Lehrbuch der Experimentalphysik. Band 1 Mechanik, Akustik, Wärme: Mit einem Anhang über die 1. Mondlandung [8., völlig neubearb. Aufl. Reprint 2018] 9783111508498, 9783111141244


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German Pages 854 [860] Year 1970

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Table of contents :
Vorwort zur 8. Auflage
Einleitung
Verwendete Ausdrücke und Buchstaben
Griechisches Alphabet
Inhaltsübersicht
Mechanik
I. Kapitel. Messen und Maßeinheiten
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
IV. Kapitel. Anwendungen auf spezielle Bewegungen
V. Kapitel. Elastizität der festen Körper
VI. Kapitel. Mechanik der Flüssigkeiten und Gase
VII. Kapitel. Molekularphysik
VIII. Kapitel. Allgemeine Wellenlehre
Akustik
IX. Kapitel
Wärme
X. Kapitel. Temperatur und Wärmemenge
XI. Kapitel. Thermodynamik
XII. Kapitel. Tiefe Temperaturen
Anhang
Lösungen der Aufgaben
Fachwörterverzeichnis
Empfohlene Bücher zur Ergänzung
Einzelveröffentlichungen zu einigen bestimmten Themen
Namen- und Sachregister
Tabellen
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Lehrbuch der Experimentalphysik. Band 1 Mechanik, Akustik, Wärme: Mit einem Anhang über die 1. Mondlandung [8., völlig neubearb. Aufl. Reprint 2018]
 9783111508498, 9783111141244

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BERG MANN-SCHAEFER LEHRBUCH DER

EXPERIMENTALPHYSIK BAND I

MECHANIK, AKUSTIK,

WÄRME

BERGMANN-SCHAEFER LEHRBUCH DER E X P E R I M E N T A L P H Y S I K ZUM G E B R A U C H B E I

AKADEMISCHEN

V O R L E S U N G E N U N D ZUM

SELBSTSTUDIUM

Band I

Mechanik, Akustik, Wärme 8., völlig neubearbeitete A u f l a g e mit einem Anhang über die erste Mondlandung u n d 803 Abbildungen Von

Prof. Dr.-Ing. H. Gobrecht Direktor des II. Physikalischen Instituts der Technischen Universität Berlin

WALTER DE GRUYTER

&CO.

vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung • J . G u t t e n t a g , V e r l a g s b u c h h a n d l u n g Georg Reimer • K a r l J . T r ü b n e r - Veit & Comp.

BERLIN

1970

© C o p y r i g h t 1955, 1958» 1961, 1964, 1969

by Walter

de G r u y t e r & Co., v o r m . G. J .

Göschen'sche

V e r l a g s h a n d l u n g , J . G u t t e n t a g , V e r l a g s b u c h h a n d l u n g , Georg R e i m e r , K a r l J . T r ü b n e r , V e i t & C o m p . , B e r l i n 30, G e n t h i n e r S t r . 13 — Alle R e c h t e , a u c h die des a u s z u g d w e i s e n N a c h d r u c k s , d e r p h o t o m e c h a n i s c h e n W i e d e r g a b e , der H e r s t e l l u n g v o n M i k r o f i l m e n u n d d e r Ü b e r s e t z u n g , v o r b e h a l t e n — A r c h i v - N r . 52 19 691 —

Printed

in

Germany — Satz und

D r u c k : R . Oldenbourg, München —

E i n b a n d : U. Hanisch, Berlin-Zehlendorf

Vorwort zur 8. Auflage

Der Band I des „Lehrbuches der Experimentalphysik" von L u d w i g B e r g m a n n und C l e m e n s S c h a e f e r erschien erstmals im Jahre 1943. Es war die Absicht dieser Autoren, ein mehrbändiges Lehrbuch zu schaffen, durch das der Leser die Grundlagen der Physik kennenlernen kann. Die leicht verständliche Darstellung, ergänzt durch viele hundert Abbildungen, sollte auch ein Selbststudium ermöglichen. So war ein „Lehrbuch der Experimentalphysik" besonderer Art entstanden, das schließlich drei Bände umfaßte. Den geplanten Band IV (Aufbau der Materie) haben die Autoren nicht mehr schreiben können. Auch F r a n k M a t o s s i , der diese Aufgabe übernommen hatte, wurde durch plötzlichen Tod aus der Arbeit gerissen.

Bei den Überlegungen, ob man dieses Lehrbuch erhalten und erneuern sollte, war im wesentlichen die Frage entscheidend, ob ein echtes Bedürfnis für ein so umfangreiches, vierbändiges Lehrbuch besteht. Denn es gibt bekanntlich mehrere gute Physikbücher, die den Stoff konzentrierter darbieten. Es wäre jedoch ein Mangel in der physikalischen Literatur, wenn nicht auch ein Lehrbuch zur Verfügung stünde, mit dem der Leser für sich allein aufgrund einer breiten, ausführlichen Darstellung in der Lage ist, die Physik zu verstehen. Das gerade ist das Ziel dieses Buches.

Hiermit wird nun der Band I neu bearbeitet vorgelegt. Die Einteilung konnte im wesentlichen bestehenbleiben. Die schnelle Entwicklung der Physik und die Entstehung neuer Anwendungsgebiete erforderten selbstverständlich Änderungen und Ergänzungen. Einige Gebiete mögen dem Leser zu stark betont erscheinen. Dies ist eine Frage der persönlichen Auffassung und läßt sich ebensowenig vermeiden wie der Kompromiß zwischen letzter Exaktheit und einfacher Verständlichkeit.

Jedes Kapitel beginnt absichtlich leicht verständlich. Der Anfänger möge dort aufhören, wo der Inhalt für ihn zu schwierig wird, und im nächsten Abschnitt weiterlesen. So wird er das Buch einmal durcharbeiten können und hierbei die einfachen Grundtatsachen der Physik kennenlernen. Beim zweiten Lesen wird er auch die schwierigen Stellen überwinden. Es läßt sich nicht vermeiden, daß Vorgriffe gemacht werden auf solche Gebiete, die erst später ausführlich beschrieben werden. Man nehme daher keinen Anstoß daran, daß gelegentlich ein neuer Begriff auftaucht, der nicht gleich in höchster Präzision erklärt wird. Die ausführliche Erklärung muß dann deshalb zunächst unterbleiben, weil sonst die Übersichtlichkeit des behandelten Stoffes leiden würde.

VI

Vorwort

Zur Selbstprüfung des Lesers wurden an jedes Kapitel einige Aufgaben angehängt. Die Lösungen befinden sich am Ende des Buches. Auch ein Deutsch-Englisches und ein EnglischDeutsches Fachwörterverzeichnis wurden hinzugefügt; denn die Physik bedient sich neuerdings in besonders starkem Maße der englischen Sprache. Dieses Verzeichnis gibt dem Leser mit englischen Schulkenntnissen die Möglichkeit, auch ein Physik-Lehrbuch oder eine Zeitschrift in englischer Sprache zu lesen. — Den internationalen Empfehlungen über die Einheiten und Formelzeichen wurde weitgehend entsprochen. Im Fall der neuesten Empfehlung für die Bezeichnung von Temperaturgraden der Kelvin-Skala wurden die alten Symbole gelegentlich beibehalten, um das Lesen zu erleichtern. So steht für Temperaturgrade der Kelvin-Skala überwiegend das neue Symbol K ( = Kelvin), daneben aber auch noch das alte °K ( = Grad Kelvin). Für Temperaturdifferenzen wurde neben K auch noch grd benutzt. Am 20. Juli 1969 befanden sich die meisten Menschen unserer Erde in einer ungewöhnlichen Spannung: Sie konnten durch Fernseh-und Rundfunkübertragungen miterleben, wie die ersten Menschen den Mond betraten. Dieses Ereignis gab Anlaß zu einem besonderen Abschnitt, da diese Reise — wie ganz allgemein die Weltraumfahrt — eine sehr große Anzahl interessanter physikalischer Probleme enthält. Da sich das Buch schon im Druck befand, war diese Behandlung nur in einem Anhang möglich. Meinen Mitarbeitern am II. Physikalischen Institut der Technischen Universität Berlin habe ich für aktive Mitarbeit und zahlreiche Diskussionen sehr zu danken. Dies gilt besonders für die Herren Dr. J. W. B a a r s (jetzt Freiburg/Br.), cand. phys. J. D i e t r i c h , Dipl.-Phys. D. G a w l i k , Dipl.-Ing. W. H o f f m a n n , Dr. H. J u n g h ä n e l , Dipl.-Ing. K.-E. K i r s c h f e l d , Dr.-Ing. R. K r ü g e r und Dipl.-Phys. G. W i l l e r s . Ferner danke ich herzlich Frau Prof. Dr. Chr. T e n n y s o n (Inst. f. Mineralogie der TU) und Dr.-Ing. H. I s i n g (Inst. f. Techn. Akustik der TU). Auch meine drei Söhne Dr. K l a u s G o b r e c h t (Univ. Grenoble), Dipl.-Ing. J ü r g e n G o b r e c h t (Elektronenmikroskop. Lab. der TU) und Schüler J e n s G o b r e c h t , haben mitgeholfen. Der Verlag hat jeden Wunsch großzügig erfüllt. Berlin-Schlachtensee, im Juli 1969

Heinrich Gobrecht

Einleitung

Die Natur hat zu allen Zeiten einen großen Eindruck auf den Menschen gemacht. Man denke an das Weltall, an den Sternenhimmel, an Blitz und Donner, an die wunderbaren, gleichmäßig geformten und gefärbten Kristalle. Man denke aber vor allem an Leben und Tod. Geistvolle Menschen haben die Natur beschrieben. Man beobachtete, sammelte und ordnete. Diese Naturbeschreibungen, teilweise in künstlerischen Bildern oder in dichterischer Sprache, erfreuten die Menschen sowohl zu den Zeiten des L u c r e z und des P l i n i u s , zu den Zeiten G o e t h e s als auch heute. Aber zunehmend ist der Wunsch erkennbar, die Natur nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen. Das Wissen der Ursachen und Gesetze eines Naturgeschehens würde es ermöglichen, dessen ganzen Verlauf, also auch die Zukunft, voraussagen zu können; denn daß einige Vorgänge in der Natur nach bestimmten Gesetzen ablaufen und nicht auf Zufälligkeiten beruhen, konnte man schon früh erkennen. Der Wechsel der Jahreszeiten, die Sonnen- und Mondstellungen, chemische Prozesse, das Feuer, das Gefrieren und Sieden des Wassers sind einfache Beispiele. So besteht der Wunsch des Menschen, die Naturerscheinungen zu verstehen und auf allgemein gültige Gesetze zurückzuführen. Die Triebfeder ist sowohl der reine Erkenntnisdrang als auch die Hoffnung, sich die Natur dienstbar zu machen. Die wichtigsten Hilfsmittel hierbei sind das Experiment und die Mathematik. Das Nachdenken allein und die reine Beobachtung der Natur reichen im allgemeinen nicht aus, um die Gesetzmäßigkeiten zu finden. Die größten Erfolge entstanden deshalb seit jener Zeit im 17. Jahrhundert, als man zu experimentieren bereit war und die Ergebnisse mathematisch formulierte. Die quantitativ gefundenen Gesetze wurden bei jeder Wiederholung erneut bestätigt und hingen nicht von der Person des Beobachters ab. So wurden Tatsachen durch Versuche festgestellt. Sie wurden in ein logisch zusammenhängendes System eingeordnet. Das griechische Wort „physis" bedeutet Ursprung, Naturordnung, das Geschaffene (Welt, Geschöpf). Das Wort Physik hat sich daraus entwickelt. Wir verstehen darunter die Ordnung und die geistige, quantitative Erfassung aller Erscheinungen in der unbelebten Natur unter Zurückführung auf allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten. Die stürmische Entwicklung der Physik in den letzten 200 Jahren hat ganz wesentlich die Entwicklung der Technik beeinflußt. Und umgekehrt hat dann später die Technik zahlreiche und wichtige Experimente in der Physik ermöglicht. Beide Entwicklungen sind bekanntlich nicht abgeschlossen. Während das Ziel der Physik ist, das Verhalten der nicht lebendigen Natur zu verstehen, also die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Ursachen und Zusammenhänge der Naturvorgänge zu erfassen, ist das Ziel der Technik die Anwendung dieser Kenntnisse zum Wohle der Menschheit.

VIII

Einleitung

Jeder, der sich noch nicht mit der Physik beschäftigt hat, wird Begriffen begegnen, die im täglichen Leben weniger oft oder in anderer Bedeutung vorkommen (z. B. „Masse"). Deshalb ist eine strenge Definition, das ist eine genaue Festlegung eines Begriffes, erforderlich. Dies wird während der Behandlung des Stoffes in diesem Buch an geeigneter Stelle oftmals vorgenommen. Es gibt aber auch Ausdrücke, deren Kenntnis vorausgesetzt wird. Ihre Bedeutung soll hier im folgenden Text erklärt werden. Wenn der Ablauf eines Naturgeschehens erfahrungsgemäß immer wieder genau in der gleichen Art erfolgt, scheint ein Gesetz vorzuliegen, das offenbar auch die Natur befolgen muß. Man spricht auch von einem Naturgesetz. Ist ein solches Gesetz durch Erfahrung, also durch Beobachtungen oder Experimente erkannt worden, so sagt man, es sei empirisch (Empirie, gr., = Erfahrung) gefunden. Im Gegensatz hierzu stehen Gesetze, die nicht empirisch, sondern durch Logik oder durch mathematische Entwicklung entstanden sind. Oft steht am Anfang eine Hypothese (gr.), d. i. eine unbewiesene Annahme, eine Unterstellung. Aus dieser wird dann eine Theorie entwickelt, die ein Naturgeschehen exakt beschreibt und mathematisch begründet. Eine Theorie kann also entstehen, bevor das Naturgeschehen beobachtet wird. Ein Experiment kann dann die Richtigkeit einer Theorie bestätigen oder sie widerlegen. Häufiger entsteht eine Theorie, um einen bereits bekannten Vorgang in der Natur zu erklären oder zu verstehen. Mit Hilfe einer solchen Theorie können dann oft Voraussagen über Naturvorgänge gemacht werden, die noch nicht beobachtet sind. Man darf nicht vergessen, daß eine Theorie auch falsch sein kann, während ein Experiment, das ja nur eine Frage an die Natur darstellt, stets die Natur so zeigt, wie sie ist. Setzt man eine allgemein gültige Aussage als wahr voraus, ohne daß man sie beweisen kann, so spricht man von einem Axiom (gr. = Forderung). Ein solches Axiom ist z. B. in der Geometrie, daß sich zwei parallele Geraden niemals schneiden. Man kann dies nicht beweisen. Es wurde versucht, ähnlich wie die Mathematik auch die Physik auf einem solchen Axiomensystem zu gründen, was aber nicht gelang. Als Axiome der Physik kann man auch Prinzipe und Erhaltungssätze ansehen. Es sind heuristische (d. h. erfundene) Sätze, die durch Erfahrung zu bestätigen sind. Beispiele sind das Energieprinzip ( = Erhaltung der Energie), das Kausalitätsprinzip ( = jede Wirkung hat ihre Ursache), das Prinzip von actio = reactio (Wirkung = Gegenwirkung), das Trägheitsprinzip, das N e w t o n s c h e Grundgesetz der Dynamik, das P a u l i Prinzip (gültig im Atom). Daneben gibt es aber auch Prinzipe in der Physik, die sich auf bestimmte Gebiete beschränken und die auch beweisbar sind, wie das Archimedische Prinzip und das F e r m a t s c h e Prinzip. Postúlate sind ebenfalls Forderungen, die nicht beweisbar sind. Ihr Geltungsbereich ist eingeschränkt, wie z. B. die Bohrschen Postúlate, die sich auf das B o h r sehe Atommodell beziehen. Durch die Ergebnisse der Theorie, deren Zahlenwerte mit den Experimenten übereinstimmen, werden die Postúlate gerechtfertigt. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts konnten die Vorgänge in der Physik überwiegend anschaulich erklärt werden. Zwischen Ursache und Wirkung besteht ein kausaler Zusammenhang. Es ist dies der Bereich der klassischen Physik. Hierzu gehört die N e w t o n s c h e Mechanik, die Akustik, die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus, die geometrische und die Wellenoptik sowie ein Teil der Thermodynamik. Die anschauliche Denkweise geht in der modernen Physik, begründet durch die Quantenmechanik und durch die Relativitätstheorie, weitgehend verloren. Die bei einem Experiment durchgeführten Messungen stimmen manchmal mit den aus einer Theorie berechneten Werten nicht überein; es zeigt sich eine Diskrepanz (lat. = Unstimmigkeit).

Einleitung

IX

Diese ist möglicherweise um so größer, je mehr, von den Meßpunkten ausgehend, extrapoliert wurde. Darunter versteht man die Übertragung von Meßergebnissen in Bereiche außerhalb der Meßpunkte in der Annahme, daß die Kurve den gleichen Verlauf habe wie zwischen den Meßpunkten. Ist der Kurvenverlauf innerhalb der Meßpunkte stetig und besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß der Kurvenverlauf außerhalb der Meßpunkte unstetig wird, dann ist eine nicht zu starke Extrapolation im allgemeinen zulässig. Eine Approximation ( = Näherung) ist eine angenäherte Bestimmung (theoretisch oder experimentell) einer unbekannten Größe. Invarianten ( = Unveränderliche) sind solche Größen, die sich bei bestimmten Operationen (Drehung, Spiegelung) nicht ändern. Bei Koordinatendrehungen z. B. sind skalare Größen (z. B. Temperatur) invariant. Einige Größen spielen in verschiedenen Gebieten der Physik und ebenso im Kosmos eine bedeutende Rolle und erhalten auch bei völlig verschiedenen Meßmethoden die gleichen Werte. Man spricht von Naturkonstanten. Ein Beispiel ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Als Konstanten werden also Größen bezeichnet, deren Werte sich nicht ändern. Zum Beispiel ist die A v o g a d r o - K o n s t a n t e unabhängig vom Stoff. Sie gibt an, wieviel Moleküle sich in einem Mol eines jeden Stoffes befinden. Der Wert ist für alle Stoffe gleich. Im Gegensatz zu den Konstanten sind die Koeffizienten vom Stoff abhängig. Der Ausdehnungs-Koeffizient z. B. bezieht sich jeweils auf einen bestimmten Stoff. Das Wort „spezifisch" bedeutet „auf die Art bezogen". Damit werden Größen bezeichnet, die auf das Volumen (z. B. spez. Gewicht = Gewicht/Volumen) oder auf die Masse (z. B. spez. Wärmekapazität = Wärmekapazität/Masse) oder auf eine andere Größenart bezogen sind. Der Leser wird beim Studium dieses Buches verschiedene neue Arten physikalischer Größen (auch Größenarten genannt) kennenlernen, deren genaue Kenntnis notwendig ist. Mehrere Arten physikalischer Größen sind bereits aus dem täglichen Leben bekannt: Länge, Fläche, Raum, Zeit, Temperatur, Arbeit usw. Eine physikalische Größe wird definiert durch eine Meßvorschrift und eine Maßeinheit. Die Meßvorschrift gibt an, auf welche Weise die Größe mit einem Normal, das die Maßeinheit dieser Größenart darstellt, zu vergleichen ist. Das Ergebnis jeder Messung ist die Angabe, wie oft diese Maßeinheit in der zu messenden Größe enthalten ist. Eine physikalische Größe ist also gekennzeichnet durch das Produkt: Zahl mal Einheit. Mißt man als physikalische Größe z.B. eine Länge von 914,4 Millimeter = 91,44 Zentimeter = 0,9144 Meter = 3 Fuß = 1 Yard usw., so sieht man stets dieses Produkt: Zahl mal Einheit. Man ist frei in der Wahl der Einheit. Die davorstehende Zahl ändert sich zwangsläufig mit der Änderung der Einheit. Die Zahl der Längeneinheiten ist wie auch die Zahl der Einheiten anderer Größenarten natürlich beliebig groß. Die Gesamtheit aller Einheiten einer Größenart wird umfaßt durch den Begriff Dimension. Die Dimension wird stets in Grundgrößenarten angegeben. Die Dimension z. B. der Geschwindigkeit v ist gleich Dimension der Länge (L) dividiert durch Dimension der Zeit (T). Dies wird kurz so geschrieben: dim v = LT-1. Es ist oft von Vorteil, Dimensionsgleichungen aufzustellen. Sie zeigen insbesondere bei Rechnungen durch Multiplikationen und Kürzung von Dimensionen, ob die erwartete Dimension erhalten wird. Wenn dies nicht der Fall ist, muß ein Fehler vorliegen. Ergibt die Kürzung zweier Dimensionen die Zahl 1, so spricht man von einer Verhältnisgröße der Dimension „Eins". So ist z. B. ein Winkel das Verhältnis zweier Längen, nämlich Länge des Bogens dividiert durch die Länge des Radius. Die Dimensionen der

X

Einleitung

Länge kürzen sich also fort. Der Winkel hat somit die Dimension „Eins". Radiant, Grad und Neugrad sind verschiedene Einheiten der Dimension Eins. Die genaue Bedeutung der in der Physik verwendeten Ausdrücke dringt mit der Zeit zunehmend in das Bewußtsein des Lesers ein. Es lohnt sich aber, oft wiederkehrende Wörter gleich am Anfang kennenzulernen und sich über ihre Bedeutung ganz klar zu werden. Da der Wortschatz einer Sprache nicht ausreicht, haben die Wissenschaften Anleihen bei anderen Sprachen gemacht. Griechische und lateinische Wörter wurden bis jetzt bevorzugt. Die deutschen Übersetzungen treffen nicht immer den wirklichen Sinn des Fremdwortes; deshalb treten oft längere Umschreibungen an die Stelle einer Übersetzung. Auch die Zahl der lateinischen Buchstaben reicht nicht aus. Als Symbole für Begriffe werden deshalb zusätzlich große und kleine griechische Buchstaben verwendet. Man sollte sie zur Erleichterung so früh wie möglich lesen und schreiben lernen. Es gibt neuerdings internationale Empfehlungen zur Verwendung von Buchstaben für physikalische und technische Größen. Diesen Empfehlungen wird in diesem Buch entsprochen.

Verwendete Ausdrücke und Buchstaben Länge Radius Fläche Volumen Wellenlänge Zeit Frequenz Winkelgeschwindigkeit, Kreisfrequenz Geschwindigkeit Beschleunigung Fallbeschleunigung Masse Dichte Impuls Drehimpuls, Impulsmoment Trägheitsmoment Kraft Gravitationskonstante Gewicht Drehmoment, Moment eines Kräftepaares Richtmoment oder Winkelrichtgröße Moment, Kraftmoment Druck Normalspannung Schubspannung Dehnung Elastizitätsmodul Schubmodul Kompressionsmodul Poisson-Zahl Dynamische Viskosität Kinematische Viskosität Reibungszahl Reibungskoeffizient Oberflächenspannung Energie Potentielle Energie Kinetische Energie Arbeit Leistung Wirkungsgrad Molekülanzahl Molekülanzahldichte molare Masse Masse eines Moleküls relative Atommasse relative Molekülmasse Stoffmenge (in mol) Avogadro-(Loschmidt)-Konstante

I r A, S, f V X t v, f tu v, c a g m q p L J F G G T D M p a r e E G K ¡x rj v /J, / , tino a E, W Ev, V T, A, W P rj N n M m0 Ar Mr v NA, L

O> = 2 JIV

q = mj V p = mv L— r x p F(r) = Gm\ m-z/r2 T = r XF D = \T\/oc M = r XF

e = Al/lo a = sE r = G tan ot

v = rj/g (Dimension = Eins) (Dimension =|= Eins)

n = NjV M = NA • M0

Verwendete Ausdrücke und Buchstaben — Griechisches Alphabet

XII

B o 11 z m a n n-Konstante

Temperatur Thermodynamische Temperatur, Kelvin-Temperatur Innere Energie

.

k

.

R

.

D

.

6

• .

Q t,

.

T

.

S

.

U

.

F

F

= U -

H

H

=

.

G

G

=

Wärmeleitfähigkeit . Wärmekapazität . Molare Wärmekapazität Spezifische Wärmekapazität . Joule-Thomson-Koeffizient Wärmestrom Temperaturleitfähigkeit Schallausschlag ( = Verschiebung eines Teilchens) . . . Schallschnelle Schalldruck Schalldruckpegel Schallstrahlungsdruck Schallwiderstand Schallintensität Schallschluckgrad Dissipationskonstante Nachhallzeit Lautstärke Lautheit

1

.

TS

C

Cp, c =

Cy C/m

Cp, cv

1 4 C + 1 H . Dieser neu gebildete Kohlenstoff wird in der oberen Atmosphäre durch Ozon und Ionisation zu CO-2 oxidiert und vermischt sich mit dem übrigen Kohlendioxid der Atmosphäre. So enthält die Atmosphäre stets den gleichen Anteil an 1 4 C. Die Halbwertszeit des 14 C beträgt 5568 ± 50 Jahre. Es lassen sich also Substanzen messen, wie z. B. altes Holz, Kalk (CaCOs) von Tieren usw., in denen vor einigen tausend Jahren der Kohlenstoff in der natürlichen Zusammensetzung eingebaut worden ist. Man bestimmt das Verhältnis der Isotope 1 4 C zu 1 2 C in Massenspektrographen und vergleicht mit der natürlichen Zusammensetzung dieser Isotope in der Atmosphäre. In den letzten Jahrzehnten ist infolge der Industrialisierung der CC>2-Gehalt der Atmosphäre gestiegen. D a vorwiegend Kohle und Erdöl verbrannt werden, in denen wegen des hohen Alters das 1 4 C längst nicht mehr vorhanden ist, ist der prozentuale Anteil des 1 4 C in der Atmosphäre gesunken. Kernwaffenversuche hatten allerdings wieder einen Anstieg zur Folge. Die 1 4 C-Methode versagt jedoch, wenn die Objekte sehr klein sind, wenn also nur winzige Spuren von 1 4 C vorhanden sind. In diesen Fällen eignet sich besser eine andere Methode, die allgemein an Bedeutung gewinnt. Die meisten Gesteine und Mineralien enthalten kleine Mengen Uran, welches sehr langsam durch Aussendung von «-Teilchen zerfällt. Die Bahnen dieser energiereichen Helium-Kerne hinterlassen geringe Spuren im Material, ebenso der Rückstoß des neugebildeten Kerns. Diese sehr feinen Spuren können durch geeignete Ätzung verbreitert und im Mikroskop sichtbar gemacht werden. Man erhält also die Gesamtzahl der Zerfälle, die in Beziehung zur Menge des noch vorhandenen, nicht zerfallenen Urans gesetzt wird. Die Halbwertszeit des Urans ist gut meßbar und beträgt 4,56 • 109 Jahre.

26

Messen u n d Maßeinheiten Aufgaben

I, 1

In den USA nennt m a n beim Treibstoffverbrauch eines Kraftwagens die Zahl der Meilen, die man mit 1 gallon fahren kann, während man in Deutschland die Zahl der Liter Treibstoff angibt, die man auf einer Strecke von 100 km verbraucht hat. Man berechne den Treibstoffverbrauch eines Kraftwagens in Ltr./lOOkm, wenn er in den USA die Strecke von 15 Meilen mit 1 gallon fährt. 1 USA gallon (gal) = 3,785 Ltr. (Man beachte: In England 1 gallon = 4,546 Ltr.) 1 (USA) Statute mile = 1,609 km

I, 2

a) Wieviel G o n sind eine Neusekunde? b) Wieviel G o n sind eine Altsekunde?

I, 3

1 Quadratneugrad oder 1 Quadratgon sind wieviel Quadrataltgrad und wieviel Steradiant ?

I, 4

Wieviel Moleküle enthält a) ein Gramm, b) ein Liter Luft bei 0 °C und Normaldruck ?

I, 5

Wie kann man die Dichte eines unregelmäßig geformten Stückes Bernstein bestimmen?

I, 6

M a n berechne die Dichte von Sauerstoff bei 0 °C und Normaldruck.

IL K a p i t e l

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes 6. Absolute und relative Ruhe und Bewegung; Begriff des Massenpunktes Ruhe und Bewegung sind bekannte Begriffe des täglichen Lebens. Dennoch müssen sie in physikalischer Hinsicht genauer betrachtet werden. Eine Bewegung wird dann eine gleichförmige genannt, wenn ein Körper in gleichen Zeitabschnitten gleiche Wege zurücklegt. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Bewegung ungleichförmig. Bewegen sich die einzelnen Punkte eines Körpers auf parallelen Geraden, so handelt es sich um eine fortschreitende Bewegung oder Translation. Behält dagegen eine im Körper festliegende Linie oder ein festliegender Punkt seine Lage im Raum bei, während die anderen Punkte des Körpers konzentrische Kreise um diese Achse bzw. Kugeln um diesen Punkt beschreiben, dann handelt es sich um eine Drehbewegung oder Rotation. Translation und Rotation können bei einem Körper zusammen vorkommen, also überlagert sein. Die Bewegung eines rollenden Rades z. B. ist zusammengesetzt aus einer Rotation und einer Translation. Von der Bewegung eines Körpers spricht man im allgemeinen nur dann, wenn der Körper seine Lage relativ zu seiner näheren Umgebung ändert. Wenn jemand ruhig in seinem Zimmer sitzt, spricht man von Ruhe und nicht von Bewegung, obgleich sich der Betreffende mit dem Haus und der Erde durch den Weltraum bewegt. Man spricht im allgemeinen also nur von der Bewegung des Menschen, wenn er sich relativ zur Erdoberfläche bewegt. Man spricht aber von der Drehung der Erde um eine Achse, von dem Lauf der Erde um die Sonne und von der Bewegung unserer Sonne mit den Planeten im Weltenraum. Man bezieht also eine Bewegung im allgemeinen immer auf die nächstgrößere Umgebung. Diese Umgebung nennt man das „Bezugssystem" und verzichtet meist auf den besonderen Hinweis. In manchen Fällen kann man jedoch auf die Angabe des Bezugssystems nicht verzichten: Wenn z. B. ein Mensch auf einem fahrenden Schiff stillsteht, dann befindet er sich relativ zum Schiff in Ruhe, andererseits bewegt er sich mit seinem nächsten Bezugssystem, nämlich dem Schiff, relativ zur festen Erdoberfläche. Dies ist ja der Zweck seiner Reise. Man muß also in einem solchen Fall bei Betrachtung von Ruhe und Bewegung die Frage stellen: Relativ zu welchem Bezugssystem erfolgt die Bewegung ? Ist die Bewegung eines Bezugssystems so offensichtlich wie z. B. die Bewegung eines Flusses, der ein fahrendes Boot trägt, dann werden die Bewegungen des Gegenstandes (in diesem Fall des Bootes) und des Bezugssystems (in diesem Fall des Flusses) zusammengesetzt. Die resultierende Bewegung wird dann auf das nächstgrößere Bezugssystem (in diesem Fall auf die feste Erdoberfläche) bezogen (siehe Zusammensetzung von Bewegungen). Ein Reisender, der in einem extrem langsam und gleichmäßig fahrenden Eisenbahnzug sitzt, weiß oft nicht, ob sich der eigene Zug oder der Nachbarzug bewegt. Erst durch einen Vergleich mit festen Punkten auf der Erde kann er die Entscheidung treffen. Man sieht daraus, daß es in bestimmten Fällen nicht möglich ist zu entscheiden, ob sich ein Gegenstand oder das Bezugssystem bewegt. Nur die relative Bewegung zwischen Gegenstand und Bezugssystem ist erkennbar. (Dies gilt aber nur für geradlinige Bewegungen von Körpern mit konstanter Geschwindigkeit, nicht dagegen für beschleunigte Bewegungen von Körpern.) Von absoluter Ruhe oder Bewegung zu sprechen, hätte nur dann einen Sinn, wenn man ein Bezugssystem zugrunde legen könnte, das sich wirklich in Ruhe befindet. Eine Reihe mechanischer Versuche wird später zeigen, daß als solches Fundamentalsystem ein Bezugssystem angesehen werden kann, das im

28

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Fixsternhimmel festgelegt ist. Natürlich ist auch dies im Grunde eine r e l a t i v e Bewegung, nämlich relativ zu der Gesamtheit der Fixsterne. Aber während es nach den Gesetzen der Mechanik u n z u l ä s s i g wäre, anzunehmen, daß die Erde r u h t und der Fixsternhimmel sich bewegt, ist die umgekehrte Annahme (ruhender Fixsternhimmel und bewegte Erde) mit ihnen verträglich; d. h. das ptolemäische Weltsystem widerspricht unserer Mechanik, während das kopernikanische mit ihr in Einklang ist. Man benutzt zur Festlegung von Punkten, Längen und Bewegungen sogenannte Koordinatensysteme, die in dem Bezugssystem verankert sind. Das am häufigsten benutzte System besteht aus drei zueinander senkrechten Geraden, den „ K o o r d i n a t e n a c h s e n " , die man mit den Buchstaben X, Y und Z bezeichnet (Abb. II, 1). Die positiven Richtungen der drei Achsen sind

Abb. II, 1. Zur Erklärung des rechtwinkligen Koordinatensystems folgendermaßen gewählt: Man denkt sich eine Rechtsschraube, die sich durch Rechtsdrehung von unten nach oben bewegt. Die Fortschreitrichtung ist die positive Z-Richtung. Die X- und die Y-Achse bilden dann eine Ebene senkrecht zur Z-Achse; sie liegen also in der Drehebene der Schraube, und zwar so, daß die Y-Achse durch eine Rechtsdrehung der Schraube um 90° aus der X-Achse hervorgeht (rechtshändiges System). Der Schnittpunkt dieser drei Geraden heißt der N u l l p u n k t oder der A n f a n g s p u n k t des Koordinatensystems. Die Lage eines Punktes P im Raum wird durch die drei senkrechten Abstände x, y, z von den Achsen angegeben, wobei die Vorzeichen dieser Zahlen angeben, auf welcher Seite der Achse in bezug auf den Nullpunkt der betreffende Punkt liegt. In der Abb. II, 1 hat somit der Punkt P\ die Koordinaten + xi, + yiund + z\\ dagegen hat der Punkt P2 die Koordinaten — X2, — yi und + Z2. Die Abstände der beiden Punkte von dem Koordinatenanfangspunkt sind durch die Beziehungen ri = ]/x\ + y\ + z\ u n d r2 = | / x f + y\ + z^ gegeben. Der gegenseitige Abstand der beiden Punkte ist: d = l / [ * i - ( • - * 2 ) ] 2 + [ > i - ( - y 2 ) ] 2 + (zi - z 2 ) 2 • Bei den Betrachtungen dieses Kapitels ist es zweckmäßig, zunächst nicht von ausgedehnten Körpern zu sprechen, sondern nur von materiellen Punkten oder Massenpunkten. Unter einem Massenpunkt versteht man einen Körper, der so klein ist, daß seine Lage hinreichend genau durch e i n e n geometrischen Punkt angegeben werden kann. Das hat den großen Vorteil, daß auch seine Bewegung sehr einfach bestimmbar ist. Bei einem Punkt hat es offenbar keinen Sinn, von einer Rotation zu sprechen; die Bewegung ist also rein translatorisch. Experimentell hat man es freilich stets mit ausgedehnten Körpern zu tun. Im nächsten Kapitel wird neben der „Mechanik eines Massenpunktes" auch eine „Mechanik eines Systems von

Gleichförmig geradlinige Bewegung; Begriff der Geschwindigkeit

29

Massenpunkten" behandelt werden. Da jeder ausgedehnte Körper als eine Anhäufung von sehr vielen Massenpunkten betrachtet werden kann, wird man dann auch die Bewegung ausgedehnter Körper beherrschen. Außerdem läßt sich zeigen, daß es in jedem System, also in jedem ausgedehnten Körper, einen P u n k t gibt (den sogenannten Schwerpunkt), der sich genau nach den Gesetzen eines Massenpunktes bewegt. Wenn man daher bei der Behandlung der einzelnen Massenpunkte auch gezwungen ist, mit ausgedehnten Körpern zu experimentieren, so rechtfertigt sich das dadurch, daß immer anstelle eines Körpers sein Schwerpunkt gemeint ist. 7. Gleichförmig geradlinige Bewegung; Begriff der Geschwindigkeit Ein Massenpunkt bewegt sich geradlinig und gleichförmig, wenn er auf gerader Bahn in gleichen Zeiten gleiche Wege zurücklegt. Bezeichnet man mit s die in der Zeit t zurückgelegte Wegstrecke, so gilt für die geradlinige und gleichförmige Bewegung, daß das Verhältnis s/t einen gleichbleibenden, d. h. konstanten Wert besitzt. Das Verhältnis heißt Geschwindigkeit. Geschwindigkeit v = Weg s / Zeit t (sofern geradlinige und gleichförmige Bewegung) Aus dieser Definition folgt zwangsläufig, daß die Einheit der Geschwindigkeit das Verhältnis von Längeneinheit/Zeiteinheit sein muß. Die Dimension ist für die Geschwindigkeit also dim v = LT Dies gilt für jede Geschwindigkeit und für jede Art von Bewegung, also nicht nur für den Fall der geradlinigen und gleichförmigen Bewegung. Als Einheiten für die Geschwindigkeit werden meist benutzt: m/s und km/h. Die Umrechnung erfolgt leicht, wenn man bedenkt, daß 1 m = 0,001 km und l s = —!--h ist. Fährt z. B. ein Auto mit einer Geschwindigkeit v = 72 km/h und möchte man wissen, wie groß der Zahlenwert in den Einheiten m/s ist, dann hat man zu schreiben: 1000 m tu = 72——— / v = nv 12 km/h =™ 20 m/s. 3600 s

Will man andererseits die Geschwindigkeit eines Rekord-Läufers umrechnen, welcher die Strecke von 100 m in 10 s durchläuft, dann hat man zu schreiben: 100m „„ 0,001km „ . . „„„km ... — t — = 10 — = 10 • = 10 • 0,001 • 3600 — = 36 k m / h . 10 s s 1 h 360Ö Werte einiger Geschwindigkeiten: Golfstrom (bei Florida) 100 m Schwimmer (Rekord) 100 m Läufer (Rekord) 10 km Radfahrer (Rekord) Rennpferd Ozean-PassagierschifF Schwertfisch Unterseeboot (ideale Form und in großer Tiefe) Schwalbe

m/s 2 1,87 10 12,4 18 18 21

km/s 0,002 0,00187 0,010 0,0124 0,018 0,018 0,021

36 80

0,036 0,080

km/h 7,2 6,7 36 44,6 65 65 75 130 288

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

30

Werte einiger Geschwindigkeiten m/s Elektr. Lokomotive mit 3 Wagen (Rekord) 92 Rennwagen (Rekord) 176 Schall in Luft bei 0 °C 331 Flugzeugrekorde a) im Jahre 1903 14 b) im Jahre 1966 (XI5 in 30 km Höhe) 1889 Mond auf Bahn um die Erde 1000 Erde auf Bahn um die Sonne 29600 Licht im Vakuum «* 0,3 • 109

km/s

km/h

0,092 0,176 0,331

330 634 1192

0,014 1,889 1 29,6 299793

50 6800 3600 106000 ss 1,08 • 109

Zur Angabe einer Geschwindigkeit ist also die Messung einer Strecke und einer Zeit erforderlich. Als Beispiel für eine Geschwindigkeitsmessung sei im folgenden die Bestimmung der Mündungsgeschwindigkeit einer Pistolenkugel ausgeführt (Abb. II, 2). Auf der verlängerten

Achse eines Elektromotors M, dessen Umlaufszahl pro Minute mit einem Umdrehungsmesser U gemessen werden kann, sind im Abstand d zwei Pappscheiben und S2 befestigt. Feuert man aus der Pistole P in der bezeichneten Richtung parallel zur Achse des Motors durch die Pappscheiben einen Schuß, der die erste Scheibe an der Stelle a 1 trifft, so wird die Scheibe £2 an einer Stelle a% durchschlagen, die gegenüber der Durchschußöffnung in .S'i um den Winkel oc versetzt ist. Denn um den Winkel oc dreht sich die Scheibe, während das Geschoß die Strecke d zurücklegt. So erhält man die Flugzeit t des Geschosses zwischen den beiden Scheiben aus dem Winkel oc und der Umdrehungszahl Z pro Minute. Der in einer Sekunde durchlaufene Winkel ist Z

Der in t Sekunden durchlaufene Winkel ist /-mal so groß, also: «=

60 s

360°.

Daraus folgt _ or 60

Bei einem Versuch war z. B. d = 30 cm und Z = 1800 Umdrehungen/min. Für « ergab sich ein Winkel von 15°, für die Geschwindigkeit ein Wert von 216 m/s. Bei Überschall-Flugzeugen bezieht man die Geschwindigkeit v meist auf die Schallgeschwindigkeit c. Man dividiert die Geschwindigkeit v des Flugzeuges durch die Schallgeschwindigkeit c und nennt das Verhältnis die Mach-Zahl: Ein Mach entspricht der Schallgeschwindigkeit, zwei Mach der zweifachen Schallgeschwindigkeit. Mach-Zahl = v/c.

Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung

31

8. Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung Im vorangehenden Abschnitt wurde eine gleichförmige Bewegung behandelt. Es war daher möglich, bei der Bestimmung der Geschwindigkeit eine in einer beliebig großen Zeit zurückgelegte Strecke zu benutzen. Es ist leicht einzusehen, daß dieses Verfahren versagt, wenn der sich bewegende Punkt auf geradliniger Bahn in gleichen Zeiträumen verschieden große Wege zurücklegt, wenn also die Geschwindigkeit nicht mehr gleichförmig ist. In der Abb. II, 3 bewege sich v

Abb. II, 3. Zur Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung t,

s

s

S4

ij

k

ein Punkt von links nach rechts. Er sei zur Zeit t\ am Ende der Strecke si, zur Zeit am Ende der Strecke S2 usw. angekommen. Um die Strecke sz — si zurückzulegen, braucht er die Zeit ti — t\. Entsprechend braucht er für die Strecke 53 — S2 die Zeit tz — H usw. Die Zeiten für die Zurücklegung der ungleichen Strecken seien gleich: also t% — h = t% — t% = ti — darübergesetzten Pfeil angedeutet, also AB. Komponenten von Vektoren nach bestimmten Richtungen (z. B. nach der x- oder ^-Richtung) erhalten einen entsprechenden Index, z. B. vx (x-Komponente der Geschwindigkeit v) oder ay (^-Komponente der Beschleunigung a). Allgemein wird der absolute Betrag eines Vektors durch lateinische Buchstaben bezeichnet, z. B. v und a für die Beträge der Vektoren v und a. — Oftmals werden Vektoren auch durch normale Buchstaben mit einem Pfeil darüber gekennzeichnet, also z. B. v = v. Dies geschieht wegen der besseren Übersichtlichkeit in diesem Buch auch bei den meisten Abbildungen.

4 '

i /

Abb. II, 7. Zusammensetzung zweier Bewegungen. Durch Vektoraddition der Eigengeschwindigkeit des Flugzeuges und der Geschwindigkeit des Seitenwindes ergeben sich Richtung und Größe der „Reise"-Geschwindigkeit

Die Addition und die Subtraktion von Vektoren wird stets bei der Zusammensetzung von Bewegungen angewendet. Betrachten wir ein Flugzeug am Himmel, das vom Seitenwind abgetrieben wird (Abb. II, 7). Die Geschwindigkeit des Flugzeuges allein wird durch den Vektor tii dargestellt. Der Betrag der Geschwindigkeit ist durch die Länge des Pfeils angegeben. Der Seitenwind allein würde das Flugzeug mit der Geschwindigkeit «2 forttragen. Die vektorielle

35

Zusammensetzung und Zerlegung von Bewegungen; Vektoraddition

Addition zeigt, wie groß der Betrag und wie die Richtung der „resultierenden" Geschwindigkeit ist. Man erkennt, daß die wirkliche „Reise"-Geschwindigkeit «3 des Flugzeuges durch den Seitenwind etwas größer ist als die Geschwindigkeit »1 des Flugzeuges allein. Man erkennt ferner, daß die gesteuerte Richtung des Flugzeuges nicht mit der endgültigen Richtung des Flugs übereinstimmt.

I

Abb. II, 8. Zur Vektoraddition von Geschwindigkeiten. Ein Boot kann einen Fluß in verschiedener Weise überqueren.

Y7777777777?7777777777777777777777777777Z777777,7

In einem zweiten Beispiel (Abb. II, 8) soll ein Boot einen Fluß überqueren. Das Boot wird flußabwärts getrieben. Die Vektoraddition zeigt sofort Betrag und Richtung der Geschwindigkeit des Bootes. Man kann aber auch dem Boot eine solche Richtung geben, daß es genau gegenüber vom Abfahrtsort ankommt. Nur durch diese Darstellung in Vektoren kann man schnell und überzeugend die Richtung der Geschwindigkeit erfahren, welche das Boot haben muß, um genau gegenüber anzukommen. Es ist gleich, in welcher Reihenfolge die Vektoren addiert werden. Die Abb. II, 9 zeigt z. B. die Addition zweier Vektoren in verschiedener Reihenfolge. Es ergibt sich ein Parallelogramm, wie es besonders auch bei der Überlagerung und Zerlegung von Kräften angewendet wird. In der Abb. II, 10 sind vier Vektoren addiert. Die untere Hälfte des Bildes zeigt die Vektoraddition in umgekehrter Reihenfolge. Es ergibt sich die gleiche Vektorsumme. Man kann also solche Vektoren parallel verschieben. Ebenso, wie sich mehrere Vektoren zu einer Resultierenden zusammensetzen, läßt sich umgekehrt ein gegebener Vektor in verschiedene Komponenten zerlegen. Meist wird hierbei die Richtung der Komponenten vorgeschrieben. In Abb. II, 11 ist dargestellt, wie ein vorgegebener

Abb. II, 9

Abb. II, 10

Abb. II, 11

Abb. II, 9. Zur Addition zweier Vektoren. Vertauschen der Reihenfolge führt zum Parallelogramm und zum gleichen Ergebnis Abb. II, 10. Addition von vier Vektoren. Die umgekehrte Reihenfolge in der unteren Bildhälfte führt zum gleichen Ergebnis Abb. II, 11. Zerlegung eines Vektors in zwei zueinander rechtwinklige Komponenten 3*

36

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

Vektor v in der xy-Ebene in die beiden Komponenten vx (parallel zur jc-Achse) und v y (parallel zur ¿»-Achse) zerlegt wird. I s t « die Neigung des Vektors v gegen die x-Achse, so sind die Beträge der Komponenten vx und v y : vx = vcosa Der Betrag des Vektors v beträgt:

und

t>j, = ü - s i n a .

v = ]/v2x + v2.

Abb. II, 12. Zerlegung eines Vektors v in die drei Komponenten vx, vy und vz parallel zu den Koordinatenachsen

Die Abb. II, 12 zeigt schließlich die Zerlegung eines im Raum gelegenen Vektors v in die drei Komponenten vx, v y und vz, deren Richtungen parallel zu den Koordinatenachsen x, y und z liegen. Es ist üblich, die Neigungswinkel des Vektors t> gegen die Koordinatenachsen mit x, ß und y zu bezeichnen. D a n n gelten für die Beträge: yx = t ; - c o s a ;

vy = vcos

ß;

uz = t> • cos y .

Daraus folgt für den Betrag des Vektors: v = ]/v2x +

v2y+^.

Für den Fall, daß v eine Geschwindigkeit darstellt, ist nach Gl. (II, 1) v = ds/dt. Dann sind dx, dy und dz die Projektionen von ds auf die Koordinatenachsen. Das heißt: dx = ds- c o s a ; dy = ds- cosß;

dz = as- cosy.

Durch Division mit dt erhält man: dx

dy

dz

das heißt: Die Komponenten des Geschwindigkeitsvektors v sind erste Differentialquotienten der Koordinaten nach der Zeit.

Krummlinige Bewegung; allgemeine Definition der Beschleunigung

37

11. Krummlinige Bewegung; allgemeine Definition der Beschleunigung Bisher wurden bei den Überlegungen nur Bewegungen auf geradliniger Bahn vorausgesetzt. Jetzt werde ein Massenpunkt betrachtet, der den in Abb. II, 13 gezeichneten ebenen Kurvenzug durchläuft. In jedem Punkt seiner Bahn ist die augenblickliche Richtung seiner Geschwindigkeit durch die Tangente an diesem Punkt der Kurve gegeben. Für bestimmte Punkte 1, 2 und 3 sind die betreffenden Geschwindigkeitsvektoren eingezeichnet. Sie unterscheiden sich im allgemeinen sowohl durch ihren Betrag als auch durch ihre Richtung. Nur wenn ein Massenpunkt sich gleichförmig auf einer Kreisbahn bewegt und dabei stets die gleiche Zeit für einen Umlauf braucht, dann ist der Betrag aller Geschwindigkeitsvektoren in jedem Punkt der Kreisbahn gleich. Aber ein Vektor ist gekennzeichnet durch Betrag und Richtung. Eine Geschwindigkeitsänderung liegt deshalb auch dann vor, wenn sich n u r die Richtung der Geschwindigkeit ändert und dabei der Betrag gleich bleibt. Eine solche Geschwindigkeitsänderung pro Zeit ist auch eine Beschleunigung!

Abb. II, 13. Zur krummlinigen Bewegung. Die Pfeile geben Betrag und Richtung der Geschwindigkeit in drei Punkten an

In Abb. II, 14 a sei ein kleines Bahnelement ds zwischen zwei Punkten Pi und der gekrümmten Bahn herausgenommen. Die Geschwindigkeiten in diesen beiden Bahnpunkten seien »i und t>2. Wenn das Bahnelement hinreichend klein ist, kann es als Teil eines Kreises, des sogenannten Schmiegungskreises, betrachtet werden. Errichtet man in den Berührungspunkten die Senkrechten, so schneiden sich diese in dem Mittelpunkt O des Schmiegungskreises. Die beiden so gewonnenen Radien r bilden miteinander den Winkel dtp, den auch die beiden Geschwindigkeitsvektoren und vi miteinander einschließen. In der Abb. II, 14b sind die beiden Geschwiniri

Abb. II, 14. Zerlegung der Geschwindigkeitsänderung dv in Komponenten parallel und senkrecht zur Bahn

digkeiten »j und »2 nochmals nach Größe und Richtung von einem gemeinsamen Anfangspunkt P aus aufgetragen. Die Verbindungslinie ihrer Endpunkte AB liefert dann einen Vektor dv. Er stellt nach Größe und Richtung die Geschwindigkeitsänderung dar, die der Punkt bei der Bewegung längs des Bahnelementes ds erfährt. Die Geschwindigkeitsänderung p r o Z e i t bedeutet aber eine Beschleunigung, deren Richtung mit der von dv zusammenfällt. Der Vektor

38

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

AB ist also proportional der Beschleunigung; sein Betrag ist noch unbekannt. Zerlegt man AB in zwei zueinander senkrechte Komponenten AC und CB parallel und senkrecht zur Richtung von vi, dann erhält man für dv zwei Komponenten. Eine liegt parallel zu Di; sie ist proportional der „Bahnbeschleunigung" ab (oder „Tangentialbeschleunigung"). Diese Beschleunigung a& ist also lediglich die Änderung der Größe der Geschwindigkeit bei gleichbleibender Richtung und besitzt den Betrag dv d2s (II 6) a = ' >=Tt d?Sie unterscheidet sich also nicht von der bisher betrachteten Beschleunigung bei geradliniger Bewegung. Die andere Komponente von dv liegt senkrecht zu Sie ist proportional der „Radialbeschleunigung" ar, auch „Normalbeschleunigung" genannt. Diese Beschleunigung besorgt ausschließlich die R i c h t u n g s ä n d e r u n g d e r G e s c h w i n d i g k e i t . Wenn die Radialbeschleunigung allein vorhanden und konstant ist, dann handelt es sich um die Bewegung eines Punktes auf einer Kreisbahn mit konstanter Umlaufgeschwindigkeit (da a& = 0). Die Zerlegung einer Beschleunigung in zwei Komponenten, in die Bahnbeschleunigung ab und in die Radialbeschleunigung ar, zeigt somit die zwei Grenzfälle (Abb. II, 15). Die „Bahnbeschleunigung" ab ist im täglichen Leben allgemein als Beschleunigung bekannt. Die Radialbeschleunigung ar wird dagegen im täglichen Leben oft nicht als Beschleunigung angesehen. Sie ist aber von gleich großer Bedeutung. Man erkennt an diesem Beispiel besonders schön, daß die Richtung eines Vektors ebenso wichtig ist wie sein Betrag. Abb. II, 15.

dv

a) Reine Bahnbeschleunigung at, durch Vergrößerung der Geschwindigkeit in Richtung der Bahn

b) Reine Radialbeschleunigungar, nur durch Änderung der Richtung der Geschwindigkeit

-v-At-

ari At)2

c) Gedachte Zerlegung einer Kreisbewegung in solche unendlich kleinen Schritte ( = v • At), auf denen der Massenpunkt tangential weiterfliegt, und solche (s = 1 / 2 ar (At)2), auf denen der Massenpunkt wieder auf die Kreisbahn gezogen wird

Die Bewegung eines Massenpunktes auf einer Kreisbahn mit konstanter Umlaufgeschwindigkeit ist ein häufig vorkommender Sonderfall und soll hier eingehender behandelt werden. Es gibt dann also nur eine konstante Radialbeschleunigung ar. Für kleine Winkel (Abb. II, 15) gilt, daß d(p = dv/v, also ist dv = v • d ar = ~r = — — = v • a>. dt dt

Krummlinige Bewegung; allgemeine Definition der Beschleunigung

39

Die Zeit für einen vollen Kreisumlauf sei T\ der Weg dafür ist der Kreisumfang = 2 rn. Also ist die Bahngeschwindigkeit v = 2 m/T. Da 2 n\T =to, ist die (11,8)

Bahngeschwindigkeit

v = a>-r.

Durch Einsetzen von (II, 8) in (II, 7) folgt: (II, 9)

Radialbeschleunigung

ar = co-v = co2 •r = —^ . r

Die Radialbeschleunigung ist zum Kreiszentrum gerichtet. Sie bewirkt, daß der Massenpunkt auf der Kreisbahn bleibt. Man kann sich die Kreisbewegung so zusammengesetzt denken, daß der Massenpunkt in unendlich kleinen Schritten ( = v • At) tangential weiterfliegt und ebenfalls in unendlich kleinen Schritten = (1/2) ar (At)2 wieder auf die Kreisbahn gezogen wird (Abb. II, 15). Die reine Bahnbeschleunigung und die reine Radialbeschleunigung sind zwei Grenzfälle. Oft sind beide gleichzeitig vorhanden. Die Beschleunigung a kann dann immer in die beiden Komponenten Bahnbeschleunigung a& und Radialbeschleunigung ar zerlegt werden. Der Betrag a der Gesamtbeschleunigung ist: (11,10)

a = Vri +

tf.

Man kann die Zerlegung der Beschleunigung in eine Bahnbeschleunigung a& und eine Radialbeschleunigung ar umgehen, wenn man sie auf die Koordinatenachsen projiziert; nennt man die Winkel, diea mit diesen bildet, a, ß, y, so hat man nach dem Parallelogrammsatz für die Beträge: ax = acosot,

ay = a cosß,

az =

acosy.

Für ax, ay, az erhält man sehr einfache Ausdrücke, wenn man bedenkt, daß z. B. ax die Beschleunigung der g e r a d l i n i g e n Bewegungskomponente parallel der x-Richtung, d . h . die zeitliche Änderung der Geschwindigkeit vx = dxjdt ist. Daher ergibt sich sofort: d2x ( I I

U )

' Das heißt:

d2y >=HF>

a

d2z * HF--

a =

Die Beschleunigungskomponenten in kartesischen Koordinaten sind die zweiten Ableitungen der Koordinaten nach der Zeit. Der Betrag der Gesamtbeschleunigung a ist:

Die Einfachheit dieser Ausdrücke für die Beschleunigungskomponenten beruht offensichtlich darauf, daß man hier die einfachen Formeln für die Bahnbeschleunigung benutzen kann, da die Projektionen jeder Bewegung auf die Koordinatenachsen g e r a d l i n i g sind. Bisher wurde angenommen, daß die krummlinige Bewegung in einer E b e n e verläuft. Ist dies nicht der Fall, hat man es also mit einer krummlinigen r ä u m l i c h e n Bewegung zu tun, so läßt sich für die betreffende Bahn an jeder Stelle eine sogenannte Schmiegungsebene finden,

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Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

an deren Richtung sich eine durch den betreffenden Punkt und zwei benachbarte Punkte hindurchgelegte Ebene u m so besser anlegt, je näher die drei Punkte beieinander liegen. In dieser Schmiegungsebene liegt dann sowohl die Bahnbeschleunigung a& als auch die Radialbeschleunigung ar. Die oben behandelte gleichförmige Kreisbewegung ist eine besonders einfache Art einer sogenannten Zentralbewegung. Zentralbewegungen sind solche speziellen krummlinigen Bewegungen, bei denen der Beschleunigungsvektor stets nach dem gleichen Raumpunkt, dem sogenannten Bewegungszentrum, hinzeigt. Zentralbewegungen sind z. B. alle Planetenbewegungen und auch die Bewegung des Mondes um die Erde. Die Verbindungslinie vom Bewegungszentrum nach dem bewegten Punkt nennt man den „ F a h r s t r a h l " oder den „ R a d i u s v e k t o r " .

12. Fallgesetze a) Der freie Fall. Die behandelten Bewegungsgesetze sollen am Beispiel des freien Falles experimentell untersucht werden. Erfahrungsgemäß fällt jeder im freien R a u m losgelassene Körper zur Erdoberfläche hin, wobei seine Geschwindigkeit um so größer wird, je größere Strecken er durchfällt. Aus der letzten Tatsache erkennt man bereits, daß man es beim freien Fall mit einer beschleunigten Bewegung zu tun hat. Zunächst sei untersucht, ob die Fallbewegung von der Art des fallenden Körpers, z. B. von seiner Größe oder seinem Gewicht abhängig ist. Wir machen folgende Versuche: Zwei gleichgroße Kugeln aus Aluminium und Blei, die also sehr verschiedenes Gewicht haben, lassen wir gleichzeitig aus derselben Höhe zu Boden fallen. Wir stellen fest, daß sie zu gleicher Zeit am Boden aufschlagen, wie bereits G a l i l e i (1590) durch Fallversuche am schiefen Turm von Pisa festgestellt hat. Nehmen wir drei gleiche Kugeln aus demselben Stoff, so kommen diese natürlich zur gleichen Zeit am Boden an. Verbinden wir nun zwei dieser Kugeln fest miteinander (etwa durch einen hindurchgehenden Stift), und lassen wir diese Doppelkugel mit der dritten Einzelkugel gleichzeitig fallen, so schlagen auch diese beiden Körper von verschiedener Größe und verschiedenem Gewicht gleichzeitig am Boden auf. Der hieraus zu ziehenden Folgerung, daß alle Körper, unabhängig von Gestalt, Art und Gewicht, gleich schnell fallen, scheint aber folgender Versuch zu widersprechen: Lassen wir eine Münze und ein gleich großes Stück Papier fallen, so beobachten wir, daß die Münze wesentlich früher unten ankommt, als das zur gleichen Zeit aus derselben Höhe fallende Papierstückchen; letzteres flattert in unregelmäßiger Bewegung zu Boden und benötigt zum Durchfallen eine größere Zeit. Der Gegensatz ist indessen nur scheinbar. Bei diesem letzten Versuch macht sich nämlich der Widerstand der Luft störend bemerkbar. Die beim Fall an dem Körper vorbeiströmende Luft hemmt die Fallbewegung, und zwar um so stärker, je größer die Angriffsfläche der Luft an dem betreffenden Körper ist. Ballen wir das Papierstück zu einer kleinen Kugel zusammen, so fällt es ebenso rasch wie die Münze. Der störende Einfluß des Luftwiderstandes auf den freien Fall läßt sich noch durch einen von N e w t o n angegebenen Versuch anschaulich zeigen. Ein etwa 2 m langes, mehrere Zentimeter weites Glasrohr, das an beiden Enden zugeschmolzen ist, enthält eine Bleikugel, ein Stück Kork und eine kleine Flaumfeder. Befinden sich die drei Körper am Boden der Röhre und dreht man diese rasch um 180°, so beobachtet man, wie zuerst die Bleikugel, dann das Korkstück und schließlich die Flaumfeder unten ankommen. Pumpt man aber die Luft aus der Röhre und wiederholt man den Versuch, so erkennt man, daß nunmehr die drei Körper im gleichen Augenblick auf dem Boden des Rohres aufschlagen. Wir dürfen also das Erfahrungsgesetz aussprechen: Im luftleeren Raum fallen alle Körper gleich schnell. Bei den folgenden Versuchen sehen wir der Einfachheit halber von dem Einfluß des Luftwiderstandes ab.

Fallgesetze

41

Wenn wir experimentell feststellen wollen, welche Strecken ein frei fallender Körper in gleichen Zeiten durchfällt, so müssen wir, da uns größere Fallstrecken im allgemeinen nicht zur Verfügung stehen, besondere Vorrichtungen zur Messung entsprechend kurzer Zeiten benutzen. Größere Fallstrecken sind auch deshalb zu vermeiden, weil die Geschwindigkeit des fallenden Gegenstandes zu groß wird. Dies ist von Nachteil, weil der Luftwiderstand mit dem Quadrat der Geschwindigkeit, also stark ansteigt. Um somit die Verfälschung der Ergebnisse zu vermeiden, sollte der Körper nur eine kurze Strecke durchfallen, sofern man ihn nicht in einer evakuierten Röhre fallen lassen kann. Für die Messung der Zeiten eignet sich besonders gut das Lichtblitzstroboskop. Ebenso wie bei der Photographie wird der sehr kurzzeitige Lichtblitz einer Gasentladungsröhre zur Beleuchtung verwendet. Ein geeignetes Netzgerät sorgt dafür, daß der Blitz in genau einstellbaren zeitlichen Abständen wiederholt wird. Man läßt eine weiße Kugel vor einer dunklen Fläche in einem dunklen Raum frei fallen und öffnet während der ganzen Fallzeit den Verschluß eines Photoapparates (Abb. II, 16). Die durchfallenen Wegstrecken und die dazu gebrauchten Zeiten werden

0,8 • 0,3

Abb. II, 16. Freier Fall einer Kunststoffkugel in Luft. Beleuchtung mit Lichtblitzstroboskop. Nach jeweils 0,05 Sekunden erfolgte ein Lichtblitz • 0,4

miteinander verglichen, und man erkennt bald, daß die Fallstrecken den Quadraten der Fallzeiten proportional sind, daß also 5 f 2 ist. In der doppelten Zeit wird somit die vierfache Wegstrecke durchfallen. Man kann auch leicht den Wert der Proportionalitätskonstanten ermitteln und erhält etwa 5 m/s 2 . Um die Fallgesetze einfach und leicht zu verstehen, sollen nun solche Strecken betrachtet werden, die genau in ganzen Sekunden durchfallen werden. Wenn man keine große Genauigkeit

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

42

anstrebt, sondern zunächst nur den Bewegungsvorgang verstehen will, dann ist dieser Weg zweckmäßig. Man kann dafür auch brauchbare Messungen mit Bandmaß und Stoppuhr vornehmen und einen Stein von einem Gebäude fallen lassen. Es ergeben sich etwa folgende Werte: Zeit t (in Sekunden)

Gesamte Fallstrecke in Metern

Fallstrecke in Metern während einer Sekunde, d. h. mittlere Geschwindigkeit (in Metern pro Sekunde)

Zunahme der Geschwindigkeit pro Sekunde, d. h. der Beschleunigung (in Metern pro Sekunde 2 )

0 5 m/s 1s

5•1= 5m

2s

5 • 4 = 20 m

3s

5 • 9 = 45 m

10 m/s 2 15 m/s 25 m/s 35 m/s

4s

5 • 16 = 80 m

5s

5 • 25 = 125 m

-» 10 m/s 2 10 m/s 2 10 m/s 2

45 m/s

Aus solchen Versuchen folgt, daß der freie Fall eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung ist. Man sieht, daß die Geschwindigkeit in jeder Sekunde um den gleichen Betrag zunimmt, daß also die Beschleunigung konstant ist und etwa den Wert 10 m/s 2 hat. Diese Fallbeschleunigung auf der Erde ist eine sehr wichtige Größe (nicht nur für fallende Körper); sie wird stets mit dem Buchstaben g bezeichnet. Der genauere Wert ist: Fallbeschleunigung g = 9,81 m/s 2 . Für den freien Fall gelten also die Gleichungen: (II, 13) (II, 14) (II, 15)

Fallhöhe h oder durchfallene Wegstrecke s = \ g • t2 Geschwindigkeit v = g • t Endgeschwindigkeit ve = ]/2g- h (h = Fallhöhe).

Eine kurze Fallzeit läßt sich auch mit einer elektrischen Stoppuhr unter Benutzung folgender Schaltanordnung bestimmen (Abb. II, 17). Ein kleiner Elektromagnet A, der eine Stahlkugel C 'Urltli,

Abb. II, 17. Schaltanordnung mit einer elektrischen Stoppuhr zur Messung der Fallzeit

TNRM.

TTTITI

Abb. II, 18. Fallschnüre

Fallgesetze

43

hält, wird durch einen Strom betätigt, der über die Sperrklinke a der Stoppuhr geschlossen ist. Beim Niederdrücken der Taste d wird dieser in Abb. II, 17 stark ausgezogene Stromkreis geöffnet. Die Kugel C beginnt zu fallen, und gleichzeitig tritt die Uhr in Tätigkeit. Beim Niederdrücken der Taste wird an der Stelle d ein neuer elektrischer Kontakt geschlossen, der den Elektromagnet G betätigt, so daß die Taste in der niedergedrückten Stellung festgehalten wird. Hat die Kugel C die Fallhöhe s = h durchfallen, so schlägt sie auf die Platte F auf. Dadurch wird der elektrische Kontakt e geöffnet, die Taste d durch den Elektromagnet losgelassen, und die Sperrklinke a schlägt gegen die umlaufende Scheibe der Uhr. Diese bleibt sofort stehen und zeigt die Zeit an, die die Kugel zum Durchfallen der Strecke h benötigt hat. Die Tatsache, daß sich beim freien Fall die Fallstrecken wie die Quadrate der Fallzeiten verhalten, kann man anschaulich auf folgende Weise demonstrieren: An zwei Schnüren sind, wie es die Abb. II, 18 zeigt, eine Reihe von Eisenkugeln angebracht, und zwar so, daß sich bei der einen Schnur die Kugeln in gleichem Abstand befinden, während sich bei der anderen Schnur die vom unteren Ende gemessenen Kugelabstände wie 1:4:9:16 verhalten. Hängt man beide Schnüre vertikal an der Zimmerdecke auf, so daß die untere Kugel fast den Boden berührt, und läßt man dann die Schnüre nacheinander los, so schlagen die Kugeln der ersten Schnur in immer kürzer werdenden Zeitabständen, die der zweiten Schnur dagegen in ganz gleichmäßigen Zeitintervallen auf den Boden auf. Bei fast allen Rechnungen genügt für die Fallbeschleunigung der Wert g = 9,8 m/s 2 . Die zweite Stelle nach dem Komma variiert an verschiedenen Orten auf der Erde. Der Wert ist an den abgeplatteten Polen größer als am Äquator. Hier einige Messungen an europäischen Orten, die einmal die unterschiedlichen Werte und zweitens die Genauigkeit der ^-Bestimmung zeigen sollen. Es muß allerdings daraufhingewiesen werden, daß es sich um „Relativmessungen" und nicht um „Absolutmessungen" handelt. Die Ergebnisse wurden m i t „ G r a v i m e t e r n " ( = Schweremessern) erhalten. Während Fallversuche oder Messungen der Schwingungsdauer von Pendeln direkt die Werte der Fallbeschleunigung durch Rechnung ergeben (Absolutmessungen), erlauben die Messungen mit Gravimetern nur Vergleiche der Werte an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten. Diese Relativmessungen sind allerdings sehr genau. Sie setzen jedoch eine richtige und genaue Absolutmessung voraus. Trondheim (Flughafen) Hamburg (Flughafen) Hannover (Flughafen) München (Flughafen) Rom (Flughafen Ciampino-West)

• • • • • • . . •

g g g g g

= = = = =

9,8215243 9,8139443 9,8128745 9,8072914 9,8034755

m/s 2 m/s 2 m/s 2 m/s 2 m/s 2

Die genauen Werte hängen nicht nur von der geographischen Breite, sondern auch von der örtlichen Beschaffenheit der Erdrinde und auch von der Höhe über dem Meeresspiegel ab. Ferner schwanken die Werte zeitlich im Rhythmus von Ebbe und Flut. Es haben sich für die Fallbeschleunigung die Kurzbezeichnungen „Gal" (von G a l i l e i ) und „mGal" (Milligal) als Einheiten eingebürgert. 1 Gal = 1 cm/s 2 ,1 mGal = 10~3 Gal. Man kann somit auch schreiben: g = 981 Gal. Der Mond ruft zeitliche Schwankungen von g in der Größenordnung 0,1 mGal hervor (Ebbe und Flut). b) Der Fall auf der schiefen Ebene Läßt man eine Kugel in einer Rinne (Abb. II, 19 u. II, 20) auf einer geneigten Ebene herunterrollen, so rollt sie um so langsamer, je kleiner der Neigungswinkel oc ist. Dies ist der Winkel zwischen der geneigten Ebene und der Horizontalen. Der Sinus des Neigungswinkels oc, also das Verhältnis: Höhe des Bahnpunktes über der Horizontalen zur Länge der Bahn, ist die Neigung oder die Steigung der Bahn. Die senkrecht nach unten wirkende Beschleunigung g des freien Falls läßt sich in die beiden Komponenten g • sin oc (parallel zur Fallrinne) und g • cos « (senk-

44

Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes

recht zur Fallrinne) zerlegen. Die senkrecht zur Bahn gerichtete Beschleunigungskomponente kann keine Bewegung hervorrufen. So wirkt allein die Größe g • sin i, »2,..., v„, die Impulse pi, ...,/>», so gehorchen die Massenpunkte des Systems den Bewegungsgleichungen : F i =

r. (111,2)

d dt d d~t d

( m

^ V

) =

dpi lh> dp2 ~df' dp„

Das ist nichts Neues. Neues aber gewinnt man, wenn man alle diese Gleichungen addiert. Denn in der links auftretenden Summe a l l e r Kräfte heben sich nach dem dritten N e w t o n s c h e n Gesetz die i n n e r e n heraus, und es bleibt nur die (nach dem Parallelogrammsatz zu bildende) Resultierende der ä u ß e r e n Kräfte übrig, die durch den Index „a" ausgezeichnet wird. Auf der rechten Seite steht der erste zeitliche Differentialquotient von der Summe sämtlicher Impulse; somit erhält man:

(HI, 3 a) Ersetzt man nun die äußeren Kräfte durch ihre Resultante F, ebenso die Summe der Impulse durch den (ebenfalls nach dem Parallelogrammsatz zu bildenden) Gesamtimpuls p, so kann man Gl. (III, 3a) schreiben: F_dp

(III, 3 b)

Bei einem System von Massenpunkten ist die resultierende äußere Kraft gleich der zeitlichen Änderung des Gesamtimpulses (Erster Impulssatz). Diese Gleichung ist die direkte Verallgemeinerung der Newtonschen Bewegungsgleichung eines Massenpunktes in der Impulsform (II, 34); denn auch dort ist ja die Kraft, die auf der linken Seite auftritt, die ä u ß e r e Kraft. Diese Verallgemeinerung wird offensichtlich nur dadurch möglich, daß infolge des dritten Gesetzes die inneren Kräfte sich herausheben. Dies bedingt natürlich eine g r o ß a r t i g e Vere i n f a c h u n g , da man sich um die inneren Kräfte nicht zu kümmern braucht; ohne das dritte N e w t o n sche Gesetz wäre — so kann man ohne Übertreibung sagen — eine „Mechanik der Systeme" gar nicht durchführbar. In der nächsten Nummer (24) wird der 1. Impulssatz in einer noch bequemeren und anschaulicheren Form dargebracht, wodurch die Analogie zur Mechanik eines Massenpunktes noch stärker hervortritt. Besonders einfach und bedeutsam wird der erste Impulssatz, wenn das betrachtete System f r e i ist. Dann g i b t es k e i n e ä u ß e r e n K r ä f t e ; die Summe der inneren annulliert sich wie

Erster Impulssatz; Erhaltung des Impulses eines freien Systems

85

vorhin, d. h. die auf der linken Seite von (III, 3b) stehende resultierende Kraft F ist gleich Null. Somit folgt: (III, 4)

0, oder p = constant.

In einem freien System bleibt der resultierende Impuls p (nach Größe und Richtung) erhalten. War dieser zu i r g e n d e i n e r Zeit der Bewegung gleich Null, so b l e i b t er a u c h w ä h r e n d der g a n z e n Bewegung gleich Null. Experimentell läßt sich der „Satz von der Erhaltung des Impulses" in folgender Weise demonstrieren : Wir knüpfen an den in der vorigen Nummer erwähnten Versuch an, bei dem zwischen zwei Wagen von den Massen m\ und m2, die einander entgegengesetzt gerichtet sind; die Impulse sind also mivi bzw. mzvz und weisen natürlich gleichfalls in entgegengesetzte Richtungen. Da zu Beginn des Versuches (alles in Ruhe!) der Gesamtimpuls jedenfalls Null ist, so muß er es auch nach dem Versuch sein; d. h. es muß gelten: (III, 5)

mlvl + m2v2 = 0 .

Das bedeutet aber, daß die Absolutbeträge der Geschwindigkeiten »i und i>2 sich umgekehrt wie die Massen m\ und mi verhalten, was der Versuch auch wirklich ergibt. Besonders einfach ist der Sonderfall, daß beide Massen gleich sind; dann ist i>i = — »2, d. h. auch die Geschwindigkeiten sind dann entgegengesetzt gleich. Der Satz von der E r h a l t u n g des I m p u l s e s stellt im G r u n d e g e n o m m e n n u r eine a n d e r e F o r m u l i e r u n g des d r i t t e n N e w t o n s c h e n G e s e t z e s dar. Zum Beispiel läßt sich die Wirkung der Rakete, die in der vorigen Nummer als Beispiel für das dritte Gesetz erörtert wurde, natürlich auch mit Hilfe des Impulssatzes erklären: Die Verbrennungsgase mit der Masse m\ werden mit einer großen Geschwindigkeit »1 von der Rakete ausgestoßen, erhalten also einen Impuls m\Vi. Da zu Beginn die Rakete in Ruhe war, hatte sie den Gesamtimpuls Null; damit dieser erhalten bleibt, muß die Rakete mit ihrer Masse m% nach dem Brennschluß eine Bewegung mit der Geschwindigkeit 1)2 ausführen, so daß mivi + m^vz = 0 ist. Hieraus berechnet sich

Das ist natürlich nur eine grobe Näherung. In Wirklichkeit muß man berücksichtigen, daß sich die Raketenmasse »12 während des Fluges durch das Ausströmen der Verbrennungsgase ändert und daß diese Gase nach dem Verlassen der Düsenöffnung immer ¡noch einen Teil des Impulses der Rakete besitzen. In der Ballistik macht man bei der Bestimmung der Geschoßgeschwindigkeit mit dem sogenannten b a l l i s t i s c h e n P e n d e l von dem Satz der Erhaltung des Impulses Gebrauch. Das ballistische Pendel (Abb. III, 5) besteht aus einer an einer Stange aufgehängten großen Masse M (z. B. Kiste mit Sand). Das Geschoß, dessen Geschwindigkeitsbetrag v bestimmt werden soll und das die Masse m haben möge, wird in den Pendelkörper hineingeschossen, so daß es darin stecken bleibt; auf diese Weise erteilt das Geschoß dem Pendel eine bestimmte Geschwindigkeit DI. Bestimmt man diese (etwa aus der Steighöhe h des Pendels) zu vi = j/2 gh, so gilt nach dem Impulssatz für ein freies System die Gleichung: mv = (M + m) vi; hierin ist mv der Impulsbetrag vor und (M + m) vi sein Wert n a c h dem Eindringen des Geschosses in den Pendelkörper. Für die Geschoßgeschwindigkeit ergibt sich damit der Ausdruck

86

Mechanik eines Systems von Massenpunkten

v = Ylgh (M + m)jm, in dem alle Größen auf der rechten Seite der Messung zugänglich sind. Mißt man statt h, was bequemer ist, den maximalen Ausschlagswinkel » des Pendels, und die Pendellänge /, so hat man statt h die Größe / (1 — cos , so hat man nach (III, 30a): mr2co = c o n s t . , oder auch, da die Masse m selbst konstant ist: r2a> = const. Nun ist (o = d

ma

die Winkelgeschwindigkeit und mit r den Bahnradius, so kann man die Radialkraft in folgender Weise ausdrücken: ( I V , 1)

mv2 2 Fr = —— = mrco =mr4n

ii 47t2 v =mc-p-.

Von der Wirkung der Radialkraft überzeugt man sich durch folgende Versuche: U m einen Stein auf einem Kreis herumzuschleudern, muß man ihn an einer Schnur anbinden und deren anderes Ende festhalten. Die straff gespannte Schnur hält den Stein auf der Kreisbahn, die er sofort verläßt, wenn die Schnur losgelassen wird. — Ersetzt man die Schnur ganz oder zum Teil durch eine Federwaage, so kann man sehr schön erkennen, daß die Kraft bei gleicher Umlaufzeit proportional dem Radius ist. Man kann durch Auswechseln des Steines durch andere Körper auch gut erkennen, daß die Kraft proportional der Masse ist. Dabei kann man auch jedesmal die Umlaufzeit variieren und die Gültigkeit der Gl. (IV, 1) wenigstens grob prüfen.

116

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Schreibt man die Gl. (IV, 1) in der Form Fr + (-mrco2)

= 0,

so kann man nach den Überlegungen in Nr. 19 die Größe (— mrco2) als d ' A l e m b e r t s c h e T r ä g h e i t s k r a f t a u f f a s s e n , die g l e i c h f a l l s an der b e w e g t e n M a s s e a n g r e i f t , der Zentripetalkraft ( = Radialkraft) entgegengerichtet ist und ihr das Gleichgewicht hält. Man hat dieser in Richtung des Bahnradius nach außen vom Zentrum wegweisenden Trägheitskraft einen besonderen Namen gegeben: „Zentrifugal"- oder „FIieh"-Kraft. Für die Größe bzw. die Abhängigkeit der Zentrifugalkraft von Masse, Bahnradius, Bahngeschwindigkeit usw. gilt das gleiche wie für die Zentripetalkraft. Da die Zentrifugalkraft nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß der Körper infolge seiner Trägheit sich der Richtungsänderung durch die Zentripetalkraft widersetzt, verschwindet sie gleichzeitig mit der letzteren. Lassen wir z. B. beim herumgeschleuderten Stein die Schnur los, d. h. annullieren wir die Zentripetalkraft, so verschwindet auch die sogenannte Zentrifugalkraft, und der Stein fliegt nach dem Trägheitsgesetz in Richtung der B a h n t a n g e n t e weg. Dieses tangentiale Abfliegen kann man sehr schön an einem funkensprühenden Schleifstein beobachten: Die infolge der Reibung beim Schleifen eines Stahlstückes glühend gewordenen Stahlspäne verlassen den Schleifstein t a n g e n t i a l ! (Abb. IV, 1).

Abb. IV, 1. Beim Schleifen glühend gewordene Stahlspäne verlassen den Schleifstein tangential Wie schon in Nr. 19 ausgeführt, braucht man von d ' A l e m b e r t s c h e n Trägheitskräften, im besonderen von Zentrifugalkräften, überhaupt nicht zu sprechen, wenn man den Bewegungsvorgang nicht als „dynamisches Gleichgewicht" betrachten will: Wie alle Trägheitskräfte tritt auch die Zentrifugalkraft nur dann auf, wenn man statische Methoden und statische Begriffe verwendet, die eigentlich nicht verwendet werden dürfen; den hierdurch begangenen Fehler kompensiert man durch Einführung der Trägheitskräfte, hier der Zentrifugalkraft. Die Einführung dieses Begriffes ist bequem in der Ausdrucksweise, verlangt aber, daß der Lernende den Sachverhalt gründlich durchschaut; ist dies nicht der Fall, so kann der Begriff Zentrifugalkraft zu Verwirrung Anlaß geben, was in der Geschichte der Physik häufig genug der Fall gewesen ist.

/entrrfugalkrsfr

Abb. IV, 2. Zur Definition von Zentrifugal- und Zentripetalkraft Wir wollen das schon benutzte Beispiel betrachten, daß wir einen Stein an einer Schnur herumschwingen, die wir am anderen Ende mit der Hand festhalten; dann g l a u b t man die Zentrifugalkraft durch den nach außen gerichteten Zug der Schnur an der Hand deutlich zu spüren und drückt sich auch häufig so aus. Dennoch ist dies nicht richtig, und es ist lohnend, an diesem einfachen Beispiel den Sachverhalt zu erläutern (Abb. IV, 2). Damit der Stein seine Kreisbahn beschreiben kann, muß auf ihn — in irgendeiner Weise — eine Radialkraft (Zentripetalkraft) nach innen ausgeübt werden; in unserem Beispiele geschieht dies durch die Spannung der (gedehnten) Schnur. In Abb. IV, 2 ist diese

Zentripetal- und Zentrifugalkraft

117

Zentripetalkraft als nach innen gerichteter Pfeil an dem Stein angebracht. W e l c h e K r a f t g r e i f t n u n a n der H a n d a n ? N i c h t e t w a die Z e n t r i p e t a l k r a f t , sondern deren Gegenkraft nach dem dritten Newtonschen Gesetz (actio = reactio); sie ist durch einen nach außen gerichteten Pfeil an der H a n d markiert. Zentripetalkraft und Reaktionskraft sind entgegengesetzt gerichtet und gleich groß, haben aber verschiedene Angriffspunkte. Die Zentrifugalkraft dagegen muß, da sie bei Behandlung der Bewegung als statisches Problem der Zentripetalkraft das Gleichgewicht halten soll, an dem S t e i n selbst angebracht werden, wie es in Abb. IV, 2 auch geschehen ist; die Zentrifugalkraft ist der Zentripetalkraft gleich, aber entgegengesetzt gerichtet, sie ist gleich groß und gleich gerichtet mit der an der Hand angreifenden Reaktionskraft. Was man an der Hand als Zug nach außen verspürt, ist also nicht eigentlich die Zentrifugalkraft — diese greift ja gar nicht an der Hand an! —, sondern die ihr nach Größe und Richtung gleiche Reaktionskraft. Man muß sich also folgendes merken: 1. Die Zentrifugalkraft greift an demselben Punkt an wie die Zentripetalkraft. 2. Die R e a k t i o n der Zentripetalkraft greift nach dem dritten Newtonschen Gesetz an einem anderen Punkt an als die Zentripetalkraft, ist aber der Zentrifugalkraft nach Größe und Richtung gleich. 3. Bei den sogenannten Zentrifugalapparaten und Versuchen über Zentrifugalkraft beobachtet man meistens, wie in dem eben besprochenen Fall, nicht die Zentrifugalkraft, sondern die N e w t o n s c h e Reaktionskraft. Wenn man sich dies einmal klargemacht hat, kann man den Begriff der Zentrifugalkraft unbedenklich benutzen, wie es auch im folgenden geschieht. K - f murn. 1 \WP•mr 1

Abb. IV, 3. Messung der Zentrifugalkraft

•imn.

Abb. IV, 4. »Vi = mir2

Abb. IV, 5. Wirkung der Zentrifugalkraft bei rotierenden Flüssigkeiten

Die G r ö ß e der Zentrifugalkraft einer auf einem Kreis mit gegebenem Radius umlaufenden Kugel läßt sich mit der in A b b . IV, 3 wiedergegebenen A n o r d n u n g genau messen. Bei genügend schneller Rotation des Apparates u m die vertikale Achse A hebt die an der Kugel der Masse mi angreifende Zentrifugalkraft ein Metallstück der Masse mi hoch. Die H e b u n g von m% erfolgt demnach, sobald a>2 2; miglm\r ist. — Läßt m a n den in A b b . IV, 4 im Querschnitt gezeichneten Apparat, bei dem zwei verschieden große durch einen F a d e n miteinander verbundene Kugeln der Massen m\ und auf einer horizontalen Stange leicht verschiebbar angebracht sind, u m die Achse A rotieren, so wirkt die Zentrifugalkraft jeder Kugel als Zentripetalkraft auf die andere. D a m i t die Kugeln sich bei der Rotation längs der Stange nicht verschieben, muß, da beide die gleiche Winkelgeschwindigkeit haben, mmcof = miria^ oder mi'.mz= r2: r± sein, d. h. die Kugeln müssen eine solche Lage haben, daß sich die Abstände von der Achse umgekehrt wie die Massen verhalten. D a s bedeutet, d a ß der Schwerpunkt auf der Rotationsachse liegt. Allerdings ist das Gleichgewicht labil! Setzt m a n ein Glasgefäß von der in Abb. IV, 5 a gezeichneten F o r m , in dessen unterem Teil Quecksilber u n d Wasser übereinander geschichtet sind, um die vertikale Achse in schnelle Umdrehungen, so bewegt sich das schwerere Quecksilber nach den Stellen des größten U m fanges und bleibt dort während der Rotation. In derselben Weise erklärt sich auch die Wirkung der Zentrifugen, die zur Trennung verschieden schwerer Flüssigkeiten bzw. verschieden schwerer Stoffe, die in einer Flüssigkeit verteilt sind, dienen. So wird z. B. bei der Milchzentrifuge der R a h m dadurch von der Magermilch abgetrennt, daß man die Vollmilch in einem G e f ä ß in schnelle Rotation versetzt: Die spezifisch schwerere Magermilch wird an die G e f ä ß w a n d getrieben, während sich der leichtere R a h m in der N ä h e der Drehachse ansammelt, wo er durch eine geeignet angebrachte Öffnung abgelassen werden kann.

118

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Früher hat man die Milch einfach längere Zeit in einer flachen Schale stehengelassen. Die Trennung verschieden schwerer Teilchen erfolgt dabei durch die Schwerkraft. Eine längere Zeit ist für die Trennung der Teilchen deshalb erforderlich, weil die Brownsche Molekularbewegung und die Reibung der Trennung ständig entgegenwirken. Schwebeteilchen, deren Dichte nur sehr wenig größer ist als die der Flüssigkeit, setzen sich wegen der Molekularbewegung niemals am Boden ab. Bei der Zentrifuge erfolgt die Trennung viel schneller, weil die sehr viel größere Radialkraft anstelle des Gewichts die Trennung bewirkt. Die Brownsche Molekularbewegung spielt bei der Zentrifuge praktisch keine Rolle mehr. Beträgt z. B. die Zahl der Umdrehungen einer Zentrifuge 3000 pro Minute, also 50 pro Sekunde, dann ist die Radialbeschleunigung ar im Abstand 10 cm von der Achse: ar = reo2 = 0,1 • 4 n 2 • 2500 m/s 2 «a 10000 m/s 2 . Die Radialbeschleunigung beträgt in diesem Fall somit das Tausendfache der Erdbeschleunigung! Damit beträgt auch die Radialkraft das Tausendfache des Gewichts. Man kann heute Ultrazentrifugen kaufen, welche 1000 Umdrehungen pro Sekunde und Radialbeschleunigungen von über einer Million m/s 2 erreichen. Sie werden z. B. zur Sedimentation von Viren und größeren Molekülen verwendet. Bei diesen Ultrazentrifugen müssen die Abstände von der Achse wegen der enormen Materialbeanspruchung klein gehalten werden. Versetzt man einen Kettenring auf einer Schwungradscheibe mit horizontaler Achse in schnelle Rotation, so werden die Kettenglieder durch die nach außen wirkenden Zentrifugalkräfte so stark angespannt, daß die Kette wie ein elastischer Ring wirkt. Wirft man die Kette während der Rotation von der Scheibe ab, so läuft sie auf dem Boden wie ein starrer Reifen weiter und überspringt sogar Hindernisse. — Läßt man eine auf der Achse eines Motors befestigte, kreisrunde Kartonscheibe sehr schnell rotieren, so wird sie durch die Zentrifugalkräfte derart stark angespannt, daß man sie wie eine Kreissäge zum Durchsägen von Holz benutzen kann. Bei dem in der Technik zur Steuerung von Dampfmaschinen benutzten Zentrifugalregler befinden sich (Abb. IV, 6) zwei Kugeln der Masse m an den Enden zweier Stangen /, die drehbar

Fz-mrw

U^,

D

\

Abb. IV, 6. Zentrifugalregler

an der vertikalen Achse A befestigt sind. Rotiert die ganze Vorrichtung um die Achse A, so werden die Kugeln infolge der Zentrifugalkraft nach außen gezogen und dadurch gehoben. Diese Hebung überträgt sich durch die Stangen s auf eine längs der Achse gleitende Hülse H, die ihrerseits mittels eines in der Abbildung nicht gezeichneten Gestänges die Dampfzufuhr drosselt, wenn die Drehzahl der Maschine einen bestimmten Betrag überschreitet. Die genaue Einstellung des Zentrifugalreglers findet man folgendermaßen: Auf jede der Kugeln wirken zwei Kräfte: die radial nach außen gerichtete Zentrifugalkraft Fz = mrm2 und die nach unten gerichtete Schwere G = m- g. Beide Kräfte setzen sich zu einer Resultierenden R zusammen

Zentripetal- und Zentrifugalkraft

119

(Abb. IV, 6). Die Einstellung der Kugeln bei der Rotation muß so erfolgen, daß die Richtung von R mit der Richtung der Hebelstange l zusammenfällt; denn in diesem Fall ist das von R hervorgerufene Drehmoment Null. Bezeichnen wir den Neigungswinkel von / gegen die Vertikale a., so findet man leicht F ,

reo 2

r

e

tan a = - f = und sin oe = - r , so daß cos cn = -,—7 wird. G g / Ico Überträgt man die Verschiebung der Hülse H bei dem Zentrifugalregler in geeigneter Weise auf einen Drehzeiger, der über einer Skala spielt, die in Umdrehungszahlen geeicht ist, so erhält man einen Drehzahlmesser (Tachometer). Jeder Drehzahl entspricht eine bestimmte Stellung des Zeigers. Damit ein solches Tachometer in jeder Lage arbeitet, ersetzt man die beim Zentrifugalregler auf die Massen wirkende Schwerkraft durch geeignete Federkräfte. Will man auf einem Fahrrad schnell eine Kurve durchfahren, so muß man sich nach innen legen. Die Radialkraft zieht das Rad nach innen und hält es auf der gekrümmten Bahn. Das im Schwerpunkt S (des Fahrers und des Fahrrads) angreifende Gewicht G = m-g (Abb. IV, 7) und die Zentrifugalkraft Fz setzen sich zur resultierenden Komponente G' zusammen, welche durch den Berührungspunkt A des Fahrrads mit dem Erdboden geht im Fall des Kräftegleichgewichtes. Es ist dann vorhanden, wenn F

r

tana = —= G

F,

Ü

mrco 2 mg

v

2

.

= — ist. rg

Fr

¿77777777777777777777777777777?

Abb. IV, 7. Radfahrer in der Kurve

Abb. IV, 8. Schleifenfahrt

Je größer also die Bahngeschwindigkeit oder je kleiner der Radius der Kurve ist, um so stärker muß das Rad gegen die Vertikale geneigt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für jedes andere Fahrzeug, das auf einer gekrümmten Bahn fährt. Aus diesem Grunde sind Gleise, Straßen, Autobahnen usw. stets in Kurven an der Außenseite erhöht, um zu vermeiden, daß das betreifende Fahrzeug durch die Wirkung der Zentrifugalkraft aus der Kurve gleitet bzw. sich in der Kurve nach der Außenseite hin überschlägt. Die Überhöhung der Kurve muß um so größer sein, je kleiner der Kurvenradius ist. Bei der sogenannten Schleifenfahrt (Looping the Loop), bei der eine Kugel oder ein kleiner Wagen eine schräge Bahn und anschließend daran eine vertikal gestellte kreisförmige Schleife durchfährt (Abb. IV, 8), ist bei genügender Bahngeschwindigkeit die Zentrifugalkraft so groß, daß sie auch im höchsten Punkt der Bahn die nach unten wirkende Schwerkraft überwiegt und den Körper fest gegen die Bahn drückt. Man kann die Zentrifugalkraft noch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten. Ein Massenpunkt bewege sich mit konstanter Geschwindigkeit auf einer Kreisbahn. Die dazu erforderliche Zentripetalkraft werde durch eine (gespannte) Spiralfeder geliefert, an deren einem Ende der Massenpunkt

120

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

befestigt ist, während das andere Ende der Feder sich im Zentrum des Kreises befindet. Nunmehr wollen wir das bisher feste Koordinatensystem, von dem aus wir diesen Vorgang beurteilt haben, sich mit solcher Winkelgeschwindigkeit drehen lassen, daß der Massenpunkt in diesem Bezugssystem in Ruhe ist; wir betrachten den Vorgang dann von einem sogenannten „mitrotierenden" Bezugssystem. Ein Beobachter, der von der Rotation des Bezugssystems nichts wüßte, würde folgende Feststellungen machen müssen: 1. Der Massenpunkt ist in Ruhe. 2. Die Spiralfeder, die ihn mit dem Zentrum verbindet, ist gespannt. Er könnte dies nur so erklären, daß er eine an dem Massenpunkt angreifende, radial nach außen gerichtete Kraft annimmt, die diese Spannung erzeugt und ihr das Gleichgewicht hält. D i e s e Kraft ist o f f e n b a r nichts anderes als die Z e n t r i f u g a l k r a f t . Man lernt daraus folgendes: Wie schon in Nr. 6 betont wurde, gilt die Newtonsche Mechanik nur in einem Fundamentalsystem; haben wir aber ein gegen dasselbe rotierendes System, und wenden wir trotzdem die Gleichungen der Mechanik an, so muß man die Existenz neuer Kräfte annehmen, um mit den Tatsachen in Übereinstimmung zu bleiben; eine dieser Kräfte ist die Zentrifugalkraft. Durch die Annahme dieser Kräfte kompensiert man den Fehler, den man beging, als man die Newtonschen Gleichungen auf Bewegungsvorgänge anwandte, wie sie von einem rotierenden Bezugssystem aus beurteilt werden.

30. Planetenbewegung, Kepler sehe Gesetze; Gravitation; Ebbe und Flut Die N a t u r bietet uns in der Bewegung der Planeten u m die Sonne eines der großartigsten Beispiele f ü r eine Zentralbewegung. Aus den sorgfältigen astronomischen Beobachtungen von T y c h o B r a h e leitete K e p l e r (1609 u n d 1618) die folgenden drei Gesetze über die Planetenbewegung a b (Abb. IV, 9):

P

Abb. IV, 9. Zu den Keplerschen Gesetzen

1. D i e P l a n e t e n b a h n e n s i n d E l l i p s e n , in d e r e n e i n e m B r e n n p u n k t d i e S o n n e steht. 2. D e r v o n d e r S o n n e n a c h d e m P l a n e t e n g e z o g e n e L e i t s t r a h l ü b e r s t r e i c h t i n gleichen Zeiten gleiche Flächen. 3. D i e Q u a d r a t e d e r U m l a u f s z e i t e n z w e i e r P l a n e t e n v e r h a l t e n s i c h w i e d i e dritten Potenzen der großen H a l b a c h s e n ihrer Bahnen. Von diesen rein empirischen, kinematischen Gesetzen stellt das zweite den Flächensatz dar, und beweist so, d a ß es sich bei der Planetenbewegung u m eine Zentralbewegung handelt. Die geforderte Gleichheit der Flächen Ai und bedingt, daß im Perihel P der kürzere Leitstrahl mit seinem E n d p u n k t einen größeren Bogen beschreibt als der längere Leitstrahl im Aphel A in der gleichen Zeit. Also ist die Planetengeschwindigkeit in Sonnennähe P (Perihel) größer als in Sonnenferne A (Aphel). Dies stimmt überein mit dem Gesetz von der Erhaltung der Energie, da beim Übergang v o m Aphel z u m Perihel der Planet gegen die Sonne „fällt", potentielle Energie verliert und d a f ü r kinetische Energie vom gleichen Betrage gewinnen m u ß . Die Gesamtenergie eines Planeten auf der Ellipsenbahn ist nur eine Funktion der großen Achse. I m zweiten K e p l e r s c h e n Gesetz ist auch die Aussage enthalten, daß die Bahn in einer Ebene liegt. Jeder Planet erfährt also eine nach der Sonne hin gerichtete Beschleunigung. Ihre

Planetenbewegung, Keplersche Gesetze; Gravitation; Ebbe und Flut

121

Größe läßt sich mit Hilfe des ersten und dritten K e p l e r s c h e n Gesetzes berechnen. Wir vereinfachen die Rechnung, indem wir die Bahn als kreisförmig betrachten. Dies ist unbedenklich, da die Planetenbahnen sich nur wenig von Kreisen unterscheiden; z. B. weichen im ungünstigen Fall, beim Mars, die beiden Halbachsen nur um etwa 2 % voneinander ab. Bezeichnen wir mit r die Entfernung des Planeten von der Sonne, mit m seine Masse und mit Tdie Dauer eines Umlaufes, so ist nach Gl. (IV, 1) die Radialbeschleunigung des Planeten: (IV, 2)

ar =

—2-,

und die von der Sonne (Index 0) auf ihn (Index 1) ausgeübte Radialkraft: nv o ^ (IV, 2a)

4n2mr

cF01=

t 2

.

Nun besteht nach dem dritten K e p l e r s c h e n Gesetz zwischen den Umlaufszeiten 7 i und Ti zweier Planeten und ihren Entfernungen n und rz von der Sonne die Beziehung: T2 r3 —k = - 4 T} r\

r3

r3 = -if. T? Ti

oder

Die letzte Formulierung sagt aber aus, daß die Größe r3/T2 für alle Planeten einen konstanten Wert k' ( = 3,3 • 1024 km 3 • Jahr - 2 ) hat; k' ist also unabhängig von der Masse des betrachteten Planeten, wird aber noch von der Masse des Zentralkörpers, d. h. der Sonne, abhängen, was sich weiter unten auch wirklich ergeben wird. Für Foi können wir unter Einführung von k' schreiben: (IV, 3) d. h. die von der Sonne auf einen Planeten ausgeübte Anziehungskraft ist der Masse des Planeten direkt und dem Quadrat seiner Entfernung von der Sonne umgekehrt proportional. Das Gesetz wurde zuerst von N e w t o n (1686) aufgestellt. Für die Zentralbeschleunigung des Planeten findet man also den Wert: (IV, 4)

=

und für zwei Planeten gilt: (IV, 5)

alr:

=

'1

'2

d. h. die Zentralbeschleunigungen zweier Planeten verhalten sich umgekehrt wie die Quadrate ihrer Abstände von der Sonne. Bei der exakten Berechnung unter Zugrundelegung einer eliptischen Bahn tritt an Stelle von Gl. (IV, 2> der Ausdruck ar = 4 7i2l3/T2r2, worin r die Entfernung Sonne-Planet und l die große Halbachse der Bahnellipse bedeutet, und an Stelle von Gleichung (IV, 2 a) die Gleichung FQ1 = 4 7i2l3m/T2r2; die übrigen Gleichungen (IV, 3) bis (IV, 5) bleiben dieselben. Nach dem Gesetz: actio = reactio wird nicht nur der Planet von der Sonne angezogen, sondern er zieht mit der gleichen Kraft die Sonne an. Demzufolge hat einerseits die Kraft Fio, die der Planet auf die Sonne ausübt, schon aus Symmetriegründen die gleiche Form wie (IV, 3): (IV, 3 a)

F10 =

—p—,

122

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

wenn M die Masse der Sonne und k" eine andere Konstante ist, und anderseits ist Foi = -Fio; daher folgt: k'm = k"M, es muß also in k' der Faktor M, in k" der Faktor m stecken, so daß wir mit einer neuen universellen Konstanten C schreiben können: (IV, 6)

k'm = k"M =

CmM.

Hier sieht man zunächst tatsächlich, daß k' von der Sonnenmasse M abhängig, d. h. ihr proportional ist, da k' = CM ist. Damit wird nach (IV, 3) und (IV, 3 a):

Setzt man noch 4 n2C = G, so erhält man: (IV, 7)

F =

Dies ist das Newtonsche Gravitationsgesetz: Die zwischen zwei Massen bestehende Anziehungskraft ist den beiden Massen direkt und dem Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional. Die in Gl. (IV, 7) auftretende Konstante G heißt die ,,Gravitationskonstante"; ihre Dimension ist: dim G = L 3 M~ 1 T ,_2 . Der Wert dieser Gravitationskonstante G war N e w t o n noch unbekannt. Das von N e w t o n zunächst für die Planetenbewegung gefundene Gesetz für die gegenseitige Anziehung zweier Massen wurde von ihm in genialer Weise auf die Anziehung aller Massen durch die Erde auch auf der Erdoberfläche angewendet. Nach dieser Auffassung ist die Schwere und damit das Gewicht eines Körpers durch die von der Erde auf den betreffenden Körper ausgeübte Massenanziehung bedingt. N e w t o n wurde zu dieser Auffassung durch die besondere Erkenntnis geführt, daß die Zentripetalbeschleunigung, die der Mond zur Erde hin erfährt und die ihn auf eine Kreisbahn (genauer Ellipsenbahn) zwingt, n i c h t s a n d e r e s als die W i r k u n g der i r d i s c h e n S c h w e r k r a f t ist. Bezeichnet man mit r die Entfernung Erdmittelpunkt—Mondmittelpunkt und mit T die Dauer eines Mondumlaufes um die Erde, so ist nach Gl. (IV, 2) die nach der Erde hin gerichtete Radialbeschleunigung des Mondes: ar= 4 n2r/T2; da r = 383930 km und T= 2360580 s ist, wird ar = 0,272 cm/s 2 . Wenn diese Beschleunigung durch die Schwerkraft der Erde hervorgerufen sein soll, die an der Erdoberfläche, d. h. im Abstand des Erdradius R vom Erdmittelpunkt, die Fallbeschleunigung g = 981 cm/s 2 hervorbringt, so muß nach dem Gravitationsgesetz, speziell nach (IV, 5), die Beziehung bestehen: 1

1

Da r = 60 R ist, wird dann ar = 981/3600 = 0,272 cm/s 2 x). D a s ist a b e r d e r s e l b e Betrag, der v o r h e r a u s a s t r o n o m i s c h e n B e o b a c h t u n g e n a b g e l e i t e t w u r d e . Beachtet man, daß die hier durchgeführte Rechnung nur näherungsweise gilt, so ist die Übereinstimmung zwischen den beiden auf unterschiedliche Weise gefundenen Werten für ar um so erstaunlicher. Sie ist einer der sichersten Beweise dafür, daß die Schwerkraft und die Anziehungskraft, die die Planeten auf ihren Bahnen hält, die gleiche Ursache haben. J ) Hier ist die Voraussetzung gemacht, daß man sich die anziehende Wirkung der Erde auf einen äußeren Massenpunkt in ihrem Mittelpunkt konzentriert denken darf; dies kann in der Tat bewiesen werden (Nr. 31).

