwindigkeit der zirkulierenden Teilchen um so kleiner wird, je weiter diese Teilchen von der Wirbelachse entfernt sind. In Abb. VI, 91 ist die Geschwindigkeitsverteilung in einem Wirbelkern und der ihn umgebenden Zirkulation graphisch wiedergegeben: Im Innern des Wirbelkerns steigt sie an, im Außenraum sinkt sie allmählich zu Null ab. υ

Abb. VI, 91. Verteilung der Geschwindigkeit ν innerhalb und außerhalb eines Wirbelkerns

Zirkulations Strömung

Zirkulahonssrrömung Wirbelkdrn

Wir haben einen kreisförmigen Wirbel, einen Wirbelring, wie er sich experimentell am leichtesten erzeugen läßt, betrachtet. Die Gestalt eines Wirbels kann jedoch auch geradlinig sein. Geradlinige Wirbel erhält man ζ. B. hinter einem Stab beim Hindurchführen durch eine Flüssigkeit. Wenn wir den Querschnitt dieses Wirbels mit Α und die Größe der Winkelgeschwindigkeit der um die Wirbelachse rotierenden Teilchen mit ω bezeichnen, so wird das Produkt A • ω = f

330

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

nach H e l m h o l t z als die W i r b e l i n t e n s i t ä t bezeichnet. Ist ω nicht k o n s t a n t über den ganzen Querschnitt, so tritt an Stelle von Α · ω der Ausdruck J ω dA = I, wenn dA ein Querschnittselement bedeutet. Die W i r b e l i n t e n s i t ä t I stellt nach einem H e l m h o l t z s c h e n Satz e i n e u n v e r ä n d e r l i c h e u n d u n z e r s t ö r b a r e E i g e n s c h a f t d e s W i r b e l s d a r . Verändert sich der Wirbelquerschnitt, so ändert sich entsprechend die Wirbelgeschwindigkeit; wenn z . B . der D u r c h messer eines Wirbelringes größer wird, so wird sein Querschnitt kleiner u n d infolgedessen wirbelt der Ring schneller, was m a n bei Rauchringen leicht beobachtet. Ein zweiter wichtiger Satz von H e l m h o l t z besagt, d a ß e i n W i r b e l n i e m a l s i n n e r h a l b d e r F l ü s s i g k e i t e n d i g e n k a n n . Die Wirbel können entweder nur in den Flüssigkeitsoberflächen enden — das ist ζ. B. bei dem in A b b . VI, 87 dargestellten Versuch der Fall — oder sie müssen, wie im Fall der Wirbelringe, in sich geschlossen sein. Eine weitere wichtige Feststellung ist die Tatsache, d a ß in einen Wirbelfaden keine Flüssigkeit eindringen oder aus ihm heraustreten k a n n . Auch in einem bewegten Wirbelfaden befinden sich deshalb immer dieselben Flüssigkeitsteilchen. Ein einzelner geradliniger Wirbelfaden nimmt von selbst niemals eine fortschreitende Bewegung in einer ruhenden Flüssigkeit an, sondern bleibt stets an demselben Ort. Dies folgt schon aus Symmetriegründen. Zwei oder mehrere einander parallele Wirbelfäden beeinflussen sich aber gegenseitig durch die sie umströmende Zirkulation; j e d e r v o n i h n e n w i r d d u r c h d i e v o n den a n d e r e n h e r r ü h r e n d e Z i r k u l a t i o n f o r t b e w e g t . Infolgedessen drehen sich zwei gleich starke parallele Wirbelfäden (d. h. mit gleicher Wirbelintensität I) um eine zu ihrer Wirbelachse parallele Gerade, und zwar liegt diese in der Mitte zwischen den beiden Wirbelfäden, wenn die Wirbel im gleichen Sinn rotieren; bei entgegengesetztem Drehsinn liegt dagegen die Achse im Unendlichen auf der durch die beiden Wirbelfäden hindurchgehenden Ebene, so daß sich demnach die beiden Wirbelfäden senkrecht zu ihrer Verbindungsebene geradlinig fortbewegen (Abb. VI, 92). Im Gegensatz zu einem geradlinigen Wirbel kann ein Wirbelring nie in Ruhe sein. Wenn man durch seine Achse einen ebenen Schnitt legt, so erhält man q u a l i t a t i v das gleiche Strömungsbild wie in einer Ebene senkrecht zur Achse zweier gleich starker entgegengesetzt rotierender geradliniger Wirbel. Der W i r b e l r i n g bewegt sich aus dem gleichem Grunde wie jenes geradlinige Wirbelsystem vorwärts.

A

Β Abb. VI, 92. Senkrechter Schnitt durch zwei entgegengesetzt rotierende Wirbelfäden; diese bewegen sich in der Richtung AB fort

Auf die gleiche Weise eiklärt sich auch die gegenseitige B e e i n f l u s s u n g z w e i e r W i r b e l r i n g e . Nehmen wir zunächst den Fall, daß sie in demselben Sinn von Α nach Β fortschreiten, wie Abb. VI, 93 a zeigt, in der von beiden Wirbelringen nur die Hälfte der Übersichtlichkeit wegen gezeichnet ist. Es wirken nach dem vorher Gesagten der Teil α des Wirbelringes 1 auf den Teil b von Wirbelring 2, so daß eine allgemeine Drehung dieser Teile um die zwischen ihnen liegende Achse C in der eingezeichneten Richtung erfolgt. Dasselbe gilt für die beiden Teile a' und b\ die sich um die Achse C" im entgegengesetzten Sinn drehen. Das gleiche gilt für alle anderen entsprechend liegenden Teile beider Ringe. Die Folge davon ist, daß sich der Ring 1 erweitert, seine Rotationsgeschwindigkeit wird größer, aber seine fortschreitende Geschwindigkeit in Richtung AB wird kleiner. Für den Ring 2 gilt das Umgekehrte, sein Durchmesser wird kleiner, seine Rotationsgeschwindigkeit nimmt ab und seine fortschreitende

Wirbelbewegungen

331

Geschwindigkeit zu, so daß er schließlich den Ring 1 einholt und durch ihn hindurchschlüpft. Dann wiederholt sich das Spiel von neuem; der nunmehr vordere kleinere Ring wird durch den Einfluß des hinter ihm herkommenden unter gleichzeitiger Verlangsamung seiner Translationsgeschwindigkeit erweitert, während der hintere unter gleichzeitiger Beschleunigung seiner Vorwärtsbewegung kleiner wird, um schließlich den vor ihm laufenden einzuholen und durch ihn durchzuschlüpfen. Versuche mit Rauchringen bestätigen diese Folgerungen. Betrachten wir nun den Fall, daß zwei gleiche Wirbelringe auf derselben Achse sich aufeinander zu bewegen (Abb. VI, 93 b). Dann ergeben die gleichen Erwägungen, daß sich ζ. B. die Teile α und b sowie

Abb. VI, 93. Gegenseitige Beeinflussung zweier Wirbelringe: a) Beide Ringe bewegen sich in derselben Richtung b) Die Ringe bewegen sich längs derselben Achse aufeinander zu c) Die Ringe bewegen sich längs derselben Achse voneinander weg

α und b' parallel zueinander in Richtung der Linie CD von der gemeinsamen Achse AB fortbewegen; die beiden Ringe erweitern sich also immer mehr, und ihre aufeinander zu gerichtete Bewegung wird immer langsamer, so daß sie sich niemals berühren können. Die beiden Wirbelringe nähern sich also von beiden Seiten einer zwischen ihnen befindlichen gedachten Ebene, ohne sie jemals zu erreichen. Man kann diese Ebene daher beim Versuch durch eine feste Wand ersetzen: Ein gegen diese anlaufender Wirbelring verhält sich genau so wie oben beschrieben. Nehmen wir schließlich den letzten Fall, daß zwei gleiche Wirbelringe sich auf derselben Achse voneinander weg bewegen (Abb. VI, 93 c), so erhalten wir das theoretische Resultat, daß beide Ringe immer kleiner werden und sich mit zunehmender Geschwindigkeit voneinander entfernen. Infolge der R o t a t i o n besitzt ein Wirbelring eine verhältnismäßig große Steifigkeit und Energie. Trifft ein Wirbelring auf ein Hindernis, so k a n n er dieses umwerfen, eine Kerzenflamme wird von einem Luftring, der wenige Zentimeter im Durchmesser beträgt, ausgeblasen. I m Wasser a u f t r e t e n d e Wirbelringe wirken auf Schwimmer wie ein festes Hindernis. Einiges über die Entstehungsursache von Wirbeln. D a m i t eine Wirbelbewegung d u r c h nicht drehende K r ä f t e ü b e r h a u p t e n t s t e h e n k a n n , m u ß die betreffende Flüssigkeit innere R e i b u n g besitzen bzw. müssen R e i b u n g s k r ä f t e zwischen Flüssigkeit u n d festen K ö r p e r n v o r h a n d e n sein. Bei den bisherigen Darlegungen wurde von der R e i b u n g abgesehen. D e r Satz von der K o n s t a n z der Wirbelintensität, wie alle H e l m h o l t ζ sehen Wirbelsätze, gilt auch n u r f ü r die ideale, r e i b u n g s l o s e Flüssigkeit. E i n i n e i n e r s o l c h e n F l ü s s i g k e i t v o r h a n d e n e r W i r b e l i s t u n z e r s t ö r b a r ; e r k a n n a b e r a u c h n i c h t e r z e u g t w e r d e n . Die Vorgänge bei den wirklichen in der N a t u r v o r k o m m e n d e n Wirbeln sind wesentlich komplizierter.

332

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

W a s d i e E n t s t e h u n g v o n W i r b e l n angeht, so steht fest, daß sie sich stets hinter festen Körpern bilden, infolge der Reibungsvorgänge in der Grenzschicht. (Die Einzelheiten werden in der nächsten Nummer eingehend betrachtet.) Darauf beruht jedenfalls die Entstehung der Wirbelringe beim Ausströmen einer Flüssigkeit oder eines Gases aus einer Rohröffnung. Wie Abb. VI, 94 andeutet, kommt es am Rande des Rohres — infolge der Verzögerung der anliegenden Flüssigkeitspartien durch die Reibung — zu einer A u f r o l l u n g d e r R a n d p a r t i e n der ausströmenden Flüssigkeit und damit zur Bildung eines Wirbelringes. Auf die gleiche Weise bilden sich Wirbel beim Umströmen einer Schneide aus, wie die Aufnahme Abb. VI, 95 zeigt. Eine zweite Möglichkeit der Wirbelentstehung ist die folgende: Läßt man zwei Flüssigkeitsströme mit verschiedener Geschwindigkeit aneinander vorbei oder eine bewegte Flüssigkeit über eine ruhende hinwegströmen, so bildet sich eine sogenannte Unstetigkeitsfläche, in der die tangentialen Komponenten der Geschwindigkeit einen Sprung machen. Wie H e l m h o l t z zuerst erkannt hat, ist dies bei einer r e i b u n g s l o s e n F l ü s s i g k e i t durchaus möglich. Diese „ u n s t e t i g e P o t e n t i a l s t r ö m u n g " ist a b e r n i c h t s a n d e r e s a l s ein S y s t e m f l ä c h e n h a f t a n g e o r d n e t e r W i r b e l , wie man aus Abb. VI, 96 erkennt. Denkt man sich die dort

Flüssigkeit o d e r eines G a s e s a u s e i n e m

^

Rohr

——

A b b . VT, 95. W i r b c l b i l d u n g b e i m U m s t r ö m e n einer S c h n e i d e

• ,

A b b . VI, 96. E n t s t e h u n g einer W i r b e l s c h i c h t an einer U n s t e tigkeitsfläche

opoooooooo

gezeichneten Wirbelquerschnitte immer kleiner werdend, die Wirbel selbst immer zahlreicher und enger aneinander, so bildet sich auf der Oberseite eine (in der Figur) von rechts nach links, auf der Unterseite eine von links nach rechts gerichtete Geschwindigkeit aus, die in der Trennungsfläche direkt aneinander grenzen. Das ist aber eben eine unstetige Potentialströmung. Solche Unstetigkeitsflächen sind nun, wie H e l m h o l t z bemerkt hat, äußerst unstabil, d. h. kleine zufällige Störungen wachsen mit der Zeit an und ändern die ganze Unstetigkeitsfläche radikal ab. Dies erkennt man aus Abb. VI, 97a. Darin bedeutet die stark ausgezogene Linie

Wirbelbewegungen

333

eine Unstetigkeitsfläche, die durch irgendeinen Zufall eine Ausbuchtung erfahren hat. Darüber und darunter sind schwach ausgezogen die Stromlinien gezeichnet. Wir betrachten zuerst die Stromlinien oberhalb der Trennungsfläche: Sie drängen sich über dem konvexen Teil zusammen und treten über den konkaven Partien auseinander. Analoges gilt für die unterhalb befindlichen Stromlinien. Das heißt aber, daß die Geschwindigkeiten an der gleichen Stelle oberhalb und unterhalb der Trennungsfläche verschieden sind, und dies bedeutet nach der B e r n o u l l i s c h e n Gleichung Druck Verschiedenheiten. Die Kräfte sind durch Pfeile in der Figur a) angedeutet. Man erkennt nun, daß die Druckdifferenzen so geartet sind, daß sie die zufällige Ausbauchung zu v e r s t ä r k e n bestrebt sind, d. h. die ursprünglich ebene Diskontinuitätsfläche wird immer stärker verbogen: Sie ist instabil. Was weiter mit der Fläche geschieht, ist in Abb. VI, 97b angedeutet, die drei aufeinanderfolgende Stadien zeigt; im letzten Stadium hat die Fläche sich in einzelne Wirbel aufgelöst. Somit erkennt man, daß auch aus einer Unstetigkeitsfläche sich einzelne Wirbel bilden können, was gerade für die Tragflügel eines Flugzeuges eine Rolle spielt. — Auf der leichten Beweglichkeit und Deformierbarkeit einer Unstetigkeitsfläche beruht ζ. B. das Flattern der Fahnen; man kann in Abb. VI, 97a die stark ausgezogene Kurve als das Fahnentuch betrachten. Ebenso entstehen die Wasserwellen, wenn Wind horizontal über eine Wasseroberfläche hinwegstreicht. (Weiteres Beispiel: Zyklonenbildung.) Schließlich sollen zwei photographische Aufnahmen einen Einblick in die Experimentiertechnik beim Studium von Wirbeln geben. Das Prinzip der Anordnung zeigt bereits Abb. VI, 94. Aus einem horizontalen Rohr, das in einen Wassertrog hineinragt, wird mit einem Stempel genau dosiert und ruckweise Wasser ausgestoßen. In der Abb. VI, 98 war das Rohr am Ende

Abb. VI, 98. Wirbelringe in Wasser; erzeugt durch Ausstoß von Wasser aus einem Rohr, sichtbar gemacht durch Farbstoff, der sich nur oben und unten am Rohrende befindet

nur oben und unten mit je einem Farbstift versehen. Dadurch erhält man Bilder, die einen vertikalen Schnitt durch die Wirbelringe zeigen. Gibt man dem Stempel nacheinander zwei Impulse, von denen der zweite der größere ist, dann kann man das Hindurchschlüpfen des zweiten Wirbelringes durch den ersten sehr schön beobachten und studieren. In der Abb. VI, 99 war das Rohrende auf dem ganzen Umfang mit einem schmalen Ring von Farbstoff versehen. Der linke Teil des Bildes zeigt einen Wirbelring von der Seite, der rechte Teil einen Wirbelring, auf den Photoapparat zukommend. Die beiden Wirbelringe hatten zur Zeit der Aufnahme eine längere Wegstrecke zurückgelegt. Obgleich alle Wirbelringe kurz nach dem Entstehen kreisrund sind, zeigen sie alle nach längerer Laufzeit das gleiche Bild, wie es die Abb. VI, 99 zeigt.

334

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Abb. VI, 99. Wirbelringe in Wasser nach einigen Sekunden Lebensdauer. Der linke ist von der Seite Photographien und bewegt sich nach rechts; der rechte bewegt sich auf den Photoapparat zu. Zu Beginn sind alle Wirbelringe kreisrund und verändern dann ihre Struktur

61. Umströmung fester Körper durch reale Flüssigkeiten Nunmehr läßt sich die Strömung wirklicher Flüssigkeiten um feste Hindernisse erörtern, ζ. B. um einen Zylinder, an den die weiteren Betrachtungen anknüpfen. Im ersten Augenblick entsteht das bereits ausführlich geschilderte Stromlinienbild der Abb. VI, 71: Reine Potentialströmung. Aber dies bleibt nicht so, wie schon mehrfach betont, weil sich die Reibung in der Grenzschicht bemerkbar macht und das Stromlinienbild in der Folge total umgestaltet. Wenn bei der Potentialströmung der Abb. VI, 71 ein Teilchen den Punkt Ρ erreicht hat, so kommt es zur Ruhe: Dort ist Maximaldruck, in C und D Minimaldruck, da dort maximale Geschwindigkeit herrscht; in P' ist wieder Maximaldruck und die Geschwindigkeit gleich Null. Betrachten wir etwa die Oberseite PCP' des Zylinders (für die Unterseite gilt das gleiche): Ein in Ρ zur Ruhe gekommenes Flüssigkeitsteilchen unterliegt dem von Ρ nach C wirkenden D r u c k g e f ä l l e , das die beschleunigende Kraft für dieses Teilchen darstellt; es bewegt sich also von Ρ nach C in R i c h t u n g d i e s e r K r a f t und gewinnt schließlich in C seinen Maximalbetrag an kinetischer Energie. Durch diese wird es befähigt, sich nunmehr von C nach P' e n t g e g e n der w i r k e n d e n K r a f t zu bewegen; denn hier wirkt das Druckgefälle in der Richtung von P ' nach C. Aber die aufgespeicherte kinetische Energie ist gerade so groß, daß das Teilchen bis zum Punkt P' strömen kann, in welchem nunmehr seine Geschwindigkeit völlig aufgezehrt ist, wenn von Reibung abgesehen wird. Das Flüssigkeitsteilchen verhält sich energetisch genau wie eine Pendelkugel. Wird sie gehoben und ohne Anfangsgeschwindigkeit losgelassen, so gewinnt sie kinetische Energie, deren Maximum sie im tiefsten Punkte ihrer Bahn erreicht, wobei sie sich in Richtung der Schwerkraft (bzw. einer Komponente derselben) bewegt. D i e erlangte Geschwindigkeit reicht — bei fehlender Reibung! — gerade aus, um die Pendelkugel g e g e n die Schwerkraft wieder bis zur alten Höhe zu heben.

Aber weder das Pendel erreicht seine alte Höhe, noch das Flüssigkeitst e i l c h e n den h i n t e r e n S t a u p u n k t P', wenn R e i b u n g v o r h a n d e n i s t ; vielmehr

Umströmung fester Körper

335

kommt das Teilchen z w i s c h e n C und P', also vor P', zur Ruhe und unterliegt dann a u f d e r I n n e n s e i t e der von P ' nach C wirkenden Kraft, außen der von der äußeren Strömung ausgeübten (schwachen) Reibungskraft, die in umgekehrter Richtung wirkt. Das zur Ruhe gekommene Flüssigkeitsteilchen wird also zur Umkehr gezwungen. Mit anderen Worten: Es bildet sich — auf der Unterseite entsprechend — auf der Rückseite des Zylinders (auch der Kugel oder Platte) ein Wirbelpaar von gleichem, aber entgegengesetztem Rotationssinn aus, das die Strömung auf der Rückseite also völlig anders gestaltet, als auf der Vorderseite. Die Abb. VI, 100a bis lOOd zeigen die allmähliche Ausbildung und Ablösung des Wirbelpaares hinter einem Zylinder bei größerer Strömungsgeschwindigkeit.

Abb. VI, 100. Allmähliche Ausbildung und Ablösung des Wirbelpaares hinter einem Zylinder Man beachte, daß für eine den Zylinder und das Wirbelpaar gleichzeitig umschließende Kurve die Zirkulation nach wie vor Null ist: Vor der Wirbelablösung ist das selbstverständlich, da ja eine Potentialströmung ohne Zirkulation vorlag, nach der Ablösung kompensieren sich die Einzelzirkulationen der beiden Wirbel gerade: Der Kelvinsche Satz von der Erhaltung der Zirkulation längs einer flüssigen Linie ist also in der Tat erfüllt Während nun die Flüssigkeit an dem Zylinder vorbeiströmt, nimmt sie auf der Hinterseite das Wirbelpaar mit, das sich immer weiter von seinem Entstehungsort entfernt; dann lösen sich wieder neue Wirbelpaare vom Zylinder ab, und so setzt sich der Vorgang fort. Es werden also durch die Strömung dauernd neue Wirbel geschaffen. Darauf beruht es, daß der Zylinder (Kugel, Platte) jetzt einen Druckwiderstand erleidet. Man sieht das am besten ein, wenn man umgekehrt den Zylinder sich mit konstanter Geschwindigkeit durch eine ruhende Flüssigkeit hindurch bewegen läßt. Da stets neue Wirbel hinter dem Hindernis entstehen, die doch Energie besitzen, so muß diese Energie auf Kosten der kinetischen Energie des Zylinders geliefert werden, d. h. dessen Geschwindigkeit abnehmen — falls sie nicht durch eine auf den Zylinder wirkende Kraft konstant gehalten wird. D a ß a b e r e i n e K r a f t n o t w e n d i g ist, u m d i e G e s c h w i n d i g k e i t k o n s t a n t zu h a l t e n , h e i ß t e b e n , d a ß e i n W i d e r s t a n d e x i s t i e r t . Theoretisch hat sich der Fall des Widerstandes einer (unendlich langen) Platte berechnen lassen, die senkrecht gegen die Flüssigkeit geführt wird (v. K ä r m ä n ) . Dabei hat sich herausgestellt, daß die sich ablösenden Wirbel — das gilt auch für Zylinder und Kugel —, die in ihrer

336

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Gesamtheit eine „Wirbelstraße" bilden, sich im stationären Zustand n i c h t g l e i c h z e i t i g oben u n d unten, s o n d e r n a b w e c h s e l n d , einer oben, dann einer unten, dann wieder einer oben usw. a b l ö s e n . In der Wirbelstraße sind daher die Wirbel gegeneinander versetzt, wie in Abb. VI, 101a das theoretische und in Abb. VI, 101b das experimentell gewonnene Strom-

a

b Abb. VI, 101. Wirbelstraße hinter einem umströmten Zylinder (nach P r a n d t l - T i e t j e n s ) : a) theoretisch; b) experimentell linienbild zeigen. Nach den Rechnungen von v. K ä r m ä n ergibt sich für den Widerstand einer unendlich langen Platte (pro Längeneinheit) der Ausdruck (A = Fläche pro Längeneinheit):

(VI,40a)

WPI = f

r ]

· ~ v2 • A = 1,60• -γ v2 • Α,

d. h. ein konstanter Widerstandsbeiwert / p i = 1,60, während experimentell gefunden wurde / p i = 1,56. Für einen Zylinder ergab sich theoretisch (A = angeströmte Fläche pro Längeneinheit): (VI, 40 b)

WZyi = /zyi ' ^ v 2 · A = 0,92 j - v2 • Α ,

d. h. ein theoretischer Widerstandsbeiwert / z y i = 0,92. während experimentell gefunden wurde /zyi = 0,90; in beiden Fällen sind also Theorie und Experiment in bester Übereinstimmung. M a n kann sich in verschiedener Weise experimentell überzeugen, daß die sich ablösenden Wirbel

Umströmung fester Körper

337

zeitlich gegeneinander versetzt sind. Hält man in eine Wasserströmung eine Latte, so vibriert diese um ihre Längsachse hin und her, im Rhythmus der sich links und rechts n a c h e i n a n d e r ablösenden Wirbel. Führt man einen Stab rasch durch die Luft, so vernimmt man einen Ton ( H i e b t o n ) , dessen Frequenz gleich der Zahl der sich pro Sekunde ablösenden Wirbel ist. In ruhiger See kann man hinter fahrenden Schiffen kilometerlange Wirbelstraßen beobachten. Man kann also nach allem nicht zweifeln, daß man hier den Mechanismus des hydrodynamischen Druckwiderstandes richtig erkannt hat. Besonders beachtenswert ist es, daß der W i d e r s t a n d hier im vollen Einklang mit der Erfahrung proportional der zweiten P o t e n z d e r G e s c h w i n d i g k e i t ist, während bei der schleichenden Bewegung — Gl. (VI, 32 und VI, 33) — der Z ä h i g k e i t s w i d e r s t a n d p r o p o r t i o n a l d e r G e s c h w i n d i g k e i t s e l b s t ist. F e r n e r ist d e r D r u c k w i d e r s t a n d v ö l l i g u n a b h ä n g i g v o n d e r Z ä h i g k e i t η, w ä h r e n d d e r Z ä h i g k e i t s w i d e r s t a n d i h r p r o p o r t i o n a l ist. Es tritt zwar in den Gin. (VI, 36a) und (VI, 37a) scheinbar auch die zweite Potenz der Geschwindigkeit im Widerstandsgesetz für die schleichende Bewegung auf, aber nur scheinbar, denn die Widerstandsziffer ist proportional 1/Re = η/rgv, wodurch sich die zweite Potenz von ν wieder gegen die erste kürzt! Auf die gleiche Weise erklärt sich bei der schleichenden Bewegung die Proportionalität von W mit η. hier dagegen die Unabhängigkeit von η. Hier haben wir wirklich Proportionalität mit v2 und Unabhängigkeit von η, dafür ist aber die Widerstandsziffer auch k o n s t a n t (unabhängig von Re). Durch einen Kunstgriff kann man ( P r a n d t l ) die Wirbelablösung ζ. B. hinter einem Zylinder beseitigen. Man nimmt einen Hohlzylinder, in dessen Wandung man an den kritischen Stellen der Rückseite, an denen die Wirbelablösung stattfindet, Öffnungen bohrt und nun von innen her die außen strömende Flüssigkeit (die „Grenzschicht") a b s a u g t : Dann unterbleibt die Ablösung der Wirbel — und der Druckwiderstand verschwindet! Die Abb. VI, 102 stellt schematisch den Vorgang dar.

Man kann auch durch Rotation des Zylinders — etwa im Uhrzeigersinn — die Wirbelablösung (und zwar beim gewählten Rotationssinn auf der Oberseite) verhüten; auf der Unterseite wird dann allerdings die Wirbelbildung noch verstärkt, so daß man um einen rotierenden Zylinder das Bild der Abb. VI, 103 erhält. Damit ist nun aber die Symmetrie zwischen der unteren und oberen Hälfte zerstört, und nach der B e r n o u l l i s c h e n Gleichung ergibt sich eine Auftriebskraft, s e n k r e c h t z u r u r s p r ü n g l i c h e n P a r a l l e l s t r ö m u n g . D i e s ist d i e E r k l ä r u n g d e s M a g n u s - E f f e k t e s : Die Rotation des Zylinders erzeugt wegen der Reibung in der Grenzschicht eine Zirkulationsströmung; um den auf der Unterseite abgelösten Wirbel erfolgt die Zirkulation im umgekehrten Sinn, so daß für eine Zylinder und Wirbel gleichzeitig umhüllende Kurve die Gesamtzirkulation gleich Null ist, wie sie es auch vor dem Einsetzen der Rotation war. Der K e l v i n s c h e Satz über die Erhaltung der Zirkulation längs einer flüssigen Linie bleibt also auch hier erhalten, wie es sein muß. 22

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

338

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Wenn die obige Erklärung der Wirbelablösung zutrifft, so kann man fragen, wieso denn überhaupt „Stromlinienkörper" möglich sind. Denn auch bei diesen wirkt ja an der Hinterseite die Reibung in der Grenzschicht verzögernd, so daß man schließen sollte, daß die Flüssigkeitsteilchen vor dem hinteren Staupunkt zur Ruhe kommen, umkehren, und sich so ein Wirbel ablöst. Der Unterschied ist aber folgender: Bei Zylinder, Kugel, Platte und ähnlichen nicht stromlinienförmigen Körpern erfolgt der D r u c k a n s t i e g auf e i n e r sehr k u r z e n S t r e c k e (in Abb. VI, 71 zwischen C und P'), und die vom Druck herrührende Kraft ist daher groß. Anders beim Stromlinienkörper: Der g e s a m t e Druckanstieg ist zwar ebenso groß, aber er verteilt sich auf eine längere Strecke. Die Kraft ist also im gleichen Verhältnis kleiner, als der Weg länger ist. Nun wirkt auf die Flüssigkeitsteilchen auch die kleine Reibungskraft der a u ß e n vorbeiströmenden Flüssigkeit, und zwar im a n t r e i b e n d e n Sinn. Diese kleine Reibungskraft ist bei Stromlinienkörpern imstande, die entgegengesetzte schwache Druckkraft zu kompensieren, nicht aber die starke, die hinter anders geformten Körpern vorhanden ist. Bei letzteren erfolgt also Wirbelablösung, die bei Stromlinienkörpern praktisch vermieden werden kann.

62. Auftrieb und Widerstand eines Tragflügels; Motorflug, Gleitflug, Segelflug Daß ein rotierender Zylinder in einer Parallelströmung einen Auftrieb erfährt, erklärt sich durch die Zirkulationsströmung, die von der Rotation erzeugt wird. W o h e r a b e r b e k o m m t e i n T r a g f l ü g e l A u f t r i e b ? Auch hier ist die Zirkulation um ihn von großer Bedeutung. Aber es ist nicht ohne weiteres verständlich, wie sie entsteht, da doch von einer Rotation des Tragflügels nicht die Rede sein kann. Im einfachsten Fall kann als Tragflügel eine ebene Platte genommen werden, die unter einem kleinen Winkel gegen die Strömung geneigt ist. Besser geeignet ist aber eine durchgebogene, gewölbte Platte; noch besser und praktisch allein im Gebrauch sind Formen von solchen Profilen, die aus einem Stromlinienprofil (ζ. B. Abb. VI, 75) hervorgehen, wenn man es etwas durchbiegt. Die weiter unten gezeichneten Profile sind alle von dieser Art: Das Vorderende ist abgerundet, die Hinterkante dagegen spitz zulaufend. Man kann sich experimentell überzeugen, daß eine Zirkulationsströmung um den Tragflügel existieren muß: Man zeigt, daß unterhalb des Tragflügels höherer, oberhalb kleinerer Druck herrscht. Nach der B e r n o u l l i s c h e n Gleichung bedeutet das auf der Oberseite größere, auf der Unterseite kleinere Geschwindigkeit, und es ist nur eine andere Ausdrucksweise für diesen Sachverhalt, wenn wir sagen, über die Parallelströmung sei eine Zirkulation in bestimmtem Umlaufssinn überlagert; denn diese Überlagerung erzeugt gerade die erforderliche Geschwindigkeitsverteilung.

Abb. VI, 104. Kraftverteilung am Tragflügel Den Druck an den verschiedenen Stellen eines Tragflügels mißt man in bekannter Weise — siehe ζ. B. die Druckmessung an der Kugel (Abb. VI, 73). Wenn man das Flügelprofil der Abb. VI, 104 zugrunde legt, so erhält man die dort eingezeichnete Kraftverteilung für einen

Auftrieb und Widerstand eines Tragflügels

339

Anstellwinkel c = — sind. Das Verhältnis der Richtungskosinus ist demnach gleich dem Verhältnis der reziproken Achsenabschnitte: 1 1 1 cos φΑ: cos φΒ: cos 3 ® w w o 5Η

=2 a w

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Molekularphysik

374

c,-1

C2-2

CJ-3

Γ C2h-2/m

Ci-i

Cß-B

1 1 1 Cjb-S

fa-i/m

Cff,-6/m

πίηττπζ ίΓ^^τπτη

Ι/Ί •dm· Cs-m

C2v - mm

üfif - mmm

Cgt~ Bmm

Ojh - S2m

O^-i/mmm

- Β/mmm

Abb. VII, 16 (linke und rechte Seite). Die 32 Kristallklassen (nach H. S t r u n z )

Struktur der festen Körper; Kristalle

Abb. VII. 16

375

376

Molekularphysik

D i e Einteilung der Kristalle in Kristallklassen geschah ursprünglich nach ihrer äußeren Symmetrie. Diese Einteilung war ohne Kenntnis der inneren Symmetrie möglich, da zwischen der Punktsymmetrie eines Kristallgitters und der Symmetrie der äußeren Kristallform eine prinzipielle Korrespondenz besteht. Das heißt, alle Punktsymmetrieelemente des Gitters können auch als Symmetrieelemente der äußeren Kristallform auftreten. Von dieser rein morphologischen Einteilung der Kristallarten in Klassen rühren die auch heute noch gebräuchlichen Klassennamen her. In der Tabelle sind die 32 Kristallklassen mit ihren Bezeichnungen und Symmetrieelementen noch einmal zusammengestellt. Die Lage der Symmetrieachsen und -ebenen, bezogen auf die jeweiligen Achsensysteme, sind ebenfalls angegeben. Die Zahlen vor den Symbolen f ü r die Zähligkeit geben die Anzahl der Achsen an, die Zahlen bei m die Anzahl der äquivalenten Spiegelebenen. Ein ρ hinter dem Zähligkeitssymbol bezeichnet polare Achsen. Zu jedem Achsensystem gibt es Kristallklassen mit höchstmöglicher Symmetrie, denen ζ. B. die 14 B r a v a i s - G i t t e r angehören. Wir wollen im folgenden die Klassen höchster Symmetrie in jedem Achsensystem ausführlich erläutern. Die kubischen Gitter besitzen die höchste Symmetrie. In Abb. VII, 17a sind 3 der verschiedenen typischen Drehachsen dieser Gitter eingezeichnet: Die Verbindung je zweier Gegenflächenmitten stellt eine 4zählige Achse dar (mit • an den Enden markiert), deren es offenbar 3 gibt (3 Flächenpaare besitzt der Würfel). Die 4 Raumdiagonalen sind 3zählig (Δ), und die 6 Verbindungslinien gegenüberliegender Kantenmitten sind 2zählig (—). Im ganzen also sind die kubischen Translationsgitter durch 3 + 4 + 6 = 13 Drehachsen charakterisiert. Die typischen Symmetrieebenen sind in A b b . VII, 17b gezeigt: Zunächst wird der Würfel durch eine

Abb. VII, 17. Würfelform des regulären oder kubischen Kristallsystems a) 3 der verschiedenen typischen Symmetrieachsen b) Lage der Symmetrieebenen Ebene parallel zu den Würfelflächen durch die Mitte zweier gegenüberliegender Kanten halbiert. Im ganzen gibt es 3 Symmetrie- oder Spiegelebenen dieser Art. Ferner findet man als Spiegelebenen die 6 Ebenen, die durch die Flächendiagonalen gelegt werden können. Daher sind die kubischen Translationsgitter auch durch 9 Symmetrieebenen charakterisiert. Überdies besitzen diese Kristallgitter natürlich auch ein Symmetriezentrum. Das hexagonale System wird ausnahmsweise durch vier kristallographische Achsen charakterisiert, eine sogenannte Hauptachse (HA) und in einer dazu senkrechten Ebene drei untereinander gleichwertige (vertauschbare) Nebenachsen (NA), die sich unter Winkeln von 60° schneiden. In Abb. VII, 18a sind diese Achsen angegeben. Entsprechend den vier Achsen wird jede Fläche der Kristalle dieses Systems auch durch vier Indizes bezeichnet; da drei zur Charakterisierung einer Fläche genügen, ist natürlich ein Index überzählig. Oft läßt man daher auch einen der 3 Indizes, die zu den 3 komplanaren Nebenachsen gehören, fort. An Stelle des fortgefallenen Index setzt man einen Punkt ζ. B. (hk.l). Die beiden verbleibenden Nebenachsen schließen einen Winkel von 120° ein. Für die höchstsymmetrische Klasse gilt: Die Hauptachse

Struktur der festen Körper; Kristalle

377

ist eine sechszählige Symmetrieachse; die drei Nebenachsen sind zweizählig. Zu diesen Symmetrieachsen treten noch drei zweizählige hinzu; diese liegen gleichfalls in einer Ebene senkrecht zur Hauptachse und halbieren die Winkel zwischen den Nebenachsen. Im ganzen hat also diese Klasse 1 + 3 + 3 = 7 Symmetrieachsen; es besitzt gleichfalls 1 + 6 = 7 Symmetrieebenen: Sechs davon enthalten die Hauptachse und je eine Nebenachse oder eine ihrer Winkelhalbierenden; die siebente steht senkrecht auf der Hauptachse. Abb. VII, 18b zeigt einen Kristall, der dem hexagonalen System angehört (Beryll: Al2Be3 [SieOis]).

Abb. VII, 18. Hexagonales Kristallsystem a) Achsenlage b) Beryllkristall

In der Klasse höchster Symmetrie des orthorhombischen Systems ist die Hauptsache eine dreizählige Inversionsdrehachse (zugleich auch Drehachse). Die 3 Nebenachsen, die senkrecht zur Hauptachse stehen, bilden zweizählige Drehachsen. Ferner gibt es 3 Spiegelebenen, die die Hauptachse und jeweils eine der Winkelhalbierenden der Nebenachsen enthalten. Kalkspat (CaCOe) ist ein Beispiel für diese Symmetrie. Das tetragonale System wird auf eine kristallographische Hauptachse und in einer dazu senkrechten Ebene auf zwei gleichwertige (vertauschbare) Nebenachsen bezogen, die Winkel von 90° miteinander einschließen (Abb. VII, 19). Für die höchstsymmetrische Klasse gilt: Die Hauptachse ist vierzählige Symmetrieachse, die Nebenachsen sind zweizählig. Dazu kommen noch die Winkelhalbierenden der Nebenachsen, die gleichfalls zweizählig sind. Im ganzen hat die Klasse 1 + 2 + 2 = 5 Symmetrieachsen. Durch die vierzählige Achse und die vier zweizähligen Achsen lassen sich vier Symmetrieebenen hindurchlegen, zu denen als fünfte eine Ebene senkrecht zur Hauptachse kommt. Abb. VII, 19b zeigt einen Angehörigen dieses Kristallsystems (Zirkon: ZrSiOi). Ζ

-NA

A b b . VII, 19. Tetragonales Kristallsystem a) Achsenlage b) Zirkonkristall

Abb. VII, 20. R h o m b i s c h e s Kristallsystem a) Achsenlage b) Olivinkristall

Das orthorhombische System ist ausgezeichnet durch drei zueinander senkrechte, aber ungleichwertige (nicht vertauschbare) kristallographische Achsen (Abb. VII, 20); diese sind gleichzeitig die drei einzigen zweizählige:« Symmetrieachsen. Die Ebenen durch je zwei von ihnen stellen die drei Symmetrieebenen des rhombischen Systems dar. Abb. VII, 20 b zeigt Olivin ((FeMg)2SiC>4) als Vertreter dieses Systems.

37S

Molekularphysik

Das monokline System hat gleichfalls drei ungleichwertige (nicht vertauschbare) Achsen, die aber nicht mehr alle aufeinander senkrecht stehen; nur eine dieser Achsen ( y ) steht senkrecht auf der Ebene der beiden anderen, die selbst einen beliebigen Winkel miteinander bilden können (Abb. VII, 21). Die erstere Achse ist die einzige Symmetrieachse, und zwar zweizählig; die Ebene der beiden anderen Achsen ist die einzige Symmetrieebene. Abb. VII, 21 b zeigt einen monoklinen Kristall (Gips: CaS04).

X Abb. VII, 21. Monoklines Kristallsystem a) Achsenlage b) Gipskristall

Abb. VII, 22. Triklines Kristallsystem a) Achsenlage b) Kupfersulfatkristall

Das trikline oder asymmetrische System ist kristallographisch charakterisiert durch drei ungleichwertige Achsen, die beliebige Winkel miteinander bilden können; es hat keine Symmetrieachsen oder Symmetrieebenen, im allgemeinen jedoch ein Symmetriezentrum. Abb. VII, 22 a bringt das Achsensystem zur Veranschaulichung, und Abb. VII, 22 b zeigt Kupfersulfat (Q1SO4 · 5 H2O) als Vertreter dieses Systems. Außer den bisher besprochenen Symmetrieoperationen, die zu den 32 Punktgruppen geführt haben, gibt es noch zwei weitere Symmetrieoperationen. Sie treten schon in einfachen Raumgittern auf, die aus identischen Atomen aufgebaut sind. Das Diamantgitter und das Gitter mit hexagonal dichtester Kugelpackung sind Beispiele dafür. Sie besitzen Symmetrieoperationen, die Verknüpfungen zwischen Translationen und den oben aufgezählten translationsfreien Symmetrieoperationen darstellen. Wir wollen diese Symmetrieoperationen an der hexagonal dichtesten Kugelpackung und am Diamantgitter studieren.