Planetenbewegung, Keplersche Gesetze; Gravitation; Ebbe und Flut

123

D i e im Gravitationsgesetz auftretende universelle Konstante G hat folgende physikalische Bedeutung: Sie stellt die Anziehungskraft zweier K ö r p e r der Massen m = M — 1 k g im A b stand (der Schwerpunkte!) r = 1 m in N e w t o n dar. Sie wurde zuerst von C a v e n d i s h (1798) experimentell mit einer D r e h w a a g e in folgender Weise bestimmt: Zwei kleine kugelförmige Massen a und b sind an den Enden einer sehr dünnen Stange befestigt. D i e Stange ist waagerecht an einem dünnen vertikalen Draht (in A b b . I V , 10 senkrecht zur Zeichenebene) drehbar

Abb. IV, 10. Drehwaage (von oben gesehen)

a,

aufgehängt. Bringt man zwei große Bleikugeln c und d seitlich neben die Kugeln a und b, so ziehen sich c und a sowie b und d gegenseitig an. D a die großen Kugeln dann festliegen, bewegen sich die kleinen Kugeln der Drehwaage auf die großen zu. D i e kleinen Kugeln „ f a l l e n " , wenn auch sehr viel langsamer, nämlich in einigen Minuten, ähnlich auf die großen Kugeln, wie ein Stein auf die Erde fällt. Dabei verdrillt sich der Aufhängefaden und schwingt um eine Gleichgewichtslage, in welcher das Drehmoment gleich dem Torsionsmoment ist. M a n bestimmt die Mittellagen des schwingenden Systems, einmal mit und einmal ohne die anziehenden großen Kugeln. Ferner kann man auch durch geeignete W a h l des Aufhängefadens (dünnes Metallband) das Torsionsmoment außerordentlich klein machen, so daß die kleinen Kugeln praktisch „ f r e i " auf die großen Kugeln „fallen". M a n mißt dann die Fallzeit t und die durchfallene kleine Wegstrecke s. Ebenso wie bei den Fallversuchen ist der W e g s = (a/2) t'2, woraus die Beschleunigung a errechnet wird. D i e gesuchte K r a f t ist F = ma = G mM/r2. D a bei ist r der Abstand der Schwerpunkte der sich anziehenden Körper. Es ergibt sich die Gravitationskonstante G. Selbstverständlich wird bei diesen Versuchen die sehr kleine Bewegung stark vergrößert, indem ein Lichtstrahl durch einen Spiegel an der Drehwaage abgelenkt wird. C a v e n d i s h hatte übrigens nicht die Absicht, die Gravitationskonstante zu bestimmen. Er wollte die Masse der Erde ermitteln und hatte offenbar die universelle Bedeutung der Gravitationskonstante nicht erkannt. N a c h Kenntnis der Gravitationskonstanten kann man mit H i l f e des Gravitationsgesetzes die Masse der Erde sowie die Masse anderer Himmelkörper berechnen. D i e Kraft, mit der ein an der Erdoberfläche befindlicher K ö r p e r der Masse m von der Erde der Masse M, die man sich im Erdmittelpunkt vereinigt denken kann, angezogen wird, ist nach dem Gravitationsgesetz GmM/R2 und nach dem zweiten N e w t o n s c h e n Gesetz mg. Dies liefert die Gleichung G M/R2 = g und hieraus folgt M = gR2/G. Setzt man in diese Gleichung die Werte für g, R und G ein, so erhält man für die Masse der Erde den Wert M = 5,985 • 1027 g. D i e Messung dieser Konstanten wurde später von B a i l y (1842), R e i c h (1852), C o r n u (1870 bis 1878), J o l l y (1878), B r a u n (1896), R i c h a r z und K r i g a r - M e n z e l (1896) mehrfach, mit zum Teil anderen Versuchsanordnungen wiederholt. Bei den Versuchen von J o l l y hingen unter den Schalen einer sehr empfindlichen W a a g e an 21 m langen Drähten zwei weitere Waagschalen. Der Wägekörper bestand aus einem mit Quecksilber gefüllten G e f ä ß und hatte eine Masse von 5 kg. Dieser Wägekörper und die Gewichtsstücke befanden sich zunächst auf den oberen Schalen und wurden austariert. Danach wurde der Wägekörper auf die untere Schale gebracht. Wegen der Annäherung an den Erdmittelpunkt nahm das Gewicht des Wägekörpers um 31,686 mg zu. Danach wurde eine Bleikugel von 1 m Durchmesser unter die untere Schale mit dem Wägekörper gefahren. D e r A b stand der Schwerpunkte zwischen der Bleikugel und dem Wägekörper betrug 0,569 m. D i e

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Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Gewichtszunahme betrug jetzt 32,275 mg, war also um 0,589 mg größer infolge der Anziehungskraft zwischen dem Quecksilbergefäß und der Bleikugel. Da die Gewichtsstücke auf der oberen Waagschale geblieben sind, ist der Einfluß der Bleikugel auf diese wegen des großen Abstandes vernachlässigbar. Ähnlich bestimmten R i c h a r z und K r i g a r - M e n z e l die Gravitationskonstante in der alten Festung in Berlin-Spandau. Sie benutzten ebenfalls eine Waage mit vier Waagschalen. Zwischen den zwei oberen und den zwei unteren Waagschalen befand sich die Materie, welche auf die Gewichtsstücke die Gravitationskraft ausübte. Die Waage befand sich stets im Gleichgewicht, wenn entweder die beiden oberen oder die beiden unteren Waagschalen mit gleichen Gewichtsstücken belastet waren. Dagegen zeigte sich ein Unterschied, wenn die eine Schale der Waage oben, die andere dagegen unten belastet war. Als genauester Wert hat sich für die Gravitationskonstante G experimentell ergeben: G = (6,670 ± 0,007) • 1 0 " 1 1 m 3 k g " 1 s " 2 . Da das Volumen der Erde gleich 1,1 • 1027 cm 3 ist, ergibt sich für die mittlere Dichte der Erde der Wert 5,52 g/cm 3 . Da die Dichte der oberen Erdrinde nur etwa 2,5 g/cm 3 beträgt, muß man schließen, daß der Kern der Erde aus Materie wesentlich größerer Dichte (vielleicht Eisen) aufgebaut ist. Hierfür spricht — neben den Erfahrungen aus der Seismik — auch die mehrfach beobachtete Erscheinung, daß die Fallbeschleunigung beim Eindringen in das Erdinnere (z. B. in tiefen Bergwerksschächten) zunimmt; man nähert sich hierbei der Hauptmasse der Erde, die nach dem Gravitationsgesetz die Hauptanziehung auf den fallenden Körper ausübt. Im Erdmittelpunkt selbst muß dagegen die Anziehung auf einen dort befindlichen Körper Null sein, da sich die von den ringsum befindlichen Erdmassen ausgehenden Kräfte aufheben. A i r y wies 1827 und 1854 in den Steinkohlenbergwerken von Cornwall die Zunahme der Fallbeschleunigung g bei Annäherung an den Mittelpunkt der Erde nach. Er fand, daß die Fallbeschleunigung in einer Tiefe von 393 m um 1/19200 ihres an der Erdoberfläche gemessenen Wertes größer ist. In ähnlicher Weise wie die Erdmasse können wir auch die Masse der Sonne berechnen. Nach Gl. (IV, 2) ist die Beschleunigung, die ein Planet zur Sonne hin erfährt, ar = 4 Ji2r/T'2. Nennen wir die Sonnenmasse M und die Planetenmasse m, so ist diese Beschleunigung anderseits nach dem Gravitationsgesetz ar = G M/r2, so daß wir für M die Beziehung finden: M = 4 n2r3/GT2. Nach dem dritten Keplerschen Gesetz ist der Wert r 3 / r 2 für den Umlauf aller Planeten gleich, und zwar 3,355 • 1024 cm 3 s - 2 . Dies findet man, wenn man etwa für r den Erdbahnradius ( = 1,495 • 1013 cm) und für 7"das Erdjahr (3,156 • 107 s) einsetzt. Dies liefert für die Sonnenmasse M den Wert 1,98 • 1033 g. Auf die gleiche Weise kann man die Masse jedes Planeten bestimmen, wenn er Trabanten besitzt und man deren Abstände r vom Zentralkörper und ihre Umlaufzeit T, d. h. das Ver3 2 hältnis r /r für dieses System bestimmen kann. Dies gilt z. B. für Jupiter und seine Monde. Nach Gl. (IV, 6) ist das Verhältnis /- 3 /r 2 proportional der Masse des Zentralkörpers, also haben wir die beiden Gleichungen:

wenn M und m die Massen von Sonne und Jupiter sind. Die Beobachtungen ergeben, daß für Jupiter r3IT2 nur den 1048sten Teil von 3,355 • 10 24 cm 3 s~2 beträgt; d. h. die Jupitermasse beträgt nur den 1048 sten Teil der Sonnenmasse, nämlich 1,9 • 1030 g. (Der Planet Venus z. B. besitzt keinen Mond; seine Masse muß daher (und kann) auf andere Weise, nämlich durch Beobachtungen der Störungen seiner Bahn, bestimmt werden.) Der äußerste Planet des Sonnensystems, Pluto, wurde 1930 von C. W. Tombough am LowellObservatorium in Arizona entdeckt. Seine Bahn weicht beträchtlich von einem Kreis ab. Im Mittel ist

Planetenbewegung, Keplersche Gesetze; Gravitation; Ebbe und Flut

125

Pluto etwa um 30 % weiter entfernt von der Sonne als Neptun; da seine Bahn aber kein Kreis ist, taucht er gelegentlich in die Bahn des Neptun ein, wenn er der Sonne am nächsten ist. Seine sehr kleine Masse, die etwa gleich der der Erde ist und von Brouwer aus geringfügigen Abweichungen der Neptunbahn ermittelt wurde, führte Lyttleton zu der Annahme, daß Pluto ein entwichener Satellit des Neptun sei. So erhält man folgende Tabelle für die Massen der Sonne und der Planeten, bezogen auf die Masse der Erde: Sonne

Merkur

Venus

Erde

Mars

Jupiter

Saturn

Uranus

Neptun

Pluto

333432

0,04

0,82

1

0,11

317,0

94,8

16,4

17,0

0,9

Aus der Tabelle geht hervor, daß die Masse der Sonne die aller Planeten zusammengenommen um mehr als das 700fache übertrifft. Der gemeinsame Schwerpunkt des Sonnensystems liegt infolgedessen immer in großer Nähe der Sonne, zeitweise sogar im Sonneninnern selbst. Beschränkt man sich auf die Betrachtung des Systems Sonne—Erde, so liegt der Schwerpunkt nur um 451 km vom Sonnenmittelpunkt entfernt, während der Sonnenradius 696 • 10 3 km beträgt. Diese Feststellungen sind für das Folgende wichtig. Bisher folgten wir der historischen Entwicklung des Problems, die in der Gewinnung des Gravitationsgesetzes (IV, 7) gipfelte. Nachdem dieses einmal bekannt ist, kann man den Gang umkehren und den Ausdruck (IV, 7) F = G Mm/r2 in die N e w t o n sehe Bewegungsgleichung F = ma einsetzen. Für jeden Planeten und die Sonne hat man jeweils eine derartige Gleichung aufzustellen. Beschränken wir uns zuerst auf die Betrachtung der Sonne und e i n e s Planeten, auf ein sogenanntes Zweikörperproblem, so kann man nun d e d u k t i v alle Aussagen über die Planetenbewegung, z. B. die Keplerschen Gesetze, wiedergewinnen. Und zwar in erweiterter und verbesserter Form. Einmal ergibt nämlich die Ausrechnung, daß die Bahnen der Himmelskörper nicht unbedingt Ellipsen zu sein brauchen, sondern ganz allgemein Kegelschnitte sein können. In der Tat hat man einige Kometenbahnen als parabolische oder hyperbolische Bahnen aufgefaßt und berechnet 1 ). Aber das N e w t o n s c h e Gravitationsgesetz liefert auch eine Korrektur der empirisch gefundenen K e p l e r s c h e n Gesetze, und zwar schon bei Beschränkung auf das Zweikörperproblem. Denn nach dem Satz von der Erhaltung des Schwerpunktes m u ß der g e m e i n s a m e S c h w e r p u n k t des S y s t e m s S o n n e — P l a n e t in R u h e bleiben 2 ) und n i c h t die S o n n e , wie es das erste K e p l e r s c h e Gesetz will. Allerdings liegt nach den vorhergehenden Darlegungen der Schwerpunkt so nahe am Sonnenzentrum, daß die Bewegung der Sonne, die natürlich auch auf einer Ellipse um den gemeinsamen Schwerpunkt vor sich geht, sehr klein ist. Dies ist die mechanische Begründung und exakte Formulierung des heliozentrischen Standpunktes. Aber in jedem Falle ist hier schon eine Korrektur bzw. Präzisierung des ersten Keplerschen Gesetzes vorhanden. Das gilt in noch höherem Maße, wenn wir das gesamte Sonnensystem betrachten. D e n n es ist n a c h dem N e w t o n s c h e n G r a v i t a t i o n s g e s e t z k l a r , d a ß die P l a n e t e n dann g e n a u g e n o m m e n k e i n e e l l i p t i s c h e n B a h n e n b e s c h r e i b e n k ö n n e n . Das wäre nur der Fall, wenn jeder Planet ausschließlich unter dem Krafteinfluß der S o n n e stünde. Dieser ist zwar wegen ihrer großen Masse überwiegend, aber nicht der einzige. Denn jeder Planet erfährt — gerade nach dem Newtonschen Gesetz — von jedem anderen auch eine Kraftwirkung, und d i e s e s t ö r t die e i n f a c h e e l l i p t i s c h e B a h n des Z w e i k ö r p e r p r o b l e m s . Dieses allgemeine n-Körperproblem ist zwar streng nicht lösbar, doch erlaubt die relative Kleinheit der von den Planeten ausgeübten Kräfte eine Näherungsrechnung. Gerade diese Störungsrechnung bildet nun im Grunde ge1 ) Allerdings bewegen sich die meisten Kometen in elliptischen Bahnen um die Sonne und gehören somit zu unserem Sonnensystem. 2 ) Von einer gleichförmigen Bewegung des Schwerpunktes (und damit des ganzen Sonnensystems) können wir hier absehen; tatsächlich bewegt sich das Sonnensystem mit einer Geschwindigkeit von 20 km/s gegen das Sternbild des Herkules, und mit 300 km/s gegenüber anderen galaktischen Systemen (Galaxis = Milchstraße).

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Anwendungen auf spezielle Bewegungen

n o m m e n den größten T r i u m p h des Gravitationsgesetzes, das alle Erscheinungen a m Sternenhimmel mit beliebiger Genauigkeit u n d f ü r jede beliebige Zeit voraus u n d zurück zu berechnen gestattet. N u r eine einzige Abweichung ist bisher festgestellt w o r d e n : N a c h A b r e c h n u n g aller Störungen bleibt die K e p l e r - E l l i p s e des der Sonne a m nächsten befindlichen Planeten M e r k u r nicht im R ä u m e fest, sondern deren große Achse e r f ä h r t eine kleine D r e h u n g u m 4 3 " in einem Jahrhundert 1 ). A u s dieser A n g a b e ersieht m a n vielleicht a m besten die ungeheure Leistung des Gravitationsgesetzes; es ist kein W u n d e r , daß N e w t o n s S c h ö p f u n g f ü r die gesamte Physik große Bedeutung erlangte. Es kann noch hinzugefügt werden, daß die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes durchaus nicht auf das Sonnensystem beschränkt ist. Wir kennen vielmehr Tausende von Doppelsternen, die ihre Bahnen ebenfalls genau nach diesem Gesetz beschreiben, obwohl hier der allgemeinere Fall vorliegt, daß der gemeinsame Schwerpunkt wegen der ungefähren Gleichheit der beiden Massen keineswegs innerhalb eines der beiden Sterne, sondern weit außerhalb derselben liegt. Wie oben erwähnt, ist n a c h der N e w t o n s c h e n M e c h a n i k in Verbindung mit dem Gravitationsgesetz n u r der v o n K o p e r n i k u s begründete h e l i o z e n t r i s c h e S t a n d p u n k t zulässig; die p t o l e m ä i s c h e A u f f a s s u n g des g e o z e n t r i s c h e n Weltsystems m u ß — v o n d i e s e r B a s i s a u s — verworfen werden. Dagegen ist es bei einer rein k i n e m a t i s c h e n — nicht dynamischen! — B e s c h r e i b u n g der B a h n natürlich zulässig, z. B. die E r d e als r u h e n d anzusehen. Durch bloße Beobachtung der Bahnen k a n n also das ptolemäische System n i e m a l s w i d e r l e g t w e r d e n . D a s folgt schon daraus, d a ß die Alten — nach M a ß g a b e der Genauigkeit ihrer Beobachtungen — z. B. die Finsternisse nach d e m ptolemäischen System ebensogut vorausberechnen k o n n t e n wie wir. V o m reinen B e o b a c h t u n g s s t a n d p u n k t aus k a n n m a n höchstens p r a k t i s c h e Vorteile des kopernikanischen Systems zugeben, niemals aber die ausschließliche Richtigkeit desselben beweisen. D a s ist n u r möglich v o m S t a n d p u n k t e einer T h e o r i e d e r M e c h a n i k , die über die k i n e m a t i s c h e B e s c h r e i b u n g hinausgeht. Eine wichtige Folge der Gravitationswirkung des M o n d e s u n d der Sonne sind die G e z e i t e n , d. h. der periodische Wechsel von E b b e u n d Flut. Bereits N e w t o n e r k a n n t e den Z u s a m m e n h a n g dieser Erscheinungen mit den M o n d p h a s e n u n d entwickelte eine Theorie der fluterzeugenden K r ä f t e . U m zu einer anschaulichen E r k l ä r u n g zu gelangen, betrachten wir zunächst n u r die Wirk u n g des M o n d e s u n d sehen von der Eigenrotation der E r d e völlig ab, da sie keinen Einfluß auf die fluterzeugenden K r ä f t e hat. W e n n wir E r d e u n d M o n d als ein freies System ansehen, so m u ß beim U m l a u f des M o n d e s u m die E r d e die Bewegung so erfolgen, daß der gemeinsame Schwerpunkt v o n E r d e u n d M o n d in R u h e bleibt. Dies k a n n m a n mit dem in A b b . IV, 11 skizzierten Versuch zeigen. Zwei verschieden g r o ß e Kugeln sind durch eine kurze Kette miteinander verbunden u n d hängen mit dem an einer beAbb. IV, 11. Rotation zweier Kugeln verschieden großer Masse um ihren gemeinsamen Schwerpunkt S

M

Abb. IV, 12. Bewegung von Erde und Mond um ihren gemeinsamen Schwerpunkt

*) Die Allgemeine Relativitätstheorie E i n s t e i n s liefert eine Deutung der Gravitation, die eine kleine Korrektur am N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz und damit gerade die erwähnte Periheldrehung von 43" quantitativ ergibt.

Planetenbewegung, Keplersche Gesetze; Gravitation; Ebbe und Flut

127

liebigen Stelle der Kette befestigten Bindfaden a — b an der vertikal gestellten Achse eines Motors. Rotiert diese Achse, so kommt das aus den beiden Kugeln der Masse M und m befindliche System in eine Rotation um die durch den gemeinsamen Schwerpunkt S gehende Achse aS. Man kann deutlich beobachten, daß die beiden Kugeln verschieden große Kreise um S beschreiben. Da die Masse der Erde etwa 80mal so groß ist wie die des Mondes, liegt der Schwerpunkt S noch innerhalb der Erde, etwa 3¡4 des Erdradius vom Mittelpunkt entfernt (Abb. IV, 12). Um diesen gemeinsamen Schwerpunkt S bewegen sich also Erde und Mond. Es handelt sich dabei nicht etwa um eine Drehung der Erde um eine durch S gehende Achse (wie etwa in Abb. IV, 11), sondern, da Erde und Mond nicht starr miteinander verbunden sind, um eine reine Verschiebung, bei der der Erdmittelpunkt in 271/3 Tagen eine Kreisbahn mit dem Radius 3 /4 R um den Schwerpunkt S durchläuft. Alle anderen Punkte der Erde beschreiben dabei ebenfalls Kreise mit dem Radius 3/4 R, aber um verschiedene Mittelpunkte („Revolution ohne Rotation"). Das bedeutet aber, daß die Zentrifugalkraft Fz, die durch diese Bewegung hervorgerufen wird, in jedem Punkt der Erde gleich groß ist. Ferner wirkt sie stets parallel zur Verbindungslinie von Erd- und Mondmittelpunkt und ist vom Mond weg gerichtet. Ganz anders dagegen verhält es sich mit der Gravitationskraft des Mondes. Sie ist auf Grund der nicht zu vernachlässigenden Ausdehnung der Erde an verschiedenen Orten der Erdoberfläche verschieden groß und wird nur im Erdmittelpunkt — gemäß den Gesetzen der Planetenbewegung — von der Zentrifugalkraft Fz kompensiert. In Abb. IV, 13 sind die in vier ver-

schiedenen Punkten der Erdoberfläche und im Erdmittelpunkt wirkenden Gravitationskräfte Fg und die Zentrifugalkraft Fz sowie ihre Resultanten (doppelt ausgezogen) eingezeichnet. Im Punkt A überwiegt Fg; im Punkt C ist wegen der größeren Entfernung vom Mond Fg kleiner als Fz; und bei B und D ist die Resultante klein und zum Erdmittelpunkt hin gerichtet. Zwischen den Punkten B und D einerseits und A und C andererseits findet entlang der Erdoberfläche ein stetiger Übergang von Größe und Richtung der resultierenden Kraft statt, d. h., die resultierende Kraft besitzt in den Zwischenpunkten auch eine parallel zur Erdoberfläche wirkende Komponente (Abb. IV, 13). Diese Horizontalkomponente ist für die Bewegung des Wassers verantwortlich. Die vertikale Komponente bewirkt eine elastische Verformung, d. h. ein Senken und Heben der festen Erdoberfläche um einige Dezimeter und damit auch eine kleine Zu- oder Abnahme der Fallbeschleunigung g. Die Folge ist, daß das Wasser von allen Seiten zu den Punkten A und C strömt (Abb. IV, 13 ist rotationssymmetrisch zur Achse AC zu denken) und dort Flutberge entstehen, während bei B und D sowie längs des gesamten durch B und D gehenden, zur Papierebene senkrechten Meridians Ebbe herrscht. Infolge des Mondumlaufs um die Erde und der gleichzeitigen Drehung der Erde um die Nord-Süd-Achse, die von der Achse BD etwas abweicht, verschiebt sich der beschriebene Zustand dauernd, so daß innerhalb von rund 243/4 Stunden an einem Ort zweimal Ebbe und Flut eintritt. Die gleiche Überlegung, die für das System Erde-Mond angestellt wurde, läßt sich auch für das System Erde-Sonne durchführen. Allerdings ist die Wirkung der Sonne nur etwa halb so

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Anwendungen auf spezielle Bewegungen

groß (genauer: 0,46mal so groß) wie die des Mondes. In den Zeiten, wo Sonne, Erde und Mond in einer Geraden stehen (Voll- bzw. Neumond) addieren sich die Wirkungen von Sonne und Mond und es kommt zu den sogenannten S p r i n g f l u t e n . Bilden Sonne und Mond dagegen einen rechten Winkel mit der Erde als Scheitelpunkt (erstes und letztes Mondviertel), so sind die fluterzeugenden Kräfte am kleinsten ( N i p p f l u t ) . Mit Hilfe der genauen Theorie und mit Kenntnis von Erfahrungswerten ist es möglich, für jeden Punkt der Erde die Zeit des Eintritts und die Höhe der Flut im voraus zu bestimmen. Der komplizierte Verlauf der Meeresküsten macht den Vorgang allerdings äußerst unübersichtlich. Zu einer halbwegs befriedigenden Erklärung kann man nur gelangen, wenn man Ebbe und Flut als Welle auffaßt, deren Ausbreitungsgeschwindigkeit in flachen Gewässern stark von der Wassertiefe abhängt. Die in manchen Buchten beobachteten extremen Fluthöhen von 10 bis 15m stellen ein Resonanzphänomen dar, für das Länge und Form der Bucht entscheidend sind. Das heißt, genauso wie sich eine Luftsäule an einem Ende zu Resonanzschwingungen erregen läßt, so kann auch in einer Meeresbucht bestimmter Länge durch Wellenerregung an ihrem Eingang Resonanz auftreten. Es ist möglich, daß die Wirkung noch verstärkt wird durch Coriolis-Kräfte (siehe Nr. 40). In Binnenmeeren ist die Flutwirkung nur gering. Im Mittelmeer z. B. reicht die Wassermenge, die durch die Meerenge von Gibraltar vom Atlantik hereinströmen kann, nicht aus, um den Wasserspiegel nennenswert anzuheben. Trotzdem erreicht in Venedig die Springflut eine Höhe von 1,20 m, was auf die Resonanzwirkung in der Adria zurückzuführen ist. Ebbe und Flut üben durch Reibung eine bremsende Wirkung auf die Erdrotation aus. Sie ist zwar sehr gering (z. Z. wird jeder Tag um 50 Nanosekunden länger!), hat aber zu einer Zeit, in der sich Erde und Mond noch in flüssigem Zustand befanden, eine große Rolle gespielt. Die flüssige Erdkugel konnte den Kräften nachgeben und die Ellipsoidform annehmen, die entsteht, wenn man die Pfeilspitzen in Abb. IV, 14 miteinander verbindet (die Verformung ist in

Abb. IV, 14. Deformation der Erde infolge der Gravitations- und Zentrifugalkräfte der Zeichnung stark übertrieben). Die große innere Reibung der zähflüssigen Materie hatte eine sehr viel größere Bremswirkung zur Folge, als sie heute durch das Wasser verursacht wird. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Mond selbst. Er besaß einmal eine viel größere Eigenrotation als heute. Die beiden Flutberge, die die Erde auf ihm erzeugte, als er noch aus flüssiger Materie bestand, bremsten seine Rotationsgeschwindigkeit so lange, bis der Gleichgewichtszustand erreicht war: der Mond wendet der Erde immer dieselbe Seite zu. Diese Seite ist nichts anderes als ein erstarrter Flutberg. Tatsächlich ergaben genaue Messungen, daß der Mond ein Ellipsoid ist, dessen längste Achse zur Erde weist. Die bremsende Wirkung des Mondes auf die Eigenrotation der Erde hat noch eine weitere Konsequenz: Übt der Mond ein Drehmoment auf die Erde aus, das deren Rotation zu bremsen

Planetenbewegung, Keplersche Gesetze; Gravitation; Ebbe und Flut

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sucht, so muß, da sich das System im Gleichgewicht befindet, ein entgegengesetztes Drehmoment existieren, das die Bahngeschwindigkeit des Mondes zu vergrößern bestrebt ist. Eine größere Bahngeschwindigkeit hat aber auch eine größere Zentrifugalkraft zur Folge, die ihrerseits ein Anwachsen des Bahnradius bewirkt. Der Mond entfernt sich unter Vergrößerung seiner Umlaufszeit allmählich immer weiter von der Erde, während er deren Eigendrehung bremst. Der Vorgang dauert so lange an, bis wiederum ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Dieser ist dann dadurch ausgezeichnet, daß die Winkelgeschwindigkeiten von Mondumlauf und Erdeigenrotation übereinstimmen, d. h. die Erde wird dem Mond stets die gleiche Seite zuwenden. Der Mond scheint dann also über einem Punkt der Erde stillzustehen, als ob eine starre Verbindung zwischen Erde und Mond existierte. Es läßt sich zeigen, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Tageslänge auf das 55fache des heutigen Tages angewachsen sein wird. Bedenkt man demgegenüber, daß es sich hierbei im Grunde um minimale Kräfte handelt (die maximale fluterzeugende Kraft des Mondes auf der Erde beträgt heute nicht viel mehr als 1 Millionstel der Erdanziehungskraft), so ist es erstaunlich, welche tiefgreifenden Folgen sie im Verlauf der Geschichte unseres Planeten haben. Man hat schon oft überlegt, Energie aus der gewaltigen und periodisch regelmäßigen Wasserbewegung zu gewinnen. Das erste Gezeitenkraftwerk wurde im Jahre 1966 in Nordfrankreich bei St. Malo fertiggestellt. In die Ranee, einem kleinen, aber breiten Fluß, strömt ein starker Flutstrom hinein, da hier der Höhenunterschied des Meeres zwischen Ebbe und Flut bis zu 13,5 m beträgt. In der Sekunde fließen bis zu 18000 m 3 Meereswasser durch den Querschnitt dieser Flußmündung. Man hat nun die Flußmündung durch einen Damm abgesperrt und läßt das Meerwasser durch 24 Turbinen ein- und ausströmen. Die maximale Leistung, die abgegeben werden kann, beträgt 240 Megawatt. Man erwartet eine jährliche Energieabgabe von 544 Millionen Kilowattstunden zu einem Preis, der 25 % unter dem üblichen liegt. Wie schon erwähnt wurde, ist die Ebbe und Flut der festen und flüssigen Erdoberfläche mit einer Änderung der Schwere- oder Fallbeschleunigung g verbunden. Und zwar ändern sich Betrag und Richtung von g (Abb. IV, 14). Ohne Einfluß von Mond und Sonne würde der Vektor der Fallbeschleunigung g selbstverständlich immer auf den Mittelpunkt der Erde gerichtet sein. Infolge der Gravitationswirkung von Mond und Sonne kommt der Beschleunigungsvektor a hinzu, so daß die resultierende Richtung der Fallbeschleunigung gi nicht immer zum Erdmittelpunkt zeigt. Da die Erde nicht vollkommen starr ist, deformiert sie sich unter dem Einfluß der Gravitationskräfte von Mond und Sonne. Dadurch gibt es neben der Ebbe und Flut der Meere auch eine Gezeitenbewegung der festen Erde. Die größte Hebung der festen Erdoberfläche beträgt etwa 26 cm, die größte Senkung etwa 13 cm. Abb. IV, 15. Gravimeter (Askania) 1 Beleuchtungseinrichtung (Lampe und Optik) 2 Blende und Spalt 3 Photoelemente 4 Dämpfmagnet 5 Meßfeder mit Maßstab 6 Torsionsfedern 7 Fäden zur Fesselung des Meßbalkens 8 Meßbalken 9 Verstärker 10 Registriergerät Die zeitliche Änderung des Betrages der Schwere- oder Fallbeschleunigung g wird mit einer sehr empfindlichen Federwaage, dem Schweremesser oder Gravimeter, gemessen. Die Wirkungsweise ist folgende: Ein Gewichtsstück hängt an einer Federwaage. Die Dehnung der Feder verändert sich, wenn der Betrag der Fallbeschleunigung g sich ändert. Da diese Änderung sehr gering ist (0,1 mGal = 10~4 cm/s2), müssen besondere Kunstgriffe angewendet werden, um die geringe Dehnungsänderung der Feder anzuzeigen. Beim Askania-Gravimeter (Abb. IV, 15), 9

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 8. A u f l . 1969

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Anwendungen auf spezielle Bewegungen

welches heute meistens verwendet wird, hängt ein ziemlich schweres und langes Metallstück an drei Federn: a) zwischen zwei horizontal liegenden, starken Torsionsfedern, welche fast vollständig (unter Torsion) das Gewichtsstück tragen; b) an einer vertikalen, schwachen Feder, welche am anderen Ende des langen Metallstückes je nach Veränderung von g mehr oder weniger gedehnt wird. Diese schwache Feder dient zur Messung und wird bei jeder einzelnen Messung so eingestellt, daß das Gewichtsstück die gleiche Lage wie am Ort der Eichung erhält. Dies wird photoelektrisch kontrolliert. Man kann auch statt einzelner Messungen an verschiedenen Orten an einem Ort die zeitliche Änderung von g registrieren. Einen Ausschnitt einer solchen Registrierkurve zeigt Abb. IV, 16. Die kleinen Ausschläge werden durch die Sonne, die großen durch den Mond verur-

Abb. IV, 16. Registrierkurve eines Askania-Gravimeters sacht. Die zeitliche Änderung der Fallbeschleunigung beträgt somit etwa 0,1 mGal. Gut meßbar ist noch eine Änderung bis zu 0,01 mGal. Dies ist etwa die Änderung von g, die dadurch hervorgerufen wird, daß ein Gravimeter auf eine Fußbank statt auf den Fußboden gestellt wird. Denn nach dem N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz ist: n\r (IV, n 7 a )\

m

m M

« = rG ( ä + * ) *

G = Gravitationskonstante = 6,68 • 1 0 - 1 1 m3/kg s 2 M = Masse der Erde = 6 • 1024 kg R = Radius der Erde = 6400 km. Diese außerordentliche Empfindlichkeit wird durch folgende kleine Geschichte besonders deutlich: In einem Institut wurde bemängelt, daß das neu gelieferte Gravimeter einen „Gang" habe. Darunter versteht man eine kontinuierliche Änderung des Ausschlags, wie sie auch in der Abb. IV, 16 zu sehen ist. Ein solcher „Gang" kann entweder durch eine Temperaturänderung oder durch die Alterung der Federn (Rekristallisation!) hervorgerufen werden. Die genauere Untersuchung ergab nun aber, daß der „Gang" nicht am Instrument lag, das vollkommen richtig anzeigte. Es war nämlich Winter und der Kohlenvorrat im Keller unter dem Instrument nahm ab! In der Geologie und besonders in der Lagerstättenkunde wird mit dem Gravimeter nicht die zeitliche Änderung von g, sondern der Wert an einem Ort relativ zu irgend einem Eichort gemessen. Ist dann z. B. der Wert von g besonders klein, so kann man daraus schließen, daß unter der Erdoberfläche größere Räume mit Stoffen geringer Dichte angefüllt sind (z. B. Erdgas, Erdöl). Auch die Richtung der Fallbeschleunigung g ist von Interesse, ebenfalls die zeitliche Änderung der Richtung. Denn Betrag u n d Richtung von g werden j a durch die Gravitation und durch die Gezeiten-Verformung der Erde verändert. Die zeitliche Schwankung der Richtung von g beträgt maximal 0,02 Bogensenkunden. Man benutzt zur Messung ein Horizontalpendel (Abb. IV, 17). Eine sehr geringe Neigung der vertikalen Halterung führt zu einer Bewegung der Kugel, die durch Spiegel und Lichtstrahl deutlich sichtbar gemacht und gemessen werden kann. Infolge von Temperatureinflüssen sind die oberen Erdschichten aber relativ großen Neigungsänderungen unterworfen, die also nichts mit einer Richtungsänderung von g zu tun haben. Deshalb muß man ein Horizontalpendel in einem tiefergelegenen Bergwerksstollen aufstellen.

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

131

Abb. IV, 17. Horizontalpendel

Neuerdings ist ein sehr empfindliches Gerät entwickelt worden (Gezeitenpendel von Askania), das in einem Bohrloch herabgelassen werden kann. Es ist im Prinzip ein Lot, das sich in einem im Bohrloch befestigten Gehäuse befindet. Das untere Ende des 1 m langen Lotes zeigt nicht auf die Mitte, wenn g nicht parallel zur Gehäuseachse gerichtet ist. D i e Meßgenauigkeit beträgt 10~ 9 rad. Dies ist ein Hundertstel der Richtungsänderung von g infolge der Gezeiten. Dieses Gezeitenpendel kann also an seinem unteren Ende noch Ausschläge messen, die 1 nm = 10~ 9 m betragen. (Zur Veranschaulichung: Der Abstand der Natrium-Atome von den benachbarten Chlor-Atomen im Kochsalz beträgt etwa ein Drittel des Wertes!)

31. Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt Zwischen zwei Körpern, die eine Masse besitzen, wirkt eine anziehende Kraft. Das Newt o n s c h e G r a v i t a t i o n s g e s e t z gibt Auskunft über ihre Größe. Diese Kraft wirkt durch den leeren Raum hindurch. Eine Veränderung des leeren Raumes kann man nicht feststellen. Ein Stein zeigt durch sein Gewicht oder durch sein Fallen, daß er sich in der Nähe eines Körpers von sehr großer Masse befindet. Den Raum zwischen dem Stein und der Erde findet man aber unverändert. Man kann die anziehende Kraft zwischen den Körpern, die eine Masse besitzen, auch nicht abschirmen, z. B. durch eine sehr schwere Bleiplatte oder durch eine Schicht allerhöchsten Vakuums. Wirken in einem Raum Kräfte, die nicht durch Materie übertragen werden, so spricht man von einem Kraftfeld. Man spricht von einem Gravitationsfeld, von einem elektrischen Feld und von einem Magnetfeld. Ein spezielles Gravitationsfeld ist z. B. das Schwerefeld der Erde. Alle Kraftfelder sind Vektorfelder. Ein Feld ist dadurch ausgezeichnet, daß jedem Punkt des Raumes, den das Feld ausfüllt, eine bestimmte physikalische Größe zugeordnet ist. Der Begriff des „Feldes" ist durchaus nicht auf Kräfte beschränkt. Betrachtet man z. B. eine strömende Flüssigkeit, so befindet sich in einem bestimmten Augenblick an jedem Punkt ein Flüssigkeitsteilchen von bestimmter Geschwindigkeit: hier spricht man sinngemäß von einem G e s c h w i n d i g k e i t s f e l d , wenn man die Geschwindigkeitsverteilung charakterisieren will. Ebenso kann man von einem T e m p e r a t u r f e l d in der Umgebung eines erhitzten Körpers sprechen, da jedem Punkt eine bestimmte Temperatur zukommt. Ein Temperaturfeld ist ein Skalarfeld.

Um die Größe und Richtung der Kraft in einem Gravitationsfeld zu untersuchen, denke man sich zunächst eine einzige Kugel großer Masse M in einem großen, leeren Raum. Bringt man dann eine bewegliche Probekugel von kleiner Masse m an verschiedene Punkte in die Nähe der großen Kugel, so wird man feststellen, daß auf die kleine Kugel eine Kraft wirkt, die zum Schwerpunkt der großen Kugel gerichtet ist. Nach dem N e w t o n sehen Gravitationsgesetz ist die Größe dieser Kraft F = G m- Mir2 (r ist der Abstand der Schwerpunkte der beiden Kugeln; G = Gravitationskonstante). Man kann also mit der kleinen Probekugel den Raum abtasten und die Richtung und Größe der Kraft messen. Um den Versuch wirklich auszuführen, braucht 9»

132

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

man eine Kugel von sehr großer Masse, wie sie uns die Erdkugel bietet. Als Probekörper können an der Erdoberfläche Gewichtsstücke und als Kraftmesser Federwaagen verwendet werden. In größerer Entfernung von der Erde dienen als Probekörper Satelliten und der Mond. Die anziehende Kraft ist hierbei die als Zentripetalkraft wirkende Gravitationskraft. Selbstverständlich muß man bei diesem Versuch davon absehen, daß die Erde sich nicht allein im leeren Raum befindet und daß die Nähe des Mondes und der Sonne von Einfluß ist. Man kann aber diesen Versuch idealisieren und erhält so eindeutig das Ergebnis, daß ein Kraftfeld, nämlich ein Gravitationsfeld, einen Körper, der eine Masse besitzt, umgibt (Abb. IV, 18). Man sieht, daß die Größe der Kraft, in der Zeichnung gekennzeichnet durch die Länge der Pfeile, nach außen hin abnimmt. Und zwar erfolgt diese Abnahme nach dem N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz mit dem Quadrat des Abstandes. U m eine bessere Vorstellung des Feldes zu ermöglichen, zeichnet man ein „Feldlinienbild". Die Feld- oder Kraftlinien erfüllen dabei folgende Bedingungen: 1. Jede Feldlinie endet an der Masse. 2. Die Richtung der Feldlinie stimmt in jedem Punkt mit der Richtung der Kraft in diesem Punkt überein. 3. Die Dichte der Feldlinien ist proportional der Größe der Kraft. Dabei soll die Feldliniendichte die Zahl der Feldlinien pro Flächeneinheit einer von allen Kraftlinien senkrecht durchstoßenen Fläche bedeuten. In unserem Beispiel sind die Feldlinien Geraden durch den Schwerpunkt des Körpers. Die senkrecht durchstoßenen Flächen sind konzentrische Kugeln um den Schwerpunkt. Jede dieser konzentrischen Kugeln wird von der gleichen Zahl Kraftlinien durchstoßen; ihre Oberfläche ist proportional dem Quadrat ihres Abstandes r vom Schwerpunkt. Die Feldlinien dichte (Zahl der Feldlinien/Fläche) nimmt daher mit 1 /r2 ab, ist also, wie die dritte Bedingung fordert, proportional der Kraft. Kraftlinienbilder können — auch für kompliziertere Massenverteilungen — berechnet wrden. Zum Beispiel zeigt die Abb. IV, 19 das Feldlinienbild für zwei Körper gleich großer Masse.

Abb. IV, 18. Kraftfeld eines einzelnen Körpers

Abb. IV, 19. Feldlinienbild für zwei Körper gleich großer Masse

Nunmehr soll die Frage behandelt werden: Welche Arbeit muß aufgewendet werden, wenn man einen Probekörper der Masse m in einem Gravitationsfeld von einem Ort zum anderen bewegt? Oder mit anderen Worten: Wie ändert sich die potentielle Energie bei dieser Bewegung? Man kann die Bewegung des Probekörpers, den man idealisiert „Massenpunkt" nennt, auf zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen vornehmen: a) Entlang einer Kraft- oder Federlinie, b) auf einer der eben beschriebenen Flächen, also senkrecht zu den Kraftlinien. Fall a) Bewegt man den Probekörper auf einer Feldlinie, so stimmt die Richtung der Kraft

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

133

genau mit der Bewegungsrichtung überein oder ist ihr entgegengesetzt. Bewegt sich der Probekörper in Richtung der Kraft so, daß der Abstand von dem großen Körper kleiner wird, dann wird kinetische Energie gewonnen: Der Probekörper fällt auf die große Kugel oder der Stein fällt auf die Erde und kann dabei Arbeit leisten. Bei Bewegung in umgekehrter Richtung muß bekanntlich Arbeit aufgewendet werden, wenn z. B. ein Stein von der Erde angehoben wird. In diesem Fall wird, weil der Abstand vergrößert und Arbeit aufgewendet wird, die potentielle Energie entsprechend größer. Umgekehrt wird die potentielle Energie kleiner, wenn der Abstand kleiner wird unter Vergrößerung der kinetischen Energie: Es kann Arbeit gewonnen werden. Fall b) Bei einer Bewegung des Probekörpers senkrecht zu den Kraftlinien ist die aufzuwendende Arbeit Null, da Kraft und Weg senkrecht zueinander stehen. Die potentielle Energie des Probekörpers bleibt unverändert. Man nennt daher eine solche Fläche im Raum eine Äquipotentialfläche oder Niveaufläche. Bei entsprechender Betrachtung in einer Ebene gibt es Äquipotentiallinien oder Niveaulinien. Bewegt sich der Probekörper nun in anderer Weise, also weder auf einer Äquipotentialfläche noch längs einer Kraftlinie, dann gilt folgende Überlegung: Jede Bewegung kann zerlegt werden und zwar einmal tangential zur Äquipotentialfläche und ferner in Richtung der Kraftlinie. Für die Arbeit ist nur die Komponente in Richtung einer Feldlinie von Bedeutung. Denn die Komponenten tangential zur Äquipotentialfläche stehen senkrecht zur Kraft, und die Arbeit ist daher Null. Im Fall einer beliebigen Bewegung im Gravitationsfeld braucht man somit zur Ermittlung der aufgewendeten oder abgegebenen Arbeit nur die Projektion der Bewegung auf die Kraftlinie mit der Kraft zu multiplizieren. Bei einer Bewegung im Gravitationsfeld der Erde ist die aufzuwendende oder geleistete Arbeit unabhängig von der Art des Weges. Die zu leistende Arbeit ist gleich, ob man mehr oder weniger steil einen Berg hinauffährt. Hierbei bleibt selbstverständlich die Reibung immer unberücksichtigt. Kommt ein Massenpunkt nach einer beliebigen Bewegung im Gravitationsfeld wieder an den Ausgangspunkt zurück oder endet er schließlich auf der gleichen Äquipotentialfläche ( = Niveaufläche) bzw. auf der gleichen Äquipotentiallinie ( = Niveaulinie), so wird k e i n e A r b e i t geleistet oder aufgewendet. Die potentielle Energie — und ebenso die kinetische Energie, falls der Probekörper nicht in Ruhe war — ist am Anfang und am Ende der Bewegung gleich. Die Arbeit ist also für alle geschlossenen Wege: (IV, 8)

§(Fds)

= 0.

Dies gilt definitionsgemäß nur für sogenannte konservative Kräfte. Es sind z. B. solche, bei denen keinerlei Reibungskräfte wirksam sind, so daß die Erhaltung (conservatio) der Energie gilt. In dem beschriebenen, kugelsymmetrischen Kraftfeld wird also die potentielle Energie nur durch den Radius bestimmt. Es gibt zwei Extremwerte: a) der kleinste Radius, in welchem die potentielle Energie einen kleinsten Wert hat, ist der Radius der großen Materiekugel, z. B. der Radius der Erde; b) der größte Radius „unendlich", wo die Kraftwirkung Null ist und die potentielle Energie ihren größten Wert hat. Die Differenz zwischen diesen Extremwerten ist die gesamte Energie, die aufgewendet werden muß, um einen Massenpunkt von der Oberfläche der großen Kugel, z. B. der Erde, aus dem Bereich der Anziehungskraft herauszubringen. Für eine kleine Wegstrecke dr ist die Arbeit dA = — GMm/r2 • dr. Das negative Vorzeichen bedeutet, daß man Arbeit aufwenden muß, wenn man r vergrößern will (dr > 0). Man zählt also Arbeit, die ein System aufnimmt, negativ; Arbeit, die es abgibt, positiv. Die gesamte erforderliche Arbeit ist: (IV, 9) Daraus ergibt sich, weil 1 ¡rm = 0 ist:

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

134 (IV, 10)

A =

GMm

Auf der Erdoberfläche ist nun: (IV, 11)

GMm

g = 9,8 ms - 2 = Fallbeschleunigung 7*o = 6378 km = Erdradius.

A= - mg r0.

Also

Um einen Körper also von der Erdoberfläche aus dem Schwerefeld der Erde hinauszutransportieren, ist eine Arbeit aufzuwenden, die gleich dem Gewicht des Körpers an der Erdoberfläche multipliziert mit dem Erdradius ist. Die Ausdrucksweise „aus dem Schwerefeld hinaustransportieren" ist dabei nicht ganz exakt, da ja das Schwerefeld der Erde, wie man aus dem N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz sehen kann, bis in beliebige Entfernungen reicht (l/r 2 > 0 für beliebige r). Wenn man sagt, ein Körper habe das Schwerefeld der Erde verlassen, meint man damit, daß er weder auf die Erde zurückfällt noch eine geschlossene Bahn um die Erde beschreibt. Es soll nun berechnet werden, mit welcher Mindestgeschwindigkeit man eine Rakete senkrecht nach oben abschießen muß, damit sie nicht auf die Erde zurückfällt. Dazu muß ihre kinetische Energie (m/2) v2 gleich sein der Arbeit, die oben ausgerechnet wurde. Also mgro = (m/2) v 2. Daraus berechnet sich, unabhängig von der Masse der Rakete, eine Geschwindigkeit von 11,2 km/s. Diese Geschwindigkeit nennt man auch Fluchtgeschwindigkeit (dabei ist wie üblich die Reibung, also der Einfluß der Atmosphäre, vernachlässigt). Seit dem Start des ersten Satelliten im Jahre 1957 ist es möglich, Raketen abzuschießen, die nicht wieder auf die Erde zurückfallen (oder erst nach langer Zeit, nachdem sie durch die restliche Luftreibung genügend abgebremst sind). Die Raketen werden gewöhnlich vertikal gestartet und biegen in größerer Höhe in die Horizontale ein. So wird ihre Bahn durch den dichten Teil der Atmosphäre möglichst kurz. Dieses Bahnstück ist in Abb. IV, 20a punktiert eingezeichnet. Biegt die Rakete nach Osten in die Horizontale ein, dann addiert sich zu ihrer Bahngeschwindigkeit noch die Geschwindigkeit des Startpunktes infolge der Erdrotation (1667 km/h am Äquator). Je nach der Endgeschwindigkeit der Rakete ergeben sich verschiedene Bahnen. Ist die Endgeschwindigkeit kleiner als 7,9 km/s, so fällt die Rakete zur Erde zurück. Für Geschwindigkeiten zwischen 7,9 und 11,2 km/s ergeben sich Ellipsenbahnen, für v > 11,2 km/s

a Abb. IV, 20a. Raketenbahnen bei verschiedenen Endgeschwindigkeiten Abb. IV, 20 b. Die Flugbahn des Raumschiffes Mariner 4 von der Erde zum Mars. A bedeutet den Aufenthaltsort der Erde zum Zeitpunkt des Startes am 28. 11. 1964. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Mars am Ort C. D ist der Ort, wo das Raumschiff den Mars am 14. 7. 1965 erreichte. An diesem Tag befand sich die Erde am Ort B

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

135

Ellipsenbahnen um die Sonne. Zum Verlassen unseres Sonnensystems muß v> 75 km/s sein, bezogen auf die Sonne. Man beachte, daß die Fluchtgeschwindigkeit von der Abschußrichtung unabhängig ist. Die gesamte Arbeit, die aufzuwenden ist, um einen Massenpunkt aus dem kugelsymmetrischen Gravitationsfeld eines Körpers zu entfernen, ist also proportional 1/r. Damit erhalten die kugelförmigen Äquipotentialflächen ihre einfachen Kennzeichen: es genügt die Angabe des Abstandes vom Mittelpunkt der Kugel, wenn man die potentielle Energie einer kleinen Kugel der Masse m im Gravitationsfeld einer großen Kugel der Masse M wissen will. Geht man mit der Probekugel von einer Niveaufläche zur anderen (Abstand dr), so bedeutet dies eine Arbeit bzw. Potentialänderung: dA = ( F d r ) = -dV=

-(grad

V)dr.

Darin bedeutet Jr/

grad V =

,8V .8V , dV i——l-j-j—\-k—— dy oz 8x

(i,j, k sind die Einheitsvektoren in Richtung der x-, y- und z-Achse). Die Differentialoperation grad ordnet also einer ortsabhängigen skalaren Größe (einem Skalarfeld) eine ortsabhängige Vektorgröße (ein Vektorfeld) zu. Und zwar stimmt die Richtung des Vektors grad V überein mit der Richtung der stärksten Änderung von V. Der Betrag von grad V ist gleich der differentiellen Änderung von V in dieser Richtung. Das Kraftfeld kann so durch das Skalarfeld der potentiellen Energie beschrieben werden. Dabei stört noch, daß diese potentielle Energie abhängig ist von der kleinen Masse m. Es soll jetzt versucht werden, einen Ausdruck zu finden, der die Potentialflächen kennzeichnet, aber von der Probemasse unabhängig ist. Dazu braucht man nur die potentielle Energie durch m zu dividieren. Den dann erhaltenen Ausdruck U = V/m = — GM/r nennt man Potential des Kraftfeldes. In vielen Lehrbüchern wird die potentielle Energie als Potential bezeichnet. Diese Festsetzung kann aber leicht zu Verwechslungen führen, weil sie von der physikalischen Definition des Potentials bei elektrischen und magnetischen Feldern abweicht, (nicht von der mathematischen). Der Nullpunkt des Potentials wird üblicherweise in die Entfernung r = 00 gelegt. Man kann ihn aber auch anders festsetzen, da das Potential U' = U + const (wegen grad const = 0) dasselbe Kraftfeld beschreibt wie U. Auf der Erde sind horizontale Niveauflächen sehr gut bekannt als Wasseroberflächen. Man bezieht meist auf ein festgelegtes „Normal-Niveau" der Meeresoberfläche. Auf Landkarten sind oft Punkte gleicher Höhe verbunden ( H ö h e n l i n i e n ) . Es sind gleichzeitig Äquipotentiallinien ; denn die potentielle Energie im Schwerefeld der Erde ist mgh.

Abb. IV, 21 a. Kraftfeld einer Kugel bzw. Hohlkugel Nunmehr soll das Potential einer Hohlkugel berechnet werden, deren Oberfläche eine homogene Massenverteilung hat. Im Außenraum ergibt sich ein Potential Ua= — GM/r (M = Gesamtmasse der Hohlkugel), d. h. die Hohlkugel wirkt auf einen äußeren Massenpunkt so, als ob ihre Gesamtmasse im Zentrum konzentriert wäre. Das Potential im Inneren der Hohlkugel ist Ui= — GM/R = const (R = Radius der Hohlkugel). Daraus ergibt sich, daß eine Hohlkugel auf einen Probekörper in ihrem Innern keine Kraft ausübt. Dies läßt sich auch mit einer relativ einfachen Überlegung beweisen. Man betrachte die Abb. IV, 21 a. Durch den inneren Punkt P

136

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

ist eine gedachte konzentrische Kugelfläche gezeichnet (in der Abbildung gestrichelt). Beachtet man nun, daß Kraftlinien nur an Massen enden, so erkennt man, daß durch die gedachte Fläche genauso viele Kraftlinien hineingehen wie herauskommen müssen, da sich in ihrem Innern keine Massen befinden. Aus der Kugelsymmetrie folgt weiter, daß die Kräfte in jedem Punkt der gedachten Fläche gleich sein müssen. Beide Forderungen sind nur erfüllbar, wenn gar keine Kraftlinien die Fläche durchstoßen, also die Kraft auf ihr und damit auch im Punkte P Null ist. D a P innerhalb der Hohlkugel willkürlich gewählt wurde, ist der Satz bewiesen: Eine homogen mit Masse belegte Hohlkugel übt auf Massen in ihrem Inneren keine Kräfte aus. Mit dieser Überlegung, bei der nur die Quellenfreiheit des Gravitationsfeldes im leeren Raum und eine Symmetriebetrachtung benutzt wurden, kann das Problem wesentlich einfacher durchschaut werden als durch eine mathematische Ableitung. Symmetriebetrachtungen geben sehr oft eine tiefe Einsicht in Naturgesetze; sie spielen in der modernen Physik eine große Rolle.

Nach dieser anschaulichen Betrachtung des Potentials im Innern einer Hohlkugel soll wegen der besonderen Wichtigkeit nunmehr eine exakte Ableitung des Potentials einer Kugel folgen. Man betrachtet zunächst keine Vollkugel, sondern eine Hohlkugel vom Radius R und der kleinen Dicke h (Abb. IV, 21 b); das Potential Ua dieser Hohlkugel ist in einem äußeren Punkt P im Abstand a vom Kugelmittelpunkt O zu berechnen. Man schlägt zu diesem Zweck um P zwei Kugeln mit den Radien r und r + dr, die aus der Hohlkugel eine Kugelzone von der Breite db= Rdft ausschneiden; & selbst ist der Winkel zwischen dem nach db gezogenen Kugelradius R und der Richtung OP. Nach dem Cosinussatz ist die Größe von r: r = Yäi~+~R2 -2aR

(a)

cos &,

und durch Differentiation folgt daraus für dr, da a und R Konstanten sind: (b)

dr =

aR sin & dft aR . . ja •— = —r sin & dft. |/a 2 + R2 - 2 aR cos &

Alle Massenelemente der Kugelzone haben von P nach Konstruktion die gleiche Entfernung r; der Flächeninhalt der Zone ist offenbar 2 nR sin & • R d&\ wenn man sie nämlich auf die Ebene abwickelt, kann man sie auffassen als ein Rechteck der Höhe db = Rd& und der Länge 2 TIR sin &. Denn der Umfang der Zone ist ein Kreis mit dem Radius R sin Da die Hohlkugel die Dicke h hat, ergibt sich das Volumen der Zone zu 2 R2nh sin & d&. Durch Multiplikation mit der Dichte n endlich folgt für die in ihr enthaltene Masse dm: (c) dm = 2 R27ihQ sin»? d&. In die Gleichung U = — G J d m / r ist dieser Wert von dm einzusetzen; daher folgt für Ua der Ausdruck: K

(d)

Ua =

" sin # d& -G2R!tjihgji-

Das Integral ist für alle Werte des Winkels & zwischen 0 und n zu bilden; denn dann bestreicht die Zone die ganze Kugeloberfläche. Mittels Gl. (b) können wir den Ausdruck für Ua vereinfachen, indem wir d& durch dr ausdrücken. Das liefert dann:

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt (e)

i,.

=

137

_£2|2*g"jV a—R

Die Grenzen des Integrals ergeben sich durch folgende Überlegung: Ist # = 0, so wird r = a ist & = 7t, so nimmt r den Wert a + R an. Daher liefert die Ausführung des Integrals: GlRnho, a



R;

4GR2nhp a

„,

4 R2nh ist aber das ganze Volumen der Hohlkugel, 4 R2rcho also die ganze Masse M derselben; folglich liefert die letzte Gleichung für das Potential Ua der Hohlkugel: (f) Ua — — GM/a, d.h., die H o h l k u g e l w i r k t auf e i n e n ä u ß e r e n P u n k t so, als o b i h r e G e s a m t m a s s e im Z e n t r u m k o n z e n t r i e r t wäre. Da man eine Vollkugel in eine Anzahl ineinander gesteckter Hohlkugeln zerlegen kann, so gilt dasselbe für eine Vollkugel, und damit ist der behauptete Satz bewiesen. Der Gradient des Potentials Ua ist dUa/da und hat den Wert + GM/a2, und dieser Betrag ist gleich der Feldstärke, die demnach ebenfalls so berechnet werden kann, als ob die ganze Masse der Hohlkugel in ihrem Mittelpunkte vereinigt wäre. In genau der gleichen Weise kann man nun auch zeigen, daß das Potential Ui einer homogenen Hohlkugel vom Radius R in einem inneren Punkte konstant ist: Ui = — GMjR = const. Daraus ergibt sich nach: dUjds = grad U, da in diesem Fall grad Ui = dUi/da = 0 ist, weil Ui von a gar nicht abhängt, d a ß e i n e h o m o g e n mit M a s s e b e l e g t e H o h l k u g e l a u f e i n e n i n n e r e n M a s s e n p u n k t ü b e r h a u p t k e i n e G r a v i t a t i o n s k r a f t a u s ü b t . Die einzelnen Massenelemente tun dies freilich, aber die Resultante aller Kräfte verschwindet. Betrachten wir jetzt eine Vollkugel mit dem Radius R und fragen nach dem Potential in einem inneren Punkt P im Abstand a vom Kugelzentrum (Abb. IV, 21 a), so können wir die Kugel in zwei Teile zerlegen: in eine Vollkugel mit dem Radius a durch den Punkt P und eine Hohlkugel von der Dicke R — a. Die letztere übt nach dem soeben bewiesenen Satz auf den Massenpunkt in P keinerlei Wirkung aus, sondern nur die kleinere Vollkugel, für die P ein äußerer Punkt ist. Da man deren Potential Uä auf P so berechnet, als ob die Gesamtmasse M' = (4/3) a3nn in O konzentriert wäre, so erhält man für Uä unter Berücksichtigung des konstanten Zusatzpotentials der Hohlkugel von der Dicke R — a: Uä = —

2

Gq (3 R? — a );

d. h. das Potential und auch die Kräfte werden immer kleiner, je näher P dem Kugelmittelpunkt O kommt. Denn der Gradient von Uä ist gleich dUä 4 F —Z— = r G nga = . da 3 m Die Feldstärke im Punkt P ist also direkt proportional dem Abstand a vom Kugelmittelpunkt, nicht mehr proportional I/o 2 ! — Die Erde ist keine homogene Vollkugel; daher nimmt beim Eindringen ins Erdinnere die Schwerkraft zunächst zu statt ab, wie es bei einer homogenen Vollkugel der Fall sein müßte. Nunmehr kann man zur Berechnung d e s E r d p o t e n t i a l s a n der E r d o b e r f l ä c h e so vorgehen, als ob ihre Gesamtmasse M = 5,99 • 10 27 g im Mittelpunkt der Erde vereinigt wäre. Da der Erdradius R = 6,37 • 108 cm ist, erhält man für das Erdpotential: -^Erde=

6,67-10~8-5,99-1027 „ = 62,8-10 6>37.10^

erg/g,

da, wie vorher festgestellt, U eine Arbeit pro Masse ist. Es muß also eine Arbeit von 62,8 • 10 10 erg aufgewendet werden, um ein Gramm von der Oberfläche der Erde bis ins Unendliche zu transportieren, wobei ein entsprechender Betrag potentieller Energie in der Masse aufgespeichert wird. Umgekehrt verliert beim Übergang aus dem Unendlichen bis zur Erdoberfläche ein Gramm die potentielle Energie 62,8 • 10 10 erg und gewinnt den gleichen Betrag an kinetischer Energie j m v2. Aus \ m v2 = 62,8 • 10 10 erg folgt für die Endgeschwindigkeit v der Betrag 11,2 km/s. Umgekehrt müßte ein Körper mit dieser Geschwindigkeit von der Erdoberfläche abgeschossen werden, damit er aus ihrem Anziehungsbereich ins Unendliche gelangt.

138

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Am Schluß dieses Abschnitts noch einige Gedanken zur Ausbreitung des Gravitationsfeldes: Die Art der Kraftübertragung bei der Gravitation ist noch unbekannt. Bei einer solchen Betrachtung muß man an die Kraft zwischen zwei elektrischen Ladungen und an die Kraft zwischen zwei Magnetpolen denken. In allen drei Fällen sinkt die Kraft mit dem Quadrat des Abstandes. Und in allen drei Fällen findet man, daß die Kraft immer „sofort" vorhanden ist. Man kann nicht feststellen, daß die Kraftwirkung allmählich aufgebaut wird. Es liegt nahe zu denken, als ob die Kraft den Zwischenraum überspringe. Aus diesen Gründen hat man früher von einer F e r n w i r k u n g und von F e r n k r ä f t e n gesprochen. Bereits N e w t o n hatte die logische Schwierigkeit solcher Fernkräfte gefühlt und nur gesagt, die Form des Gravitationsgesetzes lasse sich so interpretieren, „als ob" zwischen Massen eine Fernkraft wirke. Er war aber ein zu vorsichtiger Forscher, als daß er die tatsächliche Existenz von Fernkräften behauptet hätte; er lehnte dies vielmehr mit den berühmt gewordenen Worten ab: Hypotheses non fingo. Seine Nachfolger waren weniger vorsichtig; und als man später ganz ähnlich gebaute Gesetze auch für die Kräfte zwischen elektrischen Ladungen, zwischen Magnetpolen und zwischen elektrischen Strömen und Magnetpolen fand, wurde der Glaube an die Existenz von Fernkräften für lange Zeit in der Physik herrschend. Der erste, der wieder daran zweifelte, war M i c h a e l F a r a d a y . Er verfocht gerade umgekehrt die These, daß eine Kraft nur am gleichen Ort wirken könne, an dem sie auch entsteht. Wenn scheinbar räumliche Abstände zwischen Entstehungsort und Wirkungsort vorhanden seien, so müsse der Zwischenraum in irgendeiner Weise daran beteiligt sein. Wenn man eine Kraft auf einen Gegenstand ausüben will, so muß man ihn entweder direkt, z. B. mit der Muskelkraft der Hand, angreifen, oder man muß zwischen ihm und der Hand ein Seil (z. B. aus Gummi) spannen. Dann vermittelt das Seil die von der Hand ausgehende Kraft, indem dieses „gespannt" wird, d. h. in einen von dem Normalen abweichenden Zustand gerät. So wird die Kraft der Hand Punkt für Punkt „weitergeleitet" und befähigt, an dem Gegenstand anzugreifen. Wäre das Seil unsichtbar, so würde man den Eindruck einer Fernkraft haben. In dieser Weise stellt sich F a r a d a y vor, daß bei allen scheinbaren Fernkräften das Zwischenmedium die Fortleitung der Kräfte übernimmt. Er hat für die elektrischen und magnetischen Erscheinungen diese Anschauung zum Siege geführt. Seit dieser Zeit ist man der Überzeugung, daß Fernkräfte überhaupt nicht existieren, sondern daß man es immer mit N a h k r ä f t e n zu tun hat. Die Übertragung der Kraftwirkung erfolgt mit Lichtgeschwindigkeit. Auch bei der Gravitation nimmt man nach E i n s t e i n und D i r a c an, daß die Übertragung der Kraft durch gequantelte Gravitationswellen erfolgt, die sich ebenfalls mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen (sog. Gravitonen). Der Name „Nahkräfte" ist unglücklich gewählt, da es sich nicht um die Frage größerer oder kleinerer Entfernung handelt, sondern darum, daß bei Nahkräften überhaupt keine endliche Distanz vorhanden ist; Molekularkräfte z. B., auch wenn sie nur in Entfernungen von 10~6 mm wirken, wären in diesem Sinne echte Fernkräfte. Daher ist die Bezeichnung „Feldkräfte" besser, und hierin ist überhaupt historisch der Ursprung des Feldbegriffes zu suchen: D a s F e l d b e w i r k t die V e r m i t t l u n g der Kräfte. Obgleich man heute überzeugt ist, daß keine Fernkräfte existieren, vereinfacht man oft die Darstellung so, als ob es Fernkräfte gäbe. Wir sagen ja auch, daß die Sonne aufgeht, obwohl wir wissen, daß die Erde sich dreht. Experimentell konnten die Gravitationswellen noch nicht nachgewiesen werden. Dies liegt an der außerordentlichen „Schwäche" der Gravitation im Vergleich zu anderen Kräften. Betrachten wir zum Beispiel ein Proton und ein Elektron und bilden das Verhältnis der Anziehungskräfte FEIFM (FE soll dabei die Anziehung sein, die die beiden elektrischen Ladungen aufeinander ausüben, FM die Massenanziehungskraft der beiden Teilchen), so ergibt sich unabhängig von der Entfernung der beiden Teilchen FE/FM ~ 2 • 10 39 ! Es ist bemerkenswert, daß das Universum im Großen von den schwächsten Kräften beherrscht wird, die wir kennen. Die elektrischen Ladungen kommen im Gegensatz zur Masse bipolar vor und können sich dadurch in ihrer Wirkung kompensieren. Die über sehr kurze Entfernung noch stärkeren Kernkräfte haben nur eine geringe Reichweite (etwa 10~15 m). Der englische Physiker P. A. M. D i r a c hat im Jahre 1937 die Hypothese aufgestellt, daß sich der Wert der Gravitationskonstante G im Laufe der Zeit verringert. Dies hätte z. B. zur Folge, daß die Erde sich langsam ausdehnt. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der früher einmal üblichen, daß sich die Erde wie ein schrumpfender Apfel zusammenzieht und daß die Gravitationskonstante sich nicht verändert. Eine Veränderung der Gravitationskonstante würde fundamentale Folgerungen in den Auffassungen über die Geschichte des Universums nach sich ziehen. Denn die Schwerkraft hat die Sonnen gebildet und zusammengehalten ebenso wie unser Planetensystem und unsere Erde. Eine in der allgemeinen Relativitätstheorie sich ergebende Wirkung der Gravitation ist der Energieverlust für elektromagnetische Wellen beim Durchgang durch ein Schwerefeld. Es wird eine Frequenzverschiebung zu längeren Wellenlängen hin erwartet. Dieser Vorgang konnte bisher nur höchst ungenau beim Durchgang von Licht durch das Schwerefeld der Sonne am Sonnenrand während einer Sonnenfinsternis beobachtet werden. Mit Hilfe der Methode der rückstoßfreien Kernresonanzabsorption ( M ö ß bauer-Effekt) gelang neuerdings ein wesentlich genauerer Nachweis im Schwerefeld der Erde. Die

Kraftfeld; Potential; Weltraumfahrt

139

y-Strahlung durchlief dabei eine Meßstrecke mit einer Höhendifferenz von 22,5 m einmal in Richtung zunehmender Gravitation und einmal in umgekehrter Richtung. Für diese Versuchsanordnung sollte nach der Theorie die gegenseitige relative Verschiebung der Emissions- und Absorptionslinien der y-Strahlung den 5 • 10 _15 ten Teil der Frequenz betragen. Innerhalb der Fehlergrenze (10%) stimmte der gemessene Wert mit dem theoretischen Wert überein. Die Raumfahrt führt zu einer wichtigen Anwendung der N e w t o n s c h e n Bewegungsgleichung in ihrer Impulsform. Will man z. B. ermitteln, das Wievielfache ihres Eigengewichtes eine Rakete an Brennstoff braucht, um eine bestimmte Endgeschwindigkeit bei gegebener Geschwindigkeit des ausströmenden Treibstoffs zu erreichen, so muß man berücksichtigen, daß die Gesamtmasse nicht konstant ist, sondern durch den Verbrauch von Treibstoff sich mit der Zeit wesentlich ändert. Für die Bewegungsgleichung der Rakete muß man deshalb folgenden Ansatz machen: _ dp d (mt>) dv dm F = ~r = — ; — = m~r H — r v. dt dt dt dt Die Masse der Rakete (m r ) setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der Anteil m s ( = Masse des Satelliten) entspricht der Nutzlast und ist auch nach vollständigem Treibstoffverbrauch noch vorhanden. Der Anteil m0 ist die Masse des Treibstoffes beim Start, die sich in der Flugzeit t um den Betrag^/ verkleinert, wobei n die Masse der pro Zeit ausströmenden Treibstoffmenge bedeutet. Zu irgendeiner Zeit t ist also die Gesamtmasse der Rakete: m ( t ) = mr — iut = ms + m0 — /ut. Zur Zeit fj, der „Brennschlußzeit" der Rakete, sei der gesamte Treibstoff verbraucht; es ist dann/it 1 = m(). Die Geschwindigkeit der Rakete sei v; die konstante Relativgeschwindigkeit des ausströmenden Treibstoffs, bezogen auf die Rakete, sei u. Die Absolutgeschwindigkeit des ausströmenden Treibstoffs ist dann v = v + u, oder wenn man zu den Beträgen übergeht, v' = v — u. Zur Zeit t beträgt der Impuls der Rakete also m (?) • v; in dem nun folgenden Zeitabschnitt dt — in dem die Treibstoffmasse ¡¡dt = — dm ausströmt — setzt sich die Änderung des Gesamtimpulses aus der Änderung des Raketenimpulses d (mv) = mdv + dm v und dem Impuls der ausgestoßenen Masse /i dt v' = (— dm) v' zusammen: dp = d (mv) — dm

v'.

Es ergibt sich also für die Bewegungsgleichung der Rakete m dv/dt = F + u dm/dt. Setzt man nun voraus, daß die Rakete vertikal aufsteigt, so kann man in dieser Gleichung sofort zu den Beträgen übergehen und erhält: m dvldt — F — u dm/dt. Die Integration dieser Gleichung ist im allgemeinen (bei bekanntem Kraftfeld F) kompliziert. Deshalb soll zunächst zur Vereinfachung angenommen werden, daß keine äußeren Kräfte vorhanden seien oder daß sie sich gegenseitig kompensieren. Dies ist z. B. bei einer Rakete der Fall, die sich auf einer geschlossenen Bahn um die Erde bewegt. Dann erhält man für die Bewegungsgleichung dv — — u dm/m

und nach Integration

m(t) [ ddm m mr . ms + m0 — = m In —-TT = u In i m m (i) ms + m0 — jxt m(t,

v (t) = — u

Wir betrachten nun die Rakete nach Ablauf der Brennzeit t1 = m j f t , wenn sie die Endgeschwindigkeit ve erreicht hat. Dann ist £5 = u oder nach — aufgelöst: — = eVel" ms ms

ln

«L±B! ms

=

i n (i \

msl

— 1.

Das Verhältnis von Endgeschwindigkeit und Ausströmungsgeschwindigkeit hängt also nur vom Massenverhältnis m j m s ab. Setzt man einige Zahlenwerte von ve/u in die obige Gleichung ein, so erhält man für m0/ms folgende Werte: ve/u 1 2 3 4 mjms

1,7

6,4

19,0

53,6

Das bedeutet, daß z. B. zum Erreichen einer Endgeschwindigkeit, die gleich der vierfachen Ausströmungsgeschwindigkeit des Treibgases ist, etwa das 54fache des Leergewichtes der Rakete an Brennstoff

140

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

benötigt wird! Damit die Rakete keinen unnötigen Ballast mitschleppen muß, baut man sie gewöhnlich in mehreren Stufen. Dann kann jede Stufe nach Ablauf ihrer Brennschlußzeit abgeworfen werden, so daß nur die letzte Stufe die Endgeschwindigkeit erreicht. Berücksichtigt man in der Bewegungsgleichung der Rakete die Schwerkraft F = — mg, so erhält man für nicht zu große Steighöhen (d. h. g = const.) dv uu « 77; = — g + m u- + m — fit dt = — g H m (t) s 0 und daraus für die Geschwindigkeit „(,) = , in

m + m : ° — gt = — ulnll ms + m0 — /ut \

ms + m0 I

— gt

und für die Steighöhe der Rakete K ^ + ^r/ ¡X l\

„ m

s

+

\ i„(i m

0

I

\

m

s

+

m

0

I

m

s

+

m

a

)

2

32. System der Kräfte am starren Körper; Kräftepaar In Nr. 16 wurde die Aufgabe behandelt, Kräfte, die an e i n e m Massenpunkt angreifen, zu einer Resultierenden zusammenzusetzen. Die analoge Aufgabe tritt auch beim starren Körper auf, wenn an diesem mehrere Kräfte angreifen. Sie ist aber dadurch kompliziert, daß im allgemeinen die Kräfte an verschiedenen Punkten des ausgedehnten Körpers angreifen. Wir müssen versuchen, die Mannigfaltigkeit der Kräfte möglichst zu vereinfachen. Erst wenn dies gelungen ist, kann untersucht werden, wann ein starrer Körper unter der Wirkung mehrerer Kräfte im Gleichgewicht bleibt, bzw. welche Bewegungen er ausführt. Bei dieser Aufgabe hilft die in Nr. 27 erörterte L i n i e n f l ü c h t i g k e i t der Kräfte. Danach können wir im starren Körper den Angriffspunkt einer Kraft in ihrer eigenen Richtung beliebig verschieben, ohne die Wirkung der Kraft dadurch zu verändern. Eine Kraft am starren Körper hat, wie damals auseinandergesetzt, keinen Angriffspunkt, sondern eine Angriffslinie (Wirkungslinie).

Abb. IV, 22. Zusammensetzung zweier Kräfte, die an verschiedenen Punkten eines starren Körpers angreifen

Abb. IV, 23. Gleichgewicht dreier Kräfte an einem starren Körper

Wir betrachten den in Abb. IV, 22 dargestellten Fall, daß z w e i K r ä f t e , F i und Fz, die zunächst in e i n e r E b e n e liegen mögen ( „ k o m p l a n a r e " K r ä f t e ) , an zwei Punkten A und B des starren Körpers so angreifen, daß ihre Richtungen mit der Verbindungslinie ihrer Angriffspunkte verschiedene Winkel einschließen. U m die Resultante dieser beiden Kräfte zu finden, verlegen wir die Angriffspunkte der beiden Kräfte in den Schnittpunkt ihrer Wirkungslinien. Jetzt haben wir zwei Kräfte am g l e i c h e n Punkt, können also das Kräfteparallelogramm konstruieren, das uns die Resultante Fr nach Größe und Richtung liefert. Die Kraft Fr können wir nun wieder in ihrer Richtung beliebig, z. B. bis zum Punkt D, verschieben. Damit der starre

System der Kräfte am starren Körper ; Kräftepaar

141

Körper unter der Einwirkung der beiden gegebenen Kräfte Fi und F2 im Gleichgewicht bleibt, muß also eine dritte Kraft angreifen, die F r gleich, aber entgegengesetzt gerichtet ist und die gleiche Angriffslinie mit F r besitzt. Man kann dies auch so ausdrücken: Drei an einem starren Körper in einer Ebene angreifende Kräfte halten sich das Gleichgewicht, wenn ihre Angriffslinien durch einen Punkt gehen und jede der drei Kräfte der Resultierenden aus den beiden anderen gleich, aber entgegengesetzt gerichtet ist. Dies zeigen wir mit der Versuchsanordnung (Abb. IV, 23), bei der die durch die Gewichte Gi, G2 und G3 dargestellten Kräfte nicht an einem gemeinsamen Punkt, sondern an drei Stellen einer den starren Körper darstellenden leichten Scheibe angreifen. Im Gleichgewicht gehen die Angriffsrichtungcn der drei Kräfte durch e i n e n Punkt. Die in Abb. IV, 22 benutzte Konstruktion scheint zu versagen, wenn d i e b e i d e n in e i n e r E b e n e l i e g e n d e n K r ä f t e Fi u n d F2 e i n a n d e r p a r a l l e l s i n d (Abb. IV, 24): Dann

c

Abb. IV, 24. Zusammensetzung zweier gleichgerichteter paralleler Kräfte

liegt nämlich der Schnittpunkt ihrer Angriffslinien im Unendlichen. In diesem Fall helfen wir uns dadurch, daß wir zwei gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Hilfskräfte + F, deren Richtung mit der Verbindungslinie der Angriffspunkte der gegebenen Kräfte zusammenfällt, in den Punkten A und B zu den gegebenen Kräften hinzufügen. Dadurch wird am Gleichgewicht des Körpers nichts verändert, denn die beiden hinzugefügten Kräfte + F heben sich am starren Körper wegen ihrer Linienflüchtigkeit auf. Wir setzen jetzt Fi mit — F zu einer Resultierenden Fi' und ebenso F2 mit + F zu einer Resultierenden F2' zusammen. Die Richtungen von Fi und Fz sind nun nicht mehr parallel, sondern schneiden sich im Punkt C. Indem wir dort das Kräfteparallelogramm mit Fi und konstruieren, erhalten wir die Resultierende F r , die wir nun so in ihrer Richtung verschieben können, daß ihr Angriffspunkt z. B. nach D fällt. F r ist gleich der Summe von Fi und F2; dies erkennt man, wenn man in dem gemeinsamen Angriffspunkt C die Kräfte F i und F2' wieder in ihre Komponenten zerlegt. Dann heben sich die beiden Hilfskräfte + F und — F heraus, und es bleiben nur die Kräfte Fi und F2 übrig. Der Schnittpunkt D der Wirkungslinie von F r mit der Verbindungslinie der Angriffspunkte A und B der gegebenen Kräfte wird Mittelpunkt der parallelen Kräfte genannt. D möge die Strecke A B im Verhältnis r y . r 2 teilen. Bezeichnen wir den Winkel zwischen Fi und F i mit oc und den zwischen F2 und F2' mit ß , so finden sich diese Winkel auch bei C wieder, und es ist tan

a r1 F 2

d.h.:

Durch die Angriffslinie der Resultierenden zweier paralleler Kräfte wird die Verbindungslinie ihrer Angriffspunkte im umgekehrten Verhältnis der Kräfte geteilt. Experimentell beweisen wir die Richtigkeit dieses Satzes, indem wir eine leichte, in gleiche Abschnitte geteilte Stange (Abb. IV, 25) in ihrer Mitte über eine Rolle an einem Faden auf-

142

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

hängen und durch ein Gewicht g austarieren. Hängt man in der Entfernung r = 8 Abschnitte links vom Mittelpunkt ein Gewicht Gi von zwei Einheiten und rechts von der Mitte im Abstand r = 4 ein Gewicht (?2 von vier Einheiten an die Stange, so müssen wir zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes an den über die Rolle laufenden Faden ein Gewicht G3 = 2 + 4 = 6 Einheiten anhängen. Im folgenden Abschnitt soll dieses Ergebnis auf beliebig viele parallele Kräfte verallgemeinert werden. In derselben Weise, wie soeben zwei gleichgerichtete parallele Kräfte zusammengesetzt wurden, lassen sich auch zwei e n t g e g e n g e s e t z t g e r i c h t e t e p a r a l l e l e K r ä f t e zusammenfügen. Dies zeigt Abb. IV, 26, bei der die Bezeichnungen dieselben wie in Abb. IV, 24 sind.

Abb. IV, 25. Gleichgewicht paralleler Kräfte

Abb. IV, 26. Zusammensetzung zweier entgegengesetzter paralleler Kräfte

Die resultierende Kraft Fr ist jetzt der Größe nach gleich der Differenz der beiden gegebenen parallelen, aber entgegengesetzt gerichteten Einzelkräfte und ihrer Richtung nach parallel und gleichgerichtet mit der größeren der Einzelkräfte. Ihre Wirkungslinie trifft die über den Angriffspunkt der größeren der beiden Einzelkräfte hinaus verlängerte Verbindungslinie der gegebenen Angriffspunkte in einem Punkt D, dessen Abstände von den Angriffspunkten der gegebenen Kräfte sich wieder umgekehrt verhalten wie diese selbst. In Abb. IV, 26 ist also: Fr=Fl

— F2 und DA : DB = F2 : Ft.

B e i zwei g l e i c h e n e n t g e g e n g e s e t z t gerichteten K r ä f t e n versagt aber die beschriebene Konstruktion; denn in diesem Fall rückt der Punkt C von Abb. IV, 26 ins Unendliche und die Resultierende erhält den Wert N u l l . H i e r g i b t es a l s o k e i n e r e s u l t i e r e n d e E i n z e l k r a f t ; diese beiden entgegengesetzt gleichen K r ä f t e sind nicht weiter r e d u z i e r b a r , s o n d e r n b i l d e n e i n e b e s o n d e r e A n o r d n u n g . Man bezeichnet ein Kräftesystem aus zwei parallelen, gleich großen, aber entgegengesetzt gerichteten Kräften, deren Angriffslinien nicht auf derselben Geraden liegen, als ein , , K r ä f t e p a a r " . Ein solches Kräftepaar erzeugt, wie wir sofort zeigen werden, eine Drehung des starren Körpers. Es kann n i e m a l s durch eine Einzelkraft, sondern stets nur durch ein zweites gleich großes, aber entgegengesetzt gerichtetes Kräftepaar kompensiert werden. Wir überzeugen uns zunächst mittels einer einfachen, in Abb. IV, 27 skizzierten Anordnung von der Wirkung eines solchen Kräftepaares auf einen frei beweglichen Körper. Auf einem runden Brett a ist in senkrechter Stellung ein zweites Brett b befestigt. Das Ganze kann auf einer Wasseroberfläche schwimmen. Bläst man durch zwei gleiche, parallel gestellte, aber entgegengesetzt gerichtete Düsen D± und Di gleich starke Luftströme gegen das Brett b, so wirkt auf dieses ein Kräftepaar und dreht den ganzen Körper um die gestrichelt eingezeichnete Achse. Ein Kräftepaar übt also ein Drehmoment auf den starren Körper aus. Seine Größe berechnen wir an Hand der Abb. IV, 28. Wir verbinden die Angriffspunkte Pi und P% der beiden gleich großen Kräfte F i und ¥1= — F i (die wir durch Verschiebung der Kräfte in ihrer Richtung so wählen

System der Kräfte am starren Körper ; Kräftepaar

143

können, daß die Verbindungslinie P\Pz = l senkrecht auf den beiden Kraftrichtungen steht) mit einem beliebig angenommenen Bezugspunkt O. Von O fällen wir die Lote a\ und az auf die Richtungen der beiden Kräfte. Das von der Kraft Fi auf den starren Körper in bezug auf O ausgeübte Drehmoment Ti hat den Betrag: T1 = r1F1 sin oq

Abb. IV, 27. Wirkung eines Kräftepaares

=atFt;

Abb. IV, 28. Berechnung des Kräftepaares

da es im Uhrzeigersinn dreht, ist es vom Beschauer der Abb. IV, 28 fortgerichtet und nach der früheren Festsetzung als positiv zu rechnen. Das von F% ausgeübte Drehmoment Tz hat dagegen den Betrag: T2 = r2F2 sin a 2 =

a2F2;

es dreht im Gegensinn, ist zum Beschauer hin gerichtet und als negativ zu rechnen. Beide Drehmomente sind einander parallel, das resultierende Drehmoment T ist also gleich der Summe I i + Tz der Einzelmomente. Für den Betrag des resultierenden Drehmomentes finden wir also T = T1 + T2 = a1F1 + a2F2 = (a1-a2)F1

=

lF1.

Man erkennt, daß die Lage des Bezugspunktes O für die Größe des Drehmomentes, das von einem Kräftepaar ausgeübt wird, k e i n e Rolle spielt. Ein Kräftepaar ist nun offenbar nicht nur durch die Größe IF charakterisiert, sondern auch durch die E b e n e des Paares; denn von ihrer Stellung hängt ja die Achsenrichtung ab, um die die Drehung erfolgt. Mit anderen Worten: E i n K r ä f t e p a a r ist ein V e k t o r T, als dessen Betrag T wir die Größe IF ansehen; seine Richtung bestimmen wir folgendermaßen: Auf der Ebene des Kräftepaares, z. B. in dem Halbierungspunkte des Armes /, errichten wir ein mit Pfeil versehenes Lot von der Länge IF. Die positive Richtung des Pfeiles ist so zu wählen, daß für ein in dieser Richtung blickendes Auge die Drehung im Uhrzeigersinne vor sich geht. Die beiden Abb. IV, 29 a und IV, 29 b sind danach ohne weiteres verständlich. In vektorieller Schreibweise deutet ein Kreuz auf das Vektorprodukt hin: (IV, 12)

T= l x F = ( n — rz) x F.

Das Drehmoment des Kräftepaares ist gleich dem Vektorprodukt aus der Kraft und der Differenz der Ortsvektoren der Angriffspunkte. D a die Wirkung eines Kräftepaares lediglich in der Ausübung des Drehmomentes (IV, 12) besteht und dieses nur vom Produkt IF abhängt, so sind solche Verschiebungen des Paares im starren Körper zulässig, bei denen das Drehmoment ungeändert bleibt. Das heißt aber, daß d a s P a a r im s t a r r e n K ö r p e r — natürlich unter Beibehaltung seiner Richtung! — v o l l kommen beliebig verschoben werden kann:

144

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Das Kräftepaar T i s t ein freier Vektor, im Gegensatz zu dem linienflüchtigen Kraftvektor F . Wir können dies leicht an Hand der Abb. I V , 30 beweisen. Gegeben ist das Kräftepaar T vom Betrage T = IF. Wir nehmen auf der Verlängerung seines Armes einen Bezugspunkt O an und ziehen durch O eine unter dem Winkel x gegen OB geneigte Gerade. Wir verschieben dann die Angriffspunkte A und B des gegebenen Kräftepaares bis zum Schnitt mit dieser Geraden. Den Abstand der neuen Angriffspunkte Ä und B' nennen wir /'. Die beiden in Ä und B' an-

_Xa r F"

-F

_/./ / / w , < äi

b)

-F

Abb. IV, 29. Zwei entgegengesetzt drehende Kräftepaare

Abb. IV, 30. Verschiebung eines Kräftepaares in der Zeichenebene

greifenden Kräfte + F zerlegen wir in j e zwei Komponenten parallel und senkrecht zu /'. Dann bilden die Komponenten F' ein neues Kräftepaar mit dem Arm /', während sich die K o m p o nenten F" gegenseitig aufheben. Das Moment des neuen Kräftepaares hat den Betrag F'l'. Nun sieht man sofort, daß F' = F c o s « und / ' = //cos oc und somit F'l' = Fl ist, d. h. die beiden Kräftepaare sind einander gleichwertig. Als Beispiele für das Auftreten eines Kräftepaares seien erwähnt: die S c h r a u b e n p r e s s e , bei der man an den Querarmen mit beiden Händen anfaßt, um ein Drehmoment auszuüben; die Flügel einer Windmühle, an deren schräg gestellten Flächen der Winddruck entgegengesetzt gerichtete Kraftkomponenten hervorruft, die zusammen ein Kräftepaar bilden. Auch die in der Physik vielfach benutzte b i f i l a r e A u f h ä n g u n g gehört hierher. In Abb. IV, 31 ist z. B. ein Stab AB von der Länge d an zwei gleich langen parallelen Fäden Aa und Bb von der Länge / aufgehängt. Wird der Stab aus seiner Ruhelage in die gestrichelte Lage A'B' verdreht, so wird er dabei durch die Schrägstellung der Aufhängefäden etwas gehoben. Sein nach unten gerichtetes Gewicht G können wir uns zu gleichen Teilen in den Punkten

b

Abb. IV, 31. Zur bifilaren Aufhängung

A' und B' angreifend denken. Die in A' vertikal nach unten wirkende Kraft !2 G ist durch den Vektor A'C dargestellt. Wir zerlegen ihn in die beiden Komponenten A'D in Richtung des Aufhängefadens / und A'E senkrecht dazu. Die letztere Kraftkomponente versucht den Stab in seine Anfangslage zurück-

System der Kräfte am starren Körper; Kräftepaar

145

zubringen und bildet mit der gleich großen, aber entgegengesetzt gerichteten Kraft am anderen Ende des Stabes ein Kräftepaar. Das Drehmoment dieses Kräftepaares ist A'E • d\ aus der Ähnlichkeit der rechtwinkligen Dreiecke A'aF und CA'E folgt die Beziehung: A'E:A'C = A'F:Fa. Wird der Stab um einen kleinen Winkel ]/2; in der Phase ist sie gegen beide Primärschwingungen um + 45° verschoben (Abb. IV, 79 c). Zusammenfassend kann man sagen: Die Überlagerung zweier harmonischer Schwingungen gleicher Schwingungsrichtung und gleicher Frequenz ergibt stets wieder eine harmonische Schwingung derselben Schwingungsrichtung und Frequenz, aber verschiedener Amplitude, die von den Amplituden der Primärschwingungen und ihrer Phasendifferenz abhängt. — In einem speziellen Falle kann die resultierende Amplitude auch gleich Null werden; dann heben sich die beiden Schwingungen auf. (Über den Verbleib der Energie siehe V I I I . Kap.)

Abb. IV, 81. Zusammensetzung zweier Sinusschwingungen mit dem Frequenzverhältnis 2:1 a) Phasendifferenz Null, b) Phasendifferenz Aq>

Schwingungen; Zusammensetzung von Schwingungen

179

Nicht ganz so einfach liegen die V e r h ä l t n i s s e b e i d e r Ü b e r l a g e r u n g z w e i e r S c h w i n g u n g e n m i t v e r s c h i e d e n e r F r e q u e n z . Wir betrachten die beiden Abb. IV, 81a und 81b, in denen zwei Schwingungen I und II, deren Schwingungsdauern sich wie 1 : 2 bzw. deren Frequenzen sich wie 2 : 1 verhalten, zu einer resultierenden Schwingung zusammengesetzt sind. In Abb. IV, 81 a beträgt die Phasendifferenz zwischen beiden Schwingungen Null, in Abb. IV, 81b hat sie einen beliebigen Wert A(p. Das Ergebnis ist wieder ein periodischer Bewegungsvorgang, also eine Schwingung mit der neuen Periodendauer Tr\ die S c h w i n g u n g i s t a b e r n i c h t m e h r s i n u s f ö r m i g , und die S c h w i n g u n g s f o r m ä n d e r t s i c h unter sonst gleichen Bedingungen m i t d e r P h a s e n d i f f e r e n z z w i s c h e n den e i n z e l n e n S c h w i n g u n g e n . Schließlich ist in Abb. IV, 82 noch die Zusammensetzung zweier Schwingungen gezeichnet, deren Frequenzen sich wie 9 : 2 verhalten. Auch hier ergibt die Resultierende wieder eine nicht sinusförmige, aber periodische Schwingung. D i e s ist n u r m ö g l i c h , w e n n die S c h w i n g u n g s d a u e r n bzw. F r e q u e n z e n d e r E i n z e l s c h w i n g u n g e n in e i n e m g a n z z a h l i g e n V e r h ä l t n i s s t e h e n ; die F r e q u e n z d e r r e s u l t i e r e n d e n S c h w i n g u n g ist d a n n s t e t s d e r g r ö ß t e g e m e i n s c h a f t l i c h e T e i l e r d e r E i n z e l f r e q u e n z e n . S i n d d a g e g e n die S c h w i n g u n g s d a u e r n bzw. F r e q u e n z e n d e r E i n z e l s c h w i n g u n g e n inkommens u r a b e l , so i s t d i e r e s u l t i e r e n d e B e w e g u n g ü b e r h a u p t n i c h t m e h r p e r i o d i s c h .

V xN w w w w w /r i / i i i l i /

Abb. IV, 82. Zusammensetzung zweier Sinusschwingungen mit dem Frequenzverhältnis 9:2

i i \ i\ i \ i

i 1

T 'r

'

/A i / V

W

Ein besonderer Fall liegt vor, wenn sich zwei harmonische Schwingungen überlagern, deren Frequenzen n und sich nur wenig voneinander unterscheiden. Dieser Fall ist in Abb. IV, 83 für vi = 60 Hz und jnt dargestellt. Die resultierende Schwingung ist dann nach dem Additionstheorem der trigonometrischen Funktionen:

Abb. IV, 83. Zusammensetzung zweier Sinusschwingungen mit wenig voneinander verschiedenen Frequenzen: Schwebungen 0,15

0,20

0,25 Sekunden

180

Anwendungen auf spezielle Bewegungen „„•>

( I V , 32)

y=

yi

+ yn=b

, r







,

[ s m a ^ t + sin tu„i] = 2 bcos

(Oi —co„ 1

. (O. + COI, t • sin i.

Der Einfachheit halber haben wir von der Hinzufügung von Phasenkonstanten abgesehen; das wesentliche Resultat wird dadurch nicht beeinflußt. Sind a>i und con nur wenig voneinander verschieden, so ist \ (coi — con) klein gegen \ (a>i + con), so daß sich der Faktor cos \ (coi — con) t mit der Zeit sehr viel langsamer ändert als der Faktor sin j (coi + con) t. Den resultierenden Bewegungsvorgang können wir daher angenähert als eine harmonische Schwingung mit der Kreisfrequenz \ (coi + con) ansehen, deren Amplitude 2 b cos \ (coi — con) t sich mit der Kreisfrequenz \ (coi — con) periodisch ändert. Die Amplitude der resultierenden Schwingung wächst also von Null zu einem Maximum 2 b, wird wieder Null usw. Dieser Vorgang heißt Schwebung. Die Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden maximalen Amplituden nennt man die S c h w e b u n g sd a u e r Ts; es ist die Zeit, die vergeht, wenn cos \(o>i — con) t von + 1 nach — 1 abnimmt; d. h. wenn sich das Argument des Kosinus um n ändert. Es gilt also die Gleichung:

«h-Ourr



2 woraus folgt: _

T s

2it coj — con

1

^

v,— Vj,

T{Tn Tu—T,"

Die S c h w e b u n g s f r e q u e n z vs, d. h. die Zahl der Schwebungen in der Sekunde beträgt demnach VS = Vi — Vll. Je weniger die Frequenzen der Einzelschwingungen voneinander abweichen, desto kleiner ist die Schwebungsfrequenz. Die Amplitude der Schwebung geht nur dann auf Null herunter, wenn die Amplituden der Einzelschwingungen gleich sind. Wir sprechen in diesem Fall von einer reinen Schwebung, im Gegensatz zur unreinen Schwebung, die dann vorliegt, wenn die beiden Einzelschwingungen verschiedene Amplituden haben. Eine besonders große Rolle spielen die Schwebungen in der Akustik und bei genauen Frequenzmessungen. Bis jetzt wurden die Schwingungen in den Zeichnungen aus Gründen der Vollständigkeit und der Anschaulichkeit stets so dargestellt, daß die Amplitude in Abhängigkeit von der Zeit aufgetragen war. Diese Art soll auch beibehalten werden, wenn sie notwendig oder für das Verständnis zweckmäßig ist. Es ist jedoch vielfach praktischer, wenn die Amplitude in A b hängigkeit von der Frequenz v oder von der Kreisfrequenz co = 2 nv aufgetragen wird. Diese Spektrendarstellung hat insbesondere wegen ihrer Übersichtlichkeit manche Vorteile. Eine rein sinusförmige Schwingung ergibt ein Linienspektrum und besteht nur aus einem vertikalen Strich. Seine Länge gibt die Amplitude an und seine Lage auf der Abszisse die Frequenz der Schwingung. Ist die Schwingung aus mehreren Einzelschwingungen zusammengesetzt, dann erscheint für jede einzelne Teilschwingung ein vertikaler Strich bei der betreifenden Frequenz. Ein wesentlicher Nachteil dieser Spektrendarstellung ist, daß sie keine Information über die Phasen enthält. Doch ist die Kenntnis der Phasen in vielen Fällen nicht erforderlich. Die Spektrendarstellung ist auch dann vorteilhaft, wenn es sich nicht mehr um ungestörte Überlagerungen von Einzelschwingungen handelt. Dann treten Kombinationsfrequenzen auf, und zwar in erster Linie die Differenzfrequenz und die Summationsfrequenz zweier Einzelschwingungen. Ist z. B. eine Schwingung mit einer zweiten zusammengesetzt und sind die beiden Frequenzen 900 H z und 200 Hz, dann ergeben sich im Fall einer gestörten Überlagerung in der Spektrendarstellung im wesentlichen 4 vertikale Striche. Diese liegen bei 900 H z und bei 200 Hz, sowie bei der Summe und Differenz der beiden Frequenzen. Die Frequenz bei 900 H z ist von den beiden Frequenzen 900 - 200 = 700 H z und 900 + 200 = 1100 H z eingerahmt. Die Bandbreite dieser Überlagerungsschwingung beträgt 400 Hz.

Schwingungen; Zusammensetzung von Schwingungen

181

Die Abb. IV, 83 ist als Linienspektrum in Abb. IV, 84 dargestellt. Die Schwebungsfrequenz von 10 H z erscheint g l e i c h z e i t i g mit den beiden Ausgangsfrequenzen nur dann als Differenzfrequenz, wenn das schwingende System ein nichtlineares Glied enthält. Dieses ist z. B. im Ohr der Fall (vgl. Akustik).

Abb. IV, 84. Spektrendarstellung der Schwingungen der Abb. IV, 83

0

10 20

30

CO 50

60

70

100 Hz

Frequenz f

Es hat sich eingebürgert, die Frequenz in der Optik ausschließlich mit v, in der Technik, Elektrizität und Akustik dagegen mit / zu kennzeichnen. F ü r die Spektrendarstellung wurde in der Abb. IV, 84 auch der Buchstabe / gewählt. Die Zusammensetzung zweier Schwingungen mit gleicher oder verschiedener Frequenz läßt sich experimentell auf verschiedene Weise zeigen. Wir geben folgende zwei Versuchsanordnungen dafür an. In der A b b . IV, 85 sind zwei einseitig eingeklemmte Bandfedern dargestellt, die in der Vertikalen Biegungsschwingungen ausführen können und am freien Ende einen kleinen Spiegel tragen. Bildet m a n über beide Spiegel einen hellen Lichtpunkt auf einem Schirm ab,

Abb. IV, 85. Zusammensetzung zweier Schwingungen mittels schwingender Federn

Abb. IV, 86. Apparat zur Vorführung der Zusammensetzung zweier Sinusschwingungen gleicher Richtung

so beschreibt dieser Punkt auf dem Schirm beim Schwingen beider Federn ihre resultierende Schwingung. Läßt man den Lichtstrahl, bevor er auf den Schirm fällt, über einen Drehspiegel mit vertikaler Achse gehen, so daß er bei Rotation dieses Spiegels in eine horizontale Linie auseinandergezogen wird, so erhält man auf dem Schirm die Schwingungskurve der resultierenden Schwingung. Die Frequenzen der einzelnen Schwingungen lassen sich durch Verändern der Längen der Federn variieren. Ein zweiter Vorführungsapparat f ü r die Überlagerung zweier Sinusschwingungen, der im Gegensatz zu der soeben beschriebenen Versuchsanordnung auch die Einstellung jeder Phasendifferenz zwischen den beiden Schwingungen ermöglicht, ist in A b b . IV, 86 dargestellt. Vor einem vertikalen Spalt befindet sich ein kleines Stäbchen, das mit seinen Enden a m R a n d zweier Kreisscheiben in Löchern drehbar gelagert ist. Die beiden Scheiben sitzen an den Enden zweier Achsen 1 u n d 2, die unabhängig voneinander gedreht werden können. Befindet sich z. B. die Achse 2 in R u h e und rotiert die Achse 1 mit vi Umdrehungen je Sekunde, so beschreibt das Stäbchen einen Kegelmantel vor dem Spalt; bildet m a n das Stäbchen auf einem Schirm über einen Drehspiegel mit vertikaler Achse ab, so erhält man auf dem Schirm eine Sinuslinie

182

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

mit der Frequenz n- Durch Verschieben des Spaltes in horizontaler Richtung kann man jede Amplitude zwischen Null und der größten durch den Radius der Kreisscheibe gegebenen einstellen. Steht die Achse 1 still und dreht sich die Achse 2 mit Umdrehungen je Sekunde, so erhält man auf dem Schirm eine zweite Schwingung mit der Frequenz vi- Bei gleichzeitiger Drehung beider Achsen erhält man dann die Überlagerung der beiden Einzelschwingungen, und zwar für den Fall gleicher Amplituden, wenn der Spalt genau in der Mitte steht. Durch Verschieben des Spaltes kann man jedes Amplitudenverhältnis einstellen. Damit die beiden Schwingungen ein festes Frequenzverhältnis haben, erfolgt der Antrieb der beiden Achsen 1 und 2 über Zahnräder mit entsprechendem Übersetzungsverhältnis von einer dritten Achse 3. Dabei kann man durch Verdrehen des bei F angebrachten Rades die Phase zwischen den beiden Schwingungen beliebig einstellen und auf diese Weise z. B. die in Abb. IV, 79, 81 — 83 dargestellten Schwingungskurven erhalten. Ebenso wichtig wie die Zusammensetzung mehrerer harmonischer Schwingungen zu einer resultierenden Schwingung ist die Zerlegung einer gegebenen b e l i e b i g e n periodischen Bewegung / ( t ) in eine Summe von harmonischen Teilschwingungen. Dies ist, wie F o u r i e r gezeigt hat, stets, und zwar nur auf eine Weise, möglich: f f (t) = A0 + Alcoscot + A2cos2cot + A3cos3a>t+ ... | +BX sin a>t + B2 sin 2cot + B3 sin 3cof+ . . . , wobei a> = 2 n/T die Kreisfrequenz, T die Schwingungsdauer des periodischen Vorganges ist. Außer der „Grundfrequenz" a> treten in der Fourier-Entwicklung (IV, 33) im allgemeinen alle ganzzahligen Vielfache 2 m, 3 m, ..., die sogenannten „harmonischen Oberschwingungen" auf. In besonderen Fällen können einzelne Glieder fortfallen; für die Praxis genügt es meistens, wenn man die Entwicklung nach den ersten Gliedern abbricht. Man nennt eine solche Zerlegung eine Fourier-Analyse; auf das Rechenverfahren gehen wir nicht ein. Lediglich als Beispiel für die Zerlegung einer beliebigen periodischen Bewegung / (t) ist in Abb. IV, 87a eine periodische Dreieckskurve gezeichnet, von der Amplitude b und der Periode T bzw. der Kreisfrequenz co = 2 n\T. Die Fourier-Analyse ergibt folgende Zerlegung dieser Schwingung: (IV,33a)

8b \ 1 1 1 ~1 f ( t ) = —2" sinroi —-jsinScüi + ^ j s i n S c o i — ^ 2 s i n 7 c o f + . . . . n |_ 3 5 7 J

Das Bildungsgesetz für die höheren Glieder der Reihe ist danach leicht erkenntlich; insbesondere sieht man, daß alle Kosinusglieder und die geradzahligen Vielfachen der Grundfrequenz co fehlen. Beschränkt man sich auf die angeschriebenen vier ersten Glieder der Reihe, die im oberen Teil der Abb. IV, 87 b einzeln dargestellt sind, so erhält man durch Überlagerung derselben die unterste Kurve dieser Figur, die — abgesehen von einigen Kräuselungen — die Dreieckskurve der Abb. IV, 87a schon recht gut darstellt; durch Hinzunahme von noch mehr Gliedern kann die Annäherung entsprechend weiter getrieben werden. Es sei bemerkt, daß man die Fourier-Analyse einer gegebenen periodischen Funktion auch auf rein mechanischem Wege vollziehen kann; solche Apparate heißen harmonische Analysatoren. Es ist interessant, daß das Ohr einen solchen harmonischen Analysator nach der Hörtheorie von Helmholtz besitzen soll, worauf wir in der Akustik näher einzugehen haben. Die Fourier-Darstellung ist nicht auf periodische Vorgänge beschränkt. Auch aperiodische Ereignisse, wie z. B. das Anstoßen eines schwingungsfähigen Systems (Anzupfen einer Saite, Anschlagen einer Glocke, Erzeugung eines Knalles, allgemein Stoßerregungen genannt), lassen sich auf diese Weise analysieren. Allerdings tritt dann an die Stelle der S u m m e von diskreten Teilschwingungen das F o u r i e r - I n t e g r a l . Es liefert dementsprechend als Ergebnis ein Frequenzkon t i n u u m . Ein System, das nur zu bestimmten Schwingungen fähig ist, wählt aus

Schwingungen; Zusammensetzung von Schwingungen

A «

183

T-

Abb. IV, 87. Fourier-Zerlegung einer periodischen Dreieckskurve

diesem Kontinuum die passenden Frequenzen aus. Das ist der Grund dafür, daß man Schwingungen durch Stoß überhaupt erzeugen kann. Wir kommen jetzt zu dem zweiten Fall der Zusammensetzung zweier Schwingungen, deren Richtungen gegeneinander geneigt sind. Es sei nur der wichtigste Fall behandelt, daß die beiden S c h w i n g u n g s r i c h t u n g e n s e n k r e c h t a u f e i n a n d e r stehen, also z. B. parallel der x- und ^-Richtung eines Koordinatensystems. Für die beiden Schwingungen, die zunächst gleiche Frequenz haben mögen, gilt: x = a sin cot und

y = b sin (wt + (p).

Der Massenpunkt beschreibt eine Bahn, die in jedem Augenblick durch Vektoraddition aus den Einzelverrückungen zusammengesetzt ist; wegen der Phasendifferenz

1

B Abb. IV, 109. Hauptträgheitsachsen eines Quaders

Abb. IV, 110. Rotation einer Scheibe und eines Kettenringes um die Achsen ihres größten Trägheitsmomentes

Achsen A oder C ganz ruhig rotiert, d. h. daß die genannten Achsen ihre Richtung im Raum unverändert beibehalten. Gibt man aber der Kiste beim Hochwerfen eine Drehung um die B-Achse, so schwankt sie hin und her; d. h. die Achse verändert dauernd ihre Richtung im Raum. Wir zeigen die Rotation um eine freie Achse für eine Scheibe, indem wir diese mit einer Schnur an das Ende einer vertikal nach unten gerichteten Achse eines Motors anhängen, wie es Abb. IV, 110a zeigt. Läuft der Motor, so gerät die Scheibe um die gestrichelt gezeichnete Achse ihres kleinsten Trägheitsmomentes in stabile Rotation. Bei h i n r e i c h e n d g r o ß e r Störung aber geht die Scheibe in die Lage b über, in der sie um die Achse ihres größten Trägheitsmomentes rotiert und die größte Bewegungsstabilität besitzt. Die Scheibe behält diese stabilste Rotation um die vertikal verlaufende Achse auch noch bei, wenn man den Motor abstellt, die Schnur in die Hand nimmt und die rotierende Scheib hin- und herbewegt. Die bei einer solchen Rotation auftretenden zentrifugalen Kräfte zeigt sehr schön eine in sich geschlossene Kette, die man nach Abb. IV, 110c an Stelle der Scheibe an die Motorachse hängt. Bei der Rotation ziehen die Zentrifugalkräfte die Kette zu einem starren Ring auseinander, der schließlich wegen der großen unvermeidlichen Störungen die in Abb. IV, llOd gezeichnete stabile Lage einnimmt. Hier noch einige Beispiele von Rotationen um freie Achsen: Beim Sprung vom Turm ins Schwimmbad macht der Springer einen oder mehrere Saltos um eine horizontale, freie Achse. Dabei erhöht er zunächst seine Winkelgeschwindigkeit dadurch, daß er sein Trägheitsmoment verkleinert. Vor dem Eintritt ins Wasser stoppt er die Drehbewegung dadurch, daß er sein Trägheitsmoment stark vergrößert. — Eine Eiskunstläuferin dreht sich wie ein Kreisel um eine vertikale, freie Achse. Am Ende vergrößert sie ihr Trägheitsmoment wieder durch Ausbreiten der Arme und bleibt dadurch stehen. — Im Zirkus sieht man manchmal einen Artisten einen flachen Teller in der Luft drehen, den er mit einem Holzstab exzentrisch unterstützt. Der Teller dreht sich dabei um seine Symmetrieachse.

204

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Nunmehr sollen Rotationsbewegungen von solchen Körpern behandelt werden, die in einem Punkt festgehalten werden. Es sind Kreiselbewegungen. Sie sind etwas schwer zu verstehen, und zwar aus folgendem Grunde: Im allgemeinen liegt bei rotierenden Körpern die Drehachse fest und wird von wenigstens zwei Lagern gehalten. Bei den soeben behandelten freien Achsen fehlen die Lager; doch liegt die freie Achse im Körper fest. Bei dem Kreisel aber wechselt die Drehachse fortwährend ihre Richtung im Körper, obgleich sie in einem Punkt gelagert ist. Die Form des Kreisels kann beliebig sein. Es sollen aber nur die symmetrischen Kreisel besprochen werden, weil sie relativ einfach zu verstehen und außerdem am wichtigsten sind. Jeder rotationssymmetrische Körper, der auf einer Drehbank hergestellt werden kann, z. B. Kugel, Kreiszylinder, Rotationsellipsoid, Kegel, jedes Rad stellt einen solchen symmetrischen Kreisel dar. Die geometrische Figurenachse ist eine Hauptträgheitsachse durch den Schwerpunkt. Ist sie eine Achse größten Trägheitsmomentes (Scheibe oder abgeplattetes Rotationsellipsoid), so spricht man von einem „abgeplatteten" Kreisel; ist sie dagegen eine Achse kleinsten Trägheitsmomentes, von einem „verlängerten" Kreisel (länglicher Zylinder, Kegel usw.). Infolge der Rotationssymmetrie sind alle zur Figurenachse senkrechten Achsen gleichgerechtigt. Beim abgeplatteten Kreisel sind es Achsen kleinsten, beim verlängerten Kreisel Achsen größten Trägheitsmomentes. Wir wollen nun einen abgeplatteten Kreisel völlig kräftefrei lagern, indem wir ihn in seinem Schwerpunkt unterstützen. Zu diesem Zweck geben wir dem Kreisel die in Abb. IV, 111 im Querschnitt gezeichnete Form. Der Kreiselkörper ist so ausbalanciert, daß sein Schwerpunkt genau in der Spitze S liegt, die in einer kleinen Pfanne ruht. So kann sich der Kreiselkörper in einem größeren Winkelbereich um seinen Schwerpunkt drehen. Die Figurenachse ist durch den Stift F erkennbar. Senkrecht zu ihr ist eine mit Zeitungspapier beklebte runde Platte P angebracht. Wird ein solcher Kreisel in schnelle Rotation um die Figurenachse versetzt, so behält er seine Stellung im Raum bei. Gibt man aber, während der Kreisel läuft, der Figurenachse

einen seitlichen Stoß, so daß der Kreisel eine zusätzliche Drehung um eine zur Figurenachse senkrechte Achse ausführen muß, so gerät jetzt die Figurenachse in eine kreisende Bewegung und beschreibt dabei einen Kegelmantel. Der Kreisel führt nunmehr eine Drehung um eine Achse aus, die schräg zur Figurenachse durch den Schwerpunkt geht. Deren Durchstoßpunkt durch die Platte P ist deutlich daran erkennbar, daß an dieser Stelle die Druckschrift in Ruhe bleibt, während sie an allen anderen Stellen infolge der Rotation der Scheibe verwaschen erscheint. Man nennt daher diese Achse die momentane Drehachse des Kreisels. Auch sie bewegt sich im Raum auf einem Kegelmantel. Neben diesen beiden Achsen unterscheidet man am Kreisel noch eine dritte Achse, deren Lage wir zwar nicht sichtbar machen können: die Achse des Drehimpulses, kurz als „Impulsachse" bezeichnet. Die Richtung der Impulsachse findet man durch folgende Überlegung. In der Abb. IV, 112 ist für einen bestimmten Augenblick die momentane Drehachse C des Kreisels eingezeichnet. Um sie rotiert der Kreiselkörper mit der Winkelgeschwindigkeit a>, deren Vektor mit der Richtung von C zusammenfällt. Wir zerlegen diese Winkelgeschwindigkeit in zwei zueinander senkrechte Komponenten, von denen a>i parallel zur Hauptträgheitsachse, also zur Figurenachse A liegt und eine Umdrehung um diese

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

205

Achse mit der Winkelgeschwindigkeit a>i bedingt, während 0J2 parallel zu einer zweiten Trägheitsachse B verläuft und um diese eine Drehung mit der Winkelgeschwindigkeit 0)2 bewirkt. Multiplizieren wir t»i mit dem Hauptträgheitsmoment JA des Kreisels um die ^4-Achse und JB) das in Abb. IV, 113 gezeichnete Bild: Die m o m e n t a n e D r e h a c h s e bewegt sich auf dem Mantel eines Kegels, dem sogenannten Rastpolkegel, um die raumfeste Impulsachse. Die F i g u r e n a c h s e bewegt sich ebenfalls auf dem Mantel eines Kegels, dem Nutationskegel, um die Impulsachse. Dabei rollt auf dem raumfesten Rastpolkegel ein mit der Figurenachse starr verbundener Kegel, der Gangpolkegel, ab. Die Spitzen sämtlicher Kegel liegen in demselben Punkt, nämlich dem festgehaltenen Punkt des Kreisels (hier also dem Schwerpunkt), die Berührungslinie von Rastpol- und Gangpolkegel liefert die Richtung der momentanen Drehachse. Es kann vorkommen, daß die Impulsachse des Kreisels mit der Figurenachse zusammenfällt. Man spricht in diesem Fall von einem nutationsfreien Kreisel. Dieser Fall liegt z. B. vor, wenn man den in Abb. IV, 111 gezeichneten Kreisel, während er rotiert, vorsichtig auf seine Unterlage aufsetzt, o h n e ihm e i n e n s e i t l i c h e n S t o ß zu ver-

Abb. IV, 114. Diskuswurf setzen. Dann behält auch die Figurenachse ( = Impulsachse) ihre Lage im Raum bei. Eine richtig abgeschleuderte Diskusscheibe z. B., die durch eine Drehung der Hand in Rotation um ihre Hauptträgheitsachse versetzt wird, stellt einen kräftefreien Kreisel dar, bei dem die Impulsachse mit der Figurenachse zusammenfällt, so daß die Scheibe während des Wurfes ihre Achsenlage im Raum beibehält (Abb. IV, 114). Dadurch wirkt die Scheibe auf dem absteigenden

206

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

Ast b ihrer Bahn wie ein Tragflügel und erreicht so größere Wurfweiten als auf der normalen Wurfparabel a. Wir untersuchen nunmehr die Wirkung äußerer Kräfte auf einen rotierenden Kreisel. Zu diesem Zweck benutzen wir den in Abb. IV, 115 abgebildeten Apparat ( G y r o s k o p ) , bei dem ein in einem Kreisring C gelagerter Kreisel K an dem einen Ende eines Waagebalkens W angebracht ist, so daß seine Figurenachse mit der Richtung des Waagebalkens zusammenfällt. Der Kreisel ist also nutationsfrei, da Impuls- und Figurenachse zusammenfallen. Der Waagebalken W ist in einem Gelenk um die Achse A drehbar gelagert; und das Gewicht des Kreisels wird durch ein Gegengewicht G ausgeglichen. Dadurch ist der Waagebalken im Schwerpunkt unterstützt, und es wirken zunächst auf den Kreisel keinerlei äußere Kräfte. Das die Achse A tragende Gelenk ist schließlich noch um die vertikale Achse B leicht drehbar. Wird der Kreisel in Rotation versetzt, so behält seine Figurenachse (zugleich Impulsachse) ihre Lage im Raum bei, da keinerlei Drehmomente auf den Kreisel einwirken. Wenn wir nun von oben auf das

linke Ende des Waagebalkens mit der Kraft F drücken (Abb. IV, 116a), so üben wir auf den Kreisel ein Drehmoment Taus, das ihn um die Achse A in der eingezeichneten Pfeilrichtung zu verdrehen sucht. Wir beobachten dann, daß die Achse des Kreisels diesem Drehmoment nicht folgt, vielmehr ihm rechtwinklig ausweicht und eine Bewegung in horizontaler Richtung um die vertikale Achse B vollführt. Dieses merkwürdige Ergebnis erklärt sich folgendermaßen: Der rotierende Kreisel besitzt einen bestimmten Drehimpuls Lk, dessen Richtung durch den Umlaufssinn des Kreiselkörpers gegeben ist. Bei der in Abb. IV, 116a angenommenen Drehrichtung zeigt der Impulsvektor Lk in Richtung der Kreiselachse nach rechts. Durch das Drehmoment, dessen Vektor auf den Beschauer zu gerichtet ist, erhält der Kreisel einen weiteren Drehimpuls LT, der sich mit dem Drehimpuls LK in der gezeichneten Weise zu dem resultierenden Dreh-

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

207

impuls L zusammensetzt. Die Kreiselachse stellt sich nun in die Richtung dieses resultierenden Drehimpulses ein : der Kreisel vollführt also eine Drehung um die vertikale Achse B. Abb. IV, 116b zeigt, wie sich die Bewegung des Kreisels ändert, wenn wir auf das linke Ende des Waagebalkens eine Kraft F von unten nach oben wirken lassen. Dadurch kehren sich die Richtungen des Drehmomentes T und des Drehimpulses LT um, und der Kreisel weicht in einer umgekehrten Drehung um B der ihm aufgezwungenen Drehung um A aus. Schließlich zeigen die Abb. IV, 116c und d, wie sich die Verhältnisse gestalten, wenn wir dem Kreisel eine Drehung um die vertikale Achse B aufzwingen. In diesen Fällen sind der Vektor des wirkenden Drehmomentes T und folglich der Drehimpulsänderung LT vertikal gerichtet. Die Kreiselachse stellt sich wieder in Richtung des resultierenden Drehimpulses L ein und vollführt zu diesem Zweck eine Drehung um die horizontale Achse A in der jeweils eingezeichneten Drehrichtung. In Abb. IV, 116c s e n k t sich der Kreisel, während er sich in Abb. IV, 116d hebt. Wir nennen diese B e w e g u n g des K r e i s e l s u n t e r dem E i n f l u ß e i n e r ä u ß e r e n K r a f t die Präzession des Kreisels. Hängt man an das linke Ende des Waagebalkens ein kleines Übergewicht, das eine dauernd nach unten gerichtete Kraft auf den Waagebalken ausübt, so rotiert der Kreisel mit konstanter Winkelgeschwindigkeit um die vertikale Achse B. Versucht man diese Drehung um die Achse B zu vergrößern, indem man kurzzeitig noch eine Kraft F in horizontaler Richtung gegen das linke Ende des Waagebalkens wirken läßt, so sinkt der Kreisel tiefer, d. h. er stellt seine Achse unter einem bestimmten Winkel zu der ursprünglich horizontalen Lage ein. Das der Schwere unterworfene linke Ende des Waagebalkens wird dabei gegen die S c h w e r k r a f t g e h o b e n . Umgekehrt hebt sich der Kreisel, wenn man die Präzessionsbewegung um die Achse B zu bremsen sucht. Sehr schön lassen sich diese Vorgänge noch an dem in Abb. IV, 117 gezeichneten Kreisel verfolgen. Der Kreisel K ist in einem Ring R gelagert. In der Verlängerung der Kreiselachse ist an dem Ring ein kurzes Ansatzstück B angebracht, das mit einem Gelenk C drehbar an einer

vertikalen Stange befestigt ist. Diese Stange S hängt (mit einem Stift um die vertikale Achse drehbar) in einer Öse H. Hält man die Anordnung an dieser Öse in der Hand und bringt man den Kreisel, nachdem man ihn in Rotation versetzt hat, in die gezeichnete Lage, so daß die Kreiselachse horizontal liegt, so beginnt der ganze Kreisel um die Stange S in der eingezeichneten Richtung zu „präzessieren". Es übt nämlich das Gewicht G des Kreisels ein Drehmoment um eine horizontale Achse aus, dem der Kreisel durch eine Bewegung um die Stange S dauernd auszuweichen sucht. Vergrößert man die Drehung des Kreisels um die Stange S, indem man dieser eine zusätzliche Drehung mit der Hand erteilt, so richtet sich die Kreiselachse auf, verzögert man dagegen die Drehbewegung um S, so sinkt die Kreiselachse ab. Die Präzessionsbewegung kann man auch an jedem Kinderkreisel beobachten. In Abb. IV, 118 ist ein kegelförmiger Kreisel gezeichnet, der für einen von oben schauenden Beobachter

208

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

gegen den Uhrzeigersinn rotiert. Der Impulsvektor LK der Kreiselrotation ist also nach oben gerichtet. Die im Schwerpunkt S des Kreisels angreifende Schwerkraft G versucht diesen, sobald sich seine Achse aus der Vertikalen entfernt, um die Kreiselspitze zu kippen. Dieser Kippbewegung weicht der Kreisel dauernd durch eine dazu senkrechte Bewegung aus; infolgedessen rotiert seine Achse auf dem Mantel eines Kegels, dessen Achse vertikal steht. Dieser letzte Versuch verläuft allerdings nur dann in der beschriebenen Weise, wenn der Kreisel eine scharfe Spitze besitzt, und wir von j e d e r Reibung zwischen Spitze und Boden absehen. Tats ä c h l i c h ist jedoch das untere Ende des Kreisels abgerundet, und es besteht zwischen dem Kreisel und der Bodenfläche eine gewisse Reibung. Dann beobachtet man, daß sich der Kreisel, wenn seine Achse zunächst schief zur Vertikalen steht, bei genügend schneller Rotation aufrichtet (Abb. IV, 119). Das untere Ende des Kreisels bewegt sich dabei ebenfalls auf einer spiralförmigen Bahn, wobei es längs dieser Bahn noch kleine Schwankungen ausführt, von denen wir hier aber absehen. Wie kommt nun die Aufrichtung des Kreisels gegen die Schwer-

Abb. IV, 118. Präzession des Kinderkreisels

Abb. IV, 119. Präzession beim Kinderkreisel unter Berücksichtigung der Reibung

Abb. IV, 120. Aufrichtungeines rotierenden Kreisels

kraft zustande? Wir betrachten zu diesem Zweck Abb. IV, 120, die in starker Vergrößerung das untere Ende des Kreisels im Querschnitt zeigt. Die Berührung des Kreisels mit der Bodenfläche geschieht, wie man sieht, nicht im Endpunkt der Figurenachse A, sondern im Punkt B. Beschreibt nun der Kreisel eine Präzessionsbewegung, so ändert sich dieser Punkt dauernd und die Aufeinanderfolge der Berührungspunkte bildet einen Kreis, von dem in Abb. IV, 120 BB' einen Durchmesser darstellt. Längs dieses Kreises rollt der Kreisel bei seiner Präzessionsbewegung auf der Bodenfläche ab. Nun rotiert aber der Kreisel gleichzeitig um die Figurenachse A, und diese Rotation bewirkt, wenn zwischen Kreisel und Boden Reibung vorhanden ist, ein b e s c h l e u n i g t e s V o r r ü c k e n des Kreisels längs der Bahnkurve auf dem Boden. Oben haben wir aber gesehen, daß eine Beschleunigung der Präzessionsbewegung bei dem in Abb. IV, 116 und 117 skizzierten Versuch ein Aufrichten des Kreisels gegen die Schwere bewirkt. Das gilt auch für den in Abb. IV, 119 gezeichneten Kreisel, der sich demzufolge allmählich aufrichtet. Bedingung ist aber, daß das untere Ende des Kreisels gegen die Bodenfläche eine Reibung besitzt und der Kreisel genügend schnell rotiert. Selbstverständlich darf die Reibung dabei nicht zu groß sein; denn die dadurch verbrauchte Energie wird der Rotationsenergie des Kreisels entzogen, so daß dessen Umdrehungszahl rasch abklingt und der Kreisel umfällt. Auf dem soeben beschriebenen Vorgang des Aufrichtens eines Kreisels beruht auch die Erscheinung, daß sich ein gekochtes Ei, wenn man es auf einer waagerechten rauhen Ebene in genügend rasche Rotation versetzt, aufrichtet und auf seiner Spitze wie ein Kreisel rotiert. Durch diesen Versuch kann man ein gekochtes Ei von einem rohen unterscheiden. Das rohe Ei zeigt nämlich die Erscheinung des Aufrichtens nicht; die Kreiselgesetze gelten nur für starre Körper, und als ein solcher kann das rohe Ei wegen seines flüssigen Inhaltes natürlich nicht angesehen werden.

Bewegungen um freie Achsen; Kreiselgesetze

209

Die Kreiselgesetze spielen bei vielen Vorgängen des täglichen Lebens eine wichtige Rolle. Wirft man z.B. einen Bierdeckel wie eine Diskusscheibe schräg nach oben (Abb. IV, 121a), indem man ihm gleichzeitig eine Drehung um die Achse seines größten Trägheitsmomentes erteilt, so richtet sich der Bierdeckel um die Flugrichtung als Achse auf und nimmt schließlich die in Abb. IV, 121b gezeichnete Stellung ein. Dieser Vorgang erklärt sich folgendermaßen: Der Bierdeckel stellt einen Kreisel dar mit

dem Impuls LK. Während des Fluges versucht die Luftströmung den Deckel um die Achse A zu drehen und ihn mit seiner Fläche quer zur Wurfrichtung zu stellen. Dadurch erhält der Bierdeckel einen Zusatzimpuls LA, und die Impulsachse LK stellt sich in die Richtung des resultierenden Drehimpulses L ein. Dies führt zu einer Drehung des Bierdeckels um die Wurfrichtung als Achse. Diese Drehung ist beim Diskus wegen des viel größeren Trägheitsmomentes sehr klein. Auch das Freihändigfahren mit dem Fahrrad beruht zum Teil auf den Kreiselgesetzen, zum Teil auf der Zentrifugalkraft. In Abb. IV, 122 ist das Vorderrad eines Fahrrades gezeichnet. Bei der Rotation in der Pfeilrichtung besitzt es in Richtung seiner Achse den Drehimpuls LK = JOT. Für das Trägheitsmoment eines einzelnen Fahrrades ergibt sich der Wert 2,4 • 106 g cm 2 . (Raddurchmesser 2 r = 70 cm). Bei einer Geschwindigkeit v — 20 km/h ergibt dies eine Winkelgeschwindigkeit vom Betrag CD

v = - = r

20 • 10 5 cm „ „ = 15,8 3600 s • 35 cm

.

S"1

und somit einen Drehimpuls vom Betrag 37,9 • 106 g c m 2 s - 1 . Neigt sich nun der Fahrer z. B. nach rechts, so gelangt sein Schwerpunkt seitlich über den Unterstützungspunkt des Rades, und dieses erfährt eine Kippung um die Fahrtrichtung als Achse. Dadurch erhält das Rad ein Drehmoment um die Achse A und dementsprechend einen Zusatzimpuls LA- Der Wirkung dieses Zusatzdrehimpulses versucht das Rad als Kreisel durch eine Drehung um die Achse B in der eingezeichneten Pfeilrichtung auszuweichen. Dadurch beschreibt das Fahrrad eine Rechtskurve, und zwar so lange, bis die Spur des Rades wieder unter der Schwerpunktslinie durchgelaufen ist. Dann versucht das Gewicht des Fahrers das Rad nach links zu kippen, so daß das Vorderrad die umgekehrte Bewegung wie vorher beschreibt und in eine Kurve nach links einbiegt. Indem sich dieses Spiel dauernd wiederholt, wird ein Umkippen des Fahrrades vermieden. Voraussetzung dafür ist aber eine hinreichend große Kreiselbewegung des Rades, was gleichbedeutend mit einer genügend großen Fahrgeschwindigkeit ist. Bekanntlich ist auch nur dann ein sicheres Freihändigfahren möglich. Sehr häufig macht sich bei schnell rotierenden Körpern großer Masse die Kreiselbewegung störend bemerkbar, wenn die Richtung der Rotationsachse geändert wird, z. B. bei großen Schwungrädern in bewegten Fahrzeugen. Die Tatsache, daß ein rotierender Kreisel seine Achsenrichtung im Raum beizubehalten sucht, wird technisch viel verwendet. Das bekannteste Beispiel ist der Kreiselkompaß. Er wird im nächsten Abschnitt bei der Erddrehung behandelt. Zur Verringerung der sogenannten Rollschwingungen eines Schiffes um seine Längsachse dient der Schlicksche Schiffskreisel. Der von einem Elektromotor angetriebene schwere Kreiselkörper ist mit vertikaler Achse in einem Gehänge gelagert, das als Ganzes um eine horizontale, zur Schiffsachse senkrechte Achse drehbar ist. Um diese Achse führt der Kreisel infolge der Präzession bei Schiffsschwingungen um die Längsachse schwingende Bewegungen aus. Durch geeignete Dämpfung dieser Kreiselschwingungen werden infolge der Rückwirkung die Schiffsschwingungen erheblich gedämpft. Beim Blindflug von Flugzeugen benutzt man die Kreiselwirkung zur Schaffung eines künstlichen Horizontes, an dem man jede Neigung des Flugzeuges erkennen kann, sowie zur Herstellung eines Wendezeigers, der eine Drehung des Flugzeuges um die vertikale Achse anzeigt. Schließlich spielt die Kreiselwirkung auch in der Ballistik eine bedeutende Rolle. Vor einigen Jahrhunderten verwendete man runde Kanonenkugeln. Dann entwickelte die Kriegstechnik langgestreckte, 14

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 8. A u f l . 1969

210

Anwendungen auf spezielle Bewegungen

zylinderförmige Geschosse. Wegen des Luftwiderstandes, auch um ein Überschlagen zu vermeiden, und damit ein Langgeschoß am Ziel stets mit der Spitze aufschlägt, erteilt man dem Geschoß beim Abschuß eine Rotation um seine Längsachse, den sogenannten D r a l l , indem man das Geschützrohr mit schraubenartigen Zügen versieht. In diese Züge schneidet sich der aus weichem Metall gefertigte Führungsring des Geschosses ein, so daß dieses eine Umdrehung um seine Längsachse erhält. (Als Beispiel sei angeführt, daß ein Infanteriegeschoß nach dem Abschuß in der Sekunde 3750 Umdrehungen macht; seine Winkelgeschwindigkeit beträgt also 23560 s _ 1 .) Während des Fluges wirkt dann das Geschoß wie ein Kreisel. Die mit der Geschoßachse zusammenfallende Drehimpulsachse würde im luftleeren Raum entsprechend Abb. IV, 123 a ihre Richtung stets zur Abschußrichtung parallel beibehalten. Nun wirkt aber während des Fluges auf das Geschoß der Luftwiderstand, dessen Angriffspunkt im vorderen Teil des Geschosses liegt. Der Luftwiderstand sucht das Geschoß um eine durch seinen Schwerpunkt gehende, zur Flugrichtung senkrechte Achse zu drehen. Dieser Drehbewegung sucht

22-

Abschuß

A.

Abschuß

-E3

Ziel

D

Abb. IV, 123. Flugbahn eines Langgeschosses: a) im luftleeren Raum,

b) bei Luftwiderstand und Rechtsdrall von der Seite, c) von oben gesehen

Treffpunkt das als Kreisel wirkende Geschoß durch eine Präzessionsbewegung auszuweichen. Bei dem meistens benutzten Rechtsdrall zeigt der Drehimpulsvektor Lk in die Flugrichtung nach vorn, die Spitze des Geschosses beschreibt demnach unter der Wirkung des Luftwiderstandes eine Rechtsdrehung, wenn man in Richtung der Flugbahn sieht. Bei geeigneter Wahl des Dralles erreicht man, daß die Spitze des Geschosses nach Durchlaufen der ganzen Geschoßbahn nach unten zeigt (Abb. IV, 123 b). Das Geschoß durchläuft dabei während seiner Präzessionsbewegung den Präzessionskegel nicht vollkommen, sondern die Spitze bleibt stets nach rechts abgelenkt. Infolge des dadurch einseitig wirkenden Luftwiderstandes erfährt das Geschoß eine Rechtsabweichung gegen die eigentliche Ziellinie, wie es in Abb. IV, 123 c in der Aufsicht von oben gezeigt ist.

40. Die Erde als rotierendes System; Nachweis der Erddrehung Die Erde rotiert u m eine durch ihre Pole hindurchgehende freie Achse. Eine vollständige U m d r e h u n g gegen den Fixsternhimmel erfolgt in 86164 s. D e m n a c h beträgt die Winkelgeschwindigkeit der Erdkugel nur

Immerhin ergeben sich f ü r die Bahngeschwindigkeit eines Punktes an der Erdoberfläche recht beträchtliche Werte. F ü r einen Ort unter dem Breitengrad (p ist v,p = o>R cos q>, wobei der Erdradius R = 6,37 • 108 cm ist. F ü r den E r d ä q u a t o r ergibt dies vo = 465 m/s, f ü r

i = so wird die gemeinsame Endgeschwindigkeit v = 0, d, h., nach dem Zusammenstoß bleiben die Kugeln in Ruhe. Ist mi = mi und t'2 = 0, d. h. eine Kugel vor dem Stoß in Ruhe, so wird (V, 2 2 b )

v=

Y

V l

'

d. h., es bewegen sich beide Kugeln nach dem Stoß mit der halben Geschwindigkeit der stoßenden Kugel gemeinsam weiter.

256

Elastizität der festen Körper

Abb. V, 23. Zusammenstoß zweier Kugeln. a) gerader zentraler Stoß; b) schiefer zentraler Stoß

Bewegen sich die beiden Kugeln in g l e i c h e r Richtung und ist vi > v-2, so ist wieder nach dem Impulssatz: (mj + m2) v = m1v1 + m2v2, und somit m1v1 + m2v2 v = (V, 23) m l + m2 für m\ = m 2 = y m ^ f + Y m

2

v

2

.

Aus diesen beiden Gleichungen berechnen sich die Endgeschwindigkeiten vi und vz zu:

(V, 25)

, _ v v< —

l

, _ v Vo —

2

( m

1

— m2)

m1 ( m

2

— m1) m

+

+ m2

l +

+

2m2v2 ,

2mlv1

m

2

Daraus kann man folgende Spezialfälle ablesen: Sind die Massen beider Kugeln gleich, so wird: v'i=v2;

i>2 =

"i>

d. h. die beiden Kugeln bewegen sich nach dem Stoß mit vertauschten Geschwindigkeiten. Ist bei gleichen Massen v% = 0, so wird : v'2 =

t)'1=0:

vy,

d. h. die stoßende Kugel kommt zur Ruhe, die gestoßene Kugel übernimmt die ganze kinetische Energie der stoßenden und bewegt sich mit deren Geschwindigkeit weiter. — Ist schließlich V2 = 0 und m 6) und z. B. bei Kohlendioxid x = 9/l wird. Für noch größere Atomzahlen nähert sich x immer mehr dem Wert 1. In diesem adiabatischen Fall gilt natürlich auch (VI, 4) nicht mehr; vielmehr folgt aus (VI, 3a): und für die Kompressibilität folgt:

für den Kompressionsmodul also: (VI,4a)

pxVX"1 A V + 4 p F * = 0, - 1 VÄp~px'

A V

1 K~

K = px.

Man kann den Gin. (VI, 3) und (VI, 3 a) noch eine andere, zuweilen bequemere Gestalt geben, wenn man berücksichtigt, daß das Volumen V umgekehrt proportional der Dichte g ist. Für das isotherme B o y l e - M a r i o t t e s c h e Gesetz (VI, 3) erhält man dann offenbar (VI, 3 b )

~ = const, Q

für das adiabatische Gesetz (VI, 3a) folgt: (VI, 3 c )

4 = const. Q

Ausgehend von der früher gegebenen Definition des Druckes 1

-2

P= y«mc

ergibt sich Gl. (VI, 3 b) sofort, wenn man beachtet, daß laut Voraussetzung die mittlere Geschwindigkeit der Gasmoleküle c konstant sein soll und n • m = Nm / V = q ist. Es ergibt sich also: p=

Q-const.

Flüssigkeiten unter dem Einfluß der Schwerkraft

275

Die Gültigkeit des B o y l e - M a r i o t t e s c h e n Gesetzes ist auf niedrige Drucke beschränkt, während sich für hohe Drucke Abweichungen ergeben, die für verschiedene Gase verschieden sind. Für p = oo müßte sich nach dem Gesetz z. B. V = 0 ergeben. Dies ist aber unmöglich, da sich beim Zusammendrücken einer Gasmenge nur die Abstände der einzelnen Gasmoleküle, nicht aber deren Eigenvolumina verkleinern lassen. Es muß also selbst bei höchsten Drucken noch ein Restvolumen übrig bleiben, das dann wie eine Verkleinerung des Raumes wirkt. Es ist von der Größenordnung des Eigenvolumens der Gasmoleküle und wird als Kovolumen bezeichnet. Dieses Kovolumen ist natürlich nicht genau gleich dem Eigenvolumen, da auch bei dichtester Lagerung der Moleküle noch Zwischenräume bleiben müssen; man denke z. B. an eine dichte Kugelpackung. Das Kovolumen ist dasjenige Volumen, das ein Mol des Gases einnehmen würde, wenn seine Moleküle in der dichtest möglichen Packung beieinander lägen. Außerdem kommt noch eine zweite Abweichung von dem B o y l e - M a r i o t t e s c h e n Gesetz hinzu, die sich bereits bei mittleren Drucken infolge der Wirksamkeit der anziehenden Kräfte zwischen den Gasmolekülen ergibt. Dieser sogenannte „ i n n e r e D r u c k " kommt zu dem äußeren Druck hinzu und bedingt eine weitere Verkleinerung des Gasvolumens, als sich nach dem B o y l e - M a r i o t t e s c h e n Gesetz ergibt. Experimentell wurden diese Abweichungen von R e g n a u l t (1847 bis 1862) zuerst gefunden, von zahlreichen Forschern bestätigt, und schließlich von van der W a a l s (1873) in folgender Gleichung zusammengefaßt: ( V I , 5)

Hierin bedeutet b das oben definierte Kovolumen. Es ist gleich dem vierfachen Eigenvolumen der Moleküle; a/V2 ist der innere Druck, der umgekehrt proportional dem Quadrat des Gasvolumens Fist, wie die genauere Rechnung ergibt. Die van der Waalssche Gleichung (VI, 5) — in dieser Form nur für konstante Temperatur gültig — stellt also das Verhalten der realen Gase dar. Im Gegensatz dazu nennt man ein Gas, das streng dem Boyleschen Gesetz (VI, 3) gehorcht, ein ideales. Da für H2 und He die Abweichungen von der idealen Gasgleichung (VI, 3) relativ gering sind, kommt das Verhalten dieser beiden Substanzen dem eines idealen Gases am nächsten. 51. Flüssigkeiten unter dem Einfluß der Schwerkraft; Boden-, Seiten- und Aufdruck Wir betrachten nunmehr Flüssigkeiten, die der Schwere unterworfen sind. Wenn diese eine f r e i e O b e r f l ä c h e haben, so folgt aus der Natur des flüssigen Zustandes, daß die freie Oberfläche im Gleichgewicht stets senkrecht zur wirkenden Kraft steht. Wäre dies nämlich nicht der Fall, so hätte die Kraft eine T a n g e n t i a l k o m p o n e n t e in bezug auf die Oberfläche, und wegen der leichten Verschiebbarkeit der Flüssigkeitsteilchen würde diese die Flüssigkeit in Bewegung setzen, — im Widerspruch mit dem vorausgesetzten Gleichgewichtszustand. Ist die ä u ß e r e K r a f t die S c h w e r k r a f t , so m u ß der F l ü s s i g k e i t s s p i e g e l sich a l s o h o r i z o n t a l e i n s t e l l e n . Sind mehrere nicht mischbare Flüssigkeiten, z. B. Quecksilber, Wasser, Öl übereinander geschichtet, so gilt das gleiche für jede Trennungsfläche: Auch sie müssen horizontal sein. Dagegen kann n i c h t gefolgert werden, daß die spezifisch schwerste Flüssigkeit Quecksilber u n t e n , Wasser in der Mitte, Öl oben liegen müsse, wie es doch tatsächlich beobachtet wird. Vielmehr wäre mit der obigen Gleichgewichtsbedingung auch jede andere Flüssigkeitsschichtung verträglich, wenn nur die Trennungsschichten horizontal sind, z. B. Öl unten, Wasser in der Mitte, Quecksilber oben. A b e r d i e s e s G l e i c h g e w i c h t w ä r e n i c h t s t a b i l , da der Schwerpunkt nicht die tiefstmögliche Lage hat, diese Anordnung daher nicht das Minimum der potentiellen Energie besitzt. Das labile Gleichgewicht wird daher sofort durch die Beweglichkeit der Flüssigkeit zerstört und geht ins stabile über.

Bei großen Wasseroberflächen, Seen oder Meeren, ist die Oberfläche gekrümmt, da die Schwerkraftrichtungen an weit auseinanderliegenden Punkten nicht mehr parallel sind, sondern zum Erdmittelpunkt hinweisen.

276

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Wirken außer der Schwerkraft noch andere Kräfte auf die Flüssigkeit, so stellt sich ihre Oberfläche, wie schon oben erwähnt, stets senkrecht zur Resultierenden aus diesen Kräften. Das ist z. B. der Fall, wenn eine Windkraft schief auf eine Wasseroberfläche wirkt. An der Luvseite steht das Wasser niedriger als an der Leeseite, wohin der Wind weht. — Ein anderes Beispiel ist das folgende: Läßt man ein mit Wasser gefülltes Gefäß um eine vertikale Achse mit der Winkelgeschwindigkeit a> rotieren, so wirken auf jedes Flüssigkeitsteilchen zwei Kräfte, die senkrecht nach unten ziehende Schwerkraft mg und die radial nach außen wirkende Zentrifugalkraft mrufi, wenn r den Abstand des betrachteten Teilchens von der Rotationsachse bedeutet. Beide Kräfte ergeben eine Resultante Fr, zu der sich die Flüssigkeitsoberfläche senkrecht einstellt. Aus Abb. VI, 13, die einen Schnitt durch die um die Achse AB rotierende Flüssigkeit

ab: ian üc =

mrco

y=

rar

j,

wenn « die Neigung der Oberfläche in P gegen die Achse bedeutet. Anderseits ist: dr tana = ^ - , dz also auch ~^jdz = r dr, co2 woraus durch Integration folgt: 4). In allen Fällen sieht man die Bahnlinien der Flüssigkeitsteilchen. Gasströmungen kann man durch Tabakrauch und durch Ammoniaknebel sichtbar machen. Während sich die so sichtbar gemachte B a h n l i n i e auf die G e s c h i c h t e , d. h. das zeitliche N a c h e i n a n d e r e i n e s Teilchens bezieht, kann man sich einen Überblick über die m o m e n t a n e n S t r ö m u n g s V e r h ä l t n i s s e verschaffen, indem man Kurven konstruiert, deren Tangente in jedem Punkt die Richtung der im betrachteten Zeitpunkt vorhandenen Strömungsgeschwindigkeit hat, die sogenannten Stromlinien. Diese beziehen sich also auf das m o m e n t a n e N e b e n e i n a n d e r z a h l r e i c h e r T e i l c h e n , sind also im allgemeinen von den Bahnlinien verschieden. Nur in dem allerdings besonders wichtigen Fall, daß die Strömung s t a t i o n ä r ist, d. h. daß an die Stelle jedes Teilchens im nächsten Moment ein genau gleiches mit gleicher Geschwindigkeit tritt, gibt eine Stromlinie gleichzeitig auch die Bahn jedes Einzelteilchens wieder. A n sich geht durch j e d e n Punkt der Flüssigkeit eine Stromlinie, ihre Gesamtheit gibt uns ein qualitatives Bild der Strömung. Wir können aber die Stromlinien auch zu einer q u a n t i t a t i v e n D a r s t e l l u n g d e s „ G e s c h w i n d i g k e i t s f e l d e s " verwerten, indem wir ihre Anzahl geeignet beschränken: Wir ziehen durch jede senkrecht zur Richtung der vorhandenen Geschwindigkeit stehende Einheitsfläche nur so viel Stromlinien, wie der Betrag der Ge-

Strömungsformen idealer Flüssigkeiten; Wirbel

297

schwindigkeit Einheiten hat. Aus der Zahl der ein Quadratzentimeter durchsetzenden Stromlinien kann man dann also die Geschwindigkeit an der betreffenden Stelle entnehmen. Im besonderen folgt: Wo die Stromlinien sich zusammendrängen, herrscht größere, wo sie weit auseinander liegen, herrscht kleinere Geschwindigkeit. Zieht man durch jeden Punkt des Randes einer kleinen geschlossenen Kurve die Stromlinien, so erhält man ein schlauchartiges Gebilde, dessen Wandung aus lauter Stromlinien besteht, eine sogenannte Stromröhre. Sie hat also die Eigentümlichkeit, daß durch ihre Wandung keine Flüssigkeit hindurchtritt; die Flüssigkeitsmenge, die sich einmal innerhalb einer Stromröhre befindet, bleibt daher dauernd darin und wird ein Stromfaden genannt. Manchmal ist es möglich, daß man die ganze Strömung als e i n e n einzigen Stromfaden betrachtet, z. B. bei Strömung durch ein materielles Rohr; das Rohr bildet dann als Ganzes eine Stromröhre. Diese Art der Untersuchung, die geeignet ist, einen ersten Überblick über die Strömung zu liefern (Eulersche S t r o m f a d e n t h e o r i e ) , ist vielfach in technischen Kreisen üblich und wird (unter Hinzunahme empirischen Materials) als „Hydraulik" bezeichnet. Die Flüssigkeits- und Gasbewegungen fallen natürlich verschieden aus, je nachdem ob das Volumen dabei erhalten bleibt oder sich ändert. Bei den meisten Flüssigkeiten ist die Kompressibilität so klein, daß man ganz allgemein von einer Volumänderung bei der Strömung absehen kann. Bei Gasen ist aber nach dem B o y l e - M a r i o t t e s c h e n (isothermen) Gesetz (VI, 3) oder dem adiabatischen Gesetz (VI, 3 a) das Volumen sehr stark vom Druck abhängig, so daß man erwarten sollte, daß sich dies bei der Strömung von Gasen sehr bemerkbar macht. Indessen wird sich zeigen, daß die bei der Strömung auftretenden Druckdifferenzen im allgemeinen klein sind, also dann auch die Volumenänderungen außer Betracht bleiben können. Dies gilt so lange, wie die Strömungsgeschwindigkeit nicht in die Nähe der Schallgeschwindigkeit kommt, die in Luft etwa 340 m/s beträgt. Mit dieser Einschränkung dürfen a l l e im f o l g e n den v o r k o m m e n d e n F l ü s s i g k e i t e n , u n t e r d e n e n j e t z t a u c h die G a s e mit vers t a n d e n w e r d e n sollen, bei der B e w e g u n g als v o l u m b e s t ä n d i g b e t r a c h t e t werden. 56. Strömungsformen idealer Flüssigkeiten; wirbelfreie und wirbelnde Bewegung Betrachtet man nunmehr die Bewegung von Flüssigkeiten unter der Voraussetzung der Reibungsfreiheit, so zeigt sich, daß man eindeutig zwischen zwei Strömungsformen unterscheiden kann: Der rotationsfreien (wirbelfreien) Strömung und der Rotationsströmung (Strömung mit Wirbelbewegungen). Die Grundzüge dieser Strömungsformen sollen nun kurz behandelt werden, ehe in den folgenden Nummern auf Einzelheiten eingegangen wird. Dabei soll — entsprechend dem in Nr. 55 Gesagten — jeweils auch gleich auf die Grenzen dieser Idealisierung hingewiesen werden. Grundvoraussetzung der Reibungsfreiheit ist, daß die Flüssigkeitsteilchen keine Kräfte aufeinander ausüben. Wird deshalb eine Flüssigkeit, die sich in einem Rohr befindet, durch eine zwischen zwei Querschnitten einmalig auftretende Druckdifferenz in Bewegung gesetzt, so werden sich (natürlich — wie schon gesagt — entgegen den wirklichen Verhältnissen) die Teilchen völlig unbeeinflußt nebeneinander bewegen. Anders betrachtet kann man sagen, einem beliebigen Stück dieses Rohres wird an einem Ende dauernd Flüssigkeit zugeführt, während am anderen Ende ständig Flüssigkeit verschwindet. Man spricht deshalb von Quellen und Senken (bzw. negativen Quellen) und nennt diese Strömungsform auch ein Quellenfeld. Da die Teilchen keine Kräfte aufeinander ausüben, können auch ganz offensichtlich in einer derartigen Strömung keine Wirbel entstehen. Ein Q u e l l e n f e l d ist in d i e s e m F a l l w i r b e l f r e i . Hier liegt auch der Grund, warum in einer idealen Flüssigkeit diese scharfe Trennung der Strömungsformen möglich ist. Es ergibt sich hieraus aber auch sofort eindeutig — wie erstmals von H e l m h o l t z gezeigt wurde — daß Wirbel in einer Flüssigkeit überhaupt nur durch Reibung, also durch drehende Kräfte erzeugt werden können. Wenn

298

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

deshalb weiter unten die Rotationsströmung einer idealen Flüssigkeit behandelt wird, so muß ausdrücklich die Entstehung der Wirbel ausgeklammert werden; sie ist unter diesen Voraussetzungen nicht zu verstehen. Wirbelfrei ist z. B. eine stationäre Strömung, bei der alle Teilchen die gleiche Geschwindigkeit besitzen und geradlinige Bahnen beschreiben, bei der die Strom- und Bahnlinien daher Geraden sind. Man nennt dies kurz eine „Parallelströmung". Solche Strömungen bestehen angenähert in einem geradlinigen Flußbett. Man kann sie experimentell erzeugen, indem man Flüssigkeit in einem geschlossenen Kanal strömen läßt. Ein kleines Stück des Kanals darf als geradlinig betrachtet werden; mitgeführtes Aluminiumpulver läßt deutlich die konstante Geschwindigkeit und die geradlinigen Stromlinien erkennen. Auch mit Luft läßt sich Parallelströmung in sogenannten „Windkanälen" erzeugen; man hat auf diese Weise Parallelströmungen mit Luftgeschwindigkeiten von 30 bis 5000 m/s (15facher Betrag der Schallgeschwindigkeit) hergestellt. Die Strömung bleibt auch noch wirbelfrei, wenn die Stromlinien nicht geradlinig, sondern gekrümmt verlaufen, man denke z. B. an die Strömung in einem gekrümmten Rohr. Die Bedeutung der Parallelströmung liegt darin, daß man es mit einem besonders einfachen und wohldefinierten Falle zu tun hat: Die Geschwindigkeit ist an allen Stellen zeitlich konstant; es handelt sich um ein sogenanntes „ h o m o g e n e s " G e s c h w i n d i g keitsfeld. Taucht ein Körper in eine solche Parallelströmung ein oder, was dasselbe ist, wird durch eine ruhende ideale Flüssigkeit ein Körper mit bestimmter Geschwindigkeit hindurch geführt, so wird der Körper von der idealen Flüssigkeit völlig umströmt, so daß die innersten Stromlinien sich der Form des Körpers vollkommen anschmiegen. W i r k l i c h e F l ü s s i g k e i t e n strömen im allgemeinen anders; doch ist die ideale Umströmung in der Natur bei geeigneten Körperformen (z. B. Fischen) angenähert verwirklicht, und die Technik ahmt diese natürlichen Vorgänge bei der Bewegung von Fahrzeugen nach, indem sie diesen eine geeignete Form gibt. Bei w i r k l i c h e n F l ü s s i g k e i t e n zeigt sich, wie betont, stets ein Einfluß der Reibung in der Grenzschicht. I d e a l e F l ü s s i g k e i t e n haften nicht an der Wandung der umströmten Körper und verhalten sich daher ganz anders. Obwohl es also von vornherein sicher ist, starke Abweichungen der i d e a l e n von den r e a l e n Flüssigkeiten festzustellen, ist es doch zweckmäßig, sich erst die Vorgänge klarzumachen, wie sie in i d e a l e n Flüssigkeiten auftreten müßten. Hier ist wichtig, daß es sich auch in diesem Fall um rotationsfreie Strömung handelt. Diese und analoge Flüssigkeitsströmungen sind also dadurch charakterisiert, daß an irgendeiner Stelle Flüssigkeit ins Strömungsfeld eintritt und an einer anderen Stelle daraus verschwindet. In den bisher erörterten Fällen entspringen die Stromlinien in den positiven und endigen in den negativen Quellen; im besonderen können diese Quellen jedoch auch im Unendlichen liegen. Es gibt in einem solchen Quellenfeld aber nirgends Stromlinien, die in sich geschlossene Kurven darstellen. Die Berechnung rotationsfreier Strömungen ist wesentlich einfacher als die der Wirbelbewegungen; daher hat sich die Theorie der wirbelfreien Flüssigkeitsströmung zuerst entwickelt ( E u l e r , L a g r a n g e ) . Der mathematische Formalismus ist der gleiche, der namentlich in der Elektrizitätslehre zur Berechnung des sogenannten Potentials dient; deshalb nennt man die rotationsfreie Strömung auch Potentialströmung. Diese übliche Bezeichnung soll auch hier benutzt werden.

Die Rotationsströmungen wurden erstmals von H e l m h o l t z ausführlich untersucht. Seine 1858 aufgestellten Wirbelsätze — auf die näher in Nr. 60 eingegangen werden soll — bildeten die entscheidenden Grundlagen für die Theorie der Wirbelbewegungen. Für die folgenden Betrachtungen ist jedoch im Augenblick nur wichtig, daß sich hierbei die Flüssigkeitsteilchen zum ersten Mal auf in sich geschlossenen Bahnen bewegen. Läßt man z. B. ein mit Wasser gefülltes Becherglas um seine vertikale Mittelachse rotieren — wie in Abb. VI, 13 dargestellt — so wird das Wasser infolge der Zähigkeit ebenfalls in Rotation um die Mittelachse versetzt und bald die dort angegebene Flüssigkeitsverteilung einnehmen. Für einen Schnitt senkrecht zur Achse ergibt sich dann offensichtlich die in Abb. VI, 51 skizzierte Geschwindigkeitsverteilung. Jedes Flüssigkeitsteilchen rotiert also mit der konstanten Winkel-

299

Strömungsformen idealer Flüssigkeiten; Wirbel

geschwindigkeit a> auf einer Kreisbahn vom Radius r um die Mittelachse. E s verhält sich damit wie ein fester Körper, der mit der Winkelgeschwindigkeit a> um eine Achse rotiert. (Die damals stillschweigend gemachte Voraussetzung bestätigt sich also hiermit.) Markiert man innerhalb eines solchen Flüssigkeitsteilchens zwei kreuzförmig angeordnete „Flüssigkeitsstäbchen", so sieht man sofort, daß dieses Kreuz ebenfalls mit der Winkelgeschwindigkeit a> um seinen Mittelpunkt rotiert. Offensichtlich ist jedoch infolge der leichten Verschiebbarkeit der Flüssigkeitsmoleküle gegeneinander dieses Verhalten ein Ausnahmefall; im allgemeinen wird sich ein Flüssigkeitsteilchen während der Bewegung verformen. Betrachtet man den Schnitt durch ein Flüssigkeitselement (Abb. VI, 52), so ergibt sich für die Winkelgeschwindigkeit . R 2 mo ist gleich dem Produkt aus dem Querschnitt des Wirbels und seiner Rotationsgeschwindigkeit; es wird als Wirbelintensität I bezeichnet. Einer der oben erwähnten H e l m h o l t z s c h e n Sätze lehrt nun gerade, daß für einen bestimmten Wirbel die Wirbelintensität I eine konstante Größe ist. Daher ist die Größe der Zirkulation um einen Wirbel

302

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

(VI, 17)

Z =

21

für diesen charakteristisch.

Wo g e s c h l o s s e n e S t r o m l i n i e n vorliegen, haben wir es natürlich nicht mehr mit einem Quellenfeld zu tun, sondern mit einem sogenannten Wirbelfeld. Man macht sich leicht klar, daß eine Strömung überhaupt nur durch Quellen oder Wirbel verursacht sein kann. S i n d w e d e r Q u e l l e n n o c h W i r b e l v o r h a n d e n , so k a n n k e i n e S t r ö m u n g e x i s t i e r e n . 57. Kontinuitätsgleichung; B e r n o u l l i s c h e Gleichung; Druckmessung in bewegten Flüssigkeiten Ein Rohr (Abb. VI, 54) möge an zwei Stellen die Querschnitte A\ und Az besitzen. Strömt nun eine Flüssigkeit an der Stelle A\ mit der Geschwindigkeit so muß sie an der Stelle mit einer solchen Geschwindigkeit t>2 strömen, daß bei Inkompressibilität A1V1=A2V2

(VI, 18)

ist; denn beide Ausdrücke stellen das Flüssigkeitsvolumen dar, das pro Zeitintervall durch die beiden Querschnitte hindurchtritt. Wären diese Ausdrücke nicht gleich, so würde das bedeuten, daß eine Flüssigkeitsansammlung bzw. Flüssigkeitsverminderung an einem der beiden Querschnitte erfolgte, was unmöglich ist. Die obige Gleichung besagt, daß die S t r ö m u n g s i Abb. VI, 54. Zur Ableitung der Kontinuitätsgleichung

g e s c h w i n d i g k e i t e n sich u m g e k e h r t wie die Q u e r s c h n i t t e v e r h a l t e n . Sie heißt die Kontinuitätsgleichung oder Durchflußgleichung. Die Größe: Querschnitt A mal Geschwindigkeit v ist gleich A • ds/dt = dV/dt. Man nennt diese Größe auch die Stromstärke. Die Kontinuitätsgleichung besagt also, daß die Stromstärke in einem Rohr an allen Stellen den gleichen Wert hat. In einem bestimmten, abgegrenzten Volumen befindet sich zur Zeit t die Flüssigkeitsmasse J o dV, zur Zeit t + dt also die Masse J (e + dg/dt dt) dV. D i e in der Zeit dt zuströmende Flüssigkeit hat also die Masse J dg/dt dV. Für die in der gleichen Zeit durch ein Flächenelement dA tretende Flüssigkeitsmenge erhält man aber — in der gewählten Normalenrichtung n — auf die gesamte Oberfläche bezogen f ovn • dA, oder A' nach Umformung auf ein Volumenintegral mit Hilfe des G a u ß s c h e n Satzes — f div (ov) dV. Diese v beiden Massen müssen gleich sein und für ein beliebiges Volumen gelten, so daß hieraus die Gleichheit der Integranten folgt. Man erhält also (VI, 19)

^ - + div( e i>) = 0.

Dies ist die allgemeine Form der für ein quellenfreies Gebiet geltenden Kontinuitätsgleichung. Sie ist ein Erhaltungssatz (Erhaltung der Materie). Für konstantes Q, d. h. Inkompressibilität, vereinfacht sich (VI, 19) und es ergibt sich: (VI, 20) div v = 0. Man nennt diese Gleichung deshalb auch Inkompressibilitätsbedingung.

Nunmehr soll die D r u c k v e r t e i l u n g in der s t r ö m e n d e n F l ü s s i g k e i t behandelt werden. Wenn durch eine Querschnittsverkleinerung der Röhre die Geschwindigkeit einen Zuwachs erfährt, so bedeutet dies, daß jedes Flüssigkeitsteilchen eine Beschleunigung erfährt, deren Ursache eine in Richtung der Beschleunigung wirkende Kraft sein muß. Beziehen wir diese Kraft auf den Querschnitt, so erhalten wir den in der Flüssigkeit wirkenden Druck. Es

Kontinuitätsgleichung; Bernoullische Gleichung

303

muß demnach in einer strömenden Flüssigkeit der Druck mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit abnehmen und mit abnehmender Geschwindigkeit zunehmen. Wenn man beachtet, daß sich die Stromlinien in einem enger werdenden Querschnitt zusammendrängen und in einem sich erweiternden auseinanderrücken, kann man auch sagen: In Gebieten zusammengedrängter Stromlinien ist der Druck in der Flüssigkeit stets kleiner als dort, wo die Stromlinien weiter auseinander liegen. Die Richtigkeit dieser zunächst qualitativen Überlegung kann man an der in Abb. VI, 55 skizzierten Anordnung prüfen. Durch ein weites horizontales Rohr lassen wir aus der Wasserleitung Wasser strömen. Das Rohr der Abb. VI, 55a ist an der Stelle 2 verengt, an der Stelle 3 erweitert und besitzt zur Messung des Druckes an den Stellen 1, 2, 3, 4 vertikal angesetzte Glasrohre, die als Flüssigkeitsmanometer dienen. Am Ende des horizontalen Rohres wird die Strömung durch einen Hahn stark gedrosselt. Es ergeben sich dann in den Manometern die in Abb. VI, 55 a gezeichneten Einstellungen der Flüssigkeitssäulen, deren Höhen den an der Ansatzstelle herrschenden Druck zeigen. An der Stelle 2 (größere Geschwindigkeit) ist der Druck erniedrigt, an der Stelle 3 (kleinere Geschwindigkeit) erhöht gegenüber dem an den Stellen 1 und 4 herrschenden Druck. -

y

a

v v

k -





-

1 2 3 4 Abb. VI, 55. Druckverteilung in einer durch ein Rohr strömenden Flüssigkeit: a) Rohr mit veränderlichem Querschnitt, b) Rohr mit konstantem Querschnitt In Wirklichkeit steht an der Stelle 4 das Wasser im Manometer niedriger als an der Stelle 1; dies ist natürlich eine Folge der nicht zu vermeidenden Reibung; um aber das Druckgefälle klein zu machen, haben wir den Rohrquerschnitt groß genommen. Zur experimentellen Elimination dieses Druckverlustes lassen wir das Wasser in einem zweiten Versuch durch ein Rohr von gleich großem und gleich bleibendem Querschnitt strömen und erhalten die in Abb. VI, 55 b wiedergegebene Druckverteilung, die einen gleichmäßig schwachen Abfall von 1 nach 4 zeigt. Um den Zusammenhang zwischen Druck und Geschwindigkeit bei idealen ( = reibungsfreien) Flüssigkeiten q u a n t i t a t i v zu erfassen, werde das Energiegesetz auf ein Stück einer Stromröhre angewendet. Eine Flüssigkeitsmenge mit der Masse m, dem Volumen V und der Dichte q muß in einem sich verengenden Rohr von der Geschwindigkeit vo auf v beschleunigt werden. Der statische Druck sinkt dabei von po (vor der Verengung) auf p (in der Verengung). Das erfordert die Arbeit T,/

V(P0-P)

W. 2 2x . W 2 = ^(V~V20) oder p0V + -v% = pV+

m

2

jv:2.

Bei schräg stehendem Rohr kommt noch der jeweilige Anteil der potentiellen Energie mgho bzw. mgh hinzu, wenn h — ho die Höhendifferenz zwischen den betrachteten beiden Rohrquerschnitten ist. Die Summe dieser drei Energien muß aber konstant sein, da diese Gleichung ja für jede beliebige Stelle des Rohres gilt, also:

304

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase x, wi 2 pV + — v + m g n = c o n s t .

Mit qV = m erhält man daraus die Bernoullische Gleichung für eine Stromröhre: (VI, 21)

ßg/j + y t ) 2 + p = c o n s t .

Dabei wird der numerische Wert der Konstante im allgemeinen von Röhre zu Röhre wechseln. Nur in dem Fall, daß die Bewegung durch einen Druck aus der Ruhe erzeugt wurde, d. h. für eine w i r b e l f r e i e Bewegung muß die Konstante für die ganze Flüssigkeitsmenge die gleiche sein. Denn in diesem Fall (v = 0) geht (VI, 21) in die im g a n z e n R a u m geltende Druckgleichung der Hydrostatik (VI, 6) über (nur die Bezeichnung ist hier etwas anders). Allgemeiner läßt sich dieser quantitative Zusammenhang zwischen Druck und Geschwindigkeit für eine ideale ( = reibungsfreie) Flüssigkeit aus der Integration der Eulerschen Gleichung gewinnen. Eine derartige Integration wird möglich, wenn für die äußeren Kräfte K = — grad 0 gelten soll und die Dichte nur vom Druck abhängt, d. h. g = q (p) ist. Die Eulersche Gleichung (VI, 11) erhält dann folgende vereinfachte Form, wenn man die Druckfunktion P = Sdplg einführt. + g r a d ^ — v X rotv = — grad (0 + P). Für den Fall der stationären Strömung (ö u/ö t = 0; daraus folgt: Bahnlinie und Stromlinie fallen zusammen) läßt sich diese Integration längs einer Stromlinie einfach ausführen, und man erhält ein Integral von großer Bedeutung. Denn wegen ds || v verschwindet das Produkt (v x rot v, ds) und man erhält grad

+ 0 + ¿>J • ds = 0

und nach Integration (VI, 21a)

[?P Je

+

v

2

+

0 = const.

Betrachtet man die Strömung einer inkompressiblen Flüssigkeit (o = const) unter Einfluß der Schwerkraft, d. h.0 = +gh, so erhält man aus (VI, 21a) sofort die „Bernoullische Gleichung" (VI, 21)

p + -|i> 2 + Qgh = const.

In dem besonderen Fall, daß äußere Kräfte ausgeschaltet sind (Stromröhre horizontal, h = const), nimmt die B e r n o u l l i s c h e Gleichung die F o r m an: (VI, 22)

p + JLvz

=

Const.

In dieser Gestalt spricht sie quantitativ aus, was wir qualitativ schon vorher erkannt hatten, daß der Druck in einer strömenden Flüssigkeit um so kleiner ist, je größer die Geschwindigkeit an der betreffenden Stelle ist. Bezeichnen wir insbesondere den Druck in der ruhenden Flüssigkeit (v = 0) mit po, so folgt aus (VI, 22): (VI, 23)

p0 = p +

^

;

po wird als der Gesamtdruck, p als der statische Druck, die Größe (o/2) v2, die ja von der Dimension eines Druckes ist, als hydrodynamischer Druck, auch kurz als dynamischer Druck oder Staudruck bezeichnet. In dieser Ausdrucksweise kann man die B e r n o u l l i s c h e Gleichung so schreiben: Gesamtdruck = statischer Druck + dynamischer Druck (Staudruck)

Kontinuitätsgleichung; Bernoullische Gleichung

305

Die Bernoullische Gleichung ist von ungeheurer Bedeutung für die ganze Hydrodynamik reibungsloser Flüssigkeiten, und insoweit man die Reibung vernachlässigen kann, für die Hydrodynamik überhaupt. Wie werden nun der statische Druck p und der Staudruck \ ov2 gemessen ? Die Messung der einzelnen Drucke geschieht zweckmäßig mit Hilfe besonderer Drucksonden, die man an die betreffende Stelle in die Flüssigkeitsströmung einführt. In Abb. VI, 56 ist eine Drucksonde im Längsschnitt gezeichnet, die zur M e s s u n g des s t a t i s c h e n D r u c k e s / ? in der strömenden Flüssigkeit dient; sie ersetzt die bisher von uns in Abb. VI, 55 benutzten, an der Rohrleitung fest angebrachten Flüssigkeitsmanometer. Die Öffnungen O befinden sich in dem Mantel der Sonde und liegen p a r a l l e l zu den S t r o m l i n i e n . Die Sonde steht durch das Rohr-R über eine Schlauchleitung mit einem Flüssigkeitsmanometer M in Verbindung. Zur M e s s u n g des G e s a m t d r u c k e s po dient die in Abb. VI, 57 dargestellte Sonde, die nach ihren Erfinder Pitot-Rohr genannt wird. Sie besitzt eine axiale Bohrung B, die wieder über ein Rohr R und eine Schlauchleitung mit einem Flüssigkeitsmanometer M in Verbindung steht. Für die gegen das vordere Ende der Sonde anströmenden Strömungslinien bildet sich vor der Sonde ein S t a u g e b i e t , in dem die Flüssigkeit zur Ruhe kommt (v = 0), so daß der hier herrschende, vom Manometer gemessene statische Druck p gleich dem Gesamtdruck po ist. Zu dem statischen D r u c k p tritt \ ov'1 hinzu, um als Summe beider po zu liefern; so erklärt sich auch die Bezeichnung „ S t a u d r u c k " für \ ov2.

Po

Abb. VI, 56. Drucksonde mit Manometer zur Messung des statischen Druckes

Abb. VI, 57. Pitot-Rohr mit Manometer zur Messung des Gesamtdruckes

Die Differenz von Gesamtdruck po und statischem Druck p liefert nach Gl. (VI, 23) den S t a u d r u c k \ ov2. Er läßt sich mit einem von P r a n d t l angegebenen Staurohr messen, das eine Vereinigung von Drucksonde und Pitot-Rohr darstellt (Abb. VI, 58). Das mit zwei Schlauchleitungen an das Staurohr angeschlossene Manometer gibt direkt den Staudruck als Differenz von Gesamtdruck po und statischem Druck p an. Aus dem so gemessenen Druckunterschied po — p bestimmt sich die Strömungsgeschwindigkeit v aus der Gl. (VI, 23) zu: (VI, 24) Das Staurohr stellt daher ein sehr bequemes Gerät zur Messung von Strömungsgeschwindigkeiten dar und wird z. B. beim Flugzeug zur Messung der Fluggeschwindigkeit relativ zur umgebenden Luft benutzt. 20

Bergmann-Schaefer I, 8. Aufl. 1969

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

306

Hc

Abb. VI, 60. Saugwirkung bei Flüssigkeitsströmung

Abb. VI, 61. Zerstäuber

Abb. VI, 62. Wasserstrahlpumpe

Beispiele von Anwendungen der B e r n o u l l i sehen Gleichung: Wenn ein kegelförmiger Körper in Richtung von der Spitze zur Basis angeströmt wird, so findet eine Zusammendrängung der Stromlinien, d. h. eine Vergrößerung der Strömungs-

Kontinuitätsgleichung; Bernoullische Gleichung

307

geschwindigkeit am Rand der Kegelbasis statt; dort muß also der kleinste statische Druck p herrschen. Auf dieser Erscheinung beruht die Wirkung der Schiffsentlüfter. In Abb. VI, 59 ist ein solcher Entlüfter im Längsschnitt gezeichnet; die Stromlinien der ihn umströmenden Luft sind ebenfalls angedeutet. In die Gebiete verminderten Druckes bei a strömt aus dem Innern des Entlüfters Luft hinein, so daß eine Saugwirkung im Schacht zustande kommt. Auch auf Schornsteinen bringt man häufig derartige Aufsätze an, um einen besseren Zug zu erhalten. In Abb. VI, 60 ist eine Rohrleitung gezeichnet, die sich an der Stelle a auf einen größeren Querschnitt erweitert. Dicht vor der Erweiterung ist eine Steigleitung S in das enge Rohr eingeführt, die mit ihrem unteren Ende in das mit Wasser gefüllte Gefäß G mündet. Läßt man nun Wasser von dem engen in das weite Rohr einströmen, so kann bei genügender Strömungsgeschwindigkeit der statische Druck in dem engen Rohr so klein werden, daß der von außen wirkende Luftdruck das im Gefäß G befindliche Wasser in dem Rohr S empordrückt. Man kann daher mit einer solchen an eine Wasserleitung angeschlossenen Vorrichtung Wasser aus einem Behälter saugen (Keller auspumpen). Nach dem gleichen Prinzip arbeitet auch der in Abb. VI, 61 dargestellte Zerstäuber. Der aus der Düse des Rohres R austretende Luftstrom saugt das Wasser in dem Steigrohr 5 empor und zerstäubt es.

Abb. VI, 63. Bunsenbrenner

Abb. VI, 64. Hydrodynamisches Paradoxon

Abb. VI, 65. Schweben eines Balles im Luftstrom

Bei der in Abb. VI,62 dargestellten, von B u n s e n zuerst angegebenen Wasserstrahlpumpe strömt das Wasser mit großer Geschwindigkeit durch die Düse D und saugt die in der Umgebung befindliche Luft an; auf diese Weise kann ein an das Rohr R angeschlossenes Gefäß bis auf Drucke von 15—20 mm Hg evakuiert werden. In dem ebenfalls von B u n s e n angegebenen Bunsenbrenner (Abb.VI, 63) saugt das aus der Düse D mit großer Geschwindigkeit ausströmende Leuchtgas durch die in dem Brennerrohr B befindlichen seitlichen Öffnungen O Luft in den Gasstrahl hinein, so daß die Leuchtgasflamme den zur vollständigen Verbrennung der Kohlenstoffteilchen erforderlichen Sauerstoff erhält. Besonders anschaulich läßt sich die Druckverminderung in einem Luftstrom hoher Geschwindigkeit mit einem von C l é m e n t und D e s o r m e s angegebenen Apparat zeigen (Abb. VI, 64). Am Ende eines etwa 1 cm starken Rohres R ist eine in der Mitte durchbohrte Platte Bi von etwa 10 cm Durchmesser angebracht. Bläst man kräftig in das Rohr hinein, so wird eine unter B\ befindliche zweite Platte Bi gegen B\ heftig angesaugt. Da sich der Luftstrom nach dem Austritt aus der Öffnung des Rohres R nach allen Seiten erweitert, ist seine Geschwindigkeit an der Öffnung wesentlich größer als am Rand der Scheibe B\. Infolgedessen ist der statische Druck im Luftstrom in der Mitte zwischen den beiden Scheiben kleiner als der im Außenraum herrschende Atmosphärendruck. Letzterer drückt daher die Platte Bi von unten gegen B\ (sogenanntes hydrodynamisches Paradoxon).

308

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Läßt man aus einem Rohr D (Abb. VI, 65) einen Luftstrom austreten und bringt von der Seite einen leichten Zelluloidball B an den Luftstrahl heran, so wird dieser von dem Strahl getragen. Der Ball klebt gewissermaßen an dem Luftstrahl. Die Erklärung dieses Versuches ergibt sich sofort, wenn man den Verlauf der Stromlinien an Hand der Abb. VI, 65 betrachtet. Oberhalb des Balles tritt eine starke Zusammenschnürung der Stromlinien und demnach ein verminderter statischer Druck auf, während unterhalb des Balles ein größerer Druck herrscht, der den Ball nach oben drückt. Nähert man dem Ball von unten die Hand oder einen anderen Körper, so daß die Luft zwischen diesem und dem Ball hindurchströmen muß, so tritt auch unterhalb des Balles eine Zusammenschnürung der Stromlinien und damit eine Druckverminderung ein: Der Ball fällt herunter. Bei starkem Sturm können die Dächer von Häusern abgehoben werden. Wenn der Wind über ein Haus hinwegströmt, so erhöht sich seine Geschwindigkeit über dem Haus, so daß dort ein kleinerer statischer Druck herrscht als im Innern des Hauses. Durch den von unten gegen das Dach wirkenden Überdruck wird dieses dann abgehoben. Nehmen wir an, daß durch die Geschwindigkeitserhöhung im Windstrom über dem Dach nur eine Druckverminderung von 1 % eintritt, so liefert dies bei einem Dach von 100 m 2 Fläche eine Kraft von 104 Kilopond. Zur Messung der Strömungsgeschwindigkeit von Flüssigkeiten oder Gasen in einer Rohrleitung dient die Venturidüse. Sie besteht (Abb. VI, 66) im wesentlichen nur aus einer in die Leitung eingebauten Querschnittsverringerung. Mittels zweier Manometer M und Mo mißt man

Abb. VI, 66. Venturidüse

den statischen Druck p in der Rohrleitung mit dem normalen Querschnitt A und an der verengten Stelle mit dem Querschnitt AQ: letzterer sei po. Wenn v und I'O die Geschwindigkeiten im Rohr an den beiden Stellen sind, so liefert die B e r n o u l l i s e h e Gleichung die Beziehung:

Da nach der Kontinuitätsbedingung Av = AQVQ ist, ergibt sich weiter

woraus für die gesuchte Geschwindigkeit v folgt: v =

2(p-p0)

Mittels der B e r n oulli-Gleichung kann man auch die Geschwindigkeit v berechnen, mit der

Kontinuitätsgleichung; Bernoullische Gleichung

309

eine Flüssigkeit aus der Öffnung eines Behälters ausströmt, die sich in der Höhe h unterhalb des Flüssigkeitsspiegels, sei es im Boden, sei es in der Seitenwand des Behälters, befindet. Der am Flüssigkeitsspiegel sowie in der Austrittsöffnung herrschende statische Druck p sei gleich dem Atmosphärendruck b; wir wenden die B e r n o u l Ii-Gleichung in der allgemeinen Form der Gl. (VI, 21) sowohl für den Flüssigkeitsspiegel als auch für die Austrittsöffnung an und erhalten unter der Annahme, daß der Behälter so weit sei, daß wir die Geschwindigkeit im Flüssigkeitsspiegel annähernd Null setzen können: b+ggh (VI, 25)

v=

= b + ~ gv2,

d.h.

4l~gh.

Dieses zuerst von T o r r i c e l l i (1646) aufgestellte Gesetz sagt aus: Die Ausflußgeschwindigkeit einer reibungslosen Flüssigkeit ist gleich der Geschwindigkeit, die ein Körper erlangen würde, wenn er vom Spiegel der Flüssigkeit zur Ausflußöffnung frei fallen würde. Hält man im obigen Versuch die Ausflußöffnung zu, so ist in der ruhenden Flüssigkeit der Druck gleich b + Qgh\ strömt dagegen die Flüssigkeit aus, so wird der Druckanteil Qgh umgewandelt in das Glied J, QV'1 (anders ausgedrückt: Die potentielle Energie Qgh setzt sich vollständig in kinetische Energie um), d. h. der Druck an der Ausflußöffnung und innerhalb des Strahles ist dann gleich dem Atmosphärendruck b. Strömt daher eine Flüssigkeit aus der Seitenöffnung eines Behälters aus, so bildet der Flüssigkeitsstrahl eine Parabel, die um so weiter geöffnet ist, je tiefer die Ausflußöffnung unter dem Flüssigkeitsspiegel liegt: In der Seitenwand eines Troges sind drei Öffnungen in verschiedener Tiefe h\, /¡2, unter dem Flüssigkeitsspiegel angebracht, aus denen wir nacheinander die Flüssigkeit ausströmen lassen (Abb. VI, 67). Neben dem Trog ist eine unter 45° geneigte Glasplatte an einem Stativ in Höhe der Ausflußöffnungen einstellbar. Fällt dann eine Stahlkugel senkrecht von oben aus der Höhe des Flüssigkeitsspiegels auf die Glasplatte, so wird sie in horizontaler Richtung reflektiert und durchläuft eine Wurfparabel, die mit der betreffenden Ausflußparabel der Flüssigkeit völlig zusammenfällt, wie man leicht zeigen kann, wenn man beide Parabeln im Schattenwurf auf eine Wand projiziert. (Zu diesem Zweck muß selbstverständlich die in Abb. VI, 67 rechts neben dem Trog gezeichnete Fallvorrichtung vor oder hinter ihm stehen.)

Abb. VI, 67. Nachweis des Torricellischen Gesetzes

Abb. VI, 68. Ausfluß aus einer Öffnung (a) in ebener Wand und aus einer abgerundeten Mündung (b)

Mißt man die in einer Sekunde ausfließende Flüssigkeitsmenge und vergleicht den so erhaltenen Wert mit dem nach Gl. (VI, 25) unter Berücksichtigung des Öffnungsquerschnittes berechneten, so findet man, daß der Wert nur etwa 2 / 3 des erwarteten beträgt. Der Grund hierfür liegt darin, daß der Flüssigkeitsstrahl beim Durchtritt durch die Öffnung eine Querschnittsverminderung (Vena contracta) dadurch

310

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

erfährt, daß die Flüssigkeit im Innern des Gefäßes von allen Seiten radial auf die Öffnung zuströmt und am Rande nicht plötzlich in die Richtung der Strahlachse umbiegen kann (Abb. VI, 68). Diese Strahleinschnürung läßt sich vermeiden, wenn man die Austrittsöffnung entsprechend gestaltet.

Um aus der Öffnung eines Gefäßes eine Flüssigkeit mit konstanter Geschwindigkeit ausströmen zu lassen, muß man die Höhe des Flüssigkeitsspiegels sehr genau durch Nachfüllen von Flüssigkeit konstant halten. Dies ist nicht immer ganz einfach. Man bedient sich zu diesem Zweck der M a r i o t t e s c h e n F l a s c h e (Abb. VI, 69), in die von oben luftdicht eine an beiden Seiten offene Glasröhre eingesetzt ist. Befindet sich die untere Öffnung dieser Röhre in der Höhe h über der Ausflußöffnung, so herrscht an dieser Stelle stets der äußere Atmosphärendruck und die unten ausfließende Flüssigkeit hat nach dem T o r r i c e l l i s c h e n Gesetz (VI, 25) die konstante Geschwindigkeit v = ]/2 gh, solange die Röhre sich unterhalb des Flüssigkeitsspiegels befindet. Ein in einem größeren Gefäß befindliches Gas stehe unter dem Druck p\ und ströme durch eine kleine Öffnung in den Außenraum, wo der Druck p2 < pi herrschen möge. Nach der B e r n o u l l i s c h e n Gleichung ist dann:

wenn g die Dichte und v die Ausströmungsgeschwindigkeit des Gases bedeuten. Wir vernachlässigen dabei die Schwerkraft und nehmen in erster Annäherung die Dichte n als konstant an. Daraus ergibt sich für v die Gleichung:

(VI, 26) d . h . bei d e r s e l b e n D r u c k d i f f e r e n z pi — p% v e r h a l t e n s i c h die A u s s t r ö m u n g s geschwindigkeiten zweier G a s e beim Ausströmen durch eine kleine Öffnung u m g e k e h r t wie die W u r z e l n a u s i h r e n D i c h t e n ( G e s e t z von B u n s e n ) . Läßt man Gase gleicher Volumina ausströmen, so verhalten sich die Ausströmungsgeschwindigkeiten umgekehrt wie die entsprechenden Ausströmungszeiten. Wir können daher das Gesetz von B u n s e n auch in folgender Form aussprechen:

0 B

O l

Abb. VI, 69. M a r i o t t e s c h e Flasche

Abb. VI, 70. Effusiometer nach B u n s e n

Umströmung fester Körper; Magnus-Effekt

311

Strömen Gase gleicher Volumina unter gleichem Druck aus, so verhalten sich die Quadrate der Ausströmungszeiten wie die Gasdichten. Dies liefert ein einfaches Verfahren zur Bestimmung von Gasdichten. Der dazu notwendige, Effusiometer genannte Apparat ist in Abb. VI, 70 im Längsschnitt gezeichnet. Das Gas befindet sich in dem Glasrohr G, das am oberen Ende einen Dreiwegehahn H trägt, der den Gasraum entweder mit der feinen Ausströmungsöffnung O oder mit dem Füllrohr A in Verbindung setzen kann. Das Glasrohr taucht in ein mit Quecksilber gefülltes Standgefäß und kann an der vertikalen Stange B auf- und abbewegt werden. Im Innern des Glasrohres befindet sich ein Schwimmer S, der an seinem oberen Ende zwei Marken M i und Mi trägt. Nachdem man das Glasrohr mit dem zu untersuchenden Gas gefüllt hat, wird der Dreiwegehahn H geschlossen und das Rohr bis zu einer bestimmten Tiefe gesenkt. Das Gas steht dann unter dem Überdruck des im Standgefäß hochgedrückten Quecksilbers. Verbindet man das Glasrohr mit der Öffnung O, so strömt das Gas aus dieser aus und der Schwimmer S steigt in die Höhe. Man bestimmt die Zeit, die zwischen dem Durchgang der beiden Marken M i und M i durch die Quecksilberoberfläche oder eine über den Rand des Gefäßes C verlaufende Visierlinie vergeht. Eine in der Technik sehr unerwünschte Erscheinung ist die Kavitation. Sie tritt in Flüssigkeiten auf und besteht in der Bildung kleiner Hohlräume, also Blasen, insbesondere wenn feste Körper mit hoher Geschwindigkeit umströmt werden. Wenn z. B. durch die Drehung eines Schiffspropellers die Geschwindigkeit des Wassers relativ zur Propellerwand groß, also der statische Druck klein wird, so daß er den Dampfdruck des Wassers erreicht, dann können sich in Gegenwart von Keimen (z. B. Oberfläche des Propellers) kleine Wasserdampfblasen bilden (Abb. VII, 54). Der Dampfdruck des Wassers beträgt bei 20 °C 0,024 kp/cm 2 . Setzt man diesen Wert und Normalluftdruck in die B e r n o u l l i s c h e Gleichung ein, dann ergibt sich eine Geschwindigkeit des Wassers von 14 m/s. Nur bei dieser und größerer Geschwindigkeit des Wassers können sich Kavitationsblasen bilden. Man kann das „Zerreißen" des Wassers leicht anschaulich verstehen, wenn man die Strömung auf beiden Seiten eines Propellers betrachtet (vgl. Nr. 62). Es sei erwähnt, daß sich auch Kavitationsblasen bilden können, wenn eine Flüssigkeit mit Ultraschallwellen größerer Energie bestrahlt wird. — Die Kavitationsblasen enthalten eine potentielle Energie = Oberflächenspannung • Oberfläche (vgl. Nr. 69). Diese Energie wird von dem Schiffsmotor aufgebracht, geht also für den Antrieb verloren. Sie wird beim Verschwinden der Blasen wieder frei und führt zu örtlichem Erhitzen, zu chemischen Reaktionen und zur Korrosion.

58. Umströmung fester Körper durch ideale Flüssigkeiten; Stromlinienkörper; Magnus-Effekt In den bisher besprochenen Fällen von S t r ö m u n g i d e a l e r F l ü s s i g k e i t e n sind wir nicht auf Diskrepanzen mit der Erfahrung gestoßen. Im Gegenteil zeigten sich die Versuche, die doch mit w i r k l i c h e n , d . h . r e i b e n d e n F l ü s s i g k e i t e n angestellt wurden, überall im Einklang mit den Forderungen der B e r n o u l l i sehen Gleichung; bishermachte sich die Reibung nicht störend bemerkbar. Wenn wir nunmehr aber die Strömung um eingetauchte Körper untersuchen, werden wir dies nicht mehr allgemein erwarten können: Wir müssen vielmehr auf grobe Abweichungen zwischen den Behauptungen der Hydrodynamik idealer Flüssigkeiten und der Erfahrung gefaßt sein. Es soll eine K u g e l in eine P a r a l l e l s t r ö m u n g v o n r e i b u n g s l o s e r F l ü s s i g k e i t gebracht werden. Das Stromlinienbild zeigt näherungsweise die Abb. VI, 71. Wie man sieht, trifft eine Stromlinie den Pol P der Kugel; in P wird die Geschwindigkeit der Flüssigkeit gleich Null, P ist also ein „Staupunkt"; von P aus teilt sich die Stromlinie und vereinigt sich im hinteren Staupunkt P' wieder, wo die Geschwindigkeit ebenfalls gleich Null ist. Dagegen erreicht die Geschwindigkeit ihre Maximalwerte in den Punkten des Äquators (C und D im Schnitt der Abb. VI, 71). Die weiter außen liegenden Stromlinien weichen vor der

312

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Kugel aus und nähern sich hinter ihr wieder der Parallelströmung an. Man sieht an dem Zusammenrücken der Stromlinien zwischen P und C bzw. P und D, daß die Geschwindigkeit vom Wert Null bei P nach C und D hin zu einem Maximalwert vm anwächst, um nach P' hin wieder auf Null zu sinken. Die weiter nach außen folgenden Stromlinien gehen allmählich wieder in die ungestörte Parallelströmung über. Das Stromlinienbild sieht den Verhältnissen in realen Flüssigkeiten sehr ähnlich, doch besteht ein fundamentaler Unterschied. Die Flüssigkeit haftet

Abb. VI, 71. Strömung einer idealen (reibungslosen) Flüssigkeit um eine Kugel

nicht an der Körperoberfläche, sondern strömt einfach an ihr vorbei. Es gilt die B e r n o u l i i s c h e Gleichung, die den Zusammenhang des Druckes p mit der Geschwindigkeit v liefert. Weil die Anordnung der Stromlinien bezüglich der Achsen PP' und CD vollkommen symmetrisch ist, ergibt sich hier folgendes: Nach der Gl. (VI, 23): po = p + \ QV2 ist an den Staupunkten P und P' (v = 0) der Druck gleich po, d. h. hat den größten Wert, den er haben kann. Von P nimmt er nach C und D hin ab, weil die Geschwindigkeit bis dorthin anwächst (v — vm); in C und D hat der Druck den kleinsten Wert p = po — i Qvm2- Nach P' hin steigt er, da die Geschwindigkeit wieder abnimmt, erneut bis zum Maximalwert p0 im hinteren Staupunkt P' an. Zeichnet man die Kraftverteilung, so erhält man etwa das Bild der Abb. VI, 72.

Abb. VI, 72. Kraftverteilung auf eine von idealer Flüssigkeit umströmten Kugel

Abb. VI, 73. Messung der Druckverteilung an einer umströmten Kugel

Wie man den Druck an den verschiedenen Stellen der Kugel mißt, zeigt Abb. VI, 73: Die Kugel hat Durchbohrungen aa', bb', cc', dd', ee' \ will man den Druck an der Stelle d messen, so schaltet man an d' mittels Schlauch ein Manometer an; dann herrscht im Manometer im Gleichgewicht der gleiche Druck wie in d usw. (Drucksonde, vgl. Abb. VI, 56). Die Druckverteilung (Abb. VI, 72) ist also v o l l k o m m e n a n d e r s als zu erwarten war. Der D r u c k ist n i c h t infolge der Reibung a u f d e r l i n k e n K u g e l h ä l f t e g r ö ß e r a l s a u f d e r r e c h t e n , sondern a u f b e i d e n S e i t e n g l e i c h . Das bedeutet:

Umströmung fester Körper; Magnus-Effekt

313

Auf eine in eine Parallelströmung eingetauchte Kugel wirkt bei idealer Flüssigkeit keinerlei Kraft. Oder umgekehrt: Eine mit konstanter Geschwindigkeit durch eine ruhende ideale Flüssigkeit sich bewegende Kugel erfährt keinen Widerstand. Dieses Resultat widerspricht aber den Tatsachen, namentlich, da es nicht nur für die Kugel, s o n d e r n f ü r j e d e n b e l i e b i g e n e i n g e t a u c h t e n K ö r p e r gilt. Uns kommt das insofern nicht überraschend, als wir schon vorher erkannt hatten, daß die Voraussetzung der Reibungslosigkeit nicht bis dicht an die Oberfläche des Körpers heran gemacht werden darf. Von der Tatsache ausgehend, daß alle eingetauchten Körper einen Widerstand erfahren, können wir also rückwärts schließen, d a ß z. B. h i n t e r d e r K u g e l d i e S t r ö m u n g a n d e r s s e i n m u ß a l s v o r i h r , d a ß a l s o in W i r k l i c h k e i t k e i n e S y m m e t r i e d e r S t r ö m u n g u n d D r u c k v e r t e i l u n g b e z ü g l i c h d e r A c h s e CD h e r r s c h e n k a n n . Ganz ähnliche Stromlinienverteilung wie bei der Kugel liefert die Hydrodynamik reibungsloser Flüssigkeiten für einen Zylinder bei Umströmung senkrecht zu seiner Achse; obwohl nicht vollkommen mit dem Stromlinienbild der Kugel identisch, können wir für qualitative Überlegungen doch Abb. VI, 71 auch für einen Zylinder als maßgebend betrachten.

Abb. VI, 74. Stromlinienverlauf um eine senkrecht zur Parallelströmung stehende Platte

Abb. VI, 75. Stromlinienverlauf um einen Stromlinienkörper

Besonders charakteristisch ist die Strömung um eine senkrecht zur Parallelströmung stehende Platte (Abb. VI, 74). Auch hier teilt sich die Stromlinie, die den Mittelpunkt P dei Vorderseite dei Platte trifft, um die ganze Platte zu umhüllen und sich bei P' wieder zu vereinigen, P ist der vordere, P' der hintere Staupunkt; in beiden hat der Druck seinen Maximalwert. Umgekehrt erreicht in C und D die Geschwindigkeit ein Maximum, der Druck also ein Minimum. Links und rechts herrscht vollkommene Symmetrie der Strömung und des Druckes: Auch hier existiert also kein Widerstand in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten. Wie die Flüssigkeit wirklich strömt, wird später gezeigt; hier genügt die Tatsache, daß infolge der Reibung in der Grenzschicht d i e V e r h ä l t n i s s e v o r u n d h i n t e r d e m K ö r p e r n i c h t d i e S y m m e t r i e b e s i t z e n , die nach der Behauptung der reibungslosen Hydrodynamik vorhanden sein sollte. D e r t a t s ä c h l i c h a u f t r e t e n d e W i d e r s t a n d h a t s e i n e n G r u n d in d e r A s y m m e t r i e d e r D r u c k v e r t e i l u n g v o r u n d h i n t e r d e m K ö r p e r ; er wird daher — im Gegensatz zum „Reibungswiderstand" bei der schleichenden Strömung — als Druckwiderstand bezeichnet. Die Strömungs- und Druck-Unsymmetrien stellen sich in besonderer Stärke bei solchen Körpern ein, die beim Übergang von der Vorderseite zur Hinterseite eine starke Krümmung der Stromlinien verursachen wie z. B. die Platte. In der Grenzschicht dürfen die von der Zähigkeit (r/ =\= 0) herrührenden Schubkräfte nicht ignoriert werden. Der Gradient dvldh ist in der dünnen, dem eingetauchten Körper anliegenden Grenzschicht stets sehr groß, um so größer, je kleiner r/ ist. Die Strömungs- und Druck-Unsymmetrien treten aber um so mehr zurück, je länger gestreckt der Körper ist. In diesen Fällen schließen sich die Stromlinien wenigstens mit großer Näherung der Form der Körper an, so daß bei langgestreckten Körpern, wie sie die Natur etwa bei den Fischen zeigt, tatsächlich nahezu k e i n D r u c k w i d e r s t a n d bei der Bewegung auftritt. Solche Körper, die von den Stromlinien vollkommen umhüllt

314

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

werden (z. B. Abb. VI, 75), nennt man Stromlinienkörper. Bei ihnen ist der Druckwiderstand so klein, daß sich infolge der Zähigkeit nur der R e i b u n g s w i d e r s t a n d bemerkbar macht. Das Wesentliche ist also dies: Es g i b t K ö r p e r f o r m e n , bei d e n e n d i e G e s e t z e der reibungslosen H y d r o d y n a m i k a n n ä h e r n d zutreffen. Für die Praxis ergibt sich daraus die Folgerung, daß man bewegten Körpern „Stromlinienform" gibt, wodurch man tatsächlich einen sehr geringen Widerstand erzielt. Wenn die Hinterseite der Körper durch geeignete Verkleidung so ausgebildet wird, daß die Stromlinien sich an diese anschmiegen, kann der Druckwiderstand sehr erheblich reduziert werden. In diesem Sinne kann man sagen, d a ß f ü r d e n D r u c k w i d e r s t a n d d i e H i n t e r s e i t e b e w e g t e r K ö r p e r w i c h t i g e r als die V o r d e r s e i t e ist.

a

b

c

Abb. VI, 76. Anordnung zum Nachweis des verschiedenen Druckwiderstandes bei einer Platte (a), einer Halbkugel (b) und einem Stromlinienkörper (c) von gleichem Durchmesser und gleichem Gewicht

Von der Herabsetzung des Druckwiderstandes durch geeignete Formgebung kann man sich leicht experimentell überzeugen. Man bringt die zu untersuchenden Körper in einem Windkanal in eine Parallelströmung und hält sie mittels eines Federdynamometers an einer bestimmten Stelle fest. Die Kraft, die die Strömung auf die Körper ausübt, d. h. der Widerstand, wird durch die Spannung der Feder kompensiert und durch sie gemessen. Eine für Demonstrationsversuche geeignete Anordnung zeigt Abb. VI, 76. Die verschieden geformten Widerstandskörper, die gleichen Querschnitt und gleiches Gewicht haben, sind mit einer zentralen Längsbohrung versehen, so daß sie sich auf einem vertikal ausgespannten Draht leicht verschieben lassen. Bringt man diesen Draht in die Mitte eines vertikal von unten nach oben verlaufenden Luftstromes eines Gebläses, so wird der betreffende Körper von der Strömung infolge seines Widerstandes nach oben gedrückt. Da der Luftstrom nach oben hin divergiert, so nimmt mit zunehmender Divergenz der Stromlinien die Geschwindigkeit ab, was wiederum zur Folge hat, daß nach Gl. (VI, 21) der Druckwiderstand mit zunehmender Höhe kleiner wird. Es gibt dann eine Stelle, an der die vom Luftstrom auf den Körper ausgeübte Kraft dem nach unten wirkenden Gewicht des Körpers das Gleichgewicht hält. An dieser Stelle bleibt dann der Körper im Luftstrom schweben, und man kann, wie es Abb. VI, 76 für drei verschieden geformte Körper andeutet, aus der Höhe dieser Stelle über der Öffnung des Gebläses die Größe des Druckwiderstandes abschätzen.

Umströmung fester Körper; Magnus-Effekt

315

Bei einem gegebenen Widerstandskörper kann man mit einer solchen Vorrichtung aus der Höhe, in der der Körper zur Ruhe kommt, einen Rückschluß auf die Strömungsgeschwindigkeit und damit auf die in einer bestimmten Zeit durch den Rohrquerschnitt strömende Gasmenge ziehen. Auf diesem Prinzip beruht der R o t a - S t r ö m u n g s m e s s e r ; bei diesem strömt die zu messende Gasmenge, durch ein vertikales, sich nach oben konisch erweiterndes Glasrohr, in dem sich ein passend geformter Widerstandskörper befindet. Aus der Höhe, in der sich dieser Körper in der Strömung einstellt, kann man die etwa pro Stunde durch das Rohr strömende Gasmenge direkt ablesen.

In der Abb. VI, 77 sind sechs Widerstandskörper gleichen Querschnittes, aber verschiedener Form gezeichnet, die von links angeströmt werden; die angeschriebenen Zahlen bedeuten die relativen Widerstände. Vergleicht man den ersten Körper (Halbhohlkugel) mit dem letzten (Stromlinienkörper), so erkennt man, daß bei letzterem der Widerstand auf den 24. Teil herabgesetzt ist! Von Interesse ist noch der Vergleich der beiden Halbhohlkugeln (1) und (4), deren relative Widerstände sich wie 4 zu 1 verhalten, je nachdem die konkave oder die konvexe Fläche dem Luftstrom zugewendet ist. Diese Verschiedenheit des Widerstandes wird bei der Konstruktion

Abb. VI, 77. Widerstandskörper gleichen Querschnittes, aber verschiedener Form; die angeschriebenen Zahlen bedeuten angenähert die relativen Widerstände bei Anströmung von links

eines Windmessers, des sogenannten Anemometers, benutzt. Bei diesem ist ein mit vier Halbkugelschalen versehenes Kreuz um eine vertikale Achse drehbar. Im Windstrom dreht sich das Kreuz so, daß sich die Kugelschalen mit ihrer gewölbten Seite voran bewegen. Die Drehung, die um so schneller erfolgt, je größer die Windgeschwindigkeit ist, überträgt sich auf ein Zeigerwerk. Es könnte auffallen, daß die Formen der modernen Überschallflugzeuge keineswegs Stromlinienformen sind. Das liegt daran, daß man die Luft bei Überschallgeschwindigkeit nicht als inkompressibel betrachten darf. Die Luft wird vielmehr vor dem Körper stark komprimiert, während hinter ihm ein partielles Vakuum eintritt. Diese beiden Gebiete erhöhten und verminderten Druckes kann man sich von dem Körper mitgeschleppt denken; sie stellen demnach eine Überschallströmung gegenüber der ruhenden Außenluft dar, von der sie durch scharfe Grenzen getrennt sind. Die Strömungsgeschwindigkeit vi springt in dieser Grenzfläche unstetig auf einen Wert V2 unterhalb der Schallgeschwindigkeit. Nimmt man in vereinfachender Weise an, daß dabei Über- und Unterschallgeschwindigkeit die gleiche Richtung besitzen, so ergibt die Kontinuitätsgleichung (VI, 19) bei Berücksichtigung der Kompressibilität: g1v1 = g2v2

.

qi und Q2 sind die Dichten vor und nach Überschreiten der Grenzfläche. Die Gleichung besagt, daß mit dem spontanen Absinken der Geschwindigkeit ein ebenso spontaner Anstieg der Dichte

316

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

und damit des Druckes verbunden ist. Diese Erscheinung heißt Verdichtungsstoß, wobei der „Stoß" kein einmaliges Ereignis, sondern ein Vorgang ist, der so lange anhält, wie sich der Körper mit Überschallgeschwindigkeit bewegt. Der Verdichtungsstoß ist die Ursache für die Kopf- und Schwanzknallwelle von Überschallflugkörpern. Er läßt sich durch geeignete Formgebung verringern, aber nicht völlig ausschalten. Dies ließe sich nur bei nahezu punktförmigen Flugkörpern erreichen. Verdichtungsstöße treten auch bei Explosionen auf, sofern eine Überschallströmung mit der Expansion verbunden ist. In einer reibungslosen Flüssigkeit müssen auf eine in eine Parallelströmung eingetauchte Kugel oder einen Zylinder Druckkräfte auftreten, s o b a l d es g e l i n g t , d i e S y m m e t r i e zu z e r s t ö r e n . Das kann in der Weise geschehen, daß man über die Strömung etwa um einen unendlich langen Zylinder, dessen Achse senkrecht zur Zeichenebene steht, noch eine Zirkulationsströmung überlagert. Eine solche Zirkulationsströmung ergibt sich z. B. dadurch leicht, daß der Zylinder rotiert und infolge der Rauhigkeit seiner Oberfläche gasförmige oder flüssige Materie mitnimmt. Die Geschwindigkeit der Strömung wird durch diese Zirkulationsströmung verändert: sie wird auf der einen Seite um diese vergrößert (in Abb. VI, 78 oben) und auf der anderen Seite (in der Abb. unten) verkleinert. Entsprechend sind die Stromlinien oben dichter, unten weiter auseinander gegenüber der Strömung um den ruhenden Zylinder. Nach der B e r n o u l i i s c h e n Gleichung ist also unten der Diuck größer, oben geringer; es resultiert mithin eine Querkraft auf jede Längeneinheit des Zylinders, senkrecht zur Parallelströmung, hier nach oben gerichtet. Diese Kraft A pro Längeneinheit ist um so größer, je größer die Geschwindigkeit der ursprünglichen Parallelströmung v ist. Sie ist ferner proportional der Größe r der Zirkulation und der Dichte q der Flüssigkeit. Die genaue Rechnung liefert die Gleichung: (VI, 27)

A=

gvr,

die nach ihren Begründern die Kutta-Joukowskische Formel genannt wird. Je größer die Stärke r der Zirkulation ist, um so mehr rücken die Staupunkte, die vorher an den Polen P und P' lagen, nach unten (Abb. VI, 78). Schließlich vereinigen sie sich am untersten Punkt D; wird /"noch größer, so rückt der Staupunkt vom Zylinder nach unten in die Flüssigkeit hinein.

Die Größe r hängt bei einem rotierenden Zylinder selbstverständlich von dessen Rotationsgeschwindigkeit und Rauhigkeit ab. Auch muß die Reibung in der Grenzschicht berücksichtigt werden, also muß von der idealen, reibungslosen Flüssigkeit schon abgewichen werden. Es wird später gezeigt werden, daß diese Zirkulationsströmung auch dann auftreten kann, wenn keine Rotation eines Körpers vorliegt. Sie ist beim Flugzeug von großer Bedeutung: Auch um den Tragflügel bildet sich eine Zirkulationsströmung aus.

Umströmung fester Körper; Magnus-Effekt

317

Es sollen nun ein paar einfache Versuche beschrieben werden, in welchen die Kraft-Wirkung bei überlagerter Parallel- und Zirkulationsströmung deutlich erkennbar ist. Man beachte, daß in allen Fällen die Flüssigkeit bzw. das Gas als ideal, also reibungslos, angenommen wird. Ein leichter Pappzylinder mit seitlichen Randscheiben zur Verhinderung von Störungen (Abb. VI, 79 a) rollt an zwei Schnüren von oben nach unten ab und erfährt dabei eine Drehung (in der Zeichnung gegen den Uhrzeigersinn). Bei der Fallbewegung strömt die Luft relativ zu dem Zylinder von unten nach oben, und der Zylinder erfährt eine Querkraft (von links nach rechts), so daß er nicht senkrecht nach unten, sondern auf einer (nach rechts) gekrümmten Bahn herunterfällt. — Um den Einfluß der Dichte q zu zeigen, kann man folgendermaßen verfahren. Rollt eine leichte Tonkugel K auf einer schiefen Ebene S (Abb. VI, 79b) in einen mit Wasser gefüllten Trog, so beschreibt sie nach dem Eintritt in das Wasser eine abnorm gekrümmte Bahn. Da sich die Kugel um eine horizontale Achse dreht und beim Fallen das Wasser an ihr von unten nach oben vorbeiströmt, erfährt die Kugel eine Querkraft. Wegen der großen Dichte des Wassers (rund lOOOmal größer als Luft) ist hier die Abweichung von der gewöhnlichen parabolischen Bahn sehr beträchtlich. — Der gleiche Effekt macht sich bei „geschnittenen" (d. h. rotierenden) Tennisbällen dadurch bemerkbar, daß diese gekrümmte Bahnen

Abb. VI, 79. Zwei Versuchsanordnungen zum Nachweis des Magnus-Effektes, a) Seitliche Ablenkung eines fallenden und gleichzeitig rotierenden Pappzylinders, b) Ablenkung einer schräg ins Wasser rollenden Kugel durchfliegen. — Auch in der Ballistik hat die Erscheinung eine Rolle gespielt, indem die aus glatten Rohren abgefeuerten Geschosse infolge zufällig exzentrischer Lage des Schwerpunktes Rotationen ausführten und unerklärliche Abweichungen von der normalen Flugbahn aufwiesen. Diese Abweichungen fliegender Geschosse von ihrer ursprünglichen Flugrichtung waren der Anlaß, daß sich 1853 G. M a g n u s mit der experimentellen Untersuchung dieses Effektes befaßte, der nach ihm Magnus-Effekt genannt wird; er wurde später von Lord R a y l e i g h (1879) theoretisch behandelt. F l e t t n e r hat (1920) versucht, durch Benutzung großer rotierender Zylinder mit vertikaler Achse auf Schiffen an Stelle der Segel den Magnus-Effekt zum Antrieb der Schiffe durch den Wind auszunutzen ( „ R o t o r s c h i f f e " ) . Noch in einem anderen Fall bewährt sich die Annahme der Reibungslosigkeit wenigstens qualitativ. In Abb. VI, 74 betrachteten wir die ideale Strömung um eine senkrecht zur Parallelströmung stehende Platte. Nunmehr wollen wir die Platte unter einem Winkel

Abb. VI, 96. Entstehung einer Wirbelschicht an einer Unstetigkeitsfläche

oooooooooo

gezeichneten Wirbelquerschnitte immer kleiner werdend, die Wirbel selbst immer zahlreicher und enger aneinander, so bildet sich auf der Oberseite eine (in der Figur) von rechts nach links, auf der Unterseite eine von links nach rechts gerichtete Geschwindigkeit aus, die in der Trennungsfläche direkt aneinander grenzen. Das ist aber eben eine unstetige Potentialströmung. Solche Unstetigkeitsflächen sind nun, wie H e l m h o l t z bemerkt hat, äußerst unstabil, d. h. kleine zufällige Störungen wachsen mit der Zeit an und ändern die ganze Unstetigkeitsfläche radikal ab. Dies erkennt man aus Abb. VI, 97 a. Darin bedeutet die stark ausgezogene Linie

Wirbelbewegungen

333

eine Unstetigkeitsfläche, die durch irgendeinen Zufall eine Ausbuchtung erfahren hat. Darüber und darunter sind schwach ausgezogen die Stromlinien gezeichnet. Wir betrachten zuerst die Stromlinien oberhalb der Trennungsfläche: Sie drängen sich über dem konvexen Teil zusammen und treten über den konkaven Partien auseinander. Analoges gilt für die unterhalb befindlichen Stromlinien. Das heißt aber, daß die Geschwindigkeiten an der gleichen Stelle oberhalb und unterhalb der Trennungsfläche verschieden sind, und dies bedeutet nach der Bernoullisehen Gleichung Druckverschiedenheiten. Die Kräfte sind durch Pfeile in der Figur a) angedeutet. Man erkennt nun, daß die Druckdifferenzen so geartet sind, daß sie die zufällige Ausbauchung zu v e r s t ä r k e n bestrebt sind, d. h. die ursprünglich ebene Diskontinuitätsfläche wird immer stärker verbogen: Sie ist instabil. Was weiter mit der Fläche geschieht, ist in Abb. VI, 97b angedeutet, die drei aufeinanderfolgende Stadien zeigt; im letzten Stadium hat die Fläche sich in einzelne Wirbel aufgelöst. Somit erkennt man, daß auch aus einer Unstetigkeitsfläche sich einzelne Wirbel bilden können, was gerade für die Tragflügel eines Flugzeuges eine Rolle spielt. — Auf der leichten Beweglichkeit und Deformierbarkeit einer Unstetigkeitsfläche beruht z. B. das Flattern der Fahnen; man kann in Abb. VI, 97a die stark ausgezogene Kurve als das Fahnentuch betrachten. Ebenso entstehen die Wasserwellen, wenn Wind horizontal über eine Wasseroberfläche hinwegstreicht. (Weiteres Beispiel: Zyklonenbildung.) Schließlich sollen zwei photographische Aufnahmen einen Einblick in die Experimentiertechnik beim Studium von Wirbeln geben. Das Prinzip der Anordnung zeigt bereits Abb. VI, 94. Aus einem horizontalen Rohr, das in einen Wassertrog hineinragt, wird mit einem Stempel genau dosiert und ruckweise Wasser ausgestoßen. In der Abb. VI, 98 war das Rohr am Ende

Abb. VI, 98. Wirbelringe in Wasser; erzeugt durch Ausstoß von Wasser aus einem Rohr, sichtbar gemacht durch Farbstoff, der sich nur oben und unten am Rohrende befindet

nur oben und unten mit je einem Farbstift versehen. Dadurch erhält man Bilder, die einen vertikalen Schnitt durch die Wirbelringe zeigen. Gibt man dem Stempel nacheinander zwei Impulse, von denen der zweite der größere ist, dann kann man das Hindurchschlüpfen des zweiten Wirbelringes durch den ersten sehr schön beobachten und studieren. In der Abb. VI, 99 war das Rohrende auf dem ganzen Umfang mit einem schmalen Ring von Farbstoff versehen. Der linke Teil des Bildes zeigt einen Wirbelring von der Seite, der rechte Teil einen Wirbelring, auf den Photoapparat zukommend. Die beiden Wirbelringe hatten zur Zeit der Aufnahme eine längere Wegstrecke zurückgelegt. Obgleich alle Wirbelringe kurz nach dem Entstehen kreisrund sind, zeigen sie alle nach längerer Laufzeit das gleiche Bild, wie es die Abb. VI, 99 zeigt.

334

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Abb. VI, 99. Wirbelringe in Wasser nach einigen Sekunden Lebensdauer. Der linke ist von der Seite photographiert und bewegt sich nach rechts; der rechte bewegt sich auf den Photoapparat zu. Zu Beginn sind alle Wirbelringe kreisrund und verändern dann ihre Struktur 61. Umströmung fester Körper durch reale Flüssigkeiten Nunmehr läßt sich die Strömung wirklicher Flüssigkeiten um feste Hindernisse erörtern, z. B. um einen Zylinder, an den die weiteren Betrachtungen anknüpfen. Im ersten Augenblick entsteht das bereits ausführlich geschilderte Stromlinienbild der Abb. VI, 71: Reine Potentialströmung. Aber dies bleibt nicht so, wie schon mehrfach betont, weil sich die Reibung in der Grenzschicht bemerkbar macht und das Stromlinienbild in der Folge total umgestaltet. Wenn bei der Potentialströmung der Abb. VI, 71 ein Teilchen den Punkt P erreicht hat, so kommt es zur Ruhe: Dort ist Maximaldruck, in C und D Minimaldruck, da dort maximale Geschwindigkeit herrscht; in P' ist wieder Maximaldruck und die Geschwindigkeit gleich Null. Betrachten wir etwa die Oberseite PCP' des Zylinders (für die Unterseite gilt das gleiche): Ein in P zur Ruhe gekommenes Flüssigkeitsteilchen unterliegt dem von P nach C wirkenden D r u c k g e f ä l l e , das die beschleunigende Kraft für dieses Teilchen darstellt; es bewegt sich also von P nach C in R i c h t u n g dieser K r a f t und gewinnt schließlich in C seinen Maximalbetrag an kinetischer Energie. Durch diese wird es befähigt, sich nunmehr von C nach P' entgegen der w i r k e n d e n K r a f t zu bewegen; denn hier wirkt das Druckgefälle in der Richtung von P' nach C. Aber die aufgespeicherte kinetische Energie ist gerade so groß, daß das Teilchen bis zum Punkt P' strömen kann, in welchem nunmehr seine Geschwindigkeit völlig aufgezehrt ist, wenn von Reibung abgesehen wird. Das Flüssigkeitsteilchen verhält sich energetisch genau wie eine Pendelkugel. Wird sie gehoben und ohne Anfangsgeschwindigkeit losgelassen, so gewinnt sie kinetische Energie, deren Maximum sie im tiefsten Punkte ihrer Bahn erreicht, wobei sie sich in Richtung der Schwerkraft (bzw. einer Komponente derselben) bewegt. Die erlangte Geschwindigkeit reicht — bei fehlender Reibung! — gerade aus, um die Pendelkugel gegen die Schwerkraft wieder bis zur alten Höhe zu heben. A b e r weder das P e n d e l e r r e i c h t seine a l t e Höhe, n o c h das F l ü s s i g k e i t s teilchen den h i n t e r e n S t a u p u n k t P', wenn R e i b u n g v o r h a n d e n i s t ; vielmehr

Umströmung fester Körper

335

kommt das Teilchen z w i s c h e n C und P', also vor P', zur Ruhe und unterliegt dann a u f d e r I n n e n s e i t e der von P' nach C wirkenden Kraft, außen der von der äußeren Strömung ausgeübten (schwachen) Reibungskraft, die in umgekehrter Richtung wirkt. Das zur Ruhe gekommene Flüssigkeitsteilchen wird also zur Umkehr gezwungen. Mit anderen Worten: Es bildet sich — auf der Unterseite entsprechend — auf der Rückseite des Zylinders (auch der Kugel oder Platte) ein Wirbelpaar von gleichem, aber entgegengesetztem Rotationssinn aus, das die Strömung auf der Rückseite also völlig anders gestaltet, als auf der Vorderseite. Die Abb. VI, 100a bis lOOd zeigen die allmähliche Ausbildung und Ablösung des Wirbelpaares hinter einem Zylinder bei größerer Strömungsgeschwindigkeit.