Abb. VII, 23

Abb. VII, 24

Abb. VII, 23. Räumliche Anordnung der Gitterbausteine und gegenseitige Lage einer özähligen Schraubenachse 6 3 , einer Gleitspiegelebene c und einer Spiegelebene m im hexagonal dichtgepackten Gitter. In der Mitte zwischen den (00 · 1)-Ebenen befindet sich im hexagonal dichtgepackten Gitter eine (00 · 2)-Netzebene. Die Schnittlinie zwischen einer Gleitspiegelebene c und einer Spiegelebene m ist die özählige Schraubenachse 63 Abb. VII, 24. Wie Abb. VII, 23, jedoch Projektion der (00 · 2)-Netzebene (O) auf die (00 · 1 )-Netzebene ( · )

379

Struktur der festen Körper; Kristalle

Das einfache hexagonale Gitter ist ein B r a v a i s - G i t t e r und besitzt eine özählige Drehachse, die mit der c-Achse zusammenfällt. Im hexagonal dicht gepackten Gitter ist diese Achse nur noch 3zählig, was wir unmittelbar an der Lage der Gitterbausteine in der im Abstand \ c liegenden (00 · 2)-Netzebene erkennen (Abb. VII, 23 u. 24). Parallel zur 3zähligen Achse liegt in diesem Gitter eine neue Symmetrieachse. Sie durchstößt im Punkt Α der Abb. VII, 23 die (OO-l)-Ebene, auf die in der Abb. VII, 24 die im Abstand ^ c darunterliegenden Gitterbausteine der (00 • 2)-Ebene projiziert sind. Wird mit einer Drehung von 60° um diese Achse gleichzeitig eine Translation des Gitters um den Betrag j c in Achsenrichtung ausgeführt, so gelangt das Gitter zur Deckung. Wir stellen fest: Drehung und Translation parallel zur Drehachse ergeben zusammen eine Symmetrieoperation. Diese Symmetrieoperation wird Schraubung genannt. Das dazugehörige Symmetrieelement heißt Schraubenachse. D a s h e x a g o n a l d i c h t gepackte Gitter besitzt also eine 6zählige S c h r a u b e n a c h s e mit der G a n g h ö h e \c. S c h r a u b e n a c h s e n s i n d d u r c h e i n e n I n d e x η g e k e n n z e i c h n e t ( X n ) , d e r so g e w ä h l t i s t , d a ß d e r Q u o t i e n t n/X d i e G a n g h ö h e a n g i b t . Die 6zählige Schraubenachse des hexagonal dicht gepackten Gitters wird also 63 geschrieben. Im einfachen hexagonalen Gitter gibt es 2 Sätze von je 3 gleichwertigen Spiegelebenen, deren gemeinsame Schnittlinie die 6zählige Drehachse ist. Der eine Satz von 3 Spiegelebenen ist auch im hexagonal dicht gepackten Gitter vorhanden, wie aus Abb. VII, 24 hervorgeht. An die Stelle der anderen 3 Spiegelebenen des einfachen hexagonalen Gitters treten im hexagonal dicht gepackten Gitter (als Folge der Schraubenachse) 3 neue Symmetrieelemente. Damit das Gitter zur Deckung kommt, muß gleichzeitig mit der Spiegelung eine Translation um \ c in Richtung der c-Achse ausgeführt werden. Man nennt deshalb diese Symmetrieoperation Gleitspiegelung und das ihr zugehörige Symmetrieelement Gleitspiegelebene. Im G e g e n s a t z zu d e n e i n f a c h e n S p i e g e l e b e n e n , d i e m i t m b e z e i c h n e t w e r d e n , k e n n z e i c h n e t m a n G l e i t s p i e g e l e b e n e n d u r c h d i e G l e i t r i c h t u n g . Da die Gleitung im hexagonal dicht gepackten Gitter in Richtung der c-Achse erfolgt, werden hier die Gleitspiegelebenen mit c bezeichnet. Oiagonaigleitung (0201-Ebene

Abb. VII, 25. Diagonalgleitung im Diamantgitter: a) Projektion auf die (OOl)-Ebene b) Ο Ο 3 β

Projektion auf die (020)-Ebene Atome in der Projektionsebene Atome im Abstand ^ α über der Projektionsebene Atome im Abstand τ α über der Projektionsebene Atome im Abstand £ α über der Projektionsebene

D i e Lage der Gitterbausteine nach erfolgter Diagonalgleitung ist schraffiert

3 3

Ο

I o ßleitspiegelebene

Ο •Ο

ί,νο ί-zählige Schraubenachse

Vergleicht man das allseitig kubisch flächenzentrierte Gitter mit dem Diamantgitter, das aus zwei um ein Viertel der Raumdiagonale versetzten allseitig flächenzentrierten Gittern aufgebaut ist, so findet man ganz ähnliche Symmetrieveränderungen. An die Stelle der drei 4zähligen Drehachsen treten drei 4zählige Schraubenachsen, von denen in Abb. VII, 25 eine gezeigt ist. Den drei Spiegelebenen, die im allseitig flächenzentrierten Bravais-Gitter senkrecht zu den

Molekularphysik

380

drei 4zähligen Drehachsen liegen, entsprechen im Diamantgitter drei Gleitspiegelebenen, auf denen die 4zähligen Schraubenachsen senkrecht stehen. Eine der Gleitspiegelebenen ist ebenfalls in Abb. VII, 25 dargestellt. Die Gleitoperation kommt durch zwei aufeinanderfolgende Translationen um £ α, die einen rechten Winkel einschließen, zustande. Das Resultat ist eine Diagonalgleitung. Diese Gleitspiegelebenen werden daher mit d (diagonal) bezeichnet. Die 4zähligen Schraubenachsen besitzen, wie aus Abb. VII, 25 hervorgeht, die Ganghöhe und sind deshalb durch 4i gekennzeichnet. Allgemein läßt sich über die Gleitung folgendes aussagen: Sind die Gitternetze parallel zur Gleitspiegelebene einfach primitiv aus den Translationsvektoren α und b gebildet, dann kann die Gleitung oder j (a + b) sein; und sie wird mit a, b und η bezeichnet. Sind die Netze flächenzentriert, dann sind auch Gleitungen mit viertelzähligen Beträgen von α und b möglich; diese Gleitungen werden allgemein durch den Buchstaben d gekennzeichnet. Diese beiden Symmetrieelemente, die Schraubenachse und die Gleitspiegelebene, kann man nun mit den Punktsymmetrieelementen auf alle möglichen Weisen kombinieren. Es gibt insgesamt 230 mögliche Kombinationen, die man Raumgruppen nennt, und folglich ebenso viele Raumgitter unterschiedlicher Symmetrie. Die Raumgruppen von einigen wichtigen Gittern sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Raumgruppen von einigen wichtigen Gittern Gitter

Raumgruppe (Hermann Mauguin) vollst. gekürzt

Beispiel

Gitterkonstanten in [Ä]

Innenzentriertes kubisches Β r a ν a i sGitter allseitig flächenzentriertes kubisches Bravais-Gitter Diamantgitter Hexagonal dichtgepacktes Gitter .

14Im 3 2/m

1m3m

Na

a = 4,2906

FA/m32/m F Aijd 3 2/TTZ Ρ 63/m 2/m 2/c

Fm3m Fd 3m Ρ 63/m m c

Cu C Mg

CsCl-Gitter NaCl-Gitter Zinkblendegitter Wurtzitgitter

Ρ A/m 3 2Im F A/m 3 21m F4 3 m Ρ 63 m c

Ρ m7> m Fm 3m

CsCl NaCl ZnS ZnS

a a a c a a a a c

F4 3 m Ρ 6s m c

= = = = = = = = =

3,615 3,567 3,203; 5,200 4,121 5,639 5,425 3,819; 6,247

Die Symbole, aus denen die Raumgruppen gebildet sind, bedeuten folgendes: I, F, Ρ geben die Translationsgruppe an. I = innenzentriertes kubisches Gitter F = allseitig flächenzentriertes kubisches Gitter Ρ = primitives oder hexagonales Gitter Zahlen geben die Zähligkeit von Drehachsen an. Wird die Zähligkeit mit X bezeichnet, dann bedeuten: X = X-zählige Inversionsdrehachse Xn — X-zählige Schraubenachse mit der Ganghöhe n/X Xjm = A'-zählige Drehachse und senkrecht dazu eine Spiegelebene m Gleitspiegelebenen sind durch ihre Gleitrichtungen gekennzeichnet (ζ. Β. c — Gleitung in Richtung der c-Achse, d = Diagonalgleitung).

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

381

68. Kristallwachstum und Kristallbaufehler Wir wenden uns nun der Frage des Entstehens und Wachsens von Kristallen zu. In Nr. 67 wurde gezeigt, daß sich der kristalline Zustand gegenüber den anderen Aggregatzuständen der Materie durch die geometrische Ordnung der Bausteine (Atome, Ionen, Moleküle) auszeichnet. D a diese Ordnung sich über makroskopische Bereiche erstreckt, wird sie auch Fernordnung genannt. Wir sahen, daß sich die anziehenden und abstoßenden Kräfte, die zwischen den Bausteinen wirken, in der Ordnung des Kristallgitters gegenseitig kompensieren, so daß die Bausteine stabile Gleichgewichtslagen, die sogenannte G l e i c h g e w i c h t s k o n f i g u r a t i o n , annehmen. In dieser Gleichgewichtskonfiguration ist die potentielle Energie der Bausteine am niedrigsten. Wir sagen, das System besitzt in der Gleichgewichtskonfiguration ein Minimum der potentiellen Energie. Zum besseren Verständnis der Kristallisationsvorgänge soll zuerst einiges über den umgekehrten Prozeß, den Schmelzvorgang, gesagt werden. Wir haben bisher die Kristallgitter als starr betrachtet. Das gilt jedoch nur am absoluten Nullpunkt der Temperatur, wenn vom Quanteneffekt der prinzipiellen Unschärfe abgesehen wird. Auf Grund der quantenmechanischen Unschärfe kann ein Kristallgitter selbst am absoluten Nullpunkt der Temperatur nicht als starres Gebilde angesehen werden. Die Gitterbausteine besitzen bei Τ = 0 °K noch eine sogenannte N u l l p u n k t s e n e r g i e , die eine mittlere örtliche Schwankung der Gitterbausteine bedingt. Bezogen auf den Abstand nächster Nachbaratome beträgt die Nullpunktsschwankung etwa 5 %. Gemessen an den örtlichen Schwankungen der Gitterbausteine bei hohen Temperaturen, die am Schmelzpunkt eines Kristalls etwa 20% betragen, sind die Nullpunktsschwankungen nicht vernachlässigbar klein. Mit zunehmender Temperatur beginnen die Bausteine des Kristallgitters um ihre Gleichgewichtslage zu schwingen. Zur potentiellen Energie des Gitters tritt nun der Anteil kinetischer Energie Τ hinzu, der von den Gitterschwingungen herrührt und mit der Temperatur des Kristalls anwächst. Die mit den Gitterschwingungen verbundenen Auslenkungen der Kristallbausteine aus der stabilen Gleichgewichtslage sind, wie die Potentialkurve als Funktion des Ortes in Abb. VII, 7 erkennen läßt, nicht symmetrisch. Nunmehr wird an Stelle der potentiellen Energie V die Gesamtenergie Ε gesetzt, also die Summe von kinetischer und potentieller Energie Ε = Τ + V. Bei konstanter Temperatur ist auch die Gesamtenergie konstant, und das schwingende System beschreibt in dieser Darstellung eine zur Abszisse r parallele Gerade, die durch die ausgezogene Potentialkurve begrenzt ist. Man erkennt nun, daß die Auslenkung aus der Ruhelage in Richtung kleinerer Abstände r zwischen den benachbarten Gitterbausteinen geringer ist als die Auslenkung in Richtung größerer Abstände. Das bedeutet aber, daß der mittlere Abstand nächster Nachbarn im Gitter größer ist als r0. Das Gitter hat sich also ausgedehnt. Mit steigender Temperatur wird die Asymmetrie der Auslenkung immer größer, und die thermische Ausdehnung des Kristalls nimmt weiter zu. Schließlich werden bei hohen Temperaturen dieAuslenkungen so groß, daß Gitterbausteine aus ihrer ehemaligen Konfiguration in eine andere Konfiguration übergehen können. Da die Gitterbausteine dann nicht mehr um ihre ursprünglichen stabilen Gleichgewichtslagen im Gitter schwingen, sondern immer wieder neue Gleichgewichtslagen in anderen Konfigurationen finden, bricht die Fernordnung des Gitters zusammen, und der Kristall verliert seine Festigkeit, er schmilzt. Dieser Prozeß findet natürlich nicht gleichzeitig im ganzen Kristallvolumen statt, sondern beginnt auf Grund lokaler Energieschwankungen in irgendeinem oder mehreren kleinen Kristallbereichen von einigen hundert Gitterbausteinen zu einem Zeitpunkt besonders hoher Energiedichte. In der Regel beginnt der Schmelzvorgang an der Kristalloberfläche; denn ein Atom der Kristalloberfläche besitzt nicht die gleiche Konfiguration wie ein Atom im Kristallinnern. Das Fehlen der Bindungspartner im an die Oberfläche angrenzenden Raum verleiht den Oberflächenatomen gegenüber den Atomen im Innern eine etwas höhere potentielle Energie. Das bedeutet aber, daß sie leichter vom Kristall abgetrennt werden können als Atome des Kristallinnern. Während ein solcher submikroskopisch kleiner Schmelzbereich entsteht, kühlt er sich gleichzeitig aber auch ab, denn der Gewinn an potentieller Energie, hervorgerufen durch die im Mittel größeren Abstände der Atome in der Schmelze, wird mit einem Verlust an kinetischer Energie, also mit einem Wärmeverlust, erkauft. Jetzt kommt es darauf an, daß dieser Wärmeverlust sehr schnell ausgeglichen wird. Man muß dem Kristall die zum Schmelzen benötigte Wärme, die Schmelzwärme, zuführen. Erst dann können die kleinen schmelzflüssigen Bereiche wachsen, neue entstehen und rasch an Volumen gewinnen, bis endlich der gesamte Kristall geschmolzen ist. Solange der Kristall nicht völlig geschmolzen ist, behält er trotz Wärmezufuhr natürlich die gleiche Temperatur, die Schmelztemperatur, bei. Auch in der Schmelze gibt es noch eine gewisse Ordnung der Atome. Sie erstreckt sich aber nur über eine geringe Anzahl von Atomen und ist zeitlichen und örtlichen Schwankungen unterworfen. Es treten im Verlauf der Zeit immer wieder andere Atome zu einer Ordnung zusammen, so daß man von einer mittleren Nahordnung der Atome in der Schmelze spricht. Die Kristallisation ist die Umkehrung des Schmelzvorganges, der Übergang vom Zustand geringer Ordnung in einen Zustand hoher Ordnung, wobei die zum Schmelzen aufgewandte

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Molekularphysik

Energie als Kristallisationswärme frei wird. Ist die Schmelze von hohen Temperaturen auf ihre Schmelztemperatur abgekühlt worden, so bilden sich wieder aufgrund der immer vorhandenen statistischen Energieschwankungen hier und da kleine kristalline Keime von einigen hundert Atomen. Sie schmelzen, ehe sie weiterwachsen können, wenn der Gewinn an kinetischer Energie, die Kristallisationswärme, nicht schnell genug abgegeben werden kann. Man muß also der Schmelze Wärme entziehen. Häufig bewirkt jedoch ein Wärmeentzug zunächst noch keine Kristallisation, sondern eine Temperaturabnahme der Schmelze, eine sogenannte Unterkühlung, bis dann plötzlich die Kristallisation einsetzt. Auch dieses Verhalten kann man verstehen. Man weiß, daß die Reichweite der Bindungskräfte im Kristallgitter über mehrere Atomabstände hinausgreift. Wenn nicht nur die nächsten Nachbaratome eines Atoms im Gitter, sondern auch seine übernächsten, seine drittnächsten und sogar seine viertnächsten Nachbaratome noch merklich zur Bindung des betrachteten Atoms beitragen, dann wird die Bindung dieses Atoms in einem kleineren Kristallkeim mit nur nächsten und übernächsten Nachbarn schwächer sein. Es wird deshalb eine höhere potentielle Energie besitzen als in einem großen Kristall. Das gilt natürlich auch für die anderen Atome des Kristallkeims. Ihre Bindung ist um so lockerer, je näher sie der Oberfläche des Keims sind. Jedes Atom der Schmelze besitzt aber neben seiner potentiellen Energie auch kinetische Energie, deren Größe von der Temperatur Τ der Schmelze abhängt. Im zeitlichen Mittel beträgt die kinetische Energie je Atom und Freiheitsgrad 1/2 kT. Jedes Atom hat 3 Freiheitsgrade der Translation, also insgesamt eine mittlere kinetische Energie von 3/2 kT(k ist die Boltzmann-Konstante). Findet sich nun zufällig eine Anzahl von Atomen in der Schmelze zu einer dem Kristallgitter entsprechenden Ordnung zusammen, so ist bei konstanter Temperatur dieser Keim nur dann stabil, wenn die Bindungsenergie der Atome an der Oberfläche des Keims größer als ihre kinetische Energie 3/2 kT ist. Es e x i s t i e r t a l s o bei k o n s t a n t e r T e m p e r a t u r u n t e r h a l b der S c h m e l z t e m p e r a t u r e i n e k r i t i s c h e G r ö ß e , die ein K e i m m i n d e s t e n s e r r e i c h e n m u ß , d a m i t er w e i t e r w a c h s e n k a n n . Die kritische Größe der Keime hängt von der Bindungsenergie der Atome und der Temperatur ab. Die Unterkühlung der Schmelze schafft die Voraussetzung für die Entstehung wachstumsfähiger Keime. Wenn der notwendige Unterkühlungsgrad erreicht ist, werden jedoch meist gleichzeitig mehrere Keime entstehen. Das Resultat der Kristallisation ist dann nicht ein einziger Kristall (Einkristall), sondern ein polykristallines Gebilde, das aus vielen kleinen völlig regellos zusammengewachsenen Kristallen besteht. Abb. VII, 26 zeigt ein Beispiel.

Abb. VII, 26. Polykristallines Gefüge (kohlenstoffarmer Stahl; 300fach vergrößert)

Soll ein Einkristall aus der Schmelze kristallisieren, dann darf nur ein K r i s t a l l k e i m in der Schmelze vorhanden sein. Das kann ζ. B. dadurch erreicht werden, daß in die Schmelze ein kleiner I m p f k r i s t a l l eingetaucht wird, dessen Temperatur immer etwas niedriger als die

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

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Schmelztemperatur ist, während die Schmelze konstant auf Schmelztemperatur gehalten wird. Nur in der unmittelbaren Umgebung des Impfkristalls ist die Schmelze geringfügig unterkühlt, und dadurch wird im Innern der Schmelze eine Keimbildung verhindert. So wächst allein der Impf kristall, und es entsteht schließlich ein großer Einkristall. Als Kristallisationskeime können auch kleine Fremdpartikel, die sich in der Schmelze befinden, wirken. Ferner kann die Kristallisation an den Gefäßwänden begünstigt sein, so daß sich zunächst kleine kristalline Bereiche an den Wänden bilden. Bis jetzt wurde nur von der Kristallkeimbildung (und der Kristallisation) in der Schmelze gesprochen. Beispiele für diese Kristallisationsart sind die Metalle. Aber auch ein großer Teil der heute technisch so wichtigen Kristalle der Elemente Ge, Si und vieler halbleitenden Verbindungen werden aus der Schmelze gewonnen. Daneben gibt es noch andere Kristallisationsarten, von denen als wichtigste die Kristallisation aus der Lösung und die Kristallisation aus dem Dampf genannt werden sollen. Der die Kristallisation bestimmende Faktor ist auch hier die Keimbildung. Eine gesättigte Lösung von NaCl in Wasser kristallisiert im allgemeinen noch nicht aus. Erst eine Übersättigung führt zur Keimbildung und damit zur Ki istallisation. Die zur Keimbildung notwendigen Übersättigungen können dabei sehr hoch sein. Bringt man dagegen einen kleinen Impfkristall in die gesättigte Lösung, so ist nur eine ganz geringe Übersättigung notwendig, damit der Kristall weiterwächst. Analoges gilt für die Kristallisation aus der Dampfphase. Die Keimbildung verlangt eine hohe Übersättigung, manchmal bis zu 50 %; während das Wachsen eines stabilen Keimes bei sehr geringer Übersättigung möglich ist.

Abb. VII, 27. Modell eines Kristallkeims faus würfelförmigen Bausteinen. Der erste Wachstumsschritt nach (a) ist die Bildung eines zweidimensionalen Keims (b). Dadurch werden energetisch günstige Plätze für die Anlagerung weiterer Bausteine geschaffen. Die neue Netzebene wächst (c) durch Anlagerung von Bausteinen auf den Plätzen 2 und 3. Danach muß wieder ein zweidimensionaler Keim gebildet werden, usw.

b

Es soll nun das Kristall Wachstum untersucht werden. Die folgenden Gedanken gehen im wesentlichen auf W. Κ ο s se 1 und I . N . S t r a n s k i zurück. Nachdem ein stabiler, wachstumsfähiger Keim gebildet worden ist, werden weitere Atome aus der Schmelze, aus dem Dampf oder aus der Lösung stabile Gitterplätze an der Oberfläche des Keimes vorfinden und so zum Wachsen des Kristalls beitiagen. Es leuchtet ein, daß nicht alle Plätze auf der Oberfläche eines Keims gleich günstig für die Anlagerung neuer Atome sind. Energetisch am günstigsten werden solche Oberflächenplätze sein, an denen das hinzutretende Atom die meisten Bindungspartner vorfindet. Zur Veranschaulichung diene Abb. VII, 27. Hier ist das Modell eines Kristallkeims mit einem ein-

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fachen kubischen Gitter gezeichnet. Die Atome sind durch kleine würfelförmige Bausteine dargestellt. Der mit 3 bezeichnete Platz, die sogenannte Halbkristall-Lage, ist energetisch besonders günstig. Ein Atom, das diese Lage einnimmt, findet 3 nächste Nachbarn vor. Platz 2 ist mit nur 2 nächsten Nachbarn bereits ungünstiger. Auf Platz 1 findet ein neues Atom sogar nur einen nächsten Nachbarn. Die Atome werden also mit größter Wahrscheinlichkeit in Halbkristallagen an der Oberfläche angelagert werden. Dieser Schritt ist so oft wiederholbar, bis eine Atomreihe der wachsenden Netzebene vervollständigt ist. Als nächster Schritt muß ein Atom auf einen Platz 2 angelagert werden. Da dieses Ereignis nicht so häufig eintritt, wird das Wachstum etwas verzögert. Hat aber einmal ein Atom einen solchen Platz eingenommen, so gibt es wieder energetisch günstigere Plätze mit 3 nächsten Nachbarn, die schnell besetzt werden. Diese Prozesse wiederholen sich, bis eine Netzebene vollständig ausgebildet ist. Für das weitere Wachstum muß der Grundstein für eine neue Netzebene gelegt werden. Der Platz 1 mit nur einem nächsten Nachbarn ist energetisch so ungünstig, daß ein einzelnes Atom auf einer vollständigen Netzebene nur kurze Zeit verweilen wird. Erst wenn mehrere Atome sich zu einem zweidimensionalen, stabilen Keim zusammengefunden haben, kann die neue Netzebene über die Prozesse 2 und 3 weiterwachsen. Die Wachstumsgeschwindigkeit normal zu den Netzebenen eines ungestörten Kristalls hängt wesentlich von der Bildungshäufigkeit zweidimensionaler Keime ab. Deshalb ist nicht nur für die 3dimensionale Keimbildung, sondern auch für das Kristallwachstum eine, wenn auch sehr viel geringere Unterkühlung oder Übersättigung notwendig. Es kommt auch vor, daß Kristalle bereits bei viel geringerer Übersättigung wachsen, als für die zweidimensionale Keimbildung erforderlich ist. Die Ursache für dieses Verhalten ist ein bestimmter Wachstumsfehler des Kristallkeims, die sogenannte Schraubenversetzung: Enthält ein Kristallkeim, wie in Abb. VII, 34 dargestellt, eine Schraubenversetzung, so bilden die sonst nbereinanderliegenden Netzebenen eine einzige, in sich zusammenhängende Schraubenfläche. Diese Schraubenfläche kann durch Anlagerung neuer Bausteine bei sehr viel geringerer Übersättigung weiterwachsen, da keine Notwendigkeit zur Bildung eines zweidimensionalen Keims besteht. Abb. VII, 28 zeigt ein Beispiel eines spiralförmig gewachsenen Kristalls mit Schraubenversetzung.

Abb. VII, 28. Spiralförmig gewachsener Kristall mit 2 Schraubenversetzungen; NaCl; (lOO)-Ebene. Die Stufen sind durch Goldpartikel sichtbar gemacht. Das Gold wird auf die erwärmte (150 bis 200 °C) NaCl-Oberfläche gedampft und wandert zu den Stufen der Versetzungen. Elektronenmikroskopische Aufnahme von H. B e t h g e

Die Keimbildungshäufigkeiten auf verschiedenen, nicht gleichwertigen Netzebenen eines Kristalls können sich stark unterscheiden, da die Bindungen der Atome sowohl innerhalb der Netzebenen als auch zwischen den benachbarten parallelen Netzebenen im Kristallgitter für die einzelnen Netzebenenarten sehr verschieden sein können. Das hat zur Folge, daß ein Kristall normal zu einer Netzebenenart schneller wächst als zu anderen Netzebenenarten.

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Wie Abb. VII, 29 veranschaulicht, werden die Netzebenen mit größter Wachstumsgeschwindigkeit den geringsten oder schließlich überhaupt keinen Anteil an der Oberfläche des Kristalls haben. Die Netzebenen, die aufgrund dieser Überlegungen die Oberfläche des Kristalls bilden, stellen die Gleichgewichtsform des Kristalls dar. Die Gleichgewichtsform kann sich aber nur ausbilden, wenn der Kristall ungehindert wachsen kann. Wird er durch äußere Einflüsse, ζ. B. durch Gefäßwände, behindert, so kann seine eigentliche Kristalltracht unterdrückt werden.

Abb. VII, 29. Wachstum eines Kristalls mit unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten υ einzelner Netzebenen. Die Netzebene mit größter Wachstumsgeschwindigkeit v2 wird immer kleiner und verschwindet schließlich ganz

Analoges gilt auch für die Auflösung eines Kristalls. Dies zeigt sehr anschaulich folgender Versuch: Werden kugelförmig abgedrehte Kupfer-Einkristalle ζ. B. mit Salpetersäure geätzt, dann zeigen sich auf der Oberfläche charakteristische Ätzfiguren, die deutlich Würfel-, Oktaeder-, Dodekaederflächen oder Kombinationen von ihnen erkennen lassen. Der Kristall strebt also wieder seine Gleichgewichtsform an. Abb. VII, 30 a und 30 b zeigen zwei so geätzte KupferEinkristalle.

Abb. VII, 30. Kugelförmig abgedrehte Kupfer-Einkristalle; Oberfläche angeätzt. a) Rhombendodekaederzeichnung b) Kombination von Würfel und Oktaeder Die Bildungshäufigkeit zweidimensionaler Keime hängt entscheidend von der Reinheit der Schmelzen, Lösungen oder Dämpfe ab. Bei Anwesenheit von Fremdstoffen kann die Keimbildung auf manchen Netzebenen durch Adsorption von Fremdatomen oder -molekülen begünstigt werden. Für die Kristallisation von Kochsalz aus einer gesättigten reinen wäßrigen Lösung gilt für die Wachstumsgeschwindigkeit der Netzebenen {hkl} folgende Reihenfolge: ν {100} < ν {111} < ν {210} < ν {l 10}. Es wachsen also würfelförmige NaCl-Einkristalle mit {100} Oberflächen. Setzt man der Lösung etwas Harnstoff zu, dann ist die Reihenfolge der Wachstumsgeschwindigkeiten ν {l 11} < υ {100} < ν {l 10}. Es entstehen keine Würfel, sondern Oktaeder mit {lll}-Netzebenen als Oberflächen. Nach diesen Betrachtungen verstehen wir, warum sich an einem Kristall ebene Oberflächen, die mit ganz bestimmten Netzebenen des Gitters identisch sind, ausbilden. — Es ist auch bekannt, daß Fremdatome in ein Kristallgitter eingebaut werden können. Ein Fremdatom im Kristallgitter stört selbstverständlich die strenge Periodizität des Gitters. Die Existenz von Fremdatomen im Kristallgitter wirkt sich besonders auf die elektrischen und optischen Eigenschaften der Kristalle aus. Wir kennen Kristalle ein und derselben chemischen Verbindung mit verschiedener Färbung. Ein reiner Al203-Kristall, ein Korund, ist farblos; enthält er aber Spuren von Cr, so ist er rot und heißt Rubin. 25

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

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Bei einem realen Kristall ist im allgemeinen die Gitterperiodizität in irgendwelchen Punkten des Gitters verletzt oder entlang gewisser Atomketten oder Netzebenen des Kristalls gestört. Im folgenden sollen diese Kristallbaufehler und ihr Einfluß auf einige physikalische Eigenschaften der Kristalle beschrieben werden. D i e K r i s t a l l b a u f e h l e r , in d e n e n die S t ö r u n g ü b e r viel g r ö ß e r e als a t o m a r e A b m e s s u n g e n h i n a u s r e i c h e n , k ö n n e n e i n g e t e i l t werden in P u n k t d e f e k t e , ein- u n d z w e i d i m e n s i o n a l e S t ö r u n g e n . Zu den Punktdefekten zählen nicht nur Fremdatome, die im Kristallgitter entweder normale Gitterplätze einnehmen können oder genügend Raum im Zwischengitter finden (Abb. VII, 31 a), sondern auch Gitterlücken und Zwischengitteratome derselben Atomart. Diese Abweichung von der idealen Struktur bezeichnet man als Eigenfehlordnung des Kristalls. Es werden zwei Arten von Eigenfehlordnungen unterschieden: Die Frenkeische Fehlordnung (Abb. VII, 31b) und die Schottkysche Fehlordnung (Abb. VII, 31c). F r e n k e i s c h e Fehlordnung entsteht, wenn Atome ihre Gitterplätze verlassen und Zwischengitterplätze einnehmen. Es werden also ebenso viel Gitterlücken gebildet, wie Zwischengitterplätze besetzt werden. Das Kristallvolumen bleibt konstant. Bei der Schottkysehen Fehlordnung diffundieren Atome von ihren Gitterplätzen an die Kristalloberfläche. Daher bleiben im Innern des Kristalls ausschließlich Gitterlücken zurück. Das Kristallvolumen wächst. o o o o o o

ο ο ο ο ο ο ο ο ο obo ο o o o o o o

o o o o o o

o o o o o o

o o o o o o ojo c

y ο ο ic o o o o o o o o o o o o

o o o o o o

Abb. VII, 31. Atomare Fehlordnung a) Fremdatom ( · ) auf Gitterplatz (a) und auf Zwischengitterplatz (b) b) Frenkeische Fehlordnung c) Schottkysche Fehlordnung

Wegen der lokalen Energieschwankungen existieren in jedem Kristall bei von Null verschiedener Temperatur Gitterlücken und auch Zwischengitteratome. Die Konzentration dieser Defekte nimmt exponentiell mit der Temperatur zu. Anschaulich läßt sich diese Eigenschaft der Kristalle an Hand von Abb. VII, 32 erklären. Hier ist die potentielle Energie eines Atoms als Funktion seiner Lage zu den Nachbaratomen dargestellt. Das niedrigere der beiden gezeichneten Minima gehört zur Lage auf einem normalen Gitterplatz, das höhere zu einem Zwischengitterplatz, der beispielsweise in der Mitte einer einfach primitiven Elementarzelle des Gitters liegt. Ein Atom, das, durch die statistische Energieschwankung begünstigt, gerade genug Energie gewonnen hat, um gegen den Widerstand seiner Nachbarn die dargestellte Energie-

Abb. VII, 32. Schematischer Potentialverlauf zwischen Gitterplatz x0 und Zwischengitterplatz xl für ein Kristallatom

schwelle zu überwinden, findet auf dem Zwischengitterplatz eine neue stabile Gleichgewichtslage vor. Allerdings wird es sich in dieser Lage nicht lange aufhalten können, da zur Rückkehr in die normale Gitterlage eine viel geringere Energie erforderlich ist. Ist aber die Gitterlücke in der Zwischenzeit von einem anderen Atom besetzt worden, dann diffundiert dieses Atom von Zwischengitterplatz zu Zwischengitterplatz, bis es eine Gitterlücke findet oder an die Oberfläche gelangt. Im zeitlichen Mittel werden also je nach Höhe der Temperatur des Kristalls mehr oder weniger viele Gitterlücken und Zwischengitteratome existieren. Diese Erscheinung wird deshalb thermische Fehlordnung genannt.

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Mit Hilfe der Thermodynamik läßt sich die Konzentration der Gitterlücken und Zwischengitteratome in Abhängigkeit von der Temperatur quantitativ ableiten. Diese Rechnung sei für die FrenkelFehlordnung skizziert. Wir setzen voraus, daß weder die Temperatur noch das Volumen des Kristalls sich ändern. Unter diesen Bedingungen nimmt im thermodynamischen Gleichgewicht die freie Energie F ein Minimum an, und es gilt ön)r

(Ö/I)T

wo η die Anzahl der Atome ist, die ihre Gitterplätze verlassen haben. Wir brauchen jetzt nur den Zuwachs der inneren Energie U„ und der Entropie Sn, der durch die Fehlordnung des Gitters bedingt ist, auszurechnen und nach η für konstante Temperatur abzuleiten; denn die innere Energie U und die Entropie S des ungestörten Gitters hängen nicht von η ab. Wir wollen die mit der Fehlstellenbildung verbundene kleine Änderung der Schwingungsanteile von U und 5 vernachlässigen. Die Gesamtzahl der Atome des Kristalls sei Ν und die Zahl der möglichen Zwischengitterplätze sei Z. Die η nicht unterscheidbaren Atome, die ihre Gitterplätze verlassen haben, können auf Wz = Z!/(Z — « ) ! « ! verschiedene Weisen auf die Ζ Zwischengitterplätze verteilt werden. Für die Gitterlücken gibt es analog Wn = N\/(N — η)! η! Anordnungsmöglichkeiten. Die Entropiezunahme Sn beträgt also Sn = k • In (Wz · Wiv). k ist die Boltzmann-Konstante. Die Energie, die erforderlich ist, um ein Atom reversibel von einem Gitterplatz zu einem weit entfernten Ort im Gitter zu bringen, sei £>. Die Zunahme an innerer Energie Un beträgt dann Un = nEF• Setzt man die Ausdrücke für S„ und U„ in die Gleichung ψΑ _r«W.\ = οη IT \ on J Τ

0

ein, so ergibt sich unter Verwendung der Stirlingschen Formel folgendes Resultat: £ > - « · in t * - " * < * - " > . rr Da ferner η sehr klein gegenüber Ν und Ζ ist, folgt schließlich L EF

n=YN~-~Z-e

2kT-

Die Anzahl der F r e n k e l - D e f e k t e im Kristall wächst exponentiell mit der T e m p e r a tur an, und die A k t i v i e r u n g s e n e r g i e f ü r diesen P r o z e ß ist { £>. Führt man eine analoge Rechnung für die Schottky-Defekte durch, erhält man als Ergebnis η = Ν • e-ϊΪΜΓ. Es ist die zur Bildung eines Schottky-Defektes erforderliche Energie. Für die Existenz von F r e n k e l - D e f e k t e n in einem Kristall ist vor allem entscheidend, ob das Kristallgitter genügend Raum für Zwischengitterplätze besitzt. In den dichtestgepackten Gittern der Metalle würde ein Zwischengitteratom des gleichen Metalls eine starke Deformation der Umgebung bedeuten. Deshalb werden im thermischen Gleichgewicht in diesen Gittern so gut wie keine F r e n k e l - D e f e k t e gebildet. Sie können aber durch energiereiche Strahlung („radiation damage") oder durch mechanische Deformation erzeugt werden. Als thermische Fehlordnung treten in den dichtestgepackten Gittern hauptsächlich S c h o t t k y - D e f e k t e auf. Sie spielen eine große Rolle bei Diffusionsprozessen in Metallen und Legierungen. Die Aktivierungsenergie ES für S c h o t t k y - D e f e k t e ist für einige Edelmetalle aus der Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstandes bestimmt worden. Sie beträgt für Cu 0,90 eV, für Ag 0,8 eV und für Au 0,67 eV. Für die Konzentration der Gitterlücken am Schmelzpunkt ergibt sich für Cu-Kristalle ein Wert von n/N = 2,5 · 1 0 - 3 und für Au-Kristalle ein Wert von n/N = 5 · ΙΟ" 3 . Bei zweiatomigen Kristallen wie NaCl oder ZnS können meist auch F r e n k e l - D e f e k t e erheblich zur thermischen Fehlordnung beitragen. Häufig ist der Ionenradius des einen Verbindungspartners viel kleiner als der des anderen, und deshalb ist auch die Aktivierungsenergie für das kleinere der beiden Ionen geringer, so daß hauptsächlich Zwischengitteratome der kleine25*

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ren Ionenart im Kristall vorkommen. Im Kochsalzkristall sind es ζ. B. die Na-Ionen und im ZnS die Zn-Ionen. An die Entstehung von S c h o t t k y - D e f e k t e n in Ionenkristallen ist im Gegensatz zur Entstehung in einatomaren Kristallen noch eine Zusatzbedingung geknüpft: die Neutralitätsbedingung. Der Kristall muß elektrisch neutral bleiben. Eindimensionale Kristallbaufehler sind linienförmige Störungen des Gitters. Ihre Ausdehnung senkrecht zu den Linienelementen ist von der Größe weniger Atomabstände. Eine nadeiförmige Ausscheidung von Fremdatomen, eine Reihe aneinandergrenzender Zwischengitteratome oder Gitterlücken in einer fehlerfreien Umgebung stellen solche eindimensionalen Fehler dar. Die Bildung dieser Fehler ist aber sehr unwahrscheinlich und wird deshalb auch selten beobachtet. Es gibt jedoch eine andere sehr wichtige Art eindimensionaler Fehler, die man als Kristallversetzungen bezeichnet. Wegen ihrer großen Bedeutung sollen im folgenden ihre Eigenschaften erläutert werden. Betrachten wir einen fehlerfreien Kristall in einem Scherexperiment bei hinreichend tiefer Temperatur, so daß die thermische Fehlordnung vernachlässigbar klein ist. In Abb. VII, 33 a ist eine Netzebene dieses Kristalls dargestellt. Der Einfachheit halber haben wir einen kubisch primitiven Kristall gewählt. Die Pfeile oben und unten geben die Richtung der am Kristall angreifenden Schubspannung τ an. Der Kristall soll über seine Elastizitätsgrenze hinaus geschert werden, so daß er eine bleibende Verformung erleidet. Im idealen Falle würden bei diesem Experiment die in Abb. VII, 33 a horizontal übereinanderliegenden Netzebenen als geschlossene Einheiten um mindestens einen Gitterabstand gegeneinander verschoben werden. Abb. VII, 33. Stufenversetzung im kubisch primitiven Gitter a) Netzebene des ungestörten Kristalls zu Beginn der Scherung. τ = Schubspannung. Der Burgers-Umlauf (-») ist geschlossen b) Abgleitung eines Teiles des oberen Kristallbereiches auf einer Gleitebene ( ) erzeugt eine Stufenversetzung. Der Burgersumlauf öffnet sich um den -> Burgers-Vektor b Versetzungslinie und BurgersVektor bilden einen Winkel von 90° c) Gleitbewegung der Stufenversetzung. Die Stufenversetzung ist um einen Schritt nach rechts geglitten. Die ursprüngliche Lage der Gitterbausteine ist gestrichelt dargestellt d) Die Stufenversetzung hat den Kristall verlassen und dabei eine Stufe auf der Kristalloberfläche (rechts) erzeugt. Die ursprüngliche Ordnung des Gitters ist wieder hergestellt Nach beendetem Experiment wären außer der Verformung keine weiteren Veränderungen am Kristall bemerkbar. Die Gitterbausteine im Innern des Kristalls besäßen nach wie vor die gleiche periodische Anordnung. Ein einheitliches Abgleiten zweier aufeinanderfolgender Netzebenen um eine Gitterkonstante während der Scherung wird jedoch nur selten beobachtet. Fast ausnahmslos kommt die einheitliche Gleitung zweier Netzebenen längs einer Linie im Kristall zum Stillstand, wie es in Abb. VII, 33 b dargestellt ist. Die Grenzlinie zwischen dem um eine Gitterkonstante verschobenen Kristallbereich und dem unverschobenen Kristallbereich bildet eine Kristallversetzung. Wird das Experiment in diesem Stadium abgebrochen, dann bleibt diese Störung im Kristall zurück. Ein erneuter Scherversuch zeigt nun, daß der Kristall sich bereits bei viel geringeren Schubspannungen plastisch deformiert als im ersten Versuch. An die Stelle der Abgleitung geschlossener Netzebenen ist die Bewegung einer Versetzungslinie getreten. Wie Abb. VII, 33c zeigt, sind für die Bewegung einer Versetzung um einen Schritt nach rechts in den unverschobenen Kristallbereich viel geringere Verschiebungen der Gitterbausteine als bei einheitlicher Gleitung von Netzebenen notwendig. Es ist deshalb verständlich, daß bei An-