Abb. VI, 100. Allmähliche Ausbildung und Ablösung des Wirbelpaares hinter einem Zylinder

Man beachte, daß für eine den Zylinder u n d das Wirbelpaar gleichzeitig umschließende Kurve die Zirkulation nach wie vor Null ist: V o r der Wirbelablösung ist das selbstverständlich, da ja eine Potentialströmung ohne Zirkulation vorlag, n a c h der Ablösung kompensieren sich die Einzelzirkulationen der beiden Wirbel gerade: Der K e l v i n s c h e Satz von der Erhaltung der Zirkulation längs einer flüssigen Linie ist also in der Tat erfüllt.

Während nun die Flüssigkeit an dem Zylinder vorbeiströmt, nimmt sie auf der Hinterseite das Wirbelpaar mit, das sich immer weiter von seinem Entstehungsort entfernt; dann lösen sich wieder neue Wirbelpaare vom Zylinder ab, und so setzt sich der Vorgang fort. Es werden also durch die Strömung dauernd neue Wirbel geschaffen. Darauf beruht es, daß der Zylinder (Kugel, Platte) jetzt einen Druckwiderstand erleidet. Man sieht das am besten ein, wenn man umgekehrt den Zylinder sich mit konstanter Geschwindigkeit durch eine ruhende Flüssigkeit hindurch bewegen läßt. Da stets neue Wirbel hinter dem Hindernis entstehen, die doch Energie besitzen, so muß diese Energie auf Kosten der kinetischen Energie des Zylinders geliefert werden, d. h. dessen Geschwindigkeit abnehmen — falls sie nicht durch eine auf den Zylinder wirkende Kraft konstant gehalten wird. D a ß a b e r e i n e K r a f t n o t w e n d i g ist, u m d i e G e s c h w i n d i g k e i t k o n s t a n t zu h a l t e n , h e i ß t e b e n , d a ß ein W i d e r s t a n d e x i s t i e r t . Theoretisch hat sich der Fall des Widerstandes einer (unendlich langen) Platte berechnen lassen, die senkrecht gegen die Flüssigkeit geführt wird (v. K ä r m ä n ) . Dabei hat sich herausgestellt, daß die sich ablösenden Wirbel — das gilt auch für Zylinder und Kugel —, die in ihrer

336

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Gesamtheit eine „Wirbelstraße" bilden, sich im stationären Zustand n i c h t g l e i c h z e i t i g oben und unten, s o n d e r n a b w e c h s e l n d , einer oben, dann einer unten, dann wieder einer oben usw. a b l ö s e n . In der Wirbelstraße sind daher die Wirbel gegeneinander versetzt, wie in Abb. VI, 101 a das theoretische und in Abb. VI, 101 b das experimentell gewonnene Strom-

a

linienbild zeigen. Nach den Rechnungen von v. K ä r m ä n ergibt sich für den Widerstand einer unendlich langen Platte (pro Längeneinheit) der Ausdruck (A = Fläche pro Längeneinheit): (VI, 40a)

WPl = fn-j-v2-A

=

l,60-j-v2-A,

d. h. ein konstanter Widerstandsbeiwert fpi = 1,60, während experimentell gefunden wurde fpi — 1,56. Für einen Zylinder ergab sich theoretisch (A = angeströmte Fläche pro Längeneinheit) : (VI, 40 b)

WZyl = FZyl-j-v2-A

= 0,92

- ~ V

2

- A ,

d. h. ein theoretischer Widerstandsbeiwert / z y i = 0,92, während experimentell gefunden wurde /zyi = 0,90; in beiden Fällen sind also Theorie und Experiment in bester Übereinstimmung. Man kann sich in verschiedener Weise experimentell überzeugen, daß die sich ablösenden Wirbel

Umströmung fester Körper

337

zeitlich gegeneinander versetzt sind. Hält man in eine Wasserströmung eine Latte, so vibriert diese um ihre Längsachse hin und her, im Rhythmus der sich links und rechts n a c h e i n a n d e r ablösenden Wirbel. Führt man einen Stab rasch durch die Luft, so vernimmt man einen Ton (Hiebton), dessen Frequenz gleich der Zahl der sich pro Sekunde ablösenden Wirbel ist. In ruhiger See kann man hinter fahrenden Schiffen kilometerlange Wirbelstraßen beobachten. Man kann also nach allem nicht zweifeln, daß man hier den Mechanismus des hydrodynamischen Druckwiderstandes richtig erkannt hat. Besonders beachtenswert ist es, daß der W i d e r s t a n d hier im vollen Einklang mit der Erfahrung proportional der zweiten P o t e n z der G e s c h w i n d i g k e i t ist, während bei der schleichenden Bewegung — Gl. (VI, 32 und VI, 33) — der Z ä h i g k e i t s w i d e r s t a n d p r o p o r t i o n a l d e r G e s c h w i n d i g k e i t s e l b s t ist. F e r n e r ist der D r u c k w i d e r s t a n d v ö l l i g u n a b h ä n g i g v o n der Z ä h i g k e i t rj, w ä h r e n d der Z ä h i g k e i t s w i d e r s t a n d ihr p r o p o r t i o n a l ist. Es tritt zwar in den Gin. (VI, 36 a) und (VI, 37 a) scheinbar auch die zweite Potenz der Geschwindigkeit im Widerstandsgesetz für die schleichende Bewegung auf, aber nur scheinbar, denn die Widerstandsziffer ist proportional 1 ¡Re = rjlrgv, wodurch sich die zweite Potenz von v wieder gegen die erste kürzt! Auf die gleiche Weise erklärt sich bei der schleichenden Bewegung die Proportionalität von W mit 7], hier dagegen die Unabhängigkeit von rj. Hier haben wir wirklich Proportionalität mit v2 und Unabhängigkeit von >;, dafür ist aber die Widerstandsziffer auch konstant (unabhängig von Re). Durch einen Kunstgriff kann man ( P r a n d t l ) die Wirbelablösung z. B. hinter einem Zylinder beseitigen. Man nimmt einen Hohlzylinder, in dessen Wandung man an den kritischen Stellen der Rückseite, an denen die Wirbelablösung stattfindet, Öffnungen bohrt und nun von innen her die außen strömende Flüssigkeit (die „Grenzschicht") a b s a u g t : Dann unterbleibt die Ablösung der Wirbel — und der Druckwiderstand verschwindet! Die Abb. VI, 102 stellt schematisch den Vorgang dar.

Man kann auch durch Rotation des Zylinders — etwa im Uhrzeigersinn — die Wirbelablösung (und zwar beim gewählten Rotationssinn auf der Oberseite) verhüten; auf der Unterseite wird dann allerdings die Wirbelbildung noch verstärkt, so daß man um einen rotierenden Zylinder das Bild der Abb. VI, 103 erhält. Damit ist nun aber die Symmetrie zwischen der unteren und oberen Hälfte zerstört, und nach der B er n o u Iii sehen Gleichung ergibt sich eine Auftriebskraft, s e n k r e c h t z u r u r s p r ü n g l i c h e n P a r a l l e l s t r ö m u n g . D i e s ist die E r k l ä r u n g des M a g n u s - E f f e k t e s : Die Rotation des Zylinders erzeugt wegen der Reibung in der Grenzschicht eine Zirkulationsströmung; um den auf der Unterseite abgelösten Wirbel erfolgt die Zirkulation im umgekehrten Sinn, so daß für eine Zylinder und Wirbel gleichzeitig umhüllende Kurve die Gesamtzirkulation gleich Null ist, wie sie es auch vor dem Einsetzen der Rotation war. Der Kelvinsche Satz über die Erhaltung der Zirkulation längs einer flüssigen Linie bleibt also auch hier erhalten, wie es sein muß. 22

Bergmann-Sdiaefer I, 8. Aufl. 1969

338

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

Wenn die obige Erklärung der Wirbelablösung zutrifft, so kann man fragen, wieso denn überhaupt „Stromlinienkörper" möglich sind. Denn auch bei diesen wirkt ja an der Hinterseite die Reibung in der Grenzschicht verzögernd, so daß man schließen sollte, daß die Flüssigkeitsteilchen vor dem hinteren Staupunkt zur Ruhe kommen, umkehren, und sich so ein Wirbel ablöst. Der Unterschied ist aber folgender: Bei Zylinder, Kugel, Platte und ähnlichen nicht stromlinienförmigen Körpern erfolgt der D r u c k a n s t i e g auf e i n e r s e h r k u r z e n S t r e c k e (in Abb. VI, 71 zwischen C und P'), und die vom Druck herrührende Kraft ist daher groß. Anders beim Stromlinienkörper: Der g e s a m t e Druckanstieg ist zwar ebenso groß, aber er verteilt sich auf eine längere Strecke. Die Kraft ist also im gleichen Verhältnis kleiner, als der Weg länger ist. Nun wirkt auf die Flüssigkeitsteilchen auch die kleine Reibungskraft der a u ß e n vorbei strömenden Flüssigkeit, und zwar im a n t r e i b e n d e n Sinn. Diese kleine Reibungskraft ist bei Stromlinienkörpern imstande, die entgegengesetzte schwache Druckkraft zu kompensieren, nicht aber die starke, die hinter anders geformten Körpern vorhanden ist. Bei letzteren erfolgt also Wirbelablösung, die bei Stromlinienkörpern praktisch vermieden werden kann.

62. Auftrieb und Widerstand eines Tragflügels; Motorflug, Gleitflug, Segelflug Daß ein rotierender Zylinder in einer Parallelströmung einen Auftrieb erfährt, erklärt sich durch die Zirkulationsströmung, die von der Rotation erzeugt wird. W o h e r a b e r b e k o m m t e i n T r a g f l ü g e l A u f t r i e b ? Auch hier ist die Zirkulation um ihn von großer Bedeutung. Aber es ist nicht ohne weiteres verständlich, wie sie entsteht, da doch von einer Rotation des Tragflügels nicht die Rede sein kann. Im einfachsten Fall kann als Tragflügel eine ebene Platte genommen werden, die unter einem kleinen Winkel gegen die Strömung geneigt ist. Besser geeignet ist aber eine durchgebogene, gewölbte Platte; noch besser und praktisch allein im Gebrauch sind Formen von solchen Profilen, die aus einem Stromlinienprofil (z.B. Abb. VI,75) hervorgehen, wenn man es etwas durchbiegt. Die weiter unten gezeichneten Profile sind alle von dieser Art: Das Vorderende ist abgerundet, die Hinterkante dagegen spitz zulaufend. Man kann sich experimentell überzeugen, daß eine Zirkulationsströmung um den Tragflügel existieren muß: Man zeigt, daß unterhalb des Tragflügels höherer, oberhalb kleinerer Druck herrscht. Nach der B e r n o u l l i s c h e n Gleichung bedeutet das auf der Oberseite größere, auf der Unterseite kleinere Geschwindigkeit, und es ist nur eine andere Ausdrucksweise für diesen Sachverhalt, wenn wir sagen, über die Parallelströmung sei eine Zirkulation in bestimmtem Umlaufssinn überlagert; denn diese Überlagerung erzeugt gerade die erforderliche Geschwindigkeitsverteilung.

Abb. VI, 104. Kraftverteilung am Tragflügel Den Druck an den verschiedenen Stellen eines Tragflügels mißt man in bekannter Weise — siehe z. B. die Druckmessung an der Kugel (Abb. VI, 73). Wenn man das Flügelprofil der Abb. VI, 104 zugrunde legt, so erhält man die dort eingezeichnete Kraftverteilung für einen

Auftrieb und Widerstand eines Tragflügels

339

Anstellwinkel oc von etwa 11°, die durch den D r u c k ü b e r s c h u ß bzw. Unterdruck gegen den statischen Druck der ungestörten Strömung entsteht. Unterdruck ist kenntlich daran, daß die Pfeile vom Körper fortzeigen; bei Drucküberschuß weisen sie auf ihn hin. Man erkennt aus der Figur, daß auf der O b e r s e i t e eine erhebliche D r u c k v e r m i n d e r u n g (ein „Sog") vorhanden ist, im Mittel etwa doppelt so groß, wie der D r u c k ü b e r s c h u ß auf der Unterseite. Ein Zahlenbeispiel sei gegeben: Der mittlere Sog beträgt etwa 46 mm Wasserdruck, der mittlere Überdruck etwa 20 mm Wassersäule, die gesamte Druckdifferenz zwischen unten und oben ergibt also 66 mm Wassersäule; das bedeutet als gesamte „Luftkraft" 66 kp/m 2 . Im übrigen hängt nicht nur dieser Zahlenwert erheblich vom Anstellwinkel ab, sondern auch der Angriffspunkt der Luftkraft. Jedenfalls ergibt sich aus solchen Messungen zwingend die E x i s t e n z e i n e r Z i r k u l a t i o n s s t r ö m u n g , und es handelt sich jetzt darum, zu verstehen, wie sie sich herausbilden kann. Denken wir uns einen Tragflügel zunächst in Ruhe. In Abb. VI, 105 ist ein Schnitt durch einen als unendlich lang betrachteten Flügel dargestellt, damit in jedem Schnitt die gleichen Verhältnisse herrschen. Wird der Flügel in Bewegung versetzt, so teilt sich in bekannter Weise die Stromlinie am vorderen Staupunkt P. Die Luft strömt teils auf der Ober-, teils auf der Unterseite, um sich am Hinterende P' wieder zu vereinigen. Wäre — auch in der Grenzschicht — keine Reibung vorhanden, so kämen beide Luftströme in P' mit der gleichen Geschwindigkeit an. Da aber die Reibung gerade hiei n i c h t vernachlässigt werden kann, so ist die Geschwindigkeit der oberen Strömung in P' kleiner als die der unteren, weil die Oberseite länger ist als die Unterseite: Im Punkte P' bildet sich also im Moment des Anfahrens eine U n s t e t i g k e i t s -

Abb. VI, 105. Bildung des Anfahrwirbels beim Tragflügel

V"-' /

f l ä c h e aus. Diese Unstetigkeitsflächen sind aber, wie wir wissen, sehr labil und zerfallen in Einzelwirbel, wie wir in Abb. VI, 97 sahen. Es bildet sich also auch hier hinter dem anfahrenden Tragflügel ein Wirbel („Anfahrwirbel") in dem aus Abb. VI, 105 ersichtlichen Umlaufssinn aus, der um sich herum eine Zirkulationsströmung im gleichen Sinn hervorbringt. Ziehen wir nun eine Kurve, die sowohl den Tragflügel wie den Wirbel umschlingt, so hatte die Zirkulation v o r dem Anfahren längs derselben den Wert r = 0. Nach dem K e l v i n sehen Satz muß dieser Wert also auch nachher erhalten bleiben, mit anderen Worten: E s m u ß s i c h u m d e n T r a g f l ü g e l e i n e Z i r k u l a t i o n s s t r ö m u n g v o m g l e i c h e n W e r t wie u m d e n W i r b e l , a b e r v o n u m g e k e h r t e m V o r z e i c h e n , b i l d e n . Diese Zirkulation bildet sich in gleichem Maße allmählich aus wie der Wirbel, und ihr Effekt ist der, d a ß d i e o b e r e G e s c h w i n d i g k e i t a l l m ä h l i c h z u n i m m t , d i e u n t e r e a l l m ä h l i c h a b n i m m t . Dies geht so lange vor sich, bis der Geschwindigkeitssprung in P' ausgeglichen ist: Nunmehr ist sowohl der Wirbel als auch die Zirkulationsströmung um den Tragflügel fertig ausgebildet. Der Anfahrwirbel wird von der Strömung mit fortgeführt, die Zirkulation um den Tragflügel bleibt erhalten, ihr Auftreten ist somit geklärt. Im stationären Zustand fließt die Strömung an der Hinterkante nunmehr glatt ab. Es ist praktisch eine Potentialströmung um einen gewölbten Stromlinienkörper, wenigstens wenn, wie hier, der Tragflügel als unendlich lang betrachtet wird, d. h. wenn in jedem Querschnitt gleiche Verhältnisse herrschen. Es e x i s t i e r t f ü r d e n u n e n d l i c h l a n g e n T r a g f l ü g e l a l s o k e i n n e n n e n s w e r t e r D r u c k w i d e r s t a n d p r o L ä n g e n e i n h e i t (wie b e i k e i n e m S t r o m l i n i e n k ö r p e r ) ; lediglich der von der Zähigkeit der L u f t h e r r ü h r e n d e „ R e i b u n g s w i d e r s t a n d " ist v o r h a n d e n . Diese einfachen Verhältnisse ändern sich allerdings bei den in der Praxis natürlich stets vorliegenden e n d l i c h e n T r a g f l ü g e l n : Hier existiert, auch abgesehen von dem kleinen Reibungswiderstand, ein Druckwiderstand infolge dauernder Wirbelablösung an den Enden des Flügels (sogenannter Randwiderstand). Ohne hier näher 22*

340

Mechanik der Flüssigkeiten und Gase

darauf einzugehen, kann man folgendes sagen: Die Druckverteilung um den Tragflügel (etwa gemäß Abb. VI, 104) liefert einerseits den senkrecht nach oben gerichteten Auftrieb A, anderseits den nach hinten gerichteten Widerstand W\ die Resultierende aus beiden, die sogenannte Luftkraft L, ist also gegen die Vertikale nach rückwärts geneigt: ihre Vertikalprojektion ist gleich A, die Horizontalprojektion gleich W\ auch dies ist in Abb. VI, 104 eingetragen. Es handelt sich nun um die Frage, welches Profil der Tragflügel haben muß, um möglichst großen Auftrieb A und möglichst kleinen Widerstand W zu liefern; ferner muß bestimmt werden, wie beide Größen vom Anstellwinkel abhängen. Diese Aufgabe muß experimentell gelöst werden: Man hängt das zu untersuchende Tragflügelmodell frei beweglich im Windkanal unter verschiedenen Anstellwinkeln « auf und bestimmt mit einer sogenannten Zweikomponentenwaage die beiden Kraftanteile A und IV als Funktion von x. Das Prinzip der Zweikomponentenwaage geht aus der Abb. VI, 106 hervor. Ein Waagebalken ist gleichzeitig um eine vertikale und eine horizontale Achse drehbar und trägt an seinem einen Ende den im Windkanal zu untersuchenden Körper, z. B. einen Tragflügel T. Auf der anderen Hälfte des Waagebalkens befindet sich ein

Abb. VI, 106. Zweikomponentenwaage zur Bestimmung von Auftrieb und Widerstand verschiebbares Gewicht G, um die Waage mit dem zu untersuchenden Körper ins Gleichgewicht zu bringen, bevor sich der Körper im Luftstrom befindet. Außerdem sind an dem Ende des Waagebalkens zwei Federwaagen F i und F i in vertikaler und horizontaler Richtung angebracht, mit deren Hilfe sich die auf den Körper im Luftstrom ausgeübten Kräfte kompensieren und messen lassen. Ähnlich wie man W in der Form fw • (o/2) v2 • S darstellt, bringt man auch A auf die gleiche Form, so daß man mit zwei Beiwerten ¡a (Auftriebsziffer) und fw (Widerstandsziffer) erhält: A=

fA-j-v2-S,

W=

fw-^v2-S.

(VI, 41)

S ist die Fläche des Tragflügels. Auch hier bezieht man den Widerstand auf die T r a g f l ü g e l f l ä c h e — nicht wie bisher auf die „angeströmte" Fläche, was j a nur einen konstanten Faktor in fw bedeutet. Aus den oben dargelegten Messungen gewinnt man fA und fw als Funktionen von « (Abb. VI, 107 und VI, 108). Beide Kurven werden zuweilen nach L i l i e n t h a l in einem Polardiagramm (Abb. VI, 109) zusammengefaßt, wobei fA gegen fw aufgetragen ist; die beigeschriebenen Zahlen bedeuten den Anstellwinkel. Das Verhältnis (VI, 4 1 a )

Ä~fA

wird als Gleitzahl bezeichnet, weil sie beim Gleitflug eine Rolle spielt.

Auftrieb und Widerstand eines Tragflügels

Abb. VI, 107. Auftriebsziffer fa als Funktion des Anstellwinkels oc

341

Abb. VI, 108. Widerstandsziffer fw als Funktion des Anstellwinkels

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4) als Vertreter dieses Systems.

378

Molekularphysik

Das monokline System hat gleichfalls drei ungleichwertige (nicht vertauschbare) Achsen, die aber nicht mehr alle aufeinander senkrecht stehen; nur eine dieser Achsen (Y) steht senkrecht auf der Ebene der beiden anderen, die selbst einen beliebigen Winkel miteinander bilden können (Abb. VII, 21). Die erstere Achse ist die einzige Symmetrieachse, und zwar zweizählig; die Ebene der beiden anderen Achsen ist die einzige Symmetrieebene. Abb. VII, 21 b zeigt einen monoklinen Kristall (Gips: CaSCU).

Abb. VII, 21. Monoklines Kristallsystem a) Achsenlage b) Gipskristall

Abb. VII, 22. Triklines Kristallsystem a) Achsenlage b) Kupfersulfatkristall

Das trikline oder asymmetrische System ist kristallographisch charakterisiert durch drei ungleichwertige Achsen, die beliebige Winkel miteinander bilden können; es hat keine Symmetrieachsen oder Symmetrieebenen, im allgemeinen jedoch ein Symmetriezentrum. Abb. VII, 22 a bringt das Achsensystem zur Veranschaulichung, und Abb. VII, 22 b zeigt Kupfersulfat (CuS0 4 • 5 H2O) als Vertreter dieses Systems. Außer den bisher besprochenen Symmetrieoperationen, die zu den 32 Punktgruppen geführt haben, gibt es noch zwei weitere Symmetrieoperationen. Sie treten schon in einfachen Raumgittern auf, die aus identischen Atomen aufgebaut sind. Das Diamantgitter und das Gitter mit hexagonal dichtester Kugelpackung sind Beispiele dafür. Sie besitzen Symmetrieoperationen, die Verknüpfungen zwischen Translationen und den oben aufgezählten translationsfreien Symmetrieoperationen darstellen. Wir wollen diese Symmetrieoperationen an der hexagonal dichtesten Kugelpackung und am Diamantgitter studieren.

Abb. VII, 23

Abb. VII, 24

Abb. VII, 23. Räumliche Anordnung der Gitterbausteine und gegenseitige Lage einer özähligen Schraubenachse 6;!, einer Gleitspiegelebene c und einer Spiegelebene m im hexagonal dichtgepackten Gitter. In der Mitte zwischen den (00 • 1)-Ebenen befindet sich im hexagonal dichtgepackten Gitter eine (00 • 2)-Netzebene. Die Schnittlinie zwischen einer Gleitspiegelebene c und einer Spiegelebene m ist die ¿zählige Schraubenachse 6 3 Abb. VII, 24. Wie Abb. VII, 23, jedoch Projektion der (00 • 2)-Netzebene (O) auf die (00 • 1 )-Netzebene ( • )

Struktur der festen Körper; Kristalle

379

Das einfache hexagonale Gitter ist ein Bravais-Gitter und besitzt eine özählige Drehachse, die mit der c-Achse zusammenfällt. Im hexagonal dicht gepackten Gitter ist diese Achse nur noch 3zählig, was wir unmittelbar an der Lage der Gitterbausteine in der im Abstand j c liegenden (00 • 2)-Netzebene erkennen (Abb. VII, 23 u. 24). Parallel zur 3zähligen Achse liegt in diesem Gitter eine neue Symmetrieachse. Sie durchstößt im Punkt A der Abb. VII, 23 die (OO-l)-Ebene, auf die in der Abb. VII, 24 die im Abstand \ c darunterliegenden Gitterbausteine der (00 • 2)-Ebene projiziert sind. Wird mit einer Drehung von 60° um diese Achse gleichzeitig eine Translation des Gitters um den Betrag % c in Achsenrichtung ausgeführt, so gelangt das Gitter zur Deckung. Wir stellen fest: Drehung und Translation parallel zur Drehachse ergeben zusammen eine Symmetrieoperation. Diese Symmetrieoperation wird Schraubung genannt. Das dazugehörige Symmetrieelement heißt Schraubenachse. D a s h e x a g o n a l d i c h t gep a c k t e G i t t e r b e s i t z t a l s o e i n e 6 z ä h l i g e S c h r a u b e n a c h s e m i t der G a n g h ö h e i c. S c h r a u b e n a c h s e n sind d u r c h e i n e n I n d e x n g e k e n n z e i c h n e t (X n ), d e r so g e w ä h l t ist, d a ß der Q u o t i e n t n/X die G a n g h ö h e a n g i b t . Die 6zählige Schraubenachse des hexagonal dicht gepackten Gitters wird also 63 geschrieben. Im einfachen hexagonalen Gitter gibt es 2 Sätze von je 3 gleichwertigen Spiegelebenen, deren gemeinsame Schnittlinie die 6zählige Drehachse ist. Der eine Satz von 3 Spiegelebenen ist auch im hexagonal dicht gepackten Gitter vorhanden, wie aus Abb. VII, 24 hervorgeht. An die Stelle der anderen 3 Spiegelebenen des einfachen hexagonalen Gitters treten im hexagonal dicht gepackten Gitter (als Folge der Schraubenachse) 3 neue Symmetrieelemente. Damit das Gitter zur Deckung kommt, muß gleichzeitig mit der Spiegelung eine Translation um \ c in Richtung der c-Achse ausgeführt werden. Man nennt deshalb diese Symmetrieoperation Gleitspiegelung und das ihr zugehörige Symmetrieelement Gleitspiegelebene. Im G e g e n s a t z zu den e i n f a c h e n S p i e g e l e b e n e n , die m i t m b e z e i c h n e t w e r d e n , k e n n z e i c h n e t m a n G l e i t s p i e g e l e b e n e n d u r c h die G l e i t r i c h t u n g . Da die Gleitung im hexagonal dicht gepackten Gitter in Richtung der c-Achse erfolgt, werden hier die Gleitspiegelebenen mit c bezeichnet. O

3

/O ra

^

a

ri —(J

a

, 1

^ / T v L i

Diagonalgleitung 3

(0201-Ebene

3 Abb. VII, 25. Diagonalgleitung im Diamantgitter: a) Projektion auf die (OOl)-Ebene b) Projektion auf die (020)-Ebene O Atome in der Projektionsebene (5 Atome im Abstand \ a über der Projektionsebene 3 Atome im Abstand £ a über der Projektionsebene 9 Atome im Abstand f a über der Projektionsebene Die Lage der Gitterbausteine nach erfolgter Diagonalgleitung ist schraffiert

O

3

3

O ®

O

b

O

|

3

- 2 —

Sleitspiegelebene

Q

-O (30 i-zählige Schraubenachse

Vergleicht man das allseitig kubisch flächenzentrierte Gitter mit dem Diamantgitter, das aus zwei um ein Viertel der Raumdiagonale versetzten allseitig flächenzentrierten Gittern aufgebaut ist, so findet man ganz ähnliche Symmetrieveränderungen. An die Stelle der drei 4zähligen Drehachsen treten drei 4zählige Schraubenachsen, von denen in Abb. VII, 25 eine gezeigt ist. Den drei Spiegelebenen, die im allseitig flächenzentrierten Bravais-Gitter senkrecht zu den

Molekularphysik

380

drei 4zähligen Drehachsen liegen, entsprechen im Diamantgitter drei Gleitspiegelebenen, auf denen die 4zähligen Schraubenachsen senkrecht stehen. Eine der Gleitspiegelebenen ist ebenfalls in Abb. VII, 25 dargestellt. Die Gleitoperation kommt durch zwei aufeinanderfolgende Translationen um ^ «, die einen rechten Winkel einschließen, zustande. Das Resultat ist eine Diagonalgleitung. Diese Gleitspiegelebenen werden daher mit d (diagonal) bezeichnet. Die 4zähligen Schraubenachsen besitzen, wie aus Abb. VII, 25 hervorgeht, die Ganghöhe J a und sind deshalb durch 4i gekennzeichnet. Allgemein läßt sich über die Gleitung folgendes aussagen: Sind die Gitternetze parallel zur Gleitspiegelebene einfach primitiv aus den Translationsvektoren a und b gebildet, dann kann die Gleitung oder + b) sein; und sie wird mit a, b und n bezeichnet. Sind die Netze flächenzentriert, dann sind auch Gleitungen mit viertelzähligen Beträgen von a und b möglich; diese Gleitungen werden allgemein durch den Buchstaben d gekennzeichnet. Diese beiden Symmetrieelemente, die Schraubenachse und die Gleitspiegelebene, kann man nun mit den Punktsymmetrieelementen auf alle möglichen Weisen kombinieren. Es gibt insgesamt 230 mögliche Kombinationen, die man Raumgruppen nennt, und folglich ebenso viele Raumgitter unterschiedlicher Symmetrie. Die Raumgruppen von einigen wichtigen Gittern sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Raumgruppen von einigen wichtigen Gittern Gitter

Raumgruppe (Hermann Mauguin) gekürzt vollst.

Beispiel

Gitterkonstanten in [Ä]

Innenzentriertes kubisches B r a v a i sGitter allseitig flächenzentriertes kubisches Bravais-Gitter Diamantgitter Hexagonal dicht gepacktes Gitter .

I 4/m 3 2jm

Im3 m

Na

a = 4,2906

F4/m 3 2/m FAild 3 2/m P ßz/rn 2Im 2/c

Fm3 m Fd 3m P 63 ¡m m c

Cu C Mg

CsCl-Gitter NaCl-Gitter Zinkblendegitter Wurtzitgitter

P 4/m 3 2 / m F 4Im 3 2Im F4 3 m P 63 m c

Pm3m Fm3 m F~4 3m P 63 m c

CsCl NaCl ZnS ZnS

a a a c a a a a c

= = = = = = = = =

3,615 3,567 3,203; 5,200 4,121 5,639 5,425 3,819; 6,247

Die Symbole, aus denen die Raumgruppen gebildet sind, bedeuten folgendes: I, F, P geben die Translationsgruppe an. I = innenzentriertes kubisches Gitter F = allseitig flächenzentriertes kubisches Gitter P = primitives oder hexagonales Gitter Zahlen geben die Zähligkeit von Drehachsen an. Wird die Zähligkeit mit X bezeichnet, dann bedeuten: X = X-zählige Inversionsdrehachse Xn = X-zählige Schraubenachse mit der Ganghöhe n/X X/m = X-zählige Drehachse und senkrecht dazu eine Spiegelebene m Gleitspiegelebenen sind durch ihre Gleitrichtungen gekennzeichnet (z. B. c = Gleitung in Richtung der c-Achse, d = Diagonalgleitung).

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

381

68. Kristallwachstum und Kristallbaufehler Wir wenden uns n u n der F r a g e des Entstehens u n d Wachsens v o n Kristallen zu. In N r . 67 w u r d e gezeigt, d a ß sich der kristalline Z u s t a n d gegenüber den anderen Aggregatzuständen der Materie durch die geometrische O r d n u n g der Bausteine (Atome, Ionen, Moleküle) auszeichnet. D a diese O r d n u n g sich über m a k r o s k o p i s c h e Bereiche erstreckt, wird sie a u c h Fernordnung genannt. Wir sahen, d a ß sich die anziehenden u n d abstoßenden K r ä f t e , die zwischen den Bausteinen wirken, in der O r d n u n g des Kristallgitters gegenseitig kompensieren, so d a ß die B a u steine stabile Gleichgewichtslagen, die sogenannte G l e i c h g e w i c h t s k o n f i g u r a t i o n , annehmen. In dieser Gleichgewichtskonfiguration ist die potentielle Energie der Bausteine a m niedrigsten. Wir sagen, das System besitzt in der Gleichgewichtskonfiguration ein M i n i m u m der potentiellen Energie. Zum besseren Verständnis der Kristallisationsvorgänge soll zuerst einiges über den umgekehrten Prozeß, den Schmelzvorgang, gesagt werden. Wir haben bisher die Kristallgitter als starr betrachtet. Das gilt jedoch nur am absoluten Nullpunkt der Temperatur, wenn vom Quanteneffekt der prinzipiellen Unschärfe abgesehen wird. Auf Grund der quantenmechanischen Unschärfe kann ein Kristallgitter selbst am absoluten Nullpunkt der Temperatur nicht als starres Gebilde angesehen werden. Die Gitterbausteine besitzen bei T — 0 °K noch eine sogenannte N u l l p u n k t s e n e r g i e , die eine mittlere örtliche Schwankung der Gitterbausteine bedingt. Bezogen auf den Abstand nächster Nachbaratome beträgt die Nullpunktsschwankung etwa 5 %. Gemessen an den örtlichen Schwankungen der Gitterbausteine bei hohen Temperaturen, die am Schmelzpunkt eines Kristalls etwa 20% betragen, sind die Nullpunktsschwankungen nicht vernachlässigbar klein. Mit zunehmender Temperatur beginnen die Bausteine des Kristallgitters um ihre Gleichgewichtslage zu schwingen. Zur potentiellen Energie des Gitters tritt nun der Anteil kinetischer Energie T hinzu, der von den Gitterschwingungen herrührt und mit der Temperatur des Kristalls anwächst. Die mit den Gitterschwingungen verbundenen Auslenkungen der Kristallbausteine aus der stabilen Gleichgewichtslage sind, wie die Potentialkurve als Funktion des Ortes in Abb. VII, 7 erkennen läßt, nicht symmetrisch. Nunmehr wird an Stelle der potentiellen Energie V die Gesamtenergie E gesetzt, also die Summe von kinetischer und potentieller Energie E = T + V. Bei konstanter Temperatur ist auch die Gesamtenergie konstant, und das schwingende System beschreibt in dieser Darstellung eine zur Abszisse r parallele Gerade, die durch die ausgezogene Potentialkurve begrenzt ist. Man erkennt nun, daß die Auslenkung aus der Ruhelage in Richtung kleinerer Abstände r zwischen den benachbarten Gitterbausteinen geringer ist als die Auslenkung in Richtung größerer Abstände. Das bedeutet aber, daß der mittlere Abstand nächster Nachbarn im Gitter größer ist als r0. Das Gitter hat sich also ausgedehnt. Mit steigender Temperatur wird die Asymmetrie der Auslenkung immer größer, und die thermische Ausdehnung des Kristalls nimmt weiter zu. Schließlich werden bei hohen Temperaturen die Auslenkungen so groß, daß Gitterbausteine aus ihrer ehemaligen Konfiguration in eine andere Konfiguration übergehen können. D a die Gitterbausteine dann nicht mehr um ihre ursprünglichen stabilen Gleichgewichtslagen im Gitter schwingen, sondern immer wieder neue Gleichgewichtslagen in anderen Konfigurationen finden, bricht die Fernordnung des Gitters zusammen, und der Kristall verliert seine Festigkeit, er schmilzt. Dieser Prozeß findet natürlich nicht gleichzeitig im ganzen Kristallvolumen statt, sondern beginnt auf Grund lokaler Energieschwankungen in irgendeinem oder mehreren kleinen Kristallbereichen von einigen hundert Gitterbausteinen zu einem Zeitpunkt besonders hoher Energiedichte. In der Regel beginnt der Schmelzvorgang an der Kristalloberfläche; denn ein Atom der Kristalloberfläche besitzt nicht die gleiche Konfiguration wie ein Atom im Kristallinnern. Das Fehlen der Bindungspartner im an die Oberfläche angrenzenden Raum verleiht den Oberflächenatomen gegenüber den Atomen im Innern eine etwas höhere potentielle Energie. Das bedeutet aber, daß sie leichter vom Kristall abgetrennt werden können als Atome des Kristallinnern. Während ein solcher submikroskopisch kleiner Schmelzbereich entsteht, kühlt er sich gleichzeitig aber auch ab, denn der Gewinn an potentieller Energie, hervorgerufen durch die im Mittel größeren Abstände der Atome in der Schmelze, wird mit einem Verlust an kinetischer Energie, also mit einem Wärmeverlust, erkauft. Jetzt kommt es darauf an, daß dieser Wärmeverlust sehr schnell ausgeglichen wird. Man muß dem Kristall die zum Schmelzen benötigte Wärme, die Schmelzwärme, zuführen. Erst dann können die kleinen schmelzflüssigen Bereiche wachsen, neue entstehen und rasch an Volumen gewinnen, bis endlich der gesamte Kristall geschmolzen ist. Solange der Kristall nicht völlig geschmolzen ist, behält er trotz Wärmezufuhr natürlich die gleiche Temperatur, die Schmelztemperatur, bei. Auch in der Schmelze gibt es noch eine gewisse Ordnung der Atome. Sie erstreckt sich aber nur über eine geringe Anzahl von Atomen und ist zeitlichen und örtlichen Schwankungen unterworfen. Es treten im Verlauf der Zeit immer wieder andere Atome zu einer Ordnung zusammen, so daß man von einer mittleren Nahordnung der Atome in der Schmelze spricht. D i e Kristallisation ist die U m k e h r u n g des Schmelzvorganges, der Ü b e r g a n g v o m Z u s t a n d geringer O r d n u n g in einen Z u s t a n d h o h e r O r d n u n g , wobei die z u m Schmelzen a u f g e w a n d t e

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Molekularphysik

Energie als Kristallisationswärme frei wird. Ist die Schmelze von hohen Temperaturen auf ihre Schmelztemperatur abgekühlt worden, so bilden sich wieder aufgrund der immer vorhandenen statistischen Energieschwankungen hier und da kleine kristalline Keime von einigen hundert Atomen. Sie schmelzen, ehe sie weiterwachsen können, wenn der Gewinn an kinetischer Energie, die Kristallisationswärme, nicht schnell genug abgegeben werden kann. Man muß also der Schmelze Wärme entziehen. Häufig bewirkt jedoch ein Wärmeentzug zunächst noch keine Kristallisation, sondern eine Temperaturabnahme der Schmelze, eine sogenannte Unterkühlung, bis dann plötzlich die Kristallisation einsetzt. Auch dieses Verhalten kann man verstehen. Man weiß, daß die Reichweite der Bindungskräfte im Kristallgitter über mehrere Atomabstände hinausgreift. Wenn nicht nur die nächsten Nachbaratome eines Atoms im Gitter, sondern auch seine übernächsten, seine drittnächsten und sogar seine viertnächsten Nachbaratome noch merklich zur Bindung des betrachteten Atoms beitragen, dann wird die Bindung dieses Atoms in einem kleineren Kristallkeim mit nur nächsten und übernächsten Nachbarn schwächer sein. Es wird deshalb eine höhere potentielle Energie besitzen als in einem großen Kristall. Das gilt natürlich auch für die anderen Atome des Kristallkeims. Ihre Bindung ist um so lockerer, je näher sie der Oberfläche des Keims sind. Jedes Atom der Schmelze besitzt aber neben seiner potentiellen Energie auch kinetische Energie, deren Größe von der Temperatur T der Schmelze abhängt. Im zeitlichen Mittel beträgt die kinetische Energie je Atom und Freiheitsgrad 1/2 kT. Jedes Atom hat 3 Freiheitsgrade der Translation, also insgesamt eine mittlere kinetische Energie von 3/2 kT{k ist die Boltzmann-Konstante). Findet sich nun zufällig eine Anzahl von Atomen in der Schmelze zu einer dem Kristallgitter entsprechenden Ordnung zusammen, so ist bei konstanter Temperatur dieser Keim nur dann stabil, wenn die Bindungsenergie der Atome an der Oberfläche des Keims größer als ihre kinetische Energie 3/2 kT ist. Es e x i s t i e r t a l s o bei k o n s t a n t e r T e m p e r a t u r u n t e r h a l b der S c h m e l z t e m p e r a t u r e i n e k r i t i s c h e G r ö ß e , die ein K e i m m i n d e s t e n s e r r e i c h e n m u ß , d a m i t er w e i t e r w a c h s e n k a n n . Die kritische Größe der Keime hängt von der Bindungsenergie der Atome und der Temperatur ab. Die Unterkühlung der Schmelze schafft die Voraussetzung für die Entstehung wachstumsfähiger Keime. Wenn der notwendige Unterkühlungsgrad erreicht ist, werden jedoch meist gleichzeitig mehrere Keime entstehen. Das Resultat der Kristallisation ist dann nicht ein einziger Kristall (Einkristall), sondern ein polykristallines Gebilde, das aus vielen kleinen völlig regellos zusammengewachsenen Kristallen besteht. Abb. VII, 26 zeigt ein Beispiel.

Abb. VII, 26. Polykristallines Gefüge (kohlenstoffarmer Stahl; 300fach vergrößert)

Soll ein Einkristall aus der Schmelze kristallisieren, dann darf nur ein K r i s t a l l k e i m in der Schmelze vorhanden sein. Das kann z. B. dadurch erreicht werden, daß in die Schmelze ein kleiner I m p f k r i s t a l l eingetaucht wird, dessen Temperatur immer etwas niedriger als die

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

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Schmelztemperatur ist, während die Schmelze konstant auf Schmelztemperatur gehalten wird. Nur in der unmittelbaren Umgebung des Impfkristalls ist die Schmelze geringfügig unterkühlt, und dadurch wird im Innern der Schmelze eine Keimbildung verhindert. So wächst allein der Impfkristall, und es entsteht schließlich ein großer Einkristall. Als Kiistallisationskeime können auch kleine Fremdpartikel, die sich in der Schmelze befinden, wirken. Ferner kann die Kristallisation an den Gefäßwänden begünstigt sein, so daß sich zunächst kleine kristalline Bereiche an den Wänden bilden. Bis jetzt wurde nur von der Kristallkeimbildung (und der Kristallisation) in der Schmelze gesprochen. Beispiele für diese Kristallisationsart sind die Metalle. Aber auch ein großer Teil der heute technisch so wichtigen Kristalle der Elemente Ge, Si und vieler halbleitenden Verbindungen werden aus der Schmelze gewonnen. Daneben gibt es noch andere Kristallisationsarten, von denen als wichtigste die Kristallisation aus der Lösung und die Kristallisation aus dem Dampf genannt werden sollen. Der die Kristallisation bestimmende Faktor ist auch hier die Keimbildung. Eine gesättigte Lösung von NaCl in Wasser kristallisiert im allgemeinen noch nicht aus. Erst eine Übersättigung führt zur Keimbildung und damit zur Kristallisation. Die zur Keimbildung notwendigen Übersättigungen können dabei sehr hoch sein. Bringt man dagegen einen kleinen Impfkristall in die gesättigte Lösung, so ist nur eine ganz geringe Übersättigung notwendig, damit der Kristall weiterwächst. Analoges gilt für die Kristallisation aus der Dampfphase. Die Keimbildung verlangt eine hohe Übersättigung, manchmal bis zu 50 %; während das Wachsen eines stabilen Keimes bei sehr geringer Übersättigung möglich ist.

Abb. VII, 27. Modell eines Kristallkeims aus würfelförmigen Bausteinen. Der erste Wachstumsschritt nach (a) ist die Bildung eines zweidimensionalen Keims (b). Dadurch werden energetisch günstige Plätze für die Anlagerung weiterer Bausteine geschaffen. D i e neue Netzebene wächst (c) durch Anlagerung von Bausteinen auf den Plätzen 2 und 3. Danach muß wieder ein zweidimensionaler Keim gebildet werden, usw.

Es soll nun das Kristallwachstum untersucht werden. Die folgenden Gedanken gehen im wesentlichen auf W . K o s s e l u n d l . N . S t r a n s k i zurück. Nachdem ein stabiler, wachstumsfähiger Keim gebildet worden ist, werden weitere Atome aus der Schmelze, aus dem Dampf oder aus der Lösung stabile Gitterplätze an der Oberfläche des Keimes vorfinden und so zum Wachsen des Kristalls beitragen. Es leuchtet ein, daß nicht alle Plätze auf der Oberfläche eines Keims gleich günstig für die Anlagerung neuer Atome sind. Energetisch am günstigsten werden solche Oberflächenplätze sein, an denen das hinzutretende Atom die meisten Bindungspartner vorfindet. Zur Veranschaulichung diene Abb. VII, 27. Hier ist das Modell eines Kristallkeims mit einem ein-

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Molekularphysik

fachen kubischen Gitter gezeichnet. Die Atome sind durch kleine würfelförmige Bausteine dargestellt. Der mit 3 bezeichnete Platz, die sogenannte Halbkristall-Lage, ist energetisch besonders günstig. Ein Atom, das diese Lage einnimmt, findet 3 nächste Nachbarn vor. Platz 2 ist mit nur 2 nächsten Nachbarn bereits ungünstiger. Auf Platz 1 findet ein neues Atom sogar nur einen nächsten Nachbarn. Die Atome werden also mit größter Wahrscheinlichkeit in Halbkristallagen an der Oberfläche angelagert werden. Dieser Schritt ist so oft wiederholbar, bis eine Atomreihe der wachsenden Netzebene vervollständigt ist. Als nächster Schritt muß ein Atom auf einen Platz 2 angelagert werden. Da dieses Ereignis nicht so häufig eintritt, wird das Wachstum etwas verzögert. Hat aber einmal ein Atom einen solchen Platz eingenommen, so gibt es wieder energetisch günstigere Plätze mit 3 nächsten Nachbarn, die schnell besetzt werden. Diese Prozesse wiederholen sich, bis eine Netzebene vollständig ausgebildet ist. Für das weitere Wachstum muß der Grundstein für eine neue Netzebene gelegt werden. Der Platz 1 mit nur einem nächsten Nachbarn ist energetisch so ungünstig, daß ein einzelnes Atom auf einer vollständigen Netzebene nur kurze Zeit verweilen wird. Erst wenn mehrere Atome sich zu einem zweidimensionalen, stabilen Keim zusammengefunden haben, kann die neue Netzebene über die Prozesse 2 und 3 weiter wachsen. Die Wachstumsgeschwindigkeit normal zu den Netzebenen eines ungestörten Kristalls hängt wesentlich von der Bildungshäufigkeit zweidimensionaler Keime ab. Deshalb ist nicht nur für die 3dimensionale Keimbildung, sondern auch für das Kristallwachstum eine, wenn auch sehr viel geringere Unterkühlung oder Übersättigung notwendig. Es kommt auch vor, daß Kristalle bereits bei viel geringerer Übersättigung wachsen, als für die zweidimensionale Keimbildung erforderlich ist. Die Ursache für dieses Verhalten ist ein bestimmter Wachstumsfehler des Kristallkeims, die sogenannte Schraubenversetzung: Enthält ein Kristallkeim, wie in Abb. VII, 34 dargestellt, eine Schraubenversetzung, so bilden die sonst übereinanderliegenden Netzebenen eine einzige, in sich zusammenhängende Schraubenfläche. Diese Schraubenfläche kann durch Anlagerung neuer Bausteine bei sehr viel geringerer Übersättigung weiter wachsen, da keine Notwendigkeit zur Bildung eines zweidimensionalen Keims besteht. Abb. VII, 28 zeigt ein Beispiel eines spiralförmig gewachsenen Kristalls mit Schraubenversetzung.

Abb. VII, 28. Spiralförmig gewachsener Kristall mit 2 Schraubenversetzungen; NaCl; (100)-Ebene. Die Stufen sind durch Goldpartikel sichtbar gemacht. Das Gold wird auf die erwärmte (150 bis 200 °C) NaCl-Oberfläche gedampft und wandert zu den Stufen der Versetzungen. Elektronenmikroskopische Aufnahme von H. Bethge Die Keimbildungshäufigkeiten auf verschiedenen, nicht gleichwertigen Netzebenen eines Kristalls können sich stark unterscheiden, da die Bindungen der Atome sowohl innerhalb der Netzebenen als auch zwischen den benachbarten parallelen Netzebenen im Kristallgitter für die einzelnen Netzebenenarten sehr verschieden sein können. Das hat zur Folge, daß ein Kristall normal zu einer Netzebenenart schneller wächst als zu anderen Netzebenenarten.

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Kristallwachstum und Kristallbaufehler

Wie Abb. VII, 29 veranschaulicht, werden die Netzebenen mit größter Wachstumsgeschwindigkeit den geringsten oder schließlich überhaupt keinen Anteil an der Oberfläche des Kristalls haben. Die Netzebenen, die aufgrund dieser Überlegungen die Oberfläche des Kristalls bilden, stellen die Gleichgewichtsform des Kristalls dar. Die Gleichgewichtsform kann sich aber nur ausbilden, wenn der Kristall ungehindert wachsen kann. Wird er durch äußere Einflüsse, z. B. durch Gefäßwände, behindert, so kann seine eigentliche Kristalltracht unterdrückt werden.

Abb. VII, 29. Wachstum eines Kristalls mit unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten v einzelner Netzebenen. Die Netzebene mit größter Wachstumsgeschwindigkeit v2 wird immer kleiner und verschwindet schließlich ganz

Analoges gilt auch für die Auflösung eines Kristalls. Dies zeigt sehr anschaulich folgender Versuch: Werden kugelförmig abgedrehte Kupfer-Einkristalle z. B. mit Salpetersäure geätzt, dann zeigen sich auf der Oberfläche charakteristische Ätzfiguren, die deutlich Würfel-, Oktaeder-, Dodekaederflächen oder Kombinationen von ihnen erkennen lassen. Der Kristall strebt also wieder seine Gleichgewichtsform an. Abb. VII, 30a und 30b zeigen zwei so geätzte KupferEinkristalle.

Abb. VII, 30. Kugelförmig abgedrehte Kupfer-Einkristalle; Oberfläche angeätzt. a) Rhombendodekaederzeichnung b) Kombination von Würfel und Oktaeder

a

b

Die Bildungshäufigkeit zweidimensionaler Keime hängt entscheidend von der Reinheit der Schmelzen, Lösungen oder Dämpfe ab. Bei Anwesenheit von Fremdstoffen kann die Keimbildung auf manchen Netzebenen durch Adsorption von Fremdatomen oder -molekülen begünstigt werden. Für die Kristallisation von Kochsalz aus einer gesättigten reinen wäßrigen Lösung gilt für die Wachstumsgeschwindigkeit der Netzebenen {hkl} folgende Reihenfolge: v {100} < t > { l l l } < v {210} < v {110}. Es wachsen also würfelförmige NaCl-Einkristalle mit {100} Oberflächen. Setzt man der Lösung etwas Harnstoff zu, dann ist die Reihenfolge der Wachstumsgeschwindigkeiten v {111} < v {100} < v {110}. Es entstehen keine Würfel, sondern Oktaeder mit {lll}-Netzebenen als Oberflächen. Nach diesen Betrachtungen verstehen wir, warum sich an einem Kristall ebene Oberflächen, die mit ganz bestimmten Netzebenen des Gitters identisch sind, ausbilden. — Es ist auch bekannt, daß Fremdatome in ein Kristallgitter eingebaut werden können. Ein Fremdatom im Kristallgitter stört selbstverständlich die strenge Periodizität des Gitters. Die Existenz von Fremdatomen im Kristallgitter wirkt sich besonders auf die elektrischen und optischen Eigenschaften der Kristalle aus. Wir kennen Kristalle ein und derselben chemischen Verbindung mit verschiedener Färbung. Ein reiner Al203-Kristall, ein Korund, ist farblos; enthält er aber Spuren von Cr, so ist er rot und heißt Rubin. 25

Bergmann-Sdiaefer I, 8. Aufl. 1969

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Molekularphysik

Bei einem realen Kristall ist im allgemeinen die Gitterperiodizität in irgendwelchen Punkten des Gitters verletzt oder entlang gewisser Atomketten oder Netzebenen des Kristalls gestört. Im folgenden sollen diese Kristallbaufehler und ihr Einfluß auf einige physikalische Eigenschaften der Kristalle beschrieben werden. D i e K r i s t a l l b a u f e h l e r , in d e n e n d i e S t ö r u n g ü b e r v i e l g r ö ß e r e a l s a t o m a r e A b m e s s u n g e n h i n a u s r e i c h e n , k ö n n e n e i n g e t e i l t werd e n in P u n k t d e f e k t e , ein- u n d z w e i d i m e n s i o n a l e S t ö r u n g e n . Zu den Punktdefekten zählen nicht nur Fremdatome, die im Kristallgitter entweder normale Gitterplätze einnehmen können oder genügend Raum im Zwischengitter finden (Abb. VII, 31a), sondern auch Gitterlücken und Zwischengitteratome derselben Atomart. Diese Abweichung von der idealen Struktur bezeichnet man als Eigenfehlordnung des Kristalls. Es werden zwei Arten von Eigenfehlordnungen unterschieden: Die Frenkeische Fehlordnung (Abb. VII, 31b) und die Schottkysche Fehlordnung (Abb. VII, 31c). F r e n k e i s c h e Fehlordnung entsteht, wenn Atome ihre Gitterplätze verlassen und Zwischengitterplätze einnehmen. Es werden also ebenso viel Gitterlücken gebildet, wie Zwischengitterplätze besetzt werden. Das Kristallvolumen bleibt konstant. Bei der S c h o t t k y s c h e n Fehlordnung diffundieren Atome von ihren Gitterplätzen an die Kristalloberfläche. Daher bleiben im Innern des Kristalls ausschließlich Gitterlücken zurück. Das Kristallvolumen wächst. o o o o o o OOOOOO

o o o o o o OOOOOO

(

o o o o o

O¿O O OOO o o o o o o a

O ^ O OJO o OOOOOO o o o o o o b

o o o o o o c

Abb. VII, 31. Atomare Fehlordnung a) Fremdatom ( • ) auf Gitterplatz (a) und auf Zwischengitterplatz (b) b) Frenkeische Fehlordnung c) Schottkysche Fehlordnung

Wegen der lokalen Energieschwankungen existieren in jedem Kristall bei von Null verschiedener Temperatur Gitterlücken und auch Zwischengitteratome. Die Konzentration dieser Defekte nimmt exponentiell mit der Temperatur zu. Anschaulich läßt sich diese Eigenschaft der Kristalle an Hand von Abb. VII, 32 erklären. Hier ist die potentielle Energie eines Atoms als Funktion seiner Lage zu den Nachbaratomen dargestellt. Das niedrigere der beiden gezeichneten Minima gehört zur Lage auf einem normalen Gitterplatz, das höhere zu einem Zwischengitterplatz, der beispielsweise in der Mitte einer einfach primitiven Elementarzelle des Gitters liegt. Ein Atom, das, durch die statistische Energieschwankung begünstigt, gerade genug Energie gewonnen hat, um gegen den Widerstand seiner Nachbarn die dargestellte Energie-

Abb. VII, 32. Schematischer Potentialverlauf zwischen Gitterplatz x0 und Zwischengitterplatz x1 für ein Kristallatom

schwelle zu überwinden, findet auf dem Zwischengitterplatz eine neue stabile Gleichgewichtslage vor. Allerdings wird es sich in dieser Lage nicht lange aufhalten können, da zur Rückkehr in die normale Gitterlage eine viel geringere Energie erforderlich ist. Ist aber die Gitterlücke in der Zwischenzeit von einem anderen Atom besetzt worden, dann diffundiert dieses Atom von Zwischengitterplatz zu Zwischengitterplatz, bis es eine Gitterlücke findet oder an die Oberfläche gelangt. Im zeitlichen Mittel werden also je nach Höhe der Temperatur des Kristalls mehr oder weniger viele Gitterlücken und Zwischengitteratome existieren. Diese Erscheinung wird deshalb thermische Fehlordnung genannt.

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Mit Hilfe der Thermodynamik läßt sich die Konzentration der Gitterlücken und Zwischengitteratome in Abhängigkeit von der Temperatur quantitativ ableiten. Diese Rechnung sei für die F r e n k e l Fehlordnung skizziert. Wir setzen voraus, daß weder die Temperatur noch das Volumen des Kristalls sich ändern. Unter diesen Bedingungen nimmt im thermodynamischen Gleichgewicht die freie Energie F ein Minimum an, und es gilt /öf\

_ /öt/\

\dn/T

_

ldS\

\dn/T

_

\dn/T

'

wo n die Anzahl der Atome ist, die ihre Gitterplätze verlassen haben. Wir brauchen jetzt nur den Zuwachs der inneren Energie Un und der Entropie Sn, der durch die Fehlordnung des Gitters bedingt ist, auszurechnen und nach n für konstante Temperatur abzuleiten; denn die innere Energie U und die Entropie S des ungestörten Gitters hängen nicht von n ab. Wir wollen die mit der Fehlstellenbildung verbundene kleine Änderung der Schwingungsanteile von U und S vernachlässigen. Die Gesamtzahl der Atome des Kristalls sei N und die Zahl der möglichen Zwischengitterplätze sei Z. Die n nicht unterscheidbaren Atome, die ihre Gitterplätze verlassen haben, können auf Wz = Z\j{Z — ri)\n \ verschiedene Weisen auf die Z Zwischengitterplätze verteilt werden. Für die Gitterlücken gibt es analog Wn = Nl/(N — « ) ! « ! Anordnungsmöglichkeiten. Die Entropiezunahme Sn beträgt also Sn = k • In {Wz • Wn). k ist die Boltzmann-Konstante. Die Energie, die erforderlich ist, um ein Atom reversibel von einem Gitterplatz zu einem weit entfernten Ort im Gitter zu bringen, sei £>. Die Zunahme an innerer Energie Un beträgt dann Un = nEp• Setzt man die Ausdrücke für Sn und Un in die Gleichung

on ¡t

\ on ¡t

ein, so ergibt sich unter Verwendung der Stirlingschen Formel folgendes Resultat: EF

=

k T ^

N

-

j n2

n )

Z

- " \

D a ferner n sehr klein gegenüber N und Z ist, folgt schließlich IEf n = yN • Z • e

2kT-

D i e A n z a h l der F r e n k e l - D e f e k t e im K r i s t a l l w ä c h s t e x p o n e n t i e l l mit der T e m p e r a tur an, und die A k t i v i e r u n g s e n e r g i e für diesen P r o z e ß ist \ Ef. Führt man eine analoge Rechnung für die S c h o t t k y - D e f e k t e durch, erhält man als Ergebnis n = N •

e-Es/tT.

E s ist die zur Bildung eines Schottky-Defektes erforderliche Energie. F ü r die Existenz von F r e n k e l - D e f e k t e n in einem Kristall ist vor allem entscheidend, o b das Kristallgitter genügend R a u m für Zwischengitterplätze besitzt. In den dichtestgepackten Gittern der Metalle würde ein Zwischengitteratom des gleichen Metalls eine starke Deformation der Umgebung bedeuten. Deshalb werden im thermischen Gleichgewicht in diesen Gittern so gut wie keine F r e n k e l - D e f e k t e gebildet. Sie können aber durch energiereiche Strahlung („radiation d a m a g e " ) oder durch mechanische Deformation erzeugt werden. Als thermische Fehlordnung treten in den dichtestgepackten Gittern hauptsächlich S c h o t t k y - D e f e k t e auf. Sie spielen eine große R o l l e bei Diffusionsprozessen in Metallen und Legierungen. D i e Aktivierungsenergie Es für S c h o t t k y - D e f e k t e ist für einige Edelmetalle aus der Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstandes bestimmt worden. Sie beträgt für Cu 0 , 9 0 eV, für Ag 0,8 eV und für Au 0,67 eV. F ü r die Konzentration der Gitterlücken am Schmelzpunkt ergibt sich für Cu-Kristalle ein Wert von n/N = 2,5 • 10~ 3 und für Au-Kristalle ein Wert von n/N = 5 • 10-3. Bei zweiatomigen Kristallen wie N a C l oder Z n S können meist auch F r e n k e l - D e f e k t e erheblich zur thermischen Fehlordnung beitragen. Häufig ist der Ionenradius des einen Verbindungspartners viel kleiner als der des anderen, und deshalb ist auch die Aktivierungsenergie für das kleinere der beiden Ionen geringer, so daß hauptsächlich Zwischengitteratome der kleine25"

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Molekularphysik

ren Ionenart im Kristall vorkommen. Im Kochsalzkristall sind es z. B. die Na-Ionen und im ZnS die Zn-Ionen. An die Entstehung von S c h o t t k y - D e f e k t e n in Ionenkristallen ist im Gegensatz zur Entstehung in einatomaren Kristallen noch eine Zusatzbedingung geknüpft: die Neutralitätsbedingung. Der Kristall muß elektrisch neutral bleiben. Eindimensionale Kristallbaufehler sind linienförmige Störungen des Gitters. Ihre Ausdehnung senkrecht zu den Linienelementen ist von der Größe weniger Atomabstände. Eine nadeiförmige Ausscheidung von Fremdatomen, eine Reihe aneinandergrenzender Zwischengitteratome oder Gitterlücken in einer fehlerfreien Umgebung stellen solche eindimensionalen Fehler dar. Die Bildung dieser Fehler ist aber sehr unwahrscheinlich und wird deshalb auch selten beobachtet. Es gibt jedoch eine andere sehr wichtige Art eindimensionaler Fehler, die man als Kristallversetzungen bezeichnet. Wegen ihrer großen Bedeutung sollen im folgenden ihre Eigenschaften erläutert werden. Betrachten wir einen fehlerfreien Kristall in einem Scherexperiment bei hinreichend tiefer Temperatur, so daß die thermische Fehlordnung vernachlässigbar klein ist. In Abb. VII, 33 a ist eine Netzebene dieses Kristalls dargestellt. Der Einfachheit halber haben wir einen kubisch primitiven Kristall gewählt. Die Pfeile oben und unten geben die Richtung der am Kristall angreifenden Schubspannung r an. Der Kristall soll über seine Elastizitätsgrenze hinaus geschert werden, so daß er eine bleibende Verformung erleidet. Im idealen Falle würden bei diesem Experiment die in Abb. VII, 33a horizontal übereinanderliegenden Netzebenen als geschlossene Einheiten um mindestens einen Gitterabstand gegeneinander verschoben werden.

Gleitebene

Abb. VII, 33. Stufenversetzung im kubisch primitiven Gitter a) Netzebene des ungestörten Kristalls zu Beginn der Scherung. r = Schubspannung. Der Burgers-Umlauf (->) ist geschlossen b) Abgleitung eines Teiles des oberen Kristallbereiches auf einer Gleitebene ( ) erzeugt eine Stufenversetzung. Der Burgersumlauf öffnet sich um den Burgers-Vektor b (=^).VersetzungslinieundBurgersVektor bilden einen Winkel von 90° c) Gleitbewegung der Stufenversetzung. Die Stufenversetzung ist um einen Schritt nach rechts geglitten. Die ursprüngliche Lage der Gitterbausteine ist gestrichelt dargestellt d) Die Stufenversetzung hat den Kristall verlassen und dabei eine Stufe auf der Kristalloberfläche (rechts) erzeugt. Die ursprüngliche Ordnung des Gitters ist wieder hergestellt

Nach beendetem Experiment wären außer der Verformung keine weiteren Veränderungen am Kristall bemerkbar. Die Gitterbausteine im Innern des Kristalls besäßen nach wie vor die gleiche periodische Anordnung. Ein einheitliches Abgleiten zweier aufeinanderfolgender Netzebenen um eine Gitterkonstante während der Scherung wird jedoch nur selten beobachtet. Fast ausnahmslos kommt die einheitliche Gleitung zweier Netzebenen längs einer Linie im Kristall zum Stillstand, wie es in Abb. VII, 33b dargestellt ist. Die Grenzlinie zwischen dem um eine Gitterkonstante verschobenen Kristallbereich und dem unverschobenen Kristallbereich bildet eine Kristallversetzung. Wird das Experiment in diesem Stadium abgebrochen, dann bleibt diese Störung im Kristall zurück. Ein erneuter Scherversuch zeigt nun, daß der Kristall sich bereits bei viel geringeren Schubspannungen plastisch deformiert als im ersten Versuch. An die Stelle der Abgleitung geschlossener Netzebenen ist die Bewegung einer Versetzungslinie getreten. Wie Abb. VII, 33 c zeigt, sind für die Bewegung einer Versetzung um einen Schritt nach rechts in den unverschobenen Kristallbereich viel geringere Verschiebungen der Gitterbausteine als bei einheitlicher Gleitung von Netzebenen notwendig. Es ist deshalb verständlich, daß bei An-

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Wesenheit einer Versetzung viel kleinere äußere Spannungen ausreichen, um eine plastische Deformation hervorzurufen. Abb. VII, 33 d zeigt den Kristall nach dem letzten Schritt der Versetzung. Die Versetzung ist aus dem Kristall herausgewandert und hat eine Stufe der Größe einer Gitterkonstante zurückgelassen. Das Gitter des Kristalls ist wieder ungestört. Nahezu alle Kristalle, künstlich gezogene wie natürlich gewachsene, enthalten Versetzungen. Sie sind durch kleine Temperaturschwankungen oder Erschütterungen während des Wachstums entstanden und zeigen sich in der leichten Verformbarkeit der Kristalle. Die tatsächliche Schubfestigkeit eines Kristalls kann um einige Größenordnungen geringer sein als die theoretische Schubfestigkeit des gleichen, aber ungestörten Kristalls. Die theoretische Schubfestigkeit von Aluminium beträgt etwa 105 kp/cm 2 . Gute Al-Einkristalle mit nur wenigen Versetzungen können jedoch schon mit 3 kp/cm 2 verformt werden. Gelingt es, die wenigen noch vorhandenen Versetzungen aus guten Kristallen zu entfernen oder aus einem größeren guten Kristall einen versetzungsfreien kleinen Kristall herauszutrennen, so zeigt dieser Kristall die dem theoretischen Wert entsprechende hohe Schubfestigkeit. Wir werden später sehen, daß diese hohe Schubfestigkeit auch für Kristalle hoher Versetzungsdichte nahezu erreicht werden kann. Zuvor sollen aber noch die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der Versetzungen behandelt werden. Wir haben bisher erst eine von vielen möglichen Versetzungsarten kennengelernt. Sie wird Stufenversetzung genannt. Art und Größe einer Versetzung lassen sich mit Hilfe des BurgersUmlaufs bestimmen. Zur Erklärung betrachten wir noch einmal Abb. VII, 33. Die Stufenversetzung läuft im Teilbild b senkrecht zur dargestellten Netzebene durch den Kristall. Die Lage der Versetzung im Kristall wird durch einen Vektor s = drl\dr\ angegeben, wo r der Ortsvektor vom Ursprung des gewählten Koordinatensystems zur Versetzungslinie ist. s ist also ein Einheitsvektor, der in jedem Punkt der Versetzungslinie ihre Richtung im Kristall angibt. Im hier betrachteten Fall der Stufenversetzung ist s konstant. Das Koordinatensystem wählen wir so, daß s in die Papierebene hineinweist. Damit ist die Lage der Versetzung im Kristall eindeutig bestimmt. Die Lage der Versetzung allein sagt jedoch noch nichts über die Art der Störung des Kristalls aus. Wir müssen zusätzlich einen Vergleich des ungestörten mit dem gestörten Gitter anstellen. Zu diesem Zweck verwenden wir ein Verfahren, das von J. M. B u r g e r s angegeben wurde. Wir zeichnen in einer Netzebene des ungestörten Kristalls, die einer senkrecht zur Versetzungslinie liegenden Netzebene des gestörten Kristalls entspricht, einen geschlossenen Umlauf, einen sogenannten Burgers-Umlauf. Der Umlauf beginnt in Abb. VII, 33a an dem mit einem Kreuz bezeichneten Gitterpunkt. Von dort aus gehen wir 4 Schritte nach rechts, dann 4 nach unten, weiter 4 nach links und schließlich 4 Schritte nach oben zum Anfangspunkt zurück. Das gleiche tun wir nun im Teilbild b im gestörten Gitter. Wir stellen fest, daß bei gleicher Schrittzahl Anfangs- und Endpunkt des Umlaufes nicht zusammenfallen, wenn der Umlauf die Versetzungslinie einschließt. Zwischen dem Endpunkt des Umlaufs, der mit einem Punkt gekennzeichnet ist, und dem Anfangspunkt ist ein zusätzlicher Schritt erforderlich, der nach J. M. B u r g e r s mit b bezeichnet und Burgers-Vektor der Versetzung genannt wird. Der Burgers-Vektor einer Versetzung ist ein freier Vektor, denn Richtung und Betrag des Vektors ändern sich nicht, wenn bei gleichem Umlaufsinn um die Versetzungslinie der Umlauf an einem anderen Gitterpunkt begonnen wird. Ferner sehen wir leicht ein, daß in Translationsgittern nur Versetzungen auftreten können, deren Burgers-Vektoren Translationsvektoren des Gitters sind. Der Burgers-Vektor ist ein charakteristisches Merkmal einer Versetzung. Er existiert nur für Versetzungen; denn ein Burgers-Umlauf um einen Punktdefekt oder eine nadeiförmige Ausscheidung ist immer geschlossen, und folglich gibt es auch keinen Burgers-Vektor. Der Betrag des Burgers-Vektors b gibt die Größe der Versetzung an und heißt Versetzungsstärke. Ein weiteres wichtiges Merkmal einer Versetzung ist der Winkel, der vom Einheitsvektor s der Versetzung und dem Burgers-Vektor gebildet wird. Für Stufenversetzungen beträgt der Winkel zwischen s und b 90°. In Abb. VII, 33b liegt der Burgers-Vektor b der Stufenversetzung in der dargestellten Netzebene ( = Papierebene), während der Einheitsvektor s der Versetzung senkrecht dazu steht, also senkrecht zum Burgers-Vektor (in der Zeichnung senkrecht zur Papierebene, ist also nicht darstellbar).

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Molekularphysik

Betrachten wir nun eine andere Versetzungsart, die sogenannte Schraubenversetzung. Abb. VII, 34 zeigt eine Schraubenversetzung im kubisch primitiven Gitter. Die Versetzungslinie geht senkrecht durch die Mitte des Kristalls hindurch und bildet die Achse einer Schraube. Die Netzebenen, die im ungestörten Gitter parallel übereinander geschichtet sind, bilden dadurch eine einzige Schraubenfläche. Der B u r g e r s-Umlauf um diese Schrauben Versetzung ergibt einen B u r g e r s - V e k t o r vom Betrage einer Gitterkonstanten. Der B u r g e r s - V e k t o r steht aber hier nicht senkrecht zur Versetzungslinie, sondern im Gegensatz zur Stufenversetzung parallel zur Versetzungslinie, s und b schließen also einen Winkel von 0° ein. Stufen- und

Abb. VII, 34. Schraubenversetzung in einem kubisch primitiven Gitter. Die Schraubenachse ist die Versetzungslinie. Der Burgers-Vektor b liegt parallel zur Versetzungslinie

Schraubenversetzungen stellen zwei Sonderfälle von Versetzungen dar. Im allgemeinen ist der Winkel zwischen dem B u r g e r s - V e k t o r und dem Vektor eines Linienelementes einer Versetzung weder 90° noch 0°, sondern irgendein Wert zwischen 0° und 90°. Zur Veranschaulichung ist in Abb. VII, 35 und VII, 36 ein Kristall mit einer gebogenen Versetzungslinie dargestellt. Auf

Abb. VII, 35. Kubisch primitiver Kristall mit gekrümmter Versetzungslinie. Perspektivische Ansicht des Kristalls. Die Versetzungslinie ( ) hat an der Frontfläche des Kristalls reinen Schraubencharakter, im Innern des Kristalls gemischten Charakter mit Schrauben- und Stufenanteilen und am Austrittspunkt der rechten Seitenfläche reinen Stufencharakter

der dem Betrachter zugewandten Seite des Kristalls besitzt die Versetzung Schraubencharakter: B u r g e r s - V e k t o r und Linienvektor liegen parallel. Verfolgen wir den Verlauf der Versetzung in das Kristallinnere an Hand von Abb. VII, 36, so stellen wir fest, daß der Winkel zwischen b und s zunimmt und am Durchstoßpunkt der Versetzung auf der Seitenfläche des Kristalls 90° beträgt. Längs der Versetzungslinie wandelt sich also die Versetzung von einer reinen Schraubenin eine reine Stufen Versetzung um. Im Zwischenbereich besitzt die Versetzungslinie gemischten Charakter. Je nachdem, ob der Winkel kleiner oder größer als 45° ist, spricht man deshalb von Versetzungsstücken mit überwiegendem Schrauben- bzw. Stufencharakter. Der B u r g e r s - V e k t o r bleibt natürlich längs der gesamten Versetzungslinie nach Betrag und Richtung erhalten.

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

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Umschließt ein B u r g e r s - U m l a u f mehr als eine Versetzung, dann stellt der resultierende B u r g e r s - V e k t o r b offensichtlich die Summe der Burgers-Vektoren bi der einzelnen vom Umlauf erfaßten Versetzungen dar. Es gilt also b = Tibi. Es können auch Verzweigungen von Versetzungen auftreten derart, daß beispielsweise zwei Versetzungen mit den B u r g e r s - V e k toren bi und i»2 in einem Punkt zusammentreffen und von diesem Punkt an eine gemeinsame Versetzung bilden mit dem Burgers-Vektor £3 = b\ + ¿2- Ein solcher Verzweigungspunkt heißt Versetzungsknoten.

Abb. VII, 36. Lage der Versetzung der Abb. VII, 35 in ihrer Gleitebene (Papierebene). Die Punkte gehören zu der Netzebene unterhalb der Gleitebene, die leeren Kreise zu der Netzebene oberhalb der Gleitebene

Ferner kann eine Versetzung offenbar weder im Kristall beginnen noch enden; denn wie der Kristall auch immer verformt wird, die Grenze zwischen dem verschobenen und dem unverschobenen Kristallbereich ist immer geschlossen. Anfang und Ende einer Versetzung müssen also entweder auf der Oberfläche des Kristalls liegen oder aber die Versetzung schließt sich innerhalb des Kristalls zu einem Ring; dann fallen Anfangs- und Endpunkt der Versetzung zusammen. Wir wollen uns nun der wichtigen Frage nach der Energie einer Versetzung und nach den Kräften, die auf eine Versetzungslinie wirken, zuwenden. Wir haben gesehen, daß eine Versetzung eine bestimmte Deformation des Kristallgitters verursacht, wodurch im Kristall ein Spannungsfeld hervorgerufen wird. Diesem Spannungszustand entspricht ein gewisser Energieinhalt, der gleich der Deformationsarbeit ist, die zur Schaffung einer Versetzung aufgewendet werden muß. Diese Energie wird Eigenenergie der Versetzung genannt. Zur Abschätzung der Eigenenergie einer Versetzung wollen wir den Kristall als isotropes, elastisches Kontinuum betrachten. Für die stark verzerrte, unmittelbare Umgebung der Versetzung ist das allerdings nicht möglich. Wir müssen deshalb die Versetzungslinie in eine Röhre von hinreichend großem Radius einschließen und das Volumen der Röhre bei der Abschätzung zunächst auslassen. Im übrigen Kristallbereich sei die elastische Spannung a proportional der relativen Deformation des Mediums. Es gelte also das H o o k e s c h e Gesetz. Die Deformationsenergie erhalten wir durch Integration der elastischen Spannung a über die relative Deformation e. Wir integrieren vom Beginn der Deformation, wo e = 0 ist, bis zur maximalen Deformavion e m a x , die zur Erzeugung der Versetzung notwendig ist. Dann ist die Deformationsenergie Inn W=

J

0

ade.

Für eine reine Schraubenversetzung läßt sich die Eigenenergie in dieser Näherung leicht ausrechnen. Aus Abb. VII, 34 ist zu erkennen, daß der Kristall durch eine Schraubenversetzung nur eine Gestaltsänderung, aber keine Volumenänderung erfährt. Wir denken uns einen Kristallzylinder vom Radius R mit einer Schraubenvei Setzung in der Zylinderachse. Die Deformation gegenüber einem ungestörten Zylinder läßt sich am einfachsten bestimmen, wenn man je einen Zylindermantel vom Radius r des ungestörten und des gestörten Kristalls auf einer Ebene abrollt. Wir erkennen dann unmittelbar, daß der Zylindermantel des Kristalls mit Schraubenver-

392

Molekularphysik

Setzung um tan y = b/2 nr geschert ist. Die relative Deformation ist also e = 6/2 nr. Die entsprechende elastische Spannung gewinnen wir durch Multiplikation mit dem Schermodul G: a = G b/2 nr und erhalten damit für die Deformationsenergie W(r)=

|

ade = G

J sde

=

G

2

G l b \2 1

2

£max

2 \2n)

r2

Eine Integration über den Querschnitt des Zylinders liefert die Eigenenergie pro Längeneinheit der Schraubenversetzung. Da wir die nächste Umgebung der Versetzung auslassen müssen, beginnen wir die Integration bei einem kleinen Radius Ri und bekommen R

„,

G ( b \

2

C 2 nr dr

\2n)

J"P-

Gb\ =

R

4n^R-

Ri

D i e E i g e n e n e r g i e der S c h r a u b e n v e r s e t z u n g ist also dem Q u a d r a t des B u r g e r s - V e k t o r s d i r e k t p r o p o r t i o n a l . Die Abhängigkeit der Eigenenergie von der radialen Ausdehnung des Kristalls ist gering, da der Radius unter dem Logarithmus steht. Der Radius Ri des stark verzerrten Bereiches um die Versetzungslinie hat etwa die Länge von 5 Burgers-Vektoren, also ungefährt 5 • 3 Ä. Für eine dünne Kristallnadel (Whisker) mit einem Durchmesser von 15 [Jim ist das Verhältnis R/Ri etwa 104, für einen großen Kristall von 15 mm Durchmesser etwa 107. Während das Verhältnis R/Ri um den Faktor 103 zunimmt, wird aber die Eigenenergie der Schraubenversetzung wegen des Logarithmus nur 7/4mal größer als für die Kristallnadel. Schätzen wir nun den vom stark verzerrten Bereich in der nächsten Nähe der Schraubenversetzung herrührenden Anteil der Eigenenergie ab. Man kann annehmen, daß die mittlere Deformation £ innerhalb dieses Gebietes nicht viel größer ist als 3 %. Das entspricht etwa der theoretischen Schubfestigkeit. Mit Ri = 5 b und 8 = 3 % erhalten wir W:XGE2-7iRfx^—.

4n

Für ein Radienverhältnis R/Ri = 104 ist der Anteil der Eigenenergie der Versetzung etwa 1/10 Wl, also immer noch relativ klein. Auch genauere Berechnungen führen zu ähnlichen Ergebnissen. Als Beispiel wollen wir die Eigenenergie einer Schraubenversetzung in einem Aluminiumkristall berechnen. Die energetisch günstigste Versetzung ist, wie wir wissen, die Versetzung mit kleinstmöglichem Burgers-Vektor. Im kubisch allseitig flächenzentrierten Gitter des AI finden wir als kleinste Translation die Verschiebung eines Eckpunktes der würfelförmigen Elementarzelle entlang einer Flächendiagonalen zu einem flächenzentrierten Gitterpunkt. Ist a die Kantenlänge des Würfels, dann hat diese Translation den Betrag a/f2. Wir wählen also eine Schraubenversetzung, deren Versetzungslinie in Richtung einer Flächendiagonalen durch den Kristall läuft. Der Burgers-Vektor der Schraubenversetzung ist der Versetzungslinie parallel und hat den Betrag der kleinstmöglichen Translation ajyi. Für AI ist a = 4,049 Ä und der theoretische Schubmodul G = 2,85 • 103 kp/mm 2 oder = 2,8 • 10 11 dyn/cm 2 . Mit R/Ri = 105 erhalten wir für die Eigenenergie der Schraubenversetzung, bezogen auf die Länge des Burgers-Vektors, „. Ü Gb2 / , R \ Ü W = Wh-= = — In— = 6 • 10~ 1 2 erg = 3,75eV. V2 4tz \ Ri I V2 Auf jedes Atom längs der Versetzungslinie kommt also eine Energie von 3,75 eV. Das ist etwa 3 mal soviel, wie zur Bildung einer Gitterlücke erforderlich ist.

Ganz ähnlich läßt sich auch die Eigenenergie einer Stufenversetzung abschätzen. Statt der Rechnung hier nur das Ergebnis: Die Eigenenergie einer Stufenversetzung pro Länge der Versetzungslinie beträgt M7 ^ =4

^

1

R

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

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wo ¡i die P o i s s o n - Z a h l ist. D i e E i g e n e n e r g i e d e r S t u f e n v e r s e t z u n g ist a l s o a u c h p r o p o r t i o n a l d e m Q u a d r a t d e s B u r g e r s - V e k t o r s . Neben dem Schubmodul G geht aber noch die P o i s s o n - Z a h l in die Formel ein, weil eine Stufen Versetzung nicht nur eine Gestaltsänderung, sondern auch eine Volumenänderung, nämlich eine Kompression des Kristalls, verursacht. D a ¡x meist ^ ist und nicht größer als \ sein kann — der Grenzfall ,m = \ bedeutet Inkompressibilität —, ist die Eigenenergie einer Stufenversetzung etwa l,5mal größer als die einer Schrauben Versetzung mit gleichem Burgers-Vektor im selben Material. Eine gemischte Versetzung können wir in Schrauben- und Stufenanteil zerlegen. Die Summe der Eigenenergien beider Anteile ergibt die Eigenenergie der gemischten Versetzung. An Hand dieser Ergebnisse läßt sich nun von Fall zu Fall abschätzen, welche Versetzungen in einem Kristall die geringste Eigenenergie besitzen und deshalb stabil sind. Versetzungen mit höherer Energie sind oft schon deshalb nicht stabil, weil sie in zwei Versetzungen insgesamt geringerer Energie aufspalten können, wenn für ¿>3 = bi + 62 die vereinfachte Ungleichung b\ > b\ + b% gilt. Auch krummlinige Versetzungen sind energetisch ungünstig, denn ein gekrümmtes Versetzungsstück hat gegenüber einem gradlinigen zwischen denselben Gitterpunkten eine höhere Gesamtenergie. E i n K r i s t a l l w i r d a l s o i m m e r b e s t r e b t sein, d i e d u r c h ä u ß e r e E i n f l ü s s e h e r v o r g e r u f e n e n V e r s e t z u n g e n m ö g l i c h s t g r a d l i n i g u n d k u r z ausz u b i l d e n , d e n n d a n n i s t i h r e E i g e n e n e r g i e a m g e r i n g s t e n . Das ist jedoch nicht immer möglich, selbst wenn keine äußeren Kräfte vorhanden sind, da meist mehrere Versetzungen gleichzeitig in einem Kristall existieren, die durch ihre Spannungsfelder einander daran hindern, stabile Lagen mit geringster Eigenenergie einzunehmen. So entstehen häufig metastabile Versetzungskonfigurationen. Betrachten wir eine Versetzung unter dem Einfluß eines Spannungsfeldes, das sowohl durch äußere Kräfte, die an der Oberfläche des Kristalls angreifen, als auch durch eine oder mehrere andere Versetzungen desselben Kristalls verursacht werden kann. Dieses fremde Spannungsfeld überlagert sich dem Eigenspannungsfeld der Versetzung und kann eine Bewegung der Versetzung verursachen. Bewegt sich die Versetzung unter dem Einfluß der Spannung a durch den Kristall und überstreicht dabei eine Fläche A, so erleiden die benachbarten Atome zu beiden Seiten dieser Fläche eine relative Verschiebung von der Größe des Burgers-Vektors b der Versetzung. Die elastischen Spannungen ff1) haben dabei eine Arbeit W verrichtet: W = b • a • A. Die Frage nach der Kraft, die bei gegebener Spannung a auf die Versetzungslinie wirkt, kann mit Hilfe des Prinzips der virtuellen Verrückung beantwortet werden. Wir verschieben ein Linienelement dl der Versetzung um den virtuellen Verschiebungsvektor 6r und erhalten, da jetzt A = dl X ör ist ÖW = F-ör = b-o[dlxör']

=

[(b-e)xdQ-ör.

D i e K r a f t F a u f ein L i n i e n e l e m e n t dl d e r V e r s e t z u n g ist a l s o F = (b • ff) X dl. Sie w i r k t d e m n a c h i m m e r s e n k r e c h t z u r V e r s e t z u n g s l i n i e . Für die leichte plastische Verformbarkeit eines Kristalls ist, wie wir gesehen haben, die Bewegung der Versetzungen entscheidend. Unter den möglichen Bewegungen sind offenbar solche begünstigt, die weder Gitterlücken noch Zwischengitteratome, also keine Volumenänderung, hervorrufen. Diese Bedingung ist offensichtlich nur dann erfüllt, wenn die Bewegung der Versetzung in derjenigen Ebene erfolgt, die vom Linienvektor und dem B u r g e r s - V e k t o r aufgespannt wird. Man nennt diese Ebene die Gleitebene der Versetzung und die Bewegung der Versetzung in der Gleitebene Gleitbewegung oder auch k o n s e r v a t i v e B e w e g u n g , da das Kristallvolumen dabei erhalten bleibt. Die Gleitebene der in Abb. VII, 33 b dargestellten Stufenversetzung ist die horizontale Ebene, auf welcher der obere Kristallteil gegen den unteren um eine Gitterkonstante bis zur Versetzungslinie nach rechts abgeglitten ist. Abb. VII, 33 c verdeutlicht den konservativen Gleitmechanismus der Stufenversetzung. Die Gleitebene der gemischten Versetzung des Kristalls der Abb. VII, 35 ist darunter in Abb. VII, 36 dargestellt. Im allgemeinen ist die elastische Spannung keine skalare Größe, sondern ein Tensor, der sogenannte Spannungstensor G.

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Molekularphysik

Die leeren Kreise geben die Lage der Gitterbausteine in der Netzebene oberhalb der Gleitebene an. Die Atome der Netzebene unterhalb der Gleitebene sind durch volle Kreise gekennzeichnet. Für eine reine Schraubenversetzung existiert keine eindeutig bestimmte Gleitebene. D a B u r g e r s Vektor und Linienvektor einander parallel sind, ist jede Ebene, welche die Schraubenversetzung enthält, eine mögliche Gleitebene. Durch die Geometrie des Gitters sind aber von der großen Zahl der möglichen Gleitebenen ganz bestimmte bevorzugt. Ferner besitzt eine Versetzung nur selten längs ihres gesamten Verlaufes reinen Schraubencharakter, sondern weist meist, wie in Abb. VII, 35 und VII, 36 Versetzungsstücke mit Stufenanteil auf. Die Gleitebene dieser Stufenanteile ist dann auch Gleitebene der Schraubenversetzung. D i e Kraftkomponente, die in der Gleitebene der Versetzung liegt, können wir leicht bestimmen. D i e Normale der Gleitebene ist » = i X J / | J X I ] , das Linienelement dl = dls. D i e Richtung der Kraftkomponente in der Gleitebene muß senkrecht zu s und n sein, also gleich n x s. Der Betrag der Kraftkomponente ist gleich dem Skalarprodukt der Kraft F mit dem Einheitsvektor n x s. Für die Kraft Fg in der Gleitebene erhalten wir also Fg = {[« x j ] • F} • [n x i ] oder, da F = (b • a) x dl ist, Fg = {[« x j ] - p - u ) x i dl]} • [n x j]. Mit Hilfe der L a g r a n g e s c h e n Identität ergibt sich Fg = {{b • a • n) (s • s) — {b • a • s) (n • s)} • [n X j ] dl

oder schließlich, weil s • s = 1 und n • s = 0 ist, Fg = (A • a • n) [« X dl\.

Wenn wir die Schubspannung im Gleitsystem mit r bezeichnen, folgt Fg = bx dl.

Das heißt, d i e K r a f t k o m p o n e n t e in der G l e i t e b e n e ist g e g e b e n d u r c h d a s P r o d u k t a u s d e r S c h u b s p a n n u n g i m G l e i t s y s t e m , d e m B u r g e r s - V e k t o r u n d der L ä n g e der Versetzung.

Wechselt ein Versetzungsstück von einer Gleitebene in eine benachbarte, parallele Gleitebene über, so entsteht ein sogenannter Versetzungssprung. Mit dieser Bewegung, die man als Klettern der Versetzung bezeichnet, ist eine Zunahme oder Abnahme von Gitterlücken oder Zwischengitteratomen, also eine Volumenänderung, verbunden. Man bezeichnet diese Bewegung deshalb als n i c h t - k o n s e r v a t i v e B e w e g u n g . Abb. VII, 37 gibt ein Beispiel für das

Abb. VII, 37. Das Klettern einer Stufenversetzung a) Zwischengitteratome diffundieren zur Versetzungslinie; b) sie reihen sich längs eines Versetzungsstückes an die im Kristall endende Netzebene

a)

b)

Klettern einer Versetzung. Zwischengitteratome diffundieren zur Versetzung und reihen sich längs eines Versetzungsstückes an die im Kristall endende Netzebene. Das Ergebnis ist ein Sprung dieses Versetzungsstückes von der ursprünglichen Gleitebene auf die nächst benachbarte, parallele Gleitebene. Dieser Vorgang kann ebenso gut umgekehrt ablaufen, indem längs eines Versetzungsstückes die Atome ihre Plätze in der letzten Reihe der im Kristall endenden Netzebene verlassen und sich im Zwischengitter ansiedeln oder mit vorhandenen Gitterlücken rekombinieren. In jedem Falle findet aber dabei ein Massentransport von der Versetzung in den Kristall oder umgekehrt statt, wobei die Versetzung als Quelle oder Senke für Fehlstellen und Zwischengitteratome angesehen werden kann.

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

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Versetzungssprünge können z. B. folgendermaßen entstehen. Ein Kristall der Temperatur T besitzt aus energetischen Gründen eine bestimmte Konzentration an Fehlstellen. Durch schnelles Abkühlen auf eine niedrige Temperatur bleibt diese Konzentration nahezu erhalten, so daß der Kristall jetzt eine höhere Fehlstellenkonzentration besitzt, als seinem thermodynamischen Gleichgewicht bei dieser Temperatur entspricht. Falls die Temperatur für eine merkliche Diffusion der Fehlstellen nicht zu niedrig ist, diffundieren die überschüssigen Fehlstellen zu den Versetzungen. Folglich klettern einzelne Versetzungsstücke und rufen Versetzungssprünge hervor. Ein Sprung verlängert die Versetzung im Kristall. Es sind neue Versetzungsstücke entstanden, die im hier betrachteten kubisch primitiven Gitter senkrecht zur ursprünglichen Versetzung liegen. Die neuen Stücke haben, da sie zur selben Versetzung gehören, zwar denselben B u r g e r s - V e k t o r , aber nicht mehr dieselbe Gleitebene. Für die Bewegung einer reinen Stufenversetzung ist die Existenz von Versetzungssprüngen nicht entscheidend, denn sie kann sich nach wie vor konservativ bewegen, wie leicht einzusehen ist. Für eine Schraubenversetzung dagegen stellt ein Sprung ein großes Hindernis für die Bewegung dar, weil ein Sprung in einer Schrauben Versetzung nur parallel zur Schraubenachse gleiten kann. In allen anderen Richtungen bewegt der Sprung sich nicht-konservativ und hemmt deshalb die Bewegung der Schraubenversetzung. Versetzungssprünge entstehen auch, wenn sich zwei Versetzungen mit unterschiedlichen Gleitebenen im Kristall bei ihrer Bewegung kreuzen. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß auf eine der beiden Versetzungen eine hinreichend große Kraft wirkt, um das Spannungsfeld der anderen Versetzung zu durchdringen. In Abb. VII, 38 sind zwei Stufenversetzungen AB und CD mit ihren B u r g e r s - V e k t o r e n dargestellt. Die nach oben gleitende Versetzung AB durchschneidet die senkrecht dazu verlaufende, ruhende Versetzung CD und fügt ihr dabei einen Sprung der Größe eines B u r g e r s - V e k t o r s zu. Abb. VII, 38. Durchschneiden zweier Stufenversetzungen. Die Versetzung AB durchschneidet bei der Bewegung (f) in ihrer Gleitebene die ruhende Versetzung CD. Die Versetzung CD erleidet einen Sprung von der Größe des Burgers-Vektors der Versetzung AB. AB, CD Lage der Versetzungen vor dem Durchschneiden in ihren Gleitebenen. A'B', C'D Lage nach dem Durchschneiden

B'

A'

/

B

A

Es läßt sich leicht folgende allgemeine Regel für das Durchschneiden zweier Versetzungen aufstellen: D u r c h s c h n e i d e n s i c h z w e i V e r s e t z u n g e n , d a n n e r l e i d e t j e d e d e r beiden V e r s e t z u n g e n einen S p r u n g . D i e G r ö ß e des S p r u n g e s ist gleich der z u r G l e i t e b e n e der Versetzung s e n k r e c h t e n K o m p o n e n t e des B u r g e r s - V e k t o r s der anderen Versetzung. Hätten wir in Abb. VII, 38 für CD an Stelle einer Stufenversetzung eine Schraubenversetzung gewählt, so hätte auch die Versetzung AB beim Durchschneiden von CD einen Sprung, und zwar von der Größe des B u r g e r s - V e k t o r s der Schraubenversetzung, erlitten. Außer den Versetzungssprüngen können auch die bereits erwähnten Versetzungsknoten das Gleiten von Versetzungen behindern. Bilden z. B. drei verschiedene Versetzungen mit unterschiedlichen Gleitebenen einen Versetzungsknoten, dann kann offensichtlich dieser allen drei Versetzungen gemeinsame Punkt nicht gleiten. Er stellt gewissermaßen einen festen Ankerpunkt der drei Versetzungen dar. Solche Verankerungen haben eine große Bedeutung für das plastische

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Molekularphysik

Verhalten von Kristallen. Einzelne unverzweigte Versetzungen bewegen sich unter der Wirkung geeigneter äußerer Kräfte einheitlich über ihre Gleitebenen und treten schließlich aus dem Kristall aus. Die Kristallteile zu beiden Seiten der Gleitebene sind dann um den B u r g e r s Vektor der Versetzung gegeneinander abgeglitten, und der Kristall selbst hat seine ursprüngliche, hohe Schubfestigkeit zurückeihalten. Scherexperimente an Einkristallen zeigen jedoch weit größere Abgleitungen der Netzebenen als vom Betrage eines oder weniger Burgers-Vektoren. An gewissen hexagonal dichtgepackten Kristallen können auf einer Gleitebene Abgleitungen von der Größe des halben Kristalldurchmessers beobachtet werden. Eine Erklärung für dieses Verhalten haben F. C. F r a n k und W. T. R e a d im Jahre 1950 gegeben. In Abb. VII, 39 bilden die drei Versetzungen mit den Burgers-Vektoren bx, 62 und 63 einen Versetzungsknoten, der in der Gleitebene der Versetzung fci liegt. Die Gleitebenen der anderen beiden Versetzungen sind nicht eingezeichnet. Die Versetzung b\ bildet mit zwei weiteren nicht bezeichneten Versetzungen einen zweiten Knoten; sie ist also an beiden Enden verankert. Wirkt nun durch geeignet gewählte äußere Kräfte auf die Versetzung bi eine Kraft in der Gleitebene, dann wird sie dieser Kraft nachgeben und zwischen den festen Knotenpunkten eine Gleitbewegung ausführen. Dabei baucht die Versetzungslinie immer stärker aus und, da die Kraft senkrecht an jedem Linienelement der Versetzung angreift, windet sich die Versetzung um die beiden Knoten herum, bis an irgendeiner Stelle die Versetzungsbäuche zusammentreffen. In diesem Moment löst sich eine geschlossene Versetzungslinie von den beiden Knoten, und die zurückbleibenden Versetzungsteile, die von den Knoten zur Berührungsstelle führen, stellen alsbald den ursprünglichen Zustand der Versetzung wieder her. Nun beginnt der ganze Prozeß von vorn: Die Versetzung zwischen den Knoten baucht von neuem aus, schließt sich zu einem Ring, der sich von den Knoten löst, und zwischen den Knoten bildet sich der alte Zustand der Versetzung zurück. Die Versetzungsringe bewegen sich frei in der Gleitebene, wandern zur Kristallobeifläche und treten dort aus. Jeder Ring verursacht auf diese Weise eine Abgleitung vom Betrage eines Burgers-Vektors. Wir verstehen nun, daß selbst Abgleitungen von der Größe eines halben Kristalldurchmessers auf einer einzigen Gleitebene durch diesen Mechanismus möglich sind. Die Versetzungsanordnung in Abb. VII, 39 kann man deshalb als Versetzungsquelle ansehen.

\

Abb. VII, 39. Frank-Read-Versetzungsquelle. Eine Versetzung bi ist an ihren Enden durch 2 Versetzungsknoten im Kristall verankert. Unter dem Einfluß einer Kraft baucht die Versetzungslinie in der Gleitebene zwischen den Knoten aus, schließt sich zu einem Ring, der sich von den inneren Versetzungsstücken löst und radial über die Gleitebene wandert. Zwischen den Knoten bildet sich der ursprüngliche Versetzungszustand wieder aus, und der ganze Vorgang wiederholt sich von neuem

Von ihr gehen immer wieder neue ringförmige Versetzungen aus. Versetzungsanordnungen mit diesen Eigenschaften werden Frank-Read-Quellen genannt. Verankerungen können auch andere Ursachen als Versetzungsknoten haben. Beispielsweise ist in hexagonal dichtgepackten Gittern die Beweglichkeit der Versetzungen in nicht dichtgepackten Netzebenen so viel geringer als in dichtgepackten, daß Versetzungsspiralen entstehen können. Abb. VII, 40 gibt dafür ein Beispiel. Der horizontale Zweig der L-förmigen Versetzung mit dem Burgers-Vektor b habe eine hohe Beweglichkeit in der dargestellten Gleitebene. Der andere Zweig liegt nicht in dieser Gleitebene und habe eine viel geringere Beweglichkeit in seiner Gleitebene. Bei einer Gleitbewegung des horizontalen Versetzungszweiges wird sich dieser Zweig spiralförmig um den anderen Zweig herumwinden und eine starke Abgleitung des Kristalls in dieser Gleitebene bewirken. — Aber auch örtliche Spannungskonzentrationen oder Verunreinigungen können Verankerungen verursachen. Darauf wollen wir jedoch nicht im einzelnen eingehen.

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

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Nach dem bisher Gesagten mag der Eindruck entstanden sein, daß es außer den völlig versetzungsfreien Kristallen, die sehr selten sind, überhaupt keine Kristalle gibt, deren Schubfestigkeit auch nur annähernd an den theoretischen Wert heranreicht. Dieser Schluß ist natürlich falsch und widerspricht auch der Erfahrung. Wir wissen beispielsweise, daß eine plastische Verformung dem Material eine höhere Festigkeit verleiht. Ein Kupferdraht hat nach einer einmaligen, kräftigen Dehnung eine viel höhere Festigkeit als vorher. Durch das Schmieden wird die Festigkeit eines Werkstückes ganz wesentlich erhöht. Es gibt noch viele andere Beispiele für Verfestigungen, die längst bekannt waren, bevor man auf die Versetzungen in Kristalb

Abb. VII, 40. ¿.-förmige Frank-Read-Versetzungsquelle. Der in der horizontalen Gleitebene liegende Versetzungszweig hat eine viel höhere Beweglichkeit als der senkrechte Zweig und windet sich daher spiralförmig um den senkrechten Zweig

len aufmerksam wurde und ihre Bedeutung für die Verfestigung erkannte. Wiederholte starke Verformungen können in einem Kristall eine so hohe Versetzungsdichte erzeugen, daß die einzelnen Versetzungen durch die entgegengerichteten Spannungsfelder der anderen Versetzungen am Gleiten gehindert werden. Die Versetzungen blockieren sich gegenseitig. Erst bei sehr hohen Schubkräften sind sie in der Lage, sich gegenseitig zu durchdringen und eine Abgleitung des Kristalls herbeizuführen. Die Schubfestigkeit eines solchen Kristalls kann fast so groß sein wie für ideale Einkristalle. Die entgegengesetzte Wirkung hat ein längeres Tempern bei hohen Temperaturen. Sobald eine Diffusion von Atomen möglich wird, können die Versetzungen im Kristall klettern, in andere Versetzungen übergehen oder sich gegenseitig aufheben. Dadurch wird Energie frei und die ursprüngliche Anzahl der Versetzungen verringert. Schließlich soll noch erwähnt werden, daß Versetzungen auch einen Einfluß auf den Elastizitätsmodul und die innere Reibung der Kristalle ausüben. Niedrige Spannungen, die noch kein Gleiten der Versetzungen hervorrufen, bewirken eine kleine reversible Verschiebung der Versetzungen, die als zusätzliche Dehnung zur elastischen Dehnung beiträgt und so den Elastizitätsmodul herabsetzt. Unter einer alternierenden äußeren Spannung bewegen sich die VersetzunAbb. VII, 41. Ätzgruben in einer Kristalloberfläche. Jede Ätzgrube zeigt den Durchstoßpunkt einer Versetzung an Mikr. Vergrößerung 400fach

[111]

I

3

O 3

3 O

O 9

3 — O—3 3 3

O

3

O 3 O (110)-Ebene

3 O

3

— O— 3 O

(111)

3 3

Abb. VII, 42. Zwillingskristall mit kubisch dichtestgepacktem Gitter. Zwillingsgrenze ist eine (lll)-Ebene. 3 Atome in der (110)-Ebene, O Atome unterhalb oder oberhalb der (llO)-Ebene

398

Molekularphysik

gen im Kristall hin und her. Diese Bewegungen benötigen Energie und tragen deshalb zur inneren Reibung bei. Es gibt heute verschiedene Methoden zum experimentellen Nachweis von Versetzungen. Am einfachsten lassen sich Versetzungen durch Anätzen der Kristalloberflächen sichtbar machen. An den Durchstoßpunkten der Versetzungen auf der Kristalloberfläche greift das Ätzmittel besonders stark an, da dort die Atome nicht so stark gebunden sind wie in der ungestörten Kristalloberfläche. So entstehen um jeden Durchstoßpunkt einer Versetzung kleine Ätzgruben, die unter dem Mikroskop, wie Abb. VII, 41 zeigt, deutlich zu erkennen sind. Wir wenden uns nun den zweidimensionalen Kristallbaufehlern zu, die ebenfalls eine große technische Bedeutung haben und teilweise eng mit den Versetzungen zusammenhängen. Die üblichen metallischen Werkstoffe sind polykristallin. Sie bestehen also aus vielen kleinen Kristallen gleicher Struktur und Zusammensetzung. Eine Grenzfläche zwischen zwei Kristallen, die bezüglich eines festen Achsenkreuzes verschieden orientiert sind, stellt offenbar einen zweidimensionalen Kristallbaufehler dar. Er erstreckt sich längs der gesamten gemeinsamen Grenz, fläche beider Kristalle und wirkt sich, abgesehen von einer elastischen Deformation des Gitterssenkrecht zu dieser Fläche höchstens über wenige Gitterabstände auf das Innere der Kristalle aus. Die Verschiebung der Gitterbausteine aus der Gleichgewichtslage des ungestörten Gitters im Bereich der Grenzfläche hängt entscheidend von der gegenseitigen Orientierung der angrenzenden Kiistalle ab. Die Symmetrie eines Kristallgitters läßt erkennen, daß für bestimmte Orientierungen der Kristalle überhaupt keine Verschiebungen der Gitterbausteine in der Grenzfläche auftreten, obwohl äquivalente Netzebenen zu beiden Seiten der Grenzfläche gegeneinander verschwenkt sind und deshalb die Periodizität des Gitters längs der Grenzfläche unterbrochen ist. Eine solche Grenze heißt Zwillingsgrenze, und die Kristalle, die auf diese Weise gesetzmäßig verwachsen sind, nennt man Zwillingskristalle. Abb. VII, 42 zeigt eine Zwillingsgrenze in einem Zwillingskristall mit kubisch allseitig flächenzentriertem Gitter. Die Zwillingsgrenze ist hier eine (lll)-Ebene.