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Wesenheit einer Versetzung viel kleinere äußere Spannungen ausreichen, um eine plastische Deformation hervorzurufen. Abb. VII, 33 d zeigt den Kristall nach dem letzten Schritt der Versetzung. Die Versetzung ist aus dem Kristall herausgewandert und hat eine Stufe der Größe einer Gitterkonstante zurückgelassen. Das Gitter des Kristalls ist wieder ungestört. Nahezu alle Kristalle, künstlich gezogene wie natürlich gewachsene, enthalten Versetzungen. Sie sind durch kleine Temperaturschwankungen oder Erschütterungen während des Wachstums entstanden und zeigen sich in der leichten Verformbarkeit der Kristalle. Die tatsächliche Schubfestigkeit eines Kristalls kann um einige Größenordnungen geringer sein als die theoretische Schubfestigkeit des gleichen, aber ungestörten Kristalls. Die theoretische Schubfestigkeit von Aluminium beträgt etwa 105 kp/cm 2 . Gute Al-Einkristalle mit nur wenigen Versetzungen können jedoch schon mit 3 kp/cm 2 verformt werden. Gelingt es, die wenigen noch vorhandenen Versetzungen aus guten Kristallen zu entfernen oder aus einem größeren guten Kristall einen versetzungsfreien kleinen Kristall herauszutrennen, so zeigt dieser Kristall die dem theoretischen Wert entsprechende hohe Schubfestigkeit. Wir werden später sehen, daß diese hohe Schubfestigkeit auch für Kristalle hoher Versetzungsdichte nahezu erreicht werden kann. Zuvor sollen aber noch die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der Versetzungen behandelt werden. Wir haben bisher erst eine von vielen möglichen Versetzungsarten kennengelernt. Sie wird Stufenversetzung genannt. Art und Größe einer Versetzung lassen sich mit Hilfe des BurgersUmlaufs bestimmen. Zur Erklärung betrachten wir noch einmal Abb. VII, 33. Die Stufenversetzung läuft im Teilbild b senkrecht zur dargestellten Netzebene durch den Kristall. Die Lage der Versetzung im Kristall wird durch einen Vektor s = drj\dr\ angegeben, wo r der Ortsvektor vom Ursprung des gewählten Koordinatensystems zur Versetzungslinie ist. s ist also ein Einheitsvektor, der in jedem Punkt der Versetzungslinie ihre Richtung im Kristall angibt. Im hier betrachteten Fall der Stufenversetzung ist s konstant. Das Koordinatensystem wählen wir so, daß s in die Papierebene hineinweist. Damit ist die Lage der Versetzung im Kristall eindeutig bestimmt. Die Lage der Versetzung allein sagt jedoch noch nichts über die Art der Störung des Kristalls aus. Wir müssen zusätzlich einen Vergleich des ungestörten mit dem gestörten Gitter anstellen. Zu diesem Zweck verwenden wir ein Verfahren, das von J. M. B u r g e r s angegeben wurde. Wir zeichnen in einer Netzebene des ungestörten Kristalls, die einer senkrecht zur Versetzungslinie liegenden Netzebene des gestörten Kristalls entspricht, einen geschlossenen Umlauf, einen sogenannten B u r g e r s - U m l a u f . Der Umlauf beginnt in Abb. VII, 33a an dem mit einem Kreuz bezeichneten Gitterpunkt. Von dort aus gehen wir 4 Schritte nach rechts, dann 4 nach unten, weiter 4 nach links und schließlich 4 Schritte nach oben zum Anfangspunkt zurück. Das gleiche tun wir nun im Teilbild b im gestörten Gitter. Wir stellen fest, daß bei gleicher Schrittzahl Anfangs- und Endpunkt des Umlaufes nicht zusammenfallen, wenn der Umlauf die Versetzungslinie einschließt. Zwischen dem Endpunkt des Umlaufs, der mit einem Punkt gekennzeichnet ist, und dem Anfangspunkt ist ein zusätzlicher Schritt erforderlich, der nach J. M. B u r g e r s mit b bezeichnet und Burgers-Vektor der Versetzung genannt wird. Der Burgers-Vektor einer Versetzung ist ein freier Vektor, denn Richtung und Betrag des Vektors ändern sich nicht, wenn bei gleichem Umlaufsinn um die Versetzungslinie der Umlauf an einem anderen Gitterpunkt begonnen wird. Ferner sehen wir leicht ein, daß in Translationsgittern nur Versetzungen auftreten können, deren Burgers-Vektoren Translationsvektoren des Gitters sind. Der Burgers-Vektor ist ein charakteristisches Merkmal einer Versetzung. Er existiert nur für Versetzungen; denn ein B u r g e r s - U m l a u f um einen Punktdefekt oder eine nadeiförmige Ausscheidung ist immer geschlossen, und folglich gibt es auch keinen Burgers-Vektor. Der Betrag des Burgers-Vektors b gibt die Größe der Versetzung an und heißt Versetzungsstärke. Ein weiteres wichtiges Merkmal einer Versetzung ist der Winkel, der vom Einheitsvektor s der Versetzung und dem Burgers-Vektor'gebildet wird. Für Stufenversetzungen beträgt der Winkel zwischen s und b 90°. In Abb. VII, 33b liegt der Burgers-Vektor b der Stufenversetzung in der dargestellten Netzebene ( = Papierebene), während der Einheitsvektor s der Versetzung senkrecht dazu steht, also senkrecht zum Burgers-Vektor (in der Zeichnung senkrecht zur Papierebene, ist also nicht darstellbar).

390

Molekularphysik

Betrachten wir nun eine andere Versetzungsart, die sogenannte Schraubenversetzung. Abb. VII, 34 zeigt eine Schraubenversetzung im kubisch primitiven Gitter. Die Versetzungslinie geht senkrecht durch die Mitte des Kristalls hindurch und bildet die Achse einer Schraube. Die Netzebenen, die im ungestörten Gitter parallel übereinander geschichtet sind, bilden dadurch eine einzige Schraubenfläche. Der Burgers-Umlauf um diese Schraubenversetzung ergibt einen Burgers-Vektor vom Betrage einer Gitterkonstanten. Der Burgers-Vektor steht aber hier nicht senkrecht zur Versetzungslinie, sondern im Gegensatz zur Stufenversetzung parallel zur Versetzungslinie, s und b schließen also einen Winkel von 0° ein. Stufen- und

Abb. VII, 34. Schraubenversetzung in einem kubisch primitiven Gitter. Die Schraubenachse ist die Versetzungs->

linie. Der Burgers-Vektor b liegt parallel zur Versetzungslinie

Schraubenversetzungen stellen zwei Sonderfälle von Versetzungen dar. Im allgemeinen ist der Winkel zwischen dem Burgers-Vektor und dem Vektor eines Linienelementes einer Versetzung weder 90° noch 0°, sondern irgendein Wert zwischen 0° und 90°. Zur Veranschaulichung ist in Abb. VII, 35 und VII, 36 ein Kristall mit einer gebogenen Versetzungslinie dargestellt. Auf

Abb. VII, 35. Kubisch primitiver Kristall mit gekrümmter Versetzungslinie. Perspektivische Ansicht des Kristalls. D i e Versetzungslinie ( ) hat an der Frontfläche des Kristalls reinen Schraubencharakter, im Innern des Kristalls gemischten Charakter mit Schrauben- und Stufenanteilen und am Austrittspunkt der rechten Seitenfläche reinen Stufencharakter

der dem Betrachter zugewandten Seite des Kristalls besitzt die Versetzung Schraubencharakter: Burgers-Vektor und Linienvektor liegen parallel. Verfolgen wir den Verlauf der Versetzung in das Kristallinnere an Hand von Abb. VII, 36, so stellen wir fest, daß der Winkel zwischen b und s zunimmt und am Durchstoßpunkt der Versetzung auf der Seitenfläche des Kristalls 90° beträgt. Längs der Versetzungslinie wandelt sich also die Versetzung von einer reinen Schraubenin eine reine Stufenversetzung um. Im Zwischenbereich besitzt die Versetzungslinie gemischten Charakter. Je nachdem, ob der Winkel kleiner oder größer als 45° ist, spricht man deshalb von Versetzungsstücken mit überwiegendem Schrauben- bzw. Stufencharakter. Der Burgers-Vektor bleibt natürlich längs der gesamten Versetzungslinie nach Betrag und Richtung erhalten.

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

391

Umschließt ein Burgers-Umlauf mehr als eine Versetzung, dann stellt der resultierende Burgers-Vektor b offensichtlich die Summe der Burgers-Vektoren bi der einzelnen vom Umlauf erfaßten Versetzungen dar. Es gilt also b = Σ bi. Es können auch Verzweigungen von Versetzungen auftreten derart, daß beispielsweise zwei Versetzungen mit den Burgers-Vektoren b\ und i>2 in einem Punkt zusammentreffen und von diesem Punkt an eine gemeinsame Versetzung bilden mit dem Burgers-Vektor b$ = bi + bz. Ein solcher Verzweigungspunkt heißt Versetzungsknoten.

Abb. VII, 36. Lage der Versetzung der Abb. VII, 35 in ihrer Gleitebene (Papierebene). Die Punkte gehören zu der Netzebene unterhalb der Gleitebene, die leeren Kreise zu der Netzebene oberhalb der Gleitebene

Ferner kann eine Versetzung offenbar weder im Kristall beginnen noch enden; denn wie der Kristall auch immer verformt wird, die Grenze zwischen dem verschobenen und dem unverschobenen Kristallbereich ist immer geschlossen. Anfang und Ende einer Versetzung müssen also entweder auf der Oberfläche des Kristalls liegen oder aber die Versetzung schließt sich innerhalb des Kristalls zu einem Ring; dann fallen Anfangs- und Endpunkt der Versetzung zusammen. Wir wollen uns nun der wichtigen Frage nach der Energie einer Versetzung und nach den Kräften, die auf eine Versetzungslinie wirken, zuwenden. Wir haben gesehen, daß eine Versetzung eine bestimmte Deformation des Kristallgitters verursacht, wodurch im Kristall ein Spannungsfeld hervorgerufen wird. Diesem Spannungszustand entspricht ein gewisser Energieinhalt, der gleich der Deformationsarbeit ist, die zur Schaffung einer Versetzung aufgewendet werden muß. Diese Energie wird Eigenenergie der Versetzung genannt. Zur Abschätzung der Eigenenergie einer Versetzung wollen wir den Kristall als isotropes, elastisches Kontinuum betrachten. Für die stark verzerrte, unmittelbare Umgebung der Versetzung ist das allerdings nicht möglich. Wir müssen deshalb die Versetzungslinie in eine Röhre von hinreichend großem Radius einschließen und das Volumen der Röhre bei der Abschätzung zunächst auslassen. Im übrigen Kristallbereich sei die elastische Spannung α proportional der relativen Deformation des Mediums. Es gelte also das H o o k e s c h e Gesetz. Die Deformationsenergie erhalten wir durch Integration der elastischen Spannung α über die relative Deformation ε. Wir integrieren vom Beginn der Deformation, wo ε = 0 ist, bis zur maximalen Deformation e m ax, die zur Erzeugung der Versetzung notwendig ist. Dann ist die Deformationsenergie W=

"j"

ο

σ

de.

Für eine reine Schraubenversetzung läßt sich die Eigenenergie in dieser Näherung leicht ausrechnen. Aus Abb. VII, 34 ist zu erkennen, daß der Kristall durch eine Schraubenversetzung nur eine Gestaltsänderung, aber keine Volumenänderung erfährt. Wir denken uns einen Kristallzylinder vom Radius R mit einer Schraubenvei Setzung in der Zylinderachse. Die Deformation gegenüber einem ungestörten Zylinder läßt sich am einfachsten bestimmen, wenn man je einen Zylindermantel vom Radius r des ungestörten und des gestörten Kristalls auf einer Ebene abrollt. Wir erkennen dann unmittelbar, daß der Zylindermantel des Kristalls mit Schraubenver-

392

Molekularphysik

Setzung um tan γ = b/2 nr geschert ist. Die relative Deformation ist also ε = b/2 nr. Die entsprechende elastische Spannung gewinnen wir durch Multiplikation mit dem Schermodul G: a = G b/2 nr und erhalten damit für die Deformationsenergie Em.x

*(r)=

f*

£m«x

J σώ-G

j ^

G ί h \2 1

=

Eine Integration über den Querschnitt des Zylinders liefert die Eigenenergie pro Längeneinheit der Schraubenversetzung. Da wir die nächste Umgebung der Versetzung auslassen müssen, beginnen wir die Integration bei einem kleinen Radius Ri und bekommen

-Kr

R 2 nrdr

G b \

r2



R

In — . R:

Ri

D i e E i g e n e n e r g i e d e r S c h r a u b e n v e r s e t z u n g ist a l s o d e m Q u a d r a t des B u r g e r s - V e k t o r s d i r e k t p r o p o r t i o n a l . Die Abhängigkeit der Eigenenergie von der radialen Ausdehnung des Kristalls ist gering, da der Radius unter dem Logarithmus steht. Der Radius Ri des stark verzerrten Bereiches um die Versetzungslinie hat etwa die Länge von 5 Burgers-Vektoren, also ungefährt 5 · 3 Ä. Für eine dünne Kristallnadel (Whisker) mit einem Durchmesser von 15 μηι ist das Verhältnis R/Ri etwa 104, für einen großen Kristall von 15 mm Durchmesser etwa 107. Während das Verhältnis R/Ri um den Faktor 103 zunimmt, wird aber die Eigenenergie der Schraubenversetzung wegen des Logarithmus nur 7/4mal größer als für die Kristallnadel. Schätzen wir nun den vom stark verzerrten Bereich in der nächsten Nähe der Schrauben Versetzung herrührenden Anteil der Eigenenergie ab. Man kann annehmen, daß die mittlere Deformation έ innerhalb dieses Gebietes nicht viel größer ist als 3 %. Das entspricht etwa der theoretischen Schubfestigkeit. Mit Ri = 5 b und ε = 3 % erhalten wir W

^

G

f

-

n

R

f

x

^



.

Für ein Radienverhältnis R/Ri = 104 ist der Anteil fVt der Eigenenergie der Versetzung etwa 1/10 Wl, also immer noch relativ klein. Auch genauere Berechnungen führen zu ähnlichen Ergebnissen. Als Beispiel wollen wir die Eigenenergie einer Schraubenversetzung in einem Aluminiumkristall berechnen. Die energetisch günstigste Versetzung ist, wie wir wissen, die Versetzung mit kleinstmöglichem Burgers-Vektor. Im kubisch allseitig flächenzentrierten Gitter des Al finden wir als kleinste Translation die Verschiebung eines Eckpunktes der würfelförmigen Elementarzelle entlang einer Flächendiagonalen zu einem flächenzentrierten Gitterpunkt. Ist α die Kantenlänge des Würfels, dann hat diese Translation den Betrag a/V2. Wir wählen also eine Schraubenversetzung, deren Versetzungslinie in Richtung einer Flächendiagonalen durch den Kristall läuft. Der Burgers-Vektor der Schraubenversetzung ist der Versetzungslinie parallel und hat den Betrag der kleinstmöglichen Translation a/y2. Für Al ist a = 4,049 Ä und der theoretische Schubmodul G = 2,85 · 103 kp/mm 2 oder = 2,8 • 10 11 dyn/cm 2 . Mit R/Ri = 105 erhalten wir für die Eigenenergie der Schraubenversetzung, bezogen auf die Länge des Burgers-Vektors, W = ^ 4

V2

= ^ - 2 / l n # ) 4 = 6 - 1 0 - 2 e r g = 3,75eV. Απ

\

Ri

I

V2

Auf jedes Atom längs der Versetzungslinie kommt also eine Energie von 3,75 eV. Das ist etwa 3 mal soviel, wie zur Bildung einer Gitterlücke erforderlich ist.

Ganz ähnlich läßt sich auch die Eigenenergie einer Stufenversetzung abschätzen. Statt der Rechnung hier nur das Ergebnis: Die Eigenenergie einer Stufenversetzung pro Länge der Versetzungslinie beträgt u, Gfc2 , R WL = - — rln— 4π(1—μ) V

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

393

wo μ die P o i s s o n - Z a h l ist. D i e E i g e n e n e r g i e d e r S t u f e n v e r s e t z u n g ist a l s o a u c h p r o p o r t i o n a l d e m Q u a d r a t des B u r g e r s - V e k t o r s . Neben dem Schubmodul G geht aber noch die P o i s s o n - Z a h l in die Formel ein, weil eine Stufenversetzung nicht nur eine Gestaltsänderung, sondern auch eine Volumenänderung, nämlich eine Kompression des Kristalls, verursacht. Da μ meist ^ ist und nicht größer als j sein kann — der Grenzfall μ = \ bedeutet Inkompressibilität —, ist die Eigenenergie einer Stufenversetzung etwa l,5mal größer als die einer Schraubenversetzung mit gleichem Burgers-Vektor im selben Material. Eine gemischte Versetzung können wir in Schrauben- und Stufenanteil zerlegen. Die Summe der Eigenenergien beider Anteile ergibt die Eigenenergie der gemischten Versetzung. An Hand dieser Ergebnisse läßt sich nun von Fall zu Fall abschätzen, welche Versetzungen in einem Kristall die geringste Eigenenergie besitzen und deshalb stabil sind. Versetzungen mit höherer Energie sind oft schon deshalb nicht stabil, weil sie in zwei Versetzungen insgesamt geringerer Energie aufspalten können, wenn für bz = bi + 62 die vereinfachte Ungleichung > b\ + b\ gilt. Auch krummlinige Versetzungen sind energetisch ungünstig, denn ein gekrümmtes Versetzungsstück hat gegenüber einem gradlinigen zwischen denselben Gitterpunkten eine höhere Gesamtenergie. E i n K r i s t a l l w i r d a l s o i m m e r b e s t r e b t sein, d i e d u r c h ä u ß e r e E i n f l ü s s e h e r v o r g e r u f e n e n V e r s e t z u n g e n m ö g l i c h s t g r a d l i n i g u n d k u r z ausz u b i l d e n , d e n n d a n n ist i h r e E i g e n e n e r g i e a m g e r i n g s t e n . Das ist jedoch nicht immer möglich, selbst wenn keine äußeren Kräfte vorhanden sind, da meist mehrere Versetzungen gleichzeitig in einem Kristall existieren, die durch ihre Spannungsfelder einander daran hindern, stabile Lagen mit geringster Eigenenergie einzunehmen. So entstehen häufig metastabile Versetzungskonfigurationen. Betrachten wir eine Versetzung unter dem Einfluß eines Spannungsfeldes, das sowohl durch äußere Kräfte, die an der Oberfläche des Kristalls angreifen, als auch durch eine oder mehrere andere Versetzungen desselben Kristalls verursacht werden kann. Dieses fremde Spannungsfeld überlagert sich dem Eigenspannungsfeld der Versetzung und kann eine Bewegung der Versetzung verursachen. Bewegt sich die Versetzung unter dem Einfluß der Spannung 2 und 63 einen Versetzungsknoten, der in der Gleitebene der Versetzung fei liegt. Die Gleitebenen der anderen beiden Versetzungen sind nicht eingezeichnet. Die Versetzung fei bildet mit zwei weiteren nicht bezeichneten Versetzungen einen zweiten Knoten; sie ist also an beiden Enden verankert. Wirkt nun durch geeignet gewählte äußere Kräfte auf die Versetzung fei eine Kraft in der Gleitebene, dann wird sie dieser Kraft nachgeben und zwischen den festen Knotenpunkten eine Gleitbewegung ausführen. Dabei baucht die Versetzungslinie immer stärker aus und, da die Kraft senkrecht an jedem Linienelement der Versetzung angreift, windet sich die Versetzung um die beiden Knoten herum, bis an irgendeiner Stelle die Versetzungsbäuche zusammentreffen. In diesem Moment löst sich eine geschlossene Versetzungslinie von den beiden Knoten, und die zurückbleibenden Versetzungsteile, die von den Knoten zur Berührungsstelle führen, stellen alsbald den ursprünglichen Zustand der Versetzung wieder her. Nun beginnt der ganze Prozeß von vorn: Die Versetzung zwischen den Knoten baucht von neuem aus, schließt sich zu einem Ring, der sich von den Knoten löst, und zwischen den Knoten bildet sich der alte Zustand der Versetzung zurück. Die Versetzungsringe bewegen sich frei in der Gleitebene, wandern zur Kristalloberfläche und treten dort aus. Jeder Ring verursacht auf diese Weise eine Abgleitung vom Betrage eines Burgers-Vektors. Wir verstehen nun, daß selbst Abgleitungen von der Größe eines halben Kristalldurchmessers auf einer einzigen Gleitebene durch diesen Mechanismus möglich sind Die Versetzungsanordnung in Abb. VII, 39 kann man deshalb als Versetzungsquelle ansehen

\

Abb. VII, 39. Frank-Read -Versetzungsquelle. Eine Versetzung b1 ist an ihren Enden durch 2 Versetzungsknoten im Kristall verankert. Unter dem Einfluß einer Kraft baucht die Versetzungslinie in der Gleitebene zwischen den Knoten aus, schließt sich zu einem Ring, der sich von den inneren Versetzungsstücken löst und radial über die Gleitebene wandert. Zwischen den Knoten bildet sich der ursprüngliche Versetzungszustand wieder aus, und der ganze Vorgang wiederholt sich von neuem

Von ihr gehen immer wieder neue ringförmige Versetzungen aus. Versetzungsanordnungen mit diesen Eigenschaften werden Frank-Read-Quellen genannt. Verankerungen können auch andere Ursachen als Versetzungsknoten haben. Beispielsweise ist in hexagonal dichtgepackten Gittern die Beweglichkeit der Versetzungen in nicht dichtgepackten Netzebenen so viel geringer als in dichtgepackten, daß Versetzungsspiralen entstehen können. Abb. VII, 40 gibt dafür ein Beispiel. Der horizontale Zweig der L-förmigen Versetzung mit dem Burgers-Vektor fe habe eine hohe Beweglichkeit in der dargestellten Gleitebene. Der andere Zweig liegt nicht in dieser Gleitebene und habe eine viel geringere Beweglichkeit in seiner Gleitebene. Bei einer Gleitbewegung des horizontalen Versetzungszweiges wird sich dieser Zweig spiralförmig um den anderen Zweig herumwinden und eine starke Abgleitung des Kristalls in dieser Gleitebene bewirken. — Aber auch örtliche Spannungskonzentrationen oder Verunreinigungen können Verankerungen verursachen. Darauf wollen wir jedoch nicht im einzelnen eingehen.

Kristallwachstum u n d Kristallbaufehler

397

Nach dem bisher Gesagten mag der Eindruck entstanden sein, daß es außer den völlig versetzungsfreien Kristallen, die sehr selten sind, überhaupt keine Kristalle gibt, deren Schubfestigkeit auch nur annähernd an den theoretischen Wert heranreicht. Dieser Schluß ist natürlich falsch und widerspricht auch der Erfahrung. Wir wissen beispielsweise, daß eine plastische Verformung dem Material eine höhere Festigkeit verleiht. Ein Kupferdraht hat nach einer einmaligen, kräftigen Dehnung eine viel höhere Festigkeit als vorher. Durch das Schmieden wird die Festigkeit eines Werkstückes ganz wesentlich erhöht. Es gibt noch viele andere Beispiele für Verfestigungen, die längst bekannt waren, bevor man auf die Versetzungen in Kristal-

Abb. VII, 40. Ζ,-förmige F r a n k - R e a d - V e r s e t z u n g s q u e l l e . D e r in der horizontalen Gleitebene liegende Versetzungszweig hat eine viel höhere Beweglichkeit als der senkrechte Zweig und windet sich daher spiralförmig um den senkrechten Zweig

len aufmerksam wurde und ihre Bedeutung für die Verfestigung erkannte. Wiederholte starke Verformungen können in einem Kristall eine so hohe Versetzungsdichte erzeugen, daß die einzelnen Versetzungen durch die entgegengerichteten Spannungsfelder der anderen Versetzungen am Gleiten gehindert werden. Die Versetzungen blockieren sich gegenseitig. Erst bei sehr hohen Schubkräften sind sie in der Lage, sich gegenseitig zu durchdringen und eine Abgleitung des Kristalls herbeizuführen. Die Schubfestigkeit eines solchen Kristalls kann fast so groß sein wie für ideale Einkristalle. Die entgegengesetzte Wirkung hat ein längeres Tempern bei hohen Temperaturen. Sobald eine Diffusion von Atomen möglich wird, können die Versetzungen im Kristall klettern, in andere Versetzungen übergehen oder sich gegenseitig aufheben. Dadurch wird Energie frei und die ursprüngliche Anzahl der Versetzungen verringert. Schließlich soll noch erwähnt werden, daß Versetzungen auch einen Einfluß auf den Elastizitätsmodul und die innere Reibung der Kristalle ausüben. Niedrige Spannungen, die noch kein Gleiten der Versetzungen hervorrufen, bewirken eine kleine reversible Verschiebung der Versetzungen, die als zusätzliche Dehnung zur elastischen Dehnung beiträgt und so den Elastizitätsmodul herabsetzt. Unter einer alternierenden äußeren Spannung bewegen sich die VersetzunAbb. VII, 41. Ätzgruben in einer Kristalloberfläche. Jede Ätzgrube zeigt den Durchstoßpunkt einer Versetzung an Mikr. Vergrößerung 400fach. (D. Neubert, PTB Berlin)

[III] \

3

Ο 3

3 Ο

Ο 3

Ο Ο

3

3 — Ο — 3 — Ο— 3 3 3

Ο

3

Ο 3 Ο (1Ϊ0) -Ebene

Ο

{1111

3 3

Abb. VII, 42. Zwillingskristall mit kubisch dichtestgepacktem Gitter. Zwillingsgrenze ist eine (11 D-Ebene. 3 Atome in der (lTO)-Ebene, Ο A t o m e unterhalb oder oberhalb der (lTO)-Ebene

398

Molekularphysik

gen im Kristall hin und her. Diese Bewegungen benötigen Energie und tragen deshalb zur inneren Reibung bei. Es gibt heute verschiedene Methoden zum experimentellen Nachweis von Versetzungen. Am einfachsten lassen sich Versetzungen durch Anätzen der Kristalloberflächen sichtbar machen. An den Durchstoßpunkten der Versetzungen auf der Kristalloberfläche greift das Ätzmittel besonders stark an, da dort die Atome nicht so stark gebunden sind wie in der ungestörten Kristalloberfläche. So entstehen um jeden Durchstoßpunkt einer Versetzung kleine Ätzgruben, die unter dem Mikroskop, wie Abb. VII, 41 zeigt, deutlich zu erkennen sind. Wir wenden uns nun den zweidimensionalen Kristallbaufehlern zu, die ebenfalls eine große technische Bedeutung haben und teilweise eng mit den Versetzungen zusammenhängen. Die üblichen metallischen Werkstoffe sind polykristallin. Sie bestehen also aus vielen kleinen Kristallen gleicher Struktur und Zusammensetzung. Eine Grenzfläche zwischen zwei Kristallen, die bezüglich eines festen Achsenkreuzes verschieden orientiert sind, stellt offenbar einen zweidimensionalen Kristallbaufehler dar. Er erstreckt sich längs der gesamten gemeinsamen Grenz, fläche beider Kristalle und wirkt sich, abgesehen von einer elastischen Deformation des Gitterssenkrecht zu dieser Fläche höchstens über wenige Gitterabstände auf das Innere der Kristalle aus. Die Verschiebung der Gitterbausteine aus der Gleichgewichtslage des ungestörten Gitters im Bereich der Grenzfläche hängt entscheidend von der gegenseitigen Orientierung der angrenzenden Ki istalle ab. Die Symmetrie eines Kristallgitters läßt erkennen, daß für bestimmte Orientierungen der Kristalle überhaupt keine Verschiebungen der Gitterbausteine in der Grenzfläche auftreten, obwohl äquivalente Netzebenen zu beiden Seiten der Grenzfläche gegeneinander verschwenkt sind und deshalb die Periodizität des Gitters längs der Grenzfläche unterbrochen ist. Eine solche Grenze heißt Zwillingsgrenze, und die Kristalle, die auf diese Weise gesetzmäßig verwachsen sind, nennt man Zwillingskristalle. Abb. VII, 42 zeigt eine Zwillingsgrenze in einem Zwillingskristall mit kubisch allseitig flächenzentriertem Gitter. Die Zwillingsgrenze ist hier eine (lll)-Ebene.

Abb. VII, 43. Kleinwinkelkorngrenze in einem kubisch primitiven Gitter. Sie wird durch eine Reihe äquidistanter paralleler Stufenversetzungen aufgebaut d = Abstand der parallelen Stufenversetzungen Θ = Verschwenkungswinkel der Kristallteile b = Burgers-Vektor der Stufenversetzungen

Viel häufiger als gesetzmäßige Verwachsungen treten jedoch Verwachsungen auf, die eine Verschiebung der Gitterbausteine im Bereich der Grenzfläche beinhalten. Diese Grenzflächen bezeichnet man als Korngrenzen. Sind die miteinander verwachsenen Kristalle nur um einen kleinen Winkel verschwenkt, so spricht man von Kleinwinkelkorngrenzen. Abb. VII, 43 gibt

399

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

ein Beispiel für eine einfache Kleinwinkelkorngrenze in einem kubisch primitiven Gitter. Betrachten wir die Struktur dieser Korngrenze genauer, so fällt uns eine gewisse Regelmäßigkeit ihres Auf baus auf. Sie besteht aus einer Reihe von einander parallelen Stufenversetzungen, die in konstanten Abständen entlang der Korngrenze verlaufen und auf diese Weise die Verschwenkung der Kristalle ausgleichen. Der Abstand d der Stufenversetzungen hängt unmittelbar mit dem Verschwenkungswinkel Θ und dem Burgers-Vektor b der Stufenversetzungen zusammen. Wie leicht zu erkennen ist, gilt b/d = 2 · sin Θ/2 oder, da der Winkel Θ klein ist, d = b/Θ. Im allgemeinen ist die Struktur einer Kleinwinkelkorngrenze etwas komplizierter. Sie kann ζ. B. aus einer Reihe paralleler Stufen und Schraubenversetzungen bestehen oder durch ein Netzwerk von Schraubenversetzungen gebildet werden. Wir wollen diese Möglichkeiten nicht im einzelnen diskutieren, sondern uns mit der wichtigen Feststellung begnügen, daß Kleinwinkelkorngrenzen eine regelmäßige Versetzungsstruktur besitzen. Für größere Verschwenkungswinkel als etwa 20° geht diese Eigenschaft verloren. Man bezeichnet deshalb diese nicht regelmäßig aus Versetzungen aufgebauten Korngrenzen zum Unterschied zu den Kleinwinkelkorngrenzen als Großwinkelkorngrenzen. Zum Schluß soll noch ein zweidimensionaler Kristallbaufehler erwähnt werden, der in Kristallen mit kubisch und hexagonal dichtester Packung auftritt. Kristallgitter mit kubisch und hexagonal dichtester Packung zeigen eine gewisse Analogie im Aufbau. In Abb. VII, 44a ist eine (lll)-Ebene des kubisch dichtgepackten Gitters und eine (OOl)-Ebene eines hexagonal dichtgepackten Gitters dargestellt. Beide Netzebenen, deren Bausteine durch leere Kreise gekennzeichnet sind, sind völlig identisch. Projiziert man, wie es die Abb. VII, 44 a zeigt, die

(111) -Ebene

Abb. VII, 44. Aufbau der kubisch und hexagonal dichtestgepackten Gitter a) Projektion der Atome von 3 übereinanderliegenden Ebenen auf die (111)- bzw. (00 · 1)-Ebene

100-11 -Ebene

Ο 3 · Ο 3 • Ο 3 · Ο —- 0 - 3 - · - Ο- 3—(110) · ο 3 · Ο a

Ο 3 ·

Ο 3

Ο 3 Ο 3 -0-3 0 - 3 —(11-0) Ο 3

Ο 3

Ο 3

(110) -Ebene Λ

b) Stapelfolge in [111]- bzw. [00 · 1]Richtung

£

Β b

Λ

Ο Ο

3

3

β

Ο

Ο Ο

Ο

3

3

3

3 Ο

(11-0)-Ebene S

3

Α

Ο 3

Ο 3

ί

Ο Ο

3

3

3

Ο

Ο Ο

3

3

Ο

> 1 0 3 0 3

Bausteine der darunter und darüber liegenden parallelen Netzebene auf die (111)- bzw. auf die (OO.l)-Ebene, so erkennt man ohne weiteres die Bauprinzipien beider Gitter. Die Bausteine aufeinanderfolgender Netzebenen sind längs der gestrichelt eingezeichneten Geraden jeweils um ^ des Abstandes zwischen zwei Bausteinen der (lll)-Projektionsebene versetzt. Insgesamt gibt es also drei gegenseitige Lagen der parallel übereinander gestapelten Netzebenen, die wir mit Α, Β und C bezeichnen wollen. Im kubischen Gitter folgt auf eine (111)-Netzebene in der ALage eine Netzebene in der -ß-Lage, danach eine Netzebene in der C-Lage und dann wieder eine in der Λ-Lage usw. Im hexagonalen Gitter gibt es nur zwei Lagemöglichkeiten. Auf eine Λ-Lage folgt immer eine B-Lage und umgekehrt. Für den Gitteraufbau ist also die periodische Stapelfolge der (111)- bzw. (OO.l)-Ebenen charakteristisch. Das kubische Gitter hat die Stapelfolge ABC ABC... und das hexagonale Gitter die Folge ABAB. In Abb. VII, 44 b sind die Stapelfolgen beider Gitter in der (1Ϊ0)- bzw. (ll.O)-Ebene dargestellt. Ist nun in irgendeiner Stapelebene des Gitters die periodische Stapelfolge verletzt, ζ. B. dadurch, daß in der hexagonalen Folge ABAB auf eine Λ-Lage nicht eine ΰ-Lage, sondern eine C-Lage folgt, dann besitzt das Gitter an dieser Stelle einen zweidimensionalen Kristallbaufehler besonderer Art, der als

400

Molekularphysik

Stapelfehler bezeichnet wird. Die fehlerhafte Folge lautet dann ... ABABACABAB... Die dichteste Packung der Netzebenen ist durch den Fehler nicht verletzt worden. Wir erkennen aber, daß die dem Fehler benachbarten Netzebenen jetzt nicht mehr hexagonal, sondern kubisch gepackt sind. Je drei aufeinanderfolgende Netzebenen können als ein Packungselement angesehen werden. Wird die mittlere der drei Netzebenen von zwei Netzebenen gleicher Lage eingeschlossen, dann bilden sie ein hexagonales Packungselement. Haben die äußeren Netzebenen verschiedene Lage, so ergibt sich ein kubisches Packungselement. Zwei Netzebenen gleicher Lage dürfen natürlich niemals aufeinanderfolgen, weil dadurch die dichte Packung verlorenginge. Auch der Zwillingski istall in Abb. VII, 42 enthält ein hexagonales Packungselement, denn an der Zwillingsgrenze kehrt sich die Stapelfolge um. Besitzt der eine Teil des Zwillings die kubische Folge ABC ..., dann besitzt der andere Teil die Folge CBA ... Beide Teile stoßen an der Zwillingsgrenze zusammen und ergeben die Stapelfolge ABCABCBACBA ... Die Zwillingsgrenze selbst ist also mit den benachbarten Netzebenen, die beide eine 5-Lage haben, nicht kubisch, sondern hexagonal gepackt. So gesehen, ist die Zwillingsgrenze mit zwei Phasengrenzen verbunden, die wiederum auf Stapelfehler zurückzuführen sind. Die Fehlordnungsenergie pro Atom in der Netzebene eines Stapelfehlers ist annähernd gegeben durch den Unterschied in der Bindungsenergie eines Atoms in den dichtestgepackten Gittern hexagonaler und kubischer Struktur. Diese Energiedifferenz ist sehr klein. Sie beträgt nur etwa 1/ioo der Eigenenergie pro Atom einer Versetzungslinie. Aus diesem Grunde sind Stapelfehler in diesen Gittern viel häufiger als Versetzungen.

Abb. VII, 45. Unvollständige Versetzungen kubisch dichtestgepackten Gitter

im

a) S h o c k l e y s c h e unvollständige Versetzung mit Burgers-Vektor bs b)Franksche

unvollständige

Versetzung

mit

Burgers-Vektor öf = bs + t φ Atome in der (lOl)-Ebene Ο Atome unterhalb oder oberhalb der (lOT)-Ebene

br-sm

Stapelfehler erstrecken sich nicht immer durch den ganzen Kristall, sie können auch, wie in Abb. VII, 45 skizziert ist, längs einer Linie im Kristall enden. Die Begrenzungslinie eines Stapelfehlers stellt eine zusätzliche Störung des Kristallgitters dar, eine sogenannte unvollständige Versetzung. Der Grund für diese Bezeichnung ist leicht einzusehen. Wir betrachten Abb. VII, 45a und beschreiben um die Grenzlinie des Stapelfehlers einen Burgers-Umlauf in Trans-

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

401

lationsschritten des Gitters. Im ungestörten Kristall würde dieser Umlauf geschlossen sein. Durch die Grenzlinie des Stapelfehlers öffnet sich jedoch der Burgers-Umlauf. Es entsteht ein Burgers-Vektor bs, der nicht Translationsvektor des Gitters ist. Wenn α die Kantenlänge der kubischen Elementarzelle ist, lautet der Burgers-Vektor bs = £ [121]. Die Grenzlinie hat also den Charakter einer Versetzung, und zwar in dem hier dargestellten Fall den Charakter einer Stufenversetzung, denn Burgers-Vektor und Linienvektor bilden einen Winkel von 90°. Läuft die Grenzlinie in Abb. VII, 45 a nicht senkrecht zur Papierebene, dann besitzt die Versetzungslinie auch einen Schraubenanteil. Der einzige Unterschied zu den uns bisher bekannten Versetzungen besteht darin, daß der Burgers-Vektor nicht Translationsvektor des Gitters ist. Man nennt deshalb solche Versetzungen unvollständige Versetzungen. Es gibt zwei Arten unvollständiger Versetzungen. Die erste haben wir eben anhand von Abb. VII, 45aerläutert. Sie wird auch als Shockleysche unvollständige Versetzung bezeichnet. Die zweite ist im Teilbild b dargestellt. Hier ist eine (lll)-Netzebene in der Α-Lage teilweise aus dem Kristall entfernt worden. Dadurch ist im linken Kristallbereich der gleiche Stapelfehler entstanden wie im Teilbild a. Ein Burgers-Umlauf um diese unvollständige Versetzung öffnet sich deshalb im linken Kristallbereich ebenfalls um den Vektor bs = | [121], Zusätzlich entsteht aber im rechten Kristallbereich eine Öffnung um einen Translationsvektor f = f [lOl], so daß diese unvollständige Versetzung den Burgers-Vektor Af = bs + * = i [ H l ] besitzt. Sie wird Franksche unvollständige Versetzung genannt. Da Burgers-Vektor und Linienvektor, gleichgültig welchen Verlauf die Versetzungslinie nimmt, immer senkrecht aufeinander stehen, ist die F r a n k s c h e unvollständige Versetzung stets eine Stufenversetzung. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Shockleysehen unvollständigen Versetzung. Die beiden Arten unvollständiger Versetzungen unterscheiden sich außerdem in ihren Bewegungsmöglichkeiten. Die Shockleysche unvollständige Versetzung kann, wie le: '.t einzusehen ist, eine Gleitbewegung in der Stapelfehlerebene ausführen. Eine Kletterbewegung ist jedoch unmöglich. Gerade umgekehrt sind die Verhältnisse bei den Frankschen unvollständigen Versetzungen. Sie können klettern, aber nicht gleiten. Schließlich soll noch erwähnt werden, daß vollständige und unvollständige Versetzungen miteinander reagieren können. So kann beispielsweise eine vollständige Versetzung mit dem Burgers-Vektor § [110] in zwei Shockleysche unvollständige Versetzungen aufspalten: y[110]-y[211]+!-[12l] oder auch in eine F r a n k s c h e und eine Shockleysche unvollständige Versetzung: y[110]-y[lll]+|-[112]. Die erste Reaktion der unvollständigen Versetzung in zwei Shockleysche unvollständige Versetzungen bringt einen Energiegewinn, denn die Summe der Eigenenergien der S h o c k l e y schen unvollständigen Versetzungen ist um den Faktor 2/3 geringer als die Eigenenergie der vollständigen Versetzung. (Die Eigenenergie einer Versetzung ist proportional dem Quadrat des Burgers-Vektors.) Für die zweite Reaktion ist die Quadratsumme der Burgers-Vektoren der unvollständigen Versetzungen genau gleich dem Quadrat des Burgers-Vektors der vollständigen Versetzung. Demnach wäre eine solche Aufspaltung unwahrscheinlich. Genauere Berechnungen der Eigenenergien ergeben aber, daß diese Reaktion in anisotropen Kristallen energetisch begünstigt sein kann. Ganz ähnlich wie im kubisch dichtgepackten Gitter können auch im hexagonal dichtgepackten Gitter Shockleysche und F r a n k s c h e unvollständige Versetzungen durch Stapelfehler hervorgerufen werden. Wir wollen jedoch darauf nicht eingehen, sondern die Ausführungen über Kristallbaufehler an dieser Stelle beenden. 26

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

Molekularphysik

402

69. Oberflächenspannung Besonders auffällig werden die Wirkungen der Molekularkräfte in Flüssigkeiten bei den Erscheinungen der Oberflächenspannung. In Abb. VII, 46 sind in einer Flüssigkeit drei Moleküle Mi, M i und M3 mit ihren Wirkungssphären in verschiedener Entfernung von der Flüssigkeitsoberfläche gezeichnet. Auf das Molekül Mi, das sich mit seiner ganzen Wirkungssphäre innerhalb der Flüssigkeit befindet, wirken von allen Seiten die gleichen Kräfte der benachbarten Moleküle, so daß sich M i im Gleichgewicht befindet. Bei dem Molekül M2 ragt der gestrichelt gezeichnete Teil der Wirkungssphäre aus der Flüssigkeit heraus. Die Entfernung des Moleküls von der Oberfläche ist kleiner als der Radius ρ seiner Wirkungssphäre. Es fehlt also für die durch die Flüssigkeitsoberfläche abgeschnittene Kugelkalotte die anziehende Wirkung benachbarter

Abb. VII, 46. Zur Erklärung der Oberflächenspannung

Flüssigkeitsteilchen, so daß M2 e i n e r e s u l t i e r e n d e Z u g k r a f t in d a s I n n e r e d e r F l ü s s i g k e i t h i n e i n e r f ä h r t . Diese senkrecht zur Oberfläche in das Flüssigkeitsinnere gerichtete Kraft wird ein Maximum für die Moleküle, die sich, wie M3, gerade in der Oberfläche befinden. Allerdings wirken die über der Flüssigkeit befindlichen Luft- (oder allgemeiner: Dampf-)Moleküle durch ihre Kräfte dieser Kraft entgegen; doch bleibt in allen Fällen die resultierende Kraft ins Innere der Flüssigkeit gerichtet. Ihre Größe hängt aber offenbar von der Flüssigkeit und von dem darüber stehenden Dampf, kurz, von der Natur der b e i d e n in der „ G r e n z f l ä c h e " zusammenstoßenden Substanzen ab. Es erfahren demnach alle in der Flüssigkeitsoberfläche und der darunter liegenden Schicht von der Dicke des halben Durchmessers der Wirkungssphäre befindlichen Moleküle einen nach dem Flüssigkeitsinnern gerichteten Druck, den man als Kohäsionsdruck bezeichnet. Um ein Flüssigkeitsteilchen aus dem Innern der Flüssigkeit an die Oberfläche zu bringen, ist also eine gewisse Arbeit nötig, während der umgekehrte Vorgang mit einem Gewinn von Energie verbunden ist. Dies heißt, daß alle an der Flüssigkeitsoberfläche liegenden Moleküle einen gewissen V o r r a t an p o t e n t i e l l e r E n e r g i e besitzen, die man Oberflächenenergie nennt. Nun bedeutet aber das Hineinbringen eines Flüssigkeitsteilchens in die Oberfläche eine Vergrößerung der Oberfläche, während das Heraustreten eines Moleküls aus der Oberfläche ins Innere der Flüssigkeit eine Verkleinerung der Oberfläche bedingt. Da das stabile Gleichgewicht einem Minimum an potentieller Energie entspricht, wird die Oberfläche einer Flüssigkeit das Bestreben haben, einen möglichst kleinen Wert anzunehmen, d. h. sich zusammenzuziehen: Sie bildet eine sogenannte Minimalfläche. Die zur Vergrößerung einer Oberfläche S um ΔS erforderliche Arbeit ist Δ W = σ · AS. Diese Arbeit ist gleichbedeutend mit dem Zuwachs an Oberflächenenergie. Der Quotient (VII, 1)

σ

Arbeit zur Bildung von neuer Oberfläche Δ W neue Oberfläche AS

heißt „spezifische Oberflächenarbeit" oder „spezifische Oberflächenenergie". Bei Flüssigkeitslamellen, die meistens zur Messung von σ verwendet werden (ζ. B. Abb. VII, 47), ist der Oberflächenzuwachs AS auf b e i d e n S e i t e n der Lamelle vorhanden, also doppelt so groß wie der Zuwachs der Lamellenfläche. Da Arbeit = Kraft · Weg, also Δ W= F-Ax, und ΔS= 2·Δχ· /, ist AW_ FAx σ (VII, 2) ~ΑΞ~2·Αχ·ΓΤΐ

Oberflächenspannung

403

Dieser Ausdruck wird als Oberflächenspannung bezeichnet. Sie ist also der Quotient aus der zum Vergrößern der Oberfläche erforderlichen Kraft F, dividiert durch die Länge 2 l der verschiebbaren Obel flächengrenze. Die Ausdrücke „spezifische Oberflächenarbeit" und „Oberflächenspannung" sind bei Flüssigkeiten gleichberechtigt. Sie haben die gleiche Dimension. Als Einheiten werden benutzt: Ws/m 2 = Newton/m oder erg/cm 2 = dyn/cm = 10~3 N/m. Nur in dem Fall, daß die Flüssigkeit an ein Vakuum grenzt, kann man korrekt von Oberflächenspannung sprechen. Man tut dies praktisch aber auch dann, wenn die Flüssigkeit an Luft grenzt. Dagegen spricht man von Grenzflächenspannung, wenn verschiedene Flüssigkeiten aneinandergrenzen. Zur Messung der Oberflächenspannung werden verschiedene Methoden verwendet, die unter dieser und unter der nächsten Nummer (Kapillarität) an geeigneter Stelle besprochen werden. Hier zunächst zwei Möglichkeiten: Man taucht einen Drahtbügel (nach L e n a r d , Abb. VII, 47) in die Flüssigkeit. Der Drahtbügel hängt an einer Waage. Zwischen den Stellen Α und Β des Drahtes ist ein (Platin-)Faden gespannt, an dem die Flüssigkeit hängenbleibt, wenn die Schale mit der Flüssigkeit gesenkt wird. So wird eine Flüssigkeitslamelle im Drahtbügel gebildet; die Oberfläche wird vergrößert. Man mißt mit der Waage die Kraft, bei welcher die Lamelle gerade zerreißt. Die Oberflächenspannung ist a = Fl2 /; doppelte Länge 2 / deshalb, weil die Oberfläche auf b e i d e n Seiten der Lamelle vergrößert wird. Etwas genauer kann man die Messung durchführen, wenn man statt des Drahtbügels einen Metallzylinder (Durchmesser ca. 5 cm) nimmt, dessen unteres Ende ein scharfkantiger, ebener Kreis ist. Die Länge / der verschiebbaren Oberflächengrenze ist dann der Kreisumfang. Senkt man die Schale mit der Flüssigkeit, so bildet sich eine röhrenförmige Flüssigkeitslamelle aus. Wieder ist σ = F/2 l.

~





_

(

u

n

t

e

r

der ebenen Glasschale liegt Millimeterpapier)

Es gibt zahlreiche Versuche, aus denen die Wirkung der Oberflächenspannung ersichtlich ist. Es gelingt ζ. B. mit einiger Vorsicht, eine Nähnadel auf einer Wasseroberfläche schwimmend zu erhalten (Abb. VII, 48). Die Nadel liegt wie auf einer elastischen Membran, von der sie getragen wird. Drückt man auf das eine Ende der Nadel, so daß dieses durch die Oberfläche hindurchstößt, so gleitet die Nadel durch das entstandene Loch durch die Flüssigkeitsoberfläche hindurch. — Insekten können auf einer Wasseroberfläche laufen, ohne unterzusinken. — Bestäubt man eine Wasseroberfläche mit einem feinen Pulver, ζ. B. Talkum, und taucht den Finger in die Flüssigkeit, so wird das Pulver ganz in die sich um den Finger bildende Vertiefung hineingezogen, als ob die Wasseroberfläche mit einer Haut überzogen sei, die beim Eintauchen des Fingers eingedellt wird. Die Oberflächenspannung von Wasser wird stark erniedrigt durch Cetylpyridinhydrochlorid (auf etwa 18 dyn/cm). Sie wird aber auch durch viele Stoffe erhöht: Ein Zusatz von 25 Gewichtsprozent Kochsalz erhöht die Oberflächenspannung des Wassers auf 82 dyn/cm. Durch das Bestreben, eine Minimalfläche zu bilden, ist die Flüssigkeitsoberfläche in gewissem Sinne mit einer gespannten Gummimembran zu vergleichen, in der ebenfalls tangential zur 26*

404

Molekularphysik

Oberfläche eine Kraft wirkt, die sie zu verkleinern sucht. Die Oberflächenspannung unterscheidet sich aber wesentlich von der elastischen Spannung einer Gummimembran dadurch, daß sie bei Vergrößerung und Verkleinerung der Flüssigkeitsoberfläche den gleichen Wert behält, während die elastische Spannung sich bei Änderung der Fläche gleichsinnig mit ihr ändert. Die Oberflächenspannung ist von der Größe und der Gestalt der Oberfläche unabhängig, von der Molekülart aber sehr abhängig. Temperatur C

Substanz

Oberflächenspannung (gegen Vakuum bzw. Luft) in dyn/cm

3167 3410 1773 961 25 20 20 20 20 20 20 20 20 -190 -254 -271

Rhenium Wolfram Platin Silber Quecksilber Wasser Glyzerin Olivenöl Seifenlösung Benzol Petroleum Äthylalkohol Äthyläther Flüssige Luft Flüssiger Wasserstoff Flüssiges Helium I

2700 2300-2500 1800 923 484 72,5 66 32 ca. 30 29 26 22 17 12 2,5 1,3

Bisher wurden ebene Flüssigkeitsoberflächen vorausgesetzt. Bei diesen wirkt die Oberflächenkraft auf ein in der Oberfläche (Abb. VII, 49 a) befindliches Molekül von allen Seiten gleich stark ein, so daß die Resultierende dieser Kräfte Null ist. Ist die Oberfläche aber konvex gewölbt, so liefern die an einem Molekül in der Oberfläche angreifenden Oberflächenkräfte (Abb. VII, 49b) eine nach dem Inneren gerichtete Komponente, die den Kohäsionsdruck v e r g r ö ß e r t , während bei einer konkaven Oberfläche die Resultierende der Oberflächenkräfte nach außen gerichtet ist (Abb. VII, 49c), somit den Kohäsionsdruck v e r k l e i n e r t . Dies folgt übrigens auch aus einer Betrachtung des aus der Flüssigkeitsoberfläche herausragenden Teiles der Wirkungssphäre. Wie die Abbildungen (VII, 49) zeigen, ist dieser Teil am größten bei einer konvex gekrümmten Oberfläche und am kleinsten bei einer konkav gewölbten, so daß im ersten Fall die Resultierende der Anziehungskräfte aller das Molekül umgebenden Nachbarmoleküle am größten und im zweiten Falle am kleinsten ist.

kave Oberfläche d

i

e

Über den absoluten Wert des Kohäsionsdruckes ist folgendes zu sagen: Eine direkte Messung ist nicht möglich; man kann jedoch auf andere Weise auf seine Größenordnung schließen. In der van der Waalsschen Zustandsgieichung {p + a/V2) • (K— b) = const gibt das Glied a/V2 die Druckverminderung an, die ein Gas durch die Anziehungskräfte der Moleküle erfährt. Diese Zustandsgieichung gilt aber auch für Flüssigkeiten, so daß man die Größe a/V2 ausrechnen kann, da man die Volumverminderung bei der Verflüssigung eines Gases kennt. Man findet so für den Kohäsionsdruck für flüssiges Kohlendioxid 2180 at für Wasser 10700 at. Es wirken demnach im Inneren von Wasser Drucke von rund 10000 kp/cm2.

Oberflächenspannung

405

Um den durch die Krümmung der Flüssigkeitsoberfläche bewirkten Normaldruck zu berechnen, sei ein gekrümmtes Oberflächenelement dS betrachtet (Abb. VII, 50). Auf seine Begrenzung wirken von den Nachbarelementen hei Tangentialkräfte, deren Resultierende eine Kraft ergibt, die senkrecht zur Oberfläche ins Innere der Flüssigkeit gerichtet ist. Zur Berechnung dieser resultierenden Kraft in einem Punkte Ρ der Oberfläche wird die Flächennormale in Ρ errichtet. Es werden Ebenen durch sie gelegt. Diese Ebenen schneiden aus der Oberfläche Kurven aus, unter denen es zwei gibt, die in zueinander senkrechten Ebenen (in den Hauptebenen) liegen und von denen die eine den größten und die andere den kleinsten Krümmungsradius besitzt. Diese Radien sind die Hauptkrümmungsradien η und r^. Die zugehörigen Kurven in der Oberfläche nennt man Hauptkrümmungskreise; ihre Krümmungsmittelpunkte liegen auf der Flächennormalen in P. Das Oberflächenelement dS sei rechteckig und habe die Seiten dlι 1 (Ti2, so ist der Randwinkel φ spitz und die Flüssigkeitsoberfläche wie in Abb. VII, 64 konkav gewölbt; ist dagegen 013 < σχζ, so ist φ stumpf und die Oberfläche der Flüssigkeit wie in Abb. VII, 65 konvex. Der Randwinkel wird gleich Null, wenn im Grenzfall σΐ3 — σΐ2 = 023 wird. Ist aber schließlich |σΐ3 — σ^Ι > -Richtung überein, so läßt sich die Schwingung gemäß Abb. VIII, 23

polarisierter Wellen zu einer linear polarisierten Resultierenden

wie ein Vektor in eine x- und eine ^-Komponente zerlegen. Dieser Satz ist nicht umkehrbar. Die Addition zweier Schwingungen zu einer Resultierenden ergibt nämlich nur dann eine linear polarisierte Resultierende, wenn die beiden Anteile in gleicher Phase schwingen, wie in Abb. VIII, 23. Sind jedoch die beiden Komponenten gegeneinander phasenverschoben, so liefert die Addition keine linear polarisierte Schwingung. Vielmehr r o t i e r t jetzt der resultierende Schwingungsvektor, und zwar derart, daß seine Spitze eine Schraubenlinie beschreibt, die auf einem elliptischen Zylinder liegt (Abb. VIII, 24). Man nennt deshalb eine solche Schwingung ellip-

Abb. VIII, 24. Elliptisch polarisierte Welle, entstanden durch Uberlagerung zweier gegeneinander phasenverschobener in x- und ^'-Richtung schwingender linear polarisierter Wellen mit verschiedener Amplitude. Die Spitze des resultierenden Schwingungsvektors beschreibt eine um einen elliptischen Zylinder gewickelte Schraubenlinie. Die Hauptachsen der Schwingungsellipse sind parallel zur x- bzw. y-Achse, wenn, wie gezeichnet, die Phasenverschiebung den Wert π/2 besitzt 30

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 9. Aufl.

466

Allgemeine Wellenlehre

t i s c h p o l a r i s i e r t . Sind speziell die Amplituden beider Komponenten gleich groß und beträgt die Phasenverschiebung π/2, so geht der elliptische Zylinder in einen Kreiszylinder über (Abb. VIII, 25), und man erhält eine z i r k u l ä r p o l a r i s i e r t e Welle.

X Abb. VIII, 25. Zirkular polarisierte Welle, entstanden durch Überlagerung zweier u m π / 2 phasenverschobener, in x- u n d j>-Richtung schwingender linear polarisierter Wellen mit gleicher Amplitude. D i e Spitze des resultierenden Schwingungsvektors beschreibt eine Schraubenlinie, die auf einem Kreiszylinder liegt

Je nachdem, ob Ellipse und Kreis im Uhrzeigersinn oder im Gegenzeigersinn durchlaufen werden, unterscheidet man rechts oder links elliptisch (bzw. zirkulär) polarisierte Wellen. Die Polarisationserscheinungen spielen besonders in der Optik eine große Rolle. 77. Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen Es wurde bereits mehrfach erwähnt, daß in festen elastischen Medien sowohl Longitudinalwellen (Verdichtungswellen) als auch Transversalwellen möglich sind. Dies entspricht der Eigenschaft fester Stoffe, daß sie zweier Arten elastischer Deformationen fähig sind, solcher, die das Volumen, und solcher, die die Gestalt ändern. Nach den Ausführungen in Kapitel V hängen die ersteren von dem Elastizitätsmodul Ε ab, die letzteren von dem Schub- oder Torsionsmodul G. Da bei Longitudinalwellen nur Verdichtungen und Verdünnungen erzeugt werden, sind solche in allen Medien möglich, die Volumelastizität besitzen, d. h. in festen, flüssigen und gasförmigen Stoffen: Es sind also in allen Aggregatzuständen Longitudinalwellen möglich. Untersucht sei im folgenden die Fortpflanzungsgeschwindigkeit ci derartiger Wellen. Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit longitudinaler Wellen in Stäben (zur Unterscheidung von Longitudinalwellen im unbegrenzten Medium auch Dehnungswellen genannt) liefert die Theorie den Ausdruck: (VIII, 17)

ct =

D a ß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit vom Elastizitätsmodul Ε abhängen muß, geht schon daraus hervor, d a ß der Stab bei den Schwingungen Längenänderungen erfährt, die durch den Elastizitätsm o d u l £ bestimmt sind. Auch eine Abhängigkeit von der Dichte ρ ist von vornherein einleuchtend, da die Frequenz der Schwingungen von der Masse abhängen m u ß . Es m u ß betont werden, d a ß Gl. (VIII, 17) nur gilt, solange die Querabmessungen des Stabes klein gegen die Wellenlänge sind. Ist das nicht der Fall, so wird die Geschwindigkeit der Dehnungswellen frequenzabhängig, und zwar nimmt sie mit wachsender Frequenz ab. F ü r ein unendlich ausgedehntes festes Medium liefert die Theorie übrigens eine andere Fortpflanzungsgeschwindigkeit longitudinaler Wellen:

Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen (VIII, 17 a)

« =

Q

-

467

1 - μ (1 + μ) (1 — 2 μ ) '

wobei μ die P o is son-Zahl bedeutet. D a ß hier ein anderer Wert als beim seitlich begrenzten Stab herauskommt, liegt daran, daß dieser bei Verlängerung eine Q u e r k o n t r a k t i o n erfährt, was im unendlich ausgedehnten Medium natürlich nicht der Fall sein kann. Nach (VIII, 17 a) ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im allseitig ausgedehnten Medium größer als in einem Stab des gleichen Materials. Zum Beispiel findet man bei Kupfer (ρ = 8,9 g/cm 3 , Ε = 12500 kp/mm 2 , μ = 0,35) für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Longitudinalwellen in einem Stab 3700 m/s und in einem unendlich ausgedehnten Medium 4700 m/s.

Die Flüssigkeiten und Gase sind nur durch e i n e elastische Konstante, den Kompressionsmodul Κ charakterisiert. An Stelle des Elastizitätsmoduls tritt einfach K, so daß man für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elastischer Wellen in Flüssigkeiten und Gasen den Wert Κ

(VIII, 18)

erhält. Wegen des großen Kompressionsmoduls ergeben sich in Flüssigkeiten Werte von ci, die etwa zwischen 800 und 1800 m/s liegen. Besondere Verhältnisse liegen bei Gasen vor; denn nach früheren Ausführungen ist ihr Kompressionsmodul Κ gleich dem Druck p, so daß man für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit longitudinaler Wellen in Gasen die Gleichung: (VIII, 19)

cv

erhält. Berechnet man nach dieser zuerst von N e w t o n (1686) aufgestellten Gleichung etwa die Geschwindigkeit von Schallwellen in Luft normaler Dichte (ρ = 0,001293 g/cm 3 ) bei einem Druck von 760 mm Hg = 1 atm = 101325 Pa, so erhält man

Dieser Wert stimmt aber keineswegs mit dem beobachteten Wert 331 m/s überein. Wie L a p l a c e (1816) zeigte, liegt der Grund für diese Abweichung in Temperaturänderungen, die bei den Verdichtungen und Verdünnungen der Longitudinalwellen in Gasen auftreten. D a die Druckänderungen in der Schallwelle so schnell vor sich gehen, daß kein Temperaturausgleich mit der Umgebung erfolgen kann, und die Temperatur des Gases in den Verdichtungen und Verdünnungen verschiedene Werte annimmt, darf man für den Kompressionsmodul Κ nicht den „isothermen" Wert p, sondern muß den „adiabatischen" Wert ρκ wählen, wobei κ der schon eingeführte Faktor ist, dessen wahre Natur erst in der Wärmelehre erkannt wird. Damit erhält man für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Schallwellen in Gasen die „ L a p l a c e s c h e Gleichung": (VIII, 20)

c,=

ιρκ

Mit dieser Formel ergibt sich für die Schallgeschwindigkeit in Luft, für die κ = 1,4 ist, ein um Υ 1.4 größerer Wert als vorhin, d. h. c, = j/T^4-280 = 331 m / s , also in völliger Übereinstimmung mit der Erfahrung. — Umgekehrt bietet nunmehr (VIII, 20) ein wichtiges Hilfsmittel, um κ zu bestimmen; über die Bedeutung solcher Messungen in der Wärmelehre mehr. 30->

468

Allgemeine Wellenlehre

Wie liegen die Verhältnisse bei Transversalwellen? Am Beispiel der Seilwellen erkennt man, daß Transversalwellen nur in solchen Körpern möglich sind, die senkrecht zur Ausbreitungsrichtung wirkende Kräfte aufnehmen können, und das sind die festen Körper. Für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Transversalwellen ist außer der Dichte ρ der Torsionsmodul G maßgebend. Die Theorie liefert für die Geschwindigkeit c< von Transversalwellen im unendlich ausgedehnten Medium die Beziehung:

(VIII, 21) f ü r Kupfer (ρ = 8,9 g/cm 3 ; G = 4640 kp/mm 2 ) ergibt sich ein Wert von 2260 m/s. Wenn in einem festen Körper eine b e l i e b i g e Gleichgewichtsstörung erzeugt wird, so pflanzt sich diese im allgemeinen sowohl als Longitudinalwelle wie auch als Transversalwelle durch das Innere des Körpers fort, und zwar mit der diesen Wellen zukommenden Geschwindigkeit (VIII, 17a) bzw. (VIII, 21). Diese Tatsache wird ζ. B. regelmäßig bei der Beobachtung der E r d b e b e n w e l l e n an den Seismographen festgestellt. Eine Sonderstellung nehmen die O b e r f l ä c h e n w e l l e n von Flüssigkeiten ein. Ihre Entstehung kann man leicht beobachten, wenn man einen Stein in eine ruhige Wasserfläche hineinwirft (Abb. VIII, 26). An der Einwurfstelle wird das Wasser durch den Stein nach unten gedrückt

Abb. VIII, 26.

Bildung einer Wasserwelle

Λ

und muß wegen seiner äußerst geringen Kompressibilität rings herum nach oben ausweichen. Die entstandene Verformung der Oberfläche breitet sich nach allen Seiten gleichmäßig aus. Die Oberflächenwellen gehören nicht zu den elastischen Wellen und sind weder rein transversal noch rein longitudinal. Die einzelnen Flüssigkeitsteilchen bewegen sich nämlich sowohl parallel wie auch senkrecht zur Ausbreitungsrichtung. Bei nicht zu großen Wellenamplituden erfolgt die Bewegung auf Kreisbahnen mit vertikaler Bahnebene. Das kann man mit Hilfe von wenigen Schwebeteilchen zeigen, die der Flüssigkeit (Wasser) zugesetzt sind, wenn bei geeigneter Beleuchtung die Belichtungszeit für eine photographische Aufnahme mit der Periode Τ der Welle übereinstimmt. In der Zeit Τ wird nämlich die Kreisbahn gerade einmal durchlaufen, und zwar bei einer nach rechts fortschreitenden Welle im Uhrzeigersinn. Die Beobachtung erfolgt zweckmäßig in einem „Aquarium" von vorn, während die erzeugte Welle quer zur Beobachtungsrichtung läuft. Die Durchmesser der Kreise sind für Teilchen unmittelbar an der Oberfläche gleich dem Höhenunterschied zwischen Wellenberg und Wellental. Mit zunehmender Wassertiefe werden sie kleiner, bis schließlich in einer Tiefe, die etwa der halben Wellenlänge entspricht, überhaupt keine Bewegung mehr stattfindet. Die Kreise stellen die B a h n l i n i e n e i n z e l n e r Teilchen dar. Da die Strömung nicht stationär ist, verlaufen die S t r o m l i n i e n ganz anders als die Bahnlinien. Man gewinnt sie, wenn man der Flüssigkeit eine größere Menge von Schwebeteilchen zusetzt und nur kurzzeitig belichtet. Dann erhält man die momentane Bewegungsrichtung einer V i e l z a h l von Teilchen. Sie liegt auf dem „Gipfel" des Wellenberges parallel zur Oberfläche und stimmt mit der Fortschreitrichtung der Welle überein. In der „Talsohle" verläuft die Strömung ebenfalls parallel zur

Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen

469

Oberfläche, jedoch entgegengesetzt zur Fortschreitrichtung der Welle. Dazwischen erfolgt ein allmählicher Übergang, d. h. etwa auf halber Höhe des Wellenberges liegt die momentane Bewegungsrichtung senkrecht zur (geneigten) Oberfläche, und zwar ist die Strömung an der Vorderseite des Berges auf die Oberfläche zu- und an der Rückseite von ihr weggerichtet. Strom- und Bahnlinien stimmen also nur auf dem Maximum des Wellenberges und am Minimum des Tales überein. Daß das an allen anderen Orten der Welle nicht der Fall ist, leuchtet zunächst nicht ein. Man muß sich aber vor Augen halten, daß eine Stromlinie von einer großen Zahl von Teilchen und damit aus vielen sehr kleinen Abschnitten v e r s c h i e d e n e r Bahnlinien gebildet wird. Während der Bewegung erfolgt eine fortgesetzte Umwandlung von potentieller in kinetische Energie, d. h., die Schwerkraft spielt die entscheidende Rolle (,,Schwere wellen")· Das gilt jedoch nur für größere Wellenlängen. Bei kleinen Wellenlängen muß auch die Oberflächenspannung berücksichtigt werden. Ihr Einfluß wird bei einer bestimmten Wellenlänge (für Wasser 1,7 cm) gleich dem der Schwerkraft. Unterhalb dieser Wellenlänge überwiegt die Oberflächenspannung, und anstelle der Schwerewellen treten die K a p i l l a r w e l l e n . Wird die Teilchenbewegung unter der Oberfläche behindert (Anlaufen der Welle gegen ein flaches Ufer), so wird der Wellenberg zunehmend steiler, bis die Welle „bricht" (überschlägt). Dabei wird plötzlich die gesamte potentielle Energie der Wellenfront frei. In letzter Zeit hat sich das „Wellenreiten" (engl. „Surfriding" oder „surfing") an flachen Meeresküsten mit langwelliger „ D ü n u n g " zu einem beliebten Sport entwickelt, zuerst an den Küsten von Hawaii. Man benötigt dazu ein etwa 2—3 m langes, leichtes, abgerundetes Brett von besonderer Form (meist aus Kunststoff), dessen Enden leicht nach oben gewölbt sind, und das unter dem hinteren Ende — ähnlich wie ein Boot — ein kleines feststehendes Steuer zur Kursstabilisicrung besitzt. Der Wellenreiter muß zunächst aus eigener Kraft annähernd die Geschwindigkeit der Welle erreichen, bevor er sich an der Vorderseite des Wellenberges mit diesem mitbewegen kann. Ist die unterhalb des Kammes nahezu senkrecht zur Oberfläche gerichtete Strömung stark genug, so wirkt sie wie ein zusätzlicher Auf- und Vortrieb. D a s ist bei Wellen der Fall, bei denen der Höhenunterschied zwischen Berg und Tal nicht viel weniger als 3 m beträgt. Gerät der Wellenreiter zu weit ins Wellental, so wird er von der dort einsetzenden Gegenströmung, die annähernd parallel zur Oberfläche verläuft, gebremst und von der Welle überholt.

Unter bestimmten vereinfachenden Annahmen läßt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit c der Oberflächenwellen berechnen. Für Schwerewellen (d. h. bei Wasser für Wellenlängen von etwa 5 cm an aufwärts) erhält man aus der Bedingung, daß die Differenz der kinetischen Energien eines Teilchens auf dem Wellenberg und im Wellental gleich seiner potentiellen Energie sein muß, den Ausdruck (VIII, 22) Darin ist λ die Wellenlänge und g die Fallbeschleunigung. Voraussetzung für die Gültigkeit dieser Formel sind kleine Amplituden, d. h. Kreisbewegungen der Flüssigkeitsteilchen und Sinusform der Welle. Die Beziehung enthält etwas Neues: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit c ist nicht mehr konstant, sondern hängt von der Wellenlänge ab. Ein solches Verhalten wird in Anlehnung an die Optik mit dem Ausdruck Dispersion gekennzeichnet. Es tritt hier also Dispersion auf. Bei den Schwerewellen wächst die Geschwindigkeit mit zunehmender Wellenlänge. Es läßt sich zeigen, daß auch die Kapillarwellen eine Dispersion haben, und zwar bewegen sich hier umgekehrt die kurzen Wellen schneller als die langen. Tatsächlich beobachtet man beim Hineinwerfen eines Steines in eine ruhige Wasserfläche, daß aus dem ersten vorhandenen Ring alsbald mehrere entstehen. Die Störung der Oberfläche durch den Steinwurf stellt nämlich eine Stoßerregung dar, die nicht eine einzige Welle, sondern eine ganze Wellen g r u p p e zur Folge hat. Da sich die Anteile der Gruppe aber verschieden schnell bewegen, d i s p e r g i e r t die Gruppe während der Ausbreitung. In allen Fällen, in denen Dispersion auftritt, muß man zwischen mehreren Arten von Fortpflanzungsgeschwindigkeiten unterscheiden. Die bisher verwendete Größe c wird genauer als

470

Allgemeine Wellenlehre

P h a s e n g e s c h w i n d i g k e i t bezeichnet. Sie ist bei vorhandener Dispersion sinnvoll, solange nur eine einzige Wellenlänge auftritt. Liegt eine W e l l e n g r u p p e vor, so ist die G r u p p e n g e s c h w i n d i g k e i t maßgebend. Die genauen Definitionen dieser Begriffe sowie ihre Zusammenhänge werden in Band III (Optik) eingehend behandelt. Unter speziellen Anregungsbedingungen lassen sich auch an Festkörpern Oberflächenwellen ( R a y l e i g h w e l l e n ) erzeugen. Auch hier bleibt die Ausbreitung auf die Oberfläche beschränkt, d. h. auf eine Schicht, deren Dicke etwa eine halbe Wellenlänge beträgt. Das Innere des Festkörpers ist an der Bewegung nicht beteiligt. Eine weitere besondere Wellenform stellen die B i e g e w e l l e n von Stäben und Platten dar. Sie sind ebenfalls nicht rein transversal und zeigen Dispersion. Wegen ihrer Bedeutung in der Akustik sollen sie dort ausführlich behandelt werden. Z u m Schluß dieses Abschnittes noch eine Bemerkung zu den elektromagnetischen Wellen: Ihre Besonderheit besteht darin, daß die Ausbreitung nicht an Materie gebunden ist. Im Vakuum ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen konstant und beträgt in guter Näherung 3 · 10 5 km/s. Bei der Ausbreitung in einem Medium kann Dispersion auftreten. Das hängt von der Art des Mediums und vom Spektralbereich ab. Der Bereich des sichtbaren Lichtes umfaßt im Vakuum (und näherungsweise in Luft) Wellenlängen zwischen 0,4 und 0,8 u.m.

7 8 . H u y g h e n s - F r e s n e l s c h e s Prinzip; Beugung In Nr. 74 wurde die Wellenfläche als Ort aller derjenigen Punkte definiert, die von einer Welle in gleichen Zeiten vom Erregungszentrum aus erreicht werden. Alle Punkte einer Wellenfläche schwingen also in gleicher Weise und unterscheiden sich demnach grundsätzlich nicht vom Erregungszentrum selbst. H u y g h e n s (1678) sah daher alle Punkte einer Wellenfläche als selbständige Erregungszentren a n : Jeder Punkt einer Wellenfläche sendet zur gleichen Zeit Wellen (sogenannte Elementarwellen) in den Raum hinaus; die äußere Einhüllende dieser Elementarwellen soll dann nach H u y g h e n s die tatsächlich beobachtbare Welle ergeben (Huyghenssches Prinzip). Abb. VIII, 27 erläutert H u y g h e n s ' Auffassung sowohl f ü r eine ebene Welle (Λ) als auch f ü r den Teil einer Kugelwelle (b), der durch eine Öffnung AB hindurchtritt.

k0

\

b



χ

Abb. VIII, 27. Huyghenssches Prinzip, a) für eine ebene und b) für eine kreisförmige Wellenfront



D a ß in diesem Prinzip ein richtiger Kern enthalten ist, läßt sich am einfachsten mit Wasser-wellen zeigen. In Abb. VIII, 28a trifft eine ebene Wasserwelle auf eine parallel zur Wellenfront stehende Wand, die nur einen schmalen Spalt als Öffnung enthält. Die Welle bewegt sich durch diese Öffnung keineswegs geradlinig fort, sondern die in der Öffnung befindlichen Wasserteilchen werden zu einem neuen Wellenzentrum, von dem sich kreisförmige Wellen ausbreiten.

Huyghens-Fresnelsches Prinzip; Beugung

471

D a ß sich viele solcher längs einer Geraden erzeugten elementaren Kreiswellen wieder zu einer ebenen Welle zusammensetzen, zeigen die Abb. VIII, 2 8 b und VIII, 29. Bei der A u f n a h m e Abb. VIII, 28 b trifft eine ebene Welle auf ein Hindernis mit fünf schmalen, dicht nebeneinander liegenden Öffnungen. Die in jeder Öffnung erzeugten Elementarwellen setzen sich wieder zu einer ebenen Welle zusammen. M a n kann auch, wie es Abb. VIII, 29 zeigt, gleichzeitig an acht nebeneinander auf einer Geraden liegenden Punkten Kreiswellen direkt erzeugen, die sich gleichfalls in einiger Entfernung von der Erregungsstelle zu einer ebenen Welle zusammensetzen.

a

b

Abb. VIII, 28. Durchgang einer ebenen Wasserwelle a) durch eine, b) durch fünf nebeneinander liegende spaltförmige Öffnungen in einer Wand

Abb. VIII, 29. Interferenz von acht kreisförmigen Wasserwellen, deren ErregungsZentren auf einer Geraden liegen

Abb. VIII, 30. Konstruktion der H u y g h e n s Fresnelschen Zonen

D a ß man ganz allgemein den Schwingungszustand eines Punktes im Wellenfeld als Überlagerung sämtlicher Elementarwellen in diesem Punkt betrachten kann, hat zuerst F r e s n e l (1819)erkannt. Dadurch, d a ß F r e s n e l das H u y g h e n s s c h e P r i n z i p mit dem I n t e r f e r e n z p r i n z i p verknüpfte, erhielt jenes erst seine große Fruchtbarkeit. Es war möglich, nicht nur die Vorgänge der Reflexion und Brechung zu erklären, was schon H u y g h e n s getan hatte (siehe Nr. 79), sondern auch die Ausbreitung von Wellen um Hindernisse, die sogenannte Beugung v o n W e l l e n , aus demselben Prinzip zu deuten. Es mag auf den ersten Blick so scheinen, als ob die E i n f ü h r u n g vieler Elementarwellen an Stelle einer einzigen Welle das Problem viel komplizierter gestalte. M a n wird jedoch an den folgenden Beispielen sehen, daß das H u y g h e n s F r e s n e l s c h e Prinzip eine erstaunliche Leistungsfähigkeit trotz der relativen Einfachheit der

Allgemeine Wellenlehre

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benötigten Mittel besitzt, die es selbst heute noch unentbehrlich macht, wenn es gilt, die bei einer Wellenbewegung auftretenden Erscheinungen vorauszusagen und verständlich zu machen. Zunächst ist ersichtlich, daß die Kombination des Interferenzprinzips mit dem Huyghensschen Gedanken überhaupt erst dessen B e h a u p t u n g verständlich macht, daß die Einhüllende der Elementarwellen die neue Wellenfläche bei der Fortpflanzung liefert. Die ζ. B. in den Abb. VIII, 27 a und 27 b gezeichneten Elementarwellen interferieren, d. h. vernichten bzw. verstärken sich derartig, daß nur die Einhüllende als neue Wellenfläche übrigbleibt, was ohne diese Interferenz einfach unverständlich wäre. Im folgenden untersuchen wir als Beispiel für das H u y g h e n s sehe Prinzip unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Interferenz der Elementarwellen die freie Ausbildung einer Kugelwelle. Sie gehe in Abb. VIII, 30 vom Punkt Ο aus und habe nach einer gewissen Zeit die Kugelfläche AAQA (Wellenfläche) erreicht. N a c h dem H u y g h e n s s c h e n Prinzip soll nun jeder Punkt dieser Wellenfläche als selbständiges Erregungszentrum betrachtet werden können, d. h. von jedem Punkte sollen neue elementare Kugelwellen ausgehen. Wir fragen nach der Wirkung etwa im Punkt B, u n d wir können uns, u m ein konkretes Beispiel vor Augen zu haben, in Ο eine Licht- (oder Schall-)Quelle, in Β ein Auge (oder Ohr) denken. Ein in Β befindliches Auge bek o m m t nun von der Lichtquelle Ο nach aller Erfahrung nur Licht längs des „Strahles" OB zugesandt, und dies scheint im Gegensatz zu H u y g h e n s ' Behauptung zu stehen, d a ß a l l e Punkte der Wellenfläche AAQA Erregungszentren, d. h. Lichtquellen, sein sollen. Wie erledigt sich dieser Widerspruch? U n d was ist an diesem Einwand richtig? Wir werden sehen, d a ß hier wieder das Interferenzprinzip klärend eingreift. Zu dem Zweck machen wir mit F r e s n e l folgende Überlegung: Die Verbindungslinie von Β mit Ο schneidet die Wellenfläche im Punkt AQ. Bewegen wir uns auf der Wellenfläche von Α ο fort, so entfernen wir uns von dem Punkt B. M a n kann nun Punkte CC auf der Wellenfläche finden, deren Entfernung von Β u m eine halbe Wellenlänge größer ist als das Stück AQB. Zieht man auf der Wellenfläche einen Kreis mit dem Radius AQC, so entsteht auf der Kugelfläche eine Kalotte, deren sämtliche Punkte nach Β Wellen entsenden, deren Phasendifferenz zwischen Null und einer halben Wellenlänge liegt. Wenn wir auf der Wellenfläche noch weitergehen, so finden wir Punkte DD, deren Entfernung von Β wieder um eine halbe Wellenlänge größer ist als die Strecke CB. Zeichnet man auf der Wellenfläche wieder einen Kreis mit dem Radius AQD u m Α ο, so kommen von dem durch diesen Kreis und die Kalotte begrenzten ringförmigen Stück Wellen nach Β mit Phasendifferenzen zwischen j λ und λ gegen den Zentralstrahl AQB. SO schreiten wir weiter fort, bis wir zu den Punkten T T kommen, in denen der Tangentenkegel von Β die Wellenfläche berührt. Durch die beschriebene Konstruktion ist der innerhalb des Tangentenkegels liegende Teil der Wellenfläche in ringförmige „ Z o n e n " geteilt, die so beschaffen sind, d a ß die von jeder Zone nach Β gelangenden Elementarwellen im Mittel eine u m \ λ verschiedene Phasendifferenz gegen die unmittelbar benachbarten Zonen haben. Die Amplituden, die die von den einzelnen Zonen ausgehenden Elementarwellen in Β f ü r sich erzeugen, seien m\, n>2, m%,... bis mn. D a n n ist die resultierende Verrückung m r im Punkte Β nach dem Interferenzprinzip: ( V I I I , 23)

mr = m1—m2

+ m3 — m4.+

...±mn.