Abb. VII, 43. Kleinwinkelkorngrenze in einem kubisch primitiven Gitter. Sie wird durch eine Reihe äquidistanter paralleler Stufenversetzungen aufgebaut d = Abstand der parallelen Stufenversetzungen

0 — Verschwenkungswinkel der Kristallteile b = Burgers-Vektor der Stufenversetzungen

Viel häufiger als gesetzmäßige Verwachsungen treten jedoch Verwachsungen auf, die eine Verschiebung der Gitterbausteine im Bereich der Grenzfläche beinhalten. Diese Grenzflächen bezeichnet man als Korngrenzen. Sind die miteinander verwachsenen Kristalle nur um einen kleinen Winkel verschwenkt, so spricht man von Kleinwinkelkorngrenzen. Abb. VII, 43 gibt

399

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

ein Beispiel für eine einfache Kleinwinkelkorngrenze in einem kubisch primitiven Gitter. Betrachten wir die Struktur dieser Korngrenze genauer, so fällt uns eine gewisse Regelmäßigkeit ihres Auf baus auf. Sie besteht aus einer Reihe von einander parallelen Stufenversetzungen, die in konstanten Abständen entlang der Korngrenze verlaufen und auf diese Weise die Verschwenkung der Kristalle ausgleichen. Der Abstand d der Stufenversetzungen hängt unmittelbar mit dem Verschwenkungswinkel 0 und dem B u r g e r s - V e k t o r b der Stufenversetzungen zusammen. Wie leicht zu erkennen ist, gilt b/d = 2 • sin 0/2 oder, da der Winkel 0 klein ist, d = b/0. Im allgemeinen ist die Struktur einer Kleinwinkelkorngrenze etwas komplizierter. Sie kann z. B. aus einer Reihe paralleler Stufen und Schraubenversetzungen bestehen oder durch ein Netzwerk von Schraubenversetzungen gebildet werden. Wir wollen diese Möglichkeiten nicht im einzelnen diskutieren, sondern uns mit der wichtigen Feststellung begnügen, daß Kleinwinkelkorngrenzen eine regelmäßige Versetzungsstruktur besitzen. Für größere Verschwenkungswinkel als etwa 20° geht diese Eigenschaft verloren. Man bezeichnet deshalb diese nicht regelmäßig aus Versetzungen aufgebauten Korngrenzen zum Unterschied zu den Kleinwinkelkorngrenzen als Großwinkelkorngrenzen. Zum Schluß soll noch ein zweidimensionaler Kristallbaufehler erwähnt werden, der in Kristallen mit kubisch und hexagonal dichtester Packung auftritt. Kristallgitter mit kubisch und hexagonal dichtester Packung zeigen eine gewisse Analogie im Aufbau. In Abb. VII, 44 a ist eine (lll)-Ebene des kubisch dichtgepackten Gitters und eine (OOl)-Ebene eines hexagonal dichtgepackten Gitters dargestellt. Beide Netzebenen, deren Bausteine durch leere Kreise gekennzeichnet sind, sind völlig identisch. Projiziert man, wie es die Abb. VII, 44 a zeigt, die 1111)-Ebene O 3 • • Abb. VII, 44. Aufbau der kubisch und hexagonal dichtestgepackten Gitter a) Projektion der Atome von 3 übereinanderliegenden Ebenen auf die (111)-bzw. (00-1)-Ebene

100-1 ¡-Ebene

O 3

O 9



O 3 O

- - 0 - 3 0 - 3 - - / 7 W • o 3 • O a

O 3 •

A

b) Stapelfolge in [111]- bzw. [00 • 1]Richtung

f B b

A

0

--0-3

O 3

3

3 0

O O

3

3

0

3

3

5 A

3 9

0

3

(11-01-Ebene 3 O 3 O

0 A

O

0-3--(11-01

O

0

(110!-Ebene 3 0 3

O

O 3 O 3

O 3

3 O

O

3

O 3

3 O

O

3

Bausteine der darunter und darüber liegenden parallelen Netzebene auf die (111)- bzw. auf die (OO.l)-Ebene, so erkennt man ohne weiteres die Bauprinzipien beider Gitter. Die Bausteine aufeinanderfolgender Netzebenen sind längs der gestrichelt eingezeichneten Geraden jeweils um ^ des Abstandes zwischen zwei Bausteinen der (11 l)-Projektionsebene versetzt. Insgesamt gibt es also drei gegenseitige Lagen der parallel übereinander gestapelten Netzebenen, die wir mit A, B und C bezeichnen wollen. Im kubischen Gitter folgt auf eine (lll)-Netzebene in der ALage eine Netzebene in der .B-Lage, danach eine Netzebene in der C-Lage und dann wieder eine in der A-Lage usw. Im hexagonalen Gitter gibt es nur zwei Lagemöglichkeiten. Auf eine A-Lage folgt immer eine .B-Lage und umgekehrt. Für den Gitteraufbau ist also die periodische Stapelfolge der (111)- bzw. (OO.l)-Ebenen charakteristisch. Das kubische Gitter hat die Stapelfolge ABCABC... und das hexagonale Gitter die Folge ABAB. In Abb. VII, 44b sind die Stapelfolgen beider Gitter in der (110)- bzw. (11.0)-Ebene dargestellt. Ist nun in irgendeiner Stapelebene des Gitters die periodische Stapelfolge verletzt, z. B. dadurch, daß in der hexagonalen Folge ABAB auf eine A-Lage nicht eine .B-Lage, sondern eine C-Lage folgt, dann besitzt das Gitter an dieser Stelle einen zweidimensionalen Kristallbaufehler besonderer Art, der als

400

Molekularphysik

Stapelfehler bezeichnet wird. Die fehlerhafte Folge lautet dann ... ABABACABAB... Die dichteste Packung der Netzebenen ist durch den Fehler nicht verletzt worden. Wir erkennen aber, daß die dem Fehler benachbarten Netzebenen jetzt nicht mehr hexagonal, sondern kubisch gepackt sind. Je drei aufeinanderfolgende Netzebenen können als ein Packungselement angesehen werden. Wird die mittlere der drei Netzebenen von zwei Netzebenen gleicher Lage eingeschlossen, dann bilden sie ein hexagonales Packungselement. Haben die äußeren Netzebenen verschiedene Lage, so ergibt sich ein kubisches Packungselement. Zwei Netzebenen gleicher Lage dürfen natürlich niemals aufeinanderfolgen, weil dadurch die dichte Packung verlorenginge. Auch der Zwillingski istall in Abb. VII, 42 enthält ein hexagonales Packungselement, denn an der Zwillingsgrenze kehrt sich die Stapelfolge um. Besitzt der eine Teil des Zwillings die kubische Folge ABC ..., dann besitzt der andere Teil die Folge CBA ... Beide Teile stoßen an der Zwillingsgrenze zusammen und ergeben die Stapelfolge ABCABCBACBA ... Die Zwillingsgrenze selbst ist also mit den benachbarten Netzebenen, die beide eine .B-Lage haben, nicht kubisch, sondern hexagonal gepackt. So gesehen, ist die Zwillingsgrenze mit zwei Phasengrenzen verbunden, die wiederum auf Stapelfehler zurückzuführen sind. Die Fehlordnungsenergie pro Atom in der Netzebene eines Stapelfehlers ist annähernd gegeben durch den Unterschied in der Bindungsenergie eines Atoms in den dichtestgepackten Gittern hexagonaler und kubischer Struktur. Diese Energiedifferenz ist sehr klein. Sie beträgt nur etwa i/ioo der Eigenenergie pro Atom einer Versetzungslinie. Aus diesem Grunde sind Stapelfehler in diesen Gittern viel häufiger als Versetzungen.

Abb. VII, 45. Unvollständige Versetzungen im kubisch dichtestgepackten Gitter a) Shockleysche unvollständige Versetzung mit Burgers-Vektor bs b)Franksche

unvollständige Versetzung mit

•»

Burgers-Vektor bp = bs + t • Atome in der (lOI)-Ebene O Atome unterhalb oder oberhalb der (lOT)-Ebene

[WD-Ebene b,-f[l2l] brf[îîî]

7= fpoi]

Stapelfehler erstrecken sich nicht immer durch den ganzen Kristall, sie können auch, wie in Abb. VII, 45 skizziert ist, längs einer Linie im Kristall enden. Die Begrenzungslinie eines Stapelfehlers stellt eine zusätzliche Störung des Kristallgitters dar, eine sogenannte unvollständige Versetzung. Der Grund für diese Bezeichnung ist leicht einzusehen. Wir betrachten Abb. VII, 45a und beschreiben um die Grenzlinie des Stapelfehlers einen B u r g e r s - U m l a u f in Trans-

Kristallwachstum und Kristallbaufehler

401

lationsschritten des Gitters. Im ungestörten Kristall würde dieser Umlauf geschlossen sein. Durch die Grenzlinie des Stapelfehlers öffnet sich jedoch der Burgers-Umlauf. Es entsteht ein Burgers-Vektor bs, der nicht Translationsvektor des Gitters ist. Wenn a die Kantenlänge der kubischen Elementarzelle ist, lautet der Burgers-Vektor bs = % [121]. Die Grenzlinie hat also den Charakter einer Versetzung, und zwar in dem hier dargestellten Fall den Charakter einer Stufenversetzung, denn Burgers-Vektor und Linienvektor bilden einen Winkel von 90°. Läuft die Grenzlinie in Abb. VII, 45 a nicht senkrecht zur Papierebene, dann besitzt die Versetzungslinie auch einen Schraubenanteil. Der einzige Unterschied zu den uns bisher bekannten Versetzungen besteht darin, daß der Burgers-Vektor nicht Translationsvektor des Gitters ist. Man nennt deshalb solche Versetzungen unvollständige Versetzungen. Es gibt zwei Arten unvollständiger Versetzungen. Die erste haben wir eben anhand von Abb. VII, 45a erläutert. Sie wird auch als Shockleysche unvollständige Versetzung bezeichnet. Die zweite ist im Teilbild b dargestellt. Hier ist eine (lll)-Netzebene in der A-Lage teilweise aus dem Kristall entfernt worden. Dadurch ist im linken Kristallbereich der gleiche Stapelfehler entstanden wie im Teilbild a. Ein Burgers-Umlauf um diese unvollständige Versetzung öffnet sich deshalb im linken Kristallbereich ebenfalls um den Vektor bs = % [121]. Zusätzlich entsteht aber im rechten Kristallbereich eine Öffnung um einen Translationsvektor t = f [101], so daß diese unvollständige Versetzung den Burgers-Vektor fi^ = bs + t = £ [III] besitzt. Sie wird Franksche unvollständige Versetzung genannt. Da Burgers-Vektor und Linienvektor, gleichgültig welchen Verlauf die Versetzungslinie nimmt, immer senkrecht aufeinander stehen, ist die F r a n k s c h e unvollständige Versetzung stets eine Stufenversetzung. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur S h o c k l e y sehen unvollständigen Versetzung. Die beiden Arten unvollständiger Versetzungen unterscheiden sich außerdem in ihren Bewegungsmöglichkeiten. Die Shockleysche unvollständige Versetzung kann, wie leicht einzusehen ist, eine Gleitbewegung in der Stapelfehlerebene ausführen. Eine Kletterbewegung ist jedoch unmöglich. Gerade umgekehrt sind die Verhältnisse bei den F r ankschen unvollständigen Versetzungen. Sie können klettern, aber nicht gleiten. Schließlich soll noch erwähnt werden, daß vollständige und unvollständige Versetzungen miteinander reagieren können. So kann beispielsweise eine vollständige Versetzung mit dem Burgers-Vektor § [110] in zwei Shockleysche unvollständige Versetzungen aufspalten: y[110]^[211]+|-[12T]

oder auch in eine F r a n k s c h e und eine Shockleysche unvollständige Versetzung: y [ H 0 ] - y [ l l l ] + -^[112]. Die erste Reaktion der unvollständigen Versetzung in zwei Shockleysche unvollständige Versetzungen bringt einen Energiegewinn, denn die Summe der Eigenenergien der S h o c k l e y schen unvollständigen Versetzungen ist um den Faktor 2/3 geringer als die Eigenenergie der vollständigen Versetzung. (Die Eigenenergie einer Versetzung ist proportional dem Quadrat des Burgers-Vektors.) Für die zweite Reaktion ist die Quadratsumme der Burgers-Vektoren der unvollständigen Versetzungen genau gleich dem Quadrat des Burgers-Vektors der vollständigen Versetzung, Demnach wäre eine solche Aufspaltung unwahrscheinlich. Genauere Berechnungen der Eigenenergien ergeben aber, daß diese Reaktion in anisotropen Kristallen energetisch begünstigt sein kann. Ganz ähnlich wie im kubisch dichtgepackten Gitter können auch im hexagonal dichtgepackten Gitter Shockleysche und F r a n k s c h e unvollständige Versetzungen durch Stapelfehler hervorgerufen werden. Wir wollen jedoch darauf nicht eingehen, sondern die Ausführungen über Kristallbaufehler an dieser Stelle beenden. 26

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 8. A u f l . 1969

402

Molekularphysik 69. Oberflächenspannung

Besonders auffällig werden die Wirkungen der Molekularkräfte in Flüssigkeiten bei den Erscheinungen der Oberflächenspannung. In Abb. VII, 46 sind in einer Flüssigkeit drei Moleküle Mi, und M3 mit ihren Wirkungssphären in verschiedener Entfernung von der Flüssigkeitsoberfläche gezeichnet. Auf das Molekül M\, das sich mit seiner ganzen Wirkungssphäre innerhalb der Flüssigkeit befindet, wirken von allen Seiten die gleichen Kräfte der benachbarten Moleküle, so daß sich M\ im Gleichgewicht befindet. Bei dem Molekül ragt der gestrichelt gezeichnete Teil der Wirkungssphäre aus der Flüssigkeit heraus. Die Entfernung des Moleküls von der Oberfläche ist kleiner als der Radius o seiner Wirkungssphäre. Es fehlt also für die durch die Flüssigkeitsoberfläche abgeschnittene Kugelkalotte die anziehende Wirkung benachbarter

"

/- "

Abb. VII, 46. Zur Erklärung der Oberflächenspannung

-

Flüssigkeitsteilchen, so daß M2 eine r e s u l t i e r e n d e Z u g k r a f t in d a s I n n e r e d e r F l ü s s i g k e i t h i n e i n e r f ä h r t . Diese senkrecht zur Oberfläche in das Flüssigkeitsinnere gerichtete Kraft wird ein Maximum für die Moleküle, die sich, wie M3, gerade in der Oberfläche befinden. Allerdings wirken die über der Flüssigkeit befindlichen Luft- (oder allgemeiner: Dampf-)Moleküle durch ihre Kräfte dieser Kraft entgegen; doch bleibt in allen Fällen die resultierende Kraft ins Innere der Flüssigkeit gerichtet. Ihre Größe hängt aber offenbar von der Flüssigkeit und von dem darüber stehenden Dampf, kurz, von der Natur der b e i d e n in d e r „ G r e n z f l ä c h e " zusammenstoßenden Substanzen ab. Es erfahren demnach alle in der Flüssigkeitsoberfläche und der darunter liegenden Schicht von der Dicke des halben Durchmessers der Wirkungssphäre befindlichen Moleküle einen nach dem Flüssigkeitsinnern gerichteten Druck, den man als Kohäsionsdruck bezeichnet. Um ein Flüssigkeitsteilchen aus dem Innern der Flüssigkeit an die Oberfläche zu bringen, ist also eine gewisse Arbeit nötig, während der umgekehrte Vorgang mit einem Gewinn von Energie verbunden ist. Dies heißt, daß alle an der Flüssigkeitsoberfläche liegenden Moleküle einen gewissen V o r r a t an p o t e n t i e l l e r E n e r g i e besitzen, die man Oberflächenenergie nennt. Nun bedeutet aber das Hineinbringen eines Flüssigkeitsteilchens in die Oberfläche eine Vergrößerung der Oberfläche, während das Heraustreten eines Moleküls aus der Oberfläche ins Innere der Flüssigkeit eine Verkleinerung der Oberfläche bedingt. Da das stabile Gleichgewicht einem Minimum an potentieller Energie entspricht, wird die Oberfläche einer Flüssigkeit das Bestreben haben, einen möglichst kleinen Wert anzunehmen, d. h. sich zusammenzuziehen: Sie bildet eine sogenannte Minimalfläche. Die zur Vergrößerung einer Oberfläche S um AS erforderliche Arbeit ist ,1W = a • AS. Diese Arbeit ist gleichbedeutend mit dem Zuwachs an Oberflächenenergie. Der Quotient (VII, 1)

Arbeit zur Bildung von neuer Oberfläche A W neue Oberfläche AS

heißt „spezifische Oberflächenarbeit" oder „spezifische Oberflächenenergie". Bei Flüssigkeitslamellen, die meistens zur Messung von a verwendet werden (z. B. Abb. VII, 47), ist der Oberflächenzuwachs ZlS" auf b e i d e n S e i t e n der Lamelle vorhanden, also doppelt so groß wie der Zuwachs der Lamellenfläche. Da Arbeit = Kraft • Weg, also A W= F-Ax, und AS— 2- Ax-1, ist A w

F A x

F

Oberflächenspannung

403

Dieser Ausdruck wird als Oberflächenspannung bezeichnet. Sie ist also der Quotient aus der zum Vergrößern der Oberfläche erforderlichen Kraft F, dividiert durch die Länge 2 l der verschiebbaren Obel flächengrenze. Die Ausdrücke „spezifische Oberflächenarbeit" und „Oberflächenspannung" sind bei Flüssigkeiten gleichberechtigt. Sie haben die gleiche Dimension. Als Einheiten werden benutzt: Ws/m 2 = Newton/m oder erg/cm2 = dyn/cm = 10~3 N/m. Nur in dem Fall, daß die Flüssigkeit an ein Vakuum grenzt, kann man korrekt von Oberflächenspannung sprechen. Man tut dies praktisch aber auch dann, wenn die Flüssigkeit an Luft grenzt. Dagegen spricht man von Grenzflächenspannung, wenn verschiedene Flüssigkeiten aneinandergrenzen. Zur Messung der Oberflächenspannung werden verschiedene Methoden verwendet, die unter dieser und unter der nächsten Nummer (Kapillarität) an geeigneter Stelle besprochen werden. Hier zunächst zwei Möglichkeiten: Man taucht einen Drahtbügel (nach L e n a r d , Abb. VII, 47) in die Flüssigkeit. Der Drahtbügel hängt an einer Waage. Zwischen den Stellen A und B des Drahtes ist ein (Platin-)Faden gespannt, an dem die Flüssigkeit hängenbleibt, wenn die Schale mit der Flüssigkeit gesenkt wird. So wird eine Flüssigkeitslamelle im Drahtbügel gebildet; die Oberfläche wird vergrößert. Man mißt mit der Waage die Kraft, bei welcher die Lamelle gerade zerreißt. Die Oberflächenspannung ist >-Richtung schwingender linear polarisierter Wellen mit gleicher Amplitude. Die Spitze des resultierenden Schwingungsvektors beschreibt eine Schraubenlinie, die auf einem Kreiszylinder liegt Je nachdem, ob Ellipse und Kreis im Uhrzeigersinn oder im Gegenzeigersinn durchlaufen werden, unterscheidet man rechts oder links elliptisch (bzw. zirkulär) polarisierte Wellen. Die Polarisationserscheinungen spielen besonders in der Optik eine große Rolle.

77. Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen Es wurde bereits mehrfach erwähnt, daß in festen elastischen Medien sowohl Longitudinalwellen (Verdichtungswellen) als auch Transversalwellen möglich sind. Dies entspricht der Eigenschaft fester Stoffe, daß sie zweier Arten elastischer Deformationen fähig sind, solcher, die das Volumen, und solcher, die die Gestalt ändern. Nach den Ausführungen in Kapitel V hängen die ersteren von dem Elastizitätsmodul E ab, die letzteren von dem Schub- oder Torsionsmodul G. D a bei Longitudinalwellen nur Verdichtungen und Verdünnungen erzeugt werden, sind solche in allen Medien möglich, die Volumelastizität besitzen, d. h. in festen, flüssigen und gasförmigen Stoffen: Es sind also in allen Aggregatzuständen Longitudinalwellen möglich. Untersucht sei im folgenden die Fortpflanzungsgeschwindigkeit c\ derartiger Wellen. Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit longitudinaler Wellen in Stäben (zur Unterscheidung von Longitudinalwellen im unbegrenzten Medium auch D e h n u n g s w e l l e n genannt) liefert die Theorie den Ausdruck: (VIII, 17)

c,=

Daß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit vom Elastizitätsmodul E abhängen muß, geht schon daraus hervor, daß der Stab bei den Schwingungen Längenänderungen erfährt, die durch den Elastizitätsmodul E bestimmt sind. Auch eine Abhängigkeit von der Dichte o ist von vornherein einleuchtend, da die Frequenz der Schwingungen von der Masse abhängen muß. Es muß betont werden, daß Gl. (VIII, 17) nur gilt, solange die Querabmessungen des Stabes klein gegen die Wellenlänge sind. Ist das nicht der Fall, so wird die Geschwindigkeit der Dehnungswellen frequenzabhängig, und zwar nimmt sie mit wachsender Frequenz ab. Für ein unendlich ausgedehntes festes Medium liefert die Theorie übrigens eine andere Fortpflanzungsgeschwindigkeit longitudinaler Wellen:

Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen (VIII, 17 a)

ci =

E e '

467

1- n (1+10(1-2/0'

wobei /-( die Poisson-Zahl bedeutet. Daß hier ein anderer Wert als beim seitlich begrenzten Stab herauskommt, liegt daran, daß dieser bei Verlängerung eine Q u e r k o n t r a k t i o n erfährt, was im unendlich ausgedehnten Medium natürlich nicht der Fall sein kann. Nach (VIII, 17a) ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im allseitig ausgedehnten Medium größer als in einem Stab des gleichen Materials. Zum Beispiel findet man bei Kupfer (o = 8,9 g/cm 3 , E = 12500 kp/mm 2 , ¡i = 0,35) für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Longitudinalwellen in einem Stab 3700 m/s und in einem unendlich ausgedehnten Medium 4700 m/s. Die Flüssigkeiten u n d Gase sind nur durch e i n e elastische Konstante, den Kompressionsmodul K charakterisiert. A n Stelle des Elastizitätsmoduls tritt einfach K, so daß m a n f ü r die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elastischer Wellen in Flüssigkeiten u n d Gasen den Wert ( V I I I , 18) erhält. Wegen des großen Kompressionsmoduls ergeben sich in Flüssigkeiten Werte von ci, die etwa zwischen 800 u n d 1800 m/s liegen. Besondere Verhältnisse liegen bei Gasen v o r ; denn nach früheren Ausführungen ist ihr Kompressionsmodul K gleich dem D r u c k p, so daß man f ü r die Fortpflanzungsgeschwindigkeit longitudinaler Wellen in Gasen die Gleichung: ( V I I I , 19) erhält. Berechnet m a n nach dieser zuerst von N e w t o n (1686) aufgestellten Gleichung etwa die Geschwindigkeit von Schallwellen in L u f t normaler Dichte (o = 0,001293 g/cm 3 ) bei einem Druck von 760 m m H g aus, so erhält man

Dieser Wert stimmt aber keineswegs mit dem beobachteten Wert 331 m/s überein. Wie L a p l a c e (1816) zeigte, liegt der G r u n d f ü r diese Abweichung in Temperaturänderungen, die bei den Verdichtungen u n d Verdünnungen der Longitudinalwellen in Gasen auftreten. D a die Druckänderungen in der Schallwelle so schnell vor sich gehen, daß kein Temperaturausgleich mit der Umgebung erfolgen kann, u n d die Temperatur des Gases in den Verdichtungen u n d Verdünnungen verschiedene Werte annimmt, darf man f ü r den Kompressionsmodul K nicht den „isothermen" Wert p, sondern m u ß den „adiabatischen" Wert px wählen, wobei x der schon eingeführte F a k t o r ist, dessen wahre N a t u r erst in der Wärmelehre erkannt wird. D a m i t erhält man f ü r die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Schallwellen in Gasen die „ L a p l a c e s c h e Gleichung": ( V I I I , 20) Mit dieser Formel ergibt sich f ü r die Schallgeschwindigkeit in Luft, f ü r die x = 1,4 ist, ein u m j/1.4 größerer Wert als vorhin, d. h. c, = 1/1,4 -280 = 331 m / s , also in völliger Übereinstimmung mit der Erfahrung. — Umgekehrt bietet n u n m e h r (VIII, 20) ein wichtiges Hilfsmittel, u m x zu bestimmen; über die Bedeutung solcher Messungen in der Wärmelehre mehr.

468

Allgemeine Wellenlehre

Wie liegen die Verhältnisse bei Transversalwellen? Am Beispiel der Seilwellen erkennt man, daß durch eine Transversalwelle nur die Gestalt des Seiles geändert wird (während in erster Näherung das Volumen konstant bleibt). Elastische Transversalwellen sind also nur in solchen Körpern möglich, die eine bestimmte Gestalt haben, und das sind die festen Körper. Für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Transversalwellen ist außer der Dichte o der Torsionsmodul G maßgebend. In völliger Analogie zur Gl. (VIII, 17) liefert die Theorie die sowohl für die Ausbreitung der Wellen in Stäben als auch im unendlich ausgedehnten Medium geltende Beziehung: (VIII, 21) für Kupfer (q — 8,9 g/cm 3 ; G = 4640 kp/mm 2 ) ergibt sich ein Wert von 2260 m/s. Wenn in einem festen Körper eine b e l i e b i g e Gleichgewichtsstörung erzeugt wird, so pflanzt sich diese im allgemeinen sowohl als Longitudinalwelle wie auch als Transversalwelle durch das Innere des Körpers fort, und zwar mit der diesen Wellen zukommenden Geschwindigkeit (VIII, 17a) bzw. (VIII, 21). Diese Tatsache wird z. B. regelmäßig bei der Beobachtung der E r d b e b e n w e l l e n an den Seismographen festgestellt. Eine Sonderstellung nehmen die O b e r f l ä c h e n w e l l e n von Flüssigkeiten ein. Ihre Entstehung kann man leicht beobachten, wenn man einen Stein in eine ruhige Wasserfläche hineinwirft (Abb. VIII, 26). An der Einwurfstelle wird das Wasser durch den Stein nach unten gedrückt

Abb. VIII, 26.

Bildung einer Wasserwelle

Ä und muß wegen seiner äußerst geringen Kompressibilität rings herum nach oben ausweichen. Die entstandene Verformung der Oberfläche breitet sich nach allen Seiten gleichmäßig aus. Die Oberflächenwellen gehören nicht zu den elastischen Wellen und sind weder rein transversal noch rein longitudinal. Die einzelnen Flüssigkeitsteilchen bewegen sich nämlich sowohl parallel wie auch senkrecht zur Ausbreitungsrichtung. Bei nicht zu großen Wellenamplituden erfolgt die Bewegung auf Kreisbahnen mit vertikaler Bahnebene. Das kann man mit Hilfe von wenigen Schwebeteilchen zeigen, die der Flüssigkeit (Wasser) zugesetzt sind, wenn bei geeigneter Beleuchtung die Belichtungszeit für eine photographische Aufnahme mit der Periode T der Welle übereinstimmt. In der Zeit T wird nämlich die Kreisbahn gerade einmal durchlaufen, und zwar bei einer nach rechts fortschreitenden Welle im Uhrzeigersinn. Die Beobachtung erfolgt zweckmäßig in einem „Aquarium" von vorn, während die erzeugte Welle quer zur Beobachtungsrichtung läuft. Die Durchmesser der Kreise sind für Teilchen unmittelbar an der Oberfläche gleich dem Höhenunterschied zwischen Wellenberg und Wellental. Mit zunehmender Wassertiefe werden sie kleiner, bis schließlich in einer Tiefe, die etwa der halben Wellenlänge entspricht, überhaupt keine Bewegung mehr stattfindet. Die Kreise stellen die B a h n l i n i e n e i n z e l n e r Teilchen dar. Da die Strömung nicht stationär ist, verlaufen die S t r o m l i n i e n ganz anders als die Bahnlinien. Man gewinnt sie, wenn man der Flüssigkeit eine größere Menge von Schwebeteilchen zusetzt und nur kurzzeitig belichtet. Dann erhält man die momentane Bewegungsrichtung einer V i e l z a h l von Teilchen. Sie liegt auf dem „Gipfel" des Wellenberges parallel zur Oberfläche und stimmt mit der Fortschreitrichtung der Welle überein. In der „Talsohle" verläuft die Strömung ebenfalls parallel zur

Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen

469

Oberfläche, jedoch entgegengesetzt zur Fortschreitrichtung der Welle. Dazwischen erfolgt ein allmählicher Übergang, d. h. etwa auf halber Höhe des Wellenberges liegt die momentane Bewegungsrichtung senkrecht zur (geneigten) Oberfläche, und zwar ist die Strömung an der Vorderseite des Berges auf die Oberfläche zu- und an der Rückseite von ihr weggerichtet. Strom- und Bahnlinien stimmen also nur auf dem Maximum des Wellenberges und am Minimum des Tales überein. Daß das an allen anderen Orten der Welle nicht der Fall ist, leuchtet zunächst nicht ein. Man muß sich aber vor Augen halten, daß eine Stromlinie von einer großen Zahl von Teilchen und damit aus vielen sehr kleinen Abschnitten v e r s c h i e d e n e r Bahnlinien gebildet wird. Während der Bewegung erfolgt eine fortgesetzte Umwandlung von potentieller in kinetische Energie, d. h., die Schwerkraft spielt die entscheidende Rolle ( „ S c h w e r e w e l l e n " ) . Das gilt jedoch nur für größere Wellenlängen. Bei kleinen Wellenlängen muß auch die Oberflächenspannung berücksichtigt werden. Ihr Einfluß wird bei einer bestimmten Wellenlänge (für Wasser 1,7 cm) gleich dem der Schwerkraft. Unterhalb dieser Wellenlänge überwiegt die Oberflächenspannung, und anstelle der Schwerewellen treten die K a p i l l a r w e l l e n . Wird die Teilchenbewegung unter der Oberfläche behindert (Anlaufen der Welle gegen ein flaches Ufer), so wird der Wellenberg zunehmend steiler, bis die Welle „bricht" (überschlägt). Dabei wird plötzlich die gesamte potentielle Energie der Wellenfront frei. In letzter Zeit hat sich das „Wellenreiten" (engl. „Surfriding" oder „surfing") an flachen Meeresküsten mit langwelliger „Dünung" zu einem beliebten Sport entwickelt, zuerst an den Küsten von Hawaii. Man benötigt dazu ein etwa 2—3 m langes, leichtes, abgerundetes Brett von besonderer Form (meist aus Kunststoff), dessen Enden leicht nach oben gewölbt sind, und das unter dem hinteren Ende — ähnlich wie ein Boot — ein kleines feststehendes Steuer zur Kursstabilisierung besitzt. Der Wellenreiter muß zunächst aus eigener Kraft annähernd die Geschwindigkeit der Welle erreichen, bevor er sich an der Vorderseite des Wellenberges mit diesem mitbewegen kann. Ist die unterhalb des Kammes nahezu senkrecht zur Oberfläche gerichtete Strömung stark genug, so wirkt sie wie ein zusätzlicher Auf- und Vortrieb. Das ist bei Wellen der Fall, bei denen der Höhenunterschied zwischen Berg und Tal nicht viel weniger als 3 m beträgt. Gerät der Wellenreiter zu weit ins Wellental, so wird er von der dort einsetzenden Gegenströmung, die annähernd parallel zur Oberfläche verläuft, gebremst und von der Welle überholt.

Unter bestimmten vereinfachenden Annahmen läßt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit c der Oberflächen wellen berechnen. Für Schwerewellen (d. h. bei Wasser für Wellenlängen von etwa 5 cm an aufwärts) erhält man aus der Bedingung, daß die Differenz der kinetischen Energien eines Teilchens auf dem Wellenberg und im Wellental gleich seiner potentiellen Energie sein muß, den Ausdruck (VIII, 22) Darin ist Ä die Wellenlänge und g die Fallbeschleunigung. Voraussetzung für die Gültigkeit dieser Formel sind kleine Amplituden, d. h. Kreisbewegungen der Flüssigkeitsteilchen und Sinusform der Welle. Die Beziehung enthält etwas Neues: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit c ist nicht mehr konstant, sondern hängt von der Wellenlänge ab. Ein solches Verhalten wird in Anlehnung an die Optik mit dem Ausdruck Dispersion gekennzeichnet. Es tritt hier also Dispersion auf. Bei den Schwerewellen wächst die Geschwindigkeit mit zunehmender Wellenlänge. Es läßt sich zeigen, daß auch die Kapillarwellen eine Dispersion haben, und zwar bewegen sich hier umgekehrt die kurzen Wellen schneller als die langen. Tatsächlich beobachtet man beim Hineinwerfen eines Steines in eine ruhige Wasserfläche, daß aus dem ersten vorhandenen Ring alsbald mehrere entstehen. Die Störung der Oberfläche durch den Steinwurf stellt nämlich eine Stoßerregung dar, die nicht eine einzige Welle, sondern eine ganze Wellengruppe zur Folge hat. Da sich die Anteile der Gruppe aber verschieden schnell bewegen, d i s p e r g i e r t die Gruppe während der Ausbreitung. In allen Fällen, in denen Dispersion auftritt, muß man zwischen mehreren Arten von Fortpflanzungsgeschwindigkeiten unterscheiden. Die bisher verwendete Größe c wird genauer als

470

Allgemeine Wellenlehre

P h a s e n g e s c h w i n d i g k e i t bezeichnet. Sie ist bei vorhandener Dispersion sinnvoll, solange nur eine einzige Wellenlänge auftritt. Liegt eine Wellengruppe vor, so ist die G r u p p e n g e s c h w i n d i g k e i t maßgebend. Die genauen Definitionen dieser Begriffe sowie ihre Zusammenhänge werden in Band III (Optik) eingehend behandelt. Unter speziellen Anregungsbedingungen lassen sich auch an Festkörpern Oberflächenwellen (Rayleighwellen) erzeugen. Auch hier bleibt die Ausbreitung auf die Oberfläche beschränkt, d. h. auf eine Schicht, deren Dicke etwa eine halbe Wellenlänge beträgt. Das Innere des Festkörpers ist an der Bewegung nicht beteiligt. Eine weitere besondere Wellenform stellen die B i e g e w e l l e n von Stäben und Platten dar. Sie sind ebenfalls nicht rein transversal und zeigen Dispersion. Wegen ihrer Bedeutung in der Akustik sollen sie dort ausführlich behandelt werden. Zum Schluß dieses Abschnittes noch eine Bemerkung zu den elektromagnetischen Wellen: Ihre Besonderheit besteht darin, daß die Ausbreitung nicht an Materie gebunden ist. Im Vakuum ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen konstant und beträgt in guter Näherung 3 • 105 km/s. Bei der Ausbreitung in einem Medium kann Dispersion auftreten. Das hängt von der Art des Mediums und vom Spektralbereich ab. Der Bereich des sichtbaren Lichtes umfaßt im Vakuum (und näherungsweise in Luft) Wellenlängen zwischen 0,4 und 0,8 am. 78. H u y g h e n s - F r e s n e l s c h e s Prinzip; Beugung In Nr. 74 wurde die Wellenfläche als Ort aller derjenigen Punkte definiert, die von einer Welle in gleichen Zeiten vom Erregungszentrum aus erreicht werden. Alle Punkte einer Wellenfläche schwingen also in gleicher Weise und unterscheiden sich demnach grundsätzlich nicht vom Erregungszentrum selbst. H u y g h e n s (1678) sah daher alle Punkte einer Wellenfläche als selbständige Erregungszentren an: Jeder Punkt einer Wellenfläche sendet zur gleichen Zeit Wellen (sogenannte Elementarwellen) in den Raum hinaus; die äußere Einhüllende dieser Elementarwellen soll dann nach Huyghens die tatsächlich beobachtbare Welle ergeben (Huyghenssches Prinzip). Abb. VIII, 27 erläutert H u y g h e n s ' Auffassung sowohl für eine ebene Welle (a) als auch für den Teil einer Kugelwelle (6), der durch eine Öffnung AB hindurchtritt.

f-0

Abb. VIII, 27. Huyghenssches Prinzip, a) für eine ebene und b) für eine kreisförmige Wellenfront

Daß in diesem Prinzip ein richtiger Kern enthalten ist, läßt sich am einfachsten mit Wasserwellen zeigen. In Abb. VIII, 28 a trifft eine ebene Wasserwelle auf eine parallel zur Wellenfront stehende Wand, die nur einen schmalen Spalt als Öffnung enthält. Die Welle bewegt sich durch diese Öffnung keineswegs geradlinig fort, sondern die in der Öffnung befindlichen Wasserteilchen werden zu einem neuen Wellenzentrum, von dem sich kreisförmige Wellen ausbreiten.

471

Huyghens-Fresnelsches Prinzip; Beugung

Daß sich viele solcher längs einer Geraden erzeugten elementaren Kreiswellen wieder zu einer ebenen Welle zusammensetzen, zeigen die Abb. VIII, 28 b und VIII, 29. Bei der Aufnahme Abb. VIII, 28 b trifft eine ebene Welle auf ein Hindernis mit fünf schmalen, dicht nebeneinander liegenden Öffnungen. Die in jeder Öffnung erzeugten Elementarwellen setzen sich wieder zu einer ebenen Welle zusammen. Man kann auch, wie es Abb. VIII, 29 zeigt, gleichzeitig an acht nebeneinander auf einer Geraden liegenden Punkten Kreiswellen direkt erzeugen, die sich gleichfalls in einiger Entfernung von der Erregungsstelle zu einer ebenen Welle zusammensetzen.

a

b

Abb. VIII, 28. Durchgang einer ebenen Wasserwelle a) durch eine, b) durch fünf nebeneinander liegende spaltförmige Öffnungen in einer Wand

Abb. VIII, 29. Interferenz von acht kreisförmigen Wasserwellen, deren ErregungsZentren auf einer Geraden liegen

Abb. VIII, 30. Konstruktion der H u y g h e n s F r e s n e l s c h e n Zonen

Daß man ganz allgemein den Schwingungszustand eines Punktes im Wellenfeld als Überlagerung sämtlicher Elementarwellen in diesem Punkt betrachten kann, hat zuerst F r e s n e l (1819)erkannt. Dadurch, daß F r e s n e l das H u y g h e n s s c h e P r i n z i p mit dem I n t e r f e r e n z p r i n z i p verknüpfte, erhielt jenes erst seine große Fruchtbarkeit. Es war möglich, nicht nur die Vorgänge der Reflexion und Brechung zu erklären, was schon H u y g h e n s getan hatte (siehe Nr. 79), sondern auch die Ausbreitung von Wellen um Hindernisse, die sogenannte Beugung v o n W e l l e n , aus demselben Prinzip zu deuten. Es mag auf den ersten Blick so scheinen, als ob die Einführung vieler Elementarwellen an Stelle einer einzigen Welle das Problem viel komplizierter gestalte. Man wird jedoch an den folgenden Beispielen sehen, daß das H u y g h e n s F r e s n e l s c h e Prinzip eine erstaunliche Leistungsfähigkeit trotz der relativen Einfachheit der

Allgemeine Wellenlehre

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benötigten Mittel besitzt, die es selbst heute noch unentbehrlich macht, wenn es gilt, die bei einer Wellenbewegung auftretenden Erscheinungen vorauszusagen und verständlich zu machen. Zunächst ist ersichtlich, daß die Kombination des Interferenzprinzips mit dem Huyghensschen Gedanken überhaupt erst dessen Behauptung verständlich macht, daß die Einhüllende der Elementarwellen die neue Wellenfläche bei der Fortpflanzung liefert. Die z. B. in den Abb. VIII, 27a und 27b gezeichneten Elementarwellen interferieren, d. h. vernichten bzw. verstärken sich derartig, daß nur die Einhüllende als neue Wellenfläche übrigbleibt, was ohne diese Interferenz einfach unverständlich wäre. Im folgenden untersuchen wir als Beispiel für das H u y g h e n s sehe Prinzip unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Interferenz der Elementarwellen die freie Ausbildung einer Kugelwelle. Sie gehe in Abb. VIII, 30 vom Punkt O aus und habe nach einer gewissen Zeit die Kugelfläche AAQA (Wellenfläche) erreicht. Nach dem Huyghensschen Prinzip soll nun jeder Punkt dieser Wellenfläche als selbständiges Erregungszentrum betrachtet werden können, d. h. von jedem Punkte sollen neue elementare Kugelwellen ausgehen. Wir fragen nach der Wirkung etwa im Punkt B, und wir können uns, um ein konkretes Beispiel vor Augen zu haben, in O eine Licht- (oder Schall-)Quelle, in B ein Auge (oder Ohr) denken. Ein in B befindliches Auge bekommt nun von der Lichtquelle O nach aller Erfahrung nur Licht längs des „Strahles" OB zugesandt, und dies scheint im Gegensatz zu H u y g h e n s ' Behauptung zu stehen, daß alle Punkte der Wellenfläche AAQA Erregungszentren, d. h. Lichtquellen, sein sollen. Wie erledigt sich dieser Widerspruch? Und was ist an diesem Einwand richtig? Wir werden sehen, daß hier wieder das Interferenzprinzip klärend eingreift. Zu dem Zweck machen wir mit F r e s n e l folgende Überlegung: Die Verbindungslinie von B mit O schneidet die Wellenfläche im Punkt A n . Bewegen wir uns auf der Wellenfläche von Ao fort, so entfernen wir uns von dem Punkt B. Man kann nun Punkte CC auf der Wellenfläche finden, deren Entfernung von B um eine halbe Wellenlänge größer ist als das Stück AQB. Zieht man auf der Wellenfläche einen Kreis mit dem Radius AQC, so entsteht auf der Kugelfläche eine Kalotte, deren sämtliche Punkte nach B Wellen entsenden, deren Phasendifferenz zwischen Null und einer halben Wellenlänge liegt. Wenn wir auf der Wellenfläche noch weitergehen, so finden wir Punkte DD, deren Entfernung von B wieder um eine halbe Wellenlänge größer ist als die Strecke CB. Zeichnet man auf der Wellenfläche wieder einen Kreis mit dem Radius AQD um AQ, SO kommen von dem durch diesen Kreis und die Kalotte begrenzten ringförmigen Stück Wellen nach B mit Phasendifferenzen zwischen j A und A gegen den Zentralstrahl AQB. So schreiten wir weiter fort, bis wir zu den Punkten 7 T kommen, in denen der Tangentenkegel von B die Wellenfläche berührt. Durch die beschriebene Konstruktion ist der innerhalb des Tangentenkegels liegende Teil der Wellenfläche in ringförmige „ Z o n e n " geteilt, die so beschaffen sind, daß die von jeder Zone nach B gelangenden Elementarwellen im Mittel eine um \ A verschiedene Phasendifferenz gegen die unmittelbar benachbarten Zonen haben. Die Amplituden, die die von den einzelnen Zonen ausgehenden Elementarwellen in B für sich erzeugen, seien m \ , ... bis m n . Dann ist die resultierende Verrückung MR im Punkte B nach dem Interferenzprinzip: (VIII, 23)

mr = m1 — m2 + m3 — m 4 + . . . ± m n .

Nun nimmt aber die Amplitude der Schwingungen jeder Elementarwelle mit wachsender Entfernung von ihrem Erregungszentrum ab. Es läßt sich zeigen, worauf wir hier nicht eingehen können, daß die Wirkung jeder Zone sehr nahe gleich dem arithmetischen Mittel aus der vorhergehenden und der nachfolgenden Zone ist, d. h.: M2~

m.+m, 2

,

m4~

m^ + rn, 2

, •••

Es b l e i b t a l s o f ü r die r e s u l t i e r e n d e A m p l i t u d e in B n u r (VIII,24)

fn r = ~ - ± ~ ,

Huyghens-Fresnelsches Prinzip; Beugung

473

d . h . n u r die H ä l f t e d e r e r s t e n u n d l e t z t e n Z o n e ü b r i g , w ä h r e n d sich alle a n d e r e n g e g e n s e i t i g d u r c h I n t e r f e r e n z a u f h e b e n . Macht man schließlich, wie es zuerst F r e s n e l tat, die weitere Annahme, daß in t a n g e n t i a l e r Richtung von einer Wellenfläche keine Elementarwellen ausgehen, so bleibt in unserem Beispiel für die in B hervorgerufene Verrückung nur die Hälfte der Wirkung der ersten Zone, d. h. der Kugelkalotte mit dem Radius AQC übrig. Das Ergebnis ist nicht auf kugelförmige Wellenflächen beschränkt, sondern gilt allgemein, wie man sich durch Ausführung der obigen Konstruktion leicht überzeugt. Man kann daher den Satz aussprechen: A l l e E l e m e n t a r w e l l e n , die n a c h d e m H u y g h e n s Fresnelschen Prinzip von allen P u n k t e n einer Wellenfläche ausgehen, wirken auf e i n e n v o r der W e l l e l i e g e n d e n P u n k t so, wie die H ä l f t e d e r e r s t e n E l e m e n t a r z o n e , die den F u ß p u n k t des v o n d e m b e t r e f f e n d e n P u n k t auf die W e l l e n f l ä c h e g e f ä l l t e n L o t e s u m g i b t ; die W i r k u n g a l l e r ü b r i g e n Z o n e n w i r d d u r c h Interferenz aufgehoben. Nun ist der Radius der allein wirksamen ersten Zone dadurch bestimmt, daß AQB um eine halbe Wellenlänge kleiner ist als CB. Für das sichtbare Licht, dessen Wellenlängen zwischen 0,4 und 0,8 ¡¿m liegen, ist die Fläche der ersten halben Zone sehr klein, wenn der Abstand des betrachteten Punktes B von der Wellenfläche viele Wellenlängen beträgt, was gewöhnlich zutrifft. Für OAo = I m , AQB = 2 m erhält man z. B. eine Fläche von etwa einem Quadratmillimeter. Der Punkt B bekommt also praktisch die Strahlung von O auf annähernd geradlinigem Wege. D i e L i c h t w e l l e n b r e i t e n sich a l s o d e s h a l b p r a k t i s c h g e r a d l i n i g a u s , weil i h r e W e l l e n l ä n g e n a u ß e r o r d e n t l i c h k l e i n sind. Ganz anders liegen aber die Verhältnisse beim Schall, wo es sich im Gebiet der hörbaren Töne, z. B. der menschlichen Sprache, um Wellenlängen der Größenordnung von 1 m handelt. In diesem Fall ist die erste Zone von erheblicher Ausdehnung; bei einer Wellenlänge von 1 m würde sie bei den gleichen Abmessungen wie vorhin die Größe von einigen Quadratmetern besitzen! Es läßt sich daher auch die Wirkung dieser Zone durch in den Weg gestellte Hindernisse nicht ganz beseitigen, falls diese nicht sehr groß gegen die Wellenlänge sind, d. h. riesige Abmessungen aufweisen.

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ff

Abb. VIII, 31. Beugung ebener Wasserwellen a) beim Auftreffen auf ein ebenes Hindernis, b) beim Durchgang durch eine Öffnung in einer Wand Es k a n n a l s o in a l l e n F ä l l e n , in d e n e n die W e l l e n l ä n g e n g r o ß gegen die A b m e s s u n g e n der H i n d e r n i s s e o d e r m i t i h n e n v e r g l e i c h b a r s i n d , von e i n e r G e r a d l i n i g k e i t der A u s b r e i t u n g k e i n e R e d e m e h r s e i n , d e r B e g r i f f des „ S t r a h les" v e r s a g t h i e r v o l l k o m m e n . Man bezeichnet ganz allgemein die Abweichungen der Wellenausbreitung von der Geradlinigkeit als Beugungserscheinungen. Dies zeigen für ebene Wasserwellen die Abb. VIII, 31a und b, in denen die Wellen gegen ein ebenes Hindernis einer Breite von 4 Wellenlängen bzw. gegen eine gleich große Öffnung in einer Wand anlaufen und in den geometrischen Schattenraum hineingebeugt werden. Durch Beugung erklärt sich auch, warum man auf der Rückseite eines Hauses den Schall hört, der auf der Vorderseite entsteht und nicht durch das Haus hindurchgeht, sondern um das Haus herum-„gebeugt" wird. Aus

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Allgemeine Wellenlehre

dem gleichen Grunde gehen auch die in der Nachrichtenübertragung benutzten langen elektrischen Wellen, die vielfach Wellenlängen bis zu mehreren Kilometern haben, über alle Hindernisse an der Erdoberfläche hinweg. Das H u y g h e n s - F r e s n e l s c h e Prinzip beseitigt also nicht nur den vorhin hervorgehobenen scheinbaren Widerspruch für die kleinen Wellen des Lichtes, sondern zeigt auch, daß für große Wellen von Geradlinigkeit der Ausbreitung in der Tat keine Rede sein kann. Aber damit ist die Fruchtbarkeit des Prinzips noch nicht erschöpft. Unsere bisherige Folgerung, daß eine Welle auf einen Punkt so wirkt, als wenn nur die erste halbe Elementarzone vorhanden wäre, gilt ja nur unter der Voraussetzung, daß die Wellenfläche v o l l s t ä n d i g ist: Nur dann kompensieren sich die Wirkungen der Zonen in der bisherigen Weise durch Interferenz. Blenden wir aber aus der Wellenfront der fortschreitenden Welle Teile aus, so müssen sich in dem betrachteten Punkt B natürlich ganz andere Verhältnisse einstellen. In Abb. VIII, 32 sei

ÛY c\ 0

At

cl

M M

Abb. VIII, 32. Abbiendung der ersten Huyghens-Fresnelschen Zone

n

O wieder der Ausgangspunkt für eine Kugelwelle, AAqA eine Wellenfläche mit der Zonenkonstruktion wie in Abb. VIII, 30, B der Beobachtungspunkt, z. B. ein Auge, das einen Lichteindruck der von O ausgehenden Lichtwelle wahrnimmt. Es werde nun in den Zwischenraum von OB eine kreisrunde Scheibe M M so gebracht, daß sie von B aus gesehen die erste Zone CC ganz verdeckt. Im Falle einer geradlinigen Wellenausbreitung dürfte das Auge in B keinen Lichteindruck von O mehr empfangen. Wendet man aber auf Grund des H u y g h e n s - F r e s n e l schen Prinzips die Gl. (VIII, 23) an und läßt das erste Glied m\, das die Wirkung der abgedeckten Zone darstellt, weg, so bleibt als Wirkung all der anderen Zonen nur der Ausdruck:

-m2 + m* — mA+m c ist, laufen diese Druckwellen auf b e i d e n Seiten der W a n d mit, sind aber u m eine halbe Wellenlänge gegeneinander versetzt. Dieses P h ä n o m e n ist in Abb. IX, 14, wo die W a n d durch einen dünnen Stab u n d die umgebende L u f t durch eine Flüssigkeit ersetzt ist, deutlich zu erkennen. (Die vorderste Kopfwelle wird durch eine schneller laufende Dehnungswelle im Stab verursacht.)

Abb. IX, 14. Kopfwellen in einer Flüssigkeit (Wasser), erzeugt durch Dehnungswellen (oben) und Biegewellen (Mitte) in einem dünnen Stahlstab und sichtbar gemacht mit einer optischen Schlierenmethode (nach E. Meyer). Die Wellen entstanden durch Stoßerregung (Funkenüberschlag zwischen dem Stahlstab und einem darunter befindlichen Kupferblock). Man beachte die Dispersion der Biegewellen: Die Fourier-Komponenten kleinerer Wellenlängen sind im Stab am weitesten fortgeschritten. Die Aufnahme zeigt ferner die vom Entladungsfunken im Wasser erzeugte longitudinale Kugelwelle sowie rechts und links davon je zwei weitere Kopfwellen, die von Transversalwellen (scharfe Fronten) und Longitudinalwellen (schwache Schatten) im Kupferblock ausgelöst wurden D a in einem geschlossenen R a u m die Einfallswinkel der Schallwellen (Wellenlänge ?.), die die Biegewelle anregen, wegen der Reflexionen statistisch verteilt sind, gibt es zu jeder Frequenz oberhalb fg einen Einfallswinkel a , f ü r den die Spurwellenlänge Xs = ¿/sin « mit der Biegewellenlänge übereinstimmt. F ü r diese spezielle Kombination von Frequenz und Einfallswinkel wird die Schallwelle im Idealfall einer unendlichen, verlustfreien W a n d ungeschwächt hindurchgelassen. Die Schallwelle breitet sich dann, wie in Abb. IX, 15 dargestellt, so aus, als ob die

fi ^ Richtung der Schallwelle

% Abb. IX, 15. Schalldurchgang durch eine biegesteife Wand im Fall der Spuranpassung. Ist die Biegewellengeschwindigkeit c& größer als die Schallgeschwindigkeit c, und stimmt die „Spurwellenlänge" As = A/sin a der Schallwelle mit der Biegewellenlänge der Wand überein, so wird die Schallwelle im Idealfall ungeschwächt durch die Wand hindurchgelassen

Schallausbreitung; Reflexion, Brechung, Beugung, Dissipation, Absorption

499

Wand überhaupt nicht vorhanden wäre. Diese von L. C r e m e r mit „Spuranpassung" bezeichnete Erscheinung erklärt die Tatsache, daß die Schalldämmung von Wänden als Funktion der Frequenz oberhalb der Grenzfrequenz fg ein Minimum durchläuft. Dafür hatte man keine Erklärung finden können, weil bisher eine Wand beim Schalldurchgang nur als schwingende Masse aufgefasst worden war, was allein für niedrige Frequenzen zutrifft. Durch die statistische Verteilung der Einfallswinkel besteht die Spuranpassung bei einer bestimmten Frequenz nur für einen kleinen Teil der gesamten einfallenden Schallenergie. Deshalb kann die Schalldämmung der Wand nicht auf Null absinken. Soll eine dünne Wand oder Platte möglichst wenig Schall durchlassen, so muß sie schwer und gleichzeitig biegeweich sein. Aus diesem Grunde werden z. B. mit Bleifolien von nur wenigen mm Dicke erstaunliche Ergebnisse erzielt. Treffen S c h a l l w e l l e n auf ein Hindernis, so werden sie r e f l e k t i e r t . Dadurch erklärt sich z. B. das Echo, das auftritt, wenn man aus einiger Entfernung gegen eine Mauer, eine Felswand oder auch einen Waldrand ruft. D a man zum Aussprechen einer Silbe etwa V5 s benötigt, erhält man die Entfernung d, um die man mindestens von der Wand abstehen muß, damit man den zurückgeworfenen Schall erst nach dem Aussprechen der Silbe hört, durch die Gleichung: 2 d = \ - 340 m; d. h., d = 34 m. Ist man um ein Mehrfaches dieser Strecke von der reflektierenden Wand entfernt, so kann man ein mehrsilbiges Echo beobachten.

Befindet man sich so nahe an der Wand, daß der zurückgeworfene Schall schon eintrifft, ehe eine Silbe vollständig ausgesprochen ist, so geht das Echo in den sogenannten Nachhall über. Dieser spielt für die Hörbarkeit und Deutlichkeit von Schallsignalen eine wichtige Rolle. Eine gewisse Nachhallzeit ist für gutes Hören günstig, da durch die längere Dauer des akustischen Reizes auf das Ohr das Gehörte deutlicher wird. Eine Stimme klingt „leer", wenn man auf Bergen oder vollkommen freiem Felde spricht, wo die Wirkung der Nachhall erzeugenden reflektierenden Wände fehlt. Dasselbe ist der Fall in sogenannten „schalltoten" Räumen, in denen man durch Auskleiden der Wände mit schallabsorbierenden Stoffen absichtlich jede Reflexion unterbindet. Anderseits kann in geschlossenen größeren Räumen die Nachhallzeit oft so groß werden, daß sie außerordentlich störend wirkt; man spricht dann von einer schlechten H ö r s a m k e i t oder s c h l e c h t e n A k u s t i k . Als Nachhallzeit eines Raumes wird die Zeit definiert, in der die Schallenergie auf den millionsten Teil abnimmt. Voraussetzung für diese Definition ist eine statistische Verteilung der Reflexionen. Da bei jeder Reflexion ein Teil der Schallenergie in Wärme umgewandelt wird, ist die Nachhallzeit Tder mittleren freien, d. h. der reflexionslosen Weglänge des Schalls und damit dem Raumvolumen V proportional. Umgekehrt proportional ist sie der Wandfläche A, der Schallgeschwindigkeit c und dem später zu definierenden Schallschluckgrad a> cos cot. dt

Der Massenwiderstand ist also Wm = und bewirkt gleichzeitig eine Phasenverschiebung von n/2 zwischen Druck und Schnelle. Dies ist im wesentlichen der Widerstand eines Lautsprechers. Der Strahlungswiderstand eines gegen die Wellenlänge kleinen Senders mit der Oberfläche S ist Ws = ^ Q f 2 S/c. In Luft ist der Strahlungswiderstand immer sehr klein gegen den Massenwiderstand. Deshalb ist die Anpassung beim Lautsprecher schlecht, er kann also nur wenig Energie an die Luft übertragen. Als Gegenbeispiel soll der Kopfhörer dienen. Hier treten keine Anpassungsprobleme auf, und man kommt mit geringen elektrischen Leistungen aus; denn seine Wirkungsweise beruht, wie schon erwähnt, nicht auf wellenförmiger Abstrahlung. Vielmehr verhält sich das Luftvolumen zwischen Membran und Trommelfell wie eine Druckkammer, wenn im günstigsten Fall der Kopfhörer so dicht am Ohr anliegt, daß kein Druckausgleich mit der umgebenden Luft stattfinden kann. Dann sind trotz der kleinen Membranfläche auch tiefe Frequenzen gut hörbar. Gute Kopfhörer übertragen einen Frequenzbereich von 30 bis 20000 Hz mit einer einzigen Membran. Hierzu würde man ein ganzes System von Lautsprechern und erhebliche elektrische Leistungen benötigen, da jeder Lautsprecher des Systems nur einen Teilbereich übertragen kann. Die Wirkung des bekannten trichterförmigen Sprachrohres beruht auf einer verbesserten Anpassung und damit auf einer vergrößerten Energieabgabe. Daß dem Schwingungssystem der menschlichen Stimme dabei tatsächlich mehr Energie entzogen wird, kann man

540

Akustik

selbst leicht an der schnelleren Ermüdung merken. Die vielfach übliche Darstellung, der Trichter bewirke durch Reflexion eine Bündelung der Schallwellen, ist nur für sehr hohe Frequenzen (Zischlaute der Konsonanten) zutreffend. Bei mittleren und niedrigen Frequenzen liegt dagegen die Wellenlänge in der Größenordnung der Trichterlänge, so daß von Reflexion keine Rede sein kann. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, daß es bei der Betrachtung von Schallwellen, die auf Hindernisse auftreffen, grundsätzlich notwendig ist, zunächst die Größe des Hindernisses mit der Schallwellenlänge zu vergleichen, bevor man geometrische Strahlenkonstruktionen anwendet, die oft zu falschen Ergebnissen führen. Besonders günstige Anpassungsverhältnisse liegen selbstverständlich vor, wenn das schwingende System aus dem gleichen Material besteht wie das umgebende Medium, also bei den schwingenden Luftsäulen. Hieraus erklärt sich die verhältnismäßig große Schallabstrahlung der schwingenden Luftsäulen gegenüber anderen Schallsendern. Man kann also eine verbesserte Anpassung auch dadurch erreichen, daß man mit dem vorhandenen schwingenden System zunächst eine Luftsäule in Schwingung versetzt, wie dies z. B. beim Marimbaphon geschieht. Hier ist der schwingende Stab durch eine kleine Amplitude, aber große Rückstellkraft gekennzeichnet. Die Anpassung besteht in der Umwandlung in eine Schwingung mit kleinerer Rückstellkraft, aber größerer Amplitude, also in einer „akustischen Hebelübersetzung". Ein Beispiel für eine mechanische Hebeluntersetzung zur besseren Anpassung liefert uns die Natur in den drei Gehörknöchelchen Hammer, Amboß und Steigbügel. Sie verkleinern die Amplitude der Schwingungen des Trommelfells und passen sie damit den Flüssigkeitsschwingungen in der Gehörschnecke an. 84. Ultraschallsender Eine besondere Rolle spielen in der modernen Akustik die Schallsender zur Erzeugung von Ultraschall. Es wurde bereits erwähnt, daß es möglich ist, mit einer G a l t o n - P f e i f e Ultraschallschwingungen bis etwa 30 kHz zu erzeugen. Außer dieser Pfeife, die nur kleine Schallenergien liefert, benutzt man heute zur Erzeugung sehr kräftiger Ultraschallwellen den sogenannten magnetostriktiven sowie den piezoelektrischen Schallsender. Bereits im Jahre 1847 entdeckte J. P. J o u l e , daß ein Eisen- oder Nickelstab bei der Magnetisierung eine Längenänderung erfährt, eine Erscheinung, die man Magnetostriktion nennt. Bringt man den Stab in die Achse einer von Wechselstrom durchflossenen Spule, so wird er im Rhythmus der Wechselstromfrequenz ummagnetisiert, erleidet im gleichen Tempo periodische Längenänderungen und wird so zu elastischen Längsschwingungen angeregt. Die Amplitude der Stabschwingungen wird ein Maximum, wenn die Frequenz des elektrischen Wechselstromes mit einer mechanischen Eigenfrequenz des Stabes übereinstimmt, die durch die Stablänge, die Dichte und den Elastizitätsmodul gegeben ist. Da man Wechselstrom variabler Frequenz bequem erzeugen kann, läßt sich Resonanz zwischen elektrischer und Stabfrequenz leicht erreichen. Daher ist es möglich, sehr intensive Schallschwingungen unter Benutzung geeigneter Stäbe bis zu 60 kHz zu erzeugen. In diesem Fall beträgt die Länge eines in der Grundschwingung erregten Nickelstabes nur 4 cm; die Schallwellen werden von den Endflächen des schwingenden Stabes abgestrahlt. Eine noch größere Bedeutung haben die p i e z o e l e k t r i s c h e n S c h a l l s e n d e r , mit denen sich Frequenzen bis zu mehreren hundert Millionen Hertz erzeugen lassen. Im Jahre 1881 entdeckten die B r ü d e r C u r i e , daß bei Kristallen mit polaren Achsen (z. B. Turmalin, Quarz, Bariumtitanat, Zinkblende, Rohrzucker) durch Druck oder Dehnung in bestimmten Richtungen elektrische Ladungen an den Enden der polaren Achsen auftreten. Diese Erscheinung, die man als piezoelektrischen Effekt bezeichnet, wird in der Elektrizitätslehre ausführlich behandelt. Umgekehrt erfährt ein derartiger Kristall in einem elektrischen Feld, dessen Richtung mit der polaren Achse zusammenfällt, mechanische Deformationen (reziproker piezoelektrischer Effekt). Man schneidet zu diesem Zweck aus einem Quarzkristall, dessen drei zweizählige, zur

Ultraschallsender

541

optischen Achse senkrecht verlaufende Achsen polar sind, Stäbe oder Platten entsprechend der in Abb. I X , 61 angegebenen Orientierung so heraus, daß ein Flächenpaar senkrecht zu einer polaren Achse ( X in Abb. I X , 61) liegt. Versieht man dieses Flächenpaar mit Metallbelegungen und legt man diese an eine elektrische Wechselspannung, so wird das Kristallstück zu elastischen Schwingungen angeregt, deren Amplitude ein Maximum erreicht, wenn die elektrische Frequenz mit einer der mechanischen Eigenfrequenzen des Kristallstückes übereinstimmt. Dabei sind infolge der Kristallstruktur zwei Fälle möglich: Der Quarz schwingt entweder in Richtung der polaren Achse X oder in der zur polaren und optischen Achse senkrechten Richtung Y. Es ist üblich, Quarzplatten in der ersten, Quarzstäbe in der zweiten Schwingungsart anzuregen. Man

Abb. IX, 61. Schnittlage von piezoelektrischen Quarzplatten und Stäben

Abb. IX, 62. Ultraschallquarz in einer Halterung bezeichnet diese beiden Schwingungsformen als D i c k e n s c h w i n g u n g und als L ä n g s s c h w i n gung. A u f Grund von Gl. ( I X , 13) erhält man für die Grundfrequenz der Längsschwingung eines Quarzstabes von der Länge / cm die Beziehung: 269000 T T

und entsprechend für die Grundfrequenz der Dickenschwingung einer Quarzplatte der Dicke d cm die analoge Gleichung: v=

283900 T T — Hz.

d

Denn für den ersten Fall ist der Elastizitätsmodul des Quarzes 7871 kp/mm2, für den zweiten dagegen 8711 kp/mm2, während seine Dichte q = 2,65 ist. Eine Quarzplatte von 1 mm Dicke liefert demnach bei Erregung in der Grundschwingung eine Frequenz von 2,84 • 106 Hz, d. h. Wellen, die in Luft nur eine Wellenlänge von 0,11 mm besitzen. Abb. I X , 62 zeigt die Halterung eines für größere Schalleistungen gebauten Ultraschallquarzes. Die viereckige Quarzplatte mit 50 cm 2 Oberfläche liegt auf einer dicken Bleiplatte, die die eine Elektrode darstellt. Die Oberfläche der Quarzplatte ist metallisiert und bildet die zweite Elektrode. Die Stromzuführung erfolgt über einen Metallrahmen, der von vier Metallfedern gegen den Quarz angedrückt wird.

542

Akustik

Da es für großflächige Ultraschallgeber im Frequenzbereich 20 bis 30 kHz, wie sie für Unterwasserschallgeber (z. B. beim Echolot) Verwendung finden, schwierig ist, genügend große homogene Quarzplatten zu beschaffen, setzt man Platten aus kleineren Stücken mosaikartig zusammen und kittet sie zwischen Stahlplatten von mehreren Zentimetern Dicke. Abb. IX, 63 zeigt einen zuerst von L a n g e v i n gebauten zusammengesetzten piezoelektrischen Schallsender, bei dem zwischen zwei 30 mm dicken Stahlplatten Si und S2 ein Mosaik aus 2 mm starken Quarzplatten Q eingekittet ist. Da Quarz und Stahl annähernd die gleiche Schallgeschwindigkeit haben, schwingt das ganze System wie eine einheitliche Platte von der Dicke 6,2 cm und erzeugt dementsprechend eine Schallfrequenz von 38 kHz. In den letzten Jahren ist es gelungen (Bommel und D r a n s f e l d sowie B a r a n s k i u.a.), Quarzkristalle piezoelektrisch und Nickelschichten magnetostriktiv zu Schwingungen anzuregen, deren Frequenz um 1010 Hz liegen. Man spricht bei derart hohen Frequenzen von H y p e r s c h a l l .

S, ~a Abb. IX, 63. Schnitt durch einen zusammengesetzten piezoelektrischen Ultraschallsender nach L a n g e v i n

85. Meßgrößen des Schallfeldes Vor der Behandlung der Schallempfänger, müssen wir die Meßgrößen eines Schallfeldes genauer erörtern. Es genügt, das Feld einer ebenen Welle zu betrachten, da alles grundsätzlich Wichtige schon in diesem einfachen Fall erkennbar ist. In einer ebenen Welle, die sich längs der positiven ^-Richtung fortpflanzt, gehorcht die Verrückung £ eines Teilchens aus der Ruhelage, in Übereinstimmung mit Gl. (VIII, 3), der Gleichung für den „Schallausschlag": (IX, 22a)

£ = f s i n 2 7 i v ^ f - - ^ = |sinco

wenn a> = 2 nv die Kreisfrequenz bedeutet; £ ist die Schwingungsamplitude. U m die Geschwindigkeit eines Teilchens v = d^/dt zu erhalten, haben wir (IX, 22 a) nur nach der Zeit zu differenzieren : (IX, 22b)

v= ^

= Z c o c o s ( o ( ^ - ^ j = vcos(o(^t-^-

Zur Darstellung des Schallwechseldruckes p gelangt man, indem man von der N e w t o n sehen Bewegungsgleichung ausgeht. Diese sagt aus, daß das Produkt aus Dichte q und Beschleunigung d2£/dt2 gleich der wirkenden Kraft pro Volumen ist. Als solche kommt hier nur das Druckgefälle in der ^-Richtung, — dp/dx, in Frage. Das wurde bereits in allgemeinerer Form in der Hydrodynamik dargelegt. Die Bewegungsgleichung lautet also: d2£ _ ~dtr~

Q

_dp dx'

durch nochmalige Differentiation von (IX, 22 b) nach der Zeit t und Multiplikation mit 0 ergibt sich sofort: x d2t a 2 • I \ dP 0 - 7 7 2 " = - c e « > sin CO t — - ) = —

Meßgrößen des Schallfeldes

543

und die Integration dieser Gleichung über x liefert unmittelbar die gesuchte Abhängigkeit des Druckes von Ort und Zeit:

p = p0 + %Q(occos c o ^ f —

(IX, 22c)

wovon man sich am einfachsten durch Rückwärtsdifferentiation überzeugt; po ist der konstante normale Luftdruck, wenn keine Schallwellen vorhanden sind. Die hier auftretende Größe \omc = p nennt man entsprechend die Druckamplitude. Die Werte der drei Amplituden noch einmal zusammengestellt: Verschiebungsamplitude: | Schnelleamplitude: v = | • co Druckamplitude: p = ^oojc = voc.

I

Alle drei können unter gewissen Bedingungen durch geeignete Schallempfänger gemessen werden. Die Amplituden q, v, p hängen eng zusammen mit gewissen Energiegrößen. Als Schallintensität I bezeichnet man die durch eine zur Fortschreitungsrichtung senkrechte Flächeneinheit in der Sekunde hindurchgehende Energie; sie wird entweder in erg/cm 2 s oder in Watt/cm 2 gemessen. Die gesamte, in einer Sekunde von der Schallquelle nach allen Richtungen in den Raum ausgestrahlte Energie wird als Schalleistung P bezeichnet; da man sie erhält, wenn man die Schallquelle mit einer geschlossenen Fläche umgibt und die durch jeden Quadratzentimeter pro Sekunde hindurchtretende Energie summiert, ist P in Watt zu messen. Beispiele für die Schalleistung einiger Schallquellen: Schallquelle

P in Watt

Unterhaltungssprache Höchstleistung der menschlichen Stimme . . Geige (fortissimo) Flügel (fortissimo) Trompete (fortissimo) Orgel (fortissimo) Ultraschallsender Pneumatischer Lautsprecher (bis 1 kHz) . .

rund 7 • 10 6 rund 2- 10"3 rund 1 • 10~3 rund 2 • 1 0 1 rund 3•10" 1 1-10 103 104

Nach obiger Definition erfüllt die Schallintensität einen Quader von 1 cm 2 Grundfläche und einer Höhe gleich dem Produkt von Schallgeschwindigkeit mal Zeit. In jedem Kubikzentimeter ist also enthalten die Energiemenge: (IX, 24)

£ = - ; c

E ist die mittlere Energiedichte oder Schalldichte; ihr Wert wurde schon in der Wellenlehre angegeben: (IX,25a)

£ =^ e l

2

= 27c 2 v 2 ß| 2 = y

ßco 2 ! 2 .

Für die Schallintensität I ergibt sich demnach aus (IX, 24): (IX,25b)

I = Ec =

^q(o 2Z 2c.

Diese Ausdrücke kann man mit den in (IX, 23) angegebenen Werten der Druckamplitude p und der Schnelleamplitude v in Beziehung setzen; so ergibt sich:

544 (IX, 26)

Akustik I = Ec = ~ QCV2 = ßv = -^r — 2 2 2 QC

denn zwischen v und p besteht nach (IX, 23) noch die Beziehung: (IX, 27)

t =

QC

Man kann also durch Messung von f und a> oder von p oder von v die Schallintensität / bzw. die Schalldichte E bestimmen; umgekehrt ergibt die Messung von E die Größen v und p, vorausgesetzt, daß die Schallgeschwindigkeit c in dem betreffenden Medium bekannt ist. Gl. (IX, 27) stimmt formal mit dem Ohmschen Gesetz der Elektrizität überein, nach dem .. , elektrische Spannung . .. „ , . Stromstarke = -r-,— : — r-r-, ist; es treten also in Analogie zueinander die Großen: Elektrielektrischer Widerstand sehe Stromstärke und Schnelleamplitude v, elektrische Spannung und Druckamplitude p elektrischer Widerstand und die Größe QC; letztere wird daher als S c h a l l w i d e r s t a n d des betreffenden Mediums bezeichnet. Es ist z. B. der Schallwiderstand der Luft 43 g c m - 2 s _ 1 , von Wasser dagegen 146000 g cm~2 s _ 1 und von Eisen sogar 3,9- 1 0 6 g c m ~ 2 s _ 1 ; die Einheit (gcm~ 2 s _ 1 ) wird auch als a k u s t i s c h e s O h m bezeichnet. Die Analogie der Gl. (IX, 27) mit dem Ohmschen Gesetz ist in der Ausdrucksweise sehr bequem; es ist indessen nicht zu übersehen, daß die als Schallwiderstand bezeichnete Größe QC — im Gegensatz zum Ohmschen Widerstand — keine Energie in Wärme umwandelt.

Die drei Amplituden f , ö, p sind im allgemeinen sehr kleine Größen. Nehmen wir z. B. die Druckamplitude p = 1 dyn/cm 2 , was für normale akustische Verhältnisse schon ein recht großer Wert ist (das Ohr reagiert noch auf 10~3 dyn/cm 2 ), obwohl er nur ein Millionstel des Atmosphärendruckes beträgt, so gehört für einen Ton von 1000 Hz zu diesem p-Wert in Luft eine Schnelleamplitude ö = — = 2,3 • 10" 2 cm/s QC

und eine Verschiebungsamplitude | = — = 3,6-10"6cm. CO

Deswegen können unter normalen Verhältnissen alle drei Größen (Verrückung Schnelle v, Druckschwankung p — po) als unendlich klein behandelt werden, und diese Annahme wird in der Tat im allgemeinen zugrunde gelegt. Die genannten 3 Größen sind periodische Funktionen der Zeit, und darin ist es begründet, daß die zeitlichen Mittelwerte, die wir durch Überstreichen kenntlich machen, sämtlich gleich Null sind, weil die positiven und negativen Abweichungen von der Nullage sich kompensieren: ¿ = 0;

v = 0;

p-p

o = 0.

U n d d e n n o c h b e o b a c h t e t m a n — a l l e r d i n g s n u r in s t a r k e n S c h a l l f e l d e r n —, d a ß d e r M i t t e l w e r t d e r D r u c k s c h w a n k u n g p — po v o n N u l l v e r s c h i e d e n , u n d z w a r g l e i c h d e r m i t t l e r e n E n e r g i e d i c h t e d e s S c h a l l f e l d e s ist. Dies liegt daran, daß in so starken Schallfeldern die Annahme nicht mehr gerechtfertigt ist, J, v, p seien unendlich kleine Größen. Wir haben in der obigen Berechnung von dieser Annahme stillschweigenden Gebrauch bei der Bestimmung von p — po gemacht, indem wir bei der Integration der Bewegungsgleichung die Dichte o, die als Faktor neben \ auftritt, als konstant behandelt haben, was natürlich streng genommen nicht richtig ist, da nach dem im Schallfeld geltenden adiabatischen Gesetz pjq* = const bei variablem Druck p auch die Dichte g notwendig variieren muß. Wenn man die Rechnung exakt durchführt, so erhält man statt (IX, 22c) das Resultat: (IX,22d)

p — p0 = ßcoscü[t

x c= 2 cIo l i —x — ) , — —>j +~ 2Ecos

Meßgrößen des Schallfeldes

545

das sich durch das A u f t r e t e n e i n e s z u s ä t z l i c h e n q u a d r a t i s c h e n von der früheren Gleichung unterscheidet. Da allgemein 2 1 1 cos (p = — + —

Kosinusgliedes

_ cos2(p

ist, kann diese Gleichung auch geschrieben werden: p — p0 — p cos co^t — ^ j + E cos 2 co^t — ^ j + E, und wenn man hier das zeitliche Mittel bildet, heben sich die Kosinusglieder weg, und es folgt sofort: P-P o = E, wie oben behauptet wurde. Das heißt: I n e i n e m v o n S c h a l l w e l l e n d u r c h s t r a h l t e n M e d i u m h e r r s c h t im M i t t e l e i n Ü b e r d r u c k , d e r s o g e n a n n t e Schallstrahlungsdruck p* = p — po, d e r g l e i c h d e r m i t t l e r e n E n e r g i e p r o V o l u m e n ( S c h a l l d i c h t e ) ist. Mit Rücksicht auf (IX, 26) kann man daher schreiben: (IX,28)

p* = J ~ f

0

=E=

=

Bei sehr kleinen Amplituden fällt der Schallstrahlungsdruck nicht ins Gewicht, da er proportional dem Quadrat der kleinen Größen p oder v, also klein von 2. Ordnung ist. In starken Schallfeldern, wie sie z. B. mit Ultraschallsendern erzeugt werden können, kann er Werte bis zu 1000 dyn/cm 2 annehmen. Seine Messung liefert unmittelbar entweder die Schnelleamplitude v oder die Druckamplitude p. Obwohl es nicht möglich ist, die exakten Formeln (IX, 22 d) und (IX, 28) elementar abzuleiten, kann man doch wenigstens zeigen, daßp* proportional £ ist. Wir brauchen zu diesem Zweck nur in der obigen Rechnung, die zur Gl. (IX, 22c) für p — po führte, die Veränderlichkeit der Dichte Q zu berücksichtigen. Da p = Co" ist, folgt für kleine Druck- und Dichteänderungen durch Differentiation: dp

=

dg = (px/QX) Q"-1 do = px/G • dq .

CXQ"-1

2

Darin ist nun aber py.jp = c , dem Quadrat der Schallgeschwindigkeit; also folgt: dp = c2 do,

und natürlich ebenso:

dp/dx = c2 dqjdx.

Diesen Wert von dp/dx setzen wir in die vor (IX, 22c) stehende Newtonsche Bewegungsgleichung ein und erhalten: (|ga)2/c2) sin a>{t — x/c) = dojdx, oder: (!OJ 2 /C 2 ) sin CO (t — x/c) = ( 1 / ß ) dojdx = (djdx) In o. Die Integration liefert sofort: In Q = In QO + (lw/c) cos co (/ — x/c), oder durch Übergang zu den Numeris:

G =

QO e < i w / c ) COS M (T-X/C) _

Da der Exponent klein ist, können wir die Exponentialfunktion entwickeln nach dem Schema: ez = 1 + z +

...,

wobei wir hinter dem linearen Glied abbrechen; das gibt also: (IX, 22e)

Q =

QO

{1 + (|co/c) cos co (f — x/c)}

=

QO +

(ßCOQO/c)

cos o)(t — x/c).

Diese Gleichung liefert uns die Dichteschwankung Q — QO, die in dem durchstrahlten Medium auftritt; QO ist natürlich die Normaldichte. 35

Bergmann-Schaefer I, 8. Aufl. 1969

546

Akustik

Wenn wir nun den Druck genauer berechnen wollen, müssen wir diesen variablen Wert von o in die Bewegungsgleichung einsetzen und erhalten: (|CO 2 £>O)

oder:

sin co (/ — x/c) {1 + (|co/c) cos co(t — x/c)} = dp/dx, 2

dp/dx = |cu go sin co(t — x/c) + (|2co3go/c) sin co (/ — x/c) cos co (/ — x/c),

und hier sieht man nun tatsächlich ein n i c h t l i n e a r e s G l i e d auftreten, das den Faktor f 2 enthält und deshalb unter normalen Schallbedingungen vernachlässigt werden darf. Die Integration liefert sofort, was man wieder am einfachsten durch Rückwärtsdifferentiation bestätigt: P — Po + fgococ cos a> (t — x/c) + | | 2 tu 2 go cos 2 co (t — x/c) oder nach (IX, 23) und (IX, 25 a): P = Po + P cos 0>{t — x/c) + E cos 2 co (i — x/c). Aus dieser Gleichung folgt durch Mittelbildung: P* =P — Po= \ E, also abgesehen von dem unrichtigen Faktor \ das Resultat, daß p* proportional E ist. Daß hier noch der Faktor auftritt, liegt an Vernachlässigungen der Rechnung, die der Einfachheit halber gemacht wurden; man kann aber jedenfalls aus ihr ersehen, daß die Berücksichtigung der höheren (nicht linearen) Glieder einen Überdruck liefern muß. Die nichtlinearen Glieder spielen auch eine Rolle bei den später zu behandelnden Kombinationstönen. Die Existenz des Schallstrahlungsdruckes macht sich bei den großen Schallintensitäten, die m a n mit Ultraschall erzielen k a n n , in besonders auffälliger Weise bemerkbar. Treffen z. B. (Abb. IX, 64) Ultraschallwellen, die in einem Ölbad erzeugt werden, von unten in einem Parallelstrahlenbündel gegen die Oberfläche des Öls, so wird dies in F o r m einer F o n t ä n e mehrere

Abb. IX, 64. Durch den Schallstrahlungsdruck von Ultraschallwellen erzeugte Ölfontäne

Abb. IX, 65. Vom Schallstrahlungsdruck von Ultraschallwellen erzeugte Flüssigkeitssprudel (nach H e r t z und M e n d e ) a) Wasser über Tetrachlorkohlenstoff b) Wasser über Anilin

Zentimeter in die H ö h e geschleudert, und m a n k a n n aus der H ö h e des Sprudels auf die G r ö ß e des Druckes schließen. Dieser Versuch ist also ein experimenteller Beweis f ü r die Existenz des Schallstrahlungsdruckes. A u c h die weitere Folgerung aus (IX, 28), d a ß die Schallstrahlungsdrucke sich in zwei verschiedenen Medien wie die Energiedichten in ihnen verhalten, läßt sich nach G . H e r t z (1941) in ähnlicher Weise bestätigen (Abb. IX, 65a und IX, 65b). In beiden Fällen laufen ebene Ultraschallwellen ebenfalls von unten nach oben. Im Fall A b b . IX, 65a liegt die Schallquelle in Tetrachlorkohlenstoff, über den Wasser geschichtet ist. Die Schallgeschwindigkeit im Wasser (1461 m/s) ist größer als im Tetrachlorkohlenstoff" (928 m/s). Die Schallintensität I ist in beiden Medien die gleiche, da wir mit ebenen Wellen experimentieren;

Schallempfänger; Messung der Schallfeldgrößen

547

folglich ist nach (IX, 24) die mittlere Energiedichte E im Wasser kleiner als im Tetrachlorkohlenstoff, daher der Schallstrahlungsdruck größer als im Wasser. Es bildet sich ein Sprudel von CCI4 in Wasser aus. — Im Fall Abb. IX, 64 b ist der Sender in Anilin untergebracht, darüber wieder Wasser geschichtet, und nun liegen die Verhältnisse umgekehrt wie vorher; denn die Schallgeschwindigkeit im Anilin ist 1682 m/s, also größer als in Wasser. Daher ist die Energiedichte in Wasser jetzt größer als in Anilin, und es bildet sich — entgegen der Fortpflanzungsrichtung der Schallstrahlen! — ein Sprudel von Wasser in Anilin nach unten aus.

86. Schallempfänger; Messung der Schallfeldgrößen Schallwellen besitzen im Hörbereich meist nur sehr geringe Energien. Man ist also in der Regel auf eine Verstärkung der empfangenen Schallfeldgrößen angewiesen. Die Schallempfänger lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen, je nachdem, ob sie auf den Schalldruck p, den Druckgradienten dpjdx oder auf die Schallschnelle v reagieren. Zunächst seien einige Schnelleempfänger betrachtet. Ein sehr einfacher, zu Vorführungsversuchen häufig gebrauchter, wenn auch nicht zu eigentlichen Meßzwecken geeigneter Schallindikator dieser Art ist die e m p f i n d l i c h e F l a m m e ( L e c o n t e , 1857). Eine aus einer runden Düse von etwa 1 mm Öffnung gespeiste hohe Leuchtgasflamme brennt bei mäßigem Gasdruck völlig ruhig als schmale hohe Flamme (Abb. IX, 66 a).

Abb. IX, 66. Schallempfindliche Flamme, links ohne, rechts bei Schalleinwirkung a

b

Erhöht man den Gasdruck, so beginnt die Flamme infolge der beim Ausströmen sich bildenden Wirbel zu flackern und zu brausen. Stellt man den Druck so ein, daß diese Erscheinungen gerade noch nicht auftreten, so ist die Flamme für Schallwellen, die sie über der Brenneröffnung treffen, sehr empfindlich. Die Flamme wird viel kürzer und spaltet sich auch oft (Abb. IX, 66b). Sie wird durch die Schnelleamplitude £5, nicht aber durch die Druckamplitude p beeinflußt. Dies kann man dadurch zeigen, daß man die Flamme in einer stehenden Schallwelle bewegt: Sie spricht nur in den Bäuchen der Schnelle an und brennt in den Druckbäuchen vollkommen ruhig. Die Flamme ist für hohe Töne, auch oberhalb der oberen Hörgrenze, besonders empfindlich. Ein weiterer ausgesprochener Schnelleempfänger ist die schon in der Strömungslehre erwähnte R a y l e i g h s c h e Scheibe. Es ist dies ein an einem dünnen Torsionsfaden aufgehängtes kleines kreisrundes Scheibchen, das sich mit seiner Fläche stets senkrecht zur Schallrichtung einzustellen bestrebt ist. Die hydrodynamische Erklärung wurde bereits gegeben. Bezeichnen wir mit den Betrag des vom Schallfeld auf die Scheibe ausgeübten Drehmomentes, mit r ihren Radius, mit Q die Dichte des umgebenden Mediums und mit proportional, falls Ax < X ist. Ferner folgt aus der Proportionalität zum Druckgradienten eine Phasenvoreilung der Membranschwingung von 90° vor dem Schalldruck. — K o n d e n s a t o r l a u t s p r e c h e r , die auf dem umgekehrten Prinzip beruhen, werden vornehmlich zur Wiedergabe hoher Frequenzen verwendet. Von den elektrodynamischen Wandlern ist das Tauchspulmikrophon das gebräuchlichste; es stellt die Umkehrung des bereits behandelten dynamischen Lautsprechers dar. Dementsprechend läßt es sich anhand von Abb. IX, 50 erläutern, wenn man sich den gesamten Trichter des Lautsprechers entfernt denkt. Dann besteht die Membranfläche nur aus der Deckfläche des Tauchspul-Zylinders und der sie umgebenden federnden Aufhängung. Wird die Membran durch eine auftreffende Schallwelle in Schwingungen versetzt, so wird in der Tauchspule eine Spannung induziert, die der Membrangeschwindigkeit proportional ist. Das Tauchspulmikrophon ist ein Druckempfänger. Nach dem gleichen Prinzip läßt sich aber auch ein Schnelle-

550

Akustik

Empfänger bauen, das sogenannte Bändchenmikrophon. Die Tauchspule ist hier durch ein dünnes Metallbändchen ersetzt, das sich unter dem Einfluß der Schallwelle senkrecht zu den Feldlinien eines homogenen Magnetfeldes bewegt, wodurch in dem Bändchen eine Spannung induziert wird. Die Empfindlichkeit dieses Systems ist zwar geringer als die des Tauchspulmikrophons; sie bleibt aber im gesamten Übertragungsbereich konstant. Die Umkehrung des piezoelektrischen Schallsenders stellt das Kristallmikrophon dar, bei dem die Platte aus dem piezoelektrischen Material Biegeschwingungen ausführt, sofern sie als Empfänger für Hörschall (meist für Sprachaufnahmen) verwendet wird. Größere Bedeutung hat der piezoelektrische Wandler als Ultraschallempfänger. Hier führt die Platte Longitudinalschwingungen aus. Auch ein Schallempfänger besitzt, ähnlich wie der Schallsender, eine bestimmte Richtcharakteristik. Sie ist bei Schalldruckempfängern kugelförmig (Abb. IX, 67 a), bei Schnelle- und Druckgradientenempfängern dagegen besitzt sie zwei Keulen, die etwa wie die Zahl 8 aussehen (Abb. IX, 67b). In der Praxis bevorzugt man Mikrophone mit n i e r e n f ö r m i g e r Richtcharakteristik, die durch Überlagerung von kugel- und achtförmiger Charakteristik entsteht (Abb. IX, 68). Beim Kondensatormikrophon (Abb. IX, 67c) erreicht man diese Überlagerung, wenn

Abb. IX, 68. Entstehung einer nierenförmigen Richtcharakteristik durch Überlagerung einer kugel- und einer achtförmigen Charakteristik

Abb. IX, 69. Schallradiometer

man zwei Membranen M i und M i verwendet, die sich auf beiden Seiten der starren, durchbohrten Gegenelektrode G befinden und mit dieser eine luftdichte Kammer bilden. Elektrisch angeschlossen ist jedoch, wie bei den bereits behandelten Bauformen, nur eine der beiden Membranen (Mi). Die Überlagerung entsteht nun dadurch, daß der Schalldruck p für eine gegenphasige, der Druckgradient dp/dx aber zusätzlich für gleichphasige Bewegung der beiden Membranen sorgt. Der Schallstrahlungsdruck p* wird mit Hilfe des sogenannten S c h a l l r a d i o m e t e r s gemessen, das im Prinzip aus einer kleinen Metallplatte an dem einen Arm einer empfindlichen Drehwaage besteht (Abb. IX, 69). Die aus der Aluminiumplatte A und einem kleinen Gegengewicht G bestehende Drehwaage hängt an einem dünnen Torsionsfaden F in einem mit Glasfenstern versehenen Schutzkasten. Der Schall tritt durch das Rohr R ein und fällt dann auf die Platte A. D ist ein mit Öl gefülltes Gefäß, in dem sich eine mit der Drehwaage verbundene Scheibe mitbewegt, um die Schwingungen der Waage zu dämpfen. Der Ausschlag, der über den Spiegel Sp optisch auf einer Skala abgelesen werden kann, ist dem Schallstrahlungsdruck p*, also nach (IX, 25 b) und (IX, 28) der Schallintensität / direkt proportional. Der Aufhängefaden muß sehr dünn sein, damit hinreichende Empfindlichkeit erreicht wird; dennp* ist im allgemeinen eine sehr kleine Größe: F ü r p = 1 dyn/cm2, was in einem früheren Beispiel angenom-

Schallempfänger; Messung der Schallfeldgrößen

551

men wurde, ist p* nur ungefähr gleich 10~ 6 dyn/cm 2 . Daher kommt das Schallradiometer hauptsächlich für die großen Intensitäten des Ultraschalls in Betracht, sowohl in Gasen wie in Flüssigkeiten. Es gibt auch Schallempfänger, die die Dichteänderungen nach Gl. (IX, 22e) messen. Diese Apparate besitzen eine so kleine Empfindlichkeit, daß sie nur in Sonderfällen brauchbar sind.

Wie schon vorher bemerkt, bedarf man zur Auswertung mancher Messungen der Kenntnis der Schallgeschwindigkeit. Die meisten Messungen der Schallgeschwindigkeiten in flüssigen und gasförmigen Stoffen beruhen auf einer Bestimmung der Wellenlänge X, aus der sich bei bekannter Frequenz v die Schallgeschwindigkeit c nach der Gleichung c vk ergibt. Am einfachsten ist die Wellenlängenbestimmung durch Ausmessung der Abstände der Knoten bzw. Bäuche in einer stehenden Welle. Diesem Zweck dient die bereits besprochene K u n d t s c h e R ö h r e , in der die Schwingungsknoten durch Kork- oder Lycopodiumpulver sichtbar gemacht werden. Für genauere Messungen kann man in dem Rohr statt dessen auch einen Druck- oder Schnelleempfänger verschieben. — Ein anderes älteres Verfahren zur Messung der Wellenlänge ist der V e r s u c h v o n Q u i n c k e (Abb. I X , 70). Ein Rohr R gabelt sich in 2 Teile, die bei A

R

Abb. I X , 70. Interferenzrohr nach Quincke

-R

und B umgebogen sind und sich gegenüber R wieder zu einem Rohr R' vereinigen. Der Teil B läßt sich posaunenartig im Teil A des Rohres verschieben. Treten in das Rohr R Schallwellen ein, so verteilen sich diese auf die beiden Wege A und B und kommen im Rohr R' wieder zusammen. Bei geeigneter Wegdifferenz 2 d = n • I j l zwischen den beiden Teilen wird in A und B eine stehende Welle erzeugt, deren Amplitude maximal ist, wenn sich auch in R eine stehende Welle ausbilden kann. Für ungeradzahlige Werte von n befindet sich am Wiedervereinigungspunkt ein Bauch der Schnelle, was einem Druckknoten entspricht. Dann kann sich in R' (d. h. senkrecht zur Schwingungsrichtung im Wiedervereinigungspunkt) keine Welle ausbreiten, da es in Gasen keine Transversalwellen gibt. Dagegen befindet sich für geradzahlige Werte von n im Wiedervereinigungspunkt ein Druckbauch (Knoten der Schnelle), was Schallausbreitung in R' zur Folge hat. Setzt man vor das Rohr R' einen Schallempfänger, so kann man durch Feststellung der Tonminima und der zugehörigen Verschiebungen d des Rohrauszuges die Schallwellenlänge ermitteln. Abb. I X , 71 zeigt die stehenden Wellen in einem Q u i n c k e s c h e n Rohr, das auf Tonauslöschung eingestellt ist. Sie wurden mit Hilfe der K u n d t schen Staubfiguren sichtbar gemacht. Der Schallsender befindet sich vor dem linken Ansatzrohr. In das rechte Ansatzrohr können keine Wellen eindringen. Eine andere Methode der Wellenlängenmessung beruht auf folgendem Gedanken: Verändert man den Abstand zwischen Schallsender und Reflektorplatte (Abb. I X , 72) — die vom Sender ausgehenden fortschreitenden Wellen müssen j a in sich reflektiert werden, damit sich stehende Wellen bilden —, so ist immer nur dann, wenn dieser Abstand ein Vielfaches der halben Wellenlänge in dem betreffenden Medium ist, die Ausbildung und damit die Intensität der stehenden Schallwelle ein Maximum. In diesem Resonanzfall muß der Schallsender ein Maximum von Energie in den Schallraum abgeben. Diese Resonanzzustände treten regelmäßig bei einer Verschiebung der Reflektorplatte um -jA ein. Benutzt man als Schallsender einen piezoelektrischen Quarz, so macht sich die Änderung der abgestrahlten Schallenergie in einer Änderung der elektrischen Betriebsstromstärke bemerkbar. Es ist daher möglich, aus dem Auftreten dieser Stromstärkeänderungen die optimalen Reflektorstellungen und damit die Schallwellenlänge festzustellen. Man erreicht nach dieser Methode die außerordentliche Genauigkeit

552

Akustik

von 0,01%. Abb. IX, 72 zeigt ein solches U l t r a s c h a l l - I n t e r f e r o m e t e r . Die Wellen gehen von der Oberfläche OE der Quarzplatte Q aus, durchsetzen das zu untersuchende Medium und werden von der Platte R reflektiert; diese ist mittels einer Mikrometerschraube M meßbar verschieblich. Die ganze Apparatur kann zur Konstanthaltung der Temperatur in ein Flüssigkeitsbad eingetaucht werden.

Abb. IX, 71. K u n dt sehe Staubfiguren in einem Q u i n c k e s c h e n Rohr, das auf Tonauslöschung eingestellt ist. Man beachte, daß sich im rechten Ansatzrohr keine Schallwellen ausbreiten (nach D. H a h n , Ann. Phys. 6, 85, 1950 Verlag Joh. Ambr. Barth)

Abb. IX, 72. Ultraschallinterferometer

In neuerer Zeit ist eine Reihe von sehr genau arbeitenden optischen Verfahren zur Messung von Ultraschallwellenlängen durchgebildet worden. Auf den D e b y e - S e a r s - E f f e k t wurde in der Wellenlehre bereits hingewiesen.

87. Kraftwirkungen des Schalls In diesem Abschnitt sollen einige dynamische Wirkungen behandelt werden, die sich an den von der Schallwelle getroffenen Körpern bemerkbar machen. Wir sehen also von dem oszillatorischen Charakter einer Schallwelle ab. Solche mechanischen Effekte haben wir zum Teil schon kennengelernt. Es wurde bereits der Schallstrahlungsdruck p* erwähnt, der als Gleichdruck zur Messung der Schallintensität mittels Schallradiometer (Abb. IX, 69) dient. — Bei der ebenfalls schon besprochenen Rayleighschen Scheibe erzeugt die Strömung der Teilchen in einer Schallwelle eine Drehung der Scheibe, aus der man die Schallschnelle v bestimmen kann. Wird ein H e l m h o l tz scher Resonator (Abb. IX, 42) durch eine vor die größere Öffnung gehaltene Stimmgabel zu kräftigen Resonanzschwingungen angeregt, so tritt aus der gegenüberliegenden engeren Öffnung ein Luftstrom aus, der unter Umständen so stark ist, daß er eine Kerzenflamme auslöscht oder ein kleines Windrädchen in Rotation versetzt. Das Zustandekommen dieser gerichteten Luftströmung durch die periodischen Luftschwingungen im Resonatorhohlraum kann man sich folgendermaßen klarmachen: Das A u s s t r ö m e n der Luft aus der düsenförmigen Resonatoröffnung erfolgt in einem mehr oder weniger scharfen S t r a h l , das Z u r ü c k s t r ö m e n der Luft in der darauffolgenden Halbschwingung geschieht aber von allen Seiten her. Dadurch gelangen neue Luftmassen in den Hohlraum, die dann wieder als Strahl herausgestoßen werden. Letzteren kann man gut beobachten, wenn man den Resonator mit Rauch füllt. Eine ähnliche Erscheinung tritt beim Aus- und Einatmen mit dem Munde auf: Es gelingt zwar ohne Mühe, eine Kerze auf einen Meter Entfernung auszublasen (Strahlbildung); es ist aber unmöglich, sie selbst bei der kleinen Entfernung von 10 cm durch rasches Einsaugen

Kraftwirkungen des Schalls

553

der Luft auszulöschen. Befestigt man wie in Abb. IX, 73 an den Enden eines leichten Kreuzes, das sich um eine vertikale Achse drehen kann, vier gleich große gleich orientierte Resonatoren, so dreht sich das Kreuz in der eingezeichneten Pfeilrichtung, wenn ein kräftiger Ton von der Eigenfrequenz der Resonatoren erzeugt wird. — Bildet man die Bodenfläche eines zylindrischen Resonators als Telephonmembran aus und erregt das Telephon mit einem Wechselstrom von der Eigenfrequenz des Resonators, so tritt (obwohl hier die größte Öffnung verschlossen ist!) aus der der Bodenfläche gegenüberliegenden Öffnung ein kräftiger Luftstrom heraus. Nach diesem Prinzip sind neuerdings sogenannte M e m b r a n p u m p e n gebaut worden, die Überdrucke von 100 Torr und mehr liefern. Derartige Pumpen haben den Vorteil, daß sie keinerlei umlaufende Teile besitzen und direkt aus dem Wechselstromnetz betrieben werden können.

Abb. IX, 73. Akustisches Reaktionsrad

Sie finden wegen ihres einfachen Aufbaues und ihrer Betriebssicherheit bei Laboratoriumsarbeiten mannigfache Anwendung. — Sehr starke Luftströmungen gehen auch von den Endflächen schwingender Quarzkristalle aus, wie sie zur Erzeugung von Ultraschall benutzt werden. Der schwingende Quarz stößt in der einen Phase beim Vorschwingen die vor ihm befindliche Luft weg, saugt aber in der nächsten Phase beim Zurückschwingen die weggestoßene Luft nicht wieder vollständig zurück, so daß von der Seite längs des ganzen Umfanges der schwingenden Fläche neue Luft in die entstandene Verdünnung einströmt, die in der darauffolgenden Halbschwingung vom Quarz wieder weggeschleudert wird. Das seitliche Einströmen frischer Luft läßt sich leicht mittels Rauch sichtbar machen. Legt man den schwingenden Quarz auf eine mit einem Pulver bestreute Glasplatte, so wird dieses in der Windrichtung fortgeblasen, und man erhält so ein direktes Bild der Luftströmung (Abb. IX, 74 a). Bei einer quadratischen,

a

b

Abb. IX, 74. Von schwingenden Quarzen ausgehende Luftströmungen, a) Länglicher Quarz, b) Quadratischer Quarz

554

Akustik

senkrecht zur polaren X-Achse geschnittenen Quarzplatte, die man zu Längsschwingungen in der y-Richtung anregt, liegen auch die Ansatzstellen der Luftströmungen nicht mehr einander gegenüber, sondern sind nach den Ecken in Richtung der optischen (Z)-Achse verschoben (Abb. IX, 74 b). Infolgedessen erfährt die Quarzplatte durch Reaktionswirkung ein Drehmoment um die X-Achse. Wird sie drehbar montiert, so stellt sie ein akustisches Reaktionsrad in Analogie zu dem S e g n e r s c h e n Wasserrad dar. Mannigfache mechanische Wirkungen erzielt man neuerdings mit Ultraschallwellen großer Intensität. Es wurde bereits erwähnt, daß man mit Ultraschallsendern Schalleistungen bis zu mehreren kW erzeugen kann. Bei einer vom Schallsender abgestrahlten ebenen Welle erhält man die Schallintensität in einer fortschreitenden Welle, indem man die Schalleistung durch die strahlende Fläche dividiert. Wir wählen einen Ultraschallquarz von 1 cm Dicke, der bei einer Frequenz von 300 kHz eine Schallintensität / von 10 Watt/cm 2 = 108 erg/cm 2 • s liefert, und als Flüssigkeit Wasser mit der Schallgeschwindigkeit c = 1484 m/s, in dem sich die Schallwellen ausbreiten. Aus Gl. (IX, 26) ergibt sich für die Druckamplitude p: P = ]/2 Iqc = ] / 2 • 10 8 • 1,48 • 10 5 = 5,4 • 10 6 d y n / c m 2 « 5,4 a t , d. h., der Wechseldruck schwankt in der f o r t s c h r e i t e n d e n Welle in der Flüssigkeit periodisch zwischen 5 at Überdruck und 5 at Zugspannung, soweit nicht bereits vorher ein Zerreißen der Flüssigkeit eintritt (Kavitation). Bei einer s t e h e n d e n Schallwelle (Überlagerung einer fortschreitenden und zurücklaufenden Welle) verdoppeln sich diese Werte, und da die Wellenlänge gleich 1,484 • 10 5 /3 • 105 x 0,5 cm ist, ergeben die Druckunterschiede von 10 at in einer stehenden Welle einen Druckgradienten von 4 0 a t / c m ! Für den Schallstrahlungsdruck p* 'm einer stehenden Welle (daher der Faktor 2) folgt aus Gl. (IX, 28): 1345 d y n / c m 2 . Die Schnelleamplitude 0 der Wasserteilchen erhält man zu

Daraus berechnet sich die Verschiebungsamplitude f der Wasserteilchen nach der Gl. (IX, 23): v

v

a>

2nv'

Bei der angenommenen Frequenz von 300 kHz ergibt dies: f = 1,99 • 10 5 cm = 0,199 um. Für die Beschleunigungsamplitude der schwingenden Teilchen erhält man ebenso: £co2 = va> = 2 nvv.

Das ergibt eine Maximalbeschleunigung von rund 7 • 107 cm/s 2 , d. h. eine Beschleunigung, die 70000mal so groß ist wie die Fallbeschleunigung und die sich sonst nur mittels einer Ultrazentrifuge erreichen läßt. Dabei ist noch zu beachten, daß die Beschleunigung in der Sekunde 2 r-mal ihre Richtung ändert. Daher werden in einer von Ultraschall durchsetzten Flüssigkeit feste Körper, z. B. kleine Metallstückchen, Kohleteilchen, zu feinstem Pulver verrieben. — Eine sehr feine Verteilung von Metallen in Flüssigkeiten erhält man, wenn man während der elektrolytischen Abscheidung des Metalles die Kathode mit Ultraschall kräftig erschüttert. Das sich an dieser Elektrode abscheidende Metall wird in die Flüssigkeit zurückgeschleudert. Dieses Verfahren hat Bedeutung für die Herstellung von Solen, Katalysatoren usw. — Auch bei der Herstellung photographischer Emulsionen wirkt sich diese Wirkung der Ultraschallwellen insofern günstig aus, als dadurch die Verteilung der Bromsilberteilchen in der Gelatine wesent-

Die menschliche Stimme; Schallspeicherung

555

lieh homogener wird. Dies führt zur Vermeidung von Kornzusammenballungen und liefert besseres Auflösungsvermögen und höhere Empfindlichkeit der photographischen Platte. — In hochpolymeren Substanzen kann durch Ultraschalleinwirkung ein Zerreißen der großen Moleküle und auf diesem Wege eine Depolymerisation erreicht werden, was für viele chemische Probleme von Bedeutung ist. — Von nicht mischbaren Flüssigkeiten, z. B. Öl und Wasser, Benzol und Wasser, oder Quecksilber und Wasser, werden durch Ultraschall in kürzester Zeit recht beständige Emulsionen hergestellt. In gashaltigen Flüssigkeiten tritt durch die Einwirkung von Ultraschallwellen fast momentan eine intensive Entgasung ein, die dadurch zu erklären ist, daß die vorhandenen mikroskopisch kleinen Gasbläschen an die Knotenstellen der stehenden Ultraschallwellen getrieben werden, wo sie sich zu größeren Blasen vereinigen und aufsteigen. Außerdem kommt es bei den hochfrequenten Flüssigkeitsschwingungen zu einem Zerreißen der Flüssigkeit an den Stellen der Druckminima und so zu einer Bildung von Hohlräumen (Kavitation), in die die in der Flüssigkeit gelösten Gase einströmen. Auch die technisch wichtige Entgasung von Metallschmelzen ist in dieser Weise gelungen. — Bei den Entgasungsvorgängen in Flüssigkeiten treten übrigens sehr interessante Oxydationsvorgänge auf, die sich chemisch in verschiedener Art bemerkbar machen. Es werden z. B. organische Farbstofflösungen entfärbt, Jod wird aus Jodkaliumlösung ausgeschieden. In reinem destilliertem Wasser treten StickstoffSauerstoff-Verbindungen der gelösten Luft auf, was an der Zunahme der elektrischen Leitfähigkeit und durch chemische Analyse leicht zu prüfen ist. — Auf sogenannte Aerosole, worunter man Systeme von in Gasen fein verteilten Stoffen, wie Nebel, Rauch, Staub usw.. versteht, wirken Ultraschallwellen koagulierend ein: Die einzelnen Teilchen werden zusammengeballt und sinken schneller zu Boden. — Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß in mit Ultraschall durchstrahlten Flüssigkeiten auch eine Reihe von biologischen Effekten beobachtet worden ist. Wenn man bedenkt, daß die Flüssigkeitsteilchen im Ultraschallfeld sehr schnelle und vor allem sehr stark beschleunigte Bewegungen ausführen, daß im Abstand von einer halben Wellenlänge, d. h. auf Entfernungen in der Größenordnung von Millimetern, sehr große Druckunterschiede auftreten, daß Hohlraumbildung und beim Zusammenklappen der Hohlräume lokale, sehr starke Kräfte und Erwärmungen auftreten, so kann man verstehen, daß in der Flüssigkeit befindliche Tier- und Pflanzenorganismen Beschädigungen erleiden müssen: Kleine Tiere werden durch Ultraschalleinwirkung gelähmt und sogar getötet, Infusorien und Bakterien zerstört, Algen zerrissen und dergleichen mehr, so daß dieses Gebiet der Akustik auch für den Mediziner und Bakteriologen von Bedeutung ist. 88. Die menschliche Stimme; Schallspeicherung Hauptbestandteile des menschlichen Stimmorgans sind die beiden S t i m m l i p p e n . Diese befinden sich im K e h l k o p f am oberen Ende der Luftröhre und werden durch den von der Lunge gelieferten Luftstrom angeblasen. Das Knorpelgerüst des Kehlkopfes bilden (wie es Abb. IX, 75 a im Längsschnitt von rückwärts gesehen zeigt) der Ringknorpel a und der Schildknorpel b; hinzu kommen noch in dem in Abb. IX, 75 a weggeschnittenen Teil zwei weitere Knorpel, die sogenannten Stellknorpel. Alle diese Knorpel können durch Muskeln verschiedenartig bewegt werden, c ist der Querschnitt durch die „wahren", d der Querschnitt durch die sogenannten „falschen" Stimmlippen (auch Taschenbänder genannt). Zwischen beiden liegen zwei kleine sackförmige Höhlungen, die sogenannten Morgagnischen Ventrikel. Zwischen den wahren Stimmlippen c, die das obere Ende der Luftröhre bilden, befindet sich die Stimmritze. Dadurch, daß die Stimmlippen vorn am Schildknorpel und hinten an je einem Stellknorpel angewachsen sind, können sie durch die gegenseitige Bewegung dieser Knorpel mehr oder weniger stark gespannt werden. Dadurch wird die Stimmritze mehr oder weniger weit geöffnet bzw. fest verschlossen. Außerdem hat der in den Stimmlippen gelegene Muskel (m. vocalis) die Fähigkeit zu aktiver Eigenspannung. In Abb. IX, 75 b ist die Stimmritze mit den beiden Stimmlippen von oben zu sehen; sie ist beim erwachsenen Mann 2—2,4 cm lang und öffnet sich bis zu 1,4 cm Weite. (Bei Schluckbewegungen wird die Stimmritze fest verschlossen, und der Kehl-

556

Akustik

deckel senkt sich über den Eingang zum Kehlkopf, so daß Speisen und Getränke nicht in die Luftröhre gelangen können.) Die Lautgebung (Phonation) entsteht dadurch, daß sich die Stimmritze bei gespanntem Stimmlippenmuskel periodisch öffnet und verschließt. Sie erfolgt nach dem gleichen Mechanismus, mit dem man Töne hervorbringen kann, wenn man Luft durch den zusammengepreßten Mund bläst, und läßt sich folgendermaßen verstehen: Der Druck der Atemluft öffnet die anfangs verschlossenen Stimmlippen, sinkt aber mit wachsender Erweiterung der Stimmritze ab, so daß sich die Öffnung wieder schließen kann. Dabei übernimmt die Eigenfrequenz der Stimmlippen, die von der Muskelspannung abhängt, die Funktion der Steuerung. Es liegt also ein Rückkopplungsmechanismus vor. Die periodische Öffnung der Stimmlippen stellt eine Impulsfolge dar. Diese starke Abweichung von der Sinusform bewirkt den obertonreichen Klang der menschlichen Stimme.