N u n nimmt aber die Amplitude der Schwingungen jeder Elementarwelle mit wachsender Entfernung von ihrem Erregungszentrum ab. Es läßt sich zeigen, worauf wir hier nicht eingehen können, daß die Wirkung jeder Zone sehr nahe gleich dem arithmetischen Mittel aus der vorhergehenden und der nachfolgenden Zone ist, d. h . : M2~

m, + m,

,

2

»»4«

m-> + m* , ··• 2

E s b l e i b t a l s o f ü r d i e r e s u l t i e r e n d e A m p l i t u d e in Β t u n ( V I I I , 24)

=

Huyghens-Fresnelsches Prinzip; Beugung

473

d.h. nur die H ä l f t e der ersten und letzten Z o n e übrig, w ä h r e n d sich alle a n d e r e n g e g e n s e i t i g d u r c h I n t e r f e r e n z a u f h e b e n . Macht man schließlich, wie es zuerst F r e s n e l tat, die weitere Annahme, daß in t a n g e n t i a l e r Richtung von einer Wellenfläche keine Elementarwellen ausgehen, so bleibt in unserem Beispiel für die in Β hervorgerufene Verrückung nur die Hälfte der Wirkung der ersten Zone, d. h. der Kugelkalotte mit dem Radius AoC übrig. Das Ergebnis ist nicht auf kugelförmige Wellenflächen beschränkt, sondern gilt allgemein, wie man sich durch Ausführung der obigen Konstruktion leicht überzeugt. Man kann daher den Satz aussprechen: A l l e E l e m e n t a r w e l l e n , d i e n a c h d e m H u y g h e n s Fresnelschen Prinzip von allen P u n k t e n einer Wellenfläche ausgehen, wirken a u f einen v o r der Welle l i e g e n d e n P u n k t so, wie die H ä l f t e der e r s t e n E l e m e n t a r z o n e , die den F u ß p u n k t des von dem b e t r e f f e n d e n P u n k t auf die Wellenfläche gefällten Lotes u m g i b t ; die W i r k u n g aller übrigen Z o n e n wird d u r ch Interferenz aufgehoben. Nun ist der Radius der allein wirksamen ersten Zone dadurch bestimmt, daß AoB um eine halbe Wellenlänge kleiner ist als CB. Für das sichtbare Licht, dessen Wellenlängen zwischen 0,4 und 0,8 μηι liegen, ist die Fläche der ersten halben Zone sehr klein, wenn der Abstand des betrachteten Punktes Β von der Wellenfläche viele Wellenlängen beträgt, was gewöhnlich zutrifft. Für OAo = 1 m, AoB = 2 m erhält man ζ. B. eine Fläche von etwa einem Quadratmillimeter. Der Punkt Β bekommt also praktisch die Strahlung von Ο auf annähernd geradlinigem Wege. D i e L i c h t w e l l e n b r e i t e n s i c h a l s o d e s h a l b p r a k t i s c h g e r a d l i n i g a u s , weil i h r e W e l l e n l ä n g e n a u ß e r o r d e n t l i c h k l e i n s i n d . Ganz anders liegen aber die Verhältnisse beim Schall, wo es sich im Gebiet der hörbaren Töne, ζ. B. der menschlichen Sprache, um Wellenlängen der Größenordnung von 1 m handelt. In diesem Fall ist die erste Zone von erheblicher Ausdehnung; bei einer Wellenlänge von 1 m würde sie bei den gleichen Abmessungen wie vorhin die Größe von einigen Quadratmetern besitzen! Es läßt sich daher auch die Wirkung dieser Zone durch in den Weg gestellte Hindernisse nicht ganz beseitigen, falls diese nicht sehr groß gegen die Wellenlänge sind, d. h. riesige Abmessungen aufweisen.

a b Abb. VIII, 31. Beugung ebener Wasserwellen a) beim Auftreffen auf ein ebenes Hindernis, b) beim Durchgang durch eine Öffnung in einer Wand Es k a n n a l s o in a l l e n F ä l l e n , in d e n e n d i e W e l l e n l ä n g e n g r o ß g e g e n d i e A b m e s s u n g e n der H i n d e r n i s s e oder mit ihnen vergleichbar sind, von einer G e r a d l i n i g k e i t der A u s b r e i t u n g keine Rede mehr sein, der Begriff des „Strahl e s " v e r s a g t h i e r v o l l k o m m e n . Man bezeichnet ganz allgemein die Abweichungen der Wellenausbreitung von der Geradlinigkeit als Beugungserscheinungen. Dies zeigen für ebene Wasserwellen die Abb. VIII, 31 a und b, in denen die Wellen gegen ein ebenes Hindernis einer Breite von 4 Wellenlängen bzw. gegen eine gleich große Öffnung in einer Wand anlaufen und in den geometrischen Schattenraum hineingebeugt werden. Durch Beugung erklärt sich auch, warum man auf der Rückseite eines Hauses den Schall hört, der auf der Vorderseite entsteht und nicht durch das Haus hindurchgeht, sondern um das Haus herum-„gebeugt" wird. Aus

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Allgemeine Wellenlehre

dem gleichen Grunde gehen auch die in der Nachrichtenübertragung benutzten langen elektrischen Wellen, die vielfach Wellenlängen bis zu mehreren Kilometern haben, über alle Hindernisse an der Erdoberfläche hinweg. Das H u y g h e n s - F r e s n e l s c h e Prinzip beseitigt also nicht nur den vorhin hervorgehobenen scheinbaren Widerspruch für die kleinen Wellen des Lichtes, sondern zeigt auch, daß für große Wellen von Geradlinigkeit der Ausbreitung in der Tat keine Rede sein kann. Aber damit ist die Fruchtbarkeit des Prinzips noch nicht erschöpft. Unsere bisherige Folgerung, daß eine Welle auf einen Punkt so wirkt, als wenn nur die erste halbe Elementarzone vorhanden wäre, gilt ja nur unter der Voraussetzung, daß die Wellenfläche v o l l s t ä n d i g ist: Nur dann kompensieren sich die Wirkungen der Zonen in der bisherigen Weise durch Interferenz. Blenden wir aber aus der Wellenfront der fortschreitenden Welle Teile aus, so müssen sich in dem betrachteten Punkt Β natürlich ganz andere Verhältnisse einstellen. In Abb. VIII, 32 sei

t B' Μ

Λ

Ο

Μ

!3 ιι •S"

Abb. VIII, 32. Abblendung der ersten H u y g h e n s - F r e s n e l s c h e n Zone

Ο wieder der Ausgangspunkt für eine Kugelwelle, AAQA eine Wellenfläche mit der Zonenkonstruktion wie in Abb. VIII, 30, Β der Beobachtungspunkt, ζ. B. ein Auge, das einen Lichteindruck der von Ο ausgehenden Lichtwelle wahrnimmt. Es werde nun in den Zwischenraum von OB eine kreisrunde Scheibe MM so gebracht, daß sie von Β aus gesehen die erste Zone CC ganz verdeckt. Im Falle einer geradlinigen Wellenausbreitung dürfte das Auge in Β keinen Lichteindruck von Ο mehr empfangen. Wendet man aber auf Grund des H u y g h e n s - F r e s n e l schen Prinzips die Gl. (VIII, 23) an und läßt das erste Glied m\, das die Wirkung der abgedeckten Zone darstellt, weg, so bleibt als Wirkung all der anderen Zonen nur der Ausdruck: — m2 + m3 — m4 + m5 — ... + m„ übrig. Da auch hier wieder: ™3=

m2 + m 4 2 '

W 5 =

m 4 + m6 2 '"''

so bleibt, da ja auch die letzte Zone wegfällt, wieder nur die Hälfte der Zone übrig, die jetzt die erste ist, d. h. die Hälfte der zweiten Zone, mit der Wirkung m"o müssen sich zueinander wie die Zeiten 1 : 2 : 3 : 4 verhalten. Aus der Abb. IX, 9 geht hervor, daß die Umhüllende der einzelnen Kugelflächen, d. h. nach H u y g h e n s die resultierende Wellenfläche, den Mantel eines Kegels (Machscher Kegel) darstellt, dessen Spitze sich am Ort der Geschoßspitze befindet. Man nennt diese Welle die K o p f w e l l e des Geschosses; sie schiebt sich in Schußrichtung mit der Geschoßgeschwindigkeit vor. Das Gleiche gilt für die Schwanzwelle, die auf der Rückseite des Geschosses entsteht. Wie man aus Abb. IX, 9 entnimmt, ist der Winkel Λ, den die Wellenfront der Kopfwelle mit der Schußrichtung bildet (Machscher Winkel), durch die Beziehung sin α = c/υ gegeben, wenn c die normale Schallgeschwindigkeit in Luft und ν die Geschoßgeschwindigkeit bedeuten. In der Schlierenaufnahme der Abb. IX, 10 sind Kopf- und Schwanzwelle eines Geschosses sichtbar gemacht. Fliegt ein solches Geschoß in der Nähe eines Beobachters vorbei, so hört dieser zuerst den von der Kopfwelle ausgehenden G e s c h o ß k n a l l und je nach der Geschoß-

Schallausbreitung; Reflexion, Brechung, Beugung, Dissipation, Absorption

495

geschwindigkeit erst einige Sekunden später den M ü n d u n g s k n a l l des Geschützes, dessen Ausbreitung in Abb. IX, 9 durch den Kreis um den Punkt 0, den Ausgangspunkt der Geschoßbahn, gegeben ist. Das Entstehen der Kopfwelle läßt sich auch mit Hilfe der Oberflächenwellen des Wassers verdeutlichen. Die Bugwelle eines Schiffes entsteht nämlich ebenfalls deshalb, weil sich das Schilf schneller bewegt als die Oberflächenwellen des Wassers. Das Eintreffen der Bugwelle bei einem Beobachter am Ufer entspricht genau dem Augenblick, in dem die Kopfwelle eines Überschallflugzeuges unser Ohr erreicht. — Die analoge Erscheinung bei Lichtwellen ist unter

Abb. IX, 10. Kopf knallwelle eines Geschosses dem Namen C e r e n k o v - S t r a h l u n g bekannt. Die schnell fliegenden Geschosse sind hier die Elektronen, die in festen und flüssigen Stoffen eine kurze Wegstrecke fliegen können. Da in diesen Stoffen die Lichtgeschwindigkeit kleiner ist als im Vakuum (ζ. B. bei der Brechzahl 2 ist sie gerade halb so groß), kann die Geschwindigkeit der Elektronen dort größer sein als die Lichtgeschwindigkeit. Dann tritt die C e r e n k o v - S t r a h l u n g auf. Bei Überschallflugzeugen macht man die Beobachtung, daß der Motorenlärm stets erst nach dem Knall zu hören ist. Das beruht darauf, daß sich normale Schallwellen, die ja an die Schallgeschwindigkeit gebunden sind, nur innerhalb des Μ a c h sehen Kegels ausbreiten können. Abb. IX, 11 zeigt das Entstehen einer Stoßwelle für den Grenzfall, daß das Flugzeug gerade die Schallgeschwindigkeit erreicht hat. Dann ist der M a c h s c h e Winkel α = 90°. Die häufig beobachtete Erscheinung, daß ein mit Überschallgeschwindigkeit fliegendes Flugzeug nicht eine, sondern zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Knallwellen erzeugt,

Abb. IX, 11. Schallausbreitung und Stoßfront bei einem Flugzeug, das gerade die Schallgeschwindigkeit erreicht hat

zeuges (Bug- und Heckwelle) mit dem Druckverlauf (Drucksprung Ap), den die beiden Wellen am Erdboden erzeugen (die Krümmung der Wellenfronten hat gasdynamische Ursachen und beruht darauf, daß das Flugzeug kein annähernd punktförmiger Körper ist)

Akustik

496

beruht darauf, daß auch am Heck des Flugzeuges ein Verdichtungsstoß entsteht. In Abb. IX, 12 sind Bug- und Heckwelle sowie der Druckverlauf wiedergegeben, den beide Wellen am Erdboden erzeugen. Die Bugwelle verursacht demnach einen Überdruck, die Heckwelle einen Unterdruck. Der Drucksprung Δρ ist in beiden Fällen gleich groß. Die Krümmung der Wellenfronten, d. h. die Abweichung von der Kegelform ist gasdynamisch bedingt. Ein exakter Μ ach scher Kegel entsteht nur, wenn der Flugkörper annähernd punktförmig ist. In der folgenden Tabelle sind einige Werte von Δρ mit ihren Auswirkungen zusammengestellt. Drucksprung Δρ [mb]

Wirkung

0,15 0,3 0,5—0,6 0,7—0,8

Grenze für Schlafstörung sehr lästig, unangenehm Donnerschlag in der Nähe Beginn von Fensterscheibenbrüchen

Abb. IX, 13. Überschallflugzeug auf einer gekrümmten Bahn (Sturzflug). Die brennpunktähnliche Konvergenz der gekrümmten Stoßfront hat besonders hohe Drucksprünge zur Folge (Heckwelle nicht mitgezeichnet) Besonders große Drucksprünge in einem begrenzten Bereich erzeugt ein Flugzeug, dessen Bahn zur Erdoberfläche hin gekrümmt ist. Dieser Effekt beruht, wie in Abb. IX, 13 skizziert, auf der brennpunktähnlichen Konvergenz der gekrümmten Stoßfront. Das gleiche Phänomen tritt auch bei geradliniger Flugbahn auf, und zwar dann, wenn das Flugzeug eine beschleunigte Bewegung ausführt. In diesem Fall sind nämlich die Tangentialkurven an die Kreise in Abb. IX, 9 keine Geraden mehr, sondern gekrümmte Kurven, ähnlich wie die untere Stoßfront in Abb. IX, 13. Bei Machzahlen von Μ = 2 (zweifache Schallgeschwindigkeit) bis Μ = 3 (dreifache Schallgeschwindigkeit) soll nach vorläufigen Messungen und Berechnungen ein Überschallverkehrsflugzeug, das sich noch in der Erprobung befindet, in 20 km Höhe Drucksprünge bis zu 1 mb an der Erdoberfläche verursachen! Daß sich der Schall auch in Wasser fortpflanzt, haben 1827 Coll a do η und S t u r m durch Versuche im Genfer See bewiesen. Indem sie unter Wasser eine Glocke anschlugen und die Zeit maßen, die verging, bis die von der Glocke ausgehenden Schallwellen an einem weit entfernten Punkte mittels eines in den See getauchten Hörrohres wahrgenommen wurden, fanden sie die Fortpflanzungsgeschwindigkeit bei 8 °C zu 1437 m/s. Allgemein gilt für die Schallgeschwindigkeit in Flüssigkeiten die für die Ausbreitung elastischer Longitudinalwellen angegebene Gleichung: (IX, 6)

c=

worin Κ den Kompressionsmodul und 1 jK die Kompressibilität der Flüssigkeit bedeuten. In der untenstehenden Tabelle sind die Werte der Schallgeschwindigkeit für einige Flüssigkeiten bei 20 °C zusammengestellt. Da man die Schallgeschwindigkeit in Flüssigkeiten heute ζ. B. mit Ultraschallwellen sehr bequem und außerordentlich genau messen kann, gelangt man auf dem Umwege über die Schallgeschwindigkeit zur Kenntnis der sonst nur schwer meßbaren Kompressibilität von Flüssigkeiten. Nach neueren Untersuchungen steht diese aber wieder in engem Zusammenhang mit der chemischen Konstitution und dem molekularen Aufbau der Flüssigkeiten, so daß man auf akustischem Wege ζ. B. den Molekülradius und andere molekulare Konstanten ermitteln kann. Auch in festen Körpern breitet sich der Schall aus. Man kann dies ζ. B. zeigen, indem man eine Spieldose an dem einen Ende einer langen Metallstange befestigt und das Ohr an das andere Ende der Stange anlegt. Ebenso hört man in Häusern mit Zentralheizung in den oberen Stock-

Schallausbreitung; Reflexion, Brechung, Beugung, Dissipation, Absorption

497

werken deutlich, wenn im Keller gegen die Heizungskessel geklopft wird. Auch das „Fadentelephon" gehört hierher; es besteht aus zwei über Hohlzylinder gespannten Membranen, deren Mitten durch einen langen Faden verbunden sind. Spricht man gegen die eine Membran, so werden die Worte bei straff gespanntem Faden an der anderen deutlich gehört. Für die Schallgeschwindigkeit in festen stabförmigen Körpern gilt die schon mitgeteilte Gleichung: (IX, 7)

c =

worin Ε den Elastizitätsmodul und ρ die Dichte des Stoffes bedeuten. Die Schallgeschwindigkeit für eine Anzahl fester Stoffe in Stabform bringt die folgende Tabelle. Flüssigkeit

c in m/s bei 20 °C

Tetrachlorkohlenstoff Äthylalkohol . . . Aceton Benzol Toluol Xylol Wasser Glyzerin

936 1168 1190 1324 1326 1350 1485 1923

Stoff Blei Hartgummi Zinn Messing Kupfer Zink Flintglas Nickel Aluminium Eisen Kronglas Quarzglas

c in m/s

. . . .

. . . .

1200 1520 2730 3300 3710 3810 4000 4780 5040 5100 5300 5370

Die Werte sind als Mittelwerte zu betrachten, da sie stark von der Vorbehandlung des Stoffes abhängen. Bei festen Stoffen läßt sich die Schallgeschwindigkeit leicht mit den später beschriebenen Verfahren messen und liefert eine einfache und genaue (dynamische) Methode zur Bestimmung des Elastizitätsmoduls. Bei stabförmigen und auch bei plattenförmigen festen Körpern können außer den Longitudinalwellen, wie bereits in Kapitel VIII erwähnt, auch Biegewellen auftreten. Sie dürfen auf keinen Fall mit den Transversalwellen in festen Körpern verwechselt werden. Eine besondere Eigenart der Biegewellen besteht darin, daß ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit, (Gruppen- und Phasengeschwindigkeit), von der Wellenlänge abhängt. Es tritt hier also Dispersion auf. Die Phasengeschwindigkeit ist direkt, die Wellenlänge umgekehrt proportional der Wurzel aus der Frequenz. Man kann in diesem Fall also nicht mehr damit rechnen, daß ein Schallempfänger (abgesehen von Intensitätsverlusten) das gleiche Signal empfängt, das von einer Schallquelle ausgegangen ist! Vielmehr verändert sich das Schallsignal während der Ausbreitung. Dieses Phänomen tritt um so stärker in Erscheinung, je weiter der Empfänger vom Sender entfernt ist, d. h. je größer die Laufzeit ist. Besteht das Signal in einer Stoßerregung, die ja gemäß der F o u r i e r - A n a l y s e alle Frequenzen eines großen Bereiches enthält, so treffen die Wellen mit den höheren Frequenzen beim Empfänger zuerst ein. Das kann man an einer genügend langen Stange, ζ. B. an einem (möglichst freitragenden) Brückengeländer sehr gut beobachten. Wird das Geländer an einem Ende durch einen Stoß in Schwingungen versetzt, so spürt ein Beobachter am anderen Ende durch Berühren mit der Hand deutlich, daß die Schwingungen mit den niedrigsten Frequenzen, die in diesem Fall die größten Amplituden besitzen, zuletzt eintreffen. Noch eindrucksvoller zeigt sich die Dispersion von Biegewellen in der Eisschicht eines zugefrorenen Gewässers, wenn diese durch eine Störung (kurzer Schlag auf das Eis) in Schwingungen versetzt wird. Ein hinreichend weit entfernter Beobachter vernimmt statt des Schlages ein eigenartiges Pfeifen, in dem nacheinander in rascher Folge alle in der Störung enthaltenen Frequenzen von den hohen bis zu den niedrigen auftreten. 32

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl

498

Akustik

Biegewellen spielen nach Untersuchungen von L. C r e m e r eine Rolle beim Schalldurchgang durch Zimmerwände, Fenster und Türen. Entsprechend der Frequenzabhängigkeit der Biegewellengeschwindigkeit gibt es für jede Wand eine Frequenz fg, bei der die Biegewellengeschwindigkeit Cb mit der Schallgeschwindigkeit in Luft gerade übereinstimmt. Oberhalb dieser Grenzfrequenz ist die Biegewellengeschwindigkeit größer als die Schallgeschwindigkeit in Luft. Dann wandert (bei Anregung der Biegewelle durch Luftschall) auf der Rückseite der Wand ähnlich wie bei einem Überschallflugkörper eine Druckwelle unter dem Μ a c h sehen Winkel, dessen Sinus durch das Verhältnis c/c> gegeben ist, mit der Biegewelle mit. Auf diese Weise kommt es auch jenseits der Wand zur Schallausbreitung. Bei einer f r e i e n , zum Beispiel durch einen Körperschallsender angeregten Biegewelle, für die Cb> c ist, laufen diese Druckwellen auf b e i d e n Seiten der Wand mit, sind aber um eine halbe Wellenlänge gegeneinander versetzt. Dieses Phänomen ist in Abb. IX, 14, wo die Wand durch einen dünnen Stab und die umgebende Luft durch eine Flüssigkeit ersetzt ist, deutlich zu erkennen. (Die vorderste Kopfwelle wird durch eine schneller laufende Dehnungswelle im Stab verursacht.) Abb. IX, 14. Kopfwellen in einer Flüssigkeit (Wasser), erzeugt durch Dehnungswellen (oben) und Biegewellen (Mitte) in einem dünnen Stahlstab und sichtbar gemacht mit einer optischen Schlierenmethode (nach E. Meyer). Die Wellen entstanden durch Stoßerregung (Funkenüberschlag zwischen dem Stahlstab und einem darunter befindlichen Kupferblock). Man beachte die Dispersion der Biegewellen: Die Fourier-Komponenten kleinerer Wellenlängen sind im Stab am weitesten fortgeschritten. Die Aufnahme zeigt ferner die vom Entladungsfunken im Wasser erzeugte longitudinale Kugelwelle sowie rechts und links davon je zwei weitere Kopfwellen, die von Transversalwellen (scharfe Fronten) und Longitudinalwellen (schwache Schatten) im Kupferblock ausgelöst wurden Da in einem geschlossenen Raum die Einfallswinkel der Schallwellen (Wellenlänge λ), die die Biegewelle anregen, wegen der Reflexionen statistisch verteilt sind, gibt es zu jeder Frequenz oberhalb fg einen Einfallswinkel α, für den die Spurwellenlänge As = //sin

Richtung der einfa Schallwelle

Abb. IX, 15. Schalldurchgang durch eine biegesteife Wand im Fall der Spuranpassung. Ist die Biegewellengeschwindigkeit c» größer als die Schallgeschwindigkeit c, und stimmt die „Spurwellenlänge" λ8 = λ/sina der Schallwelle mit der Biegewellenlänge der Wand überein, so wird die Schallwelle im Idealfall ungeschwächt durch die Wand hindurchgelassen

Schallausbreitung; Reflexion, Brechung, Beugung, Dissipation, Absorption

499

Wand überhaupt nicht vorhanden wäre. Diese von L. C r e m e r mit „Spuranpassung" bezeichnete Erscheinung erklärt die Tatsache, daß die Schalldämmung von Wänden als Funktion der Frequenz oberhalb der Grenzfrequenz fg ein Minimum durchläuft. Dafür hatte man keine Erklärung finden können, weil bisher eine Wand beim Schalldurchgang nur als schwingende Masse aufgefasst worden war, was allein für niedrige Frequenzen zutrifft. Durch die statistische Verteilung der Einfallswinkel besteht die Spuranpassung bei einer bestimmten Frequenz nur für einen kleinen Teil der gesamten einfallenden Schallenergie. Deshalb kann die Schalldämmung der Wand nicht auf Null absinken. Soll eine dünne Wand oder Platte möglichst wenig Schall durchlassen, so muß sie schwer und gleichzeitig biegeweich sein. Aus diesem Grunde werden ζ. B. mit Bleifolien von nur wenigen mm Dicke erstaunliche Ergebnisse erzielt. Treffen S c h a l l w e l l e n auf ein Hindernis, so werden sie r e f l e k t i e r t . Dadurch erklärt sich ζ. B. das Echo, das auftritt, wenn man aus einiger Entfernung gegen eine Mauer, eine Felswand oder auch einen Waldrand ruft. D a man zum Aussprechen einer Silbe etwa Vs s benötigt, erhält man die Entfernung d, um die man mindestens von der Wand abstehen muß, damit man den zurückgeworfenen Schall erst nach dem Aussprechen der Silbe hört, durch die Gleichung: 2 d = {• · 340 m; d. h., d 34 m. Ist man um ein Mehrfaches dieser Strecke von der reflektierenden Wand entfernt, so kann man ein mehrsilbiges Echo beobachten.

Befindet man sich so nahe an der Wand, daß der zurückgeworfene Schall schon eintrifft, ehe eine Silbe vollständig ausgesprochen ist, so geht das Echo in den sogenannten Nachhall über. Dieser spielt für die Hörbarkeit und Deutlichkeit von Schallsignalen eine wichtige Rolle. Eine gewisse Nachhallzeit ist für gutes Hören günstig, da durch die längere Dauer des akustischen Reizes auf das Ohr das Gehörte deutlicher wird. Eine Stimme klingt „leer", wenn man auf Bergen oder vollkommen freiem Felde spricht, wo die Wirkung der Nachhall erzeugenden reflektierenden Wände fehlt. Dasselbe ist der Fall in sogenannten „schalltoten" Räumen, in denen man durch Auskleiden der Wände mit schallabsorbierenden Stoffen absichtlich jede Reflexion unterbindet. Anderseits kann in geschlossenen größeren Räumen die Nachhallzeit oft so groß werden, daß sie außerordentlich störend wirkt; man spricht dann von einer schlechten H ö r s a m k e i t oder s c h l e c h t e n A k u s t i k . Als Nachhallzeit eines Raumes wird die Zeit definiert, in der die Schallenergie auf den millionsten Teil abnimmt. Voraussetzung für diese Definition ist eine statistische Verteilung der Reflexionen. Da bei jeder Reflexion ein Teil der Schallenergie in Wärme umgewandelt wird, ist die Nachhallzeit Γ der mittleren freien, d. h. der reflexionslosen Weglänge des Schalls und damit dem Raumvolumen V proportional. Umgekehrt proportional ist sie der Wandfläche A, der Schallgeschwindigkeit c und dem später zu definierenden Schallschluckgrad zw. Zylinderflächen verteilt. Dabei bleibt die Schallenergie im ganzen erhalten, u n d es entfällt nur auf ein Flächenstück, ζ. Β. 1 cm 2 , immer weniger. Deshalb betrachtet man hier die I n t e n s i t ä t , d. h. die Energie, die p r o Sekunde auf die Flächeneinheit entfällt. So ist bei Kugelwellen, die von einer Schallquelle mit der Intensität lo ausgehen, die Intensität I in der Entfernung r :

Schallausbreitung; Reflexion, Brechung, Beugung, Dissipation, Absorption

503

(IX, 8a) Für Zylinderwellen gilt: (IX, 8b) Bei einer ebenen Welle tritt eine derartige Abnahme der pro Sekunde auf die Flächeneinheit entfallenden Energie natürlich nicht ein. Zweitens beobachtet man auch bei ebenen Schallwellen eine beträchtliche Abnahme der Intensität, die als Dissipation bezeichnet wird und von der Schallabsorption an schallschluckenden Wandflächen zu unterscheiden ist. Die Intensitätsabnahme — dl, die bei Vergrößerung der Entfernung von r auf r + dr eintritt, proportional der vorhandenen Intensität und dem Zuwachs der Entfernung dr, d.h., es gilt mit m als Proportionalitätsfaktor : — dl = ml dr. Die Integration dieser Gleichung liefert: In J = -mr+C, wo C eine Integrationskonstante bedeutet; am Ort der Schallquelle (r = 0) muß In / = In Io = C sein. Wir erhalten also: I n / — l n / 0 = l n ^ - = — mr. Durch Übergang zu dem Numeris findet man l = I0e"mr.

(IX, 9)

Der Proportionalitätsfaktor m wird als Dissipationskonstante bezeichnet. Die Dissipation hat verschiedene Ursachen. Die bisher nicht berücksichtigte innere Reibung des Gases liefert im Hörbereich nur einen unwesentlichen Anteil. Stärker fallen dagegen die Verluste durch Wärmeleitung ins Gewicht. Die Annahme rein adiabatischer Zustandsänderungen des Gases beim Durchgang einer Schallwelle ist also nur begrenzt zutreffend. Vielmehr wird in der Überdruckphase mehr Wärme an die Umgebung abgegeben, als in der Unterdruckphase wieder aufgenommen wird. Die Theorie ist von S t o k e s und K i r c h h o f f gegeben worden, die zu einem komplizierten Ausdruck für den Absorptionskoeffizienten m führt, der sich als umgekehrt proportional dem Quadrat der Wellenlänge λ ergibt. Für Luft folgt danach durch numerische Rechnung: W

_ 1,16· 10"~4

Luft —

J2

und für Wasser: m

Wasser—

2,63-10" 6 J2

Das bedeutet folgendes: In Luft sollte bei einer ebenen Welle die Schallintensität nach Durchlaufen einer Strecke r = —-— = 8 , 6 1 - 1 0 3 ! 2 cm "»Luft

auf den e-ten Teil ( = 0 , 3 6 ) der Anfangsintensität herabsinken; in Wasser beträgt die ent-

504

Akustik

sprechende Strecke r = 3,8 • 105A2 cm. Hieraus folgt, daß die Absorption des Schalles in Wasser wesentlich geringer ist als in Luft. In allen Fällen aber nimmt die Absorption mit dem Quadrat der Schallfrequenz zu. Versuche, insbesondere bei höheren Frequenzen, haben ergeben, daß die Schallabsorption in Gasen wesentlich größer ist, als sie die erwähnte Theorie von S t o k e s und K i r c h h o f f liefert. Nach Untersuchungen von K n e s e r liegt der Grund hierfür in molekularen Prozessen, durch die eine weitere Umwandlung von Schallenergie in Wärme stattfindet. Diese Vorgänge hängen eng mit der oben erwähnten Schalldispersion in Gasen zusammen. Eine Druckerhöhung, wie sie in der Überdruckphase einer Schallwelle entsteht, ist nichts anderes als eine Erhöhung der Translationsenergie der Moleküle. Diese wird nun durch Stöße zum Teil in Schwingungsenergie umgesetzt. Der ganze Vorgang würde die Schallwelle in keiner Weise beeinflussen, wenn die Energieaufnahme in der Überdruckphase spontan erfolgte und die gleiche Energie in der Unterdruckphase ebenso spontan zurückgeliefert würde. Tatsächlich aber erfordert eine derartige Anregung der Mojekülschwingungen eine gewisse Zeit, die sogenannte Relaxationszeit. Das hat zur Folge, daß in der Überdruckphase die Temperaturerhöhung nicht — wie bisher angenommen — gleichzeitig mit der Verdichtung erfolgt, sondern daß zwischen den Dichteschwankungen und den Temperaturschwankungen der Schallwelle eine Phasenverschiebung entsteht. Dann ist der Vorgang der Energieaufnahme nicht mehr restlos umkehrbar und der Schallwelle wird Energie in Form von Wärme entzogen. Die Relaxationserscheinungen wirken sich natürlich bei hohen Frequenzen besonders stark aus, wie das Absinken der Nachhallzeit in geschlossenen Räumen zeigt. In der Luft ist im wesentlichen der Sauerstoff für den Vorgang vcrantworl;.ch. Die Luftfeuchtigkeit spielt dabei, wie die Untersuchungen von K n e s e r ergaben, ebenfalls eine Rolle. Es zeigt sich nämlich, daß die Nachhallzeit eines Raumes und damit auch die Reichweite des Schalls im Freien bei feuchter Luft größer ist als bei trockener Luft. Diese Abnahme der Dissipation bei Gegenwart von Wasserdampf ist auf eine Verkürzung der Relaxationszeit zurückzuführen, die dadurch entsteht, daß der Wasserdamp ' Jie Ausbreitung der Schwingungsvorgänge zwischen den Sauerstoffmolekülen beschleunigt. Die Dissipation in Flüssigkeiten zeigt dieselbe Frequenzabhängigkeit wie in Gasen. Im Ultraschallgebiet ist aber die beobachtete Dissipation 10- bis lOOmal größer als die Theorie angibt. Auch hier spielen molekulare Prozesse eine wesentliche Rolle. In festen Kö ^ern ist die Dissipation im allgemeinen um so größer, je unvollkommener die elastischen Eigenschaften des betreffenden Stoffes sind. Im Gegensatz zur Dissipation, die während der Ausbreitung auftritt, bezeichnet man in der Akustik mit Absorption den Vorgang der unvollständigen Reflexion, ζ. B. an schallschluckendem Material. Bei der Schallausbreitung in geschlossenen Räumen ist die Absorption wesentlich größer als die Dissipation; das läßt sich aus dem großen Einfluß der Beschaffenheit der Wände auf die Nachhallzeit leicht ersehen. Zur Schallabsorption wird, wie schon bemerkt, Material mit vielen Hohlräumen, also Poren, verwendet (Filz, Tuch, Watte). Die Poren stellen f ü r die Schallwelle eine Querschnittsverengung dar. Deshalb wächst die Schnelle beim Eindringen der Schallwelle in das porige Material. Dadurch ist der Einfluß der Reibung an den Porenwänden um so größer, und ein beträchtlicher Anteil der Schallenergie wird in Wärme umgesetzt. Besonders wirksam ist eine porige Schicht, wenn sie sich nicht unmittelbar an der Wand befindet, weil dort die Schnelle auf den Wert Null absinkt, sondern wenn sie in einem gewissen Abstand davor angebracht ist. Vielfach werden die Wände zur Schallabsorption auch mit Lochplatten ausgekleidet. Ihre Wirkungsweise soll später behandelt werden. Kennzeichnend für die Absorptionsfähigkeit eines Stoffes ist der Schallschluckgrad α. Er ist gegeben durch das Verhältnis des Intensitätsverlustes zur Intensität der einfallenden Welle:

/ο ist die Intensität der einfallenden, l \ die der reflektierten Welle. Die Kenntnis des Schallschluckgrades ist f ü r raumakustische Fragen von entscheidender Bedeutung. Die eben gemachte Ausführung über die Absorption in geschlossenen Räumen bedarf noch einer Ergänzung: Bei sehr großen Räumen (Konzertsälen) spielt bei hohen Frequenzen die Dissipation eine wesentliche Rolle. Deswegen tritt bei hohen Frequenzen eine unvermeidliche Verkürzung der Nachhallzeit auf.

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

505

83. Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung Ganz allgemein ist ein Schallsender jedes Gerät, das zur Erzeugung von Materieschwingungen geeignet ist. Diese Geräte werden zweckmäßig in zwei Gruppen eingeteilt, nämlich in solche, die gedämpfte und solche, die ungedämpfte Schwingungen erzeugen. Zur ersten Gruppe gehören die schwingenden Saiten, Stäbe, Luftsäulen, Membranen und Platten, soweit sie nur durch Stoßerregung (Anreißen, Anschlagen) in Schwingungen versetzt werden. Unter einer Saite versteht man einen Stab, dessen Querschnitt so klein ist, daß er praktisch gegen eine Verbiegung keinen Widerstand mehr leistet. Das ist angenähert ζ. B. bei einem sehr dünnen Metalldraht oder einer Darmsaite der Fall. Damit ein solches Gebilde noch Schwingungen, insbesondere transversale, aufführen kann, muß es durch äußere Kräfte in einen Spannungszustand versetzt werden. Dies erfordert eine Befestigung der Enden der Saite und damit die Festlegung einer bestimmten Saitenlänge l. Streicht man die Saite mit einem Bogen an oder zieht man sie an einem Punkte aus der Ruhelage heraus und läßt plötzlich los, so vollführt sie transversale Schwingungen um ihre Ruhelage (Abb. IX, 19). Allen möglichen Schwingungsformen der Saite ist der Umstand gemeinsam, daß an den S a i t e n e n d e n K n o t e n d e r B e w e g u n g liegen müssen. Die Grundschwingung mit der tiefsten Frequenz VQ, der Grundfrequenz, ist in Abb. IX, 19a wiedergegeben. In diesem Falle ist die Saitenlänge / gleich der halben Wellenlänge /.o, oder /.o = 21. Die stets vorhandenen Knoten an den Enden werden wir im folgenden nicht mehr mitzählen und können die G r u n d s c h w i n g u n g d e r S a i t e dann dadurch charakterisieren, daß sie k e i n e n K n o t e n besitzt. Für die Frequenz vo der Grundschwingung liefert die Theorie den Ausdruck: 1

(IX, 10)

~Ύι

lF_ Αρ'

wobei F die spannende Kraft, Α den Querschnitt und ρ die Dichte der Saite bedeuten. Die Gestalt der Gl. (IX, 10) ist leicht verständlich, denn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit c der Wellen längs der Saite ist gleich n>Ao und nach dem oben Gesagten gleich i>o 2 /; FlΑ ist das, was wir in Nr. 43 als die elastische Spannung α bezeichnet haben, und so besagt Gl (IX, 10): c =

]/ff/o ;

das ist aber eine Gleichung derselben Art, wie wir sie schon für die verschiedenen Fortpflanzungsgeschwindigkeiten kennengelernt haben. Außer der Grundschwingung kann die Saite auch noch Oberschwingungen ausführen; für einige davon sind die Schwingungsformen in Abb. IX, 19 gezeichnet. Eigenschwingung

Schwingungsform

Wellenlänge der Eigenschwingung

Grundschwingung 1. Oberschwingung

Eigenfrequenz "o

Αι = J, Ao

2 vo

2. Oberschwingung

ϊ Ao

3. Oberschwingung

= | Λο

4 vo

4. Oberschwingung

h = ν A0

5 v0

k. Oberschwingung

1 Ao + 1 Abb. IX, 19. Transversale Eigenschwingungen einer Saite A,· = ·

k

3 vq

(k +

I,

506

Akustik

Die erste Oberschwingung (b) entsteht, wenn m a n beim Anschlagen oder Z u p f e n die Saite in der Mitte festhält, so d a ß sich d o r t ein K n o t e n bildet; die e r s t e O b e r s c h w i n g u n g d e r S a i t e ist also durch das Auftreten e i n e s K n o t e n s charakterisiert, und die Saitenlänge / ist gleich der ganzen Wellenlänge. Die zweite Oberschwingung (c) tritt auf, wenn die Saite in der E n t f e r n u n g j / von einem E n d e festgehalten wird. D a n n treten — j e im A b s t ä n d e von j / von beiden E n d e n — zwei K n o t e n auf, u n d die Saitenlänge / wird gleich \ ).% Bei jeder folgenden Oberschwingung tritt immer ein K n o t e n mehr a u f ; ζ. B. h a t die dritte Oberschwingung (d) drei K n o t e n und 1 = 2).% usw. Zwischen je zwei K n o t e n liegt, wie immer bei stehenden Wellen, ein Schwingungsbauch. D a die Wellenlängen λ\, ... der Oberschwingungen der Reihe nach gleich \ /o, 5 / o , 4-/.o,... sind, so sind ihre Frequenzen v\, V2, v^, ... der Reihe nach gleich 2 vo, 3 vo, 4 vo, · · ·; vergleiche die Beschriftung der A b b . IX, 19. N e n n e n wir daher k = 0, 1, 2, . . . die Ordnungszahl der Schwingungen mit Einschluß der Grundschwingung (k = 0), so gilt f ü r die möglichen Frequenzen der Saite: (IX, 11) die Oberschwingungen der Saite sind also H a r m o n i s c h e der G r u n d s c h w i n g u n g ; k gibt gleichzeitig die Anzahl der K n o t e n auf der schwingenden Saite an. Grundschwingung und Oberschwingungen zusammen bilden das System d e r Eigenschwingungen d e r S a i t e , wobei die Grundschwingung als erste, der k-te O b e r t o n als (k + l)te Eigenschwingung zu bezeichnen ist. Die möglichen E i g e n f r e q u e n z e n der Saite verhalten sich also wie die ganzen Zahlen. Zur experimentellen Untersuchung der Saitenschwingungen dient das in Abbb. IX, 20 dargestellte Monochord. Eine schwingende Saite ist ein sehr schlechter Schallabstrahler. Denn erstens kann sie nur längs einer Linie die Luft zu Schwingungen anstoßen; außerdem löschen sich die von der Vorder- und Rückseite der Saite (d. h. von einer Druckerhöhung und einer Druckerniedrigung) ausgehenden Schwingungen gegenseitig aus, da sie eine Phasendifferenz von 180° haben und ihr Gangunterschied (von der Größe des Saitendurchmessers) praktisch Null ist. Daher spannt man die Saite über zwei Stege Α und Β auf einen Holzkasten Η aus. Durch die Saitenschwingungen wird der Holzkasten zum Mitschwingen angeregt und überträgt infolge seiner größeren Oberfläche die Schwingungen in verstärktem Maße an die umgebende Luft, so daß sie deutlich wahrgenommen werden können. In Abb. IX, 20 befinden sich

κ Abb. IX, 20. Monochord zwei gleiche Saiten nebeneinander; die Saite 1 ist zwischen zwei Stiften S gespannt, und ihre Spannung wird durch Verdrehen eines Stiftes verändert; die Saite 2 geht am linken Ende des Kastens über eine Rolle R und wird durch ein angehängtes Gewicht gespannt. Bei einem gegebenen Gewicht AT verändern wir die Spannung der Saite 1 durch Verdrehen der Stifte S so lange, bis beide Saiten die gleiche Schwingungszahl haben, also denselben Ton ergeben. Vervierfacht man dann das Gewicht Κ an der Saite 2, so verdoppelt sich ihre Schwingungszahl, und wir müssen die Länge der Saite 1 durch Einschieben eines Holzsteges zwischen Saite und Kasten auf die Hälfte verkürzen, um bei beiden Saiten wieder gleiche Tonhöhe zu erzielen. — Spannt man beide Saiten gleich stark, so kann man durch Verkürzen einer Saite das Höherwerden ihres Tones zeigen. Daß bei Erregung einer Oberschwingung die Saite sich in Knoten und Bäuche teilt, weist man dadurch nach, daß man auf die Saite kleine Papierreiterchen setzt oder kleine Ringe aus Aluminiumdraht aufschiebt. Die Reiter werden beim Schwingen der Saite an allen Stellen außer

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

507

den Knoten abgeworfen, während die kleinen Ringe in den Bäuchen lebhafte Bewegung zeigen und nur an den Knoten in völliger Ruhe bleiben. D i e Anregung der Saite erfolgt in diesem Falle zweckmäßig so, daß man eine auf die betreffende Oberschwingung der Saite abgestimmte Stimmgabel mit ihrem Stiel auf den Resonanzkasten Η aufsetzt. Dann kann die Saite nur in dieser einen Frequenz schwingen, da die Anregung durch die Stimmgabel sinusförmig ist.

Wird die Saite durch Anschlagen, Anzupfen oder Anstreichen in Schwingungen versetzt, so entsteht neben dem Grundton im Prinzip die gesamte Obertonreihe. Das beruht darauf, daß die drei genannten Anregungsarten Stoßerregungen sind (das Anstreichen kann man als eine größere Zahl aufeinanderfolgender Stöße ansehen). Eine Stoßerregung enthält jedoch gemäß der Fourier-Analyse zunächst alle denkbaren Frequenzen eines großen Bereiches. Aus diesen wird dann die diskrete Folge der Eigenschwingungen eliminiert. Will man nun die Oberschwingungen einer angezupften Saite einzeln sichtbar machen, so muß man, wie bereits angedeutet, durch Erzeugung künstlicher Schwingungsknoten alle übrigen Eigenschwingungen unterdrücken. Auf diese Weise entstand die Abb. IX, 21. Die Saite ist ein Gummifaden, dessen Amplitude für photographische Zwecke groß genug ist; der künstliche Schwingungsknoten läßt sich mit Hilfe einer Lochblende erzeugen, durch die der Gummifaden hindurchgezogen wird. Mit wachsender Schwingungszahl nimmt die Amplitude stark ab. Den Spielern von Streichinstrumenten sind solche einzeln erzeugten Obertöne unter dem Namen F l a g e o l e t t Töne bekannt. Der künstliche Schwingungsknoten wird hier durch leichtes Berühren der Saite mit dem Finger erzeugt. Da die Amplitudenverhältnisse von Grundschwingung und Oberschwingungen die Klangfarbe bestimmen, klingt eine in der Mitte angestrichene oder angezupfte Saite, bei der diese Verhältnisse zugunsten der Grundschwingung verschoben sind, dumpfer als eine dicht an einer Einspannstelle erregte Saite, bei der die Oberschwingungen gegenüber der Grundschwingung überwiegen. Je nach Anregungsart und Stelle der Anregung ergeben sich infolgedessen ganz verschiedene Schwingungsbilder eines Punktes der Saite, wie Abb. IX, 22 für eine gezupfte (a), gestrichene (b), und angeschlagene (c) Saite zeigt. Diese Schwingungsbilder eines Saitenpunktes erhält man, wenn man den betreffenden Punkt der Saite hell beleuchtet und ihn in einem rotierenden Spiegel betrachtet, dessen Achse senkrecht zur Saitenrichtung steht; auf diese Weise wird der auf- und abschwingende Saitenpunkt in horizontaler Richtung auseinandergezogen. — Weitere Einzelheiten der Saitenschwingung lassen sich sichtbar machen, wenn man stroboskopisch beleuchtet (Abb. IX, 23). Etwa Vio s nach Anzupfen in der Saitenmitte entstand die Aufnahme a, auf der neben der Grundschwingung Oberschwingungen noch gerade zu erkennen sind. Wie Teilbild b zeigt, verhält sich die Saite unmittelbar nach dem Anzupfen ganz anders. Hier ist die dreieckförmige Anfangsauslenkung (obere Bildhälfte) mit aufgenommen worden. Aus dem Dreieck entsteht zunächst unter Abflachung der Spitze ein Trapez (Bildmitte), bis schließlich der Übergang zu den in a wiedergegebenen Formen eintritt. Wird die Saite nicht in der Mitte angezupft, so ist schon bei Dauerbeleuchtung (Abb. IX, 23c) ein beträchtlicher Unterschied zu erkennen. Beleuchtet man stroboskopisch, so entsteht Teilbild d. Der Einschwingvorgang (Anfangsauslenkung oben rechts) ist in seiner typischen Form in Abb. IX, 23 e wiedergegeben. Die Zeichnung f soll die zeitliche Reihenfolge in e verdeutlichen. Zwischen den Zahlen 0—6 liegen gleiche Zeitabstände. Auch hier zeigt sich der Übergang der Schwingungsformen in den Typ der Abb. IX, 23 d. Dabei runden sich die Ecken auf Grund der Steifheit der Saite immer stärker ab. Gemäß der Fourier-Analyse bedeutet diese Abrundung aber ein Verschwinden der höchsten Frequenzen. Für den Einschwingvorgang einer gezupften Saite ist also das kurzzeitige Auftreten hoher Frequenzen kennzeichnend. Schwingende Saiten werden bei sehr vielen Musikinstrumenten zur Tonerzeugung benutzt. Als Material für die Saiten dienen Därme oder Metalldrähte, die mitunter zur Erzeugung tiefer Töne noch mit Drahtspiralen umwickelt sind, um die schwingende Masse zu vergrößern. Die Anregung der Saiten geschieht bei den Streichinstrumenten (Geige, Bratsche, Cello, Kontrabaß) vorwiegend durch Anstreichen mit dem Bogen, bei der Harfe, der Gitarre, der Zither, der

508

Akustik

Abb. IX, 21. Grundschwingung und Oberschwingungen eines angezupften Gummifadens, einzeln sichtbar gemacht durch die Erzeugung künstlicher Schwingungsknoten mit Hilfe einer kleinen Lochblende

Schallsender; Schallabstrahlu ig, Widerstandsanpassung

509

Abb. IX, 23. Schwingungsformen einer Saite in stroboskopischer (o, b, d, e ) u n d in Dauerbeleuchtung (c) nach Auslenkung in der Mitte (a, b) und an der rechten Seite (c, d, e). Gummifaden der Länge 46 cm und der G r u n d f r e q u e n z 33 H z ; Stroboskop-Frequenz 200 Hz. a, c, d: etwa Vios nach dem Einschwingen 6, e: Einschwingvorgänge. Zeichnung f ) zur Verdeutlichung von e). Zwischen den Zahlen (0 bis 6) liegen gleiche Zeitintervalle ( 1 /200 s)

510

Akustik

Laute und der Mandoline durch Zupfen bzw. Anreißen und beim Klavier und dem Plügel durch Anschlagen mit einem filzbelegten Hammer. Zur guten Schallabstrahlung besitzen alle diese Instrumente einen sogenannten R e s o n a n z k ö r p e r oder R e s o n a n z b o d e n , der von den schwingenden Saiten zum Mitschwir gen angeregt wird. Durch geeignete Bauart sucht man zu erreichen, daß er die im Tonbereich des Instrumentes liegenden Frequenzen möglichst gleichmäßig verstärkt.

Λ/λΛΛΛΛΛ λΛΑΛΛΛΛΛΛΛΛ/

ΑΛΛΛΛΑΛΛΛΛΛΛ/

Abb. IX, 22. Schwingungsformen einer gezupften (a), gestrichenen (b) und angeschlagenen (c) Saite

Schließlich soll noch auf eine meßtechnische Anwendung der Saitenschwingungen hingewiesen werden. Da die Schwingungszahl einer Saite nach Gl. (IX, 10) von der Spannung abhängt, kann man durch Einbau von Saiten in Bauwerke dort auftretende Längen- bzw. Spannungsänderungen feststellen und dauernd überwachen. Auf diese Weise lassen sich Längenänderungen von 10~4 mm erkennen. Außer den Transversalschwingungen kann eine gespannte Saite auch L o n g i t u d i n a l s c h w i n g u n g e n ausführen, wenn man sie durch Reiben in ihrer Längsrichtung mit einem mit Kolophonium eingeriebenen Lederlappen anregt. Auch in diesem Falle liegen an den Enden der Saiten Knoten. Bei der Grundschwingung ist kein weiterer Knoten vorhanden, vielmehr liegt in der Mitte der Saite ein Schwingungsbauch. Die Saitenlänge ist also gleich d halben Wellenlänge Ao der sich ausbilcenden stehenden Welle. Für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer Longitudinalwelle längs eines Stabes mit dem Elastizitätsmodul Ε und der Dichte ρ fanden wir schon die Beziehung: c = ΫΕ/ρ, so daß wir für die Frequenz der Grundschwingung der longitudinal schwingenden Saite die Formel (IX, 12) long

21

erhalten, — das genaue Analogen u Gl. (IX, 10). Im Gegensatz zu den Transversalschwingungen ist die Schwingungszahl be,' longitudinaler Erregung unabhängig von der Saitenspannung (σ) und nur vom Material der Saite (Ε) abhängig. — D a ß eine Saite bei longitudinaler Anregung auch noch Oberschwingungen liefert, deren Frequenzen stets ganze Vielfache der Grundfrequenz, somit harmonisch zum Grundton sind, braucht nicht näher erläutert zu werden. Praktische Bedeutung für die Musik haben die longitudinalen Saitenschwingungen nicht; dagegen wurde ein L o n g i t u d i n a l - M o n o c h o r d nach F. A. S c h u l z e unter anderem zur Bestimmung der oberen Hörgrenze benutzt, da man leicht sehr große Schwingungszahlen erzielen kann. Eine Stahlsaite von 50 cm Länge gibt nach (IX, 12) (E = 21000 kp/mm 2 , ρ = 7,8 g/cm 3 ) eine Frequenz vo von ungefähr 5000 H z ; Verkürzung der Saite durch einen Steg auf 10 cm liefert also eine Schwingungszahl von 25000 Hz, die schon oberhalb der Hörgrenze liegt. Eine longitudinal schwingende Saite ist ein noch schlechterer Abstrahier als die transversal schwingende. Dies zeigt ζ. B. folgender Versuch: Hält man einen Bindfaden mit einer Hand fest und zieht ihn zwischen zwei Fingern der anderen Hand hindurch, so kommt der Faden durch die Reibung in longitudinale Schwingungen; eine Abstrahlung von Schall an die umgebende Luft findet so gut wie gar nicht statt. Befestigt man aber das festgehaltene Ende des Fadens in der Mitte einer über einen Ring gespannten Papiermembran, so sind die Schwingungen deutlich hörbar. Sie werden jetzt von der durch die Fadenschwingungen angeregten Membran abgestrahlt.

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

511

G e d ä m p f t e S c h w i n g u n g e n v o n S t ä b e n . Sie unterscheiden sich von einer Saite durch ihren größeren Querschnitt, so daß ihnen auch ohne Mitwirkung äußerer Kräfte eine bestimmte Gestalt zukommt. Vermöge ihrer Elastizität allein können sie Schwingungen, und zwar longitudinale und transversale ausführen. Wegen der großen Ähnlichkeit mit den Saitenschwingungen beschäftigen wir uns zunächst mit den L o n g i t u d i n a l s c h w i n g u n g e n von S t ä b e n , die man durch Reiben mit einem angefeuchteten Lappen in ihrer Längsrichtung erregt. Von Bedeutung sind nur die Schwingungen von Stäben, die an b e i d e n E n d e n f r e i sind. Beim „ f r e i - f r e i e n " Stab, wie wir kurz sagen wollen, müssen an den E n d e n Schwingungsbäuche auftreten. Es kommt auf die Schwingungsform an, ob auch noch an anderen Stellen des Stabes Bäuche vorhanden sind. Man sieht schon hier, daß alles genau so sein wird wie bei der Saite, nur daß sich die Bezeichnungen Knoten und Bäuche vertauschen: Wo die S a i t e K n o t e n b e s i t z t , h a t d e r f r e i - f r e i e S t a b B ä u c h e u n d u m g e k e h r t (Randbedingung umgekehrt!). Im einzelnen zeigt Abb. IX, 24 die vier ersten Eigenschwingungen (Grundschwingung und die drei ersten C berschwingungen). Im Falle der Grundschwingung (a) ist die Stabmitte fest-

Abb. IX, 24. Longitudinale Eigenschwingungen eines an beiden Enden freien Stabes

geklemmt; dort ist also ein Knoten der Bewegung (bei der Saite ein Bauch). Die Kurven zeigen — der Deutlichkeit halber in transversaler Darstellung 1 ) — die Extremlagen der Bewegung der einzelnen Stabteilchen längs des Stabes für zwei um 180° voneinander verschiedene Phasen (ausgezogene bzw. gestrichelte Kurve). Dabei bedeutet der oberhalb des Stabes verlaufende Kurventeil eine Bewegung des betreffenden Stabteils nach rechts, eine unterhalb des Stabes gezeichnete Der Leser darf sich durch die „transversale" Darstellung nicht zu der Auffassung verleiten lassen, daß es sich um transversale Schwingungen handle!

512

Akustik

Kurve eine Bewegung nach links. Die Richtung der Stabschwingung ist ferner noch durch Pfeile angedeutet. In Abb. IX, 24a schwingt der Stab als halbe Wellenlänge /o, d. h. für die Grundschwingung ist (wie bei der Saite) die Wellenlänge der Grundschwingung gleich der doppelten Stablänge, d. h. / = j /·ο· Bei dieser Schwingung existiert — außer den weiterhin nicht mitgezählten Bäuchen an den Enden — kein weiterer Bauch auf dem Stabe. Die erste Oberschwingung (b) hat dagegen einen Bauch in der Mitte des Stabes, folglich zwei Knoten im Abstand von je einem Viertel der Stablänge von den Enden. Hier ist / = Aj: Der Stab schwingt jetzt als ganze Wellenlänge λχ. Die zweite Oberschwingung (c) hat zwei Bäuche, also drei Knoten in g, | der Stablänge: hier ist l = § Und so geht es weiter. Allgemein sind die Wellenlängen λο, Αι, λ% A 3 , . . . der Reihe nach gleich Ao, i '-ο, j / o , 5 Ao, ... Daher verhalten sich die Schwingungszahlen vo, vi, V'i, J'3, ..., d. h. die möglichen Eigenfrequenzen des frei-freien Stabes wie die ganzen Zahlen 1 : 2 : 3 : 4 ...; vergleiche Abb. IX, 24. Da die Fortpflanzungsgeschwindigkeit c = Ejο, andererseits c = νχλχ ist, so ergibt sich für die Frequenz der k-ten Oberschwingung die Formel: (IX, 13)

v long

k

+ k

J 2

-

= (l + /c)v 0 ;

(fc = 0 , 1 , 2 , . . . ) ;

ΰ

/

k gibt die Anzahl der auf dem Stabe befindlichen Bäuche an. Wir haben es also — wie auch bei der Saite — mit zur Grundschwingung harmonischen Oberschwingungen zu tun. Wie man aus (IX, 13) ersieht, ist die Frequenz völlig unabhängig von Gestalt und Größe des Stabquerschnittes. Man verwendet daher an Stelle massiver Stäbe mit Vorteil dünnwandige Rohre, die sich leichter anregen lassen. Bei diesen longitudinal schwingenden Stäben u n d R o h r e n wird der Schall von den Stirnflächen abgestrahlt. Z u r Verbesserung der A b s t r a h l u n g k a n n m a n die E n d e n mit leichten Platten von größerem Durchmesser versehen. D u r c h die A n b r i n g u n g dieser Platten wird die Frequenz des Stabes allerdings etwas erniedrigt.

Eine sehr interessante und wichtige Anwendung der Longitudinalschwingungen von Stäben hat K u n d t (1866) gemacht (Abb. IX, 25). Das mit einer leichten Korkscheibe versehene, freischwingende Ende eines in der Mitte bei Α eingeklemmten Stabes S ragt in ein nur R

S

J -

:

IV'l

A

Ö

A b b . IX, 25. K u n d t sehe R ö h r e

wenig weiteres Glasrohr G, das am anderen Ende durch den verschiebbaren Stempel R abgeschlossen ist. Die vom Stabende bei longitudinaler Erregung ausgehenden Schallwellen pflanzen sich in das Rohr fort, werden am Stempel R reflektiert, so daß s t e h e n d e W e l l e n in Luft entstehen. Zum Nachweis dieser Wellen bringt man in das Rohr etwas Korkpulver; es bleibt an den Knoten liegen, wird an den Bäuchen herumgewirbelt, oder fällt von der Rohrwand herunter. Man kann den Abstand zweier benachbarten Knotenstellen, der gleich \ ALUFT ist, auf diese Weise bequem messen. Durch die Versuchsanordnung ist auch die Wellenlänge Ast im Material des Stabes bekannt, die bei der in Abb. IX, 25 dargestellten Anordnung gleich der doppelten Stablänge ist. Außerdem ist nach Gl. (IX, 5 b) die Schallgeschwindigkeit in Luft bekannt. Da in jedem Falle νλ = c ist, so folgt für Luft: vAL = c L , für das Stabmaterial: V^St = CSi.

also: A /L

St

l

_

331,3 + 0,6 r c

st

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

513

woraus sich die Schallgeschwindigkeit est im Stabmaterial ergibt. Daraus folgt weiter gemäß der Gleichung est = ΫΕ/ρ der Elastizitätsmodul des Stabmaterials, so daß man gleichzeitig eine bequeme und genaue Methode zur Messung von Ε hat. — Man kann diese K u n d t sche Anordnung auch dazu benutzen, die Schallgeschwindigkeiten in Gasen zu bestimmen. Dazu hat man nur — bei Anregung durch den gleichen Stab — einmal das Glasrohr mit Luft zu füllen, ein zweites Mal mit dem zu untersuchenden Gas. In beiden Fällen gewinnt man durch die Messung die zur gleichen Frequenz ν gehörenden Wellenlängen Al und ληΆ3 (Abb. IX, 26),

mm

www τ ·«

rJ"

Mi

-»ν»

mm 1

Ι1 I 1

f

Γ

mm

>«wi

m*

J

t

t

· J 4 I H i

."fllj/H < MMjiiijlH»« ψρ w 1

7

ν S S S

• n a j p - w o i O j ; ^

S . S ^ 55 ?

Abb. IX, 26. Kundtsche Staubfiguren in CO2 (oben) und in Luft (unten). Maßstab in cm

und da cl = 331,3 + 0,6 t m/s ist, erhält man die Schallgeschwindigkeit cg in dem zu untersuchenden Gas. Das ermöglicht uns ferner, nach Gl. (IX, 5), den Faktor κ, der uns schon mehrfach begegnete, zu bestimmen. Denn nach dieser Gleichung ist

cr.=

also

κ=

Qo CgQO

/p0x(l+«f)

Po(l+«0'

Auf diese Weise ist κ für die einatomigen Edelgase zu 1,66, für zweiatomige Gase zu 1,40, für dreiatomige zu 1,33, bestimmt worden, was sich als zwingende Folge aus der kinetischen Theorie der Wärme ergibt. Schließlich sei den eigenartigen Querrippen in den Kundtsehen Staubfiguren (Abb. IX, 26) noch einige Beachtung geschenkt, da sie irrtümlicherweise oft auf Oberschwingungen der Luft zurückgeführt werden. Maßgebend für die Rippenbildung sind in erster Linie die Intensität der stehenden Welle und die Teilchengröße. Haben die Staubteilchen keine einheitliche Größe, so bilden sich keine scharfen Rippen. Mit der Größe der Teilchen wächst auch der Abstand der Rippen, deren Schärfe sehr stark von der Intensität der stehenden Welle abhängt. Diese Tatsachen machen deutlich, daß die Rippenbildung auf besondere Luftströmungen im Rohr zurückgeführt werden muß, und zwar treten während des Schwingens der Luft Zirkulationsströmungen zwischen Wand und Achse des Rohres auf. Da die Korkteilchen diesen Strömungen nicht folgen können, geben sie zu einer Wirbelbildung Anlaß, die von der Teilchengröße abhängt und ihrerseits das Entstehen der Querrippen verursacht (Abb. IX, 27).

Abb. IX, 27. Querrippen zwischen zwei Schwingungsknoten einer Kun dt sehen Staubfigur

Stäbe oder Rohre von kreisförmigem Querschnitt, die entsprechend Abb. IX, 25 gehaltert sind, können auch T o r s i o n s s c h w i n g u n g e n vollführen, wenn man mit einem angefeuchteten Lappen ein freies Stabende (oder eine zwischen zwei Einspannungen liegende Stelle) in drehende 33

Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl.

Akustik

514

Bewegungen um die Stabachse versetzt. Diese Torsionsschwingungen sind die eigentlichen Transversalschwingungen eines Stabes, bei denen die schwingende transversale Bewegung in einer Verdrehung der einzelnen Stabquerschnitte gegeneinander besteht. (Vgl. hierzu die Ausführungen in Nr. 44.) Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Torsionswellen in einem Material der Dichte ρ ist demnach durch die Gleichung Έ β '

gegeben, wenn G den Torsionsmodul bedeutet. Die Frequenzen der Eigenschwingungen eines zu Torsionsschwingungen angeregten Stabes, der in der Mitte eingespannt ist, lassen sich durch die zu (IX, 13) ollkommen analoge Gleichung wiedergeben: (IX, 14)

vk =

trans



Q

(fc=o, 1,2,...),

woraus hervorgeht, daß auch hier die Oberschwingungen harmonisch zur Grundfrequenz sind. D a der Torsionsmodul stets kleiner als der Elastizitätsmodul ist, liegt der durch die Torsions Schwingungen eines Stabes erzeugte Grundton stets tiefer als der durch die Longitudinalschwin-

a

b

c

Abb. IX, 28. Biegeschwingungen eines Stabes (Stahllineal) bei sinusförmiger Anregung mit einem Wechselstrom-Magneten (50 Hz) a) Länge 22,5 cm, Eigenfrequenz 50 Hz, Maximalauslenkung der ersten Oberschwingung b) Dauerbeleuchtung c) Stroboskopische Beleuchtung (200 Hz) b) und c) Länge 9 cm, Eigenfrequenz 50 Hz, Grundschwingung

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

515

g u n g e n desselben Stabes h e r v o r g e b r a c h t e . B e s t i m m t m a n d a s F r e q u e n z v e r h ä l t n i s n o n g M r a n s , so liefern die G i n . (IX, 13) u n d (IX, 14) YE/G; u n t e r B e n u t z u n g der G l e i c h u n g E/G = 2 (1 + μ) a u s der M e c h a n i k ergibt dies ein einfaches V e r f a h r e n z u r E r m i t t l u n g der P o is s o η - Z a h l μ. E s ist: '2 =

2{1+μ),

und somit: 2

n

"J

-

1

D a bei der Torsion eines Stabes die Gestalt unverändert bleibt, liegt die Frage nahe, wie ein zu Torsionsschwingungen angeregter Stab Schall abstrahlen kann. Das beruht darauf, daß die verschiedenen in Festkörpern möglichen Wellentypcn sich durch Reflexion an den stets vorhandenen Inhomogenitäten und Kanten ineinander umwandeln, d. h. eine anfangs reine Torsionswelle hat alsbald Transversalund Longitudinal wellen zu. Folge, die dann die Abstrahlung ermöglichen. E i n e musikalische B e d e u t u n g k o m m t weder den L o n g i t u d i n a l - n o c h den Torsionsschwing u n g e n eines Stabes zu. D a g e g e n w e r d e n die B i e g e s c h w i n g u n g e n eines Stabes, denen wir uns jetzt z u w e n d e n , sehr häufig z u r T o n e r z e u g u n g h e r a n g e z o g e n . Sie h a b e n gegenüber d e n bisher b e t r a c h t e t e n

a

b

c

Abb. IX, 29. Biegeschwingungen eines Stabes (wie IX, 28) in stroboskopischer Beleuchtung (α und b) und in Dauerbeleuchtung (c). Eigenfrequenz 100 Hz a) Länge 16 cm 1. Oberschwingung b) Länge 26,7 cm 2. Oberschwingung c) Länge 37 cm 3. Oberschwingung

Akustik

516

Schwingungsformen die besondere Eigenart, daß ihre Oberfrequenzen nicht mehr ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz, d. h. nicht mehr harmonisch zur Grundfrequenz sind. In den Abb. IX, 28 und IX, 29 sind verschiedene Schwingungsformen von Biegeschwingungen eines einseitig eingespannten Stahllineals wiedergegeben. Damit erreicht man große Amplituden, muß aber eine starke, durch Luftreibung bedingte Dämpfung der Schwingungen in Kauf nehmen. Zum Ausgleich der Verluste wird der Stab mit einem Wechselstrommagneten sinusförmig angeregt. Um bei konstanter Anregungsfrequenz (50 Hz) verschiedene Schwingungsformen zu erhalten, muß man in diesem Fall die Stablänge variieren. Die Abb. IX, 28 b und c zeigen einen Stab, der in seiner Grundfrequenz schwingt, b in Dauer- und c in stroboskopischer Beleuchtung. Abb. IX, 28 a stellt die Maximalauslenkung eines Stabes dar, der in der ersten Oberfrequenz schwingt. Ein derartiges stehendes Bild erhält man, wenn die Stroboskopfrequenz mit der Eigenfrequenz des Stabes übereinstimmt. Die Schwingungsformen der ersten, zweiten und dritten Oberfrequenz sind in Abb. IX, 29 a, b und c zusammengestellt, a und b in stroboskopischer, c in Dauerbeleuchtung. Allen Schwingungsformen ist gemeinsam, daß sie am festen Ende zwangsläufig einen Knoten, am freien Ende einen Bauch besitzen. Bei den Oberschwingungen liegen dazwischen weitere Knoten. Diese haben untereinander annähernd gleiche Abstände; dagegen ist der Abstand zwischen der Einspannstelle und dem benachbarten Knoten immer etwas größer, da der Stab an der Einspannstelle nicht geknickt werden kann. Ist l die Stablänge, so gilt für die Wellenlänge λ/c der Oberschwingungen näherungsweise:

Die Grundschwingung (k = 0) ist von dieser Regel ausgenommen. Sieht man von der Ausnahme ab, so trifft man die gleiche Gesetzmäßigkeit bei den Eigenschwingungen einer einseitig geschlossenen Luftsäule an. Für den beiderseitig eingespannten Stab sowie für den beiderseitig freien Stab gilt die Beziehung ebenfalls. Der wesentliche Unterschied liegt nur darin, daß in diesen beiden Fällen eine Grundschwingungsform, wie sie beim einseitig eingespannten Stab auftritt, naturgemäß fehlt. In Abb. IX, 30 sind die Formen der Grundschwingung und der ersten drei Oberschwingungen eines beiderseitig freien Stabes mit übertriebener Amplitude gezeichnet. Man erhält sie, indem man den Stab an zwei Knotenstellen auf die Kanten zweier Keile auflegt oder ihn an diesen Stellen an Fäden aufhängt. Durch Bestreuen des Stabes mit feinem Sand lassen sich die Knoten sichtbar machen, da der Sand sich dort sammelt. Grundschwingung

1. Oberschwingung

2. Oberschwingung 3. Oberschwingung Abb. IX, 30. Biegeschwingungen eines an beiden Enden freien Stabes £ In der Grundschwingung beträgt der Abstand der Knotenstellen von den freien Enden des Stabes 0,224 der Stablänge, für die drei ersten Oberschwingungen sind die entsprechenden Werte 0,132, 0,094 und 0,074. Die Lage der übrigen Knoten ist derart, daß sie den Abstand zwischen den äußersten Knoten in angenähert gleiche Teile zerlegen; auch bei dieser Schwingungsform sind die Oberschwingungen unharmonisch.

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

517

Im Gegensatz zu den Wellenlängen (Eigenwerte λ^), die mit der Stablänge annähernd linear verknüpft sind, lassen sich die Eigenfrequenzen von Biegeschwingungen nicht mehr durch ein lineares Gesetz beschreiben. Die Theorie liefert für die Frequenz fk der fc-ten Eigenschwingung die Beziehung (IX, 15) Darin ist Ε der Elastizitätsmodul, ρ die Dichte und Α die Querschnittsfläche des Stabes. Ia ist das axiale Flächenträgheitsmoment, also eine nur von der Form des Querschnitts abhängige geometrische Größe. (Für einen rechteckigen Stab, der in Schwingungsrichtung gemessenen Dicke d und der Breite b ist Ia = y j bd3, für einen Stab mit kreisförmigem Querschnitt (Radius r) ist Ia = (π/4) · r 4 .) Die j*-Werte entsprechen den früheren Ordnungszahlen k. Für die Grundfrequenz des einseitig eingespannten Stabes ist so = 1,875. Beim beiderseitig freien und beiderseitig eingespannten Stab fehlt die entsprechende Frequenz. Für die «-Werte dieser beiden Systeme gilt in Übereinstimmung mit den «-Werten des einseitig eingespannten Stabes (ausgenommen so) in guter Näherung: sk = — - — π

fc=l,2,3,...

Die Näherung ist umso besser, je größer die Werte von k sind. Aber schon für k = 1 beträgt der Fehler nur 0,38%. Bemerkenswert ist ferner, daß die Eigenfrequenzen des beiderseitig eingespannten Stabes mit denen des beiderseitig freien Stabes exakt übereinstimmen und daß sich beide von den Oberfrequenzen des einseitig eir gespannten Stabes nur geringfügig unterscheiden. Diese Werte werden zusammengefaßt, indem die Näherungsformel für sie in Gl. (IX, 15) eingesetzt wird: (IX, 16) Mit Ausnahme der Grundfrequenz des einseitig eingespannten Stabes verhalten sich also die Eigenfrequenzen der Biegeschwingungen von Stäben (näherungsweise) wie die Quadrate der ungeraden Zahlen von 3 an aufwärts. Wendet man Gl. (IX, 16) auf einen Stab mit rechteckigem Querschnitt an und setzt die entsprechenden Werte für I a und Α ein, so zeigt sich, daß die Breite des Stabes (d. h. die Querabmessung senkrecht zur Schwingung) für die Schwingungszahl keine Rolle spielt. Die Abhängigkeit der Grundfrequenz eines einseitig eingespannten Stabes von der in Betracht kommenden Querabmessung kann man nach W h e a t s t o n e in der Weise zeigen, daß man einen dünnen Stab mit rechteckigem Querschnitt benutzt und diesen gleichzeitig in den b e i d e n R i c h t u n g e n der Rechteckseiten schwingen läßt. Sein oberes freies Ende beschreibt dann bei richtiger Wahl des Querschnitts eine stehende Lissajous-Figur, wie sie Abb. IX, 31 andeutet. Diese A*t7

Abb. IX, 31. Kaleidophon nach Wheatstone

Abb. IX, 32. Schwingungsform eines in der Mitte verdickten Stabes

518

Akustik

Diese L i s s a j o u s - F i g u r ist gut sichtbar, wenn man das Stabende mit einer polierten Metallkugel versieht und intensiv beleuchtet. Biegeschwingungen von beiderseitig freien Stäben werden zur Erzeugung von Tönen, ζ. B. beim Glockenspiel und beim Xylophon benutzt. Die Stäbe liegen dabei mit den zur Grundschwingung gehörigen Knoten auf Schnüren oder Filzstreifen auf; dadurch werden die unharmonischen Oberschwingungen, deren Knoten an anderen Stellen liegen, ausgeschlossen. Sie werden mit einem weichen Hammer angeschlagen. Als einseitig eingeklemmte Stäbe sind die s c h w i n g e n d e n Z u n g e n in den Spieldosen, bei den Zungenpfeifen der Orgel und des Harmoniums, und in der Zieh- und der Mundharmonika zu erwähnen. Die Zungen in den Spieldosen bestehen aus einer Anzahl nebeneinander liegender schmaler Stahlstreifen verschiedener Länge; sie werden durch kleine Stifte, die auf einer rotierenden Walze sitzen, ausgebogen und nach dem Vorbeigleiten des Stiftes zum Schwingen gebracht. Die Zungen in den übrigen Instrumenten werden durch Luftströme zu Schwingungen angeregt.

Macht man die Mitte eines Stabes dicker als die Enden (Abb. IX, 32), so rücken die Knoten bei der Grundschwingung des frei-freien Stabes immer weiter nach der Mitte zusammen, und es zeigt sich, daß dann die (unharmonischen) Obertöne schwerer erzeugt werden. Gibt man dem Stab durch Aufbiegen der Enden eine U-förmige Gestalt, so daß die beiden Stabhälften parallel oder nahezu parallel verlaufen, und setzt man an den Grund der Biegung einen Stiel an, so entsteht eine Stimmgabel. Schlägt man sie an, oder streicht mit einem Geigenbogen über die Enden der beiden Zinken, so schwingt sie in der in Abb. IX, 33 b angedeuteten Form. Dabei nähern sich in der einen halben Periode die beiden Stimmgabelenden und entfernen sich in der darauffolgenden Halbperiode

a"aa ü'bb"

Ψ i: ·: !ι

;

'• !

/ Abb. IX, 33. Stimmgabel (α) und ihre Schwingungsform (b)

Abb. IX, 34. Verbesserung der Schallabstrahlung bei einer Stimmgabel durch eine Schallwand

Abb. IX, 35. Schallwellenausbreitung um die Zinken einer Stimmgabel

voneinander, während die Knotenstellen c unbeweglich bleiben. Gleichzeitig hebt und senkt sich bei vertikaler Stellung der Stimmgabel das zwischen den Knotenstellen liegende Stück mit dem daran befindlichen Stiel. Die Stimmgabel erzeugt einen praktisch von Oberschwingungen freien, also einfachen Ton; darauf beruht ihre Bedeutung in der Akustik. — Als Normalstimmgabel diente früher eine Stimmgabel mit der Frequenz 435 Hz, neuerdings ist dieser Normalton auf 440 Hz festgesetzt worden. Die Stimmgabel ist aus den gleichen Gründen wie die Saite ein schlechter Schallstrahler. Jede Stimmgabelzinke erzeugt beim Schwingen auf der einen Seite eine Luftverdichtung und gleichzeitig auf der anderen eine Luftverdünnung. Die von diesen Stellen ausgehenden Wellenzüge haben also eine Phasendifferenz von 180° und löschen sich in bestimmten Richtungen aus. Man kann diese für die Schallabstrahlung störende Interferenz dadurch beseitigen, daß man nach Abb. IX, 34 eine Zinke der Stimmgabel in den Ausschnitt einer Pappe hält; dann empfindet man vor der Pappe eine merkliche Steigerung der Lautstärke.

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

519

Dreht man eine in senkrechter Lage vor das Ohr gehaltene Stimmgabel um ihre Längsachse, so verschwindet der Ton während einer Umdrehung viermal. Diese Erscheinung kommt folgendermaßen zustande: Wenn die beiden Zinken nach außen schwingen, erzeugen sie in der umgebenden Luft vor sich Verdichtungen und gleichzeitig im Raum zwischen den Zinken eine Verdünnung. In einem Schnitt senkrecht zur Zinkenrichtung entsteht dadurch eine Wellenausbreitung entsprechend der schematischen Abb. IX, 35; auf bestimmten Flächen interferieren die einzelnen Wellenzüge paarweise zu Null. Diese Nullflächen der Schallamplitude schneiden die Zeichenebene von Abb. IX, 35 in einer Hyperbel, deren Hauptachse mit der Schwingungsrichtung der Zinken zusammenfällt. Setzt man eine schwingende Stimmgabel mit ihrem Stiel auf eine feste Unterlage, ζ. B. eine Tischplatte, so wird diese durch die Längsschwingungen des Stieles in periodische Bewegungen mit der Stimmgabelfrequenz versetzt und strahlt infolge ihrer großen Oberfläche den Schall besser an die umgebende Luft ab. Eine besonders gute Schallabstrahlung erhält man durch Befestigen der Stimmgabel auf der Oberseite eines flachen Holzkastens, bei dem eine bzw. beide Stirnseiten offen sind (Abb. IX, 36). Durch die Schwingungen des Stimmgabelstieles wird der Abb. IX, 36. Stimmgabel auf Resonanzkasten

Abb. IX, 37. Elektromagnetisch angeregte Stimmgabel Kastendeckel und durch diesen die Luft im Kasten in Schwingungen versetzt. Diese Schwingungen der Luft im Kasten werden besonders intensiv, wenn man durch geeignete Abmessungen der Kastenlänge die Luftsäule darin auf den Ton der Stimmgabel abstimmt ( R e s o n a n z k a s t e n ) . Zu diesem Zweck muß die Länge des einseitig offenen Kastens gleich \ Wellenlänge, die des beiderseitig offenen Kastens gleich $ Wellenlänge der Schwingung der Stimmgabel in Luft sein; denn ersterer ist eine „gedackte", letzterer eine „offene" Pfeife. Die Schwingungszahl einer Stimmgabel läßt sich innerhalb gewisser Grenzen durch Anbringen kleiner Massen an den Stimmgabelzinken verändern. Der Ton der Stimmgabel wird um so tiefer, je größer die verschiebbaren Massen sind, und je näher man sie an das Ende der Zinken heranschiebt. Zur Erzeugung sehr hoher Töne verwendet man Stimmgabeln mit sehr kurzen und sich nach dem Ende zu verjüngenden Zinken. Da bei einer schwingenden Stimmgabel die Schwingungsenergie zum Teil als Schall an die umgebende Luft abgegeben, zum Teil durch Reibung in Wärme verwandelt wird, kommt eine einmal angeschlagene Stimmgabel nach einiger Zeit zur Ruhe: Die Schwingung ist gedämpft. Häufig ist es jedoch erwünscht, ungedämpfte Schwingungen und damit einen Ton von gleichbleibender Stärke zu erzeugen. Dies gelingt ζ. B. mit der in Abb. IX, 37 skizzierten von H e l m h o l t z angegebenen elektromagnetischen Erregung. Zwischen den Stimmgabelzinken befindet sich ein Elektromagnet A. Der von einer Batterie Β zugeführte Strom fließt über die Kontaktschraube Κ zu einer an der Stimmgabelzinke befestigten Feder F. Werden die Stimmgabelzinken durch den Elektromagneten angezogen, so wird der Kontakt geöffnet, der Strom unterbrochen, und die Zinken können nach außen schwingen. Dadurch wird der Strom erneut geschlossen usw.; auf diese Weise wird die Stimmgabel immer wieder zu Schwingungen angeregt. Bisher wurde die Tonerzeugung durch Saiten und Stäbe beschrieben. Das gasförmige Analogon, die Luftsäule, ist ebenfalls zu Eigenschwingungen fähig, wie bereits mit der Kundtschen

520

Akustik

Röhre festgestellt wurde. Die Gesetzmäßigkeiten sind im wesentlichen die gleichen wie bei der schwingenden Saite. Zunächst folgender Versuch: Über die obere Öffnung eines Glasrohres G von einigen Zentimetern Durchmesser, das mit Wasser gefüllt ist, und dessen unteres Ende durch einen Schlauch mit einem Vorratsgefäß Α in Verbindung steht (Abb. IX, 38), halten wir eine Stimmgabel von bekannter Schwingungszahl. Verändern wir durch Heben oder Senken von Α den Wasserspiegel in G und damit die Länge / der darüber befindlichen Luftsäule, so hören wir bei ganz bestimmten Längen / ein kräftiges Mittönen der Luftsäule (Resonanz). Berechnet man aus der bekannten Stimmgabelfrequenz und der Schallgeschwindigkeit in Luft die zugehörige Wellenlänge, so findet man, daß das Mittönen der Luftsäule dann und nur dann eintritt, wenn / = 5 λ, § λ, £ λ, ... ist. Die Länge der kürzesten, auf einer Seite geschlossenen Luftsäule, die von einem schwingenden Körper zum Mitschwingen angeregt wird, ist also gleich einem Viertel der Schallwellenlänge, die von dem schwingenden Körper ausgeht. Daß dies so

Abb. IX, 38. Nachweis der Resonanz von Luftsäulen

sein muß, folgt einfach aus dem Umstand, daß jedenfalls am geschlossenen Ende ein Bewegungsknoten, am offenen ein Bewegungsbauch liegt. Diese Bedingung ist aber nur erfüllt, wenn die Länge der mit einem Ton gegebener Wellenlänge λ in Resonanz befindlichen Luftsäule entweder gleich £ λ oder § λ oder £ λ usw. ist, wie wir experimentell soeben feststellten. — Im obigen Versuch war die Wellenlänge λ des Tones gegeben und die Länge / der Luftsäule wurde variiert, bis Resonanz eintrat. Man kann aber auch umgekehrt die Länge / der Luftsäule konstant halten und die verschiedenen Töne mit den Wellenlängen λο, λι, λι,... bestimmen, die mit der gegebenen Luftsäule in Resonanz stehen. Durch dieselbe Überlegung folgt, daß dies nur solche Wellenlängen sein können, für die entweder / = 5 λ (tiefster Ton) oder / = | A1 (nächst höherer Ton) oder l = f usw. ist. Diese Schwingungen sind also die E i g e n s c h w i n g u n g e n (Grundschwingung und Oberschwingungen) d e r g e g e b e n e n L u f t s ä u l e . Nennt man die Frequenz der Grundschwingung i>o, so ist VQXQ = VQ 4 l = CL, wenn CL die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in Luft bedeutet. Also ist die Frequenz der Grundschwingung 1 Vo = 4 ^ L , und für die sämtlichen Eigenfrequenzen vjc der einseitig geschlossenen Luftsäule folgt ebenso: (IX, 17)

=

(fc = 0 , 1 , 2 , . . . ) .