Abb. IX, 75. Längsschnitt (a) und Querschnitt (b) durch den menschlichen Kehlkopf

Verschiedene Frequenzen des Obertonspektrums regen die Rachen-, Mund- und Nasenhöhle zu Resonanzschwingungen an und werden deshalb stärker nach außen abgestrahlt. Eine Größenveränderung dieser Resonanzräume hat demnach bei gleichbleibender Frequenz eine Änderung der Amplitudenverhältnisse des Obertonspektrums zur Folge. Dies erklärt die besondere Natur und die Entstehung der Vokale, die, wie H e l m h o l t z zuerst erkannte, ein K l a n g f a r b e n p h ä n o m e n sind. Man kann sich davon in folgender Weise überzeugen. Wenn man bei der Stellung des Mundes zum Aussprechen des Vokals O mit dem Finger gegen die Backe oder mit einem Stäbchen von unten nach oben gegen die oberen Schneidezähne klopft, so hört man deutlich den für den Vokal O charakteristischen Resonanzton der Mundhöhle. Hält man vor der Öffnung der auf den Vokal O eingestellten Mundhöhle eine Stimmgabel der Frequenz 462 Hz, so wird die Mundhöhle zu Resonanzschwingungen angeregt ; formt man den Mund zum Aussprechen des Vokals A bzw. U, so muß man zur Erzeugung der Resonanz eine Stimmgabel der Frequenz 924 Hz bzw. 171 Hz wählen. Wenn man einen Finger über die untere Zahnreihe auf die obere Fläche der Zunge legt und nacheinander die Vokale A, E, I spricht, so fühlt man deutlich, wie sich der Zungenrücken ruckweise bei E und noch stärker bei I in die Höhe hebt und so den Resonanzraum verkleinert. Da also bei der Vokalbildung die Mundhöhle als Resonator mitwirkt, der stets unabhängig von der Tonhöhe immer auf eine bestimmte Form eingestellt wird, m u ß j e d e r V o k a l b e s t i m m t e in d e r T o n s k a l a f e s t l i e g e n d e P a r t i a l t ö n e , s o g e n a n n t e Formanten b e s i t z e n . Während sich das Obertonspektrum der Musikinstrumente auf einer logarithmisch geteilten Frequenzachse bei einer Verschiebung der Grundfrequenz parallel mitverschiebt, die Klangfarbe also erhalten bleibt, liegen bei der Vokalbildung die durch Resonanz bevorzugt abgestrahlten Partialtöne unabhängig vom Grundton auf der Frequenzskala fest.

Die menschliche Stimme; Schallspeicherung

557

In Abb. IX, 76 sind als Beispiel die Amplitudenspektren einiger Vokale nach T h i e n h a u s wiedergegeben. Die Grundfrequenz beträgt in allen Fällen 128 Hz. Bereits H e l m h o l t z war die Klanganalyse der Vokale mittels Resonatoren mit bewundernswerter Genauigkeit gelungen. Das gleiche gilt für die Versuche von S t u m p f , der das Mitschwingen verschieden abgestimmter Stimmgabeln beobachtete.

Abb. IX, 76. Amplitudenspektren der Wö Vokale a, e, i, o und u nach Thienhaus (Grundfrequenz 128 Hz) uW 2000

3000

Hz

Beim Hören der eigenen Stimme spielt nicht nur der Luftschall, sondern auch der Schallanteil, der durch Knochenleitung direkt an das Innenohr gelangt, eine erhebliche, den Höreindruck verändernde Rolle. Schaltet man die Knochenleitung durch Wiedergabe über ein Tonbandgerät aus, so kann man die eigene Stimme kaum wiedererkennen. In der menschlichen Sprache, die an Umfang und Vielseitigkeit alle künstlichen Musikinstrumente übertrifft, kommen Frequenzen zwischen 100 und 10000 Hz vor; daraus ersieht man, welche hohe Anforderung an alle die Geräte gestellt werden muß, mit denen eine Übertragung der Sprache vorgenommen werden soll. Glücklicherweise zeigt die Erfahrung, daß auch bei Verzicht auf den Tonbereich oberhalb von 5000 Hz die Sprache noch sehr gut verständlich ist. Erst wenn man die Schwingungen oberhalb 2000 Hz unterdrückt, wird die Sprache verschleiert und schwer verständlich. Es war ein alter Wunsch, die Schwingungen der menschlichen Stimme aufzuzeichnen und festzuhalten, um sie jederzeit reproduzieren zu können. Das gelang zuerst E d i s o n (1877) mit seinem „Phonographen". Bei diesem Gerät wurden die Auslenkungen einer besprochenen Membran durch einen Stift in eine rotierende Wachswalze eingraviert. Der Stift bewegte sich dabei senkrecht zur Oberfläche der Wachswalze („Tiefenschrift"). Inzwischen sind die Methoden der Schallaufzeichnung so verfeinert worden, daß neben der menschlichen Stimme auch Musik und Schallvorgänge verschiedenster Art in sehr guter Qualität festgehalten werden können. Im wesentlichen unterscheidet man mechanische, optische und magnetische Verfahren der Schallspeicherung. Eine elektrische Verstärkung des aufzunehmenden und des wiederzugebenden Schallsignals ist in jedem Fall notwendig. Bei der Schallplatte handelt es sich um mechanische Schallspeicherung. Der Stift, d. h. der Schneidstichel bei der Aufnahme und der Abtaststift bei der Wiedergabe, schwingt hier im Gegensatz zum „Phonographen" E d i s o n s in der Plattenebene („Seitenschrift" vonE. B e r l i n e r ,

558

Akustik

1887). Einem sinusförmigen Schallsignal entspricht also eine sinusförmige Kurve der Plattenrille. Die Wiedergabe erfolgt mit Hilfe eines (meist piezoelektrischen) Wandlers, der die Schwingungen der Abtastnadel in elektrische Stromschwankungen umsetzt. Bei Stereoplatten geht es praktisch darum, in einer Rille zwei unabhängige Signale zu speichern. Dies geschieht dadurch, daß die Rille nicht als Ganzes, sondern ihre beiden unter 45° zur Plattenebene geneigten Flanken moduliert werden. Der Schneidstichel wird deshalb von zwei (meist elektrodynamischen) Antriebssystemen bewegt, deren Schwingungsrichtungen zueinander senkrecht stehen und je einen Winkel von 45° zur Plattenebene bilden. Optische, genauer gesagt photographische Schallspeicherung wird beim Tonfilm angewandt. Die Aufzeichnung kann entweder so erfolgen, daß das Schallsignal (mit Hilfe des Kerr-Effektes, s. Band III) die Intensität eines Lichtstrahls steuert, der auf einen vorbeilaufenden Film fällt („Intensitätsverfahren"), oder in der Weise, daß ein kleiner Spiegel im Rhythmus des Schallsignals Drehschwingungen ausführt und damit den Lichtstrahl auf dem vorbeilaufenden Film eine Zackenschrift ausführen läßt („Amplitudenverfahren"). Zur Wiedergabe läuft der beleuchtete Film an einem Spalt vorbei, hinter dem sich eine Photozelle befindet. Bei der magnetischen Schallspeicherung ist der Informationsträger ein dünnes Kunststoffband mit einer magnetisierbaren Schicht. Der „Sprechkopf", ein kleiner ringförmiger Elektromagnet, dessen Pole nur durch einen sehr schmalen vertikalen Spalt getrennt sind, magnetisiert das in horizontaler Richtung am Spalt vorbeilaufende Magnetband im Rhythmus des Schallsignals. Die Wiedergabe erfolgt über den „Hörkopf", der ebenso beschaffen ist wie der Sprechkopf: Beim Vorbeilaufen des Bandes am Spalt wird durch das wechselnde magnetische Feld im Hörkopf eine elektrische Spannung induziert, die sich dann verstärken läßt. Mit Hilfe des „Löschkopfes" kann man die Aufnahme rückgängig machen und das Band für neue Aufzeichnungen verwenden. Läßt man das Band bei der Wiedergabe mit kleinerer Geschwindigkeit laufen als bei der Aufnahme, so verlangsamt sich das aufgenommene Schallsignal. Allerdings erniedrigt sich dabei auch die Tonhöhe (z. B. bei halbierter Bandgeschwindigkeit um eine Oktave). Um das zu verhindern, ordnet man mehrere Hörköpfe auf einer Scheibe an, die gerade so schnell rotiert, daß die Relativgeschwindigkeit zwischen Band und Hörkopf erhalten bleibt. Auf diese Weise kann man ein Schallsignal in „Zeitlupe" wiedergeben und erhält damit eine weitere Möglichkeit zur Untersuchung der menschlichen Stimme, besonders der Sprache und anderer Schallvorgänge.

89. Das menschliche Ohr Das menschliche Ohr besteht aus drei Hauptteilen: Dem ä u ß e r e n O h r , dem M i t t e l o h r ( P a u k e n h ö h l e ) und dem I n n e n r o h r ( L a b y r i n t h ) . Wie die schematische Abb. IX, 77 zeigt, wird das äußere Ohr durch die Ohrmuschel und den im Felsenbein sb liegenden, etwa 2,1 bis 2,6 cm langen Gehörgang gg gebildet. Dieser wird durch das Trommelfell tf gegen das Mittelohr ph abgeschlossen. Das Trommelfell ist eine ungefähr kreisrunde, nach innen trichterförmig eingezogene Membran, von 9—10 mm Durchmesser, die in einem knöchernen Ring ziemlich schlaff ausgespannt ist. Das Mittelohr ph ist gegen das Innenohr durch das „ovale Fenster" abgeschlossen und durch die etwa 3,5 cm lange Ohrtrompete (eustachische Röhre) ot mit dem Nasen-Rachen-Raum verbunden. Diese Verbindung dient zum Ausgleich des Luftdruckes gegen das Trommelfell: Gleichzeitig ist der Ausgang der Ohrtrompete nach der Mundhöhle durch eine sehnige Membran verschlossen, die sich bei jeder Schluckbewegung öffnet. Man kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn man bei zugehaltener Nase und geschlossenem Mund in diesem einen Überdruck erzeugt und dabei gleichzeitig eine Schluckbewegung ausführt. Man fühlt dann, wie das Trommelfell nach außen gedrückt wird; zugleich tritt ein taubes Gefühl auf, das auch nach Öffnen von Mund und Nase bestehenbleibt und erst wieder verschwindet, wenn man eine neue Schluckbewegung ausführt und dadurch den Überdruck im Mittelohr und in der Ohrtrompete ausgleicht.

Das menschliche Ohr

559

Im Mittelohr befinden sich die drei G e h ö r k n ö c h e l c h e n : H a m m e r h, A m b o ß a und S t e i g b ü g e l s. Der Hammer ist mit dem Trommelfell verwachsen und überträgt dessen Schwingungen auf Amboß und Steigbügel, der mit seiner Platte in der Mitte des o v a l e n F e n s t e r s aufsitzt. Dabei wird der Druck der Schwingungen auf das Trommelfell wie bei einem Hebelwerk durch Hammer, Amboß und Steigbügel auf das 22fache am Ort der Steigbügelplatte verstärkt, d. h., die relativ geringe Kraft auf das große Trommelfell wird in eine größere Kraft auf das im Verhältnis dazu kleine ovale Fenster verwandelt. Membrana tectoria

Abb. IX, 78 a. Schnitt durch die Schnecke des Ohres

Membrana basilaris

Cortisches

Scala tympani

Organ

Gehörnerv

Hinter dem ovalen Fenster beginnt das innere Ohr (Labyrinth). Es besteht aus den drei halbkreisförmigen B o g e n g ä n g e n bg (die das Gleichgewichtsorgan des Menschen bilden und mit dem Hören nichts zu tun haben), dem V o r h o f vh und der S c h n e c k e tht. Dieser ganze Teil des Ohres ist mit einer wässerigen Flüssigkeit, der E n d o l y m p h e ausgefüllt. Damit die inkompressible Flüssigkeit bei Druckschwankungen ausweichen kann, ist gegen die Ohrtrompete das r u n d e F e n s t e r rf vorgesehen, das mit einer Membran verschlossen ist. Die aus etwa 2 bis 2 | Windungen bestehende S c h n e c k e ist durch eine zum Teil knöcherne, zum Teil häutige Membran in zwei Kanäle geteilt, wie es der in Abb. IX, 78 gezeichnete Querschnitt a) durch die gesamte Schnecke, b) durch eine Schneckenwindung darstellt. Der eine Kanal (Scala vestibuli) mündet in den Vorhof, der andere (Scala tympani) führt nach dem runden Fenster. Beide

560

Akustik

Kanäle stehen an der Spitze der Schnecke durch eine enge Öffnung, das S c h n e c k e n l o c h ( H e l i c o t r e m a ) miteinander in Verbindung. Der knöcherne Teil der Scheidewand heißt Lamina spiralis ossea, der häutige Teil setzt sich aus der Membrana vestibuli und der M e m b r a n a b a s i l a r i s zusammen.

%

V

Nervenfasern Scnla tympani

Abb. IX, 78 b. Querschnitt durch die unterste Windung der Schnecke Die Basilarmembran ist in aufgerollter, gestreckter Form in Abb. IX, 79 schematisch wiedergegeben. Darauf gelagert ist das Cortische Organ, ein sehr kompliziertes Gebilde, in dem die Gehörnerven an den mit feinen Härchen versehenen Rezeptorzellen (Haarzellen) enden (Abb. IX, 80). Die Breite der Basilarmembran nimmt vom Schneckenanfang bis zur Spitze der Schnecke allmählich zu. Die Annahme von H e l m h o l t z , nach der die vom ovalen Fenster ausgehenden Schwingungen der Schneckenflüssigkeit je nach ihrer Frequenz an einer bestimmten Stelle der Basilarmembran Fasern entsprechender Länge in selektive Resonanz versetzen (Resonanztheorie), hat sich nur als bedingt richtig erwiesen, obwohl damit das hohe Auflösungsvermögen des Ohres, d. h. seine Wirkung als Frequenz-Analysator, einleuchtend erklärbar ist. Zutreffend ist zweifellos, daß sich der Ort der Maximalamplitude auf der Basilarmembran frequenzabhängig verschiebt. Die heutige Vorstellung entspricht dem Modell von K u c h a r s k i , das durch die Messungen von G e o r g v o n B e k e s y an Ohrpräparaten bestätigt wurde. Danach gelangen die Flüssigkeitsschwingungen nicht nur über das Helicotrema von einem zum anderen Kanal, sondern auch über die biegsame Basilarmembran selbst. Diese wird dabei zu einer Wanderwellenbewegung angeregt, die bei einer bestimmten Frequenz an einem bestimmten Ort maximale Ausschläge hervorruft. Das Maximum ist jedoch nicht so scharf, daß damit das hohe Auflösungsvermögen des Ohres erklärt werden kann. Offenbar tritt die Verschärfung erst im Nervensystem ein. Hohe Frequenzen erzeugen Maximalausschläge am Beginn der Schnecke, also in der Nähe des ovalen Fensters. Am entgegengesetzten Ende, also in der Nähe des Helicotremas, erzeugen niedrige Frequenzen Maximalausschläge. -

f

0,5mm 33,5mm

Abb. IX, 79. Schematische Darstellung der Membrana basilaris

Der Vorgang läßt sich an einem mechanischen Modell verdeutlichen. In der Schwingungslehre wurden Transversalwellen an einer Reihe von gekoppelten Pendeln erläutert. Alle Pendel hatten die gleiche Länge und damit die gleiche Resonanzfrequenz. Die Kopplung zwischen den einzelnen Pendeln war ebenfalls gleich stark; deshalb pflanzte sich die Auslenkung des ersten Pendels mit konstanter Amplitude durch das gesamte System fort. Denkt man sich nun eine

Hörpsychologie

561

Reihe von Pendeln, bei der von links nach rechts die Pendellänge und die Kopplungsstärke zunimmt, und versetzt man z. B. das erste Pendel in erzwungene Schwingungen, so entsteht ebenfalls eine Wellenbewegung entlang der Pendelreihe, jedoch mit v e r ä n d e r l i c h e r Wellenlänge und v e r ä n d e r l i c h e r Amplitude. In einem Gebiet, in dem die Resonanzfrequenz gerade mit der Anregungsfrequenz übereinstimmt, erreicht die Amplitude ein Maximum. Denkt man Membrana

Sensitive Zellen

tectoria

Gehörnerv

Membrana basilaris

Abb. IX, 80. Schnitt durch das Cortische Organ sich nun noch beliebig viele Pendel, beliebig dicht nebeneinander aufgehängt, so daß sie näherungsweise ein Kontinuum bilden, so ist mit diesem System die schwingende Basilarmembran annähernd wiedergegeben. Das linke Ende der Pendelreihe (kleine Pendellängen) entspricht dann der Basilarmembran in der Nähe des ovalen Fensters, während das rechte Ende (große Pendellängen) die Membranverhältnisse in der Nähe des Helicotremas (Schneckenspitze) wiedergibt. 90. Hörpsychologie Im Gegensatz zur Hörphysiologie, die mit objektiven Meßmethoden die Wirkungsweise des Ohres aufzuklären sucht, befaßt sich die Hörpsychologie mit bewußt gewordenen Hörempfindungen und ist deshalb zur Gewinnung von Erkenntnissen auf das Befragen von Versuchspersonen, und zwar einer möglichst großen Anzahl, angewiesen. Das einfachste Beispiel, das zugleich die genauesten Ergebnisse liefert, ist die Schwellenmessung, d. h. die Feststellung, bei welchem Grenzwert einer physikalischen Größe (Schalldruck, Frequenz) eine Empfindung gerade noch oder gerade nicht mehr vorhanden ist. Danach liegt für eine Frequenz von 1000 Hz die H ö r s c h w e l l e , also der kleinste gerade noch wahrnehmbare Effektivwert des Schallwechseldruckes, bei 2 • 10~4 [xb (1 ¡xb = 1 dyn/cm2). Das entspricht einem Ausschlag der Luftteilchen von nur 0,86 • 10~9 cm. Der Durchmesser des Wasserstoffatoms beträgt 10~8 cm. Die Empfindlichkeit des Ohres ist also erstaunlich gut. Auch bei großen Werten des Schalldruckes gibt es eine Grenze des Hörbereichs, die Schmerzschwelle. Sie liegt etwa bei 200 ¡^b und ist nicht sehr stark frequenzabhängig. Erreicht der Schalldruck diesen Wert, so tritt der Überlastungsschutz des Ohres, nämlich das Ausknicken der drei Gehörknöchelchen, in Tätigkeit. Eine weitere Steigerung des Schalldruckes führt zur Zerstörung. Der Empfindlichkeitsbereich des Ohres für den Schalldruck erstreckt sich also über sechs Zehnerpotenzen. Kein künstliches Meßgerät kann ohne Umschaltvorrichtung einen derartig großen Bereich erfassen! 36

B e r g m a n n - S d i a e f e r I, 8. A u f l . 1969

562

Akustik

Auf den Hörschwellenwert ps — 2 • 10~4 fj.b ist der Schalldruckpegel L bezogen, der in der dimensionslosen Zahl dB ( = dezibel = 1/io Bei) angegeben wird und eine Umrechnung des Schalldruckes in ein logarithmisches Maß darstellt. Er ist wie folgt definiert: 2

L = 10-log

Ps

= 20-log — . Ps

Der gemessene Schalldruck p wird also auf den Schwellenwert ps bezogen. Ferner stellt die Größe p2lps2 ein Intensitätsverhältnis dar. Die Einführung des Schalldruckpegels geschieht mit Rücksicht auf eine weitere Eigenschaft des Ohres, der Unterschiedsschwelle. Danach beträgt die kleinste noch hörbare Ä n d e r u n g des Schalldruckpegels etwa 1 dB. Die dB-Skala gibt jedoch nicht die genaue Hörempfindung wieder; denn diese ist von der Frequenz abhängig. An der unteren und oberen Hörgrenze (16 Hz bzw. etwa 16 kHz) ist die Empfindlichkeit des Ohres gering, während sie bei etwa 4000 Hz maximal ist. Der Schallpegel muß also an den Hörgrenzen sehr viel höher sein als am Empfindlichkeitsmaximum, wenn in allen Fällen eine gleich starke Empfindung hervorgerufen werden soll. Zur Berücksichtigung dieser Frequenzabhängigkeit hat man die Einheit der Lautstärke eingeführt und folgendermaßen definiert: Die Lautstärke A in Phon ist gleich dem Schalldruckpegel (dB) eines gleich laut empfundenen 1000-Hz-Tones. Die Ermittlung der Lautstärke ist also immer eine Vergleichsmessung. Führt man solche Vergleichsmessungen im gesamten Hörbereich durch, so erhält man die K u r v e n gleicher L a u t s t ä r k e (Abb. IX, 81). Jede Kurve gibt an, wie man den Schalldruckpegel L als Funktion der Frequenz ändern muß, damit er im gesamten Hörbereich die zugehörige konstante Lautstärke A hervorruft.

20 Hz iO SO 100

IM 1000 2 kHz l 6 10 15 Frequenz

Abb. IX, 81. Kurven gleicher Lautstärke

In der folgenden Tabelle sind die größten und kleinsten erzeugbaren Schalldrucke /> max und /?min einiger Musikinstrumente und deren Abstände vom Schallempfänger nach Messungen von K. W. W a g n e r zusammengestellt. Die Tabelle enthält außerdem die zugehörigen Schalldruckpegel L m a x und Lmin sowie die „Dynamik" L m a x — ¿min-

Instrumente Violoncello . . . . Klavier Cembalo Streichquartett . . .

Abstand v o m Schallempfänger m 3 3 4 2,5

p max

Pmin

¿max

Lmin

[Xb

^b

dB

dB

dB

4,2 26 1,8 16,8

0,05 0,2 0,06 0,12

86,5 102 79 98,5

48 60 49,5 55,5

38,5 42 29,5 43

¿max

¿min

Hörpsychologie

563

Mittlerweile hat sich nun gezeigt, daß die so definierte Lautstärke der Empfindung nicht proportional ist, und zwar deswegen, weil das in der dB-Skala enthaltene W e b e r - F e c h n e r s c h e Gesetz nicht streng erfüllt ist. Es ist dennoch allgemein eingebürgert. Der genaue Zusammenhang zwischen der Empfindung r/ und dem Schalldruck p läßt sich so formulieren:

Bei der Frequenz von 1000 Hz ist k = 0,6, und zwar für Lautstärken von 40 Phon an aufwärts (bei 1000 Hz stimmt definitionsgemäß die Phon-Skala mit der dB-Skala überein). Für andere Frequenzen nimmt k andere Werte an. Die Größe, die der obigen Beziehung Rechnung trägt und deshalb tatsächlich der Hörempfindung proportional ist, heißt Lautheit S und wird in der Einheit „sone" angegeben. Sie ist mit der Lautstärke A verknüpft durch die Beziehung A —

S= 2

40

10

.

Neben dem Zusammenhang zwischen Schalldruck bzw. Schalldruckpegel und Hörempfindung ist die Unterscheidungsfähigkeit des Ohres ebenfalls Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Auf die Unterschiedsschwelle wurde bereits hingewiesen. Die kleinste hörbare Änderung des Schalldruckpegels beträgt etwa 1 dB, das entspricht einer Änderung des Schalldruckes um etwa 10%. Demgegenüber beträgt die kleinste hörbare Frequenzänderung oberhalb von 500 Hz etwa 0,3 %. Unterhalb von 500 Hz ist sie grob angenähert konstant und beträgt etwa 1,5 Hz.

Erfahrungsgemäß besitzt das menschliche Hörorgan eine ausgesprochene R i c h t u n g s e m p f i n d l i c h k e i t . Sie beruht auf dem Zusammenwirken beider Ohren. In Abb. IX, 82 bedeute L das linke und R das rechte Ohr, die sich im Abstand a ( = 21 cm) befinden. Durch die Mitte ihrer Verbindungslinie ist eine senkrechte Ebene gelegt, deren Spur in der Papierebene mit MM bezeichnet ist. Nur wenn sich die Schallquelle in einem Punkte dieser Mittelebene befindet, sind die Schallwege zu beiden Ohren gleich groß, und beide Ohren empfangen den Schall in demselben Augenblick. Der Beobachter hat in diesem Fall den Eindruck, daß die Schallquelle genau in der Mitte vor oder hinter ihm liegt. Liegt aber die Schallquelle S in einer Richtung, die mit der Ebene MM den Winkel *

£

0« .

U M

1/3

a

h

Oj

>

s

ca

0

ci

Relative Frequenz . Intervalle Alle Töne bis auf die Sekunde und die Septime bilden mit dem Grundton Konsonanzen. Betrachtet man die Intervalle zwischen den einzelnen Tönen, so sieht man, daß drei verschiedene Werte auftreten: §, und {§. Man nennt das Intervall § einen „großen Ganzton" und das Intervall -5- einen „kleinen Ganzton". Beide unterscheiden sich um den Faktor f j , das sogenannte s y n t o n i s c h e K o m m a . Das Intervall f f bezeichnet man als „großen Halbton". „Kleiner Halbton" heißt das Intervall §£, das mit y§ zusammen einen kleinen Ganzton ergibt • j f = y-). Wählt man die Oktave des Grundtones als neuen Grundton und geht von ihm in denselben Intervallen zu neuen Tönen über, so erhält man wieder eine Dur-Tonleiter, bei der jeder Ton die Oktave des entsprechenden Tones in der tieferen Tonreihe ist. In ähnlicher Weise kann man die Tonleiter nach unten hin fortsetzen und so durch ein Aneinanderreihen von Dur-

568

Akustik

Tonleitern im ganzen hörbaren Frequenzbereich bestimmte Töne fixieren. Bis auf eine kleine Korrektur geben die weißen Tasten des Klaviers die C-Dur-Tonleiter in fünf Oktaven wieder. Beginnt man nun die Dur-Tonleiter nicht beim Ton c, sondern unter Beibehaltung ihrer Töne beim Ton a, so erhält man die äolische moll-Tonleiter. Charakteristisch für die mollTonleiter ist, daß ihr dritter Ton, hier der Ton c, mit dem Grundton nicht, wie bei der DurTonleiter, eine große, sondern eine kleine Terz bildet. Der äolischen moll-Tonleiter fehlt der Halbtonschritt vom siebenten zum achten Ton, der sogenannte Leitton. Man führt diesen Halbtonschritt, den auch die Dur-Tonleiter besitzt, künstlich ein, indem man den siebenten Ton g um einen halben Ton erhöht. Auf diese Weise erhält man die h a r m o n i s c h e m o l l T o n l e i t e r mit dem neuen Ton gis, der zwischen g und a liegt. Soweit die C-Dur und die a-moll-Tonleiter. Es ist jedoch zweckmäßig, auch auf allen anderen Tönen Dur- bzw. moll-Tonleitern aufzubauen. Dazu benötigt man außer dem bereits eingeführten Ton gis noch weitere Zwischentöne, die in die übrigen Ganztonintervalle der C-DurTonleiter, also zwischen c und d, d und e, f und g sowie a und h eingefügt werden. Man kann dabei so vorgehen, daß man entweder den tieferen Ton um einen kleinen Halbton erhöht (Multiplikation mit §£) ~~ in der Notenschrift wird diese Erhöhung durch ein vorgesetztes # bezeichnet — oder den höheren Ton um einen kleinen Halbton erniedrigt (Division durch §|), was man in der Notenschrift durch ein vorgesetztes b andeutet. Im ersten Fall erhält man die Töne eis, dis, fis, gis und ais, im zweiten die Töne des, es, ges, as und b. Wie man sich durch Rechnung leicht überzeugen kann, stimmen die Ergebnisse, die man auf den beiden Wegen erhält, nicht überein, d. h., eis und des sind verschiedene Töne, ebenso dis und es usw. Die Abweichungen sind zwar gering, sie werden aber z. B. beim Spielen von Streichinstrumenten durchaus beachtet. Bei Instrumenten mit fixierten Tönen, besonders bei Tasteninstrumenten (Klavier, Orgel), ist es dagegen nicht möglich, diese Unterschiede zu machen. Ferner ist hier die Existenz von großen und kleinen Ganztönen störend, denn das hat zur Folge, daß eine beliebige Tonleiter um so stärker von der diatonischen Tonleiter abweicht, je weniger Töne der diatonisch rein gestimmten C-Dur-Tonleiter sie enthält. Um diesen Mangel zu beseitigen, teilt man die Oktave in zwölf gleichgroße Halbtonschritte ein. Die Größe x eines solchen Halbtonintervalls läßt sich dann durch die Beziehung x12 = 2

bestimmen, und man erhält x = 1/2 = 1,05946. Auf diese Weise entsteht die g l e i c h m ä ß i g t e m p e r i e r t e c h r o m a t i s c h e T o n l e i t e r ; die Schwingungsverhältnisse, bezogen auf c = 1, sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt, die reinen Intervalle der diatonischen Dur-Tonleiter sind in Klammern beigefügt. Diese Tonleiter, deren theoretische Grundlagen von dem Quedlinburger Organisten A n d r e a s c eis oder des d dis oder es e f fis oder ges g gis oder as a ais oder b h ci

1,0000 1,05946 1,12246 1,18921 1,25992 1,33484 1,41421 1,49831 1,58740 1,68179 1,78180 1,88775 2,00000

(1,125) (1,250) (1,333) (1,500) (1,667) (1,875)

Tonsysteme der Musik

569

W e r c k m e i s t e r (1691) stammen, ermöglicht das Überwechseln von einer Tonart in jede beliebige andere, einen Vorgang, der in der Musik M o d u l a t i o n genannt wird. Dadurch verhalf sie der Musik der damaligen Zeit zu einem großen Aufschwung, der sich besonders in J o h a n n S e b a s t i a n B a c h s „ W o h l t e m p e r i e r t e m K l a v i e r " niederschlug, einem Werk, in dem alle 24 Dur- und moll-Tonarten verwendet werden. Allerdings enthielt die von B a c h benutzte temperierte Stimmung immer noch einige „unrein" klingende Intervalle, deren Anzahl (4) jedoch nicht ins Gewicht fiel. Die praktische Ausführung der wirklich g l e i c h m ä ß i g temperierten Stimmung gelang erst in späterer Zeit. In der klassischen Musik werden neben der Grundtonart die „benachbarten" Tonarten bevorzugt. Das sind diejenigen Tonleitern, die mit der Grundtonleiter die meisten Töne gemeinsam haben, also die auf der Quinte und auf der Quarte des Grundtones aufgebauten Tonleitern. Ist C-Dur die Grundtonart, so heißen die benachbarten Tonarten G-Dur und F-Dur. Die bedeutende Rolle der Quinte und der Quarte des Grundtones ist durch besondere Namen hervorgehoben; man nennt die Quinte auch Dominante und die Quarte Subdominante des Grundtones, den man als Tonika bezeichnet. Die „tonale" Musik ist vorwiegend auf diese 3 Stufen bezogen. Im Gegensatz dazu werden in der „atonalen" Musik solche Beziehungen vermieden. Hier sind alle 12 Töne der chromatischen Tonleiter gleichberechtigt, d. h. „nur aufeinander bezogen" (Schönberg). Das führt zu der bekannten Zwölftonreihe. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie alle zwölf Töne enthält, ohne daß sich ein Ton wiederholt. Die zwölf Töne können dabei sowohl nacheinander als auch (ganz oder teilweise) gleichzeitig erklingen. Der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz wird zwangsweise aufgehoben. Das Zwölftonsystem ist deshalb in harmonischer Hinsicht auf willkürliche Festsetzungen begründet, während das harmonische Ordnungsprinzip der tonalen Musik auf Naturgesetzen beruht. Bisher war nur von den S c h w i n g u n g s V e r h ä l t n i s s e n der einzelnen Töne, nicht aber von ihrer absoluten Frequenz die Rede. Eine internationale Festlegung besagt nun, daß der Kammerton a 1 die Frequenz 440 Hz besitzt. Bei der Herstellung der temperierten Stimmung macht man sich die Schwebungen der Obertöne zunutze. Man geht vom Kammerton a 1 (Stimmgabel) eine Quinte aufwärts zum Ton e 2 . Dann ist der dritte Oberton von a 1 gleich dem zweiten Oberton von e 2 , nämlich e 3 . Die reine Quinte ist also daran erkennbar, daß zwischen den beiden Obertönen keine Schwebungen auftreten. Die temperierte Quinte ist, wie aus der Tabelle ersichtlich, etwas kleiner. Sie ist ausgezeichnet durch eine Schwebungsfrequenz von 1,5 Hz, die zwischen den beiden Obertönen besteht. Ein geübter Stimmer hat diese Schwebungsfrequenz, genauer gesagt, den Rhythmus des periodischen An- und Abschwellens, im Gedächtnis. Der nächste Schritt besteht darin, daß man von e 2 eine Quarte abwärts zum Ton h 1 geht. Diesmal stimmt der vierte Oberton h 3 von h 1 mit dem dritten Oberton von e 2 überein. Mit Hilfe der entsprechenden Schwebungsfrequenz erhält man auch hier die temperierte Quarte, die etwas größer ist als die reine. Von h 1 schreitet man weiter in Quinten und Quarten fort, bis der Ton a 2 erreicht ist. Die richtige Stimmung ist dann daran erkennbar, daß sich a 2 als reine, d. h. schwebungsfreie, Oktave von a 1 ergibt. Neben der internationalen Stimmung, der der Kammerton a 1 zugrunde liegt, ist sehr bequem die physikalische Stimmung, die vom Ton c 1 (auch eingestrichenes c genannt) mit 256 = 2 8 Hz

Oktavlage Subcontra-C Contra-C Großes C Kleines C Eingestrichenes C . . Zweigestrichenes C . . Dreigestrichenes C . . Viergestrichenes C . . Fünfgestrichenes C . . ] ) Die temperierte (n cht

Bezeichnung 3

c~ c~2 c-1 c° c1 . . c2 . cs c4 . . c5 die reine!)

Frequenz, internationale Stimmung Hz

Frequenz, physikalische Stimmung Hz 4

Wellenlänge in Luft m

16 = 2 20 oder C2 16,4 10 oder Ci 32,6 32 = 25 6 64 = 2 5 oder C 65,4 7 oder c 130,7 128 = 2 2,5 1 8 oder c' 261.5 ) 256 = 2 1,3 0,7 oder c" 523,0 512 = 29 0,4 oder d " 1046,0 1024 = 210 oder c I V 0,2 2092,0 2048 = 2 11 0,1 oder c v 4183,9 4096 = 2 12 Sexte a 1 von c 1 ist der Kammerton mit der Frequenz 440 Hz.

570

Akustik

ausgeht. In der vorstehenden Tabelle ist der in der Musik hauptsächlich verwendete Frequenzbereich in Oktavteilung in internationaler und physikalischer Stimmung wiedergegeben; in der letzten Spalte sind die entsprechenden Wellenlängen in Luft angeführt. Die Tonbereiche der menschlichen Stimme sowie einiger Musikinstrumente sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Tonumfang Bezeichnung Frequenz in Hz (Physikalische Stimmung)

Tonquelle

Männerstimme bei ruhigem Sprechen Frauenstimme bei ruhigem Sprechen Singstimme im Chorgesang für Baß für Tenor für Alt für Sopran für Koloratursängerin Klavier Violine Solovioline Orgel gute Wiedergabeanlage (Verstärker + Lautsprecher)

. . . . . . . .

g" 1 bis g g bis g 1

96 bis 192 bis

f-1 c f c1

86 128 171 256

bis bis bis bis bis a~3 bis g bis g bis c - 3 bis

e1 a1 e2 a2 c4 a4 g4 d5 c5

bis bis bis bis bis 27 bis 192 bis 192 bis 16 bis

192 384 320 427 640 833 2048 3413 3772 4598 4096

30 bis 20000

Den größten Tonumfang von c~ 3 bis c 5 besitzt also die Orgel; die (gedackten) Pfeifen für den tiefsten Ton c~ 3 haben eine Länge von rund 5 m, während dem höchsten Ton c 5 eine offene Pfeife von 4 cm Länge entspricht. Die hohen Töne, die sich auf der Violine hervorbringen lassen, beruhen auf der Möglichkeit, Obertöne einzeln anzuregen. Dabei wird die Saite an geeigneter Stelle mit dem Finger leicht berührt, wodurch ein künstlicher Schwingungsknoten entsteht (vgl. Abb. IX, 21). Derartige („Flageolett-Töne" genannte) Oberschwingungen sind auf allen Streichinstrumenten möglich. Während man bei der Violine nur bis zum fünften Oberton geht, lassen sich auf dem Violoncello und dem Kontrabaß auch die höheren Obertöne erzeugen, die auf Grund der größeren Saitenlänge immer noch genügend Intensität besitzen. Streichinstrumente können ferner wie die Posaune die Tonhöhe kontinuierlich verändern (Glissando), wovon besonders in der zeitgenössischen Musik lebhaft Gebrauch gemacht wird. Kombiniert man die beiden Möglichkeiten auf dem Violoncello oder dem Kontrabaß, so lassen sich durch leichtes Gleiten des Fingers auf der Saite nacheinander sämtliche Obertöne anregen, denn jeweils in dem Augenblick, wo der Finger gerade einen Knotenpunkt berührt, entsteht während des Bogenstrichs der zugehörige Oberton (Flageolett-Glissando). Die neue Musik ist stark von solchen Klangeffekten beherrscht. Sie befindet sich zur Zeit in einem experimentellen Stadium, in dem selbst die ungewöhnlichsten Möglichkeiten der Klangerzeugung Verwendung finden. Charakteristisch für diese Entwicklung ist der zunehmende Einsatz elektroakustischer Hilfsmittel. Auch statistische Methoden (Gaußsche und Maxwellsche Verteilungsfunktionen) werden auf Tonhöhe und Tondauer angewandt, wobei sich die „Berechnungen" meist als falsch erwiesen haben. Die Namen für solche Kompositionen sind häufig der physikalischen Literatur entnommen (Ionisation, Spektrogramm, Intégrales, Permeabilität), offenbar ohne Kenntnis ihrer wahren Bedeutung; denn es ist nicht leicht einzusehen, was die Titel mit dem Inhalt dieser Werke gemeinsam haben. Möglicherweise dienen sie nur dem Zweck, dem Uneingeweihten den Nimbus des Geheimnisvollen vorzuspiegeln, um über die vorherrschende Unzulänglichkeit des Inhaltes hinwegzutäuschen. Aufgaben IX, 1

Welche Wellenlänge etwa hat die Sprache a) des Mannes, b) der Frau? (Grundschwingung)

IX, 2

Man nenne sehr gute und sehr schlechte Schallabstrahler

IX, 3

Wie wirkt die Schalldämpfung eines Auspufftopfes beim Kraftwagen ? (Man betrachte die Resonanzkurve eines Systems, das zu erzwungenen Schwingungen erregt wird.)

Aufgaben

571

IX, 4

Man erkläre das SOFAR-Nachrichtenverfahren (Sound Fixing and Ranging)

IX, 5

Eine Stahlsaite wird in der Mitte sinusförmig angeregt. a) Elektromagnetisch mit vorgegebener Kraft b) Mechanisch mit vorgegebener kleiner Schnelle Bei welchen Frequenzen treten Resonanzen auf und welche Schwingungsformen entstehen dabei ?

IX, 6

a) Man bestimme den akustischen Widerstand W = p/v eines in seiner Grundfrequenz schwingenden, einseitig geschlossenen Rohres als Funktion des Ortes, b) Ein kleiner einseitig gekapselter Lautsprecher mit großem Massenwiderstand werde in das Rohr eingeführt und errege es in der Grundfrequenz. Warum hat der Schalldruck ein Maximum, wenn sich der Lautsprecher am geschlossenen Rohrende befindet ?

IX, 7

Eine dünne biegeweiche Wand, deren Masse pro Flächeneinheit den Wert m' besitzt, ist parallel zur Zimmerwand im Abstand d angebracht und wird durch eine einfallende Schallwelle in Schwingungen versetzt. Bei diesem Vorgang ist nur die Steife des Luftpolsters der Dicke d verantwortlich für die Rückstellkraft. Man untersuche, unter welchen Bedingungen das System den Schalldurchgang durch die Zimmerwand verringert, und zeige, daß es unter bestimmten Voraussetzungen auch zu einer Begünstigung des Schalldurchgangs kommen kann. Anleitung: Man berechne die Eigenfrequenz des schwingenden Systems tu = Ys'Im'', S', die Luftsteife pro Flächeneinheit der Wand, ergibt sich aus der Beziehung für die Luftsteife S eines H e l m h o l t z resonators, wenn das Volumen V = A • dgesetzt wird. Anhand der aus der Mechanik bekannten Resonanzkurve eines solchen Systems unter Berücksichtigung der (hier vernachlässigten) Dämpfung diskutiere man dann die Wirkungsweise der Doppelwand. Zahlenbeispiel: m' — 35 kg/m 2 ; d = 5 cm; statischer Luftdruckpo = 106 (ib; x = 1,4.

IX, 8

Der von einem Überschallflugkörper erzeugte Doppelknall ist nicht in allen Fällen als solcher zu erkennen, da das Ohr zwei Schallimpulse erst dann zu trennen beginnt, wenn ihr zeitlicher Abstand nicht kleiner ist als 5 bis 10 ms (eine scharfe Trennung ist erst bei Zeitintervallen von 30 ms an aufwärts möglich). Man berechne, wie groß die Geschwindigkeit eines horizontal fliegenden Überschallflugzeugs von 10 m Länge höchstens sein darf, damit ein Doppelknall gerade noch wahrnehmbar ist.

IX, 9

Eine Schallwelle läuft durch ein Rohr mit einem Querschnittssprung, an dem sich die Querschnittsfläche Ai auf den Wert Az — !, A\ verringert. a) Wie verteilt sich die Schallintensität auf die reflektierte und die durchgelassene Welle? b) Welche Verhältnisse ergeben sich, wenn A2 unendlich groß wird (offenes Rohrende)? Anleitung: Man betrachte den akustischen Widerstand W = plv unter der Bedingung, daß an der Sprungstelle die Schalldruckamplitude sowie das Produkt von Querschnittsfläche und Schnellamplitude konstant bleibt. Der Schluckgrad 0 ( = negative Wärmetönung), dann bedeutet das eine Z u n a h m e d e r i n n e r e n E n e r g i e durch die chemische Reaktion. Erfolgt dagegen eine W ä r m e a b g a b e durch die Reaktion (exotherm), ist also AQ < 0 ( = positive W ä r m e t ö n u n g ) , d a n n bedeutet das e i n e A b n a h m e d e r i n n e r e n E n e r g i e .

Thermochemische Prozesse

639

An zwei Beispielen sollen die Begriffe endotherm und exotherm erläutert werden: Eine exotherme chemische Reaktion ist die Bildung von PbS aus den Elementen Pb und S. Bei dieser Bildung wird eine Wärmemenge von 23,1 kcal/mol als Bildungswärme frei und nach außen abgegeben: Pb + S ^ PbS + 23,1 kcal/mol. Bei der Bildung von Acetylen aus den Elementen C und H muß eine Wärmemenge von 53,9 kcal/mol zugeführt werden. Dieser Vorgang ist endotherm: 2 C + H 2 + 53,9 k c a l / m o l ^ C 2 H 2 . Beide chemische Reaktionen können auch umgekehrt verlaufen: Durch Zufuhr von 18,4 kcal/mol entstehen aus PbS die Elemente Blei und Schwefel. Dieser Vorgang ist dann endotherm. Aus der zweiten Reaktion wird ein exothermer Vorgang, wenn man das Acetylen wieder in die Ausgangselemente zerlegt. Hierbei werden 53,9 kcal/mol frei. Die Zerlegung des Acetylens in seine Komponenten wird beim Acetylenbrenner zum Schweißen ausgenutzt. Es wird nicht nur die Verbrennungswärme des Kohlenstoffs und des Wasserstoffs frei, sondern noch zusätzlich die Bildungswärme des Acetylens. Wendet man den 1. Hauptsatz der Form Gl. (XI, 13) für die beiden eben genannten Beispiele an, so erhält man: AU = U2 (PbS) - Ui (Pb + S) = AQ = - 23 100 cal/mol, A U = Uz (C 2 H 2 ) -

t/i (2 C + Ha) = AQ = + 53 900 cal/mol.

Auch bei der Phasenumwandlung treten endotherme und exotherme Wärmetönungen auf. Als Beispiel für einen endothermen Vorgang sei die Phasenumwandlung Eis -> Wasser bei 0 °C angegeben: AU = Uz (Wasser) — Ui (Eis) = AQ = 1440 cal/mol. 1 g Eis erfordert eine Schmelzwärme von 80 cal, 1 mol Eis also eine solche von 18 • 80 cal = 1440 cal (Mr von H 2 0 ist 18). Bei den festen und flüssigen Stoffen ändern sich das Volumen und der Druck bei Erwärmung nur so wenig, daß man die Ausdehnungsarbeit im allgemeinen vernachlässigen kann. Dies ist aber bei den Gasen nicht der Fall. Die Summe der inneren Energie und der Verdrängungsarbeit ist die Enthalpie H : (XI, 14) AH = AU + A(pV). Die Enthalpie wird auch dann häufig angegeben, wenn die Verdrängungsarbeit vernachlässigbar klein ist. Andererseits kann auch die Verdrängungsarbeit überwiegen und die innere Energie klein sein (Dieselmotor). Für alle Fälle gilt unter Verwendung des 1. Hauptsatzes: (XI,14a)

AH = AU + A(pV) =

AQ+VAp.

Wenn ein Liter Gas unter Atmosphärendruck gebildet wird (Ap = 0!), dann ist zur Überwindung des äußeren Luftdrucks eine Arbeit von 1 ltr. • 1 atm = 10,33 kpm notwendig. Sie entspricht einer Wärmemenge von 24,2 cal. Man hat diesen Betrag der Verdrängungsarbeit von der Bildungsenthalpie abzuziehen, um die Änderung der inneren Energie zu erhalten. Ein Beispiel: 1 g Wasser von 100 °C werde bei Atmosphärendruck verdampft. Die erforderliche Verdampfungsenthalpie ist 540 cal/g. Der Wasserdampf nimmt einen Raum von 1,7 ltr. ein. Die Ausdehnungsarbeit ist p (Knampf — ^Wasser) = 1,7 ltr • atm/g = 167 J/g = 40 cal/g. Somit ist die Differenz der inneren Energie: AU = Uz (Dampf) — Ui (Wasser) = 540 cal/g — 40 cal/g = 500 cal/g. Bei der Kondensation des Wasserdampfes zu Wasser wird die Ver-

640

Thermodynamik

dampfungsenthalpie wieder frei. Man hat dann die nach außen abgegebene Kondensationsenthalpie um den Betrag der Kompressionsarbeit zu verkleinern, um die Änderung der inneren Energie zu erhalten: AU = Uz (Wasser) — Ui (Dampf) = — 540 cal/g + 40 cal/g = — 500 cal/g. Wenn Wasserstoff sich mit Sauerstoff zu Wasser verbindet, so hat man folgendermaßen zu rechnen: Bei der Verbrennung von 1 molH2 mit \ mol O2 zu Wasser verschwinden l ^ m o l = 22,4 + 11,2 = 33,6 ltr Gas unter Normalbedingungen. Dafür entstehen 18 cm 3 Wasser. Also 33,6 (1 + i/273) ltr minus 0,018 ltr sind mit dem Atmosphärendruck zu multiplizieren, um die Kompressionsarbeit p V zu erhalten. Für t = 20 °C ergeben sich 36 ltr • atm/mol = 840cal/mol. Um diesen Betrag ist die gemessene Bildungsenthalpie von 68320 cal/mol zu verkleinern : A U = - 68320 cal/mol + 840 cal/mol = — 67480 cal/mol. Man kann die Verdrängungsarbeit bei Gasen vermeiden, wenn man die Reaktion in einem Gefäß mit festen, dicken Wänden vor sich gehen läßt. Ein solches ist die Berthelotsche Bombe (Abb. XI, 14). Der französische Chemiker und Politiker M a r c e l i n B e r t h e l o t und der dänische Chemiker J u l i u s T h o m s o n haben die Wärmetönungen von sehr vielen Reaktionen bestimmt.

Abb. XI, 14. B e r t h e l o t s c h e Bombe. S = Schale zur Aufnahme der zu verbrennenden Substanz; G = Glühspirale zum Entzünden der Substanz; O = verschraubbare Öffnungen zum Einlassen von Sauerstoff

Verbrennungswärme in cal/g

Stoff

Wasserstoff Propangas Wachs Heizöl Stearinsäure Kohlenstoff Holz- und Steinkohle .

. . . . . . .

. . . . . . .

33760 12000 10500 10400 9550 8730 8000

Stoff

Aluminium Koks Alkohol Braunkohle Leuchtgas Tannenholz Schwefel

. . . . . . . . . . . .

Verbrennungswärme in cal/g . . . . . . .

. . . . . . .

7480 7100 7080 6000 5400 4400 2300

103. Molekularkinetische Theorie der Wärme In den vorhergehenden Abschnitten sind die Tatsachen behandelt worden, die zu der Folgerung zwingen, daß die Wärme eine Energieform ist. Dagegen war nichts darüber gesagt worden, welche Energieform der Wärme zuzuschreiben ist. Denn darüber sagt der 1. Hauptsatz nichts aus. Jede weitergehende Behauptung über die spezielle Natur der Wärmeenergie ist daher eine H y p o t h e s e , die über die unmittelbare Erfahrung (Unmöglichkeit des Perpetuum mobile)

Molekinarkinetische Theorie der W ä r m e

641

hinausgeht. Es liegt nun nahe, diese Frage mit der Auffassung von der atomistischen Struktur der Materie zu verknüpfen. Die kleinsten Teilchen der Materie sind ja im allgemeinen nicht in Ruhe; sie besitzen eine kinetische Energie. Man kann diese Bewegung zwar nicht sehen, aber doch wenigstens indirekt ( B r o w n s e h e Molekularbewegung) erkennbar machen. Daher hat man — zuerst der Berliner Gymnasiallehrer K r ö n i g , dann vor allem R. C l a u s i u s und J. Cl. M a x w e l l — die Hypothese aufgestellt, daß die Wärmeenergie identisch mit der kinetischen Energie der Moleküle bzw. der Atome sei. Diese Theorie nennt man daher die molekularkinetische Theorie der Wärme. Sie ist insbesondere für Gase ausgebildet. B e t r a c h t e n w i r z u n ä c h s t i d e a l e G a s e . Vom molekularen Standpunkt aus sind sie als Aggregate von Molekülen verschwindender Volumenausdehnung zu betrachten, die keine Kräfte aufeinander ausüben. Ein Molekül eines idealen Gases muß sich also gleichförmig geradlinig bewegen, bis es mit anderen Molekülen oder der Wandung des einschließenden Gefäßes zusammenstößt, wo es nach den Gesetzen des elastischen Stoßes reflektiert wird. Man sieht sofort, wie man von da zu w i r k l i c h e n Gasen weitergehen kann. Deren Moleküle haben endliches Volumen und üben Kräfte aufeinander aus. Ihre Bahn ist also geradlinig nur außerhalb der Wirkungssphäre dieser Molekularkräfte. Von einer so detaillierten Hypothese muß man natürlich mehr Leistungen verlangen als von dem 1. Hauptsatz allein. Dieser liefert uns zwar die Energiebilanz, aber z. B. nicht die Zustandsgieichung, die Koeffizienten der inneren Reibung, der Wärmeleitung und Diffusion, die Werte der spezifischen Wärmen cp und cv usw. Alles dieses aber liefert die kinetische Theorie in wesentlichem Einklang mit der Erfahrung, so daß man heute diese Theorie in ihren Grundzügen als endgültig gesichert betrachten kann. Ableitung der Zustandsgieichung. Die erste Aufgabe ist, die Zustandsgieichung idealer Gase aus dieser Anschauung herzuleiten. D a ß ein Gas auf die Gefäßwandungen einen Druck ausübt, ist verständlich, weil die Moleküle mit der Wand zusammenprallen und von ihr zurückgeworfen werden. Jedes Molekül überträgt also einen Impuls auf die Wand, und dessen zeitliche Änderung pro Flächeneinheit der Wand ist nach der 2. N e w t o n s c h e n Bewegungsgleichung der Druck. Nur diesen Gedanken haben wir zu verfolgen, um zur Zustandsgieichung zu gelangen. Wenn man nun daran geht, den Druck aus den Molekülimpulsen auf die Wand zu ermitteln, so stößt man auf etwas grundsätzlich Neues. Denn die Bewegung der Moleküle beherrschen wir nach den Gesetzen der Mechanik nur dann vollkommen, wenn wir für einen Zeitpunkt die Lage und die Geschwindigkeit jedes einzelnen von ihnen kennen. Bei ihrer ungeheuren Zahl wäre es aber ein aussichtsloses Unternehmen, wenn man den Versuch machen wollte, diese Daten zu gewinnen. Wir müssen versuchen, ohne deren Kenntnis auszukommen. Besäßen wir sie, so könnten wir angeben, welche i n d i v i d u e l l e n Moleküle in jedem Augenblick mit der Wand zusammenstoßen, und mit welcher Geschwindigkeit sie das tun. An Stelle der fehlenden Kenntnis müssen W a h r s c h e i n l i c h k e i t s a u s s a g e n treten. Sie sind ausreichend, weil eine Kenntnis über das Verhalten eines einzelnen Moleküls nicht notwendig ist. Es kommt offenbar gar nicht darauf an, w e l c h e Moleküle in einer Sekunde zum Stoß mit der Wand gelangen und ihren Impuls übertragen, sondern nur w i e v i e l e . Diese letzte Angabe verlangt erheblich weniger Kenntnisse als die erste. Es genügt auch, wenn wir statt der wirklichen Geschwindigkeit c jedes einzelnen Moleküls einen M i t t e l w e r t kennen. Auch der Druck des Gases ist ja ein zeitlicher Mittelwert über alle einzelnen Stöße. Obgleich die Stöße d i s k o n t i n u i e r l i c h Impulse übertragen, empfinden wir nur einen k o n t i n u i e r l i c h e n M i t t e l d r u c k . Das Verfahren ist ähnlich wie bei einer Lebensversicherungsgesellschaft. Ihre Mortalitätstabellen geben ihr Kenntnis davon, wieviele der Versicherten beispielsweise in einem Alter zwischen 50 und 60 Jahren aller Voraussicht nach sterben. Aber es ist ihr gleichgültig, welche I n d i v i d u e n von diesem Los betroffen werden und an welcher Krankheit sie sterben. Ihr genügt es für die Rentabilität zu wissen, daß nach ihren Statistiken so und so viel Prozent in dem genannten Lebensalter sterben. Wir machen es hier also ähnlich: Statt einer genauen Kenntnis über das einzelne Molekül genügt uns eine Statistik. Damit tritt in die Physik etwas grundsätzlich Neues ein, nämlich s t a t i s t i s c h e oder W a h r s c h e i n l i c h k e i t s - A u s s a g e n an Stelle der bisher allein vorhandenen, vollkommen d e t e r m i n i e r t e n Behauptungen. 41

B c r g m a n n - S c h a c f c r I, 8. A u f l . 1969

642

Thermodynamik

Welches sind nun diese Wahrscheinlichkeitsaussagen? In einem kräftefreien Gas ist keine Richtung vor der anderen ausgezeichnet. Es ist also kein Grund vorhanden, warum ein Molekül sich lieber in der einen als in der anderen Richtung bewegen sollte. Deswegen machen wir die Annahme, daß die Geschwindigkeiten sich auf alle Richtungen gleichmäßig verteilen. Das bedeutet, wie die genaue Rechnung zeigt, daß je der Moleküle von links nach rechts, von oben nach unten, von vorn nach hinten und umgekehrt fliegt. Je die Hälfte von diesem Drittel, d. h. je 1/6, fliegt also von links nach rechts, von rechts nach links usw. Eine weitere Annahme ist die folgende: Da jeder Raumteil mit jedem anderen gleichberechtigt ist, ist anzunehmen, daß die Moleküle sich gleichmäßig über das ganze Volumen verteilen. Ist also N die Gesamtzahl im Volumen V, so fallen auf jedes Kubikzentimeter im Mittel n = N/ V Moleküle. Was endlich die Geschwindigkeit angeht, so kann man nicht annehmen, daß alle Moleküle die gleiche Geschwindigkeit haben. Es werden im Gegenteil alle möglichen Werte vorkommen, aber nur relativ wenige werden eine extrem kleine oder extrem große Geschwindigkeit haben. Weitaus die Mehrzahl der Moleküle wird eine Geschwindigkeit mittlerer Größe besitzen, mit der wir daher rechnen können. Das genaue Gesetz, nach dem die Geschwindigkeiten verteilt sind, werden wir noch kennenlernen. Die Vorstellungen der kinetischen Theorie sollen an einem „Modellgas" erläutert werden, dessen „Moleküle" aus Stahlkugeln bestehen. Den Gasbehälter bildet ein horizontal liegender Metallrahmen R (Abb. XI, 15), der auf der Ober- und Unterseite durch zwei Glasplatten ab-

Abb. XI, 15. Anordnung zur Erläuterung der Vorstellungen der kinetischen Gastheorie an einem „Modellgas" aus Stahlkugeln gedeckt ist, so daß man hindurchprojizieren kann. Um den Stahlkugeln eine gleichmäßige, lebhafte „Wärmebewegung" zu erteilen, ist durch die linke Stirnseite des Rahmens ein verschiebbarer Stempel St eingeführt, der durch einen an der Achse A eines Motors angebrachten Exzenter in eine schwingende Bewegung versetzt werden kann. Die Frequenz der Schwingung läßt sich durch die Umlaufzahl des Motors regulieren. Dadurch werden die Kugeln angestoßen und schwirren in dem Rahmen in ganz unregelmäßigen Zickzackbahnen hin und her, wobei sie miteinander und mit den Wänden zusammenstoßen und nach den Gesetzen des elastischen Stoßes reflektiert werden. Fast augenblicklich stellt sich eine ganz ungeordnete Bewegung ein, bei der die Kugeln über den ganzen Raum verteilt sind. Im Sinne dieses Versuches betrachten wir nun in Abb. XI, 16 ein Flächenstück A der Wand eines Gasbehälters und fragen nach der Zahl der Moleküle, die in der Zeit t senkrecht auf das Flächenstück auftreffen. Ein Teil dieser Moleküle hat die Geschwindigkeit c±. In der Zeit t können nur diejenigen Moleküle das Flächenstück A erreichen, die sich innerhalb des gezeichneten Zylinders der Grundfläche A und der Höhe c\t befinden. Ist n\ die Anzahl der Moleküle pro Volumen mit der Geschwindigkeit ci, so kommt nach früheren Überlegungen für die Flugrichtung links-rechts (Abb. XI, 16) nur Vß «i in Frage, da von den sechs möglichen Hauptrichtungen nur eine betrachtet wird. In dem Zylinder mit dem Volumen Ac\t befinden sich also 1/6 {n\Acit) Moleküle der Geschwindigkeit c\. Jedes dieser Moleküle hat die Masse wo und somit den Impuls woci. Beim Stoß auf die Wand ändert sich das Vorzeichen von q . Deshalb beträgt die Differenz der Impulse vor und nach dem Stoß 2 woci- Damit erfährt auch die Wand bei jedem Stoß einen Impuls der Größe 2 mocy. Sämtliche in dem betrachteten Zylinder befindlichen Moleküle übertragen auf die Wand den Impuls (niAc\t • 2 ni(,ci) = V3 ("l^oci 2 • At). Das entspricht einem Kraftstoß der Größe Fi -1:

Molekinarkinetische Theorie der Wärme „ 1 F1t=

2 A —n1m0c1-A-t

Fi

1

643

oder 2

Abb. XI, 16. Zur Berechnung des Gasdruckes

Cjt

Es zeigt sich also, daß m Moleküle p r o Volumeneinheit mit der Masse wo u n d der Geschwindigkeit ci auf eine W a n d den D r u c k pi ausüben. Die gleiche Rechnung läßt sich auch f ü r «2, «3, n4,... Moleküle p r o Volumeneinheit mit den Geschwindigkeiten ci, C3, C4, . . . durchführen. Sämtliche erhaltenen Drucke p±, p% pz, Pi, ••• addieren sich zum Gesamtdruck p: 1 2 v P = ^J - m o L n i c i . t Berücksichtigt m a n n u n noch, daß die Gesamtzahl der Moleküle p r o Volumen n — tti + «2 + «3 + . . . ist u n d daß der Ausdruck lniCf c2=^ als Mittelwert der Geschwindigkeitsquadrate definiert ist, so erhält man schließlich (XI, 15)

p = | n m

? .

0

Die Gültigkeit dieser Gleichung läßt sich qualitativ mit dem in Abb. XI, 15 dargestellten Apparat zeigen. Zu diesem Zweck ist gegenüber dem beweglichen Stempel St in dem Rahmen R eine verschiebbare Platte P angebracht, die durch eine Schubstange mit einem Zeiger Z in Verbindung steht. Die Ruhelage der Platte wird durch eine zwischen ihr und der Rahmenwand angebrachte Schraubenfeder gegeben. Sobald der Exzenter E in Bewegung gesetzt wird, üben die auf die Platte P treffenden Kugeln auf diese einen Druck aus, dessen Größe sich an der Zeigerstellung ablesen läßt. Erhöht man die Drehzahl des Motors und damit die Geschwindigkeit der Kugeln, so steigt entsprechend der auf die Platte P ausgeübte Druck. Das Instrument zeigt den zeitlichen Mittelwert des übertragenen Impulses als konstanten Druck. In Gl. (XI, 15) ist nmo die Gesamtmasse der Moleküle p r o Volumen, d. h. nmo ist gleich der Dichte q, und Gl. (XI, 15) geht über in: (XI, 16)

= iQ

J

Dies m u ß bereits die Zustandsgieichung sein, denn aus p V = vRT wird mit v = m/M m/V = q\ ~Q = M b D u r c h Gleichsetzen erhält m a n : 41*

R T

-

und

644

Thermodynamik

M

3

M ist die molare Masse des Gases. Man kann diese Gleichung durch Erweitern mit § wo in die übersichtlichere Form bringen: ( x i , 17)

^ 4 - ^ o . r ,

aus der folgendes Ergebnis hervorgeht: Die mittlere kinetische Energie \ mo c2 der Gasmoleküle ist proportional der absoluten Temperatur T. Aus dieser A b l e i t u n g der Z u s t a n d s g i e i c h u n g idealer G a s e e r g i b t sich zug l e i c h e i n e k i n e t i s c h e D e u t u n g d e r T e m p e r a t u r . Mit der Zustandsgieichung sind auch alle Folgerungen aus ihr wiedergewonnen: Die A v o g a d r o s c h e Hypothese, das B o y l e M a r i o t t e s c h e Gesetz, das D a l t o n s c h e Gesetz der Partialdrucke usw. Da nach (XI, 17) die Temperatur 7" der positiven Größe i m„c2 proportional ist, ist der kleinste Wert, den T annehmen kann, gleich Null. Es gibt also eine tiefste Temperatur, den absoluten Nullpunkt, der kinetisch dadurch charakterisiert ist, daß die Moleküle die Geschwindigkeit Null besitzen. Gl. (XI, 16) gestattet, die mittlere Geschwindigkeit c der Gasmoleküle zu berechnen, wenigstens der Größenordnung nach. Es ist dabei aber zu beachten, daß ] / ? nicht genau gleich c ist, wie man sich leicht an numerischen Beispielen klar macht 1 ). Den genauen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ausdrücken, nämlich 5n

= 0,9211/?,

kann die exakte Rechnung erst dann liefern, wenn das Gesetz der Geschwindigkeitsverteilung bekannt ist, worauf wir am Schluß dieses Abschnitts eingehen werden. Einstweilen werden in der folgenden Tabelle die Werte ]/c2 und c für einige Gase bei 0 °C = 273,15 K angegeben. (Der in der Tabelle mitaufgeführte Wert der „wahrscheinlichsten Geschwindigkeit" cw wird am Schluß dieses Abschnittes erläutert.) Es ergeben sich also sehr erhebliche Geschwindigkeiten, die der Größenordnung nach mit den Schallgeschwindigkeiten vergleichbar sind. Gas Wasserstoff Stickstoff Luft Sauerstoff Kohlendioxid Joddampf

y?

c

Cu)

1838 m/s 492 m/s 485 m/s 461 m/s 392 m/s 164 m/s

1694 m/s 453 m/s 447 m/s 425 m/s 361 m/s 151 m/s

1487 m/s 398 m/s 395 m/s 377 m/s 318 m/s 133 m/s

Man kann diese Molekulargeschwindigkeiten direkt messen. Dies beruht auf der experimentellen Feststellung (Dunoyer), daß ein bis zum Schmelzpunkt erhitzter Metalldraht (z. B. Silberdraht oder, was technisch bequemer ist, ein versilberter Platindraht) im Vakuum verdampft, d. h. nach allen Seiten gleichmäßig Silberatome aussendet (da Ag einatomig ist, sind hier Molekül und Atom identisch). Man kann also auf diese Weise M o l e k u l a r s t r a h l e n erzeugen. Stellt man in den Strahlengang eine kalte Metallplatte, so bleiben die sie treffenden Atome oder Moleküle daran haften. Auf diesen beiden Tatsachen beruht die von S t er n erdachte Methode zur Messung der Molekulargeschwindigkeit. In Abb. XI, 17 bedeutet G eine Grundplatte, die um eine zur Zeichenebene senkrechte Achse A mit großer Winkelgeschwindigkeit drehbar ist. In der Achse A befindet sich ein versilberter Platindraht, der elektrisch zum J

) Der Mittelwert von 3, 4, 5 ist ^

^

, / 3 2 + 42 + 52 ,/5Ö wert 1/ = U y = j/16,66 > 4 .

= 4; dagegen die Wurzel aus dem quadratischen Mittel-

Molekinarkinetische Theorie der Wärme

645

Glühen erhitzt wird. Er sendet nach allen Seiten Ag-Moleküle aus, deren mittlere Geschwindigkeit c sei; sie hängt natürlich von der Glühtemperatur ab. In unmittelbarer Nähe der Achse befindet sich in einer Blende B ein kleines Loch, das einen feinen Molekularstrahl ausblendet und im Abstand / davon die Auffangplatte P. Die Blende B und die Auffangplatte P sind mit der Grundplatte G fest verbunden. Selbstverständlich muß dieser Versuch im Hochvakuum ausgeführt werden, damit die Silberatome nicht durch Zusammenstöße mit Gasmolekülen auf dem Weg vom Draht zur Platte abgelenkt werden. Solange die Grundplatte G nicht rotiert, trifft der Molekularstrahl die Platte P an der Stelle M, wo sich ein „Silberpunkt" bildet. Der Strahl braucht vom Passieren der Lochblende bis zum Auftreffen in M die Zeit r = Ifc. Wird aber G z. B. im Uhrzeigersinn mit der Winkelgeschwindigkeit a> gedreht, so ver-

schiebt sich während der Laufzeit r die Platte P um das Stück d = /cur = /2cu/c. Der Molekularstrahl trifft daher nicht mehr die Stelle M, sondern den Punkt M'. Man erhält also zwei Silberpunkte M und M' im meßbaren Abstand d\ aus /, cu, d ergibt sich dann sofort die mittlere Geschwindigkeit c. (Dieser einfache Gedankengang erfährt natürlich eine Komplikation dadurch, daß nicht alle Moleküle die gleiche Geschwindigkeit besitzen; doch sehen wir hier davon ab.) Für die Geschwindigkeit c findet man also: c = l2m/d. Bei einer Temperatur von 1473 K fand man experimentell für c Werte zwischen 675 und 643 m/s, während sich nach der Formel (XI, 17) 672 m/s hätte ergeben sollen, — in Anbetracht der schwierigen Messung also völlige Übereinstimmung. Die oben wiedergegebene Ableitung der Zustandsgieichung idealer Gase ist ein erster Erfolg der kinetischen Theorie der Wärme. Besonders wichtig ist nun, daß man unmittelbar sieht, wie für reale Gase diese Herleitung zu ergänzen bzw. zu verbessern ist. Einmal muß das endliche Volumen der Gasmoleküle berücksichtigt werden und zum anderen Mal die anziehenden Kräfte zwischen ihnen. Dies geschieht bekanntlich in der v a n der Waalsschen Zustandsgieichung, die für den gasförmigen und flüssigen Zustand (wenigstens annähernd) gültig ist : (p + a/F2) (V-

b) = vRT ,

wo Kdas Volumen, a und b Konstanten sind; ajV'1 ist die Korrektur, die von der Anziehungskraft der Moleküle herrührt und den Druck vermehrt (sogenannter Binnendruck), b die Volumenkorrektur. Nach der genauen Rechnung ist b das Vierfache des Eigenvolumens der Moleküle. Der Wert von b/v, den man von einer großen Anzahl von Stoffen kennt — vgl. Tabelle in Nr. 94 —, liefert zusammen mit der Avogadro-Konstanten Na = 0,602- 1024 m o l - 1 einen Wert für die Molekülgröße. Betrachten wir nämlich die Moleküle als kugelförmig vom Radius r, so nehmen die NA Moleküle eines Mols den Raum | r3nNA ein, und dieser Ausdruck ist gleich dem vierten Teil von b/v. Setzt man für die Gase H 2 , 0 2 , N 2 , C 0 2 , H a O den Mittelwert von bjv, nämlich b/f = 33,4 cm 3 /mol ein, so ergibt sich r w 1,4 • 10~8 cm in größenordnungsmäßiger Übereinstimmung mit allen sonstigen Methoden. Der Gleichverteilungssatz der kinetischen Energie (Äquipartitionstheorem). Wir knüpfen jetzt

an Gl. (XI, 17) an, die wir noch in eine etwas andere Gestalt bringen, wo ist die Masse eines Moleküls, M die molare Masse, M/wo ist demnach die Zahl der Moleküle im Mol, d. h. die Avogadro-Konstante. Demgemäß kann man (XI, 17) schreiben:

«a, i7.) k = 1,38 • 10~16 erg/grd ist die Boltzmann-Konstante. Gl. (XI, 17a) kann noch verallgemeinert werden; es ist offenbar:

646

Thermodynamik c2 = c2 + c2 + c j ,

wo cx, Cy, cz die Komponenten von c sind. Wegen der völligen Gleichwertigkeit aller Geschwindigkeitsrichtungen ist im Mittel auch noch: C2 = ^y C2 = C 23 ^x

und daraus folgt weiter:

?v = —C* x 3

? = —? y 3

? =— P 3

Man kann also statt (XI, 17a) die drei Gleichungen schreiben: n

(XI, 17b)

T^=T

k T

'

T ^ = T

f c r

-

Wir betrachten ein einatomiges Molekül, das wir — an die Überlegung von B o l t z m a n n anschließend — schematisch als eine starre Kugel auffassen. Eine Kugel hat nach der schon früher eingeführten Ausdrucksweise — wie jeder starre Körper — sechs Freiheitsgrade, und zwar drei der Translation und drei der Rotation um drei zueinander senkrechte Achsen. Die Gleichungen (XI, 17 b) bringen zum Ausdruck, daß die kinetische Energie jedes der drei translatorischen Freiheitsgrade den gleichen mittleren Wert \ kT besitzt. Dies ist eine Folge der dauernden Zusammenstöße der Moleküle. Wie steht es nun mit den rotatorischen Freiheitsgraden? Nur aus quantenmechanischen Überlegungen folgt, daß bei Raumtemperatur die mittlere kinetische Energie der Moleküle nicht ausreicht, um die Rotation eines Atoms anzuregen. Das bedeutet praktisch, daß die drei Rotationsfreiheitsgrade eines einatomigen Moleküls am Energieaustausch nicht teilnehmen. Somit kommen für einatomige Gase unter den für ihre Gestalt gemachten Voraussetzungen nur die drei translatorischen Freiheitsgrade in Betracht. Diese Aussage ist einer starken Verallgemeinerung fähig. Betrachten wir zunächst eine Mischung von zwei einatomigen Gasen, z. B. Helium und Neon; die Molekülmassen seien mi und W2, die mittleren Geschwindigkeitsquadrate ci 2 und C22. Wenn diese Gasmischung die Temperatur Tbesitzt, so muß für beide Gase nach (XI, 17a) gelten:

2

1

2

2

2

2

usw., d. h. die mittlere kinetische Energie beider Gase muß im Wärmegleichgewicht übereinstimmen, und das gilt nach (XI, 17 b) auch für jeden einzelnen Freiheitsgrad. Komplizierter sind die Verhältnisse bei zweiatomigen Molekülen; diese betrachten wir angenähert als starre Rotationsellipsoide (Abb. XI, 18). Auch für ein solches Molekül gilt zunächst nach (XI, 17 a) 2

2

und ebenso nach (XI, 17b): mop=mop=Wo-I=J_ 2 * 2 y 2 z 2 Von den Rotationsfreiheitsgraden ist diesmal nur einer n i c h t am Energieaustausch beteiligt, nämlich derjenige mit dem kleinsten Trägheitsmoment (Rotation um die große Achse des Ellipsoids). Dagegen liefern die beiden anderen Freiheitsgrade, die der Rotation um die beiden in Abb. XI, 18 gestrichelten Achsen entsprechen, wegen des größeren Trägheitsmomentes einen Beitrag zum Energieaustausch, denn diese Rotationen kommen sicher durch die im allgemeinen nicht zentralen Zusammenstöße der Moleküle zustande. Wenn man auf Grund der mechanischen

Molekinarkinetische Theorie der Wärme

647

Stoßgesetze die Rechnung durchführt, so findet man, d a ß a u c h die k i n e t i s c h e E n e r g i e f ü r j e d e n d i e s e r b e i d e n F r e i h e i t s g r a d e der R o t a t i o n den m i t t l e r e n B e t r a g \ kT hat. Ein zweiatomiges Molekül besitzt also insgesamt fünf Freiheitsgrade, drei der Trans-

Für dreiatomige Gase dagegen kommen alle drei Rotations- und die drei Translationsfreiheitsgrade, also insgesamt sechs Freiheitsgrade in Betracht, wenn nicht die drei Atome in einer geraden Linie angeordnet sind und das Molekül auf diese Weise wieder die Symmetrie eines Rotationsellipsoids besitzt. Dieser Energieaustausch auf die in Frage kommenden Freiheitsgrade ist, wie schon bemerkt, eine Folge der dauernden Zusammenstöße, d. h. der mechanischen Stoßgesetze; man nennt das mechanisch zu beweisende Ergebnis dieses Austausches den Gleichverteilungssatz der kinetischen Energie; er kann folgendermaßen ausgesprochen werden: Im thermischen Gleichgewicht hat jeder am Energieaustausch teilnehmende Freiheitsgrad der kinetischen Energie eines Moleküls im Mittel die gleiche Energie ^ kT. Das ist eine sehr weitgehende Aussage, um so mehr, als sie nicht auf Gase beschränkt ist, vielmehr ebenso für flüssige und feste Körper gilt. Denn wenn diese mit einem Gas im Temperaturgleichgewicht sind, und etwa im Anfang die kinetische Energie pro Molekül des Gases größer oder kleiner wäre, so würden die Zusammenstöße zwischen Gas-, Flüssigkeits- und Festkörpermolekülen doch in relativ kurzer Zeit bewirken, daß der Ausgleich stattfindet. Theorie der spezifischen Wärmekapazitäten, Dulong-Petitsches Gesetz. Der Gleichverteilungssatz liefert nun sofort die in Nr. 96 mitgeteilten Werte der spezifischen Wärmekapazitäten der Gase. Betrachten wir zunächst ein einatomiges Gas (Stoffmenge v, gemessen in mol). Dafür gewinnt man die gesamte Energie U, indem man die drei Gleichungen (XI, 17b) addiert und mit NA und v erweitert. Man erhält also: (XI, 18a)

u =v N

A

- ^ = vNA-^kT = v ^ R T .

Dieses Ergebnis wird mit der für ideale Gase gültigen Gleichung (XI, 6 a): U = mcvT + const = vCvT + const verglichen. Daraus folgt, daß bei idealen Gasen die Integrationskonstante, die sich bei der Berechnung der inneren Energie ergibt, gleich Null ist. Ferner erhält man für die molare Wärmekapazität Cv eines idealen einatomigen Gases: (XI, 19a)

C„=yR.

Da am Schluß von Nr. 100 gezeigt wurde, daß R ^ 2 cal/mol • grd ist, folgt (in Übereinstimmung mit den Tatsachen, vgl. Tabelle in Nr. 96) Cv «a 3 cal/mol • grd. Da ferner für ideale Gase Cv — Cv = R ist, so folgt: 1 ^ 4 = 1 , 6 6 6 , gleichfalls in Übereinstimmung mit den Beobachtungen.

648

Thermodynamik

Entsprechend läßt sich die Rechnung für zwei- und dreiatomige ideale Gase durchführen. Bei einem zweiatomigen Gas ist als mittlere Energie eines Moleküls nicht das Dreifache, sondern das Fünffache des Wertes -j kT anzusetzen. Ist v die Stoffmenge, so gilt hier für die innere Energie: (XI, 18b)

U = vNÄ-^-kT

=

v-^-RT.

Durch Vergleich mit (XI, 6a) folgt: (XI, 19b)

C„ = y R « 5 c a l / m o l - g r d .

Da Cp — Cv = R ist, so ist für zweiatomige Gase

beides in Übereinstimmung mit der Beobachtung. Ebenso ist für die dreiatomigen Gase (6 Freiheitsgrade): (XI, 18 c)

U=

vNÄ-^-kT=v3RT,

(XI, 19 c)

C„ = 3 R x 6 cal/mol • g r d , x = ^ = - |6U l , 3 3 3 . Cv

Die kinetische Theorie der Wärme liefert also die molaren Wärmekapazitäten der Gase in voller Übereinstimmung mit der Erfahrung, was bisher keine andere Theorie zu leisten vermochte. In der obigen Theorie der spezifischen Wärmekapazitäten ist vorausgesetzt, daß die Moleküle s t a r r e G e b i l d e sind, da sonst die angesetzte Zahl der Freiheitsgrade nicht stimmen würde. Ferner ist bei den dreiatomigen Molekülen die Voraussetzung gemacht, daß die Atome nicht geradlinig angeordnet sind, da sie sonst genau die Symmetrie der zweiatomigen Moleküle hätten, und dann kämen für den Energieaustausch nur 5 Freiheitsgrade in Betracht. Ein dreiatomiges Molekül, das dieser letzten Forderung entspricht, ist das des H 2 0-Dampfes, das d r e i e c k f ö r m i g ist, also mit 6 Freiheitsgraden am Energieaustausch teilnimmt. Dagegen ist das C0 2 -Molekül g e r a d l i n i g ; also kämen für den Energieaustausch nur 5 Freiheitsgrade in Frage, — und dennoch finden wir für x den Wert 1,30, der dem theoretischen Wert 1,33 naheliegt. Der scheinbare Widerspruch löst sich dadurch, daß das C0 2 -Moiekül nicht mehr als starr zu betrachten ist, sondern daß die beiden O-Atome gegen das C-Atom s c h w i n g e n können. Da diese Schwingung durch die Molekularstöße angeregt wird, so nimmt sie am Energieaustausch teil. Es kommt dadurch erstens ein sechster Freiheitsgrad der kinetischen Energie hinzu, aber auch noch ein siebenter wegen der potentiellen Energie der Schwingung, die im Mittel gleich der kinetischen Energie der Schwingung ist. Demnach müssen wir theoretisch für das C0 2 -Molekül folgende Werte erwarten: Cp = 8,937 cal/mol grd, Cv = 6,951 cal/mol grd, * - 1,28; sie liegen den in der Tabelle in Ni. 96 aufgeführten Zahlen wesentlich näher als die unter der Annahme der Starrheit mit 6 Freiheitsgraden berechneten (C v = 7,944 cal/mol grd, Cv = 5,998 cal/mol grd, k = 1,333). Damit können wir jetzt auch qualitativ die in Nr. 82 erwähnte D i s p e r s i o n der S c h a l l g e s c h w i n d i g k e i t bei mehratomigen Gasen, z.B. dem Kohlendioxid erklären. Wenn eine Schallwelle ein Gas durchsetzt, so entstehen periodische Temperaturschwankungen. Dabei verteilt sich die Wärmeenergie sowohl auf die „äußeren" Freiheitsgrade als auch auf die „inneren" Freiheitsgrade, die den Eigenschwingungen der Moleküle entsprechen. Letztere brauchen aber zu ihrer Anregung eine gewisse Zeit. Sie werden also nicht mehr angeregt, wenn die Druckschwankungen in der Welle zu rasch aufeinander folgen, d. h. wenn die Schallfrequenz einen bestimmten Wert überschreitet. In diesem Fall wird mit anderen Worten die molare Wärmekapazität Cv des Gases kleiner. Für die Schallgeschwindigkeit in einem Gas gilt die Gleichung:

Molekinarkinetische Theorie der W ä r m e

649

P £p 8 Cv '

c wofür wir auch schreiben k ö n n e n : c =

da Cp — Cv = R ist. Wenn also Cv mit steigender Schallfrequenz abnimmt, bedeutet dies ein Ansteigen der Schallgeschwindigkeit, wie es die Kurve in Abb. IX, 8 für Kohlensäure zeigt. — Bemerkenswerterweise wurde dieser Effekt bereits im Jahre 1881 von H . A. L o r e n t z vorausgesagt.

Den gleichen Gedankengang liefert auch das D u l o n g - P e t i t s c h e G e s e t z f ü r die spezif i s c h e n W ä r m e k a p a z i t ä t e n e i n a t o m i g e r f e s t e r K ö r p e r . Ein solcher unterscheidet sich dadurch von einem Gas, daß die einzelnen Massenpunkte an eine bestimmte Ruhelage gebunden sind, um die sie — infolge der Wärmebewegung — Schwingungen ausführen. Jeder Massenpunkt hat wieder 3 Freiheitsgrade, die kinetische Energie pro Atom ist also gleich § kT. Aber hier tritt wegen der Bindung an eine feste Ruhelage noch potentielle Energie auf, die bei einer harmonischen Schwingung im Mittel gleich der kinetischen Energie ist. Die Gesamtenergie pro Atom ist also 2 • j kT = 3 kT. Betrachten wir also die Stoffmenge v unter der Annahme, daß — wie bei idealen Gasen — die innere Energie U = mcvT = vCvTist, so gilt: (XI, 20 a)

vCvT = vNÄ-3kT

=

v3RT.

Daraus ergibt sich (XI, 20 b)

Cv = 3 R x 6 cal/mol grd;

u n d dies ist das D u l o n g - P e t i t s c h e G e s e t z . Im ganzen hat sich also die kinetische Theorie in erstaunlicher Weise bewährt. Dennoch ist ihre Erklärung für die Werte der spezifischen Wärmekapazitäten nicht als endgültig zu betrachten. Denn wir wissen heute sicher, daß die einatomigen Moleküle keine starren Kugeln, die zweiatomigen keine Rotationsellipsoide, sondern äußerst komplizierte, nichtstarre Gebilde sind. Damit ist aber unserer Berechnung der am Energieaustausch teilnehmenden Freiheitsgrade der Boden entzogen. Auch vermag die Theorie auf keine Weise den Abfall der molaren und der spezifischen Wärmekapazitäten fester Körper und der zweiatomigen Gase (insbesondere des Wasserstoffs) mit der Temperatur zu erklären. Beide Schwierigkeiten wurzeln im Äquipartitionstheorem, das jedem Freiheitsgrad der kinetischen Energie den Betrag \ kT zuerteilt. Da dieses Theorem mechanisch bewiesen ist, muß daraus die Folgerung gezogen werden, daß in den Grundlagen der klassischen Mechanik eine tiefgreifende Änderung vorgenommen werden muß: Es k a n n h e u t e k e i n e m Z w e i f e l m e h r u n t e r l i e g e n , d a ß die G e s e t z e der M e c h a nik n u r eine A n n ä h e r u n g d a r s t e l l e n , die b e s o n d e r s bei a t o m a r e n P r o z e s s e n und tiefen T e m p e r a t u r e n versagt. Zur Deutung dieses Verhaltens betrachten wir noch einmal die Abb. X, 24, die das Absinken der molaren Wärmekapazität Cv des Wasserstoffs zeigt. Diese unterschreitet schon bei Zimmertemperatur den für ein zweiatomiges Molekül geforderten Wert § R um einen geringen Betrag und sinkt dann weiter ab bis auf den Wert j R bei etwa 50 K. Das bedeutet, daß bei dieser Temperatur die beiden Rotationsfreiheitsgrade am Energieaustausch nicht mehr teilnehmen; sie sind „eingefroren". Nach (XI, 18 a und b) ist die Rotationsenergie eines zweiatomigen Gasmoleküls kleiner als seine Translationsenergie. Nimmt nun die Molekülgeschwindigkeit mit sinkender Temperatur ab, so wird auch der Anteil, der bei einem nicht zentralen Stoß zweier Moleküle auf die Rotationsenergie entfällt, immer kleiner. Und nun kommt das Wesentliche der Überlegung: O f f e n b a r k a n n die R o t a t i o n s e n e r g i e e i n e s M o l e k ü l s n i c h t bel i e b i g k l e i n e W e r t e a n n e h m e n , d. h. u n t e r h a l b einer b e s t i m m t e n k l e i n s t e n E n e r g i e s t u f e k a n n e i n e ü b e r t r a g u n g der R o t a t i o n von e i n e m M o l e k ü l z u m a n d e ren n i c h t m e h r s t a t t f i n d e n . Wir begegnen also an dieser Stelle erneut dem E n e r g i e q u a n -

Thermodynamik

650

t u m . Daß in Abb. X , 24 die molare Wärmekapazität bei einer bestimmten Temperatur nicht unstetig auf den Wert § R springt, was nach dieser Überlegung der Fall sein müßte, liegt einfach daran, daß wir nicht ein einzelnes Molekül beobachten können, sondern eine sehr große Zahl von ihnen betrachten müssen, auf die bekanntlich die Energie statistisch verteilt ist. Sind also bei einem großen Teil der Moleküle die Rotationsfreiheitsgrade bereits „eingefroren", so gibt es andere Moleküle, bei denen dies noch nicht der Fall ist. Damit erklärt sich das a l l m ä h l i c h e „Einfrieren 1 ' der Rotationsfreiheitsgrade in Abb. X , 24. Bei festen Körpern ist Wärmeenergie identisch mit der Schwingungsenergie der Atome. Wie das Experiment zeigt, nähert sich bei sehr tiefen Temperaturen die spezifische Wärmekapazität dem Wert Null. Die Schwingungsfreiheitsgrade „frieren" also ebenfalls ein, was wiederum auf die Existenz kleinster Energiestufen hindeutet. D a ß die Schwingungsenergie der Atome in Quanten, nämlich den P h o n o n e n , auftritt, finden wir hier erneut bestätigt. Diese Tatsache folgt auch aus der Überlegung, daß das Gleichgewicht zwischen der S t r a h l u n g s e n e r g i e im Hohlraum eines schwarzen Körpers, die erwiesenermaßen gequantelt ist, und der W ä r m e e n e r g i e seiner Wände nur dann möglich ist, wenn auch die Wärmeenergie, d. h. die Schwingungsenergie der Atome in Quanten auftritt. E i n s t e i n hat diese Überlegung durchgeführt und jedes Festkörperatom als Oszillator mit der Eigenfrequenz v aufgefaßt. Als Ergebnis erhielt er für jedes Atom im thermischen Gleichgewicht die Energie (XI'21>

£

= e"v/kr_1

Die Zahl 3 im Zähler hängt mit den drei Schwingungsfreiheitsgraden des Festkörperatoms zusammen. Die Exponentialfunktion im Nenner läßt sich nach der Formel

*

x

,

= 1 +

x

x2

TT+2!+-

in eine Reihe entwickeln. Ist T P hvlk, so kann man die Reihe nach dem zweiten Summanden abbrechen und erhält E = 3 kT, d. h. in diesem Grenzfall gilt die D u l o n g - P e t i t s c h e Regel. Wenn umgekehrt T klein gegen hvlk ist, was für tiefe Temperaturen zutrifft, so geht die Energie E gegen Null, in qualitativer Übereinstimmung mit der Erfahrung. Allerdings ergibt sich bei Annäherung an den Nullpunkt eine geringe Abweichung von den gemessenen Werten. Dies veranlaßte Debye zu einer Korrektur: Statt einer einzigen Eigenfrequenz v legte er die elastischen Eigenfrequenzen eines deformierbaren Körpers zugrunde, da wegen der Kopplung der Atome untereinander verschiedene Eigenfrequenzen auftreten. Ein dreidimensionales System, bestehend aus L Massenpunkten bzw. Atomen, hat 3 L diskrete Eigenfrequenzen. Andererseits ist die Zahl der Eigenfrequenzen des gleichen Körpers unendlich groß, wenn man nicht eine diskrete, sondern eine kontinuierliche Verteilung der gleichen Gesamtmasse auf das zur Verfügung stehende Volumen annimmt. Unter dieser Voraussetzung ist die Zahl dZ der Eigenschwingungen im Frequenzbereich zwischen v und v + dv: dZ = b • v2 dv, wo b eine Konstante ist. D e b y e konnte nun eine quantitative Übereinstimmung mit der Erfahrung erzielen, indem er von dieser Frequenzverteilung eines elastischen Kontinuums ausging, die er jedoch bei einer für jeden S t o f f c h a r a k t e r i s t i s c h e n Grenzfrequenz vg abbrach. Die Bedingung dafür lautete, daß die Zahl aller Eigenschwingungen eines z. B. aus L Atomen bestehenden Festkörpers 3 L sei: b /%2dv = iL . o Daraus ergibt sich die Konstante zu b = 9 Llvg3, und es ist dZ = ^ v2 dv . V Da im thermischen Gleichgewicht auf jeden Oszillator mit der Eigenfrequenz v, die hier die konkrete Bedeutung einer elastischen Eigenschwingung des angenommenen Kontinuums hat, im Mittel der Energiebetrag

Molekinarkinetische Theorie der Wärme

651

hV F = ghv/lcT _ i

entfällt, ergibt sich die gesamte innere Energie des betrachteten Festkörpers zu v v 9 a 9 Lh I" v3 dv (XI, 22) U = \ E (v) dZ (v) = J hv/kT _ J

s

e

0 " 0 Der Quotient hvg/k = @d, der sich bei der Transformation dieses Intgrals ergibt, heißt charakteristische oder Debye-Temperatur, denn er hat die Dimension einer Temperatur. Die Debye-Temperatur ist eine für jeden Festkörper charakteristische Konstante. Für die molare Wärmekapazität Cv = (1 /v) dUjdT ergibt sich nach einer Zwischenrechnung: ÖD/T

(XI, 23)

C» = 3 R [12 (

W

J

3



o Diese nicht einfach zu berechnende Funktion ist bereits tabelliert, so daß man für jedes Verhältnis &D/T bzw. T/&D sofort den Wert der molaren Wärmekapazität erhält. Ihr Verlauf steht, wenn &d geeignet gewählt wird, mit den gemessenen molaren Wärmekapazitäten der Festkörper im Einklang, wie sie z. B. in der Abb. X, 23 dargestellt sind. Wenn in Gl. (XI, 23) Tals groß gegen @d angesehen wird, was für hohe Temperaturen gilt, so ergibt sich die D u l o n g - P e t i t s e h e Regel. Wenn dagegen T klein gegen &d angenommen wird, dann ist (XI, 24)

C„ = 233,8 • R • (T/Od)3 ,

was die Abhängigkeit bei tiefen Temperaturen richtig beschreibt. Die Einführung der Eigenfrequenzen eines elastischen Kontinuums und der Abbruch dieses Spektrums bei der Grenzfrequenz vg, die aus dem konträren Modell des Festkörpers, nämlich einem System von Massenpunkten, entnommen ist, mag zunächst recht willkürlich erscheinen. Jedoch stützen mehrere, voneinander unabhängige Resultate diese Grundannahme der Debyeschen Theorie. Abgesehen von der Bedingung, daß die Zahl aller Eigenfrequenzen das Dreifache der Anzahl der vorhandenen Gitterbausteine betragen soll, hat die Grenzfrequenz eine weitere konkrete Bedeutung: die zu ihr gehörende kleinste Wellenlänge der Eigenschwingungen ist durch den doppelten Abstand benachbarter Atome gegeben, d. h. daß der Phasenunterschied im Schwingungszustand zweier Nachbarn höchstens n sein kann. Damit läßt sich aus der Schallgeschwindigkeit c, die durch die makroskopischen elastischen Eigenschaften des Stoffes gegeben ist, und dem Gitterabstand d die Grenzfrequenz berechnen: (XI, 25)

vg =

cßd,

Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Festkörper longitudinale und transversale Schallwellen mit unterschiedlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit auftreten, so daß die Gl. (XI, 25) nur eine Näherung darstellt. Unter Einbeziehung der verschiedenen Schallgeschwindigkeiten ergibt sich jedoch eine erstaunlich gute Übereinstimmung zwischen der aus den elastischen Konstanten und dem Gitterabstand und der aus der Debye-Temperatur berechneten Grenzfrequenz. Darüber hinaus ist die Grenzfrequenz auf optischem Wege, nämlich aus einem scharf ausgeprägten Reflexionsmaximum im Ultrarot etwa zu ermitteln (,,Reststrahlen"-Methode); auch die auf diese Weise gewonnene Grenzfrequenz weist nur sehr geringe Abweichungen von den nach den anderen Methoden ermittelten auf. Die Grenzfrequenz liegt für die üblichen Stoffe im Bereich zwischen 1,8 THz (Blei, & D = 88 K) und 42 THz (Diamant, &„ ss 2000 K). Die meisten Kristalle haben eine Grenzfrequenz von etwa 3 bis 10 THz. Allerdings kann die Grenzfrequenz in besonderen Fällen, z. B. bei festem Helium (&d 30 K), noch tiefer liegen als für Blei. B r o wnsche Molekularbewegung. Nach den letzten Bemerkungen könnte man daran zweifeln, o b die kinetische Theorie der W ä r m e überhaupt berechtigt ist, und man m u ß die Frage aufwerfen, o b nicht die genannten Schwierigkeiten durch eine andere A u f f a s s u n g zu beseitigen wären. Unter diesen U m s t ä n d e n ist es von besonderer Wichtigkeit, daß wir in der bereits mehrfach genannten B r o w n sehen Molekularbewegung einen experimentellen Beweis f ü r die grundsätzliche Richtigkeit der kinetischen Theorie besitzen. Sie besteht bekanntlich darin, daß in Gasen und Flüssigkeiten suspendierte leichte, sehr kleine Teilchen (Rauchteilchen, Gummigutt, Rutilpulver usw.) unter dem M i k r o s k o p eine lebhafte zitternde Bewegung zeigen, von der Abb. VII, 74 einen Begriff gibt. D a s Bild ist in der Weise gewonnen, daß in das Mikroskopokular ein quadratisches Netz eingeführt wird, u n d m a n n u n in bestimmten Zeitintervallen r (z. B. T = 30 s) ein herausgegriffenes Teilchen beobachtet und seine augenblickliche Lage fixiert; verbindet man alle diese Punkte, so erhält man die in der Abbildung dargestellte ZickzackKurve.

652

Thermodynamik

Wir deuten uns diese Erscheinung so, daß wir annehmen, die Stöße seitens der umgebenden Gas- oder Flüssigkeitsmoleküle seien die Ursache für die ruckartigen Bewegungen des Teilchens. Unter dieser Voraussetzung haben E i n s t e i n und v. S m o l u c h o w s k i fast gleichzeitig die Theorie dieser Bewegung entwickelt. Nennt man den Abstand zweier benachbarter Fixierungspunkte (im Zeitabstand r) As und projiziert man sie auf eine feste beliebige Richtung, so erhält man eine Strecke Ax. Wenn man dies für je zwei Punkte durchführt, die Projektionen Ax quadriert (Ax2) und aus diesen Quadraten das Mittel nimmt (Ax2), so ergibt sich nach den genannten Autoren i u r y ^ x 2 folgende Gleichung: (XI, 26)

dabei ist k die B o l t z m a n n - K o n s t a n t e , rj die Zähigkeit (innere Reibung) der umgebenden Flüssigkeit oder des Gases, r der Radius des Brownschen Teilchens. Wird diese Gleichung experimentell bestätigt, so ist sie umgekehrt ein Beweis für die Richtigkeit der zugrunde gelegten Voraussetzung, daß die Moleküle in lebhafter Bewegung begriffen sind. In der geschilderten Weise haben u. a. P e r r i n und T h e S v e d b e r g die obige Gleichung geprüft und sie vollkommen zutreffend gefunden. Zum Beispiel ergab sich, daß \/ Ax 2 proportional der Wurzel aus dem Beobachtungsintervall]/T ist, das der Experimentator frei wählen kann. Ferner soll nach (XI, 26) }//lx2 unabhängig von der Masse der Teilchen sein, da sie in der Gleichung überhaupt nicht auftritt. In den P e r r i n sehen Versuchen variierte die Masse in dem ungeheuren Bereich von 1:15 000, und dennoch ergab sich innerhalb der Fehlergrenzen tatsächlich völlige Unabhängigkeit davon. Schließlich kann man noch die Temperaturabhängigkeit von ]/Ax 2 bestimmen; diese steckt einmal in dem Faktor }'T, zum anderen aber in der Zähigkeit rj, die bei Flüssigkeiten bekanntlich mit der Temperatur stark abnimmt: Auch hier fand sich völlige Übereinstimmung mit (XI, 26). Der Beweis für die Richtigkeit der Gl. (XI, 26) und damit für die kinetische Theorie aber liegt darin, daß man die B o l t z m a n n - K o n s t a n t e k aus ihr mit außerordentlicher Genauigkeit bestimmen kann. So ergab sich der bereits früher mitgeteilte Wert k = 1,38 • 10 2y J K - 1 , der genauer als ein Prozent ist. Zu bemerken ist übrigens, daß bei der Gl. (XI, 26) auch die Richtigkeit des Gleichverteilungssatzes vorausgesetzt ist (Faktor kT), — was ja bei Zimmertemperatur zulässig ist. Aus den bekannten Werten von R und k ergibt sich auch der Wert der A v o g a d r o - K o n s t a n t e n NAfc = - ^ - = l , 3 8 • 1 0 ~ 2 3 J K ~ 1 ;

NA = ^ =

6,02-1023mol

- I

Bei der Temperatur von 0 °C = 273 K beträgt also die kinetische Energie pro Freiheitsgrad }2 • 1,38 • 10 l s • 273 erg = 1,88 • 10 14 erg. Diese Energie würde ausreichen, um ein Wassertröpfchen vom Radius r = 1,66 • 10" 6 cm (das sind etwa 640000 Wassermoleküle) um 1 cm hochzuheben. Die innere Energie von 1 mol eines einatomigen idealen Gases bei der gleichen Temperatur ist danach 3,4 • 1010 erg = 347 kpm; diese Energie würde also ausreichen, um ein Gewicht von 347 kp einen Meter hoch zu heben. Die B r o w n sehe Molekularbewegung hat übrigens auch eine meßtechnische Bedeutung, weil sie der Genauigkeit von Messungen eine unüberwindbare Grenze setzt. Das soll am Beispiel eines Lichtzeigersystems erläutert werden: Ein sehr kleiner Spiegel sei an einem sehr dünnen Quarzfaden aufgehängt und reflektiere einen Lichtstrahl auf eine Skala. Jede Drehung des Spiegels macht sich durch eine Verschiebung des Lichtzeigers auf der Skala bemerkbar. Es scheint zunächst, als ob durch Vergrößerung des Abstandes Spiegel—Skala, d. h. der Länge des Lichtzeigers, die Genauigkeit der Ablesung beliebig vergrößert werden könne. Aber der Spiegel hat niemals eine feste Ruhelage, weil die unregelmäßigen Stöße der Luftmoleküle ihn in eine zitternde Bewegung versetzen, die auf der Skala um so größer erscheint, je länger der Lichtzeiger ist. Die dadurch bedingte Ungenauigkeit der Ablesung einer Spiegeldrehung kann offenbar auf keine Weise beseitigt werden. Ein solches Lichtzeigersystem benutzt man z. B. zur Messung von Stromstärken in den Galvanometern. Folglich kann die Genauigkeit der Strommessung nie über ein gewisses Maß gesteigert werden. — Übrigens verändert die Wärmebewegung grundsätzlich auch die Abmessungen fester Körper, so daß keine Möglichkeit besteht, Längenmessungen genauer zu machen, als der Betrag dieser Schwankungen ist. Diese haben auch noch eine große grundsätzliche Bedeutung, auf die wir später eingehen (Nr. 115).

Molekinarkinetische Theorie der Wärme

653

Stoßzahl und freie Weglänge. Man hat gegen die aus der kinetischen Theorie folgenden großen Geschwindigkeiten der Moleküle früher gelegentlich einen Einwand erhoben: Wenn diese Zahlen wirklich zuträfen, so müßte z. B. die Diffusion zweier Gase ineinander außerordentlich rasch vor sich gehen, während sie in Wirklichkeit ein Vorgang von längerer Dauer ist. C l a u s i u s hat diesen Einwand entkräftet, indem er darauf hinwies, daß ein Molekül in einer Sekunde keineswegs großen Strecken zurücklegen könne, da es dauernd mit anderen Gasmolekülen zusammenstößt und daher eine Zickzackbahn von genau der gleichen Art beschreibt, wie wir sie bei der B r o w n s c h e n Molekularbewegung beobachten. C l a u s i u s und nach ihm genauer M a x w e l l haben auch die Z a h l Z d e r Z u s a m m e n s t ö ß e berechnet, die ein Molekül pro Sekunde erfährt: Die Rechnung ergibt für die Stoßzahl den Wert: (XI, 27 a)

Z = 4 j / 2 rcnr2 c .

Darin bedeuten n die Zahl der Moleküle im Kubikzentimeter, r ihren Radius, c ihre mittlere Geschwindigkeit. Das ist eine sehr große Zahl von Zusammenstößen, wie man leicht findet, wenn man überschlagsweise folgende Zahlen (für Atmosphärendruck) einsetzt: r = 10~ 8 cm, c = 105 cm/s, n = (6,02 • 10 23 /22400) c m - 3 . Damit ergibt sich eine Größenordnung von einigen Milliarden Stößen pro Sekunde. Die genaueren Zahlen sind in der Tabelle am Ende dieses Abschnitts angegeben. Zwischen zwei Zusammenstößen verläuft die Bahn eines Moleküls geradlinig. Trägt man die mittlere Geschwindigkeit c über der Zeit auf, so besteht die Kurve im Zeitintervall von 1 s aus Z kleinen, geradlinigen Stücken, deren Größe J man erhält, wenn man c durch Z dividiert. Diese Strecke heißt die ,,mittlere freie Weglänge". Für (XI, 27 b)

Z

A/ yi li /n1 n—r 2

folgt mit den oben angegebenen Werten für Atmosphärendruck eine Größenordnung von etwa 10-5 cm. Der Zusatz „bei Atmosphärendruck" ist notwendig, da die Zahl n der Moleküle im Kubikzentimeter dem Druck proportional ist; Z ist danach ebenfalls dem Druck proportional, T umgekehrt proportional. Wegen des kleinen Wertes der mittleren freien Weglänge legen die Gasmoleküle in einer Sekunde also keineswegs die großen Strecken zurück, wie sie ihrer mittleren Geschwindigkeit c entsprechen würden, sondern im Gegenteil nur winzig kleine. Damit wird nun verständlich, daß und warum die Diffusion trotz der großen Molekulargeschwindigkeit c ein so langsam verlaufender Vorgang ist.

Abb. XI, 19. Radiometer

654

Thermodynamik

Eine Bestätigung der Grundanschauungen der kinetischen Gastheorie stellt das von C r o o k e s angegebene R a d i o m e t e r (Lichtmühle) dar. Dieses besteht aus einem vierarmigen, auf einer Nadelspitze leicht drehbaren Flügelrädchen (Abb. XI, 19), dessen Flügel aus einseitig berußten Glimmerblättchen bestehen. Die Blättchen sind in vertikaler Stellung so angebracht, daß die berußten Flächen in dieselbe Drehrichtung zeigen. Das Ganze ist in einer Glaskugel eingeschlossen, aus der die Luft weitgehend entfernt ist. Trifft eine Wärmestrahlung auf die Blättchen des Flügelrädchens, so werden diese auf der geschwärzten Seite stärker erwärmt als auf der blanken. Dadurch erfahren die auf der geschwärzten Seite aufprallenden Gasmoleküle einen stärkeren Impuls und üben auch einen stärkeren Rückstoß auf die Flächen aus als die auf die blanken Flächen aufprallenden Teilchen. Auf diese Weise kommt das Rädchen in eine fortlaufende Drehung. Eine Verdünnung des Gasinhaltes ist notwendig, damit die von den Flächen abprallenden Gasmoleküle eine hinreichend große freie Weglänge haben und nicht sofort von den übrigen Gasteilchen wieder auf die Platte zurückgeworfen werden. Der günstigste Gasdruck beträgt 1/10 bis 1/100 Torr. Dieser Radiometereffekt kann auch zu quantitativen Strahlungsmessungen benutzt werden. Wärmeleitung und Reibung. Darüber hinaus liefert die Berücksichtigung der Zusammenstöße auch eine kinetische Erklärung für die Erscheinung der i n n e r e n R e i b u n g und der W ä r m e l e i t f ä h i g k e i t eines Gases. Beginnen wir mit der letzteren und betrachten den einfachen Fall der Abb. XI, 20, daß sich ein Gas zwischen zwei ebenen Platten befindet, von denen die obere die Temperatur T±, die untere die Temperatur < T\ besitzt. Dann geht ein Wärmestrom von der oberen Platte zur unteren. Der Zwischenraum wird in ebene Schichten von konstanter Temperatur, die von oben nach unten linear abnimmt, eingeteilt. Nach der kinetischen Theorie ist nun die Temperatur proportional \ moc2; es hat also für die Gasteilchen, die der oberen Wand benachbart sind, c 2 den größten Wert, der nach unten hin immer mehr abnimmt, um seinen kleinsten Betrag an der unteren Platte zu erreichen. Ein Molekül also, das von der oberen Wand ins Innere fliegt, hat deshalb eine größere kinetische Energie als diejenigen Moleküle, mit denen es zusammenstößt. Durch die Zusammenstöße aber überträgt es einen Teil dieser Energie. Die gestoßenen Moleküle bekommen also größere Werte von c 2 . Das heißt: Durch die Stöße der schnelleren Moleküle auf die langsameren wird kinetische Energie, nämlich Wärme, von oben nach unten transportiert. D a s ist d e r V o r g a n g d e r W ä r m e l e i t u n g in k i n e t i s c h e r D e u t u n g . Die rechnerische Verfolgung dieses Gedankens, die wir hier nicht angeben können, liefert für die Wärmeleitfähigkeit (XI, 28 a)

A=

f k C

2 4 J / 2 nr2

f bedeutet dabei die Zahl der Freiheitsgrade der Gasmoleküle ( / i s t also gleich drei für einatomige, fünf für zweiatomige, sechs für dreiatomige Gase), k die B o l t z m a n n - K o n s t a n t e und r den Molekülradius. Allerdings ist diese Gleichung nicht streng richtig, sondern es fehlt ein Zahlenfaktor darin, der wegen der Schwierigkeit der Rechnung nicht angebbar ist.

7*7

Abb. XI, 20. Kinetische Deutung der Wärmeleitung eines Gases

Abb. XI, 21. Kinetische Deutung der inneren Reibung eines Gases

Ganz analog ist die Erklärung der i n n e r e n R e i b u n g . In Abb. XI, 21 sei wieder ein Gas zwischen zwei Platten vorhanden, von denen die untere ruht, die obere sich mit der Geschwindigkeit v von links nach rechts bewegt. An der oberen Wand bewegt sich also auch das anliegende Gas mit der Geschwindigkeit v, an der unteren ruht es. Die Geschwindigkeit steigt linear von unten nach oben an, so daß das Gas in parallele Schichten konstanter Geschwindigkeit zerfällt.

Molekinarkinetische Theorie der Wärme

655

Ein Molekül, das, aus dem Innern kommend, mit der oberen Platte zusammenstößt, bekommt durch den Kontakt zu seiner Wärmebewegung noch die gerichtete Geschwindigkeit v dazu, gewinnt also Impuls, den es, von der Wand zurückprallend, an die Moleküle einer tieferen Schicht überträgt. Demgemäß verliert die obere Platte durch jeden Zusammenstoß Impuls, der nach unten hin bis zur ruhenden Platte transportiert wird. Wirkt auf beide Wände keine äußere Kraft, so muß das Ergebnis sein, daß die obere durch den dauernden Impulsverlust zur Ruhe, die untere durch den dauernden Impulsgewinn in Bewegung kommt: Die obere Platte wird verzögert, die untere beschleunigt. Das ist gerade das, was man als die Wirkung der inneren Reibung des Gases bezeichnet. Somit haben wir auch eine Deutung dieses Vorganges erhalten. Für den Koeffizienten r\ der Zähigkeit liefert die Theorie den Wert: (XI, 28 b)



m

°5

121/2 nr 2 '

worin /wo die Molekülmasse bedeutet. Auch in dieser Formel ist ein nicht genau anzugebender Zahlenfaktor hinzuzufügen. Beide Gin. (XI, 28) stammen von M a x w e l l . Sie führen zu einer im höchsten Maß überraschenden Folgerung: Sie enthalten nur Größen, die sich auf das einzelne Molekül beziehen ( f , c , r , m o ) , die universelle B o l t z m a n n s c h e Konstante k und Zahlenfaktoren, a b e r bem e r k e n s w e r t e r w e i s e t r i t t in b e i d e n die D i c h t e q (bzw. der D r u c k p) des G a s e s n i c h t auf. D a s b e d e u t e t , d a ß n a c h der k i n e t i s c h e n T h e o r i e w e d e r W ä r m e l e i t u n g n o c h Z ä h i g k e i t e i n e s G a s e s v o n der D i c h t e (oder v o n dem D r u c k ) a b h ä n g e n . Diese auf den ersten Blick äußerst unwahrscheinliche Folgerung hat sich durch das Experiment indessen vollkommen bestätigt: Reibung und Wärmeleitung sind für ein Gas bei Atmosphärendruck die gleichen wie bei Vioo Atmosphäre. Das zeigt für die Reibung die folgende Tabelle nach Versuchen von K u n d t und W a r b ü r g mit Luft. Die 2. Spalte enthält eine der Zähigkeit rj proportionale Größe.

Die Unabhängigkeit der inneren Reibung eines Gases vom Druck läßt sich mit folgender Anordnung zeigen: In einer genau rund ausgeschliffenen Glasröhre R (Abb. XI, 22) befindet sich eine sehr gut gearbeitete Kugel K, deren Durchmesser nur wenige Tausendstel Millimeter kleiner ist als der Innendurchmesser der Röhre. Ist die Röhre auf beiden Seiten geschlossen, so rollt die Kugel bei schräger Stellung der Röhre nur sehr langsam herunter, da die von ihr verdrängte Luft infolge der inneren Reibung nur allmählich an der Kugel vorbei in den darüber befindlichen Raum entweichen kann. Man kann daher die Zeit, die die Kugel braucht, um eine bestimmte Strecke zwischen zwei Marken Mi und Mi zu durchlaufen, sehr bequem mit einer Stoppuhr messen. Diese Zeit ändert sich nicht, auch wenn man den Druck in der Röhre durch Auspumpen mittels einer Vakuumpumpe auf wenige Torr erniedrigt. Dies ist ein überzeugender Beweis dafür, daß die innere Reibung eines Gases vom Druck weitgehend unabhängig ist.

Thermodynamik

656

Dies überraschende Ergebnis kann man sich durch folgende Überlegung anschaulich machen: Reibung und Wärmeleitung werden durch die Stöße der Moleküle hervorgebracht, und da bei halbem Druck nach Gl. (XI, 27 a) auch die Zahl der Zusammenstöße auf die Hälfte heruntergeht, sollte man meinen, daß damit auch Reibung und Wärmeleitung abnehmen müßten. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil gleichzeitig die mittlere freie Wegelänge /nach (XI, 27b) auf den doppelten Wert steigt. Die Zahl der Stöße nimmt allerdings auf die Hälfte ab, aber jeder Stoß transportiert dafür auch den Impuls bzw. die Energie über die doppelte Entfernung. — Wenn allerdings der Druck so niedrig wird, daß die freie Weglänge die Größenordnung der Gefäßabmessungen erreicht, so nehmen A und rj stark ab; denn nunmehr finden innerhalb des Raumes viel weniger Zusammenstöße der Moleküle untereinander als mit den Gefäßwänden statt. Diese Erkenntnis ist wichtig, z. B. für die richtige Fabrikation von D e war-Gefäßen (Thermosflaschen): Ein schlechtes Vakuum in ihnen setzt die Wärmeleitung überhaupt nicht herab. Sie können nur funktionieren, wenn das Vakuum sehr hoch ist. Die obige Darlegung zeigt, daß der Mechanismus von Reibung und Wärmeleitung im Kern der gleiche ist, nur daß bei der Reibung Impuls, bei der Wärmeleitung Energie transportiert wird: Beide Erscheinungen sind „Austauschphänomene" zwischen Molekülen größerer und kleinerer mittlerer Geschwindigkeit c. Dieser innere Zusammenhang zeigt sich auch noch in folgendem: Bildet man den Quotienten A/»?, SO erhält man A/IJ =

fk/m0

=

i\fRlm0NA;

darin ist m0NA die molare Masse, so daß weiter folgt: A/»? = hfRJiVf. R f ß ist aber die molare Wärmekapazität Cv bei konstantem Volumen, CvjM also die spezifische Wärmekapazität cv. Berücksichtigt man schließlich noch, worauf vorher hingewiesen wurde, daß die Gleichungen (XI, 28) je einen unsicheren Zahlenfaktor enthalten, dessen Quotient auch in die letzte Gleichung eingeht, so erhält man schließlich: (XI, 29) A/»? = const cv . Auch dieser überraschende Zusammenhang zwischen Wärmeleitung, Reibung und spezifischer Wärme hat sich durchaus bestätigt. Endlich ersieht man aus Gl. (XI, 28 b), daß r] mit der absoluten Temperatur zunehmen muß, da c dies tut. Man kann dies z. B. mit der in Abb. XI, 23 dargestellten Anordnung zeigen, bei der zwei gleiche Kapillarröhren K x und K 2 hintereinandergeschaltet sind; am Anfang, in der Mitte und am Ende befinden Ko

*1

M1

M,

M*

Abb. XI, 23. Nachweis der Temperaturabhängigkeit der inneren Reibung eines Gases

sich je ein Manometer Mx, ;V/2 und Ms. Bläst man durch die Kapillaren einen Luftstrom von links nach rechts, so zeigen die Manometer einen linearen Druckabfall an, wie er durch die gestrichelte Linie angedeutet ist. Erhitzt man aber die Kapillare K2, so steigt der Druck im Manometer M 2 (strichpunktierte Stellung), woraus hervorgeht, daß der Strömungswiderstand in der erhitzten Kapillare infolge der Erhöhung der inneren Reibung größer geworden ist. Da man von Flüssigkeiten her das umgekehrte Verhalten der Reibungskoeffizienten gewohnt war, stieß auch diese Folgerung zunächst auf Unglauben; aber die Erfahrung hat auch hier die kinetische Theorie bestätigt. Die experimentelle Bestimmung der Zähigkeit r\ nach der Durchflußmethode von H a g e n P o i s e u i l l e liefert nun auch das Mittel, um die freie Weglänge / zu bestimmen. Denn wenn man mit Hilfe von (XI, 27 b) aus (XI, 28) den unbekannten Molekülradius r eliminiert, kann man für ry schreiben: ™ x (XI, 2 8 c )

lcm0n l ,7 = - ^ ° - = —

elc.

Darin ist die Zähigkeit durch die Dichte q, die mittlere freie Weglänge 7 und die mittlere Ge-

Molekinarkinetische Theorie der Wärme

657

schwindigkeit c ausgedrückt. U n t e r Benutzung der W e r t e f ü r c aus der bereits aufgeführten Tabelle ergeben sich folgende Werte f ü r 7 u n d Z bei A t m o s p h ä r e n d r u c k :

Gas bei 20 °C

Viskosität rj in f i P

Mittlere freie Weglänge 7 in nm

Zahl Z der Zusammenstöße pro ns

Molekülradius r in nm

88 175 202 146

160 80 91 54

11,5 6,0 5,1 7,3

25 32 30 39

Wasserstoff Stickstoff Sauerstoff Kohlendioxid

Die Kenntnis der freien Weglänge liefert eine neue Methode, um die ungefähre Größe eines Moleküls, d. h. seinen Radius r, zu berechnen. Wenn ein Volumen V eines Gases, das N Moleküle enthalte, soweit komprimiert wird, daß das Gas in den flüssigen Zustand übergeht, die Moleküle sich also fast bis zur Berührung nähern, so wird in diesem Zustand das Gas annähernd den Raum V

=

N i n r

3

einnehmen. Wenn man mit Rücksicht darauf, daß N = «Kist, den Wert n aus Gl. (XI, 27 b) berechnet und einsetzt, ergibt sich V = Kr/3 V2 l oder r =

3V2

I V ' I V .

Unabhängig von diesem Verfahren läßt sich der Molekülradius auch aus den Werten der inneren Reibung sowie aus der Konstante b in der v a n d e r W a a l s c h e n Gleichung berechnen. Die für verschiedene Gase gefundenen Werte sind in der letzten Spalte der Tabelle mit aufgeführt; sie liegen alle in der Größenordnung von 10~8 cm. D a s Gesamtergebnis ist also eine unzweifelhafte Bestätigung der kinetischen Theorie der W ä r m e ; wo sich Abweichungen v o n der E r f a h r u n g zeigen (Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärmekapazitäten), sind sie nicht dem G r u n d g e d a n k e n der Theorie zur Last zu legen, sondern d e m U m s t a n d , d a ß hier quantenmechanische Gesetze an die Stelle der klassischen Mechanik treten. 100 90 80

/

70 60

// /

50 i

Abb. XI, 24. Maxwellsches Gesetz der Geschwindigkeitsverteilung

ca S

40

0

V

\

t

\ \

V

\

i

20 10

/

/

\ N

1 0,2

OA

0,6

0.8

U

%¡r

m

1.6

1.8

2.2 C!c„

2A

2,6

2,8

>

M a x w e l l s c h e s G e s e t z d e r G e s c h w i n d i g k e i t s v e r t e i l u n g . Zum Schluß soll die Frage beantwortet werden, wie sich die Geschwindigkeiten auf die Moleküle eines Gases verteilen. Wir können nicht fragen, wie groß die Zahl von Molekülen ist, die e x a k t die Geschwindigkeit c besitzen; das könnten wir nur beantworten, wenn wir Lage und Geschwindigkeit aller Moleküle zu einem Zeitpunkt wüßten. Wir können deshalb nur eine W a h r s c h e i n l i c h k e i t s a u s s a g e machen, und die Wahrscheinlichkeit, daß 42

B e r g m a n n - S d i a e f e r I, 8. A u f l . 1969

Thermodynamik

658

ein Molekül genau eine bestimmte Geschwindigkeit besitze, ist gleich Null. Dagegen können wir fragen, welcher Anteil ANc der Gesamtzahl N der Moleküle eine Geschwindigkeit zwischen c und c + Ac besitzt. Maxwells Lösung lautet: (XI, 30a)

ANo = 4 nc2 ( j ^ f ) 3 ' 2 N e " ^

Ac.

Der rechts stehende Ausdruck hat für ein bestimmtes c, das man die w a h r s c h e i n l i c h s t e G e s c h w i n digkeit cw nennt, ein Maximum; man findet für cw den Wert: cw =

yTkffmo.

Damit kann man diese Gleichung etwas anders schreiben: (XI, 30b)

^

= = -j- -

N

\cw]

e

w

A

- l c-

\cwl

indem man die Geschwindigkeit c in Vielfachen der wahrscheinlichsten Geschwindigkeit cw ausdrückt ; ANc/N gibt die relative Zahl der Moleküle an, denen die Geschwindigkeit zwischen c und c + Ac zukommt; 100 ANc/N gibt diese relative Zahl in Prozenten an. Trägt man also ANc

•fe)' A

lc\

T/n

\cwI

\Cvit

als Ordinate gegen c/cw als Abszisse auf, so erhält man die Kurve Abb. XI, 24, aus der hervorgeht, daß die Mehrzahl der Moleküle Geschwindigkeiten besitzt, die sich um das Maximum der Kurve herumgruppieren. Das rechtfertigt die vereinfachte Rechnung, die wir hier gegeben haben. Zum Beispiel ist der prozentuale Anteil der Moleküle, deren Geschwindigkeiten um 20% nach oben und unten von der wahrscheinlichsten Geschwindigkeit cw abweichen, durch den Inhalt des Flächenstücks gegeben, das durch die zu den Abszissen 0,8 und 1,2 c/cw gehörenden Ordinaten sowie die zwischen ihnen liegenden Abschnitte der Abszissenachse und der Kurve begrenzt ist. Das ist angenähert ein Rechteck von der Breite 0,4 und der Höhe 80, also vom ungefähren Flächeninhalt 32; mithin sind rund 32 % aller Moleküle in diesem Geschwindigkeitsintervall enthalten. Die Größe cw ist mit der mittleren Geschwindigkeit c durch die Beziehung c — 2 cw\yn = 1,13 cw verknüpft; für j/^2 erhält man die Gleichung: j / ? = yi,5 cw = 1,225 cw. Für einige Gase sind die Werte von cw in der Tabelle für die mittleren Geschwindigkeiten mitaufgeführt.

104. Perpetuum mobile zweiter Art; reversible und irreversible Prozesse; Carnotscher Kreisprozeß Das Energieprinzip ist der große Regulator aller Naturvorgänge: Es schließt alle diejenigen Prozesse aus, die mit Vermehrung oder Verminderung der Gesamtenergie verbunden wären. A b e r es k o m m e n in d e r N a t u r k e i n e s w e g s a l l e P r o z e s s e v o r , d i e n a c h d e m E n e r g i e p r i n z i p m ö g l i c h w ä r e n . Ein Beispiel möge dies erläutern. Ein zur Höhe h gehobener Stein von der Masse m besitzt eine Energie mgh; fällt er zur Erde, so gewinnt er kinetische Energie, die unmittelbar vor dem Aufschlagen gleich mgh ist und durch den Aufschlag ganz oder teilweise in Wärme umgewandelt wird. Der Anteil hängt davon ab, wieviel Energie für Formänderungsarbeit verbraucht worden ist. Dieser Prozeß ist etwas Alltägliches. Aber der umgekehrte Vorgang, daß ein ruhig auf dem Boden liegender Stein sich abkühlt und dafür in die Höhe steigt, wird nicht beobachtet, obwohl er nach dem Energieprinzip ebensogut möglich wäre; ja, ein solcher Vorgang erscheint uns geradezu absurd. Was ist nun das Besondere an diesem gedachten, nicht wirklich auftretenden Prozeß ? Allgemein ausgedrückt besteht er darin, daß ein Wärmereservoir (Stein und Boden) sich abkühlt und dafür die äquivalente Hebung einer Last (des Steines) auftritt; sonst ist in der ganzen Natur des Prozesses keine Veränderung eingetreten. Wenn ein Prozeß, bei dem nur diese Änderungen in der Natur auftreten, existierte, so wäre er freilich kein gewöhnliches Perpetuum mobile; denn die Energie bleibt dabei vollkommen

Reversible und irreversible Prozesse; Carnot-Prozeß

659

erhalten. Aber er hätte für den Menschen denselben materiellen Vorteil wie ein solches, nämlich kostenlos Arbeit zu liefern. Denn mit einer Maschine, die ihn ausführte, könnte er die ungeheure Wärmeenergie des Meeres und der Luft direkt in Arbeit umwandeln, indem er das Wasser oder die Luft abkühlt. Man hat deshalb einen derartigen gedachten Prozeß ganz passend ein Perpetuum mobile II. Art genannt, im Gegensatz zu dem echten Perpetuum mobile, dem man den Zusatz „I. Art" gibt. Wie die Erfahrung zeigt, gibt es auch kein Perpetuum mobile II. Art; neben den Satz von der Unmöglichkeit eine's Perpetuums mobile I. Art tritt daher ein weiterer Satz von ähnlicher Bedeutung und Fruchtbarkeit: Es gibt keinen Vorgang, der nichts weiter bewirkt, als die Abkühlung eines Wärmereservoirs und die äquivalente Hebung einer Last (Satz von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile II. Art). Die analytische Formulierung führt zu dem sogenannten 2. Hauptsatz der Wärmetheorie, ebenso wie der Satz von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile I. Art zum Energieprinzip (1. Hauptsatz) hinleitete. Dieser Satz ist freilich — im Gegensatz zu dem von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile I. Art — nicht uneingeschränkt gültig, wie wir später sehen werden. In der Welt der Atome gilt er nicht, und die Brownsche Molekularbewegung läßt uns im Mikroskop Vorgänge beobachten, die im kleinen ein Perpetuum mobile II. Art darstellen. Dennoch kann man mit solchen „mikroskopischen" Prozessen keine Maschine konstruieren, mit der man kostenlos auf die oben geschilderte Weise Arbeit zu gewinnen vermöchte. Deshalb bleiben alle Konsequenzen des Satzes erhalten, und wir können vorläufig von einer Einschränkung absehen. Mit dem eben formulierten Satz haben wir die Möglichkeit gewonnen, sämtliche Prozesse in zwei Kategorien einzuteilen, in reversible und irreversible Vorgänge. U n t e r e i n e m i r r e v e r s i b l e n P r o z e ß v e r s t e h e n wir e i n e n V o r g a n g , der a u f k e i n e W e i s e , w e l c h e M e t h o d e n und A p p a r a t e dabei auch v e r w e n d e t werden mögen, so r ü c k g ä n g i g g e m a c h t werden kann, daß k e i n e V e r ä n d e r u n g e n z u r ü c k b l e i b e n . U n t e r einem r e v e r s i b l e n P r o z e ß d a g e g e n v e r s t e h e n wir e i n e n V o r g a n g , der a u f i r g e n d e i n e W e i s e so r ü c k g ä n g i g g e m a c h t w e r d e n k a n n , d a ß k e i n e r l e i V e r ä n d e r u n g e n in der N a t u r z u r ü c k b l e i b e n . R e v e r s i b e l sind vor allem die Vorgänge der reinen Mechanik, bei denen von allen Reibungsvorgängen abgesehen wird. Eine Halbschwingung eines Pendels wird durch die darauffolgende offenbar vollständig rückgängig gemacht. Überhaupt ist jeder rein mechanische Vorgang reversibel, da man nur die Richtung der Geschwindigkeit aller Körper umzukehren braucht, damit der Prozeß rückwärts bis zum Anfang durchlaufen wird. Dabei ist es aber keineswegs notwendig, daß der „Rückweg" derselbe ist wie der „Hinweg". Beispiel dafür ist etwa das konische Pendel: Wenn die an seinem unteren Ende befestigte Kugel einen Halbkreis beschrieben hat, so bringt das Durchlaufen der zweiten Kreishälfte das Pendel auf einem anderen Weg wieder in die Ausgangslage zurück. Neben den Prozessen der reinen Mechanik gehören auch die der reinen Elektrodynamik und Optik zu den reversiblen, da auch hier von allen Energieverlusten, die als Wärme auftreten, abgesehen wird. Schließlich gehören in diese Kategorie die schon definierten sogenannten quasistatischen, unendlich langsam verlaufenden Prozesse, d. h. diejenigen, bei denen innerer und äußerer Druck einander fast gleich sind, und bei denen die Temperaturen der Wärmereservoire sich gleichfalls nur sehr wenig von den Temperaturen der die Wärme aufnehmenden oder abgebenden Körper unterscheiden: Eine verschwindend kleine Änderung der Drucke und der Temperaturen genügt, um den Prozeß auf dem gleichen Wege rückläufig zu machen. Zu beachten ist dabei — entgegen manchen Darstellungen —, daß ein quasistatischer Prozeß zwar immer ein reversibler Vorgang ist, ein reversibler aber keineswegs immer quasistatisch zu verlaufen braucht. Reversibilität ist der umfassendere Begriff. Zu den i r r e v e r s i b l e n Prozessen gehört vor allem die Erzeugung von Wärme durch Reibung, etwa dadurch, daß ein Gewicht in einer zähen Flüssigkeit langsam herabsinkt. Denn wenn man diesen Vorgang rückgängig machen wollte, so bedürfte man einer Maschine, die 42*

660

Thermody nami k

nichts weiter bewirkt, als Abkühlung der erwärmten Flüssigkeit und entsprechende Hebung des herabgesunkenen Gewichtes. Eine solche wäre die Realisierung eines Perpetuum mobile II. Art und existiert nicht. Auch der in Nr. 101 erörterte G a y - L u s s a c s c h e Prozeß (adiabatische Ausdehnung eines Gases ins Vakuum) ist irreversibel. Denn man könnte zwar durch einen beweglichen Stempel die Ausdehnung wieder rückgängig machen. Aber dabei erwärmt sich das Gas, und der Stempel ist von seiner ursprünglichen Höhe herabgesunken. Also brauchte man, um auch diese beiden Änderungen noch rückgängig zu machen, wieder ein Perpetuum mobile II. Art. Im wesentlichen identisch damit ist die Diffusion zweier Gase ineinander. Das sind nach dem Daltonschen Gesetz zwei gleichzeitig verlaufende G a y - L u s s a c s c h e Prozesse. Um sie völlig rückgängig zu machen, ist wieder ein Perpetuum mobile II. Art notwendig. In der Natur können wir Reibung niemals vollkommen ausschließen. D i e v o n s e l b s t e i n t r e t e n d e n P r o z e s s e s i n d a l s o t a t s ä c h l i c h alle i r r e v e r s i b e l . R e v e r s i b i l i t ä t ist ein i d e a l e r G r e n z f a l l , der nie auftritt. Das schließt aber nicht aus, daß wir uns dieses Begriffes bei Gedankenexperimenten bedienen dürfen. Ein i d e a l e r r e v e r s i b l e r P r o z e ß von großer Bedeutung ist der Carnotsche Kreisprozeß, der eine Idealisierung der Vorgänge in den thermodynamischen Maschinen (Dampfmaschine, Gasmotor usw.) darstellt und der von dem jungen und genialen S a d i C a r n o t (1824) erdacht wurde, um die Arbeitsbedingungen solcher Maschinen zu verstehen, insbesondere, um festzustellen, ob und wie ihre Leistung von der Natur der „Arbeitssubstanz" (Wasserdampf, Gas usw.) abhängt. Wir führen ihn mit einem idealen Gas aus, da wir von diesem bereits alle notwendigen Daten kennen. Mit einer anderen Substanz können wir ihn nicht berechnen, ehe wir nicht den 2. Hauptsatz der Wärmetheorie kennengelernt haben. Bei dem C a r n o t sehen Kreisprozeß durchläuft das ideale Gas eine Reihe von Zustandsänderungen, in deren Verlauf sowohl Wärmemengen wie auch Arbeit zu- und abgeführt werden. Zwecks bequemer Ausdrucksweise wollen wir z u g e f ü h r t e Wärmemengen und Arbeiten mit Q und A, a b g e g e b e n e dagegen mit Q' und Ä bezeichnen. Da eine abgegebene Wärmemenge als negativ zugeführt betrachtet werden kann — das gleiche gilt für die Arbeitsgrößen — so ist natürlich stets Q' = — Q, Ä = — A, so daß man nachher alles, wenn man will, durch die z u g e f ü h r t e n Wärme- und Arbeitsgrößen ausdrücken kann. Nach dieser Vorbemerkung nun zur Ausführung des Carnot-Prozesses. Dazu brauchen wir folgende — nur in Gedanken herstellbare — Anordnung (Abb. XI, 25): Das gewählte ideale Gas G (Stoffmenge v) befinde sich in einem durch einen beweglichen Kolben K verschlos-



Abb. XI, 25. Prinzipversuch zum C a r n o t sehen Kreisprozeß

senen Zylinder Z. Der Kolben selbst und die Wände des Zylinders seien vollkommene Nichtleiter der Wärme, während der Zylinderboden umgekehrt aus unendlich gut leitendem Material besteht; in Abb. XI, 25 ist alles nichtleitende Material schraffiert. Ferner benutzen wir zwei Wärmereservoire, R\ von der höheren Temperatur 7i und R% von der niedrigeren Temperatur Ti. Die Reservoire setzen wir als so groß voraus, daß sie beliebige Wärmemengen aufnehmen oder abgeben können, ohne daß ihre Temperaturen sich ändern. Schließlich benutzen wir noch ein Stativ St, das wieder aus völlig nichtleitendem Material besteht. Wenn man das Gas mit den Wärmereservoiren Ri und Rz in Verbindung bringt, kann man Wärme auf dieses

Reversible und irreversible Prozesse; C a r n o t - P r o z e ß

661

übertragen oder von ihm abnehmen. Durch Hineinschieben oder Herausziehen des Kolbens K kann Arbeit von außen zugeführt oder nach außen abgegeben werden. Bringt man schließlich das Gas auf das Stativ St, so ist es völlig von der Außenwelt abgeschlossen, und m a n kann jetzt durch Bewegen des Kolbens noch adiabatische Prozesse vornehmen. Mit dieser Ausrüstung führen wir folgende 4 Teilprozesse aus, die das Gas im ganzen wieder auf seinen Anfangszustand zurückbringen. 1. D a s Gas habe die Temperatur 7 i des Reservoirs R\, ferner das Volumen V\ und den Druck pi. Wir setzen den Zylinder auf Ri, so daß das Gas mit Ri in wärmeleitender Verbindung ist. Indem wir den äußeren Druck stets verschwindend wenig kleiner wählen als den inneren Druck, erreichen wir, daß der Stempel K sich nach außen bewegt, unter Arbeitsverrichtung gegen den äußeren Druck. Die dabei eintretende Abkühlung wird in jedem M o m e n t kompensiert durch die Wärme, die durch den Boden des Zylinders aus R i zu dem Gas hinüberströmt, so d a ß der Prozeß i s o t h e r m verläuft. N a c h d e m eine bestimmte Wärmemenge Q± an das Gas übertragen ist, dieses dafür eine äquivalente Arbeit A\ nach außen geleistet hat, hat es ein größeres Volumen V3, V3) bringt; da gleichzeitig die Temperatur auf T2 herabsinkt, liegt C auf der zu gehörenden Isotherme. D a n a c h wird das Gas wieder isotherm komprimiert, bis der P u n k t D (pn, V4) auf dieser Isotherme erreicht ist, der so gewählt ist, d a ß jetzt eine adiabatische Kompression (Teilprozeß 4) unter Temperaturerhöhung auf Ti wieder zum Punkt A (pi, Vi) zurückführt.

662

Thermodynamik

T/ = Const.

T2 -Const.

Abb. XI, 26. C a r n o t - Prozeß im pF-Diagramm

Insgesamt hat das Gas aus den Reservoiren d b Wärmemenge ß l - ö i = ßl + ö2 aufgenommen; ferner ist ihm von außen ein Arbeitsbetrag -A'1-A'2

+ A3 + A4 = A1 + A2 + A3 + A4

zugeführt worden. Diese Größen wollen wir nun im einzelnen berechnen. 1. Da wegen der Temperaturkonstanz auf dem ersten Isothermenstück sich die Energie U des idealen Gases nicht ändert, gilt nach Gl. (XI, 8): 5Q1=pdV

=

vRTi

dV=-ÖA1

=

+6A[,

also nach Integration zwischen den Grenzen V± und V2: Vi (XI, 31a)

ß

1

=vÄr

1

| ^ = vRT1ln^=-A1=+A'l.

Vi ß i bedeutet dabei die aufgenommene Wärme, A\ die nach außen abgegebene Arbeit; sie ist > 0, da V2 > Vi ist. Da öAi = p dV ist, so ist die gesamte auf der Isotherme nach außen abgegebene Arbeit in Abb. XI, 26 gegeben durch das Flächenstück ABGE, das von der Isotherme AB, den beiden Loten AE und BG von A und B auf die Abszissenachse und dem Stück EG dieser Achse eingeschlossen wird; denn dieser Flächeninhalt ist gleich ¡pdV. Vi 2. Auf der ersten Adiabate ist öQ = 0, also lehrt der 1. Hauptsatz hier: dU = vCvdT=

—pdV = öA2=

-5A'2,

und die Integration liefert für die (gleichfalls nach außen abgegebene) Arbeit: T2

(XI, 31b)

A'2=-vCv

$ Tt

dT=-vCv(T2-7\);

Reversible und irreversible Prozesse; Carnot-Prozeß

663

Az ist gleichfalls positiv, da 7 i > 72 ist. Analog wie oben wird A2 durch den Flächeninhalt BCHG dargestellt. Daß die auf diesen beiden Teilstrecken z u g e f ü h r t e n Arbeiten A\ und A negativ sind, kommt dadurch zum Ausdruck, daß die beiden Flächenstücke ABGE und BCHG, wie der C a r n o t s c h e Prozeß selbst, im Uhrzeigersinne umlaufen werden. ist wieder dU = 0, also wie oben nach (XI, 8):

3. Auf der zweiten Isotherme

SQ2 = pdV =

vRT

~~dV=~ÖA3,

und durch Integration folgt: -Q2=+Q'2=-vRT2ln^=+A3.

(XI,31c)

Hier ist V4 < V3, die von außen aufgenommene Arbeit A3 positiv, Q2' = — 02, die nach außen abgegebene Wärme, ist gleichfalls positiv. A3 wird in Abb. XI, 26 dargestellt durch das Flächenstück CDFH, das im Gegenzeigersinn umlaufen wird. 4. Schließlich ist auf dem letzten adiabatischen Wege bQ = 0, also dU = vCvdT = —pdV = öA4, folglich vCv(Ti-T2)

(XI, 31 d)

= AA.

A4, die von außen zugeführte Arbeit, ist wegen T\ > Ti gleichfalls positiv; sie wird dargestellt durch das Flächenstück DAEF, das wieder im Gegenzeigersinn umlaufen wird. Addieren wir alle Arbeiten A\ bis A4, so heben sich nach (XI, 31b und d) A und A4, die Teilarbeiten auf den Adiabaten, fort; es bleibt: A = A1+A3=-

1

VRT± I n V R T

j

Vi

2

In ^ .

v3

Addiert man die die Teilarbeiten darstellenden Flächenstücke, die oben angeführt wurden, unter Berücksichtigung des Umlaufsinnes, so wird die Gesamtarbeit durch das Flächenstück ABCD dargestellt, das durch die den C a r n o t - P r o z e ß bildenden Isothermen und Adiabaten umschlossen wird. Da ABCD bei dem C a r n o t - P r o z e ß im Uhrzeigersinn umlaufen wird, stellt es eine negative, d. h. nach außen abgegebene Arbeit dar; in der Tat werden wir gleich sehen, daß A < 0, also Ä > 0 ist. Wir müssen nun noch berücksichtigen, daß die Volumina Vi und V4 einerseits, V2 und V3 anderseits auf je einer Adiabaten liegen; dafür gilt aber: TV*' 1 = const. Das liefert, auf die genannten Volumina und zugehörigen Temperaturen angewendet: T,vrl=T2vr\ Durch Division folgt:

Yi= Yi v,

v

also durch Einsetzen in den Arbeitsausdruck: (XI, 32)

A = - VRT± I n ^-VRT2

Vi

\N^=-VR

v2

( T j - T2)

l n ^ .

V,

Thermodynamik

664

A ist die gesamte von außen aufgenommene Arbeit; die nach außen abgegebene Arbeit A' ist ihr entgegengesetzt gleich: (XI, 32 a)

A ^ v R ^ - T i ) lnj^.

Da V2 > Vi, so ist im ganzen Arbeit nach außen abgegeben worden, wie es der Zweck einer thermodynamischen Maschine ist, die Wärme zugeführt erhält und dafür Arbeit liefert. Natürlich ist nach dem 1. Hauptsatz, wie auch durch Subtraktion der Gin. (XI, 31a und c) folgt, die nach außen geleistete Arbeit Ä gleich der Wärmemenge A'=Q1+Q2=Q1-Q,2, d. h. gleich der zugeführten abzüglich der abgeführten Wärmemenge. Aus dem Wärmereservoir i?i, das dem Kessel der Dampfmaschine entspricht, haben wir die Wärmemenge Qi entnommen, die nach (XI, 31a) den Wert hat: (XI, 33)

Q , = vRT, l n | ? .

Diese Wärmemenge ist es, die man aufbringen muß (z. B. durch die Verbrennung der Kohle); also ist man interessiert an dem Verhältnis A': ß i , das angibt, welcher Bruchteil der zugeführten Wärme Q\ in nach außen abgegebene Arbeit Ä umgewandelt wird. Für diesen sogenannten thermodynamischen Wirkungsgrad r\ ergibt sich mit (XI, 32 a) und (XI, 33): C V T 34) I/N (XI,

r =

l



^ = —^—=—n Q 1 7T J sl 1 i

— Q2= 1 !- ^ T( 2,< üi

1

) -n

Bei dem C a r n o t s c h e n Kreisprozeß wird also nicht die gesamte, aus dem Reservoir i?i bei der Temperatur T\ aufgenommene Wärme in Arbeit Ä umgesetzt (was das Ideal wäre), sondern nur ein Teil, nämlich Ä' = r,Q1 = Q1 + Q2 =

Ql-Q2,

während die nicht umgewandelte Wärmemenge Q% zu tieferer Temperatur T2 herabsinkt und nach außen (an das Reservoir Ri) abgegeben wird. Das sind sämtliche Veränderungen, die der Kreisprozeß in der Natur hervorgerufen hat; das Gas selbst ist vollkommen unverändert. Da der C a r n o t s c h e Prozeß reversibel geführt wurde, kann man ihn auch in umgekehrter Richtung laufen lassen (sogenannter i n v e r s e r C a r n o t s c h e r P r o z e ß ) . Dabei ist eine Wärmemenge 02 vom „unteren" Reservoir der Temperatur aufgenommen und eine größere Q{ = — Qi an das „obere" Reservoir von der Temperatur T\ abgegeben worden; gleichzeitig wurde von außen eine dieser Differenz äquivalente Arbeit A = Qi — 02 zugeführt. Führt man also einmal den C a r n o t s c h e n Prozeß direkt, dann einmal umgekehrt aus, so sind überhaupt alle Änderungen in der Natur verschwunden: Diejenigen, die der direkte Prozeß erzeugte, sind durch den inversen wieder rückgängig gemacht worden. Das ist selbstverständlich, weil wir ja schon wissen, daß der C a r n o t s c h e Prozeß reversibel ist. Wir gehen auf die Folgerungen aus Gl. (XI, 34) für den Wirkungsgrad an dieser Stelle nicht ein, da die ganze Betrachtung einer starken Verallgemeinerung fähig ist, wie wir in der nächsten Nummer sehen werden. Hier soll nur die Frage erörtert werden, wie die Verhältnisse sich ändern, wenn der C a r n o t - P r o z e ß ganz oder zum Teil irreversibel geführt wird. Das ist z. B. der Fall, wenn die Temperaturen der Wärmereservoire um endliche Beträge von denen des Gases verschieden sind, oder wenn der äußere Druck verschieden vom Gasdruck ist, oder wenn beides zusammen zutrifft. Ist z. B. der äußere Druck, während Arbeit nach außen geleistet wird, kleiner als der Innendruck, so wird notwendig auch die nach außen geleistete Arbeit

Zweiter Hauptsatz der Wärmetheorie

665

kleiner; ist er größer, wenn Arbeit von außen zugeführt wird, so ist diese Arbeit größer, insgesamt also die nach außen abgeführte Arbeit Ä kleiner als beim reversiblen C a r n o t - P r o z e ß . In der gleichen Richtung wirkt auch die Temperaturverschiedenheit. Das heißt: Bei i r r e v e r s i b l e r F ü h r u n g des C a r n o t - P r o z e s s e s ist d e r W i r k u n g s g r a d kleiner a l s b e i m r e v e r s i b l e n . Der letztere ist also ein idealer Grenzfall, der von wirklichen Maschinen nie erreicht wird, da diese mit endlichen Temperatur- und Druckdifferenzen arbeiten müssen, damit der Vorgang sich mit endlicher Geschwindigkeit abspielt. E s gilt a l s o a l l g e m e i n f ü r d e n t h e r m o d y n a m i s c h e n W i r k u n g s g r a d des C a r n o t - P r o z e s s e s : (XI, 34 a) w o b e i s i c h d a s G l e i c h h e i t s z e i c h e n a u f d e n G r e n z f a l l d e r R e v e r s i b i l i t ä t bezieht. Wenn hier und auf den folgenden Seiten von einer reversiblen bzw. irreversiblen Führung des Carnot-Prozesses oder kurz von einem reversiblen bzw. irreversiblen C a r n o t - P r o z e ß gesprochen wird, so ist das eigentlich eine unzulässig vereinfachte Ausdrucksweise. Der C a r n o t Prozeß ist definitionsgemäß reversibel; die Bezeichnung „irreversibler C a r n o t - P r o z e ß " ist daher widersprüchlich. Gemeint ist in diesen Fällen jedoch, daß jeweils die gleichen Schritte (je 2 isotherme und adiabatische Zustandsänderungen) ausgeführt werden, aber einmal reversibel bzw. zum anderen irreversibel. D e r r e v e r s i b l e C a r n o t s c h e K r e i s p r o z e ß ist ein I d e a l p r o z e ß , der, selbst wenn man ihn herstellen könnte, für die Praxis nicht brauchbar wäre, weil er zum Durchlaufen eines Zyklus unendlich lange Zeit braucht. Aber er liefert uns d i e o b e r e G r e n z e d e s s e n , w a s m i t w i r k l i c h e n M a s c h i n e n ü b e r h a u p t e r r e i c h t w e r d e n k a n n . In keinem Fall kann die durch den Wirkungsgrad der reversiblen C a r n o t - P r o z e s s e gezogene Grenze erreicht, geschweige denn überschritten werden. Aus der Größe des Wirkungsgrades rj = 1 — ergibt sich weiter als praktische Folgerung, daß man z u r E r h ö h u n g d e r U m s e t z u n g v o n W ä r m e in A r b e i t d i e T e m p e r a t u r m ö g l i c h s t k l e i n u n d 7i m ö g l i c h s t g r o ß m a c h e n m u ß ; beides geschieht tatsächlich bei den thermodynamischen Maschinen. Eine vollständige Umsetzung von Wärme in Arbeit wäre nur dann zu erzielen, wenn die untere Temperatur T ^ = 0.

Wenn in dem betrachteten beliebigen Kreisprozeß aber auch nur an einer Stelle ein irreversibler Vorgang auftritt, so gilt die gleiche Erwägung, die wir in der vorhergehenden Nummer bei dem Carnotschen Prozeß angestellt haben. Durch eine einfache Umformung der Ungleichung (XI, 34a) erhält man für einen irreversiblen Carnot-Prozeß: ß l irr , 62 irr - r» T, T2 Für einen beliebigen Kreisprozeß folgt in Analogie zu Gl. (XI, 37), daß (XI, 38)

j

^

O

ist, w o b e i d a s G l e i c h h e i t s z e i c h e n n u r f ü r den F a l l der R e v e r s i b i l i t ä t gilt. Formel (XI, 38) wird als Clausiussche Ungleichung bezeichnet. Sie ist eine vom 1. Hauptsatz völlig unabhängige, neue Bedingung für die auftretenden Wärmemengen und Temperaturen. Sie ist e i n e der F o r m e n des s o g e n a n n t e n 2. H a u p t s a t z e s . Da man nach C l a u s i u s die Ausdrücke Q/T als reduzierte Wärmemengen bezeichnet, kann man das Ergebnis in die Worte kleiden: Bei einem beliebigen (reversiblen oder irreversiblen) Kreisprozeß ist die Summe der reduzierten Wärmemengen gleich oder kleiner als Null, wobei die Gleichheit nur für den Fall vollständiger Reversibilität gilt (2. Hauptsatz der Wärmelehre). Mit Hilfe des zweiten Hauptsatzes kann man auch die folgende Aussage über den Wirkungsgrad eines beliebigen, reversiblen Kreisprozesses machen: Von allen Kreisprozessen, die zwischen den Extremtemperaturen T\ und T% vor sich gehen, besitzt der reversible Carnotsche den größten Wirkungsgrad r\ = 1 — Ti\T\. Alle anderen reversiblen Kreisprozesse haben einen kleineren Wirkungsgrad; für irreversible Kreisprozesse ist der Wirkungsgrad noch geringer. Dieser Satz wird im folgenden Abschnitt auf einfache Art bewiesen.

670

Thermodynamik

106. Entropie; Prinzip von der Vermehrung der Entropie Die in der Clausiusschen Ungleichung (XI, 38) enthaltene Formulierung des 2. Hauptsatzes leitet zwar unmittelbar zu den Aussagen über den Wirkungsgrad thermodynamischer Maschinen, ist aber sonst nicht anschaulich. Wir wollen daher jetzt zu einer anderen Formulierung übergehen, die besser geeignet ist, die Bedeutung des 2. Hauptsatzes hervorzuheben. Wir betrachten zunächst einen ganz beliebigen reversiblen Kreisprozeß, für den die in (XI, 38) enthaltene Gleichung gilt: r

T

- = 0.

Denken wir uns den Kreisprozeß wieder in der p K-Ebene durch eine geschlossene Kurve ABEC dargestellt (Abb. XI, 29), so können wir diese Gleichung etwas ausführlicher schreiben: SQr

+ E (ECA)

A (ABE)

Abb. XI, 29. Die Summe der reduzierten Wärmemengen auf dem Weg zwischen A y und E ist unabhängig vom Weg

indem wir die Kurve in die zwei Teile ABE und ECA teilen. Drehen wir die Grenzen des zweiten Integrals um, so kann weiter geschrieben werden:

J¥-J E

oder schließlich:

E

A (ABE)

A (ACE)

E

E

SQr

=0,

SQr T A (ACE)

A (ABE)

In dieser Form drückt die Gleichung aus, daß die Summe der reduzierten Wärmemengen von A bis E auf dem Wege ABE gleich der Summe der reduzierten Wärmemengen zwischen A und E auf dem Wege ACE ist. Mit anderen Worten: Die Summe der reduzierten Wärmemengen

P E

'SQr T

zwischen zwei Zuständen A und E eines Systems ist stets die gleiche, unabhängig davon, auf

Entropie; Prinzip von der Vermehrung der Entropie

671

welchem Weg das System vom Anfangszustand A in den Endzustand E gelangt, vorausgesetzt, daß die Wege reversibel sind. Der Zustand im Punkt A sei etwa durch die Werte V\ und T\ von Volumen und Temperatur dargestellt; diesen Anfangspunkt wollen wir festhalten, während wir den Zustand E beliebig variabel nehmen; ihm mögen die Werte Kund Tzukommen. Unter diesen Umständen ist das E

C ÄO Integral l — ^ , da die untere Grenze festliegt, nur von der oberen Grenze abhängig, d.h.

i

lediglich eine Funktion der Zustandsvariabeln V und T. Nennen wir diese Funktion S, so können wir schreiben: V, T (XI, 39)

J Vi,

^

=

S(V,T)-S(VUT1);

Ti

für das Differential dS dieser Funktion folgt daraus unmittelbar: (XI, 40)

dS =

Beide Gleichungen sagen dasselbe aus: Es existiert eine Funktion S des augenblicklichen Zustandes eines Systems, deren Differential gleich ist der bei einer reversiblen Zustandsänderung des Systems aufgenommenen, unendlich kleinen Wärmemenge 0.

Zwei Gase diffundieren also von selbst ineinander, aber ein Gasgemisch teilt sich nicht von selbst in seine Komponenten. Man sieht, wie in allen diesen Fällen das Wachstum der Entropie den Prozessen die Richtung vorschreibt. Es würde zu weit führen, für andere Stoffe ebenfalls U und S mittels der beiden Hauptsätze aus der als bekannt angenommenen Zustandsgieichung theoretisch zu bestimmen. Lediglich als Beispiel seien die Werte von U und S eines der v a n der Waalsschen Gleichung gehorchenden realen Gases angegeben: vRT P = V - b (XI, 46)

a V2'

T a U = v \ Cv dT — - + T, V

S == v j^dT

U0,

+ v R\n(V-b)

+ S0.

Das Integral, das in den beiden Ausdrücken für S und U steht, läßt sich nur lösen, wenn die Temperaturabhängigkeit von Cv bekannt ist. Im Gegensatz zur idealen Gasgleichung kann man in dem größeren Gültigkeitsbereich der v a n der Waalsschen Gleichung nicht mehr voraussetzen, daß Cv konstant bleibt. Die untere Grenze T0 des Integrals ist eine Bezugstemperatur. Die Konstanten U0 und bleiben unbestimmt. Wiederum heben sich T0 und U0 bzw. S 0 bei der Berechnung von Energie- und Entropied i f f e r e n z e n heraus. Zur Übung kann der Leser selbst einmal rückwärts diese Gleichungen verifizieren, mit ihnen den G a y - L u s s a c s c h e n Prozeß vornehmen (der hier zu einer T e m p e r a t u r e r n i e d r i g u n g führt) und den C a r n o t s c h e n Kreisprozeß berechnen, der auch hier den Wirkungsgrad 1 — Tz/T^ besitzt. (In den Temperaturbereichen, in denen diese beiden Prozesse ablaufen, darf man Cv als konstant ansehen.) Unabhängig von der Kenntnis der Zustandsgieichung läßt sich für alle Stoffe aus thermodynamischen Meßwerten die Entropie z. B. als Funktion der Zustandsgrößen r u n d p bestimmen. Auf die Einzelheiten der Ermittlung der Entropiewerte können wir hier nicht eingehen. Es ist üblich, die Abhängigkeit der Entropie so darzustellen, wie es in dem Ts-Diagramm für Wasser (Abb. XI, 34) gezeigt wird. Man erkennt in diesem Diagramm Kurven konstanten Druckes; jedem Wertepaar p und T ist in eindeutiger Weise ein Wert für die spezifische, d. h. auf die Masse bezogene Entropie s in kcal/kg • K zugeordnet. Das Diagramm enthält ebenso wie das

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Thermodynamik

p K-Diagramm eine Grenzkurve, die das Zweiphasengebiet (Flüssigkeit und Dampf) gegen die Einphasengebiete (reine Flüssigkeit oder reiner Dampf bzw. Gas) abgrenzt. Der Scheitelpunkt der Grenzkurve ist der kritische Punkt. Wie bereits bemerkt wurde, interessieren in der Regel nur Entropiedifferenzen. Man kann demnach den Nullpunkt der Entropieskala willkürlich festsetzen. Meist wird die Entropie der reinen Flüssigkeit am Normalsiedepunkt gleich Null gesetzt.

Abb. XI, 34. Ts-Diagramm von Wasser

107. Molekularkinetische Deutung des zweiten Hauptsatzes; Entropie und Wahrscheinlichkeit Es bleibt nun noch übrig, das Verhältnis des 2. Hauptsatzes zur kinetischen Theorie zu erörtern; denn es muß klargestellt werden, wie das Wachsen der Entropie, d. h. die Irreversibilität von Prozessen molekularkinetisch zu erklären ist. Von vornherein erheben sich nämlich schwere Bedenken dagegen. Es wurden zwar in Nr. 103 die irreversiblen Vorgänge der Wärmeleitung und Reibung kinetisch gedeutet; aber es fragt sich, ob dies zulässig ist. Die Elementarprozesse der kinetischen Theorie sind reine Bewegungsvorgänge und als solche ihrer Natur nach reversibel. Wie kann es möglich sein, irreversible Vorgänge durch reversible zu erklären ? Liegt hier nicht ein innerer Widerspruch der Mechanik vor? So wäre es in der Tat, wenn die Aussagen der kinetischen Theorie rein mechanischer Natur wären. Aber in Wirklichkeit sind sie dies nicht. Außer den Gesetzen der Mechanik müssen sie noch Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Verhalten der in sehr großen Zahlen auftretenden Materieteilchen (z. B. Gasmoleküle) enthalten, da man über die Bewegung eines einzelnen Teilchens keine Angaben machen kann. Deshalb sind die Aussagen der kinetischen Theorie nicht Behauptungen über zwangsläufig eintretende Ereignisse, sondern nur über wahrscheinlich vor sich gehende. Ist diese Anschauung richtig, so dürfen alle Folgerungen des 2. Hauptsatzes nur als Wahrscheinlichkeitsaussagen gewertet werden. Man kann aus ihm nicht mehr folgern, was tatsächlich geschieht, sondern nur, was wahrscheinlich eintreten wird. Die Grundlage des Beweises für den 2. Hauptsatz, der Satz von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile II. Art, kann also in der bisherigen, kategorischen Form gar nicht zutreffen, sondern kann nur als ein Satz betrachtet werden, der mit großer Wahrscheinlichkeit

Molekularkinetische Deutung des zweiten Hauptsatzes

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zutrifft. Vom kinetischen Standpunkt muß man daher erwarten, unter geeigneten Bedingungen Widersprüche und Abweichungen gegen diesen Erfahrungssatz zu finden. Das ist in der Tat leicht zu zeigen. Betrachten wir zwei aneinander grenzende Gasmengen von verschiedener Temperatur, d. h. verschiedenen Werten von % mo ci 2 und \ mo C22; nehmen wir speziell an, C22 sei größer als ci 2 , d. h. T2 > T±. Durch die Trennungsfläche der beiden Gase gehen dann im Mittel schnellere Moleküle von 2 nach 1 hindurch als umgekehrt: Gas 2 kühlt sich ab, Gas 1 erwärmt sich, wie wir es in Übereinstimmung mit dem 2. Hauptsatz auch wirklich beobachten. Die kinetische Theorie läßt diesen Ausgleichsprozeß als vollkommen verständlich erscheinen. Die Temperaturdifferenz zwischen den beiden Gasen nimmt mehr und mehr ab, C22 nähert sich immer mehr ci 2 . Es soll nun ein Zustand betrachtet werden, in dem die beiden Gase nur noch außerordentlich wenig verschiedene Temperatur haben. Dann kann man nicht mehr absolut sicher sein, daß von 2 nach 1 im Mittel schnellere, von 1 nach 2 langsamere Moleküle über die Grenze hinübertreten. Vielmehr sind auch in dem kühleren Gas nach dem Maxwellschen Verteilungsgesetz (Abb. XI, 24) Moleküle mit großer, im wärmeren solche mit sehr kleiner Geschwindigkeit vorhanden. Daher ist es möglich, daß in einem Zeitintervall zufällig von 1 nach 2 schnellere, von 2 nach 1 langsamere Moleküle übertreten, d. h., daß die Temperaturdifferenz zwischen beiden Gasen nicht kleiner, sondern größer wird — umgekehrt, wie es der 2. Hauptsatz fordert. Freilich wird diese kleine Abweichung im nächsten Augenblick wieder kompensiert werden und überdies kaum bemerkbar sein. Aber das ändert nichts an der Schlußfolgerung, daß in der Nähe des Gleichgewichts nach der kinetischen Theorie kleine Abweichungen, „Schwankungen", auftreten müssen, die zum 2. Hauptsatz in Widerspruch stehen. Ein anderes Beispiel: Ein Gas fülle einen gegebenen Raum im Gleichgewichtszustand gleichmäßig aus, d. h. in jedem Kubikzentimeter sollen gleich viele Moleküle vorhanden sein. Aber da die Moleküle nicht in Ruhe sind, sondern sich mit großer Geschwindigkeit bewegen und gegeneinander stoßen, ist es möglich, daß sich gelegentlich in einem Kubikzentimeter einige Moleküle mehr befinden als im benachbarten: Das ist schon eine Schwankung, die nach dem 2. Hauptsatz nicht auftreten dürfte; freilich werden wir sie nie beobachten, aber es handelt sich um das Grundsätzliche. Hat man dies einmal erkannt, so kann man weiter fragen, ob man nicht auch Bedingungen herstellen kann, unter denen solche „Schwankungen" in der Nähe der Gleichgewichtslage auch wirklich beobachtbar sind. Denn erst das würde uns ja berechtigen, an der kinetischen Theorie festzuhalten, obwohl sie Abweichungen vom 2. Hauptsatz verlangt. Wirklich gibt es derartige Erscheinungen. Man kann sich von vornherein klarmachen, daß die Schwankungen (Temperatur- oder Dichteschwankungen in den obigen Beispielen) um so kleiner, also um so unmerklicher ausfallen, je mehr Moleküle dabei beteiligt sind; denn um so weniger fällt es ins Gewicht, wenn einige Moleküle vom mittleren Verhalten abweichen. Ob bei Trillionen Molekülen im Kubikzentimeter ein paar Moleküle mehr oder weniger vorhanden sind, ist gleichgültig: Solche Schwankungen sind nicht wahrnehmbar. Anders aber liegt die Sache, wenn es sich um 10 Individuen im Kubikzentimeter handelt: Dann spielt es eine Rolle und muß beobachtbar sein, wenn ein Individuum mehr oder weniger im Kubikzentimeter vorhanden ist. Solche Schwankungserscheinungen lassen sich wirklich beobachten, zwar nicht bei echten Molekülen, sondern bei den Teilchen, deren Brownsche Molekularbewegung sichtbar ist. Das sind zwar keine Moleküle, aber sie verhalten sich genauso, sie könnten Moleküle sein. In einer Suspension von Gummigutt oder Rutil z. B. muß im Gleichgewichtszustand in jedem Kubikzentimeter die gleiche Anzahl von Teilchen vorhanden sein. Wenn man eine Schicht eines solchen Präparates unter dem Mikroskop betrachtet, das mit einem quadratisch eingeteilten Okularmikrometer versehen ist, so stellt man fest, daß die Teilchenzahl infolge der Stöße um einen Mittelwert schwankt. In einer Versuchsreihe des schwedischen Forschers T h e S v e d b e r g betrug die mittlere Teilchenzahl je Quadrat 1,74; in der zeitlich aufeinanderfolgenden Auszählung der Teilchen in den verschiedenen Quadraten des Okularmikrometers fanden sich folgende tatsächliche Zahlen: 1200020013 2412310211 1131125111 0233133322 1112242212 2612214233 4524114131 1423100100 4211231232 0111100011, die die Schwankungen deutlich erkennen lassen und deren Mittelwert 1,74 ist.

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Thermodynamik

Übrigens kann man indirekt diese von der kinetischen Theorie geforderten Dichteschwankungen auch bei den Luftmolekülen nachweisen. Das Blau des Himmels entsteht durch eine Streuung des Sonnenlichtes an den Luftmolekülen selbst; die von den einzelnen Molekülen ausgehenden Wellen, die man etwa als H u y g h e n s sehe Elementarwellen ansehen kann, würden zu beobachtbaren Interferenzen führen, wenn dies nicht durch die unregelmäßige Verteilung der Moleküle und durch Dichteschwankungen verhindert würde. Man kann aus Messungen der Farbe des Himmels, auf diese Theorie gestützt, sogar die Avogadro-Konstante NA bestimmen.

Die von der kinetischen Theorie geforderten Schwankungen in der Nähe der Gleichgewichtslage, d. h. Abweichungen vom 2. Hauptsatz, existieren also wirklich, es gibt mithin Fälle, in denen die Entropie nicht wächst, sondern abnimmt; der Satz v o n der U n m ö g l i c h k e i t des P e r p e t u u m m o b i l e II. A r t : „Es gibt keinen Prozeß, der nichts weiter bewirkt als die Abkühlung eines Wärmereservoirs und die äquivalente Hebung einer Last" k a n n d a h e r in dieser F o r m n i c h t a l l g e m e i n r i c h t i g sein. Muß nun nicht gefolgert werden, daß man ein Perpetuum mobile II. Art wirklich herstellen, z. B. die Wärmeenergie des Luftmeeres in Arbeit umwandeln kann? V o n S m o l u c h o w s k i hat gezeigt, daß dies dennoch nicht möglich ist, und zwar durch folgende Überlegung: Es sieht so aus, als ob es nur eines geeigneten Apparates bedürfe, um die Dichteschwankungen der Luft „aufzufangen", zu ordnen und die so entstandenen Druckdifferenzen in Arbeit umzusetzen. Das wäre in der Tat grundsätzlich möglich, wenn dieser Apparat aus starrem Material hergestellt werden könnte. A b e r s t a r r e K ö r p e r gibt es n i c h t , da alle M a t e r i e a u s M o l e k ü l e n a u f g e b a u t ist u n d d a h e r selbst S c h w a n k u n g s e r s c h e i n u n g e n zeigt. Ein sogenannter starrer Maßstab z. B. ändert infolge der molekularen Schwankungen seine Länge und seine Gestalt dauernd in unregelmäßiger Weise. Diese überall und immer auftretenden Schwankungen verhindern nun das systematische Auffangen der Dichteschwankungen, von denen oben die Rede war; denn die Schwankungen der Abmessungen des Apparates gehen unabhängig von den Dichteschwankungen der Luft vor sich. Um diese zu ordnen, wäre es aber erforderlich, daß irgendeine Beziehung zwischen ihnen und den Apparatschwankungen bestünde. (Mit einem aus der Wellenlehre entnommenen Ausdruck könnte man sagen, daß die Dichteschwankungen der Luft und die des Apparates i n k o h ä r e n t sind, während unser Ziel nur erreicht werden könnte, wenn K o h ä r e n z vorhanden wäre.) Ein Perpetuum mobile II. Art ist also trotz der von der kinetischen Theorie geforderten und wirklich vorhandenen Schwankungen nicht möglich, und zwar deshalb, weil alle Materie molekular aufgebaut ist. Der Satz von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile wird daher wieder richtig, wenn wir ihn folgendermaßen formulieren: „Es gibt keinen Vorgang, der nichts weiter bewirkt als die d a u e r n d e Abkühlung eines Wärmereservoirs und die äquivalente Hebung einer Last"; d e n n g e r a d e die D a u e r des P r o z e s s e s w i r d d u r c h die I n k o h ä r e n z d e r S c h w a n k u n g e n a u s g e s c h l o s s e n . Obwohl also die kinetische Theorie im Kleinen auf Abweichungen vom 2. Hauptsatz führt, bleiben im Makroskopischen alle seine Konsequenzen gültig. B o l t z m a n n hat die kinetische Theorie des 2. Hauptsatzes zum Abschluß gebracht, indem er die Entropie mit der „thermodynamischen Wahrscheinlichkeit" eines Zustandes in Zusammenhang brachte. Zunächst zur Definition: Allgemein bezeichnet man als Wahrscheinlichkeit das Verhältnis der Anzahl der „günstigen" Fälle zur Anzahl der möglichen Fälle. Mit einem Würfel z. B. läßt sich durch einen Wurf nur e i n e Zahl würfeln, es gibt also e i n e n günstigen Fall. Auf dem Würfel befinden sich sechs verschiedene Zahlen, die Anzahl der möglichen Fälle beträgt also 6. Damit ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß man von diesen sechs Zahlen eine bestimmte würfelt, Vß. Das bedeutet nicht, daß von sechs Würfeln zwangsläufig einer die gewünschte Zahl, z. B. eine 6, ergibt, denn der Würfel hat kein „Gedächtnis", d. h. jeder Wurf ist von den vorhergehenden unabhängig. Erst wenn man eine sehr große Anzahl von Würfen ausführt, findet man, daß im Mittel ein Sechstel dieser Anzahl zu dem gewünschten Ereignis führt. Deshalb gelten Wahrscheinlichkeitsaussagen immer nur für eine sehr große Anzahl von Versuchen oder für eine sehr große Anzahl von Individuen. Fragt man nun nach der Wahrscheinlichkeit dafür, daß mehrere voneinander unabhängige Ereignisse gleichzeitig eintreten, so gilt die Regel, daß die Gesamtwahrscheinlichkeit gleich dem

Molekularkinetische Deutung des zweiten Hauptsatzes

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Produkt der Einzelwahrscheinlichkeiten ist. Das bedeutet, daß z. B. beim Spiel mit zwei verschiedenen Würfeln die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer bestimmten Zahlenkombination 1/36 sein muß. Denn auch hier gibt es einen günstigen Fall, nämlich e i n e Zahlenkombination, möglich sind aber 36 verschiedene Kombinationen. An diese Überlegungen anknüpfend betrachten wir jetzt einen Gasbehälter und denken uns sein Volumen Vi in x gleich große Teile Vi eingeteilt. Es ist also Vi x Vi. In dem Behälter befinde sich zunächst nur ein Gasmolekül. Dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Molekül gerade in einem ganz bestimmten dieser x Teilvolumina angetroffen wird, 1 jx. Befinden sich zwei Moleküle in dem Behälter, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß diese gleichzeitig in einem bestimmten Teilvolumen angetroffen werden, (1/x) 2 . Nun soll der Behälter v Mole eines Gases, also VNA Moleküle enthalten. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich alle diese Moleküle gleichzeitig in einem der x gleich großen Teilvolumina ansammeln (daß sich also das Gas von selbst auf das Volumen Vi komprimiert, während der übrige Raum leer wird), beträgt demnach:

Den Kehrwert dieses Ausdrucks W= - = w bezeichnet man als t h e r m o d y n a m i s c h e W a h r s c h e i n l i c h k e i t . Während die vorher definierte mathematische Wahrscheinlichkeit nur Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann, erstreckt sich die thermodynamische Wahrscheinlichkeit auf alle Werte oberhalb von 1, denn es ist definitionsgemäß x > 1. Da ferner die mathematische Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich alle Moleküle im Gesamtvolumen Vi befinden, selbstverständlich 1 ist, stellt W das Verhältnis zweier Wahrscheinlichkeiten dar. W gibt nämlich an, wievielmal wahrscheinlicher alle Moleküle gleichzeitig im Gesamtvolumen Vi statt im Teilvolumen Vi anzutreffen sind. Bildet man jetzt noch den natürlichen Logarithmus von W, so erhält man mit x = Vi/ Vi und NA = R/k: (XI, 47)

k-lnW

=

vR-ln~. '2

k ist die schon eingeführte Boltzmann-Konstante. Auf der rechten Seite dieser Gleichung steht nichts anderes als die Entropiedifferenz AS, die auftritt, wenn sich ein ideales Gas ins Vakuum, und zwar vom Volumen Vi auf das Volumen Vi ausdehnt, wie es beim Versuch von G a y - L u s s a c (Abb. XI, 12) der Fall ist. Dabei bleibt bekanntlich die Temperatur T der gesamten Anordnung konstant. Berechnet man nämlich nach Gl. (XI, 45) die Entropiedifferenz AS = Si — S2, die beim Übergang eines idealen Gases vom Zustand 2 (V2, T) in den Zustand 1 (Vh T) auftritt, so ergibt sich /IS - vR In (F1/F2). Man kann also schreiben: (XI, 48) AS = k-lnW . Diese fundamentale Beziehung, die hier nur mit Hilfe eines speziellen Beispiels abgeleitet wurde, gilt allgemein und wurde von B o l t z m a n n gefunden. Die Entropie eines Zustandes ist proportional dem Logarithmus seiner thermodynamischen Wahrscheinlichkeit. Der Satz vom Wachstum der Entropie ist danach identisch mit dem Satz, daß ein System bei allen von selbst eintretenden Vorgängen sich so ändert, daß es von unwahrscheinlicheren zu wahrscheinlicheren Zuständen übergeht. Damit ist der wahre Sinn des 2. Hauptsatzes erfaßt: Es ist ein Wahrscheinlichkeitssatz im Gegensatz zum 1. Hauptsatz, dem Energieprinzip. W ä h r e n d der B e g r i f f d e r „ E n e r g i e " s e l b s t f ü r ein e i n z e l n e s T e i l c h e n e i n e n

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Thermodynamik

w o h l d e f i n i e r t e n S i n n h a t , k a n n v o n „ E n t r o p i e " n u r da g e s p r o c h e n wo eine Gesamtheit von Teilchen statistisch betrachtet wird.

werden,

Zum Abschluß soll ein einfaches Modell des Naturgeschehens angegeben werden, an dem man alle charakteristischen Eigenschaften leicht wiedererkennt ( E h r e n f e s t 1907): Auf zwei Urnen, eine schwarze und eine weiße, sei eine bestimmte gerade Anzahl N numerierter Zettel verteilt, etwa x in der schwarzen, N — xin der weißen Urne. Die Zahlen 1 bis N sind noch ein zweites Mal als Nummern in einer „Ziehurne" vorhanden, und es wird in regelmäßigen Zeitabständen aus dieser eine Nummer gezogen und wieder zurückgelegt. Gleichzeitig wird der Zettel mit der gleichen Nummer aus der Urne, in der er sich befindet, in die andere Urne gelegt. Es ist klar, daß der wahrscheinlichste Zustand der sein wird, daß in der schwarzen und weißen Urne gleich viele, nämlich 1/2 N Zettel sich befinden. Denn wenn die Anfangsverteilung durch die Anwesenheit von x Zetteln in der schwarzen, N — x Zetteln in der weißen Urne bestimmt ist, so ist die (mathematische) Wahrscheinlichkeit, von den N Nummern in der Ziehurne eine Nummer zu ziehen, deren zugehöriger Zettel in der schwarzen Urne liegt, offenbar proportional x, da x die Anzahl der günstigen Fälle ist. Wir wollen eine solche Ziehung der Kürze halber eine „schwarze Ziehung" nennen. Entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit einer „weißen" Ziehung offenbar proportional N — x. Ist nun etwa x > N — x, so ist das Verhältnis der beiden Wahrscheinlichkeiten, also die „thermodynamische" Wahrscheinlichkeit, gleich x/(N - x) > 1. Es wird also wahrscheinlich eine schwarze Ziehung erfolgen, d. h. ein Zettel wandert aus der schwarzen in die weiße Urne, so daß die Differenz zwischen beiden sich vermindert. Diese Tendenz besteht offenbar so lange, bis x—(N—x) — 0 geworden ist; sie wird allerdings immer schwächer, je kleiner diese Differenz wird. Wenn wir also mit einem sehr unwahrscheinlichen Anfangswert beginnen, z. B. x = N, d. h., wenn alle Zettel in der schwarzen Urne liegen, keiner in der weißen, so m u ß bei der ersten Ziehung ein Zettel in die weiße Urne übergehen, weil die mathematische Wahrscheinlichkeit einer schwarzen Ziehung gleich 1 ist. Auch die nächste Ziehung wird höchstwahrscheinlich, wenn N sehr groß gegen 1 ist, im selben Sinne verlaufen, d. h. im Sinne der Annäherung an den wahrscheinlichsten Zustand. Denn bei diesen ersten Ziehungen ist das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit einer schwarzen zu einer weißen Ziehung, nämlich x/(N — x), auch außerordentlich groß gegen 1. Aber unmöglich ist es doch nicht, daß schon der 2. Zug im umgekehrten Sinne vor sich geht, denn die Wahrscheinlichkeit dafür ist zwar sehr klein, aber nicht exakt gleich Null. Je näher man dem völligen Ausgleich kommt, desto mehr nähern sich die Wahrscheinlichkeiten für eine schwarze und eine weiße Ziehung einander, es besteht kein erdrückendes Übergewicht der einen über die andere mehr, und demgemäß ist der Ausfall der nächsten Ziehung durchaus unsicher. Sie kann im Sinne des Ausgleichs, aber mit fast ebenso großer Wahrscheinlichkeit im Gegensinn erfolgen. Konstruiert man also eine Kurve, indem man den absoluten Wert der Differenz\x — (N — x)| = |/1 als Ordinate gegen die Zahl der Ziehungen, also im wesentlichen gegen die Zeit, als Abszisse aufträgt, so werden wir bei der vorausgesetzten, sehr unwahrscheinlichen Anfangsverteilung die Kurve fast ohne Schwankung nach unten laufen sehen; erst in der Nähe von ]A\ = 0 werden Schwankungen auftreten. Der erste Teil des Prozesses erscheint einem „Makrobeobachter", wie wir es alle der Natur gegenüber sind, als irreversibel; erst in der Nähe der Gleichgewichtslage zeigen ihm die Schwankungen, daß es sich in Wirklichkeit um einen reversiblen Prozeß handelt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß einmal wieder alle N Zettel in einer Urne liegen, ist zwar sehr klein, aber durchaus nicht Null. Und wenn man das Spiel lange genug fortsetzt, so wird dieser Fall wahrscheinlich auch eintreten. In Abb. XI, 35 ist ein derartiger Versuch mit TV = 40 wiedergegeben; zu Anfang waren alle Zettel in der schwarzen Urne, d. h. x = 40. Man erkennt eindeutig die fallende Tendenz der Kurve zu Beginn des Versuchs. Später beginnen die Schwankungen um die Ruhelage. Ist sie einmal erreicht, so muß die nächste Ziehung mit Sicherheit den erlangten Ausgleich wieder stören. Die bei dem Versuch auftretenden Schwankungen sind, wie man sieht, ganz unregelmäßig: Das sind die bei jedem Vorgang in der Nähe der Gleichgewichtslage zu erwartenden Abweichungen. Das obige Lotteriespiel ist ein Analogon der Verteilung eines in einem Gefäß enthaltenen Gases (schwarze Urne allein) auf zwei Gefäße (schwarze und weiße Urne zusammen). Die Moleküle verteilen sich im Gleichgewichtszustand gleichmäßig auf beide Gefäße, die Zettel im wahrscheinlichsten Zustand gleichmäßig auf beide Urnen. Im Anfang geht der Prozeß der Verteilung fast monoton vor sich. In der Nähe des Gleichgewichts aber treten die Schwankungen ein: Dichteschwankungen beim Gas, Verteilungsschwankungen bei den Zetteln. Den Gesetzen der Mechanik bei den Molekülen entspricht bei der Lotterie die zu Anfang festgesetzte Spielregel; in beiden Fällen tritt dazu eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Im Fall der Lotterie ist dies die Annahme, daß die Art der Ziehung (ob schwarz oder weiß) vom Verhältnis x/(N — x) der in beiden Urnen bereits vorhandenen Zettel abhängt, im Fall des Gases die Voraussetzung, daß die Zahl der Moleküle, die eine gedachte Scheidewand zwischen beiden Gefäßen von links nach rechts oder umgekehrt durchsetzen, proportional der Zahl der in beiden Gefäßen vorhandenen Moleküle ist. Sind in einer Urne alle Zettel, in dem einen Gefäß alle Moleküle vereinigt

Thermodynamisches Gleichgewicht ; freie Energie und freie Enthalpie

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Abb. XI, 35. Entwicklung von einem unwahrscheinlichen zum wahrscheinlichsten Zustand; Modell der Entropiezunahme und der Schwankungen um die Gleichgewichtslage so muß mit absoluter Sicherheit wenigstens ein Zettel in die andere Urne, wenigstens ein Molekül in das andere Gefäß hinüberwandern; für den nächsten Zettel und das nächste Molekül ist dies sehr wahrscheinlich, aber nicht mehr absolut sicher. Man sieht, wie vollständig die Analogie zwischen dem Naturvorgang und dem hier angegebenen Modell ist.

108. Thermodynamisches Gleichgewicht; freie Energie und freie Enthalpie Im Abschnitt 100 ist der Begriff des abgeschlossenen Systems definiert worden: Die Begrenzung eines abgeschlossenen Systems ist undurchlässig f ü r Energie und Materie. Das bedeutet, daß die innere Energie U und das Volumen V konstant bleiben. Der zweite Hauptsatz besagt, daß bei allen in einem solchen System ablaufenden Prozessen die Entropie niemals abnehmen, sondern höchstens — bei reversiblen Vorgängen — unverändert bleiben kann. Bei allen von selbst ablaufenden Prozessen nimmt die Entropie zu. In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, wann ein von selbst ablaufender Prozeß zum Stillstand kommt. Diese Überlegung soll auch angestellt werden für Systeme, in denen nicht, wie bei dem abgeschlossenen System, die innere Energie und das Volumen konstant sind, sondern z. B. die Temperatur und der Druck oder das Volumen. Was heißt nun: Ein Prozeß in einem System kommt zum Stillstand ? Ein System, das thermodynamisch beschrieben werden soll, ist nur im einfachsten Fall ein Kasten mit bestimmtem Volumen, der mit einem Gas, von dem Temperatur und Druck bekannt sind, gefüllt ist. Man denke z. B. an den Ablauf einer chemischen Reaktion, bei der die beteiligten Partner sowohl gasförmig als auch flüssig sein können. Auch ein solches System muß sich thermodynamisch beschreiben lassen. Im allgemeinen Fall enthält der zu beschreibende Kasten eine Anzahl von chemisch verschiedenen Stoffen, die sich in unterschiedlichen Aggregatzuständen befinden. Bei einem spontan ablaufenden Prozeß werden sich der Druck, die Temperatur und die Konzentrationen der beteiligten Stoffe ändern, die durch Reaktion ineinander überführt werden oder auch den Aggregatzustand wechseln. Man sagt: Der Prozeß ist zum Stillstand gekommen, wenn sich der Druck und die Temperatur und die Konzentrationen mit der Zeit nicht mehr ändern. Das System befindet sich dann im thermodynamischen Gleichgewicht. Ist dieses Gleichgewicht erreicht, dann ändern in der Zeit gleich viele Moleküle den Aggregatzustand in der einen wie in der anderen Richtung; und ebenso viele

684

Thermodynamik

Moleküle treten zu einer Verbindung zusammen, wie gleichzeitig zerfallen. Der Stillstand des Prozesses ist also nicht etwa ein „Erstarren" des Systems, sondern ein dynamischer Zustand, bei dem sich die für die einzelnen Moleküle vorgehenden Änderungen insgesamt gerade ausgleichen. Makroskopisch ist dann keine Änderung der Eigenschaften mehr meßbar. Es sollen nun Bedingungen für das thermodynamische Gleichgewicht hergeleitet werden, wobei wir zunächst wieder das abgeschlossene System betrachten wollen, dessen innere Energie und Volumen konstant sind. Man benutzt zur Ableitung den ersten und den zweiten Hauptsatz. Der erste Hauptsatz verknüpft die Änderung der inneren Energie dU eines Systems mit der ihm zugeführten Wärme öQ und der an ihm geleisteten Arbeit SA: dU = ÖQ + ÖA Wenn diese Arbeit eine reine Ausdehnungsarbeit ist, so gilt SA=-pdV. Den zweiten Hauptsatz kann man in der Form der Ungleichung SQ v-f erzielen. Aussagen über die Druck- und Geschwindigkeitsverhältnisse in der Gasströmung lassen sich mittels der E u l e r s c h e n Gleichung machen. Unter der Voraussetzung, daß v, p u n d Q n u r von x abhängen, lautet diese für den stationären F a l l : (XI, 83)

dx

=

q dx

Differenziert m a n die Kontinuitätsgleichung (XI, 80) nach der Ortskoordinate x in Strömungsrichtung, so erhält m a n :

Durch Multiplikation mit v/qA, Substitution von dg _ dg

dp _

1 dp

dx

dx

c 2 dx

dp

und Einführung der Machzahl M = v/c ergibt sich aus (XI, 83) u n d (XI, 84) (XI,85)

=

Bei gegebener Machzahl lassen sich n u n folgende Aussagen machen: D a s Gas strömt mit Unterschallgeschwindigkeit durch die Düse ( M < 1). Der Ausdruck vor dp/dx ist positiv, der D r u c k ändert sich gleichsinnig mit A, die Geschwindigkeit aber nach (XI, 83) gegenläufig; d. h. die Geschwindigkeit steigt, bis der engste Querschnitt der D ü s e erreicht ist, sinkt dann wieder mit sich vergrößerndem Querschnitt A (Kurve 1 in Abb. XI, 75c, d). Die Gassströmung erreicht Schallgeschwindigkeit ( M = 1). Aus (XI, 85) ergibt sich dA/dx = 0, d. h. die Bedingung M = 1 ist gerade f ü r den Wert erfüllt, f ü r den A den Minimalwert annimmt. Geschwindigkeits- und Druckverlauf bestimmen sich daher allein aus Gl. (XI, 83), entsprechend dem zuvor Dargelegten (Kurve 2 in Abb. XI, 75 c, d bis zum Punkt m). Erreicht die Strömungsgeschwindigkeit im engsten Querschnitt Schallgeschwindigkeit, ist der Außendruck aber größer als p2 = pe (z. B. p2 = pc in Abb. XI, 75c), so steigt die Geschwindigkeit unter Drucksenkung weiter bis zum Punkt n. Hier n u n erfolgt ein Verdichtungsstoß, der den D r u c k auf den Wert q ansteigen läßt. Anschließend steigt der Druck langsam bis zum Punkt p2 = Pc, während die Geschwindigkeit des Gases abnimmt. Erst wenn der Außendruck p2 = pe ist, erhält man die Kurve 2 in Abb. XI, 75 c u n d d in ihrer vollständigen F o r m . D a n n tritt das Gas mit Überschallgeschwindigkeit aus der L a v a l - D ü s e aus.

Die thermodynamischen Maschinen

741

Die Verbrennungskraftmaschinen. Zu ihnen gehören alle diejenigen Maschinen, bei denen das arbeitende Gas durch Verbrennung entsteht und dabei eine hohe Temperatur erhält (meist über 1500 °C). D a bei einigen Maschinen die Verbrennung sehr schnell erfolgt, heißen sie auch Explosionsmotoren. Es ist lohnend, die genialen Gedankengänge hervorragender Geister nachzuerleben, die von der ersten „ L e n o i r m a s c h i n e " (1860) über N. A. O t t o (Gasmotor 1863), G. D a i m l e r (Vergaser mit Schwimmer 1890), R. D i e s e l (mechanische Brennstoffeinspritzung, Selbstentzündung bei Kompression, langsame Verbrennung, 1895) und vielen anderen zu den heutigen Automobilmotoren führten. Die Wirkungsweise eines im Viertakt arbeitenden „ O t t o - M o t o r s " zeigt Abb. XI, 76. Als Brennstoff wird ein Gas (Leuchtgas, Methan, Benzin-Benzol-Dampf usw.) verwendet. Im ersten Takt wird durch Bewegung des Kolbens (im Bild nach rechts) das Gas-Luftgemisch durch das geöffnete Eintrittsventil E angesaugt. Im zweiten Takt ist E geschlossen, und der zurückgehende Kolben komprimiert das Gemisch. Nachdem es durch einen Funken der Zündkerze bei geschlossenem Ein- und Austrittsventil gezündet worden ist, schiebt es im dritten Takt den Kolben wieder nach rechts, wobei es durch seine Expansion Arbeit leistet (Arbeitshub). Dann öffnet sich das Austrittsventil A, und der in die Anfangsstellung zurückgehende Kolben treibt die Verbrennungsgase aus dem Zylinder. Nach Schließen von A und Öffnen von E beginnt das Spiel von neuem. Bei diesem Viertakt-Verfahren erfolgt also nur bei jeder zweiten Umdrehung der Kurbelwelle im Zylinder eine Verbrennung, die zur Arbeitsleistung ausgenutzt wird. Man muß daher zur Erzielung eines einigermaßen regelmäßigen Ganges die Welle des Motors mit einem Schwungrad versehen oder mehrere Zylinder (bis zu 24) auf dieselbe Welle wirken lassen, wobei man durch passende Gestaltung der Kurbelwelle den Arbeitshub eines jeden Zylinders gegen die anderen um einen bestimmten Bruchteil versetzt. Wegen der hohen Verbrennungstemperaturen müssen die Zylinderwandungen der Motoren von außen durch Wasser oder nach Anbringen von Kühlrippen durch vorbeiströmende Luft gut gekühlt werden. In Abb. XI, 76 ist das (idealisierte) Arbeitsdiagramm des Otto-Motors eingezeichnet, wobei die während der betreffenden Phase durchlaufenden Teile dick ausgezogen sind. Das Diagramm unterscheidet sich dadurch von den bisher aufgetretenen, daß es außer dem geschlossenen Teil ABCDA, der die pro Zyklus geleistete Arbeit darstellt, noch einen ungeschlossenen Teil, nämlich die horizontale Gerade AE, besitzt. Die Bedeutung ist leicht zu verstehen. Fällt man nämlich von ihren Endpunkten A und E die Lote auf die Abszissenachse (Abb. XI, 76a), so ist EAGFE die Arbeit, die der äußere Luftdruck beim Füllen des Zylinders mit dem Gas-Luftgemisch während des ersten Taktes leistet. Genau die gleiche, aber negativ zu zählende Arbeit leistet im vierten Takt (Abb. XI, 76d) die Maschine gegen den äußeren Druck beim Auspuff des verbrannten Gases. Im ganzen heben sich daher diese beiden Arbeiten heraus, und so entspricht ihnen im Diagramm nur eine zweimal in umgekehrter Richtung durchlaufene Gerade, aber kein von Null verschiedener Flächeninhalt. (Wenigstens gilt dies für das idealisierte Diagramm der Abb. XI, 76. In Wirklichkeit geschieht der Auspuff unter etwas höherem als dem atmosphärischen Druck, und die beiden in Abb. XI, 76 zusammenfallenden Geraden tun dies nicht, sondern umschließen eine Arbeitsfläche. Diese ist negativ zu rechnen, da sie im umgekehrten Sinn wie die positive Arbeitsfläche ABCDA umlaufen wird. Zur Gewinnung der indizierten Arbeit ist die negative von der positiven Fläche zu subtrahieren.) Der Nachteil, daß nur während jeder zweiten Umdrehung Arbeit geleistet wird, fällt bei dem Zweit a k t - M o t o r fort. Bei diesem ist für eine Arbeitsperiode nur ein Kolbenhin-und-hergang, also eine Kurbelwellenumdrehung, erforderlich. Abb. XI, 77 zeigt in der bisher benutzten Darstellung die Arbeitsweise eines Zweitakt-Motors. In der Stellung a wird das bereits komprimierte Gasgemisch entzündet und treibt bei seiner Expansion den Kolben nach rechts. Kurz bevor der Kolben seine rechte Endstellung erreicht hat, gibt er in der Zylinderwand eine Anzahl Öffnungen frei, durch die die Auspuffgase abströmen können. In dem gleichen Augenblick tritt durch das Ventil S reine Luft (Spülluft), um die verbrannten Gase ganz aus dem Zylinder herauszutreiben. Gleichzeitig wird durch das Ventil E neuer Brennstoff (mittels einer Druckpumpe) eingeblasen. Beim zweiten Takt, dessen Beginn Abb. XI, 77b zeigt, wird das Gas-Luftgemisch vom zurückgehenden Kolben verdichtet, und der Vorgang wiederholt sich. Das in der Abbildung mit eingezeichnete Arbeitsdiagramm unterscheidet sich von dem des Viertakt-Motors durch das Fehlen des Ansaug- und Auspufftaktes. Ein typisches Merkmal des Diagramms des Zweitakt-Motors besteht darin, daß das Ende der Expansionskurve, d. h. der Auspuff beginn, und der Kompressionsbeginn, d. h. das Ende des Auspuffs, genau übereinander, aber ein bestimmtes Stück vom Umkehrpunkt des Kolbens entfernt liegen. Der die beiden genannten Stellen im Diagramm verbindende schnabelartige Teil stellt den Auspuff- und Füllvorgang dar. Wie man aus der Abbildung er-

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Thermodynamik

kennt, ist dies dadurch bedingt, daß der Kolben a m Schluß seiner Bewegung nach rechts allmählich die Auspufföffnung freigibt und sie beim Rückgang auch erst allmählich wieder verschließt.

Eine andere wichtige Verbrennungsmaschine ist der Dieselmotor. Für die Betrachtung seiner Arbeitsweise kann der rechte Teil von Abb. X I , 76 dienen. Beim ersten Takt wird im Gegensatz zum O t t o - M o t o r durch das Eintrittsventil E nur reine Luft eingesaugt, die beim zweiten Takt

Takt 1 •• Ansaugen

E schließt f

Takt 2=

Verdichten

'A öffnet

V

V

Takt 3-

Takt«••

Arbeitshub

Auspuff

E öffnet

Abb. X I , 76. Wirkungsweise des V i e r t a k t - O t t o - M o t o r s

Abb. X I , 77. Prinzipielle Wirkungsweise des Zweitakt-Motors

auf 30 bis 60 at verdichtet wird. Dadurch tritt eine so hohe Kompressionstemperatur (etwa 600 °C) auf, daß sich der am Anfang des dritten Taktes in den Zylinderraum eingespritzte flüssige Brennstoff ohne besondere Hilfsmittel entzündet. Der Brennstoff verbrennt also nicht so schnell wie bei den vorher beschriebenen O t t o - M o t o r e n , sondern allmählich, da der Vorgang des Einspritzens eine gewisse Zeit erfordert. Der dritte Takt ist der eigentliche Arbeitstakt. Im vierten Takt wird das verbrannte Gasgemisch aus dem Zylinder herausgetrieben. Abb. X I , 78 zeigt das Arbeitsdiagramm eines Viertakt-Dieselmotors. Es zeigt die „negative Arbeitsfläche" schraffiert.

Die thermodynamischen Maschinen P "2

Abb. XI, 78. Arbeitsdiagramm eines Diesel-Motors

743 2.

0_

3 '1

Der Hauptvorteil des Dieselmotors besteht darin, daß man zu seinem Betrieb billige Brennstoffe verwenden kann. Ein Nachteil ist sein großes Gewicht. Es werden heute Dieselmaschinen mit Leistungen bis zu 35000 PS gebaut. Ihr Gesamtwirkungsgrad kann über 40% betragen. Bei

Abb. XI, 79. Arbeitsweise des Drehkolben-(Wankel-)Motors. Der dreieckige Drehkolben dreht sich exzentrisch rechts herum, a) Ansaugen des Brennstoff-Luft-Gemisches (im unteren Teil dunkel); b) Kompression des Gas-Gemisches; c) Zündung. Die Verbrennung wird eingeleitet. In dieser Stellung kann noch kein Drehmoment auf den Drehkolben ausgeübt werden. Kurze Zeit später hat der Drehkolben die Stellung a). Das sich ausdehnende Gas befindet sich oben links im Teilbild a). In dieser Stellung des Drehkolbens kann das Gas wirken, d) Auspuff des verbrannten Gases (im oberen Teil dunkel) einer Verbrennungstemperatur von 2000 °C = 2273 K würde der theoretische Wirkungsgrad 86% betragen; er wird also zur Hälfte erreicht. Eine grundsätzlich neue Art des Verbrennungsmotors stellt der von F. W a n k e l konstruierte Drehkolbenmotor (Wankel-Motor) dar. Bei diesem wird die Hin- und Herbewegung des Kolbens, die ja wegen der Beschleunigungskräfte das Material stark beanspruchen, durch eine Drehbewegung des Kolbens ersetzt. Der dreieckige Kolben dreht sich exzentrisch in einem besonders geformten Gehäuse (Abb. XI, 79). Konzentrisch im Kolben befindet sich eine Innenverzahnung. Diese wälzt sich auf einem zur Motorwelle konzentrischen, mit dem Gehäuse fest verbundenen Zahnrad ab. Nur infolge der exzentrischen Lagerung des Drehkolbens kann ein Drehmoment von dem sich ausdehnenden Gas auf den Kolben ausgeübt werden. Die Abdichtung der Kammern untereinander an den Kanten des Drehkolbens ist technisch kein leichtes Problem. Dafür

744

Thermodynamik

hat dieser Motor aber keine Ventile. D a bei e i n e m Umlauf des Drehkolbens d r e i Gasfüllungen erfolgen, die Arbeit leisten, gibt ein kleiner W a n k e l m o t o r bereits erstaunlich viel Leistung ab. Zum Beispiel bei 1000 cm 3 Inhalt, 5500 Umdrehungen/Minute und einem Verdichtungsverhältnis von 9 : 1 ist die abgegebene Leistung 115 PS. Das max. Drehmoment beträgt 16,2 mkp bei 4500 U/min (NSU-Wankel-Motor). Selbstverständlich wird das Motorgehäuse außen gekühlt. Wärmepumpen und Kältemaschinen. Die thermodynamischen Maschinen können als praktische Realisierungen des C a r n o t s c h e n Kreisprozesses angesehen werden. Dieser aber kann als direkter und als inverser vor sich gehen. Es folgt dies auch direkt aus der Voraussetzung der Reversibilität. Wenngleich die praktisch ausgeführten Wärmekraftmaschinen diese Eigenschaft nicht besitzen, so kann man sie doch im umgekehrten Sinn laufen lassen, indem man ihnen Arbeit zuführt. Beim direkten Prozeß übernimmt die Maschine aus einem Reservoir die Wärmemenge Qi von der Temperatur 7 i , verwandelt einen Teil davon in nach außen abgegebene Arbeit A' und gibt die Differenz Q\ — Ä als Wärmemenge Qi an ein Reservoir von tieferer Temperatur Ti ab. Wärmemenge und Arbeit, die von der Arbeitssubstanz a u f g e n o m m e n werden, seien mit ß und A bezeichnet, die a b g e g e b e n e n Größen dagegen mit ß ' und Ä\ dabei ist natürlich Q = — Q',A = — A'. Was geschieht nun beim inversen Prozeß ? Die Arbeitssubstanz nimmt dabei eine Wärmemenge aus einem Reservoir der Temperatur T2 und ein bestimmtes Arbeitsquantum A auf. Sie liefert an ein Reservoir von der höheren Temperatur 7\ eine größere Wärmemenge Q\ ab, und zwar muß nach dem ersten Hauptsatz offenbar ß i ' = Q2 + A, d. h. die abgegebene Wärmemenge gleich der Summe der zugeführten Wärme und Arbeit sein. Die umgekehrt laufende Wärmekraftmaschine leistet also zweierlei: Erstens heizt sie ein Reservoir von der Temperatur T\, dem sie dauernd Wärme ( ß i ' ) zuführt, und zweitens kühlt sie ein Reservoir von der Temperatur Ti, dem sie dauernd Wärme (Q2) entzieht. Daraus ergibt sich, daß die unter Arbeitszufuhr umgekehrt laufende Maschine zwei Funktionen ausüben kann: Sie kann als sogenannte W ä r m e p u m p e zu Heizzwecken benutzt werden, und sie kann als K ä l t e m a s c h i n e zur Kühlung dienen. Wir betrachten zunächst die Eigenschaften der Wärmepumpe. Die von ihr bewirkte Heizung ist etwas ganz anderes als die gewöhnliche Methode, bei der mechanische, elektrische oder chemische Energie direkt in Wärme umgewandelt wird. Das sind ihrer Natur nach i r r e v e r s i b l e Prozesse, und die gewonnene Wärmemenge ist gleich der geleisteten Arbeit bzw. verschwundenen chemischen Energie. Die Heizung mittels der Wärmepumpe dagegen stellt — wenigstens im Prinzip — einen r e v e r s i b l e n Vorgang dar, und die zu Heizzwecken zur Verfügung gestellte Wärme ß i ' ist größer — unter Umständen erheblich größer — als die geleistete Arbeit A, da g l e i c h z e i t i g e i n e m R e s e r v o i r t i e f e r e r T e m p e r a t u r T2 d a u e r n d W ä r m e e n t z o g e n wird. D a als Reservoir ein großer See oder auch die Luft mit ihrem praktisch unerschöpflichen und kostenlosen Wärmevorrat dienen kann, erkennt man, daß diese „reversible Heizung" sehr vorteilhaft sein muß. Als Güteziffer r{ (unter Vermeidung des Wortes Wirkungsgrad) wird man hier sinngemäß das Verhältnis der abgegebenen, d. h. transportierten Wärmemenge ß i ' zu der aufgewendeten Arbeit A betrachten: ( X I , 86) Da nach dem 1. Hauptsatz A = Q{

+ Q2 und nach dem 2. Hauptsatz

ist, so kann man schreiben:

(XI, 87) Die Güteziffer r{ der Wärmepumpe ist gerade der reziproke Wert des thermischen Wirkungsgrades des C a r n o t s c h e n Prozesses

Die thermodynamischen Maschinen t] =

745

Tt-T2 Tt

Da dieser kleiner als 1 ist, muß r{ größer als 1 sein, und darin liegt gerade der Vorteil der reversiblen Heizung. D a es sich meistens um Erzielung mäßig hoher Temperaturen T\ handelt, für die r] sehr klein ist, ist gerade dann r{ recht groß, wie folgendes Beispiel zeigen möge: Eine Wärmepumpe soll die Wärme QI der Außenluft von der Temperatur — 10 °C = 263 K entnehmen, um ein Haus auf + 20 °C = 293 K zu heizen. Der thermodynamische Wirkungsgrad rj des C a r n o t - P r o z e s s e s zwischen diesen Temperaturen ist 0,.03(^0,3%); folglich ist die Güteziffer der Wärmepumpe: = 9,77 ( = 9 7 7 % ) . Man sieht, wie außerordentlich günstig eine derartige Heizung ist. Die Maschine wandelt also keine Energie um (z. B. chemische oder elektrische in Wärme), sondern t r a n s p o r t i e r t die vorhandene Wärmeenergie von einem Ort zu einem anderen. Es ist interessant, daß bereits Lord K e l v i n 1852 darauf aufmerksam gemacht hat. Die andere Funktion der umgekehrt laufenden Maschine ist die Kältemaschine. Sie besorgt die Abkühlung eines Reservoirs von der Temperatur Hier ist als Güteziffer sinngemäß zu setzen: (XI, 88) d. h. das Verhältnis der dem Reservoir entzogenen Wärmemenge ßg zur aufgewandten Arbeit A. Die analoge Rechnung ergibt hier: (XI, 89)

N

T2 T,-T2

1+1/

Diese Gleichung besagt zunächst, daß die Güteziffer einer Kältemaschine um so besser ist, je weniger sich die beiden Temperaturen voneinander unterscheiden. Es ist also unwirtschaftlich, mit der Temperatur 72 tiefer zu gehen, als sie gerade für den betreffenden Zweck gebraucht wird.

Verflüssiger

Abb. XI, 80. Prinzip einer Kältemaschine (z. B. eines Haushaltskühlschrankes). Der Kühlraum wird durch den Verdampfer gekühlt, weil in diesem eine Flüssigkeit infolge Unterdrucks zum Verdampfen gezwungen wird. Der Dampf wird vom Kompressor außerhalb des Kühlraums angesaugt, im Verflüssiger komprimiert und verflüssigt. Die dabei frei werdende Kondensationswärme wird durch Kühlrippen abgeführt

"füsrO Drosselventil

Verdampfer

Kühlraum

Die Wirkungsweise einer Kältemaschine ist mit Hilfe der Abb. XI, 80 leicht zu verstehen. Im Kühlraum befindet sich ein Gefäß (Verdampfer). In diesem Gefäß wird eine Flüssigkeit (z. B.

746

Thermodynamik

A m m o n i a k , F r e o n bzw. Frigen o d e r Schwefeldioxid u. a.) d a d u r c h z u m V e r d a m p f e n gezwungen, d a ß bei d e r Flüssigkeit der D r u c k d u r c h eine P u m p e erniedrigt wird. D i e e r f o r d e r l i c h e V e r d a m p f u n g s w ä r m e entzieht die Flüssigkeit der U m g e b u n g , also d e m K ü h l r a u m . A u ß e r h a l b des K ü h l r a u m s befindet sich d e r K o m p r e s s o r , d e r (mit H i l f e zweier Ventile) s o w o h l d e n U n t e r d r u c k im V e r d a m p f e r als a u c h d e n Ü b e r d r u c k (ca. 6 at) im V e r d i c h t e r erzeugt. D e r D a m p f w i r d im Verdichter verflüssigt. Die d a b e i frei w e r d e n d e K o n d e n s a t i o n s w ä r m e w i r d a n d e n A u ß e n r a u m abgegeben. H i n t e r einem H a u s h a l t s k ü h l s c h r a n k ist es i m m e r w a r m . E s ist die W ä r m e , die a u s d e m K ü h l r a u m s t a m m t , v e r m e h r t u m die K o m p r e s s i o n s a r b e i t . A u s d e m V e r d i c h t e r fließt die Flüssigkeit ü b e r ein Drosselventil wieder in den V e r d a m p f e r . D e r T r a n s p o r t d e r W ä r m e a u s d e m K ü h l r a u m in den A u ß e n r a u m erfolgt d u r c h die M o l e k ü l e des K ä l t e m i t t e l s im D a m p f z u s t a n d . Sie h a b e n einen g r ö ß e r e n A b s t a n d v o n e i n a n d e r als in der Flüssigkeit. D i e W ä r m e des K ü h l r a u m s wird also in potentielle E n e r g i e d e r D a m p f m o l e k ü l e u m g e w a n d e l t . Diese wird in d e n A u ß e n r a u m t r a n s p o r t i e r t u n d bei d e r Verflüssigung als W ä r m e wieder frei. I m Prinzip sind also eine W ä r m e p u m p e u n d eine K ä l t e m a s c h i n e gleich. W o l l t e m a n einen H a u s h a l t s k ü h l s c h r a n k als W ä r m e p u m p e betreiben, d a n n w ü r d e m a n den K ü h l r a u m ins F r e i e stellen, die T ü r ö f f n e n u n d die a t m o s p h ä r i s c h e L u f t a b k ü h l e n . D e r Verdichter w ü r d e sich i m H a u s befinden u n d es heizen. Solche A n l a g e n w e r d e n a n verschiedenen O r t e n b e n u t z t . Statt der A u ß e n l u f t die W ä r m e zu entziehen, w i r d o f t die W ä r m e v o n einem F l u ß o d e r einem g r ö ß e r e n See e n t n o m m e n . Selbstverständlich k ü h l t sich d a s W a s s e r d a b e i u m einige G r a d e a b . Bei g r o ß e n K ü h l h a l l e n o d e r E i s l a u f b a h n e n w e r d e n die B ü r o r ä u m e m i t der e n t z o g e n e n W ä r m e geheizt. In G e b i e t e n m i t h e i ß e n S o m m e r n b e n u t z t m a n kleine K l i m a a n l a g e n , die d e n R a u m in d e r h e i ß e n Jahreszeit k ü h l e n , dagegen in der k a l t e n Jahreszeit heizen. H i e r w i r d die M a s c h i n e wahlweise als K ä l t e m a s c h i n e o d e r als W ä r m e p u m p e b e n u t z t .

Aufgaben XI, 1

300 g Wasserdampf von 100 °C und 300 g Eis von 0 °C werden in ein Kalorimetergefäß gebracht. Welche Gleichgewichtstemperatur stellt sich ein, und was liegt dann in welchen Mengen v o r ?

XI, 2

Wie groß ist die innere Energie eines Mols eines idealen, einatomigen Gases bei der Temperatur r ? Wie groß ist sie, wenn die Moleküle zwei bzw. drei Atome haben? Welcher Anteil entfällt im Mittel auf ein Molekül? Welcher Beitrag zur inneren Energie m u ß bei den realen Gasen noch zusätzlich berücksichtigt werden ?

XI, 3

I kg Eis von — 30 °C (spez. Wärmekapazität von Eis 0,5 cal/g • grad) werde durch eine elektrische Heizung von 200 W erwärmt. Nach welcher Zeit ist es geschmolzen und wann sind 50% des in Wasser umgewandelten Eises verdampft? Umgebungsverluste seien vernachlässigbar. Schematisch möge der Verlauf der Temperatur in Abhängigkeit von der Zeit skizziert werden (1 cal — 4,19 Ws).

XI, 4

Wieviel Gramm Wasser befinden sich in 1 m 3 Luft von 20 °C bei einer relativen Feuchtigkeit von 75 % ? Der Sättigungsdampfdruck des Wassers bei 20 °C beträgt 17,5 T o r r ; der Wasserdampf ist wie ein ideales Gas zu behandeln.

XI, 5

Bei welcher Temperatur Tx schmilzt Wasser unter einem Druck von 250 atm?Die molare Schmelzwärme von Wasser ist A = 1440 cal/mol, die Dichte von Eis g Eia = 0,9 g/cm 3 . Bei der Berechnung setze man voraus, daß diese beiden Größen in dem Temperaturbereich von 0 °C bis Tx konstant sind.

XI, 6

Im Zylinder eines Dieselmotors werde die angesaugte Luft von 1 auf 40 atm verdichtet. Wie hoch ist die Endtemperatur bei streng adiabatischer Kompression und einer Anfangstemperatur von 22 °C?

XI, 7

Eine kleine Klimaanlage bläst im Sommer bei einer Außentemperatur von 30 °C kalte Luft von 20 °C in ein Zimmer, und zwar pro Stunde 100 m 3 . Was kostet der 12stündige Betrieb am T a g ?

XI, 8

Das Rathaus in Zürich wird mittels Wärme aus dem Zürichsee (Wassertemperatur 17 °C), die diesem mit Hilfe einer Wärmepumpe entzogen wird, auf 22 °C geheizt. D a s Wievielfache der aufzuwendenden Arbeit wird dabei als Wärme zur Heizung der R ä u m e transportiert?