Die Oberschwingungen sind demnach hier die u n g e r a d z a h l i g e n H a r m o n i s c h e n der Grundschwingung. Als Beispiel sei angeführt, daß bei einer einseitig geschlossenen Luftsäule

521

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

von 50 cm Länge bei 20 °C die Grundschwingung VQ = 172 Hz, die erste Oberschwingung vi = 3 · 172 = 516 Hz und die zweite Oberschwingung j»2 = 5 · 172 = 860 Hz beträgt. Man kann die obigen Betrachtungen noch in folgender Hinsicht ergänzen: In der Wellenlehre ist darauf hingewiesen worden, daß zwischen Knoten und Bäuchen der Bewegung (Schnelle) einerseits und Knoten und Bäuchen des Druckes anderseits zu unterscheiden ist, sowie, daß bei stehenden Wellen die Knoten der Bewegung mit den Bäuchen des Druckes zusammenfallen und umgekehrt. Richtet man also seine Aufmerksamkeit nicht auf die Bewegung, sondern auf den Druck, so kann man auch sagen, daß am geschlossenen Ende der Luftsäule ein Druckbauch und am offenen Ende ein Druckknoten liegt. Das ist unmittelbar anschaulich, weil beim Anströmen der Luftteilchen gegen das geschlossene Ende ein Druckanstieg, beim Abströmen ein Druckabfall, mit anderen Worten ein Druckbauch sich bilden muß; am offenen Ende dagegen, wo die freie Zu- und Abströmung der Luft nicht behindert ist, kann keine Druckänderung auftreten, dort ist also ein Druckknoten vorhanden. — Diese beiden gleichberechtigten Betrachtungsweisen sind in Abb. IX, 39 nebeneinander zur Darstellung gebracht, und zwar für die Grundschwingung und die beiden ersten Oberschwingungen. Abb. IX, 39 a stellt die Grundschwingung (k = 0) dar, und zwar ist durch die Schraffierung der Druck- (bzw. Dichte-) Verlauf / = £4

/ « 4u

/ - J4 *

Ao = 4/

4 Ai = - / 3

4 λζ=-1 5

ίο = Ό

>i

= 3 »o

'2

4 4 Ajt = —;—-l 2k + 1

= 5 ίο

ι*

= (2 k + 1) i'o

Abb. IX, 39. Eigenschwingungen einer einseitig geschlossenen Luftsäule

ι ; /

/

Abb. IX, 40. Eigenschwingungen einer beiderseits offenen Luftsäule

ι I I

c / 3 ' = J Λ2

/ = jAi λο = 21

Ai = /

h

i'O = Ό

>Ί = 2 ro

i'g = 3 ί ο

=

\

l

/ *+ 1 j ' = ~~2— k h

=

kT\l

>'* = (&+ 1) ν

522

Akustik

in dem Rohr angegeben. A m geschlossenen Ende herrscht maximale Verdichtung bzw. Verdünnung, am offenen Ende normale Dichte. Die Bewegungsrichtung der Teilchen ist durch den Pfeil an der linken Seite, die jeweilige Bewegungsamplitude durch die punktierte Kurve an der rechten Seite angedeutet. Letztere zeigt, daß am geschlossenen Ende ein Bewegungsknoten, am offenen Ende ein Bewegungsbauch liegt. Im Innern der Luftsäule ist kein Bewegungsbauch vorhanden. Ebenso stellt Abb. I X , 39 b Druck- und Bewegungsverteilung für die erste Oberschwingung (k = 1) dar. Hier befindet sich ein Bewegungsbauch im Abstand ^λχ = f / vom oberen Ende. In Abb. IX, 39 c haben wir zwei Bewegungsbäuche für die zweite Oberschwingung (k = 2) in den Abständen j Ä2 = f / und λ% = f / vom oberen Ende. Man erkennt, daß die Ordnungszahl k hier die Zahl der Bewegungsbäuche im Innern der Luftsäule angibt. Wie liegen die Verhältnisse bei einer Luftsäule in einem beiderseitig offenen Rohr? Wir machen zunächst wieder einen Versuch, indem wir vor ein ausziehbares beiderseitig offenes Rohr eine Stimmgabel halten. Verändern wir die Länge des Rohres, so finden wir, daß die Luftsäule im Rohr in kräftiges Mitschwingen kommt, wenn die Rohrlänge λ_

2λ_



beträgt. Dies erklärt sich wiederum leicht, da an den offenen Rohrenden ein Bewegungsbauch (bzw. Druckknoten) liegen muß. Umgekehrt sind also mit einem Rohr fester Länge / nur solche Wellen in Resonanz, für die entweder / = \ λο oder / = \ λι oder / = § ... ist. Es ist also '

/.Q

l · -—2 — - 2- 1j - , ... — ΔΙ, Λ, ,1 λ2 —

Die Eigenfrequenzen sind also der Reihe nach v0, 2 vo, 3 VQ, · · ·, verhalten sich mithin wie die ganzen Zahlen, bilden demnach die ganze Reihe der harmonischen Eigenschwingungen. Für die Eigenfrequenzen ν χ einer beiderseitig offenen Luftsäule von der Länge / ergibt sich also: ( I X , 18)

Vk =

^±l

C L

,

(k = 0 , 1 , 2 , . . . ) ,

genau wie bei der Saite — Gl. ( I X , 11) — und dem frei-freien Stab — Gl. ( I X , 13) —. Die Ordnungszahl k ist gleich der Anzahl der Bäuche im Innern des Rohres. Die Schwingungsverhältnisse in einer beiderseitig offenen Luftsäule sind für die drei ersten Oberschwingungen in Abb. I X , 40 in derselben Weise wie für die einseitig geschlossene dargestellt. Aus den Abb. IX, 39 und I X , 40 sowie aus den Gin. ( I X , 17) und ( I X , 18) folgt, daß die Grundschwingung einer beiderseits offenen Luftsäule die doppelte Frequenz hat, wie die der einseitig geschlossenen. Man zeigt dies sehr einfach, indem man mit der flachen Hand gegen das eine Ende einer offenen Glas- oder Metallröhre schlägt. Dadurch wird die Luft in der Röhre zu Schwingungen angestoßen, und die Luftsäule tönt für einen kurzen Augenblick. Je nachdem man das andere Rohrende offen läßt (beiderseits offenes Rohr) oder mit der anderen Hand verschließt (einseitig geschlossenes Rohr), erhält man einen höheren bzw. tieferen Ton, deren Schwingungszahlen sich wie 2:1 verhalten. Damit eine beiderseitig offene Röhre denselben Grundton gibt wie eine einseitig geschlossene, muß sie doppelt so lang sein wie diese. Die Gin. (IX, 17) und (IX, 18) und damit das im vorhergehenden Gesagte gelten nur angenähert. Wie H e l m h o l t z gezeigt hat, liegen die Bäuche der Bewegung nicht genau in der Öffnungsebene des Rohres, sondern reichen in die umgebende Luft um so mehr hinein, je größer der Rohrdurchmesser im Verhältnis zur Rohrlänge ist. Man muß daher an Stelle der wirklichen Rohrlänge / bei einer einseitig geschlossenen Luftsäule eine reduzierte Rohrlänge /* = / + $ einsetzen, wobei das Korrektionsglied s = \ nR ist, wenn R den Radius der Röhre angibt; für eine beiderseitig offene Luftsäule ist diese Mündungskorrektur für jedes Ende anzubringen. Gedämpfte Schwingungen von Luftsäulen spielen bei der Celesta und beim Marimbaphon eine Rolle. Bei beiden Instrumenten werden ähnlich wie beim Xylophon zunächst Stäbe durch Anschlagen zu Biegeschwingungen angeregt. Unter 'edem Stab befindet sich jedoch zusätzlich ein Resonator (meist ein

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

523

einseitig geschlossenes Rohr) mit der gleichen Grundfrequenz wie der Stab. Wird der Stab angeschlagen, so beginnt augenblicklich auch die darunter befindliche Luftsäule zu schwingen, die dann den Schall viel besser abstrahlt als der Stab allein. Nicht nur röhrenförmige, sondern auch beliebig geformte, gasgefüllte Hohlräume lassen sich zu Resonanzschwingungen erregen. Diese Tatsache wurde bereits von H e l m h o l t z zur Klanganalyse ausgenutzt, weshalb man solche Hohlräume gewöhnlich als H e l m h o l t ζ-Resonatoren bezeichnet. Die Schwingung erfolgt ebenso wie die Schwingung einer Masse m, die an einer Feder mit der Federkonstanten k befestigt ist. Für die Eigenfrequenz dieses Systems gilt: (IV, 29)

co =

Bei dem Resonator (Abb. IX, 41) wirkt das kompressible Gasvolumen V des Hohlraumes wie eine Feder, während die Gasmasse ρ • A • l des Resonatorhalses von der Länge / und der Querschnittsfläche Α die schwingende Masse bildet. Für die Eigenfrequenz des Resonators erwar-

ten wir einen ähnlichen Ausdruck wie in Gl. (IV, 29); doch muß noch eine Konstante eingehen, die das im Hohlraum enthaltene Gas charakterisiert. Wir berechnen zunächst die Federkonstante des Gasvolumens V, die in diesem Fall als Steife S bezeichnet wird. Unter der Annahme, daß die Druckänderungen so schnell erfolgen, daß kein Wärmeaustausch mit der Umgebung stattfinden kann, gilt der adiabatische Kompressionsmodul Κ eines Gases nach den Ausführungen in der Mechanik der Flüssigkeiten und Gase (wobei der Ruhedruck ρ zur Unterscheidung vom Schalldruck mit dem Index „0" versehen wird): (IX, 19)

K = - V ^ =

p0x.

Die Druckänderung Δ ρ entsteht durch eine Kraft Δ F, die auf die Fläche Α wirkt:

Für die Volumenänderung Δ V bei Verschiebung der Gasmasse im Resonatorhals um die Strecke Al gilt, da sich V und / gegensinnig verhalten: AV=

—Α-ΔΙ.

Durch Einsetzen dieser Ausdrücke in Gl. (IX, 19) erhält man nach Umformung: AF ÄT~

_ρ0κ·Α2 V '

Der Ausdruck ΔF/ΔΙ, d. h. die Kraft, die zur Verschiebung um die Strecke Δl nötig ist, stellt die gesuchte Steife S dar. Die Masse des Gasvolumens im Resonatorhals beträgt A · l · ρ, wo ρ die Gasdichte bedeutet. Mit Kenntnis der Ausdrücke für Masse und Federkonstante ergibt sich somit:

524

Akustik Α·ρ0κ ω=]/Ύτ/Τ'

Beachten wir nun noch, daß der Ausdruck ροκ/ο gerade das Quadrat der Schallgeschwindigkeit c darstellt, und addieren wir zur Länge / die Mündungskorrektur ί auf beiden Seiten des Resonatorhalses so erhalten wir für die Eigenfrequenz des Resonators endgültig: (IX, 2 0 )

ω = ε·

V-(l + 2s)'

Diese Gleichung gilt, wie das Experiment zeigt, auch für / = 0, d. h. für einen Hohlraum, der anstelle des Resonatorhalses nur eine einfache Öffnung besitzt. Es existiert also nur eine einzige Resonanzfrequenz, solange die größte Abmessung des Hohlraumes klein gegen die Wellenlänge ist. H e l m h o l t z führte mit Hilfe dieser Eigenschaft des Hohlraumes die erste Klanganalyse durch und gelangte damit zu erstaunlich genauen Ergebnissen. In Abb. I X , 42 sind zwei dafür bestimmte Ausführungsformen wiedergegeben. Die hohlkugelartige, aus Glas oder Messing hergestellte Form α besitzt eine weite Öffnung Α und eine kleine Öffnung B, die ins Ohr eingeführt wird. Ist nun in einem im Außenraum vorhande-

Abb. IX, 42. Luftresonatoren a) Kugelresonator nach Helmholtz b) veränderlicher Resonator nach K ö n i g

b nen Klang (d. h. Tongemisch) eine Schwingung enthalten, die mit dem Eigenton des Resonators übereinstimmt, so gerät dieser in Resonanz, so daß der Ton selbst von ungeübten Beobachtern leicht zu hören ist. In dieser Weise können unter Benutzung eines geeichten Satzes verschiedener Resonatoren Klänge vollständig analysiert werden. Abb. IX, 42b zeigt eine etwas andere Ausführung, bei der sich die Größe des Hohlraumes und damit die Eigenschwingung durch Ausziehen innerhalb gewisser Grenzen verändern läßt. Eine wichtige Anwendung des H e l m h o l t z - R e s o n a t o r s begegnet uns in der schallabsorbierenden Lochplatte. Dies ist eine Platte mit äquidistanten Löchern, die in einem bestimmten Abstand vor der Zimmerwand angebracht ist (Abb. IX, 43). Denkt man sich das Luftvolumen zwischen Platte und Wand so unterteilt, daß jedem Loch ein gleiches Teilvolumen zugeordnet wird (in Abb. I X , 43 ist dies durch gestrichelte Trennlinien angedeutet), so stellt die ganze Anordnung nichts anderes als eine große Zahl von H e l m h o l t ζ-Resonatoren dar. Trifft nun eine Schallwelle auf die Platte, so wird das Luftvolumen innerhalb jeder Plattenbohrung in Resonanzschwingungen versetzt und ein großer Teil der Schallenergie durch Reibung an der Wand der Bohrung in Wärme umgesetzt. Damit die Anordnung, die j a bei idealer Parallelität von Wand

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

525

und Platte nur auf eine Frequenz anspricht, einen größeren Frequenzbereich absorbiert, sorgt man meist für eine leichte Neigung der Platte gegenüber der Wand. L

W

Abb. IX, 43. Zur Wirkungsweise der schallabsorbierenden Lochplatte {W = Wand, L = Lochplattt) Ein Auto, das bei geöffnetem Seitenfenster mit hinreichender Geschwindigkeit fährt, wird zu einem H e l m h o l t ζ-Resonator, dessen Frequenz wegen des großen Volumens sehr niedrig ist (sie liegt zwischen 5 und 10 Hz, also im Infraschallbereich). Durch die vorbeiströmende Luft wird das Luftvolumen im Wageninnern nach dem Mechanismus der angeblasenen Flasche zu ungedämpften, sinusförmigen Schwingungen angeregt, die man nicht als Ton wahrnimmt, sondern als unangenehme Vibrationen empfindet. Die oft erhebliche Schalldruckamplitude, die dabei auftritt, kann bei längerer Einwirkung zu Gehörschäden führen.

Ein System tief abgestimmter Helmholtz-Resonatoren stellt ferner der Auspuffdämpfer eines Kraftwagens dar. Es handelt sich dabei um eine Anzahl meist zylinderförmiger Kammern unterschiedlicher Größe, die durch Röhren miteinander verbunden sind. Jede Kammer bildet zusammen mit dem Anschlußrohr einen Helmholtz-Resonator, der durch die Explof'.onsgeräusche des Motors zu gedämpften Schwingungen angeregt wird. Alle Frequenzen, die genügend weit oberhalb der (sehr tiefen) Eigenfrequenz des Resonators liegen, werden stark geschwächt. Dagegen werden tiefe Frequenzen, die nicht so störend wirken, ebenso wie die Gleichströmung der Abgase ungehindert durchgelassen. Der Auspuffdämpfer stellt deshalb ein sog. Tiefpaßfilter dar. Weitere Schallsender sind Membranen und Platten, die man durch einfaches Anschlagen in Schwingungen versetzen kann. Zwischen diesen besteht der gleiche Unterschied wie zwischen einer Saite und einem Stab. Eine Membran ist ein so dünnes flächenhaftes Gebilde, daß sie einer Verbiegung keinen Widerstand mehr entgegensetzt; sie kann daher mechani' :he Schwingungen nur ausführen, wenn sie durch eine äußere Kraft straff gespannt wird. Im Gegensatz dazu besitzt eine Platte infolge ihrer Dicke so viel Biegungselastizität, daß sie ohne äußere Kräfte elastische Schwingungen ausführen kann. Membranen und Platten können sowohl longitudinal als auch transversal schwingen. Von praktischer Bedeutung sind freilich nur die Transversal- oder besser Biegeschwingungen. Als Material für Membranen kann Papier, tierische Haut, Metallfolie und (für Demonstrationsversuche) eine Seifenhaut dienen. Da eine Membran nur ι gespanntem Zustand schwingen kann, muß sie in einem Rahmen befestigt sein; der Rand der Membran wird daher stets eine K n o t e n l i n i e der Bewegung sein. (Die K n o t e n p u n k t e der eindimensionalen Schallsender gehen hier natürlich in K n o t e n l i n i e n über). Für die Eigenfrequenzen einer quadratischen Membran von der Seitenlänge / liefert die Theorie die Beziehung:

wobei σ die Spannung, ρ die Dichte bedeuten, und h und k die Reihe der ganzen Zahlen 1, 2, 3 , . . . durchlaufen. Gl. (IX, 21) ist offensichtlich das zweidimensionale Analogon zu den Gin. (IX, 10) und (IX, 11) für die Saite. Die Größen h und k sind die hier zweifach auftretenden Ordnungszahlen: Sie geben die Anzahl der Knotenlinien an. Die untenstchende Tabelle gibt Aufschluß über die ersten Eigenfrequenzen, die als Vielfache der Grundfrequenz voo angegeben sind.

526

Akustik

Es tritt also neben den harmonischen Obertönen 2, 3 , 4 , . . . , die in der Tabelle unterstrichen sind, eine weit größere Zahl unharmonischer Obertöne auf. Während bei der Grundschwingung die Membran nur am Rande in Ruhe ist, schwingt sie bei den höheren Oberschwingungen in einzelnen Teilen, zwischen denen sich mehr oder weniger komplizierte Knotenlinien ausbilden. Diese lassen sich durch aufgestreuten Sand sichtbar machen; er wird an den Bäuchen in die Höhe geworfen und bleibt nur an den Knotenlinien liegen. h

k

vhklvoo

h

k

Vftfc/'OO

0

0

1,00 1,58 2,24 2,92 3,60

2

0 1 2 3 4

2,24 2,56 3,00 3,53 4,12

1,58 2,00 2,56 3,16 3,80

3

0 1 2 3 4

2,92 3,16 3,53 4,00 4,53

1 2 3 4 1

0

1 2 3 4

h

k

Vhklvo0

4

0 1 2 3 4

3,60 3,80 4,13 4,53 5,00

Abb. IX, 44. Knotenlinien einer kreisförmigen Membran. Die Zahlen geben die relativen Schwingungszahlen bezogen auf die Grundschwingung an; die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Radien der Knotenkreise in Bruchteilen des Membranradius

In Abb. IX, 45 sind einige Oberschwingungen einer kreisförmigen Seifenlamelle dadurch sichtbar gemacht, daß die Lamelle im reflektierten Licht photographiert wurde. In diesem Fall erscheinen alle die Stellen besonders hell, an denen sich die Lamelle parallel zu sich selbst bewegt. Das sind die Stellen der Schwingungsbäuche. In der Grundschwingung liefert dies nur in der Mitte der Lamelle einen punktförmigen Lichtfleck. Die Zahlen unter den Aufnahmen der Abb. IX, 45 bedeuten dasselbe wie in Abb. IX, 44.

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

3,60

4,90

6,21

Abb. IX, 45. Oberschwingungen einer kreisförmigen Seifenlamelle in reflektiertem Licht photographiert. Die hellen Stellen sind die Schwingungsbäuche. Die Zahlen bedeuten dasselbe wie in Abb. IX, 44 Ähnlich liegen die Verhältnisse bei einer kreisförmigen Membran. In Abb. IX, 44 sind die bei den ersten zwölf Oberschwingungen einer kreisförmigen Membran auftretenden Knotenlinien gezeichnet; sie stellen Kreise und Durchmesser dar. Die Zahlen geben die relativen Schwingungszahlen, bezogen auf die Grundschwingung voo, an. Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Radien der Knotenkreise in Bruchteilen des Membranradius. Wie man aus diesen Angaben ersieht, hat die kreisförmige Membran nur unharmonische Oberschwingungen. Schwingende, aus Tierhaut gebildete Membranen dienen bei der P a u k e und der T r o m m e l als Schallquellen. Die Frequenz wird allerdings durch das angeschlossene Luftvolumen etwas beeinflußt. Während die Membran das zweidimensionale Analogon zur Saite darstellt und nur in gespanntem Zustande schwingungsfähig ist, bildet die Platte das Gegenstück zum Stab und ist demnach infolge ihrer Biegesteife zu Schwingungen befähigt. C h l a d n i hat (1787) die Aufmerksamkeit auf die außerordentlich große Mannigfaltigkeit der Schwingungsmöglichkeiten von Platten gelenkt; die dabei auftretenden Knotenlinien machte er durch Aufstreuen von Sand sichtbar (Chladnische Klangfiguren). U m sie zu erzeugen, streicht man die etwa in der Mitte auf einem Stativ horizontal befestigte Platte am Rande in vertikaler Richtung mit einem Geigenbogen an. Durch gleichzeitiges Festhalten eines oder mehrerer Randpunkte mit den Fingern kann man verschiedene Schwingungsformen erzwingen. In den Abb. IX, 46a bis IX, 46k

b k k

f

g

h

i

k

Abb. IX, 46. Chladnische Klangfiguren einer quadratischen und kreisförmigen Platte

528

Akustik

sind als Beispiele Klangfiguren einer quadratischen und einer kreisrunden Metallplatte wiedergegeben. Die Platten wurden an der mit b bezeichneten Stelle angestrichen und an den mit k gekennzeichneten Stellen festgehalten. Zwei benachbarte, durch eine Knotenlinie getrennte Teile der Platte schwingen stets in entgegengesetzter Richtung senkrecht zur Plattenebene; infolgedessen teilt sich eine kreisförmige Platte naturgemäß in eine g e r a d e A n z a h l von schwingenden Sektoren, die durch radiale Knotenlinien voneinander getrennt sind. Man sieht, daß aber auch andere, weniger regelmäßige Klangfiguren entstehen können. Die Abb. IX, 47 zeigt einige Schwingungsformen eines runden Mikroskop-Deckgläschens, das durch Anblasen mit einer G a l t o n - P f e i f e zu Eigenschwingungen angeregt wurde: Man erkennt sehr schön das Auftreten der konzentrischen Knotenkreise, deren Zahl mit wachsender Frequenz zunimmt.

Abb. IX, 47. Chladnische Klangfiguren eines kreisförmigen Mikroskop-Deckgläschens Jeder Klangfigur entspricht ein bestimmter Ton. Seine Frequenz ist um so höher, je komplizierter die Schwingungsfigur ist. Die Frequenz ist ferner der Plattendicke direkt proportional und steigt bei kreisförmigen Platten umgekehrt mit dem Quadrat des Plattenradius an. Da die Platten Biegeschwingungen ausführen, sind die Eigenfrequenzen — wie bei den transversal schwingenden Stäben — außer von der Dichte ρ noch vom Elastizitätsmodul Ε abhängig; infolge der Zweidimensionalität kommt aber (im Gegensatz zu den Stäben) noch eine Abhängigkeit von dem Querkontraktionskoeffizienten μ hinzu. Die theoretische Behandlung der Plattenschwingungen ist nur mit größeren mathematischen Hilfsmitteln möglich. Für kreisförmige Platten mit freischwingendem Rand haben zuerst Poisson und K i r c h h o f f diese Aufgabe gelöst, während für quadratische und rechteckige Platten mit freischwingendem Rand die exakten Lösungen auch heute noch nicht bekannt sind. Für diese hat aber R i t z ein Näherungsverfahren angegeben, das sich auch auf Platten von anderer Gestalt anwenden läßt. Schwach gekrümmte Platten sind das B e c k e n und der G o n g . Als stark gekrümmte Platten kar.n man die Glocken auffassen; sie sind das zweidimensionale Analogon zur Stimmgabel. Sie schwingen beim Grundton mit zwei durch den Aufhängepunkt gehenden, zueinander senkrecht verlaufenden Knotenlinien, entsprechend der Abb. IX, 46 f bei der runden Platte. Dabei vollführt der untere Glockenrand die in Abb. IX, 48 gezeichnete Bewegung. Er

wird durch die Knotenpunkte Κ in vier Teile geteilt, die abwechselnd nach außen und nach innen schwingen. Man kann diese Aufteilung der Glockenschale an einem teilweise mit Wasser gefüllten größeren Weinglas zeigen, indem man dieses am Rande mit dem Geigenbogen an-

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

529

streicht. Dort, wo die Glaswandungen schwingen, findet eine Kräuselung der Flüssigkeitsoberfläche (Kapillarwellen) und bei starker Erregung sogar ein Aufspritzen des Wassers statt. Auch Festkörper anderer Gestalt lassen sich zu gedämpften Schwingungen anregen. Schlägt man ζ. B. einen Metallwürfel oder eine Metallkugel mit einem Holzhammer an, so hört man deutlich einen bestimmten Klang. Kubische oder zylindrische Körper werden gelegentlich in der Ultraschalltechnik als Schallsender benutzt. Die beim C h i a d n i s e h e n Problem der Plattenschwingungen erwähnten mathematischen Schwierigkeiten finden sich hier in verstärktem Maße wieder, so daß strenge Lösungen nur für wenige Fälle bekannt sind. Deshalb sei nur darauf hingewiesen, d a ß man aus den Eigenschwingungen durchsichtiger Festkörper die elastischen Konstanten des betreffenden Stoffes mittels optischer Verfahren bestimmen kann. Dabei macht man sich die Tatsache zunutze, daß ein durchsichtiger Körper, der elastischen Spannungen ausgesetzt ist, optisch doppelbrechend wird und als Polarisator f ü r Lichtwellen wirkt. Bringt man also einen schwingenden Glaszylinder zwischen zwei gekreuzte Polarisatoren, so erscheinen diejenigen Stellen in dem sonst dunklen Gesichtsfeld hell, an denen das Glas in radialer und tangentialer Richtung verschieden stark gedehnt wird. Die dazwischenliegenden dunklen Ringe, die m a n als Knotenlinien der optischen Doppelbrechung bezeichnen kann, treten da auf, wo das Glas in radialer und tangentialer Richtung gleich stark gedehnt wird. Abb. IX, 49 bringt hierzu einige Beispiele. Bei den Teilbildern a und b handelt

a

b

c

Abb. IX, 49. Schwingungsformen von Glaszylindern, sichtbar gemacht durch die infolge der elastischen Spannungen im polarisierten Licht auftretende optische Doppelbrechung. a) Glaszylinder von 19 m m 0 , angeregt mit 1485 k H z , b) Glaszylinder von 30 m m 0 , angeregt mit 1280 k H z , c) Glaszylinder von 20 m m 0 , zu rein radialen Dehnungsschwingungen angeregt mit 1485 kHz es sich offensichtlich um sehr komplizierte Schwingungen von Glaszylindern, die längs einer Mantellinie erregt wurden. Die Frequenz betrug ungefähr 1,5 • 10® Hz. M a n kann diese Bilder in gewissem Sinne als C h l a d n i s c h e Klangfiguren eines bestimmten Querschnitts ansehen. Teilbild c bezieht sich gleichfalls auf Schwingungen eines Glaszylinders, der, wie die Einfachheit der Knotenlinien zeigt, auch eine relativ einfache Schwingungsform besitzt: Es handelt sich hier um radiale Dehnungsschwingungen, bei denen der Zylinder lediglich in radialer Richtung „pulsiert". Dabei bilden die Stellen gleicher radialer und tangentialer Spannung Kreise um die Zylinderachse.

Die zweite Gruppe der Schallsender umfaßt alle Geräte, die ungedämpfte Schwingungen erzeugen, d. h. bei denen die Verluste infolge Schallabstrahlung und Reibung durch Energiezufuhr von außen ständig ausgeglichen werden. Dies geschieht entweder durch periodische Energiezufuhr oder mit Hilfe kontinuierlich zugeführter Energie, ζ. B. Wärme, die durch Rückkopplungsmechanismen in periodische Energieformen umgewandelt wird. Bei der Lochsirene ζ. B. ist eine periodische Kraft wirksam: Der gleichmäßige Luftstrom wird durch die rotierende Lochscheibe in einen periodischen umgewandelt. Auch der Wind kann eine periodische Kraft erzeugen, wenn er an einem starren zylindrischen Mast oder Draht 34 Bergmann-Schaefer I, 9. Aufl

530

Akustik

vorbeistreift. Er löst dabei abwechselnd auf der einen und der anderen Seite des Mastes Wirbel ab ( K ä r m a n sehe Wirbelstraße). Die Frequenz / der Wirbelablösung hängt von der Windgeschwindigkeit u und dem Mastdurchmesser d gemäß der Beziehung u / = 0,185 —

ab. Je nach der Größe der Windgeschwindigkeit vernimmt man also einen Pfeifton unterschiedlicher Höhe. Eine ganz entsprechende Beobachtung kann man beim Baden machen, wenn man eine Hand mit gespreizten Fingern rasch durch das Wasser führt: Die Finger geraten dann — senkrecht zur Bewegungsrichtung — in Schwingungen, die deutlich fühlbar sind. — Ebenso gerät ein elastischer Stab, der in eine rasch strömende Flüssigkeit gehalten wird, in transversale Schwingungen. Ein anderes Beispiel für einen Schallsender mit periodischer Kraft stellt der t ö n e n d e L i c h t b o g e n dar. Bereits bei einer Kohlebogenlampe, die mit Wechselstrom betrieben wird, nimmt man einen Summton wahr, dessen Frequenz doppelt so groß ist wie die Frequenz des Wechselstroms. Das liegt daran, daß dessen positive wie negative Halbwelle die Temperatur des Lichtbogens periodisch erhöhen. Die Folge ist eine periodische Ausdehnung der umgebenden Luft. Es wurden Versuche unternommen, nach dem Prinzip des tönenden Lichtbogens „einen membranlosen Lautsprecher" zu konstruieren. Überlagert man nämlich einem Gleichstrom den Wechselstrom bzw. den Sprechstrom, dann gibt der Lichtbogen die gleiche Frequenz wieder, die der Wechselstrom besitzt. Die Versuche lieferten aber nur für hohe Frequenzen gute Ergebnisse. Allerdings ist es möglich, auf diese Weise höchste Frequenzen bis 2 · 106 Hz wiederzugeben. Auch Festkörper, die durch hinreichend schnelle periodische Erwärmung ihr Volumen abwechselnd vergrößern und verkleinern, sind Schallsender, ζ. B. ein von Wechselstrom höherer Frequenz durchflossener Draht geringer Wärmekapazität. An dieser Stelle sei auf ein Beispiel aus der Laser-Technik hingewiesen: Kreuzt man zwei L a s e r Strahlen von geeignetem Frequenzabstand, so ergeben sich im Überlagerungsgebiet Schwebungen mit periodischen Erwärmungen der Luft in der Differenzfrequenz der beiden Laser, die Schallabstrahlung zur Folge haben.

Abb. IX, 50. Lautsprecher (schematisch); S Tauchspule, Τ Topfmagnet, Μ trichterförmige Membran

Ein bekannter Schallsender von sehr großer Bedeutung ist der Lautsprecher, der in Abb. IX, 50 schematisch wiedergegeben ist. Zum Verständnis benötigt man Kenntnisse aus der Elektrizitätslehre; deshalb soll der elektrische Teil kurz erläutert werden. Fließt ein Wechselstrom (Sprechstrom) durch eine federnd aufgehängte und in Richtung ihrer Achse schwingungsfähige Spule S,

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

531

die in einem Topfmagneten Τ eintaucht, so führt die Spule auf Grund magnetischer Kräfte mechanische Schwingungen im Rhythmus des Sprechstromes aus. Zur besseren Schallabstrahlung wird die Spule mit einer trichterförmigen Papiermembran Μ verbunden, die gleichzeitig als Feder wirkt und am Rand fest eingespannt ist. Auch der Kopfhörer sei hier mitaufgeführt, obwohl er kein Schallsender im eigentlichen Sinn ist. Denn zur wellenförmigen Abstrahlung ist er nicht geeignet, was später noch behandelt wird. Der Kopfhörer enthält eine Spule mit Eisenkern. In geringem Abstand davor liegt (etwas federnd) eine dünne Eisenplatte als Membran. Der elektrische Sprech-Wechselstrom fließt durch die Spule; das entstehende magnetische Feld wird durch den Eisenkern verstärkt und bewegt die Eisenplatte im Rhythmus der Sprache oder Musik. Eine völlig andere interessante Art einer ungedämpften Schallerzeugung kann man sich am besten an Hand des folgenden Versuchs klarmachen: Wird in einem beiderseits offenen Rohr, etwa im unteren Viertel, etwas Drahtgeflecht angebracht (Abb. IX, 51), so ertönt nach Erwärmen des Geflechts das Rohr in seiner Resonanzfrequenz. Dreht man das Rohr um, so daß die Erwärmung am oberen Ende des Rohres eintritt, so wird die Schallerzeugung sofort unterbrochen. Das Experiment ist sehr einfach und kann mit geringen Mitteln durchgeführt werden. Das Drahtgeflecht kann ζ. B. mit einer Flamme erwärmt werden. An Hand dieses Experiments soll das Prinzip der Rückkopplung und Gegenkopplung erläutert werden. Rückkopplung liegt vor, wenn der Schwingungsvorgang eine Energiezuführung so steuert, daß die Schwingungsphase dieser Anregung zu der Phase des steuernden Schwingungsvorganges etwa 90° Voreilung hat. In diesem Fall tritt eine Verstärkung der Schwingung ein. Wird die Phasenlage zwischen Anregung und Steuerung um 180 Grad gedreht, so liegt Gegenkopplung vor und die Schwingung wird gedämpft. Bei dem akustischen Wärmerohr wird Wärme in Schallenergie umgewandelt. Diese Umwandlung erfolgt durch periodische Erwärmung, d. h. periodische Ausdehnung der Luft. Die Periodizität wird vom Schall selbst geliefert. Der Mechanismus ist folgendermaßen zu verstehen: Durch das erwärmte Geflecht entsteht eine gleichförmige Luftströmung der Geschwindigkeit u durch das Rohr. Es genügt eine geringfügige Störung in der Strömung, um den Vorgang einzuleiten. Denkt man sich die Störung nach dem F o u r i e r sehen Satz in Sinusschwingungen zerlegt, so werden diejenigen Frequenzen, die in der Nähe der Resonanzfrequenz des Rohres liegen, verstärkt, die übrigen Frequenzen dagegen geschwächt.

Abb. IX, 51. Das akustische Wärmerohr als Beispiel für einen Rückkopplungsmechanismus, der Wärme in Schallenergie umwandelt, u ist die Geschwindigkeit der gleichförmigen Luftströmung, die durch das erhitzte Drahtgeflecht hervorgerufen wird und der sich die Schnelle ν überlagert. Neben dem Rohr ist der Verlauf der Größen u + ν und des Schalldruckes ρ in Abhängigkeit vom Ort χ im Rohr gezeichnet

Wir betrachten nun den eingeschwungenen Zustand des Rohres. In einer stehenden Welle ist der Druck ρ gegenüber der Schnelle υ um 90 Grad vorverschoben (Abb. IX, 51). In der Phasenlage, wo der Schalldruck von negativem zu positivem Vorzeichen wechselt, hat die Schallschnelle ihr Maximum und ist an beiden Rohrenden nach außen gerichtet. In dieser Phasenlage ist die Gesamtgeschwindigkeit am unteren Rohrende minimal, weil Gleichströmung u und Schallschnelle ν hier entgegengesetzte Vorzeichen haben. Befindet sich die Wärmequelle am 34»

532

Akustik

unteren Ende, so wird in dieser Phasenlage der durch Wärmeausdehnung erzeugte Schalldruck maximal, denn bei der kleinsten Geschwindigkeit wird die Luft am längsten erwärmt. Es sei noch einmal daran erinnert, daß bei dieser Phasenlage maximaler Anregung der Schalldruck gerade den Nulldurchgang von negativen zu positiven Werten macht. Die Wärmeanregung eilt also dem Schalldruck um 90 Grad voraus. Aus der Schwingungslehre weiß man aber, daß dieses die optimale Anregungsbedingung ist. Die Schwingung wird durch Rückkopplung verstärkt. Dreht man nun das Rohr um, so befindet sich die Wärmequelle am oberen Rohrende, wo in der betrachteten Phasenlage die Schallschnelle mit der Gleichströmung gleichgerichtet ist. Hier wird also die Wärmeanregung in dieser Phasenlage minimal, d. h. die Phasendifferenz zwischen Anregung und Steuerung ist durch das Umdrehen des Rohres um 180 Grad gedreht worden. Deshalb wird die Schwingung nun durch Gegenkopplung geschwächt. Ein Rückkopplungssystem kann selbständig Schwingungen erzeugen. Sind nämlich die Verluste kleiner als die zugeführte Energie, so wird eine beliebig kleine Störung solange verstärkt, bis entweder die Anregung nicht mehr in gleichem Maße wie die Schwingung wächst oder die Verluste stärker als linear mit der Amplitude wachsen und so ein Gleichgewicht zwischen Anregungs- und Verlustenergie eintritt. Eine ähnliche Art der Umwandlung von Wärme in Schallenergie liegt bei der „singenden Flamme" vor: Befindet sich ein brennendes Gasgemisch (ζ. B. eine Bunsenflamme) in der Nähe des Schalldruckmaximums eines Resonatorrohres (Abb. IX, 52), so ändert sich, wie man mit

Abb. IX, 52. Singende Flamme Hilfe eines rotierenden Spiegels beobachten kann, die Flammengröße periodisch im Rhythmus der Druckschwankungen, was Schallabstrahlung zur Folge hat. Man nennt diese Erscheinung „Brenninstabilität". Eine solche Flamme mit Resonatorrohr bildet demnach ebenfalls ein Rückkopplungssystem. Die Anregungsenergie (Wärme) erzeugt einen periodischen Vorgang (Schall), der rückwirkend die Flammengröße steuert. Die genaue Frequenz, in der das System schwingt, ist von der Phasendifferenz zwischen der Anregung und der Resonatorschwingung abhängig. Bei 90° Voreilung der Anregung vor der Resonatorschwingung wird genau die Resonanzfrequenz erzeugt. Die Brenninstabilität, die hier als harmlose Erscheinung beschrieben wird, kann zu katastrophalen Folgen führen, wenn sie in den Brennkammern von Strahltriebwerken, also bei den Antriebssystemen von Raketen und Flugzeugen, auftritt. Die Austrittsgeschwindigkeit der heißen Flammgase aus der Düse nimmt nämlich von der Düsenwand, wo sie Null ist, bis zu ihrem Maximum nach der Mitte hin unter normalen Umständen kontinuierlich zu. Die Düsenwand ist also durch eine wärmeisolierende Grenzschicht ruhender bzw. wenig bewegter Gase geschützt. Eine Brenninstabilität bewirkt jedoch das augenblickliche Verschwinden dieser Grenzschicht. Die heißen Gase können jetzt also mit ihrer Maximalgeschwindigkeit unmittelbar an der Wand vorbeiströmen. Die Folge ist das Schmelzen der Düse innerhalb weniger Sekunden. Ein bekanntes Beispiel für einen Rückkopplungseffekt ist auch das Anstreichen einer Saite mit einem Geigenbogen. Der Mechanismus beruht darauf, daß die Eigenschwingung der Saite mittels Haft- und Gleitreibung die anregende Kraft steuert. Im einzelnen sieht der Vorgang so

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

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aus: Die Saite wird zunächst durch die Haftreibung mitgenommen, bis bei einer bestimmten Elongation die rücktreibende elastische Kraft größer als die Reibungskraft zwischen Bogen und Saite geworden ist. In diesem Augenblick schnellt die Saite zurück bis zum anderen Umkehrpunkt. Dies ist möglich, weil die Gleitreibung kleiner ist als die Haftreibung. Beim Zurückschwingen faßt der Bogen die Saite von neuem und der Vorgang wiederholt sich. Auch die Tatsache, daß eine Saite durch Anblasen in ungedämpfte Schwingungen gerät, beruht auf einem Rückkopplungsmechanismus. Die an der Saite (Gummiband) vorbeiströmende Luft löst abwechselnd auf der einen und der anderen Seite Wirbel ab. Stimmt nun die Frequenz der Wirbelablösung annähernd mit einer Eigenfrequenz der Saite überein, so gerät, wie zuerst R a y l e i g h gezeigt hat, die Saite senkrecht zum Luftstrom in Schwingungen. Die Eigenfrequenz der Saite steuert jetzt die Wirbelablösung und damit die erregende Kraft. Auf dieser Erscheinung beruht die Ä o l s h a r f e , bei der eine Reihe gespannter Saiten verschiedenen Durchmessers durch Vorbeiströmen des Windes zum Schwingen in der einen oder anderen ihrer Eigenschwingungen gebracht werden. Auch das Summen der Telegraphendrähte entsteht auf diese Weise. Ungedämpfte Schwingungen von L u f t s ä u l e n werden, wie beim Wärmerohr, vorwiegend durch Rückkopplungsmechanismen verursacht. Die wichtigste Anwendung stellen die Pfeifen dar. Je nach der Art der Schwingungsanregung unterscheiden wir Zungen- und Lippenpfeifen, und bei diesen wieder offene und gedackte Pfeifen, je nachdem ob das obere Ende der Pfeife offen oder geschlossen ist. Abb. IX, 53 zeigt im Längsschnitt den Aufbau einer Z u n g e n p f e i f e . Die die Pfeife anblasende Luft gelangt durch die Öffnung Ο zunächst in die Kammer K, aus der sie nur durch Abb. IX, 53. Längsschnitt durch eine Zungenpfeife

Abb. IX, 54. Mundstück einer Klarinette mit der Blattzunge Ζ und der Rohrwand R

einen länglichen Schlitz in dem in die Kammer Κ hineinragenden Rohr R entweichen kann. Vor dem Schlitz befindet sich ein bei Α befestigtes Metallblättchen Z, die Zunge; diese ist so gebogen, daß sie in der Ruhelage den Schlitz nicht völlig abdeckt. Durch Einblasen von Luft in die Kammer Κ kommt die Zunge in Schwingungen und verschließt dabei in periodischer Folge mit der ihr eigenen Frequenz den Schlitz im Rohr R. Dadurch wird der Luftstrom periodisch unterbrochen und die Luftsäule im eigentlichen Pfeifenraum S, der häufig auch trichterförmige Gestalt hat, zu Schwingungen angestoßen. Die Zunge hat dabei die Funktion eines federnden Ventils. Sie steuert die Kraft (Luftstrom), die auf sie wirkt, d. h. es liegt wieder ein Rückkopplungsmechanismus vor. — Bei Metallzungen sind nun die Energieverluste, die während des Schwingens auftreten, auf Grund der elastischen Eigenschaften des verwendeten Metalls

Akustik

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gering; deshalb kann eine Metallzunge nur in ihrer Resonanzfrequenz schwingen. Eine Tonerzeugung ist also auch ohne Kopp'ung mit einer schwingenden Luftsäule möglich. Beispiele dafür sind Mundharmonika, Akkordeon, Harmonium und einige Orgelregister. Wird die Metallzunge mit einem Resonator gekoppelt (Trompetenregister der Orgel), so ist die Frequenz dieses Schallsenders vorwiegend durch die Resonanzfrequenz der Metallzunge bestimmt. Tritt jedoch an Stelle der Metallzunge eine Holzzunge (Rohrblatt), dann ist für die Steuerung des Luftstromes vorwiegend die Ligenfrequenz des angeschlossenen Resonators verantwortlich. Denn bei einer Holzzunge ist infolge der geringeren Elastizität der Energieverlust während des Schwingungsvorganges und damit die Dämpfung größer als die Dämpfung der schwingenden Luftsäule, d. h. die Rohrblattzunge kann erzwungene Schwingungen ausführen. Dieser Vorteil wird bei den Rohrblattinstrumenten Oboe, Klarinette und Fagott ausgenutzt, deren Tonhöhe durch ö f f n e n und Schließen von seitlichen Löchern im Resonatorrohr, also durch Verkürzung oder Verlängerung der schwingenden Luftsäule verändert wird. Würde man das Rohrblatt Ζ (Abb. IX, 54) einer Klarinette durch eine Metallzunge ersetzen, dann ließe sich auf dem Instrument nur noch ein einziger Ton hervorbringen, der dann durch die Resonanzfrequenz der Metallzunge gegeben wäre. Bei den Blechblasinstrumenten (Horn, Trompete, Posaune, Tuba) wirken die zusammengepreßten Lippen des Spielers ähnlich wie die menschlichen Stimmlippen: Das Vibrieren der Lippen wird durch den Schalldruck des Resonators gesteuert. Durch geeignete Wahl der Lippenspannung und des Anblasdruckes läßt sich eine Anzahl von Klängen erzeugen, deren Grundfrequenzen mit den Eigenfrequenzen der schwingenden Luftsäule übereinstimmen. Die Länge der schwingenden Luftsäule wird durch Öffnen und Schließen von Umwegrohren und mit Hilfe von Ventilen (Trompete, Horn, Tuba) oder, wie bei der Posaune, durch Ausziehen des Zuges verändert. Ein zweites wichtiges Verfahren zur Schwingungsanregung von Luftsäulen wird bei der Lippenpfeife angewandt, einem Rückkopplungssender mit dem gleichen Mechanismus, auf dem auch die Wirkungsweise der Blockflöte, der Querflöte sowie der angeblasenen Flasche beruht. In allen Fällen sorgt der Resonator R (Abb. IX, 55) für stehende Wellen großer Amplitude.

R

Abb. IX, 55. Längsschnitt durch eine Lippenpfeife mit dem Resonator R, der Lippe L, dem Spaltquerschnitt S, dem Ansatzrohr Ο und der Kammer Κ Bei Lippenpfeifen beträgt die Schnelleamplitude des stationären Tons im Pfeifenmaul (zwischen Spalt S und Lippe L) einige m/s. Diese große Wechselströmung ruft eine periodische Bewegung des Luftstrahls hervor, der aus dem Spalt austritt. Dadurch gelangt ein periodischer Luftzufluß in den Resonator und erhält die Schwingung aufrecht. Da sich die Leistung eines Schallsenders

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

535

aus dem Produkt des Schalldruckes p, der Schnelle ν und des Querschnittes Α berechnet, betrachtet man in diesem Fall nicht die Schnelle allein, sondern das Produkt Α · ν, den sogenannten Schallfluß q. Der periodische Volumenzufluß ist der Strahlgeschwindigkeit proportional und kann bei der Lippenpfeife näherungsweise einem „anregenden Schallfluß" qa gleichgesetzt werden. Bei hohen Strahlgeschwindigkeiten (über 30 m/s) wird der Schallfluß qa von einer anregenden Kraft Fa (periodischer Impulszufluß) übertroffen. Diese Kraft wächst proportional mit dem Quadrat der Strahlgeschwindigkeit. Bei Orgelpfeifen kommen so hohe Strahlgeschwindigkeiten kaum vor, wohl aber bei der G a l t on-Pfeife. Die Phasen Verzögerung zwischen der steuernden Schallschnelle im Pfeifenmaul und dem anregenden Schallfluß ändert sich mit der Strahlgeschwindigkeit; diese ist dem Quadrat des Anblasdruckes proportional ( B e r n o u l l i s e h e Gleichung). Aus diesem Grunde ist auch die Pfeifenfrequenz etwas vom Anblasdruck abhängig. Wird der Druck so gewählt, daß die Phasenverzögerung gerade π/2 beträgt, so schwingt die Pfeife genau mit der Resonanzfrequenz. Bei kleinerem Druck wird der Ton tiefer, bei höherem Druck höher. Nach weiterer Steigerung des Anblasdruckes wird die Phasenverzögerung so klein, daß kein stabiler Ton in diesem Frequenzbereich mehr möglich ist. In diesem Fall „überbläst" die Pfeife; d. h. die Frequenz springt in die Nähe des nächst höheren Obertones. Dadurch wird die Phasenverzögerung bei der offenen Pfeife etwa verdoppelt; denn bei gegebener Verzögerungszeit ist der Phasenwinkel der Frequenz proportional. In Abb. IX, 56 sind drei Momentaufnahmen der periodischen Strahlbewegung im Pfeifenmaul wiedergegeben, die I s i n g mit Hilfe eines besonderen Verfahrens erhielt. Die aus dem Spalt gegen die Lippe strömende Luft befand sich dabei im Strahlengang eines M i c h e l s o n -

Abb. IX, 56. Bewegung des Luftstrahls zwischen Spalt (unten) und Lippe (oben) einer offenen Orgelpfeife mit der Frequenz 125 Hz; maximale Strahlgeschwindigkeit wo = 36 m/s; Schnelle-Amplitude 6,5 m/s; links: Auslenkung nach außen; Mitte: Nulldurchgang; rechts: Auslenkung nach innen. Einzelbilder aus einem Hochfrequenzfilm (Aufnahme: H. Ising)

Interferometers. Dem Luftstrahl waren etwa 10% Acetylen beigemischt. Dadurch erhält man eine Änderung des Brechungsindexes, ohne die Pfeifenfrequenz zu beeinflussen, da die Schallgeschwindigkeit in Luft und Acetylen gleich groß ist. Die Interferenzstreifen auf den Bildern stellen Linien von gleichem Brechungsindex und damit von gleichem Mischungsverhältnis dar. Die Mittellinie der von einer Interferenzlinie umschlossenen Fläche ist die Strahlmitte. Die Änderung des Mischungsverhältnisses im Strahl beruht darauf, daß reine Luft aus der Umgebung des Strahls mitgerissen wird. Die G a l t o n p f e i f e (Abb. IX, 57) ist eine gedackte Lippenpfeife aus Metall von veränderlicher Pfeifenlänge, deren Abmessungen so klein gehalten sind, daß sie besonders zur Erzeugung

536

Akustik

sehr hoher Töne bis ins Ultraschallgebiet hinein Verwendung findet. Durch das Rohr Α wird der Luftstrom einem ringförmigen Schlitz (Spalt) C zugeführt, aus dem er auf eine messerscharfe kreisförmige Schneide L strömt. Mittels des Schraubenkopfes Ε verschiebt man den Stempel S meßbar und ändert dadurch die Größe des Pfeifenvolumens. Durch eine zweite Mikrometerschraube Β wird die Größe der Maulweite zwischen C und D auf einen günstigen Wert eingestellt. Mit einer solchen Pfeife lassen sich Schallschwingungen im Frequenzbereich zwischen 4500 und 30000 Hz erzeugen. Solche hohen Frequenzen, die zum großen Teil unhörbar sind, lassen sich als stehende Wellen mit Hilfe der K u n d t s e h e n Staubfiguren sichtbar machen.

Abb. IX, 57. Längsschnitt durch eine Galtonpfeife Auch ohne starkes steuerndes Schallfeld kann ein Luftstrahl pendelnde Bewegungen ausführen. Aus der Strömungslehre wissen wir, daß es an der Trennungsfläche zwischen einer bewegten und ruhenden Flüssigkeits- oder Gasschicht zur Entstehung von Wirbeln kommt. Tritt nun ein Luftstrahl aus einem schmalen Spalt aus, so bilden sich auf beiden Seiten des Luftstrahls gegeneinander versetzte und in verschiedener Richtung drehende Wirbel. Dies führt zu einer Pendelbewegung des Luftstrahls (die man bei aufsteigendem Zigarettenrauch in ruhender Luft leicht beobachten kann), und damit bei genügend hoher Frequenz — diese ist im wesentlichen durch die Ausströmungsgeschwindigkeit der Luft aus dem Spalt gegeben — zur Erzeugung von Tönen, die man als S p a l t t ö n e bezeichnet. Läßt man den Luftstrahl gegen die Kante einer Schneide strömen, so entsteht durch das abwechselnd links- und rechtsseitige Auftreffen des Strahls auf die Schneidenfläche eine periodische Druckänderung in der Luft, die sich mit Schallgeschwindigkeit ausbreitet und am Spalt erneut zur Ablösung von Wirbeln beim Ausströmen der Luft Anlaß gibt. Bei dieser akustischen Rückkopplung ist durch den Abstand zwischen Spalt und Schneide eine Länge vorgegeben. Der Strahl kann auf dieser Länge bestimmte Schwingungsformen annehmen (vgl. einseitig eingespannter Stab). Es handelt sich hier um fortschreitende Wellen, die die Vorstufen von Wirbeln sind. Mit der Strahlgeschwindigkeit wächst sowohl die Ausbreitungsgeschwindigkeit dieser Wellen als auch die S c h n e i d e n t o n f r e q u e n z . Beim Pfeifenton dagegen ist durch den Resonator die Frequenz nahezu fest vorgegeben. Bei Erhöhung der Strahlgeschwindigkeit wächst deshalb die Strahlwellenlänge. Bisher wurden die Schallsender nur auf die Art ihrer Tonerzeugung hin untersucht. Jedoeh wurde außer acht gelassen, daß die Schallintensität im Raum in der Regel auch von der Ausbreitungsrichtung abhängt. Die meisten Schallsender lassen sich in dieser Hinsicht auf drei idealisierte Grundtypen zurückführen, die man als Kugelstrahler nullter, erster und zweiter Ordnung bezeichnet. Der Kugelstrahler nullter Ordnung, auch „akustischer Monopol" genannt, läßt sich durch eine pulsierende Kugel darstellen. Dies ist eine Kugel, deren Radius sich perio-

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

537

disch ändert (Abb. IX, 58 a). Die Schallerzeugung beruht demnach auf periodischer Volumenänderung. Es ist einleuchtend, daß sich bei diesem Typ der Schall gleichmäßig nach allen Richtungen ausbreitet; die „Richtcharakteristik", d. h. die Schallintensität als Funktion der Ausbreitungsrichtung, hat also Kugelgestalt. Der akustische Monopol ist in einem Halbraum annähernd realisiert durch einen Lautsprecher in einer starren Wand. Daß dieser keine Kugelform besitzt, spielt hier keine Rolle, solange seine Abmessungen klein gegen die Schallwellenlänge sind. Auch die Lochsirene ist näherungsweise ein Kugelstrahler nullter Ordnung. Eine Kugel, die bei konstantem Radius Schwingungen um ihre Ruhelage ausführt (Abb. IX, 58 b), stellt einen akustischen Dipol oder einen Kugelstrahler erster Ordnung dar, falls ihr Durchmesser klein gegen die Wellenlänge ist. Eine Abstrahlung senkrecht zur Schwingungsrichtung ist offensichtlich nicht möglich, dagegen wird die Schallintensität in Schwingungsrichtung am größten sein. Man erhält eine Richtcharakteristik in Form einer Acht. Ist & der Winkel, den die Ausbreitungsrichtung mit der Schwingungsrichtung bildet, so ist die Schallintensität proportional cos ϋ. Näherungsweise ist der Kugelstrahler erster Ordnung durch einen Lautsprecher, der sich nicht in einer Schallwand oder in einem Gehäuse befindet, oder durch einen Luftstrahl realisiert, bei dem die Düsenöffnung senkrecht zur Strahlrichtung Schwingungen ausführt.

Abb. IX, 58. Kugelstrahler; a) nullter, b) erster und c) zweiter Ordnung mit den zugehörigen Richtcharakteristiken (rechts) Der Kugelstrahler zweiter Ordnung (akustischer Quadrupol) wird durch eine Kugel dargestellt, die periodisch ihre Form ändert (Abb. IX, 58 c). Dabei bilden sich abwechselnd Ellipsoide, deren größte Achsen senkrecht zueinander stehen. Es ist naheliegend, daß hier vier bevorzugte Richtungen der Schallintensität auftreten; die Richtcharakteristik besteht demnach aus vier Schleifen. Durch eine periodisch um ihre Mittellinie gekippte Platte oder einen turbulenten Luftstrahl läßt sich dieser Strahlertyp näherungsweise realisieren. Ein Vergleich der drei Strahlertypen ergibt zunächst, daß die Ordnungszahl mit der Anzahl der Knotenlinien identisch ist. Eine weitere Überlegung zeigt, daß unabhängig von den verschiedenen Richtcharakteristiken die Abstrahlungsverhältnisse beim Strahler nullter Ordnung am günstigsten sind: Das liegt daran, daß bei den Strahlern höherer Ordnung an den durch Knotenlinien getrennten Flächenteilen Ausgleichsströmungen zwischen Gebieten hohen und niedrigen Druckes stattfinden. Diese Erscheinung heißt „akustischer Kurzschluß". Da die Aus-

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Akustik

gleichsströmungen eine gewisse, wenn auch kurze Zeit benötigen, tritt dieser Nachteil um so stärker in Erscheinung, je niedriger die abgestrahlte Frequenz ist. In Abb. IX, 59 ist die abgestrahlte Gesamtleistung der verschiedenen Kugelstrahler in Abhängigkeit vom Verhältnis 2 nR/λ wiedergegeben. R ist dabei der Radius der strahlenden Kugel, λ die Wellenlänge. Der Radius R ist zu berücksichtigen, da die strahlende Fläche einen Einfluß auf die Strahlungsleistung hat. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Lautsprecher. Bei sehr niedrigen Frequenzen ist die Abstrahlung schlecht, da die strahlende Fläche (Trichter) im Vergleich zur Wellenlänge (sie beträgt bei einer Frequenz von 40 Hz etwa 7 m) zu klein ist. Auf Grund der Ausgleichsströmung zwischen Vorder- und Rückseite der Membran ist der Lautsprecher ein Strahler erster Ordnung.

Abb. IX, 59. Schallabstrahlung von Kugelstrahlern verschiedener Ordnung (nach Backhaus). R ist Radius der strahlenden Kugel. Man beachte das Ansteigen der AbStrahlung mit abnehmender Wellenlänge

Abb. IX, 60. Richtwirkung einer Lautsprecherzeile (mehrere übereinander angeordnete Lautsprecher bündeln den Schall in horizontaler Richtung)

Baut man ihn jedoch in eine große Platte („Schallwand") oder ein geschlossenes Gehäuse ein, so wird der akustische Kurzschluß verhindert und der Lautsprecher verhält sich auf seiner Vorderseite wie ein Strahler nullter Ordnung, bei dem, wie wir wissen, keine Richtwirkung auftritt. Unter Umständen ist man jedoch an einer Richtwickung interessiert, ζ. B. bei Lautsprechern, die im Freien verwendet werden. Dort ist statt der nutzlosen Abstrahlung nach oben eine verstärkte Strahlung in horizontaler Richtung anzustreben. Man erreicht dies mit Hilfe von Lautsprecherzeilen. Das sind mehrere übereinander angeordnete, gleichphasig erregte Lautsprecher. Ein hinreichend weit entfernter Beobachter empfindet maximale Schallintensität, wenn er sich auf der Mittelnormalen der Lautsprecherzeile befindet, da sich nur hier die Intensitäten der einzelnen Lautsprecher addieren (Abb. IX, 60). Näherungsweise kann man die ganze Zeile als schwingende Platte auffassen. Oberhalb und unterhalb der Mittelnormalen nimmt die Intensität ab, da dort die Einzelerregungen zueinander phasenverschoben eintreffen und sich durch Interferenz teilweise auslöschen. Gibt der Winkel Λ die Abweichung von der Mittelnormalen an, und ist b die Höhe der Lautsprecherzeile, so löschen sich die Einzelerregungen im Idealfall sogar vollständig aus, wenn sin α den Wert λ/b erreicht. Das Gleiche gilt auch für ganzzahlige Vielfache von λ/b. Zwischen diesen Werten liegen kleine Maxima, die neben dem Hauptmaximum bei sin χ = 0 unwesentlich sind. Es ergeben sich hier die gleichen Verhältnisse, wie sie in der Optik bei der Beugung am Spalt auftreten. Zur Charakterisierung der Schallsender nach den Eigenschaften der Kugelstrahler ist grundsätzlich zu sagen, daß stets ein Strahler höherer Ordnung vorliegt, wenn beim Schwingungs-

Schallsender; Schallabstrahlung, Widerstandsanpassung

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Vorgang Ausgleichsströmungen sowie Knotenpunkte oder Knotenlinien auftreten. Die Ordnungszahl selbst ist allerdings oft nicht genau festzustellen, da es sich bei den Kugelstrahlern um idealisierte Gebilde handelt. Die schwingenden Saiten, Stäbe und Platten sind dementsprechend als Strahler höherer Ordnung anzusehen. Speziell die Stimmgabel ist ein Strahler zweiter Ordnung. Eine gedackte Pfeife ist dagegen ein Strahler nullter Ordnung, wie überhaupt bei schwingenden Luftsäulen meist günstigere Strahlungsverhältnisse vorliegen. Wir haben damit die Strahlungseigenschaften verschiedener Schallsender kennengelernt, sind jedoch noch nicht in der Lage, alle Fragen, die mit der Schallabstrahlung zusammenhängen, ausreichend zu beantworten. Die Tatsache ζ. B., daß ein Lautsprecher auch nach Unterbindung des akustischen Kurzschlusses einen Wirkungsgrad von nur wenigen Prozent besitzt, läßt sich mit seinen Strahlungseigenschaften allein nicht erklären. Vielmehr müssen wir uns erst mit der Frage beschäftigen, in welchem Umfang die verfügbare Schwingungsenergie eines Schallsenders überhaupt an das umgebende Medium abgegeben werden kann. Natürlich ist man bestrebt, eine optimale Energieübertragung zu erreichen, indem man das schwingende System den Schwingungen des umgebenden Mediums „anpaßt". Bei einer Saite geschieht dies ζ. B. durch Kopplung mit einem Resonanzboden. Ein einfaches Beispiel aus der Mechanik soll diesen Vorgang verdeutlichen: Beim Werfen eines Steines ist auch dessen Masse maßgebend für die Reichweite. Ist sie zu groß, so kann der Arm des Werfenden nicht genug Kraft aufbringen, um dem Stein den nötigen Impuls zu erteilen. Ist die Masse zu klein, so ist die erreichbare Geschwindigkeit des Armes zu gering für einen genügend großen Impuls. Es gibt also eine optimale Masse des Steins, die dadurch ausgezeichnet ist, daß sie der beim Werfen erreichbaren Kraft bzw. Geschwindigkeit angepaßt ist. Aus den Stoßgesetzen der Mechanik weiß man ferner, daß bei einem zentralen elastischen Stoß zweier Kugeln maximale Energieübertragung vorliegt, wenn die Massen der beiden Kugeln gleich groß sind. Für die maximale Energieübertragung ist im Fall von Sender und Schallfeld eine optimale Anpassung des „Senderwiderstandes" und des „Strahlungswiderstandes" notwendig. Als Widerstand bezeichnet man den Quotienten aus Druck und Schnelle W = p/v. Dabei brauchen Druck und Schnelle nicht gleichphasig zu schwingen. Wirkt ζ. B. ein Druck ρ mit sinusförmigem Zeitverlauf auf eine Masse pro Flächeneinheit m', so gilt nach N e w t o n ϋ s i n coi = m' ~ ί s i n cot = m'vco c o s ωί. dt

F

Der Massenwiderstand ist also Wm = ">m' und bewirkt gleichzeitig eine Phasenverschiebung von π/2 zwischen Druck und Schnelle. Dies ist im wesentlichen der Widerstand eines Lautsprechers. Der Strahlungswiderstand eines gegen die Wellenlänge kleinen Senders mit der Oberfläche S ist lVs = π ρ / 2 S/c. In Luft ist der Strahlungswiderstand immer sehr klein gegen den Massenwiderstand. Deshalb ist die Anpassung beim Lautsprecher schlecht, er kann also nur wenig Energie an die Luft übertragen. Als Gegenbeispiel soll der Kopfhörer dienen. Hier treten keine Anpassungsprobleme auf, und man kommt mit geringen elektrischen Leistungen aus; denn seine Wirkungsweise beruht, wie schon erwähnt, nicht auf wellenförmiger Abstrahlung. Vielmehr verhält sich das Luftvolumen zwischen Membran und Trommelfell wie eine Druckkammer, wenn im günstigsten Fall der K o p f h ö r e r so dicht am Ohr anliegt, daß kein Druckausgleich mit der umgebenden Luft stattfinden kann. Dann sind trotz der kleinen Membranfläche auch tiefe Frequenzen gut hörbar. Gute Kopfhörer übertragen einen Frequenzbereich von 30 bis 20000 Hz mit einer einzigen Membran. Hierzu würde man ein ganzes System von Lautsprechern und erhebliche elektrische Leistungen benötigen, da jeder Lautsprecher des Systems nur einen Teilbereich übertragen kann. Die Wirkung des bekannten trichterförmigen Sprachrohres beruht auf einer verbesserten Anpassung und damit auf einer vergrößerten Energieabgabe. Daß dem Schwingungssystem der menschlichen Stimme dabei tatsächlich mehr Energie entzogen wird, kann man

540

Akustik

selbst leicht an der schnelleren Ermüdung merken. Die vielfach übliche Darstellung, der Trichter bewirke durch Reflexion eine Bündelung der Schallwellen, ist nur für sehr hohe Frequenzen (Zischlaute der Konsonanten) zutreffend. Bei mittleren und niedrigen Frequenzen liegt dagegen die Wellenlänge in der Größenordnung der Trichterlänge, so daß von Reflexion keine Rede sein kann. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, daß es bei der Betrachtung von Schallwellen, die auf Hindernisse auftreffen, grundsätzlich notwendig ist, zunächst die Größe des Hindernisses mit der Schallwellenlänge zu vergleichen, bevor man geometrische Strahlenkonstruktionen anwendet, die oft zu falschen Ergebnissen führen. Besonders günstige Anpassungsverhältnisse liegen selbstverständlich vor, wenn das schwingende System aus dem gleichen Material besteht wie das umgebende Medium, also bei den schwingenden Luftsäulen. Hieraus erklärt sich die verhältnismäßig große Schallabstrahlung der schwingenden Luftsäulen gegenüber anderen Schallsendern. Man kann also eine verbesserte Anpassung auch dadurch erreichen, daß man mit dem vorhandenen schwingenden System zunächst eine Luftsäule in Schwingung versetzt, wie dies ζ. B. beim Marimbaphon geschieht. Hier ist der schwingende Stab durch eine kleine Amplitude, aber große Rückstellkraft gekennzeichnet. Die Anpassung besteht in der Umwandlung in eine Schwingung mit kleinerer Rückstellkraft, aber größerer Amplitude, also in einer „akustischen Hebelübersetzung". Ein Beispiel für eine mechanische Hebeluntersetzung zur besseren Anpassung liefert uns die Natur in den drei Gehörknöchelchen Hammer, Amboß und Steigbügel. Sie verkleinern die Amplitude der Schwingungen des Trommelfells und passen sie damit den Flüssigkeitsschwingungen in der Gehörschnecke an. 84. Ultraschallsender Eine besondere Rolle spielen in der modernen Akustik die Schallsender zur Erzeugung von Ultraschall. Es wurde bereits erwähnt, daß es möglich ist, mit einer G a l t o n - P f e i f e Ultraschallschwingungen bis etwa 30 kHz zu erzeugen. Außer dieser Pfeife, die nur kleine Schallenergien liefert, benutzt man heute zur Erzeugung sehr kräftiger Ultraschallwellen den sogenannten magnetostriktiven sowie den piezoelektrischen Schallsender. Bereits im Jahre 1847 entdeckte J. P. J o u l e , daß ein Eisen- oder Nickelstab bei der Magnetisierung eine Längenänderung erfährt, eine Erscheinung, die man Magnetostriktion nennt. Bringt man den Stab in die Achse einer von Wechselstrom durchflossenen Spule, so wird er im Rhythmus der Wechselstromfrequenz ummagnetisiert, erleidet im gleichen Tempo periodische Längenänderungen und wird so zu elastischen Längsschwingungen angeregt. Die Amplitude der Stabschwingungen wird ein Maximum, wenn die Frequenz des elektrischen Wechselstromes mit einer mechanischen Eigenfrequenz des Stabes übereinstimmt, die durch die Stablänge, die Dichte und den Elastizitätsmodul gegeben ist. Da man Wechselstrom variabler Frequenz bequem erzeugen kann, läßt sich Resonanz zwischen elektrischer und Stabfrequenz leicht erreichen. Daher ist es möglich, sehr intensive Schallschwingungen unter Benutzung geeigneter Stäbe bis zu 60 kHz zu erzeugen. In diesem Fall beträgt die Länge eines in der Grundschwingung erregten Nickelstabes nur 4 cm; die Schallwellen werden von den Endflächen des schwingenden Stabes abgestrahlt. Eine noch größere Bedeutung haben die p i e z o e l e k t r i s c h e n S c h a l l s e n d e r , mit denen sich Frequenzen bis zu mehreren hundert Millionen Hertz erzeugen lassen. Im Jahre 1881 entdeckten die B r ü d e r C u r i e , daß bei Kristallen mit polaren Achsen (ζ. B. Turmalin, Quarz, Bariumtitanat, Zinkblende, Rohrzucker) durch Druck oder Dehnung in bestimmten Richtungen elektrische Ladungen an den Enden der polaren Achsen auftreten. Diese Erscheinung, die man als piezoelektrischen Effekt bezeichnet, wird in der Elektrizitätslehre ausführlich behandelt. Umgekehrt erfährt ein derartiger Kristall in einem elektrischen Feld, dessen Richtung mit der polaren Achse zusammenfällt, mechanische Deformationen (reziproker piezoelektrischer Effekt). Man schneidet zu diesem Zweck aus einem Quarzkristall, dessen drei zweizählige, zur

541

Ultraschallsender

optischen Achse senkrecht verlaufende Achsen polar sind, Stäbe oder Platten entsprechend der in A b b . I X , 61 angegebenen Orientierung so heraus, daß ein Flächenpaar senkrecht zu einer polaren Achse {X in Abb. I X , 61) liegt. Versieht man dieses Flächenpaar mit Metallbelegungen und legt man diese an eine elektrische Wechselspannung, so wird das Kristallstück zu elastischen Schwingungen angeregt, deren Amplitude ein Maximum erreicht, wenn die elektrische Frequenz mit einer der mechanischen Eigenfrequenzen des Kristallstückes übereinstimmt. Dabei sind infolge der Kristallstruktur zwei Fälle möglich: Der Quarz schwingt entweder in Richtung der polaren Achse X oder in der zur polaren und optischen Achse senkrechten Richtung Y. E s ist üblich, Quarzplatten in der ersten, Quarzstäbe in der zweiten Schwingungsart anzuregen. Man

A b b . I X , 61. S c h n i t t l a g e von piezoelektrischen Q u a r z p l a t t e n und S t ä b e n

A b b . I X , 62. U l t r a s c h a l l q u a r z in einer H a l t e r u n g

bezeichnet diese beiden Schwingungsformen als D i c k e n s c h w i n g u n g und als L ä n g s s c h w i n g u n g . A u f Grund von Gl. ( I X , 13) erhält man für die Grundfrequenz der Längsschwingung eines Quarzstabes von der Länge / cm die Beziehung: v=

269000 „ Hz,

und entsprechend für die Grundfrequenz der Dickenschwingung einer Quarzplatte der Dicke rfcra die analoge Gleichung: V

=

283900TT , Hz.

Denn für den ersten Fall ist der Elastizitätsmodul des Quarzes 7871 kp/mm 3 , für den zweiten dagegen 8711 k p / m m 2 , während seine Dichte ρ = 2,65 ist. Eine Quarzplatte von 1 mm Dicke liefert demnach bei Erregung in der Grundschwingung eine Frequenz von 2 , 8 4 - 1 0 ® Hz, d. h. Wellen, die in Luft nur eine Wellenlänge von 0,11 mm besitzen. Abb. I X , 62 zeigt die Halterung eines für größere Schalleistungen gebauten Ultraschallquarzes. Die viereckige Quarzplatte mit 50 c m 2 Oberfläche liegt auf einer dicken Bleiplatte, die die eine Elektrode darstellt. D i e Oberfläche der Quarzplatte ist metallisiert und bildet die zweite Elektrode. D i e Stromzuführung erfolgt über einen Metallrahmen, der von vier Metallfedern gegen den Quarz angedrückt wird.

542

Akustik

Da es für großflächige Ultraschallgeber im Frequenzbereich 20 bis 30 kHz, wie sie für Unterwasserschallgeber (ζ. B. beim Echolot) Verwendung finden, schwierig ist, genügend große homogene Quarzplatten zu beschaffen, setzt man Platten aus kleineren Stücken mosaikartig zusammen und kittet sie zwischen Stahlplatten von mehreren Zentimetern Dicke. Abb. IX, 63 zeigt einen zuerst von L a n g e v i n gebauten zusammengesetzten piezoelektrischen Schallsender, bei dem zwischen zwei 30 mm dicken Stahlplatten Si und S2 ein Mosaik aus 2 mm starken Quarzplatten Q eingekittet ist. Da Quarz und Stahl annähernd die gleiche Schallgeschwindigkeit haben, schwingt das ganze System wie eine einheitliche Platte von der Dicke 6,2 cm und erzeugt dementsprechend eine Schallfrequenz von 38 kHz. In den letzten Jahren ist es gelungen (Bommel und D r a n s f e l d sowie B a r a n s k i u.a.), Quarzkristalle piezoelektrisch und Nickelschichten magnetostriktiv zu Schwingungen anzuregen, deren Frequenz um 1010 Hz liegen. Man spricht bei derart hohen Frequenzen von H y p e r s c h a l l .

-S, -ü

Abb. IX, 63. Schnitt durch einen zusammengesetzten piezoelektrischen Ultraschallsender nach L a n g e v i n

85. Meßgrößen des Schallfeldes Vor der Behandlung der Schallempfänger, müssen wir die Meßgrößen eines Schallfeldes genauer erörtern. Es genügt, das Feld einer ebenen Welle zu betrachten, da alles grundsätzlich Wichtige schon in diesem einfachen Fall erkennbar ist. In einer ebenen Welle, die sich längs der positiven x-Richtung fortpflanzt, gehorcht die Verrückung ξ eines Teilchens aus der Ruhelage, in Übereinstimmung mit Gl. (VIII, 3), der Gleichung für den „Schallausschlag":

CX,22a) wenn ω = 2 ην die Kreisfrequenz bedeutet; ξ ist die Schwingungsamplitude. U m die Geschwindigkeit eines Teilchens ν = άς/άί zu erhalten, haben wir (IX, 22a) nur nach der Zeit zu differenzieren: (IX, 22b)

υ

=

= ξω cos ω ^ ί —

=

ν

cos ω ^ t

—^

Zur Darstellung des Schallwechseldruckes ρ gelangt man, indem man von der N e w t o n s c h e n Bewegungsgleichung ausgeht. Diese sagt aus, daß das Produkt aus Dichte ρ und Beschleunigung d2i/dt2 gleich der wirkenden Kraft pro V j l u m e n ist. Als solche kommt hier nur das Druckgefälle in der Ar-Richtung, — dpjdx, in Frage. Das wurde bereits in allgemeinerer Form in der Hydrodynamik dargelegt. Die Bewegungsgleichung lautet also: ά2ξ e

~ d t

_ _ d p r

~

dx'

durch nochmalige Differentiation von (IX, 22 b) nach der Zeit t und Multiplikation mit ρ ergibt sich sofort: ά2ξ

«

ο —j-y = — cqü) dt2

2



f

sinco

\

ί

Λ c J

dp

1=—

dx

543

Meßgrößen des Schallfeldes

und die Integration dieser Gleichung über χ liefert unmittelbar die gesuchte Abhängigkeit des Druckes von Ort und Zeit: (IX, 22c)

ρ = p0 + ξ Q(DC cos

oo^t—^j,

wovon man sich am einfachsten durch Rückwärtsdifferentiation überzeugt; po ist der konstante normale Luftdruck, wenn keine Schallwellen vorhanden sind. Die hier auftretende Größe ξρωο = p nennt man entsprechend die Druckamplitude. Die Werte der drei Amplituden noch einmal zusammengestellt: Verschiebungsamplitude: ξ Schnelleamplitude: ϋ = | • ω Druckamplitude: p = ξρωο = hoc.

I

Alle drei können unter gewissen Bedingungen durch geeignete Schallempfänger gemessen werden. Die Amplituden ξ, ν, p hängen eng zusammen mit gewissen Energiegrößen. Als Schallintensität / bezeichnet man die durch eine zur Fortschreitungsrichtung senkrechte Flächeneinheit in der Sekunde hindurchgehende Energie; sie wird entweder in erg/cm 2 s oder in Watt/cm 2 gemessen. Die gesamte, in einer Sekunde von der Schallquelle nach allen Richtungen in den Raum ausgestrahlte Energie wird als Schalleistung Ρ bezeichnet; da man sie erhält, wenn man die Schallquelle mit einer geschlossenen Fläche umgibt und die durch jeden Quadratzentimeter pro Sekunde hindurchtretende Energie summiert, ist Ρ in Watt zu messen. Beispiele für die Schalleistung einiger Schallquellen: Schallquelle

Ρ in Watt

Unterhaltungssprache Höchstleistung der menschlichen Stimme Geige (fortissimo) Flügel (fortissimo) Trompete (fortissimo) Orgel (fortissimo) Ultraschallsender Pneumatischer Lautsprecher (bis 1 kHz)

. .

. .

rund 7 · 10" 6 rund 2 · 10 3 rund 1 · 1 Ο--3 rund 2 · ΙΟ--1 rund 3 · Ι 0--1 1-10 103 104

Nach obiger Definition erfüllt die Schallintensität einen Quader von 1 cm 2 Grundfläche und einer Höhe gleich dem Produkt von Schallgeschwindigkeit mal Zeit. In jedem Kubikzentimeter ist also enthalten die Energiemenge: (IX, 24)

E = —; c

Ε ist die mittlere Energiedichte oder Schalldichte; ihr Wert wurde schon in der Wellenlehre angegeben: (IX, 25a)

Ε = 2£ρξ2

= 2π2ν2ρξ2

=

ρωψ.

Für die Schallintensität I ergibt sich demnach aus (IX, 24): (IX, 25b)

Ι = Εε =

^-ρω2ξ2ο.

Diese Ausdrücke kann man mit den in (IX, 23) angegebenen Werten der Druckamplitude p und der Schnelleamplitude ϋ in Beziehung setzen; so ergibt sich:

544 (IX,26)

Akustik / = £c = i-