XII. K a p i t e l

Tiefe Temperaturen 114. Einführung und Überblick Der Mensch hat bereits früh in seiner Entwicklung gelernt, höhere Temperaturen durch das Feuer zu erzeugen. Aber erst spät gelang es, tiefere Temperaturen herzustellen, als sie unter normalen, irdischen Verhältnissen vorkommen. Woran liegt das? Alle in der Natur spontan ablaufenden Vorgänge — dazu gehört auch die Verbrennung — sind mit einer Entropiezunahme verbunden, sofern man ein abgeschlossenes System betrachtet. Aus der statistischen Deutung des Entropiebegriffes kann man folgern, daß die Natur bestrebt ist, den wahrscheinlichsten Zustand zu verwirklichen. Dieser Zustand ist der der geringsten Ordnung im Sinne der Statistik. Temperatursenkungen sind im allgemeinen mit einer Verminderung der Entropie verbunden, mindestens in Teilen eines abgeschlossenen Systems. Um tiefere Temperaturen zu erzeugen, als sie unter normalen, irdischen Verhältnissen vorkommen, ist es also nötig, entgegen dem Bestreben der Natur, in gewissen Teilsystemen in gezielter Weise eine Entropiesenkung zu bewirken. Als Hilfsmittel dazu ist eine Menge an Materie geeignet, deren Entropie außer von der Temperatur in starkem Maße von einem weiteren, von außen veränderbaren Parameter abhängt (z. B. Druck, Magnetfeld, Konzentration einer Lösung). Das einfachste Beispiel dafür ist ein Gas, dessen Entropie bei konstanter Temperatur durch Erhöhen des Druckes erheblich vermindert werden kann. Wird dann das Gas bei konstanter Entropie (thermische Isolierung gegen Umgebung, reversibler Prozeß) entspannt, so tritt eine Temperatursenkung ein. Die anderen, zum Erzeugen tiefer Temperaturen verwendeten Prozesse verlaufen analog zu dem geschilderten. Die Abkühlung der Gase wird in den meisten Fällen so weit getrieben, daß sie schließlich flüssig werden. Die Flüssigkeiten stehen dann als ein Kühlmittel zur Verfügung. In der historischen Entwicklung stand zunächst das Ziel der Verflüssigung der bei Zimmertemperatur als Gase vorkommenden Stoffe im Vordergrund. Es zeigte sich jedoch bald der unauflösliche Zusammenhang zwischen Gasverflüssigung und Erzeugung von tiefen Temperaturen. Bei manchen Gasen gelang die Verflüssigung nur dann, wenn man sie mit Hilfe anderer, bereits verflüssigter Gase vorkühlte. Das Resultat war ein schrittweises Vordringen zu immer tieferen Temperaturen. Je weiter man in die Nähe des absoluten Nullpunktes kam, desto schwieriger wurden die erforderlichen Verfahren, weil ein immer größerer technischer Aufwand zur Entropieverminderung nötig ist. In diesem neuen Temperaturbereich zeigten sich bei dem Kühlmittel selbst (He) und auch bei der dadurch abgekühlten Materie völlig unerwartete Eigenschaften (Superfluidität, Supraleitfähigkeit), die bis dahin unbekannt waren. Im Verlauf der Entwicklung, die sich zunächst auf nur ganz wenige physikalische Laboratorien beschränkte, bildete sich der Begriff der ,,Tieftemperaturphysik'' heraus. Diese umfaßt sowohl die Erzeugung der tiefen Temperaturen als auch die Untersuchung der Materie bei tiefen Temperaturen. Inzwischen ist es in vielen Laboratorien möglich, Experimente bis herab zu 1 K auszuführen, da jetzt Geräte zur Verflüssigung der Gase oder die bereits verflüssigten Gase käuflich sind. Es handelt sich bei den verflüssigten Gasen meist um Luft oder Stickstoff und Helium. Mit abnehmender Temperatur kommen die Schwingungen der Atome immer mehr zur Ruhe und die Materie kondensiert. Gase werden flüssig und schließlich fest. Daher behandelt

Tiefe Temperaturen

748

die Tieftemperaturphysik auch die Physik der kondensierten Materie. Da das physikalische Verhalten der Materie nur mit Hilfe quantenmechanischer Prinzipien richtig wiedergegeben werden kann und da dies besonders auffällig bei tiefen Temperaturen der Fall ist, wird auch von der Physik der Energiequantisierung in kondensierter Materie gesprochen. Der Begriff „tiefe Temperatur" ist relativ; z. B. ist für das Elektronengas in Metallen sogar der Schmelzpunkt noch eine „tiefe Temperatur". Ein System wird nur dann durch eine Temperaturänderung stark beeinflußt, wenn die Energiedifferenzen, die einer möglichen Änderung des Systems zugeordnet sind, von der gleichen Größenordnung wie die thermische Energie sind. Es sei auch daran erinnert, daß die übliche Einteilung in Kelvingrade willkürlich ist. Sie ist zweckmäßig für Temperaturen, in denen wir leben. Eine Temperaturdifferenz von 0,1 bis 0,2 K ist keineswegs vergleichbar mit einer Temperaturdifferenz von 300,1 bis 300,2 K, obgleich zahlenmäßig die gleiche Differenz von 0,1 K vorliegt. Von den zahlreichen Anwendungen tiefer Temperaturen seien nur wenige Beispiele genannt: Der Stickstoff der Luft wird für die Herstellung von Düngemitteln gebraucht und wird aus der flüssigen Luft gewonnen. Verflüssigtes Erdgas wird in großen Behältern über das Mittelmeer transportiert. In Raketen werden flüssiger Wasserstoff und flüssiger Sauerstoff verwendet; die Reaktionswärme der beiden Gase dient zum Antrieb. Sauerstoff wird für Hüttenwerke, chirurgische Kliniken usw. in verflüssigter Form gespeichert. Wegen der starken Kondensation fast aller Stoffe werden Metallflächen, die sich auf tiefer Temperatur befinden, zur Herstellung hoher Vakua benutzt (Kryopumpen). In der Kernphysik werden die Blasenkammern mit flüssigem Wasserstoff gefüllt, um die Bahnspuren von Elementarteilchen nachzuweisen.

115. Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K In den Abschnitten 110 und 111 wurde bereits erwähnt, daß man die Lösungswärme, die Schmelzwärme und die Verdampfungswärme zur Kühlung verwenden kann (Kältemischungen, Verdunstungskälte). Hier sollen nun die physikalischen Prinzipien der technischen Verfahren zur Herstellung von Temperaturen unterhalb von 300 K bis herab zu 1 K beschrieben werden. Die Erzeugung von Temperaturen unterhalb von 1 K wird in Nr. 117 behandelt.

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Abb. XII, 1. Carresche Eismaschine

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Abb. XII, 2. Kompressions-Kältemaschine (Modell eines Kompressor-Kühlschrankes)

Die alte Carresche Eismaschine arbeitete folgendermaßen (Abb. X I I , 1): A und B sind zwei miteinander verbundene Metallgefäße, von denen B als doppelwandiger Becher ausgebildet ist.

Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K

749

A ist mit einer wässerigen, gesättigten Lösung von NH3 gefüllt. Nehmen wir an, das Wasser habe eine Temperatur von 0 °C, dann kann ein Liter Wasser 1200 Liter gasförmiges Ammoniak gelöst (oder absorbiert) enthalten. Nunmehr wird A erhitzt. Da die Löslichkeit von NH3 dann sehr stark abnimmt — ein Liter Wasser enthält bei 20 °C nur noch 700 Liter Ammoniak —, so wird das Gas ausgetrieben und erfüllt das Gefäß B mit allmählich steigendem Druck. Wird B etwa auf 20 °C gehalten, so wird das Ammoniakgas schließlich bei rund 8,5 atm flüssig. Nun stellt man die Heizung unter A ab und läßt das Wasser sich wieder abkühlen. Damit steigt die Löslichkeit des Ammoniaks in Wasser. Dieses nimmt allmählich immer mehr von dem vorher ausgetriebenen NH3 wieder auf. Der Druck des Ammoniakgases nimmt ab; das in B enthaltene flüssige NH3 verdampft wieder. Dabei entzieht es die erforderliche Verdampfungswärme von rund 300 cal/g seiner Umgebung. Der doppelwandige Behälter und ebenfalls die Stoffe, die sich in dem Behälter befinden, kühlen sich ab. Wenn die Ammoniaklösung in A wieder bei tieferer Temperatur (z. B. 0 °C) gesättigt ist, kann der Prozeß wiederholt werden. Zweckmäßig ist zwischen A und B eine Kühlschlange (Wasser) eingefügt, durch welche das sich komprimierende Gas abgekühlt, die Kompressionswärme also abgeführt wird und nicht in das kalte Gefäß B gelangt. Maschinen dieses Typs werden als A b s o r p t i o n s - K ä l t e m a s c h i n e n bezeichnet. Eine Variante davon sind die K o m p r e s s i o n s - K ä l t e m a s c h i n e n , bei denen NH3, SO2, Freon (Frigen), nicht in Lösungen, verwendet werden (Abb. XII, 2). In den beiden über ein Regulierventil R miteinander verbundenen Behältern A und B, die in Wirklichkeit aus Rohrschlangen gebildet werden, befindet sich z. B. flüssiges Ammoniak. Wird durch Abwärtsbewegung des Kolbens K in dem Zylinder Z, unter Öffnung des Ventils V2, der Druck über der Flüssigkeit im Gefäß B erniedrigt, so verdampft das Ammoniak und entzieht die hierzu erforderliche Verdampfungswärme einer den Behälter umfließenden Salzlösung. Die in den Zylinder Z eingesaugten Ammoniakdämpfe werden beim Rückgang des Kolbens wieder verdichtet und durch das Ventil Fi in das Gefäß A gedrückt. Dort kondensieren die NH3-Dämpfe wieder zu flüssigem Ammoniak, wobei die entstandene Kondensationswärme von dem A umspülenden Kühlwasser aufgenommen und fortgeführt wird. Um den Übertritt des flüssigen Ammoniaks aus dem Behälter A, in dem bei 20 °C ein Sättigungsdruck von rund 8,5 atm herrscht, in den Behälter B — dort ist der Druck bei —10 °C etwa gleich 3 atm — zu regeln, ist in die Verbindungsleitung ein Regulier- oder Drosselventil R eingebaut. Diese Kältemaschinen werden in Haushalts-Kühlschränken und Tiefkühltruhen, zur Erzeugung von Kunsteisbahnen und zur Kühlung von Räumen benutzt. Die vom Behälter B gekühlte Salzlösung wird oft durch Rohrleitungen zu besonderen Kühlern geleitet, die zur Vergrößerung ihrer Oberfläche mit Rippen versehen sind (C in Abb. XII, 2). Die Temperaturen, die man auf diese Weise erzielt, betragen etwa — 40 °C. Außerordentlich leicht kann man Abkühlungen herab bis zu — 78,2 °C durch festes CO2 (sogenanntes Trockeneis) erhalten. Die in Stahlflaschen unter einem Druck von etwa 70 atm aufbewahrte flüssige Kohlensäure (CO2) wird fest beim Ausströmen aus einer Stahlflasche, die umgedreht und geöffnet wird. Das CO2 wird durch den hohen Druck stark beschleunigt. Die hierzu erforderliche Beschleunigungsarbeit wird als Wärme dem CO2 entzogen; es kühlt sich ab. In einem Beutel vor der Öffnung sammelt man das feste CO2. Die großtechnische Herstellung für Kühlzwecke (z. B. Transportkühlwagen) ermöglicht den Kauf von festem CO2 zu mäßigen Preisen. Da das feste CO2 bei Atmosphärendruck verdampft, ohne flüssig zu werden, ist es stets mit einer sich ausdehnenden Schicht von gasförmigem CO2 umgeben. Diese verhindert einen guten Wärmekontakt. Man kann sich helfen, indem man Mischungen von geeigneten Flüssigkeiten (z. B. Spiritus, Äther) und zerstoßenem, festem CO2 herstellt. Man kann die Temperatur dieser Mischung noch dadurch senken, daß man den Druck über der Flüssigkeit durch eine Vakuumpumpe erniedrigt. Mit Äther erhält man so — 120 °C. Durch die ständige Verdampfung des Äthers aus der Flüssigkeit wird die erforderliche Verdampfungswärme dem flüssigen Äther entzogen.

750

Tiefe Temperaturen

Das gleiche Prinzip kann man selbstverständlich bei vielen Flüssigkeiten anwenden. SO2 siedet unter Atmosphärendruck bei — 10 °C, unter vermindertem Druck (durch kräftiges Abpumpen der gesättigten Dämpfe) bei — 65 °C. Methylchlorid (CH3CI) siedet unter Normaldruck bei — 24,1 °C; unter vermindertem Druck erhält man bis zu — 90 °C. Mit einem solchen Temperaturbad läßt sich Äthylen (C2H4), dessen kritische Temperatur bei + 9,2 °C liegt, unter Anwendung relativ niedriger Drucke verflüssigen. Durch Absaugen des gesättigten Dampfes kann man dann bei Äthylen Temperaturen bis zu — 165 °C erhalten. Da die kritische Temperatur des Sauerstoffs bei — 118 °C liegt, läßt sich mittels der durch Äthylen erreichbaren tiefsten Temperatur auch Sauerstoff durch Druckerhöhung verflüssigen, und wieder durch Absaugen des Dampfes eine tiefste Temperatur von — 217 °C erzielen. Der erste, der systematisch in dieser Weise von Stufe zu Stufe zu tieferen Temperaturen vordrang, war Pictet, dem 1877 mittels dieser Stufen- oder K a s k a d e n m e t h o d e tatsächlich die Verflüssigung von O2 gelang. In größerem Maßstabe hat dann K a m e r l i n g h - O n n e s in Leyden diese Anordnung benutzt, um flüssige Luft herzustellen. Es gelingt aber auf diese Weise nicht, Wasserstoff und Helium zu verflüssigen; denn deren kritische Temperaturen liegen bei — 240 °C, bzw. — 269 °C, also noch erheblich tiefer als die tiefste mit O2 erreichbare Temperatur von — 217 °C. Zur Verflüssigung von Wasserstoff und Helium muß ein anderes Prinzip angewendet werden. Es wurde von C a i l l e t e t durch einen Zufall zum ersten Mal zur Verflüssigung eines Gases benutzt. Infolge eines Fehlers zersprang eine Kapillare mit hochkomprimiertem Äthylen. Bei diesem Vorgang expandierte das Äthylen unter äußerer Arbeitsleistung in so kurzer Zeit, daß die hierfür notwendige Energie nicht als Wärme aus der Umgebung, sondern aus der inneren Energie des Gases entnommen wurde. Die Folge hiervon war, daß das Gas sich abkühlte und ein Teil davon sich verflüssigte. Es bildete einen feinen Nebel. Der Vorgang wird kurz als a d i a b a t i s c h e E x p a n s i o n unter äußerer Arbeitsleistung bezeichnet. Im Idealfall verläuft er isentrop. Im Jahre 1895 kombinierten W r o b l e w s k i und Olszewski die adiabatische Expansion mit der Kaskadenmethode, um Wasserstoff zu verflüssigen. Sie erhielten eine Kondensation von Wasserstoff in Form eines Nebels, der sich aber nach kurzer Zeit wieder verflüchtigte. Die bisher beschriebenen Methoden der Gasverflüssigung sind für technische Großanlagen, d. h. zur Verflüssigung großer Gasmengen, wie sie heute erforderlich sind, nicht geeignet. Hierfür sind Verfahren notwendig, die in einem kontinuierlichen Kreislauf die Gasverflüssigung ermöglichen. Die Erzeugung tiefer Temperaturen beruht stets auf der Verflüssigung solcher Gase, deren Siedepunkt unter Atmosphärendruck bei einer tiefen Temperatur liegt. 1895 ließen sich L i n d e und gleichzeitig (unabhängig von ihm) H a m p s o n ein Verfahren zur Verflüssigung von Gasen patentieren, das auch heute noch von grundlegender Bedeutung ist. Das Verfahren beruht auf dem J o u l e - T h o m s o n - E f f e k t in Verbindung mit einer Gegenstromvorkühlung (Wärmeaustauscher). Es wurde schon angedeutet, daß die beim Joule-Thomson-Effekt erforderliche Drosselung technisch anders zu realisieren ist, als es im Versuch Abb. XI, 13 erläutert wird. In den Verflüssigungsanlagen dient als Drosselstelle für das Gas ein Ventil, das in die Rohrleitung eingebaut ist. Auf der einen Seite des Ventils wird durch einen Kompressor stets ein bestimmter Gasdruck aufrechterhalten. Das Gas strömt durch das Ventil in einen größeren Raum und entspannt sich dabei im allgemeinen auf Atmosphärendruck. Bei der Entspannung des Gases in dem Drosselventil tritt eine Temperaturänderung auf, die unter bestimmten Bedingungen eine Temperaturerniedrigung ist und zur Abkühlung ausgenutzt werden kann. Der prinzipielle Verflüssigungsvorgang bei dem Verfahren nach L i n d e und H a m p s o n geht aus der Abb. XII, 3 hervor. Ein Kompressor K saugt durch das Ventil Vi Luft an, komprimiert sie auf 100 bis 200 atm und drückt diese sodann durch das Ventil in die Hochdruckleitung. In dem Abscheider T wird die komprimierte Luft von Ölresten, die aus dem Kompressor stammen, sowie vom natürlichen Gehalt an Wasser und Kohlendioxid getrennt. Danach strömt das Hochdruckgas durch eine Kühlschlange S, wo es die Kompressionswärme an das Kühlwasser abgibt. Erst jetzt tritt die Luft in den eigentlichen Verflüssiger ein, der im wesentlichen

Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K

751

aus einem Gegenstromwärmeaustauscher G, dem J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l R und dem Behälter B besteht. Die ganze Einheit befindet sich in einem Vakuummantelgefäß ( D e w a r - G e f ä ß ) oder ist mit einem schlecht wärmeleitenden Material gegen einen Wärmezustrom von außen isoliert. Das Gas strömt durch die Hochdruckleitung und wird an dem Drosselventil R entspannt. Es tritt also in den Behälter B nur noch mit einem geringen Überdruck gegenüber Atmosphärendruck ein. Aus dem Behälter B wird die Luft wieder zurück in den Kompressor geleitet. Wesentlich ist hierbei, daß die nicht verflüssigte, aber schon stark abgekühlte Luft im Gegenstrom die ankommende, komprimierte Luft vorkühlt. Der Anlaufvorgang der Verflüssigung ist also folgender: Nach dem Einschalten des Kompressors wird die Luft mit einer Tem-

Abb. XII, 3. Schematischer Aufbau einer Luftverflüssigungsanlage nach Linde peratur von etwa 293 K in den Gegenströmer G eintreten (sofern der erste Wärmeaustauscher S genügend groß ausgelegt ist, daß die ganze Kompressionswärme an das Kühlwasser abgegeben wird). Am Drosselventil R wird die komprimierte Luft isenthalpisch entspannt und kühlt sich ab ( J o u l e - T h o m s o n - E f f e k t ) . Im Behälter B wird sie also eine niedrigere Temperatur besitzen, die z. B. 260 K betragen kann. Diese kalte Luft strömt nun im Wärmeaustauscher G der komprimierten Luft von 293 IC entgegen und kühlt diese vor. Am Drosselventil entspannt sich diese Luft, die jetzt eine Temperatur von z. B. 270 K besitzt, und nimmt eine Temperatur von 240 K an. Diese abgekühlte Luft dient wiederum im gleichen Kreislauf zur weiteren Kühlung der Hochdruckluft. Der kontinuierlich fortschreitende Kühlprozeß der komprimierten Luft durch die entspannte kalte Luft läuft so lange, bis im Behälter B die Siedetemperatur der flüssigen Luft erreicht ist. Dann wird sich ein Teil der Luft verflüssigen, während der Rest wieder in den Gegenströmer eintritt und die Kühlung der komprimierten Luft übernimmt. Es stellt sich ein s t a t i o n ä r e r Z u s t a n d ein, der im allgemeinen nach 15 bis 30 Minuten erreicht ist. Da Stickstoff einen tieferen Siedepunkt und einen höheren Dampfdruck hat als Sauerstoff, ist die flüssige Luft sauerstoffreicher als normale Luft. Bei längerem Stehen an der Atmosphäre verdampft immer mehr Stickstoff, so daß die Flüssigkeit schließlich 50% Sauerstoff enthält. Man erkennt die Sauerstoff-Anreicherung an der zunehmend blauen Farbe der flüssigen Luft. Flüssige Luft wird nicht nur in großen Mengen zu Kühlzwecken gebraucht, sondern vor allem auch zur Gewinnung von Stickstoff und Edelgasen. In der folgenden Tabelle sind die in der atmosphärischen Luft enthaltenen Edelgase nach ihrem Prozentgehalt zusammengestellt. Ferner sind außer ihren Dichten im flüssigen Zustand die Siedetemperaturen aufgeführt. Verdampft man flüssige Luft, so entweicht zunächst das darin gelöste noch gasförmige Helium und Neon, dann verdampfen Stickstoff, Argon und Sauerstoff, während sich in den letzten Rückständen Krypton und Xenon finden.

752

Tiefe Temperaturen Gas

Prozentgehalt in atmosphärischer Luft

Dichte im flüssigen Zustand

Siedetemperatur bei 760 Torr in °C

Xenon Krypton . . . . Helium Neon Argon Sauerstoff.... Stickstoff . . . .

0,59 • 10"6 0,49 • 10"5 0,54 • 10"3 0,18 • 10"2 0,94 21 78

3,52 g cm" 3 2,15 „ 0,15 „ 1,20 „ 1,21 „ 1,13 „ 0,79 „

-109,1 -151,1 -268,8 -245,9 -186,1 -183,0 -195,8

Mittels einer einfachen Verdampfung der flüssigen Luft ist weder reiner Stickstoff als Gas noch reiner Sauerstoff als Flüssigkeit zu erhalten. Eine vollständige Trennung dieser beiden Komponenten der flüssigen Luft ist mit Hilfe einer Rektifikationssäule zu erreichen. Die Säule besteht aus einem zylindrischen Behälter, der mit Raschig-Ringen (Metall- oder Keramikringen) gefüllt ist; oder es befinden sich in der Säule statt der Ringe eine große Anzahl horizontal liegender Siebböden (Bleche mit Löchern). Die Rektifikation beruht auf der Tatsache, daß die Anteile von O2 und N2 der Flüssigkeit und des mit ihr im Gleichgewicht stehenden Gases verschieden sind für unterschiedliche Temperaturen. Bei einer Temperatur von 81 K hat die flüssige Luft z. B. einen Gehalt von 50% O2 und 50% N2, während der mit dieser Flüssigkeit im Gleichgewicht stehende Dampf eine Zusammensetzung von etwa 20% O2 und 80% N2 besitzt. Bei 78 K ist die Zusammensetzung der Flüssigkeit 15% O2 und 75% N2; das dazugehörige Gas enthält 5 % 0 2 und 95 % N 2 . Läßt man unter Druck bei höherer Temperatur (81 K) die flüssige Luft verdampfen und bei tieferer Temperatur (78 K) kondensieren, nachdem die verdampfte Luft von unten durch die Rektifikationssäule geströmt ist, so besitzt diese wieder kondensierte Flüssigkeit einen höheren Anteil an Stickstoff als der aufsteigende Dampf. Die rekondensierte Flüssigkeit wird nun von oben in die Rektifikationssäule eingeführt und rieselt entgegen dem aufsteigenden Dampfstrom herab. Durch die Raschig-Ringe bzw. die Siebböden wird erreicht, daß die Flüssigkeit eine große Oberfläche annimmt und gleichzeitig das ihr entgegenströmende Gas nur langsam aufsteigen kann. Das Gas und die Flüssigkeit werden also in innige Berührung gebracht. Es wird sich schließlich ein Gleichgewichtszustand einstellen. In der Gasphase wird der Stickstoff angereichert, während die Flüssigkeit an Stickstoff verarmt. Im stationären Zustand wird bei der tieferen Temperatur schließlich nur noch Stickstoff kondensieren. In der Abb. XII, 4 ist das Temperatur-Entropie-Diagramm für Luft dargestellt. Es ist dem für Wasser (Abb. XI, 34) sehr ähnlich, enthält jedoch zusätzlich zu den Isobaren noch die Kurven konstanter Enthalpie, die Isenthalpen. Der stationäre Zustand des im vorigen Abschnitt beschriebenen Verflüssigungsverfahrens läßt sich an Hand dieses Diagrammes folgendermaßen beschreiben: Ausgehend von einer Temperatur von etwa 290 K und einem Druck von 1 atm — dies ist der Normalzustand der Luft — wird die Luft komprimiert auf z. B. 100 atm. Hierbei nimmt sie eine Temperatur von 315 K an. Wenn man annimmt, daß der Vorgang isenthalpisch verläuft, so würde die Kompression auf der Isenthalpen h = 120 kcal/kg (s. Diagramm) verlaufen. Im Gegenstrom-Wärmeübertrager S wird die komprimierte Luft durch das Kühlwasser auf z. B. 290 K wieder abgekühlt. Der Druck des Gases bleibt dabei konstant (p = 100 atm). Die komprimierte Luft befindet sich nach Verlassen des Wärmeübertragers S in einem Zustand, der durch den Wert der Temperatur T = 290 K und dem Druck p = 100 atm beschrieben ist. Im Wärmeübertrager G wird die Luft weiter isobar abgekühlt auf etwa 160 K. Bei dieser Abkühlung nimmt die Enthalpie des Gases auf 60 kcal/kg ab. Im J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l wird das Gas isenthalpisch entspannt. Dieser Vorgang verläuft im Diagramm entlang der Isenthalpen h = 60 kcal/kg. Nach der Entspannung wird der Zustand der Luft durch die Werte T = 80 K und p = 1 atm beschrieben. Ein Teil des Gases hat sich bei der Entspannung verflüssigt, der andere Teil tritt als Niederdruckgas wieder in den Gegenström-Wärmeübertrager G ein. In

Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K

753

°K 320300 280 280 2i0

220 I 200

T

180 ISO HO

120 100 80 -0,1

0

0,1

0,2

0,3

OA

0,5

0,8

0,7

0,8

0,9

1,0

kcal/kg °K

Abb. XII, 4. Temperatur-Entropie-Diagramm für Luft. Die Entropie der flüssigen Luft bei 1 atm ist gleich Null gesetzt worden. Daher ergeben sich auch negative Werte der Entropie diesem nimmt es vom Hochdruckgas Wärme auf und verläßt ihn mit einer Temperatur von 290 K und einem Druck von 1 atm. Dies entspricht dem Ausgangszustand. Im stationären Zustand durchläuft also ein Teil der Luft einen Kreisprozeß, dem nur die Menge an Luft zugesetzt werden muß, die als Flüssigkeit nach der isenthalpischen Entspannung im Behälter B ausfällt. Die Ausbeute an flüssiger Luft läßt sich an Hand des TS-Diagramms berechnen. Da bei dem ganzen Prozeß die Enthalpie konstant bleibt — falls keine Wärme von außen zuströmt und am warmen Ende des Wärmeübertragers keine Temperaturdifferenz herrscht — brauchen wir nur für 1 kg Luft die Enthalpiebilanz aufzustellen: Die spezifische Enthalpie der mit dem Druck pi und der Temperatur T\ in den Wärmeübertrager einströmenden Luft sei h\. Die spezifische Enthalpie der mit dem Druck pz und der Temperatur T% = T\ den Wärmeübertrager verlassenden Luft sei hz, und die spezifische Enthalpie der Flüssigkeit (pz = P2, Tz) sei h-i. Wenn je kg komprimierter Luft e kg verflüssigt werden, so strömen (1 — e) kg durch den Austauscher zurück; die Bilanz lautet dann: oder

hl=(l

— e)h2 + eh3 s

=

h z h

h2-h3'

Für den oben beschriebenen Modellverflüssiger soll angenommen werden: p\ = 100 atm, p% = P3 = 1 atm, Ti = = 290 K, Tz = 80 K. Aus dem Diagramm sind dann die folgenden 48

Bergmann-Sdiaefer I. 8. Aufl. 1969

754

Tiefe Temperaturen

spezifischen Enthalpien zu entnehmen: h\ = 115 kcal/kg, - 120 kcal/kg und hz = 22 kcal/kg. Damit ergibt sich e = 0,05, d. h. nur 5 % der durch das Ventil strömenden Luft werden verflüssigt, ein nicht sehr befriedigendes Ergebnis. Die Ausbeute an verflüssigter Luft ist also bei dem eben beschriebenen Verfahren sehr gering. Sie kann jedoch erhöht werden, wenn die komprimierte Luft vor Eintritt in den Wärmeübertrager G noch besser vorgekühlt wird. Nimmt man an, die Eintrittstemperatur in den Wärmeübertrager könne auf 125 K gesenkt werden, so ist nach dem TS-Diagramm hi = 44 kcal/kg und hi = 80 kcal/kg; hz bleibt unverändert. Mit diesen Werten ergibt sich e = 0,62. Die Ausbeute würde also um das 12fache, bezogen auf das obige Beispiel, steigen. Eine Vorkühlung könnte z. B. mit einer einfachen (Ammoniak-)Kältemaschine vorgenommen werden. Eine wesentlich größere Ausbeute kann aber auch durch die Anwendung des Prinzips der Abkühlung durch adiabatische Expansion unter Abgabe äußerer Arbeit erreicht werden. Dieses Prinzip nutzte erstmals C l a u d e 1902 zur Gasverflüssigung technisch aus. In der Abb. XII, 5 ist das Schema eines Luftverflüssigers nach C l a u d e wiedergegeben. Der Hochdruckstrom wird aufgeteilt: Ein Teil der komprimierten Luft entspannt sich in einer Expansionsmaschine E (praktisch ist dies ein umgekehrt arbeitender Kolbenkompressor).

Abb. XII, 5. Schema des C l a u d e Verfahrens Hierbei kühlt sie sich ab. Dieser Teil tritt sodann in den Gegenstrom Wärmeübertrager (sogenannter Wärmeaustauscher) Gi und dient zur Vorkühlung des restlichen Anteiles des Hochdruckstromes. Dieser entspannt sich nach einer weiteren Abkühlung in dem GegenstromWärmeübertrager Gi isenthalpisch. Wenn die Expansion streng adiabatisch und reversibel, d. h. ohne Änderung der Entropie, geführt werden könnte, was sich leider nicht erreichen läßt, so wäre dieser Vorgang durch einen senkrechten Übergang zwischen den beiden Isobaren p± und im TS-Diagramm zu beschreiben. Zum Beispiel erhält man bei den Werten p\ = 100 atm, T\ = 300 K und pi = 1 atm die im

Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K

755

Verhältnis zum J o u l e - T h o m s o n - E f f e k t sehr große Temperatursenkung um etwa 220 K. Da aber aus verschiedenen Gründen eine Entropiezunahme dabei nicht zu vermeiden ist, wandert der Endpunkt der Expansion im Diagramm auf der Isobaren für p = 1 atm nach rechts, etwa zu dem Punkt s = 0,8 kcal/kg • K, d. h. die wirklich erzielbare Abkühlung ist wesentlich geringer; für unser Beispiel etwa nur halb so groß (s. Abb. XII, 4). Die von der Expansionsmaschine abgegebene Arbeit kann z. B. durch eine gemeinsame Kurbelwelle von Kompressor und Expansionsmaschine wieder ausgenutzt werden. Die Ausbeuteberechnung, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ergibt, daß bei gegebenem Hochdruck die in die Expansionsmaschine eintretende Luft eine bestimmte Temperatur haben muß. Die Durchflußmengen durch die Expansionsmaschine und durch das J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l müssen in einem bestimmten Verhältnis stehen, um eine möglichst große Ausbeute an flüssiger Luft zu erzielen. Dadurch wird ein dritter Wärmeübertrager Gz nötig. Für die Luftverflüssigung bei einem Hochdruck von 100 at ist die günstigste Temperatur der der Expansionsmaschine zugeführten Luft 240 K ; außerdem müssen 2/z der komprimierten Luft in der Expansionsmaschine und nur V3 im J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l entspannt werden. Für den einfachen Linde-Luftverflüssiger hatten wir eine Ausbeute von 5% berechnet; das darauffolgende Beispiel beschrieb etwa die Verhältnisse für das C l a u d e - V e r f a h r e n mit 100 at. Man kann also hier die Ausbeute des einfachen L i n d e - V e r f a h r e n s bei gleicher Kompressorleistung und damit gleichem Energieverbrauch etwa auf das Vierfache erhöhen, obwohl jetzt nur noch 1 /z der komprimierten Luft das J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l passiert. Durch Dampfdruckerniedrigung der flüssigen Luft können Temperaturen bis etwa 65 K erreicht werden. Wenn eine Abkühlung auf noch tiefere Temperaturen angestrebt werden soll, so muß eine Kühlung mit flüssigem Wasserstoff oder Helium vorgenommen werden. Beide Gase lassen sich aber nicht nach dem einfachen L i n d e - V e r f a h r e n verflüssigen. Dies geht aus den TS-Diagrammen der Gase hervor. In Abb. XII, 6 ist das TS-Diagramm für Helium dargestellt. Dasjenige für Wasserstoff ist sehr ähnlich. Man erkennt, daß die Isenthalpen, die den Verlauf des J o u l e - T h o m s o n Prozesses beschreiben, bei Zimmertemperatur und noch hinab bis zu tiefen Temperaturen ansteigen. Das bedeutet aber, daß sich der Behälter B (Abb. XII, 3) des einfachen L i n d e - V e r flüssigers nach dem Einschalten des Kompressors nicht abkühlen, sondern immer mehr erwärmen würde. Für die Flüssigkeitsausbeute e (Gl. XII, 1) bekommt man rein rechnerisch negative Werte, was natürlich nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß der J o u l e - T h o m s o n Effekt bei der Anfangstemperatur eine Erwärmung liefert. Bevor das Gas in den letzten Wärmeübertrager vor dem J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l eintritt, muß es unter eine bestimmte Temperatur, die Inversionstemperatur, vorgekühlt werden. Was also bei der Luftverflüssigung eine nicht unbedingt notwendige Maßnahme zum Erhöhen der Ausbeute war, ist bei Wasserstoff und Helium unumgänglich. Wie man aus dem Entropiediagramm entnehmen kann, liegt die Inversionstemperatur für Helium etwa bei 30 K ; unterhalb dieser Temperatur wird die Steigung der Isenthalpen negativ, d. h., daß der J o u l e - T h o m s o n - E f f e k t eine Temperatursenkung ergibt. Da auch hier die Gl. (XII, 1) gilt, ist man bestrebt, die Temperatur am warmen Ende des letzten Wärmeübertragers vor dem J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l möglichst tief zu halten. Als Möglichkeit dafür bietet sich die Vorkühlung mit anderen verflüssigten Gasen an oder die Abgabe äußerer Arbeit in Expansionsmaschinen, die in großen Anlagen durch Turbinen ersetzt sind. Die heute in Betrieb befindlichen, zum großen Teil industriell hergestellten Helium- und Wasserstoffverflüssiger machen von beiden Methoden der Vorkühlung Gebrauch, wobei beim C l a u d e Verfahren meist noch zusätzlich mit flüssigem Stickstoff vorgekühlt wird. D e w a r gelang 1898 die erste Wasserstoffverflüssigung, indem er mit flüssiger, unter vermindertem Druck siedender Luft vorkühlte. K a m e r l i n g h - O n n e s konnte 1908 erstmalig Helium verflüssigen, das er mit seiner Anlage vor dem Eintritt in den letzten GegenstromWärmeaustauscher durch flüssigen, unter etwa 60 Torr siedenden Wasserstoff vorkühlte. Eine besonders weite Verbreitung hat der 1947 von C o l l i n s entwickelte Heliumverflüssiger gefunden. Wie aus der Abb. XII, 7 hervorgeht, sind zum Vorkühlen zwei Expansionsmaschinen 48*

756

Tiefe Temperaturen

kg°K Abb. XII, 6. Temperatur-Entropie-Diagramm für Helium

eingesetzt, die in verschiedenen Temperaturbereichen arbeiten. Obwohl der Verflüssiger auch ohne jegliche Vorkühlung durch andere verflüssigte Gase betrieben werden kann, ist es doch günstiger, zusätzlich mit flüssigem Stickstoff vorzukühlen, weil dadurch die Verflüssigungsleistung verdoppelt werden kann. Die bisher beschriebenen, heute üblichen Verflüssiger beruhen alle auf dem L i n d e - H a m p son-Verfahren, das erstmals um die Jahrhundertwende erfolgreich angewendet wurde. Nach der allmählichen Vervollkommnung und Anpassung des Verfahrens an die verschiedenen Aufgaben schien es, als ob auf diesem Gebiet nichts wesentlich Neues mehr zu erwarten sei. Seit 1954

Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K

757

stellt jedoch die Firma Philips in Holland eine von K ö h l e r und J o n k e r s entwickelte Gaskältemaschine her, die einen unter Arbeitszufuhr umgekehrt laufenden Heißluftmotor darstellt. In den beiden, nach außen vollkommen abgeschlossenen Arbeitsräumen dieser Gaskältemaschine (Abb. XII, 8) führt die dauernd gasförmig bleibende Arbeitssubstanz, 5 g Wasserstoff oder 10 g Helium, einen inversen Stirling-Prozeß aus. Zur Beschreibung kann die Abb. XI, 67

Abb. XII, 7. Schema des HeliumVerflüssigers nach C o l l i n s

Abb. XII, 8. Einzylindrige Philips-Gaskältemaschine. Die Gesamthöhe der Maschine einschließlich Sockel beträgt 1,6 m

dienen, nur muß man sich die Pfeile umgekehrt denken. Ein für die Funktion der Maschine wesentliches Bauelement ist der Regenerator, den das Arbeitsgas auf seinem Weg von einem Arbeitsraum zum anderen jedesmal durchströmt. In der Abb. XII, 9 läßt sich der Weg leicht verfolgen: Vom Kompressionsraum (4) gelangt das Gas durch den Kanal (12) am wassergekühlten Wärmeübertrager (13) vorbei durch den Regenerator (14) in den Expansionsraum (5). Der Regenerator ist ein Wärmespeicher, dessen Funktion aus dem in der Abb. XII, 10 schematisch dargestellten Arbeitsablauf hervorgeht. Die in Klammern angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Abb. XII, 9. Phase 1: Das Arbeitsgas befindet sich im Kompressionsraum (4) und wird durch den Kolben (1) isotherm komprimiert. Die Kompressionswärme wird an das Kühlwasser (13) abgegeben. Phase 2: Der Verdränger (16, 17) transportiert das komprimierte Gas in den Expansionsraum (5), wobei es den Regenerator (14) durchströmt und durch Wärmeabgabe an diesen die Temperatur des Expansionsraumes annimmt.

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Tiefe Temperaturen

Phase 3: Das Arbeitsgas befindet sich im Expansionsraum und wird durch gleichzeitiges Abwärtsführen des Verdrängers und Kolbens isotherm expandiert. Die dafür notwendige Wärme wird dem Kondensator (18) entzogen, jphase 4: Der Verdränger transportiert das Gas in den Kompressionsraum zurück. Dabei nimmt es beim Durchströmen des Regenerators die vorher gespeicherte Wärme wieder auf und verläßt diesen mit der Temperatur des Kompressionsraumes, etwa Zimmertemperatur.

Erzeugung tiefer Temperaturen herab bis zu 1 K

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Nach einer Anlaufzeit von etwa 15 Minuten hat der Kondensator (18) eine Temperatur von 80 K erreicht, so daß an seiner dem Außenraum zugekehrten Fläche die Luft bei Atmosphärendruck flüssig wird und in die Sammelrinne (19) abläuft. Das Arbeitsgas entzieht dem Kondensator bei 80 K so viel Wärme, daß in der Stunde etwa 7,5 Liter flüssige Luft erzeugt werden. Der Kondensator ist mit einem Isoliermantel (21) und der Haube (22) umgeben. Frischluft tritt nur durch die Öffnung (23) ein und strömt durch die Löcher in den Platten (24), die durch ein Rohr (25) in Wärmekontakt mit dem Kondensator stehen. Auf diesen Platten, dem Eisabscheider, werden Wasserdampf und Kohlendioxid fest, so daß der Kondensator nicht mit Eis verunreinigt wird. Mit dieser Maschine können selbstverständlich auch andere Gase, deren Normalsiedepunkt über 80 K liegt, verflüssigt werden. Der große Vorzug besteht darin, daß man für das zu verflüssigende Gas keinen Kompressor braucht, und daß Beimengungen, die beim L i n d e - V e r fahren die Wärmeübertrager und das J o u l e - T h o m s o n - V e n t i l verstopfen würden, hier ohne Schwierigkeiten abgeschieden werden. Nur in relativ großen Zeitabständen muß bei Luftverflüssigung der Eisabscheider durch Auftauen gereinigt werden. Für eine größere Leistung ist eine Vierzylindermaschine mit einer gemeinsamen Antriebswelle konstruiert worden. In einer Weiterentwicklung wurde der Expansionsraum der Gaskältemaschine durch einen stufenförmig ausgeführten Verdränger in zwei Expansionsräume aufgeteilt. Dadurch konnte die Temperatur des Kondensators bis auf 12 K gesenkt werden, so daß nunmehr auch eine Kondensation von Wasserstoff unter Atmosphärendruck möglich ist; als Arbeitsgas kann dann selbstverständlich nur Helium verwendet werden. Schließlich wird diese Maschine auch zum Vorkühlen für einen Linde-Verflüssiger für Helium benutzt. — Es ist interessant zu bemerken, daß die Gaskältemaschine eine Rücklauf bremse enthält, ohne die sie nach Abschalten des Elekt-omotors schnell rückwärts, also als Heißgasmotor laufen würde (vgl. Abb. XI, 66). Die bisher beschriebenen Verfahren der Gasverflüssigung arbeiten alle mit einem kontinuierlichen Gasstrom. F. S i m o n gab 1932 für Helium ein anderes Verfahren an, das auf einer einzigen adiabatischen Expansion beruht, so daß nur eine begrenzte Menge an Flüssigkeit

760

Tiefe Temperaturen

gewonnen werden kann. Das Verfahren ist ein charakteristisches Beispiel für das in der Einführung geschilderte Prinzip zur Erzielung tiefer Temperaturen: Die Entropie eines Gases, in diesem Fall des Heliums, wird durch eine isotherme Kompression erniedrigt, bei der die Wärme an das umgebende Kühlbad abgegeben wird. Nach thermischer Isolierung erfolgt eine nahezu isentrope Expansion bis auf Atmosphärendruck, die eine solche Temperatursenkung herbeiführt, daß Verflüssigung eintritt. Der schematische Aufbau des S i m o n sehen Verflüssigers geht aus der Abb. XII, 11 hervor. Ein dickwandiges Expansionsgefäß (A) hängt an einem entsprechend dickwandigen Rohr in einem evakuierbaren Probenraum (B). Dieser wiederum taucht in ein Bad (C) mit flüssigem Wasserstoff ein, dessen Temperatur durch Abpumpen vermindert werden kann. Die Arbeitsweise ist folgende: Das Expansionsgefäß wird mit vorgekühltem Heliumgas bis zu einem Druck von 100 bis 200 at gefüllt. Währenddessen befindet sich im Probenraum Heliumgas mit einem Druck von einigen Torr, wodurch die auftretende Kompressionswärme vom Expansionsgefäß an das umgebende Wasserstoffbad weitergeleitet wird. Die Temperatur dieses Bades wird durch Absenken des Druckes, unter dem der Wasserstoff siedet, noch weiter herabgesetzt. Meist wird sogar der Tripelpunkt unterschritten, so daß der Wasserstoff fest wird. Sodann wird durch Evakuieren des Probenraumes das Expansionsgefäß thermisch isoliert. Die anschließende adiabatische und fast isentrope Expansion bis zu Atmosphärendruck bewirkt, daß ein beträchtlicher Anteil des vorher im Expansionsgefäß vorhandenen Heliumgases verflüssigt wird. Die Expansion muß nicht sehr schnell erfolgen. Je höher der Anfangsdruck und je tiefer die Anfangstemperatur — mit anderen Worten, je kleiner die Entropie des Anfangszustandes — war, desto größer ist die Flüssigkeitsausbeute. Zum Beispiel ist dem Anfangszustand 200 at und 11 K nach der Expansion auf 1 at der gesamte Raum des Expansionsgefäßes mit Flüssigkeit gefüllt. Dieser Tatbestand überrascht natürlich, wenn man bedenkt, daß in diesem Beispiel erfahrungsgemäß etwa die Hälfte des anfänglich vorhandenen Heliumgases das Expansionsgefäß verläßt. Das Problem findet seine Erklärung darin, daß das Heliumgas unter den genannten Anfangsbedingungen auf die doppelte Dichte der Flüssigkeit komprimiert war. Das im Expansionsgefäß nach der Expansion vorhandene flüssige Helium wird nicht entnommen, sondern dient dazu, ein außen am Expansionsgefäß angebrachtes Versuchsobjekt durch Wärmeleitung über das Metall abzukühlen. Eine wesentliche Voraussetzung für das Simonsche Verfahren ist, daß die Wärmekapazität des Expansionsgefäßes sehr klein gegen die des eingeschlossenen Gases ist. Trotz der erheblichen Wanddicke des Gefäßes ist diese Forderung erfüllt, da die spezifische Wärmekapazität des Behältermaterials (meist Kupfer) bei den üblichen Anfangstemperaturen bereits sehr klein geworden ist. Wenn nämlich die Wärmekapazität des Expansionsgefäßes nicht vernachlässigbar klein wäre, dann würde aus den Gefäßwänden dem expandierenden Gas noch soviel Wärme zufließen, daß es nicht mehr verflüssigt werden könnte. Das ist auch der Grund dafür, daß das Simonsche Verfahren gerade noch zum Verflüssigen von Wasserstoff, aber bereits mit nur sehr geringer Ausbeute, verwendbar ist, während es bei höher siedenden Gasen nicht mehr zur Verflüssigung führt. Die spezifische Wärmekapazität von Kupfer beträgt bei 20 K noch 0,0075 J/gK und bei 11 K nur noch 0,001 J/gK; sie ist also um den Faktor 7 gesunken. Durch die Lösung des Problems der Gasverflüssigung ist der Temperaturbereich von Zimmertemperatur bis herab zu etwa 1 K zugänglich geworden. Flüssiger Stickstoff siedet unter 1 at bei 77,4 K, sein Tripelpunkt liegt bei 63,1 K; flüssiger Wasserstoff siedet bei 20,4 K ; sein Tripelpunkt liegt bei 14,0 K. Man kann durch Abpumpen den Tripelpunkt erheblich unterschreiten, jedoch wird dann der Wärmeübergang zwischen dem zu kühlenden Objekt und dem festen Kühlmittel ziemlich schlecht. Der Normalsiedepunkt von Helium liegt bei 4,2 K ; durch Vermindern des Druckes über dem siedenden Helium kann man etwa 0,8 K erreichen; K e e s o m konnte 1932 mit einem sehr großen Aufwand an Vakuumpumpen die Temperatur auf 0,7 K senken. Um Temperaturen unterhalb von 1 K zu erzeugen werden Methoden benutzt, die völlig verschieden von den eben beschriebenen sind. Deshalb werden sie in einem gesonderten Abschnitt (Nr. 117) behandelt, nachdem die Eigenschaften des flüssigen Heliums besprochen worden sind.

Eigenschaften des flüssigen Heliums

761

116. Eigenschaften des flüssigen Heliums Helium ist ein besonders interessantes Element. Schon seine Entdeckungsgeschichte ist ungewöhnlich. Die Existenz von Helium wurde 1868 durch einen Zufall bei der Beobachtung des Spektrums der Sonnenkorona während einer totalen Sonnenfinsternis festgestellt. N. L o c k y er und J a n s s e n beobachteten in diesem Spektrum eine gelbe Linie in der Nähe des gelben Natrium-Dubletts. Zunächst wurde die Spektrallinie dem Wasserstoff zugeschrieben. Aber bereits 1871 wies L o r d K e l v i n darauf hin, daß diese Linie bisher in keinem Laboratorium der Erde in einer Flamme beobachtet wurde. Er sprach daher die Vermutung aus, daß sie einem bisher unbekannten Element zugeordnet werden müßte. Erst 1895 wurde diese Vermutung zur Gewißheit, als R a m s a y bei dem Versuch, in einem Uranerz Spuren von Argon spektroskopisch nachzuweisen, zum zweiten Mal — aber diesmal im Laboratorium — diese gelbe Spektrallinie beobachtete. Im gleichen Jahr stellte K a y ser fest, daß größere Mengen von Helium im Gas einer Quelle in Wildbach enthalten sind. Es begannen sofort Bemühungen, dieses Gas rein darzustellen und zu verflüssigen. Versuche in dieser Richtung von O l s z e w s k i 1896 und von D e w a r 1901 schlugen fehl. Erst 1908 konnte K a m e r l i n g h - O n n e s Helium verflüssigen. Er stellte eine Siedetemperatur von 4,2 K bei einem Normaldruck von 1 atm fest. Für die kritischen Daten des He fand er: Tjc = 5,22 K, pt — 2,29 atm. Von diesem Punkt (A) verläuft im (p, 7>Diagramm (Abb. XII, 12) zu tieferen Temperaturen und kleineren Drucken 50 atm 45-

40

35

? 25

20 15

10 5

Abb. XII, 12. p, T-Diagramm von Helium

0°K

hin die „ V e r d a m p f u n g s k u r v e " , längs der Flüssigkeit und Dampf im Gleichgewicht sind. Diese Kurve endet bei normalem Verhalten einer Substanz im „ T r i p e l p u n k t " , in dem Schmelzkurve, Sublimationskurve und Verdampfungskurve sich treffen. Nach dem Verhalten der Schmelzkurve des Heliums (steigendem Druck entspricht steigende Schmelztemperatur) sollte man ein Zustandsdiagramm analog der Abb. XI, 63 erwarten. Dafür würde gelten, daß Druck und Temperatur des Tripelpunktes die tiefsten Werte darstellen, bei denen die Substanz als Flüssigkeit existieren kann. Helium verhält sich aber anders. Die Schmelzkurve EFC, die in Abb. XII, 12 oben eingetragen ist, beruht auf Messungen von K e e s o m (1942) und Mitarbei-

Tiefe Temperaturen

762

tern, für die hohen Druckwerte auf Messungen von S i m o n und seinen Schülern (1929). Sie verläuft so, daß bei 1 K der Druck, unter dem flüssiges He fest wird, 25 Atmosphären beträgt. Der Verlauf der Kurve läßt auch bei 0 K einen hohen Druck von der gleichen Größenordnung erwarten. E s ist d e m g e m ä ß n i c h t m ö g l i c h , d a ß d i e S c h m e l z k u r v e u n d d i e Verd a m p f u n g s k u r v e f ü r He s i c h s c h n e i d e n : Es gibt also keinen Tripelpunkt für Helium. Die Verdampfungskurve verläuft vermutlich bis zu 0 K. Gasförmiges He geht bei keiner Temperatur unter dem Druck des gesättigten Dampfes in den festen Zustand über; dazu bedarf es, wie die Schmelzkurve zeigt, hoher Drucke. Bei 50 K beträgt der Schmelzdruck 7000 at! Eine „Sublimationskurve" gibt es demzufolge auch nicht: F l ü s s i g e s H e l i u m b l e i b t u n t e r s e i n e m D a m p f d r u c k a l s o b i s h e r a b zu 0 K f l ü s s i g . Der tiefere Grund für dieses Verhalten konnte, wie S i m o n erkannt hat, mit Hilfe der Quantentheorie (ungewöhnlich große „Nullpunktsenergie") erklärt werden. Wenn weiter nichts Anomales bzw. Unerwartetes bei He vorläge, würde das Zustandsdiagramm einerseits durch die Schmelzkurve, andererseits durch die Verdampfungskurve vollkommen bestimmt sein. Insbesondere würde dann die ganze Zustandsfläche zwischen beiden Kurven von flüssigem He eingenommen sein. In Wirklichkeit liegen die Verhältnisse aber nicht so einfach. Wenn man flüssiges He von seiner Siedetemperatur 4,2 K längs der Verdampfungskurve abkühlt, so zeigt sich bei der Temperatur 2,18 K etwas Neues. Wieder war e s K a m e r l i n g h O n n e s , der dies als erster (1913) bemerkt hat. Er bestimmte nämlich die Dichte des flüssigen He als Funktion der Temperatur unterhalb 4,2 K und erwartete, daß die Dichte mit abnehmender Temperatur ansteigt, was auch wirklich zwischen 4,2 und 2,18 K der Fall ist. Die bis 2,18 K erwartungsgemäß ansteigende Kurve zeigt aber bei dieser Temperatur ein deutliches Maximum, d. h. unterhalb 2,18 K fällt die Dichte mit abnehmender Temperatur ab. Eine ebensolche Anomalie weist die Dielektrizitätskonstante als Funktion der Temperatur auf; auch sie geht bei 2,18 K durch ein Maximum. Noch viel überraschender ist der Verlauf der spezifischen Wärmekapazität, der neben anderen Forschern von K e e s o m und C l u s i u s (1932) gemessen worden ist. Sie maßen die Molwärme C unter dem Sättigungsdruck und fanden das in Abb. XII, 13 dargestellte Ergebnis. Die Kurve gleicht einem griechischen Ä (Lambda); man hat daher

j

cal 9-°K

1 7 0 r0

y )

1,2

1,i

1fi



2,0

1

o

k 2,2

oA Abb. XII, 13. Spezifische Wärmekapazität von Helium in der Nähe des A-Punktes bei 2,18 K 2,1. 2,6

2,8 °K

die Erscheinung als „ ¿ - P h ä n o m e n " bezeichnet. Insbesondere nennt man den Punkt B auf der Verdampfungskurve, dem die Temperatur 2,18 K entspricht, den ¿ - P u n k t ; dazu gehört der Sättigungsdruck von rund 38 mm Hg. Mit steigendem Druck verschiebt sich der ¿-Punkt zu tieferen Temperaturen, die auf einer Kurve (der ¿ - K u r v e ) liegen, die im Punkte F (mit den Koordinaten T = 1,743 K und p = 29,09 atm) die Schmelzkurve (Abb. XII, 12) trifft. Zu beiden Seiten der ¿-Kurve besitzt flüssiges He, wie die obigen Beispiele zeigen, quantitativ und

Eigenschaften des flüssigen Heliums

763

qualitativ verschiedene Eigenschaften, so daß man zu dem Schluß genötigt wird, d a ß f l ü s s i ges He in 2 M o d i f i k a t i o n e n a u f t r i t t , d i e l ä n g s d e r ¿ - K u r v e m i t e i n a n d e r im G l e i c h g e w i c h t s i n d . Die Modifikation, die nach höheren Temperaturen zu liegt, wird als H e i , die andere als H e l l bezeichnet. Diese Namensgebung (von K e e s o m ) ist allgemein gebräuchlich und auch hier im Phasendiagramm (Abb. XII, 12) eingetragen. Eine interessante Beobachtung, die die Verschiedenheit von He I und He 11 deutlich macht, wurde schon vor längerer Zeit (1929) von M c L e n n a n , S m i t h u n d W i l s o n gemacht: Flüssiges Helium, dessen Temperatur T > 2,18 K ist (also He I), siedet heftig, wenn man durch Pumpen den Druck (und damit die Temperatur) erniedrigt. Es steigen dann aus dem ganzen Innern der Flüssigkeit zahlreiche Blasen auf, wie es beim Sieden normalerweise der Fall ist. Sobald aber die Temperatur von 2,18 K erreicht ist, wird die Flüssigkeit plötzlich klar und ruhig. Es steigen keine Blasen mehr auf, obwohl der Druck durch intensives Pumpen (und damit die Temperatur) weiter erniedrigt wird (Abb. XII, 14). K e e s o m hat zuerst (1935) die Erschei-

Abb. XII, 14. Helium I (links) und Helium II (rechts). Man sieht zweierlei: 1. D i e Blasen der siedenden Flüssigkeit fehlen rechts beim H e II wegen der großen Wärmeleitfähigkeit. 2. Helium I kann nicht durch die feinen Poren a m Boden des aufgehängten Gefäßes nach unten strömen wie die superfluide Phase von Helium II (nach K . M e n d e l s s o h n , Cryophysics, Interscience Pubi., New York und London)

nung richtig verstanden. Sein Gedankengang ist folgender: Damit Blasen auftreten, muß im Innern der Flüssigkeit die Temperatur höher sein als an der Oberfläche; denn da in den Blasen ein höherer Druck (schon wegen der Oberflächenspannung) herrscht, ist zu ihrer Bildung eine gegenüber der Oberfläche höhere Temperatur erforderlich. Es muß also ein Temperaturgefälle von unten nach oben vorhanden sein, was bei der gewählten Anordnung bei der Verdampfung von He I tatsächlich vorhanden ist. Denn von oben her wird He-Dampf abgesaugt, also zunächst die Oberfläche abgekühlt, während an der Unterseite noch die ursprünglich höhere Temperatur vorhanden ist. Diesem Temperaturgefälle wirkt natürlich die Wärmeleitfähigkeit entgegen, die ja das Temperaturgefälle auszugleichen sucht; bei außerordentlich großer Wärmeleitfähigkeit kann es dahin kommen, daß das Temperaturgefälle zwischen Oberfläche und Boden in sehr kurzer Zeit zum Verschwinden gebracht wird, bzw. überhaupt gar nicht auftritt. Das ist nach K e e s o m s Auffassung gerade der Fall beim Verdunsten von H e l l ; diese Flüssigkeit wirkt so, — vorsichtig ausgedrückt — „als o b " sie eine viel größere Wärmeleitfähigkeit als He I besäße. Es sei erwähnt, d a ß H e l l e i n e w e n i g s t e n s lOOmal g r ö ß e r e W ä r m e l e i t f ä h i g k e i t a l s K u p f e r a u f w e i s t . Im Gegensatz dazu hat H e i eine Wärmeleitfähigkeit X, wie sie bei normalen Flüssigkeiten beobachtet wird: Bei 2,5 K ist X ( H e i ) = 4,5 • 10~5, bei 4 K ist X (He 1) = 6 • 10~5 cal/cmsK. Zum Vergleich nehme man die Werte H2O und Benzol, die 1,5 • 10~5

764

Tiefe Temperaturen 5

bzw. 34 • 10~ cal/cmsK betragen. — Wir verlassen an dieser Stelle das Problem der Wärmeleitung des He II, um weiter unten in Verbindung mit den Erscheinungen der Zähigkeit von He II darauf zurückzukommen. Hier sei vorläufig nur bemerkt, daß es sich bei dem Wärmetransport in He II gar nicht um eine e c h t e Wärmeleitfähigkeit handelt. Die Untersuchung der Zähigkeit rj lieferte gleichfalls unerwartete und zunächst völlig unverständliche Ergebnisse. Die klassische Physik hat mehrere Methoden ausgebildet, um rj zu messen, die auch beim Helium angewendet worden sind. Eine Methode besteht in der Feststellung der Dämpfung einer Torsionsschwingung: Eine flache dünne Kreisscheibe, die an einem feinen Torsionsdraht hängt und in die Flüssigkeit vollkommen eintaucht, wird in Schwingungen versetzt; aus dem logarithmischen Dekrement ergibt sich r\ (genauer grj, wenn q die Dichte der Flüssigkeit ist). Die zweite Methode ist die bekannte von P o i s e u i l l e eingeführte, bei der die Flüssigkeit ein Rohr von bestimmter Länge und bestimmtem Querschnitt durchströmt. Die Durchflußmenge pro Zeit hängt bei gegebener Druckdifferenz an den Enden des Rohres nur von dessen geometrischen Daten und der Zähigkeit ab. Bei beiden Methoden muß darauf geachtet werden, daß die Flüssigkeitsbewegung laminar und nicht turbulent vor sich geht. Zunächst ist zu betonen, daß beide Anordnungen für He I g l e i c h e E r g e b n i s s e liefern, was man ja auch erwartet. Man erhält für He I folgende Zähigkeitswerte: bei 2,2 K ist rj s» 20 • 10" 6 Poise, bei 4,0 K ist rj 30 • 10~6 Poise, bei 5,0 K ist rj ™ 35 • 10" 6 Poise. Diese Werte sind etwa um eine Zehnerpotenz kleiner, als bei normalen G a s e n . Wie bei diesen steigt (im Gegensatz zu allen übrigen Flüssigkeiten) rj in He I mit steigender Temperatur (schwach) an, wie die mitgeteilten Zahlen zeigen. An diesen Verhältnissen scheint sich zunächst nicht viel zu ändern, wenn man das flüssige He unter die Umwandlungstemperatur 2,18 K abkühlt, so daß man es jetzt mit He II zu tun hat. Mit beiden bisher benutzten Methoden (Dämpfungsdekrement und Durchfluß) erhält man praktisch wieder wesentlich g l e i c h e Ergebnisse, wenn man bei der Durchströmungsmethode nicht zu enge und nicht zu lange Rohre verwendet. Unter dieser Voraussetzung ergab sich: Nach Messungen von K e e s o m und Mitarbeitern (1938—1941), die von de T r o y e r (1951) bestätigt und erweitert wurden, wurde mittels der Dämpfungsmethode festgestellt, daß die Zähigkeit von ihren Ausgangswerten zwischen 20 und 30 • 10~6 P oberhalb 2,18 K bei Unterschreitung dieser Temperatur schnell abfällt, bis bei 1,4 K der Wert von ungefähr 1 • 10~ 6 P erhalten wird. Bis zu 2 K herab wurden die gleichen Werte nach der Durchflußmethode von M e n d e l s s o h n (1949) bestätigt. Etwas unterhalb 2 K werden die gefundenen Zähigkeiten sogar kleiner als die für gasförmiges Helium! Trotz der Übereinstimmung der Ergebnisse nach beiden Methoden sind sie merkwürdig und sonderbar genug. Hier sollen einige Beispiele wiedergegeben werden, bei denen es nicht so sehr auf die Absolutwerte, sondern hauptsächlich auf die Temperaturabhängigkeit der Zähigkeit ankommt. Die Messungen sind im Jahre 1938 von K e e s o m und M c W o o d nach der Dämpfungsmethode vorgenommen worden. Die Absolutwerte liegen nach neueren Messungen etwas zu niedrig. Da Grund genug vorhanden ist, mit der Deutung noch vorsichtig zu sein, sollen die Ergebnisse dieser Messungen unter 2,18 K noch nicht endgültig als die wirklichen Zähigkeitswerte betrachtet werden. Man bezeichnet sie deshalb vorläufig mit dem Buchstaben rj'. T in K »;' in IO"6 P

1,4

1,5

1,6

1,7

1,8

1,9

2,0

2,1

1,20

1,60

2,14

2,9

3,9

5,3

7,4

12,6

Die außerordentliche Kleinheit von rj' legt es nahe, zu den Durchflußversuchen einmal außerordentlich enge Röhren und Kanäle zu benutzen, um auf diese Weise den Reibungswiderstand zu vergrößern. Die erhaltenen Resultate sind recht sonderbar, und sie haben lange Zeit

Eigenschaften des flüssigen Heliums

765

jedem Deutungsversuch widerstanden. Um die folgenden Ergebnisse in ihrer Seltsamkeit deutlich zu machen, sei an das Poiseuillesche Gesetz erinnert: /YIT r ,

(X11 2)

'

V

_nr*(Pi~P2)

~t~

87n

_7C

2 4 Pi r

' P2 1

A2

P1-P2

1

Das zeitliche Durchflußvolumen V/t, also die Stromstärke, ist hier ausgedrückt durch den Druckgradienten (pi — pz)/l, den Querschnitt A = r2n und die Zähigkeit >]. Diese Gleichung bedeutet, daß die Durchflußmenge dem Druckgradienten, dem Quadrat des Querschnitts direkt und der Zähigkeit ij umgekehrt proportional ist. Die mittlere Durchflußgeschwindigkeit c ist offenbar gegeben durch: — = r2it-c = Ac t

und durch Einsetzen in (XII, 2) folgt für c: (XII, 3)y v

871

/

r\

At

Sowohl V/t wie c können danach aus den Beobachtungen relativ einfach bestimmt werden, woraus sich dann r] berechnen läßt. Um besonders enge Kanäle zu bekommen, hat man verschiedene Versuche gemacht. Man hat z. B. ein Metallrohr von einigen Millimetern Radius mit mehreren tausend kleinen, parallel der Achse angeordneten Kupferdrähten angefüllt, dann den Querschnitt des umhüllenden Rohres durch Ausziehen so stark verkleinert, daß die Kupferdrähtchen in ein nahezu kompaktes Stück zusammengequetscht wurden. Immerhin waren noch Kanäle zwischen ihnen vorhanden, deren Durchmesser von der Größenordnung 10~3 bis 10~4 cm waren. Eine andere Methode bestand darin, ein Rohr mit einem feinen Pulver vollständig auszufüllen. Schließlich hat P. L. K a p i t z a (1935) eine Variante dieser Versuche angegeben, die ihm noch kleinere Durchmesser der Öffnungen lieferte (etwa 10~5 cm). Alle diese Anordnungen lieferten das gleiche Ergebnis: H e l i u m I v e r m o c h t e die e n g e n ( u n d z . T. u n r e g e l m ä ß i g e n ) K a n ä l e ü b e r h a u p t n i c h t zu d u r c h s t r ö m e n . H e l i u m l l d a g e g e n s t r ö m t e m i t g r ö ß t e r L e i c h t i g k e i t h i n d u r c h (Abb. XII, 14). Die Stromstärke, also die z e i t l i c h e D u r c h f l u ß m e n g e V/t, w a r v ö l l i g u n a b h ä n g i g v o m D r u c k . D i e m i t t l e r e D u r c h f l u ß g e s c h w i n d i g k e i t w a r um so g r ö ß e r , j e k l e i n e r der Q u e r s c h n i t t war. Auf die Temperaturabhängigkeit von Stromstärke V/t (und mittlerer Durchflußgeschwindigkeit c) wird später eingegangen. — K a p i t z a insbesondere fand für die „Zähigkeit'' etwa die Größenordnung von höchstens 10 - 1 1 Poise. Es liegt also ein deutlicher Widerspruch vor; und da man an den Messungen der verschiedenen Forscher nicht zweifeln kann, so muß der Grund in der besonderen Struktur von He II gesucht werden. Diese Struktur muß z. B. im Falle der Zähigkeit erklären können, warum die Methode der Schwingungsdämpfung eine Million mal größere Werte liefert als die Durchflußmethode bei Benutzung sehr enger Kapillaren. L. T i s z a ist der erste gewesen (1938), der den Vorschlag gemacht hat, H e l l als e i n e M i s c h u n g von 2 F l ü s s i g k e i t e n a u f z u f a s s e n . Man legt diesen beiden hypothetischen Flüssigkeiten gerade die Eigenschaften bei, — unter Umständen einander entgegengesetzte — die notwendig sind, um die widersprechenden Eigenschaften von He II zu deuten. Der e i n e n Flüssigkeit gibt man die Eigenschaften, die zur Erklärung des Verhaltens von He II, soweit es normal ist, also z. B. eine Zähigkeit t) oder eine Wärmeleitfähigkeit X, Diese Flüssigkeit heißt die n o r m a l e und erhält in allen ihren Eigenschaften den Index (normal), z. B. r]n, ?,n, usw. Die andere Flüssigkeit soll die anomalen Erscheinungen des He II verständlich machen. Denkt man an die Strömungsversuche durch enge Kapillaren, so wird man die Ergebnisse der zweiten Flüssigkeit zuschreiben. Man erkennt dieser die Zähigkeit

Tiefe Temperaturen

766

,,0" zu, womit man ihr die Fähigkeit verleiht, durch die engsten Kanäle unbehindert hindurchzutreten. M a n spricht dabei von der Superfluidität dieser Flüssigkeit, und gibt ihr den Index „s" (superfluid). Natürlich hat die ganze Konzeption zweier Fluida nur Sinn, wenn sie alle Erscheinungen, nicht nur die der Zähigkeit erklärt. M a n m u ß sich aber an dieser Stelle folgendes klarmachen: Die beiden Flüssigkeiten ,,«" und „ i " stellen k e i n e b e s o n d e r e n P h a s e n im Sinne der Thermodynamik dar, wie es doch für H e I und H e II zutrifft. Es ist das Ziel, eine Deutung des Verhaltens der beiden Flüssigkeiten ,,«" und ,,s" zu geben, z. B. eine hydrodynamische Interpretation (etwa als zwei verschiedene Bewegungszustände von H e II). Derartiges ist von mehreren Forschern mit Erfolg versucht worden (F. L o n d o n , L a n d a u , T i s z a u. a.). Nennt man die Gesamtdichte von H e l l einfach g, so hat man die Gleichung: ( x i i , 4)

es+e„=e.

Die Dichte des Heliums bei 4,2 K beträgt: q = 0,124 g cm~ 3 . Wie kann man nun gs (oder gn) als Funktion der Temperatur bestimmen? A n d r o n i k a s h v i l i , ein Schüler K a p i t z a s , hat (1946) zuerst den Weg dazu gezeigt. Er arbeitete mit dem schon kurz geschilderten Torsionsschwingungsapparat, den er folgendermaßen umgeändert h a t : An Stelle der e i n e n dünnen Kreisplatte, die in das flüssige H e II eingetaucht ist und durch eine geeignete A u f h ä n g u n g in Torsions-Kreis-Schwingungen in ihrer Ebene versetzt wird, benutzte A n d r o n i k a s h v i l i ein Aggregat von 50 im Abstand von 0,021 cm voneinander auf der Umdrehungsachse angebrachten Al-Scheiben (Abb. XII, 15). Die Dauer einer Schwingung

I Abb. XII, 15. Bestimmung des superfluiden Anteils von He II durch Dämpfungsmessung nach A n d r o nikashvili

\

Ii

§s/g

!

Qn-ISy 0

0,5

1,0

1,5

\

2,0

2,5

Abb. XII, 16. Superfluider (qs!q) und normaler ((¡nie) Anteil der Dichte bei He II als Funktion der Temperatur, nach Messungen von A n d r o n i k a s h v i l i und P e s h k o v

ist bekanntlich proportional der Quadratwurzel aus dem Trägheitsmoment. Es handelt sich hier nicht um die Bestimmung der D ä m p f u n g (aus der vorher rj bzw. rf abgeleitet wurde), sondern um die Bestimmung des Trägheitsmoments aus der Schwingungsdauer. N u n ist der Abstand der Scheiben so klein (0,021 cm) gewählt, daß das zwischen ihnen befindliche H e oberhalb 2,18 K von der Bewegung vollständig m i t g e n o m m e n w i r d . Solange man nicht mit der Existenz zweier miteinander vermischten Flüssigkeiten „ « " und „ s " rechnete, wurde bei den D ä m p f u n g s versuchen das Trägheitsmoment daher selbstverständlich als konstant betrachtet. N u n aber wird bei der Durchmischung von gs und on in H e II nur gn bei der Schwingung mitgenommen, nur der Anteil gn (statt bisher o = os — on\) beeinflußt das Trägheitsmoment, da der Anteil gs wegen mangelnder Reibung (Superfluidität!) von den schwingenden Scheiben nicht mitgenommen wird. Das Resultat ist also, da gn mit sinkender Temperatur abnimmt, daß das Trägheitsmoment immer kleiner wird, was sich aus der Verkürzung der Schwingungsdauer ergibt. Damit aber hat man im Prinzip (und auch tatsächlich) f ü r jede Temperatur den Bruchteil gn

Eigenschaften des flüssigen Heliums

767

der Gesamtdichte festgestellt. A n d r o n i k a s h v i l i hat 1948 die ersten Messungen zur Bestimmung von Qn ausgeführt. Die folgende Tabelle enthält Angaben, die nach seinen von P e s h k o v verbesserten Beobachtungen interpoliert sind. In einem Koordinatensystem, in dem die K e l v i n - T e m p e r a t u r als Abszisse, die Werte Qn/g und q s /q als Ordinaten aufgetragen sind, erhält man das Bild der Abb. XII, 16. Die Messungen sind mehrfach von anderen Physikern, auch nach verschiedenen Methoden, wiederholt und bestätigt worden. Das Ergebnis kann als eine Bestätigung der 2-Flüssigkeiten-Hypothese aufgefaßt werden. Und nun erkennt man von diesem neuen Standpunkt aus, daß die frühere Deutung der Dämpfungsmessungen, nämlich das Produkt (nif) und damit >/ zu liefern, unrichtig ist. Die Methode kann offenbar nur das Produkt {QnVn) des „«"-Anteils von H e II liefern, da ja der „s"-Teil keinen Beitrag zur Zähigkeit liefert. Die Vorsicht, die wir bei der Beurteilung der Messungen geübt T in K

2,2

2,1

2,0

1,9

1,8

1,7

1,6

1,5

1,4

1,3

Qnle

1,00

0,785

0,593

0,45

0,336

0,252

0,183

0,119

0,076

0,047

haben, war also berechtigt: Die damals provisorisch als Zähigkeit rf gedeuteten Werte sind nicht die „echten" Zähigkeiten in ihrer Abhängigkeit von der Temperatur, sondern die Werte (C'n'in)- Erst jetzt kann man, da die Werte g n bekannt sind, die wirkliche Zähigkeit rj n der »-Komponente von H e l l bestimmen. Bevor dies auf Grund der mitgeteilten Messungen geschieht, wird noch einmal auf die frühere Feststellung aufmerksam gemacht, daß die (vermeintliche) Zähigkeit rf bei etwa 1,5 °K auf rund */2o ihres Wertes bei 2,2 °K abgesunken sei. Diese Behauptung muß jetzt dahin abgeändert werden, daß nicht die wirkliche Zähigkeit, sondern das Produkt (rjnQn) die dort festgestellte starke Temperaturabhängigkeit besitzt. Wenn wir also die provisorischen Werte rf durch gn/g dividieren, so erhalten wir die wirklichen Werte der Zähigkeit rj n . In der folgenden Tabelle enthält die erste Spalte die Temperaturen, die zweite die vorher mitgeteilten Werte rf, die dritte die relativen Dichten o«/o und die vierte endlich

Es genügt ein Blick auf die 2. und 3. Spalte, um zu sehen, daß die Temperaturabhängigkeit von rf im wesentlichen auf der Änderung von g n /g beruht. Der Quotient von Spalte 2 und 3 liefert rjn, die nunmehr die außerordentlich starke Temperaturabhängigkeit von rf fast vollkommen verloren haben. T[K]

rf [10~ 6 P]

ßnle

2,1 2,0 1,9 1,8 1,7 1,6 1,5 1,4

12,6 7,4 5,3 3,9 2,9 2,14 1,60 1,20

0,785 0,59 0,45 0,336 0,252 0,183 0,109 0,076

Vn =

n —r Qnle

16 • 10~ 6 P 12,5 11,8 11,5 11,5 11,7 13,5 16,0

Es ist noch etwas über die Durchströmungsmethoden zu sagen. Solange man Röhren größerer Querschnitte benutzt und oberhalb von 2,18 °K arbeitet, verhält sich H e i , wie zu erwarten, völlig normal, entsprechend dem P o i s e u i l l e s c h e n Gesetz. Wenn man jetzt die Temperatur unter den A-Punkt senkt, trägt zur Reibung nur noch der Bruchteil gn bei, da ja os reibungslos ist. Zur Stromstärke V/t und zu c trägt aber die Gesamtdichte Qn + Qs = Q bei. Wenn man also von dieser Zweiteilung von He II nichts weiß, interpretiert man die Beobachtung so, als ob die Zähigkeit mit der Temperatur sehr stark abnähme, wie es alle älteren Angaben behaupteten.

768

Tiefe Temperaturen

Hat man sehr enge Röhren, durch die weder He I noch die «-Komponente von He II mehr hindurchfließen können, wird die ganze Erscheinung von der superfluiden ¿-Komponente allein beherrscht: Die Durchflußmenge P/f ist unabhängig vom Druck; die Geschwindigkeit c ist um so größer, je kleiner der Querschnitt ist. Die Temperaturabhängigkeiten von Vit und c sind genau die von qs (Abb. XII, 16). Es zeigt sich aber noch eine Besonderheit. Die Stromstärke der durch das Rohr strömenden Flüssigkeit ist nicht mehr dem Rohrquerschnitt r2n proportional sondern dem Rohrumfang 2 rn. Filmbildung der ¿-Komponente von He II. Aus der letzten Bemerkung geht hervor, daß die superfluide Flüssigkeit nicht mehr den ganzen Rohrquerschnitt ausfüllt, sondern nur noch in einer Schicht entlang der inneren Oberfläche des Rohres gleitet. I m s t ä r k s t e n G e g e n s a t z zur P o i s e u i l l e s c h e n S t r ö m u n g , b e i der j a die F l ü s s i g k e i t an der R o h r w a n d f e s t h a f t e t . Damit hängt eine alte Beobachtung von K a m e r l i n g h - O n n e s (1915) zusammen, daß alle Gefäße, die unabhängig und ohne Verbindung miteinander, partiell in ein Bad von He II (bei 1 °K) eingetaucht waren, sich automatisch soweit mit He II auffüllten, bis die Flüssigkeitsniveaus in ihnen mit dem des umgebenden Bades übereinstimmten, obwohl weder zwischen dem Bad und den einzelnen Gefäßen noch zwischen diesen selbst irgendwelche Verbindungen vorhanden waren. R o l l i n (1936) und S i m o n (1939) sprachen daher die Vermutung aus, daß He II in Gestalt eines dünnen Filmes die Gefäßoberfläche überziehe und so den Transport von He II zwischen dem Bad und den eingetauchten Gefäßen vermittle. Diese Hypothese wurde (1938/39) durch eingehende Untersuchungen von D a u n t und M e n d e l s s o h n zur Gewißheit. Sie zeigten experimentell, daß He II in Gestalt eines Films, dessen Dicke von ihnen zu rund 1 — 2 • 10~6 cm festgestellt wurde, über alle festen eingetauchten Oberflächen kriecht, sofern diese eine Temperatur unterhalb 2,18 °K besitzen; daß ferner dieser He IiTransport immer in der Richtung eines Niveauausgleichs vor sich geht (Abb. XII, 17a und b).

W

Q

Ä

ff V / / / / / / / / / / AV / / / / / / / / / Z .

ff

V/////////A.

'//////////A

'////////////////////////////////^ Abb. X I I , 17. Niveauausgleich (bei gleicher Temperatur) zwischen Becher und Bad durch Bildung einer superfluiden Schicht längs der Gefäßoberfläche; a) inneres Niveau hebt sich; b) inneres Niveau senkt sich; c) Becher entleert sich vollständig unter Tropfenbildung in das Bad (Versuche von D a u n t und M e n d e l s s o h n ) ; siehe auch Abb. X I I , 24

Besonders drastisch ist der folgende Versuch von ihnen: Wenn ein mit He II gefüllter Becher ganz aus dem Bad herausgehoben wird, so entleert sich dieser vollständig in das Bad, indem sein Inhalt mit Hilfe des Films bis zum untersten Punkte des Gefäßes befördert wird. Hier transformiert sich der Film von selbst in tropfbares He II, das wirklich in einzelnen Tropfen abfällt (Abb. XII, 17 c). Interessant ist es auch, daß die Geschwindigkeit, mit der der Film sich auf einer Oberfläche ausbreitet, direkt beobachtbar ist, woraus sich dann auch das Quantum des in der Sekunde transportierten He II ergibt. Die Temperaturabhängigkeit der Transportmenge je Sekunde ist übrigens identisch mit derjenigen von qs/q (Abb. XII, 16). Der Film erweist sich auch als reibungslos; es handelt sich offenbar in all den Fällen, in denen ein Film sich bildet, um die „¿"-Komponente des H e l l . Bei diesen Versuchen wurde die T e m p e r a t u r im g a n z e n S y s t e m ( B a d , e i n g e t a u c h t e G e f ä ß e und H e l l ) p e i n l i c h k o n s t a n t g e h a l t e n , so daß keine Temperaturdifferenzen auftraten. Was passiert aber, wenn man absichtlich z. B. eine Temperaturerhöhung des He II in einem der benutzten Gefäße erzeugt ? Man kann dies

769

Eigenschaften des flüssigen Heliums

r •

V/////////Ä

i

Abb. XII, 18. Niveauerhöhung bei Temperaturerhöhung im Innern des Bechers

z. B. so machen, daß man durch die Gefäßwände einen Draht einführt, der elektrisch geheizt werden kann, natürlich nur so wenig, daß die etwas erhöhte Temperatur im Innern immer noch unter 2,18 K bleibt. Dann stellt sich in diesem Gefäß das Niveau der Flüssigkeit h ö h e r ein (Abb. XII, 18). D e r aus der „ ¿ " - K o m p o n e n t e von H e l l b e s t e h e n d e F i l m bewegt sich von n i e d r i g e r e r zu h ö h e r e r T e m p e r a t u r . Dies zeigt sich immer bestätigt, wenn eine Temperaturdifferenz im System auftritt. Man kann dies durch einen sehr auffälligen Versuch zeigen (Abb. XII, 19); in der genannten Abbildung besteht das in einem Bad befindliche

I1 II Ii! Hl 1111

Abb. XII, 19. Springbrunnen-Effekt. Versuch von A l l e n und J o n e s (siehe auch Abb. XII, 24)

Einstrahlung

;

läüSK

System aus einer am unteren Ende erweiterten und umgebogenen Kapillare, deren oberes Ende ein wenig aus der Badflüssigkeit herausragt. Die rechtwinklige Biegung am unteren Ende wird mit Schmirgelpulver verstopft, so daß nur die „¿"-Komponente durch das Mundstück M eintreten kann. Jetzt erhöhen wir die Temperatur am unteren Ende, indem wir z. B. von einer starken Glühlampe Strahlung darauf fallen lassen. Diese wird in dem Schmirgelpulver absorbiert. Als Folge der Temperaturerhöhung wird sich in dem Behälter mit dem Schmirgelpulver ein Teil der superfluiden Flüssigkeit in normales Helium umwandeln. Aus dem umgebenden Helium wird aber durch die Öffnung M stets neues superfluides Helium nachströmen, da die Flüssigkeit bestrebt ist, das Konzentrationsgefälle des superfluiden Anteiles auszugleichen. Die normalfluide Flüssigkeit dagegen kann durch das Schmirgelpulver und die Öffnung M nicht schnell genug herausströmen. In der Kapillare entsteht ein Überdruck, der die Flüssigkeit nach oben heraustreibt. Am oberen Ende tritt ein Springbrunnen von He II auf, der bis zu 30 cm Höhe erreichen kann (Allen und J o n e s 1938). Es bleibt bei diesem Versuch zu erklären, was mit der „«"-Komponente passiert, die ja durch die schnelle Bewegung der s-Komponente fort49

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 8. A u f l . 1969

770

Tiefe Temperaturen

getrieben wird. Als „Normal"-Komponente fließt sie — umgekehrt wie die „¿"-Komponente — von höherer zu niederer Temperatur. Dabei gibt sie Wärme an die kältere Umgebung ab. Solange ein Temperaturgefälle in He II vorhanden ist, fließt die ¿--Komponente auf die wärmeren Stellen hin, die «-Komponente von ihnen fort. Wir haben also im Grunde zwei K o n v e k t i o n s vorgänge vor uns, die beide zusammen das bewirken, was man W ä r m e l e i t f ä h i g k e i t nennt. Da im ganzen keine Flüssigkeitsbewegung stattfindet, weil die eine Konvektion die andere kompensiert, war vor der Erkenntnis, daß es 2 Flüssigkeitsformen in H e l l gibt, die sog. „Wärmeleitung" unverständlich. Die thermischen Vorgänge bilden daher eine der Stützen für das Zwei-Flüssigkeiten-Modell. Schall- und Temperaturwellen in He II. Zu den physikalischen Prozessen, deren Verhalten man beim Durchschreiten des /-Punktes untersucht hat, gehört die Ausbreitung von Schallwellen in flüssigem Helium. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit ci ergibt sich aus der bekannten Gleichung (XII, 5)

Cl

=

in welcher K der Kompressionsmodul und Q die Dichte ist. Es ist in dieser Gleichung rechts der Faktor x = Cp/Cv ausgelassen, d. h. wir haben die Schallausbreitung in He als isotherm, nicht als adiabatischen Vorgang angesetzt. D a bei den tiefen Temperaturen, die hier in Betracht kommen, C P IC V = x nur um wenige Prozent von 1 verschieden ist, hat diese Vernachlässigung keine praktische Bedeutung; außerdem wird die i s o t h e r m e elastische Welle sich einfacher der unten zu besprechenden Temperaturwelle gegenüberstellen lassen. Die Kompressibilität ist nicht genügend bekannt; die Gl. XII, 5 dient umgekehrt dazu, sie mit Hilfe der gemessenen Geschwindigkeit c\ zu bestimmen. Die Ergebnisse sind stark vom Druck abhängig; wir beschränken uns hier auf den Fall, daß He unter seinem Sättigungsdruck steht. Die Werte von ci schwanken zwischen 180 m/s bei 4,2 K und einem Maximalwert 225 m/s bei etwa 2,6 K. Beim /I-Punkt hat die ci als Funktion von T darstellende Kurve einen scharfen Knick und sinkt schroff auf 216 m/s, um dann langsam bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt anzusteigen. Bei 1,25 K hat ci schon den Wert 237 m/s erreicht, und bei einer Extrapolation auf Null Kelvin würde man etwa auf 255 m/s schließen. Das anomale Verhalten beim /I-Punkt ist sehr deutlich ausgeprägt: Der Abfall von ci erfolgt so jäh, daß genaue Messungen in dieser Temperaturgegend sehr schwierig sind; z. B. ist es sehr wohl möglich, daß der genaue Wert von ci beim /".-Punkt erheblich kleiner ist, als oben angegeben. — Eine Übersicht über die Werte cx gibt die untenT[K]

cx in m/s

T[K]

cx in m/s

4,20 4,00 3,00 2,50 2,25 2,20 2,18

180 190 218 222 220 219 216

2,10 2,00 1,90 1,80 1,50 1,25 0

222 227 229 232 235 237 (255?)

stehende Tabelle. Zu erwähnen ist noch, daß die Messungen mit einer Ultraschallapparatur gemacht wurden, indem stehende Wellen erzeugt und der Abstand der Knoten und Bäuche gemessen wurde. Die Versuche wurden mit verschiedenen Frequenzen durchgeführt, ohne daß sich eine nachweisbare Änderung von ci ergeben hätte; es zeigte sich also keine Dispersion. Wir brauchen nicht näher auf diese gewöhnlichen Schallwellen einzugehen, da das Hauptinteresse sich auf die im folgenden zu besprechenden Temperaturwellen konzentriert. Es ist das Verdienst von T i s z a , von dem ja der Vorschlag der Annahme zweier Flüssigkeiten in H e l l herrührt, auch als erster (1940) erkannt zu haben, daß in H e l l noch ein anderer Wellentyp möglich ist, der im Gegensatz zu den gewöhnlichen elastischen Wellen steht. Zu

Eigenschaften des flüssigen Heliums

771

diesem Zweck wollen wir etwas genauer erörtern, wie die elastischen Wellen konstituiert sind und legen dabei besonderen Nachdruck auf die Voraussetzung, die Ausbreitung als einen i s o t h e r m e n Vorgang zu betrachten. Das bedeutet, daß in der Welle an j e d e r S t e l l e d e r s e l b e n das g l e i c h e V e r h ä l t n i s gn/Qs b e s t e h t , das j a durch die Temperatur bedingt ist. Was sich in diesen Wellen periodisch ändert, ist die Gesamtdichte Q (oder der Druck p), wobei aber, wie gesagt, Qnl'Js konstant bleibt. Die zweite Art von Wellen ist kein elastischer Vorgang in diesem Sinne; b e i i h n e n s c h w a n k t die G e s a m t d i c h t e Q n i c h t , w o h l a b e r die T e m p e r a t u r ; v o n d i e s e r a b e r h ä n g t d a s V e r h ä l t n i s gn/Qs a b , — man vgl. z. B. Abb. X I I , 16 —. Wir haben also folgendes Schema: 1. elastische Schallwellen: Q periodisch, QnjQs konstant. 2. Temperaturwellen:

Q

= Qs + GN konstant,

QKSQS

periodisch.

Wir haben hier die Verhältnisse etwas idealisiert, um den fundamentalen Unterschied der beiden Wellentypen möglichst scharf zu zeichnen. In Wirklichkeit liegen die Dinge nicht ganz so extrem. Denn da die elastischen Wellen j a de facto nicht isotherm, sondern adiabatisch verlaufen, treten doch kleine Temperaturvariationen, z. B. kleine Schwankungen von Qn¡Qs auf; aber es bleibt bestehen, daß im Vergleich zur periodischen Änderung von q die von o n / o s von geringerer Größenordnung ist. U n d genau so verhält es sich auch mit den Temperaturwellen: Hier ist die Periodizität von Qn¡Qs überwiegend gegenüber einer kleinen Änderung von Q. — In der englischen Literatur werden die Temperaturwellen als „second s o u n d " und die normalen Schallwellen als „first s o u n d " bezeichnet.

Die Temperaturwellen sind zuerst von P e s h k o v (1944) erzeugt und untersucht worden. E r benutzte als Wärmequelle einen sehr dünnen Konstantandraht, der spiralig auf einer ebenen Grundplatte angeordnet war, um eine flächenhafte Quelle zu haben. Der Draht wurde von einem Wechselstrom (die Frequenzen schwankten zwischen 10 2 und 10 4 s _ 1 ) durchflössen. Wegen der kleinen Wärmekapazität des Drahtes folgte die Temperatur der J o u l e s c h e n Wärme unmittelbar, so daß in der umgebenden Flüssigkeit Temperaturschwankungen von der doppelten Frequenz entstanden, die sich wellenartig ausbreiteten. Als Empfänger diente ein Widerstandsthermometer, das ähnlich wie der Sender flächenhaft ausgebildet war. Sender und Empfänger waren gegeneinander verschiebbar angeordnet, so daß die Abstände der Knoten und Bäuche der entstandenen stehenden Welle festgestellt werden konnten. So wurde die Fortpflanzungsgeschwindigkeit C2 dieses zweiten Wellentyps gemessen. Von den Meßergebnissen von C2 sei zunächst nur hervorgehoben, daß c% im allgemeinen erheblich kleiner als ci ist. Während die Schallwellen natürlich auch oberhalb des ^-Punktes existieren, setzen die Temperaturwellen erst unterhalb von 2,18 K ein. Sowohl von T i s z a wie von L a n d a u sind Theorien entwickelt worden, von denen wir hier nur ein Resultat angeben können: nach T i s z a soll (T=0 K) = 0 sein. Die Messungen haben gegen die T i s z a s c h e Vermutung entschieden. Es ist sicher, daß wie es die L a n d a u s c h e Theorie behauptet, c%(T=0 K) der Größenordnung nach vergleichbar mit ci(0)/j/3 ist, wie aus den folgenden Zahlenangaben von P e s h k o v , P e l l a m , de K l e r k , A t k i n s und O s b o r n e hervorgeht. Ob aber die Gleichung von L a n d a u ( X I I , 6) wirklich quantitativ erfüllt ist, ist wohl noch nicht mit Sicherheit entschieden, da gerade im Bereich der tiefsten Temperaturen die Messungen von A t k i n s und O s b o r n e einerseits und von de K l e r k anderseits divergieren, wie die Tabelle zeigt. Bei strenger Erfüllung von (XII, 6) müßte nach der vorhergehenden Tabelle C

2 (0) =

255

255

1/3

!>7

= 150 m/s

sein. Nach den Messungen von A t k i n s und O s b o r n e scheint die Gleichung erfüllt zu sein, nach denen von de K l e r k und Mitarbeitern soll aber C2 (0) ^ 183 m/s sein. Die definitive Entscheidung steht noch aus. 49»

Tiefe Temperaturen

772

T[K]

c2 in m/s

2,18 2,176

3,0 3,12

2,150 2,00 1,936 1,79 1,63 1,52

9,0 16,77 18,0 19,7 20,2 20,0

e2 in m/s

T [K]

c2 in m/s

T [K]

A t k i n s und Osborne

de K l e r k u. a.

1,45 1,40 1,35 1,30 1,25 1,20 1,00 0,90 0,86

19,95 19,78 19,55 19,20 18,95 18,75 19,40 21,20 23,00

0,8 0,7 0,6 0,5 0,45 0,40 0,30 0,20 0,10

25 29 42 51 62,5 71 133 148 150

29 34 140 172 146 150 162 178 183

Alle bisher vorgeschlagenen Theorien gehen von Ergebnissen der Quantentheorie aus, z. B. die von F. L o n d o n vorgeschlagene, die an die Erscheinung der G a s e n t a r t u n g anknüpft, und die Theorien von T i s z a und L a n d a u . An dieser Stelle ist es unmöglich, eingehender darüber zu berichten. Da die Helium-Kerne aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen, haben sie den Spin Null. Die beiden Elektronen der Hülle des Atoms haben im Grundzustand entgegengesetzten Spin, so daß auch der Gesamtspin des .¿He-Atoms Null ist. Damit gehorcht das 4 He-Atom der B o s e - E i n s t e i n Statistik. Diese ist eine besondere Art der Quantenstatistik und beschreibt das Verhalten eines aus g l e i c h a r t i g e n , nicht unterscheidbaren Teilchen bestehenden Gases. Im Falle einer starken Entartung verhält sich das Gas ähnlich wie ein gesättigter Dampf im Gleichgewicht mit der flüssigen Phase. Die Atome mit der kleinsten translatorischen Energie entsprechen der Flüssigkeit, während die Atome mit höherer Energie dem Dampf entsprechen. Am A-Punkt zeigt das Verhalten des flüssigen Heliums eine Ähnlichkeit mit der B o s e - E i n s t e i n - K o n d e n s a t i o n im Impulsraum ( E i n s t e i n , 1924). Die Zahl der Moleküle im Grundzustand steigt mit abnehmender Temperatur unterhalb der Kondensationstemperatur stark an, bis sich in unmittelbarer Nähe von 0 K alle Teilchen im gleichen Zustand — dem Kondensationszustand — befinden. (Das ist nur möglich für Teilchen, die nicht dem Pauli-Prinzip unterworfen sind, also der Bose-Einstein-Statistik gehorchen.) Danach können die supraflüssigen He-Atome keinen Impuls übertragen. Sie besitzen nur noch die Nullpunktsenergie. Da sie keinen Impuls übertragen können, bewegen sie sich ohne Reibung an einer festen Wand entlang oder zwischen anderen He-Atomen hindurch. Versetzt man einen zylindrischen Behälter mit flüssigem Helium oberhalb des A-Punktes in eine Rotationsbewegung um die vertikale Achse, so wird das Helium durch Reibung mitgenommen und ebenfalls rotieren; die Oberfläche hat ein parabolisches Profil mit dem tiefsten Punkt in der Mitte. Senkt man dann die Temperatur unter den ¿-Punkt, dann werden die superfluiden He-Atome reibungslos weiter rotieren, auch dann, wenn der Zylinder zum Stillstand gekommen ist. Man kann die Rotation der Atome mit einem elektrisch supraleitenden Dauerstrom vergleichen. Dieser Vergleich wird noch deutlicher, wenn man den zylindrischen Flüssigkeitsbehälter so abändert, daß die Flüssigkeit in einem ringförmigen Kanal zwischen zwei konzentrischen Zylindern rotiert. Diese rotierende Strömung kann nur bis zu einer bestimmten Höchstgeschwindigkeit aufrechterhalten werden. Oberhalb dieser kritischen Geschwindigkeit muß von der Flüssigkeit Energie abgegeben werden. Es taucht also die Frage auf: Durch welchen Mechanismus kann die Strömungsenergie herabgesetzt werden? L. O n s a g e r und R. P. F e y n m a n vermuteten, daß sie durch Störungen in Form von Wirbeln vermindert wird. Sie nahmen an, daß in einer solchen Supraflüssigkeit eine dichte Menge von Einheitswirbeln existiert. Ihre Achse soll parallel zur Rotationsachse des Gefäßes liegen. Der Drehimpuls soll — ebenso wie im atomaren Bereich — quantisiert sein, nämlich gleich oder einem ganzen Vielfachen der Planck-Konstante h sein. Tatsächlich hat W. F. V i n e n im Jahre 1961 solche Wirbel experimentell gefunden, die eine stabile Zirkulation von h/m hatten (m = Masse des He-Atoms). Kürzlich wurden auch Wirbel mit stabilen Zirkulationen von 2 h/m und 3 h/m gefunden. Es sind die ersten makroskopischen, mechanischen Experimente, durch welche Quanteneffekte nachgewiesen werden konnten. Die Zirkulation des supraflüssigen Heliums ist deshalb quantisiert, weil es an das Kondensat-Niveau, an einen EinteilchenQuantenzustand gebunden ist. Im Gegensatz zum ifHe-Atom hat das seltene |He-Isotop wegen der ungeradzahligen Nukleonenzahl einen Spin. Damit gehorcht es der Fermi-Dirac-Statistik. Während in der B o l t z m a n n - und in der B o s e - E i n s t e i n - S t a t i s t i k angenommen wird, daß in jeder Phasenzelle eine beliebige Anzahl von Teilchen sein kann, ist nach der F e r m i - D i r a c - S t a t i s t i k die Zelle durch ein Teilchen vollständig besetzt. Diese Möglichkeit ergibt sich durch das P a u l i - P r i n z i p , das in den Atomen eine bedeutende Rolle spielt. Teilchen, welche der Bose-Einstein-Statistik gehorchen, werden B o s o n e n genannt, während Teilchen, die der Fermi-Dirac-Statistik gehorchen, F e r m i o n e n genannt werden.

Eigenschaften des flüssigen Heliums

773

Helium 3. Bisher wurde allgemein das Helium behandelt und damit das Helium der relativen Atommasse 4 ( 4 He, sprich: Helium vier). Das natürlich vorkommende Helium enthält jedoch in der Konzentration von 10~6 auch Helium der rel. Atommasse 3 ( 3 He, sprich: Helium drei). Eine Abtrennung von 3 He aus natürlichem Helium ist sehr aufwendig. Das jetzt im Handel käufliche 3 He wird durch künstliche Kernumwandlung aus dem 6 Li gewonnen. Der Dampfdruck von 3 He wird in der Abb. XII, 20 mit dem des 4 He verglichen. Es zeigt sich, daß 3 He einen beträchtlich höheren Dampfdruck hat als 4 He. Der Normalsiedepunkt von 3 He liegt bei 3,19 K und der kritische Punkt bei 3,34 K und 886 Torr. Während man bei 4 He durch Dampfdruckverminderung über der siedenden Flüssigkeit mit einigermaßen vertretbarem

Aufwand etwa 1 K erreichen kann, läßt sich durch Abpumpen von 3 He eine Temperatur von etwa 0,3 K erzielen. 4 He hat bei 1 K nur noch einen Dampfdruck von 0,12 Torr, während 3 He noch einen Dampfdruck von 8 Torr besitzt. Ebenso wie 4 He kann auch 3 He nicht durch Vermindern des Dampfdruckes, sondern nur durch beträchtliche Druckerhöhung aus dem flüssigen in den festen Zustand übergeführt werden, d. h. daß auch 3 He keinen Tripelpunkt besitzt. Die Schmelzkurve konnte auch über den kritischen Punkt hinaus, etwa bis 4,5 K, verfolgt werden. Sie weist gegenüber 4 He noch eine Besonderheit auf, nämlich ein Minimum bei etwa 0,3 K ; unterhalb dieser Temperatur steigt der Schmelzdruck wieder an. Das ist dadurch bedingt, daß bei 3 He im Gegensatz zu allen anderen Stoffen innerhalb bestimmter Temperaturbereiche die Entropie der festen Phase größer ist als die der flüssigen. Da sich 3 He und 4 He in quantenmechanischer Hinsicht prinzipiell unterscheiden — 4 HeAtome sind Bosonen, während 3 He-Atome Fermionen sind — dürfte 3 He im Gegensatz zu 4 He nicht superfluid werden. Bei reinem 3 He ergab sich bisher kein sicheres Anzeichen der Superfluidität. Mischungen aus 3 He und 4 He sind nur auf Grund ihres Anteiles an 4 He superfluid; ihr Übergang in den superfluiden Zustand erfolgt bei um so tieferen Temperaturen, je mehr 3 He sie enthalten (s. Abb. XII, 25). Es ist noch nicht geklärt, ob 3 He durch eine Paarbildung, die dem Verhalten der Elektronen beim Eintritt der Supraleitfähigkeit analog ist, bei ausreichend tiefen Temperaturen doch superfluid wird. Auch konnten in | H e bisher keine quantisierten Wirbel beobachtet werden. Bei genügend tiefer Temperatur erfolgt eine spontane Trennung von 3 He und 4 He in der Flüssigkeit (siehe Abb. XII, 24 und 25). Diese Tatsache wird in Nr. 117 näher beschrieben, da sie die Grundlage für eine neue Methode zur kontinuierlichen Erzeugung tiefer Temperaturen unter 0,3 K ist.

774

Tiefe Temperaturen

117. Erzeugung tiefer Temperaturen unterhalb von 1 K Mit einer Dampfdruckverminderung über siedendem 4 He läßt sich nur eine Temperatur von etwa 1 K erreichen. Flüssiges 4 He besitzt bei 1 K nur noch einen Dampfdruck von 0,12 Torr. Bereits 1926 wurde von P. D e b y e und unabhängig davon 1927 von W. F. G i a u q u e ein Verfahren zur Erzeugung von Temperaturen unter 1 K vorgeschlagen. Es handelt sich um die adiabatische Entmagnetisierung paramagnetischer Salze. Zu damaliger Zeit war es das einzige erfolgversprechende Verfahren, da das leichte Heliumisotop 3 He noch nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stand und seine Eigenschaften auch noch nicht ausreichend bekannt waren. Auch heute ist die adiabatische Entmagnetisierung das einzige Verfahren, mit dem die tiefsten Temperaturen bis zu 10~6 K erreicht werden. Die Kationen der paramagnetischen Salze sind kleine permanente magnetische Dipole, die sich in einem Magnetfeld (wie eine Kompaßnadel im Erdfeld) ausrichten. Der Grund dafür ist, daß die magnetischen Dipole in paralleler Stellung zum Magnetfeld das energetische Minimum im Feld einnehmen; umgekehrt haben sie in antiparalleler Stellung maximale Energie im Magnetfeld. Die parallele Ausrichtung der Dipole zum Feld wird jedoch durch die noch vorhandene Wärmebewegung gestört. Es stellt sich eine Gleichverteilung der magnetischen Energie mit der der Wärmebewegung ein. Bei einer gegebenen Temperatur sind um so mehr Dipole ausgerichtet, je stärker das Magnetfeld ist. Asymptotisch tritt schließlich eine paramagnetische Sättigung ein, d. h. daß alle Dipole parallel zum Feld stehen. Diese Sättigung erfolgt bei genügend tiefen Temperaturen auch ohne Magnetfeld, allein auf Grund der Wechselwirkung des Eigenfeldes der Dipole untereinander. Durch diese Erscheinung ist eine untere Grenze für die erreichbaren Temperaturen gesetzt. Nach dem Nernstschen Wärmetheorem in der Fassung von P l a n c k ist der absolute Nullpunkt nicht durch den Nullpunkt der Energie, sondern durch den der Entropie gekennzeichnet. Daraus geht ganz allgemein hervor, daß die Entropie vermindert werden muß, wenn die Temperatur gesenkt werden soll. Dazu brauchen wir ein System, dessen Entropie bei der Anfangstemperatur noch groß ist und außer von der Temperatur von einer weiteren Variablen abhängt, die wir leicht in ihrer Größe verändern können. Zum besseren Verständnis betrachten wir zunächst ein analoges Beispiel: die isentrope Expansion eines idealen Gases. Die Entropie eines idealen Gases ist gegeben durch: S = vCp • In (77T 0 ) - vi? • In (p/p 0 ) + S0. Die Entropie ist nicht nur von der Temperatur, sondern auch vom Druck abhängig. Wir können also durch Veränderung eines leicht zugänglichen Parameters, in diesem Fall des Druckes, die Entropie des idealen Gases bei konstanter Temperatur verringern. Praktisch erfolgt das durch eine isotherme Kompression, bei der die Kompressionswärme abgeführt werden muß. Wenn das geschehen ist, wird das Gas thermisch isoliert und einer isentropen Expansion, d. h. einer adiabatischen Senkung des Druckes unterworfen. Wie wir in Nr. 115 gesehen haben, liefert dieser Vorgang, wenigstens theoretisch, eine sehr starke Temperaturerniedrigung. Wir haben also durch eine gezielte Änderung des Druckes in zwei Schritten (isotherme Kompression und adiabatische Expansion) im Endeffekt die Temperatur gesenkt. Völlig .analog dazu ist die adiabatische Entmagnetisierung: Die Entropie eines paramagnetischen Salzes hängt außer von der Temperatur auch vom Magnetfeld ab, in dem es sich befindet (Abb. XII, 21). Wir können das Magnetfeld mit dem Druck vergleichen, unter dem das ideale Gas steht: Je höher das Magnetfeld bei gegebener Temperatur ist, desto kleiner wird die Entropie des paramagnetischen Salzes. An Hand der Analogie zum idealen Gas sind sofort die Schritte klar, die wir mit dem Salz ausführen müssen, um eine Temperatursenkung zu erzielen. An eine isotherme Magnetisierung, während der die Magnetisierungswärme abgeführt werden muß, schließt sich nach thermischer Isolierung eine adiabatische Entmagnetisierung an, wobei die Entropie gleich groß bleibt. Nunmehr können wir die experimentelle Ausführung an Hand eines Schemas (Abb. XII, 22) und des TS-Diagrammes für Eisen-Ammonium-Alaun (Abb. XII, 21) verfolgen. Die magnetischen

Erzeugung tiefer Temperaturen unterhalb von 1 K

775

Abb. XII, 21. TS-Diagramm eines paramagnetischen Salzes (Eisen-Ammonium-Alaun)

Paramagnetisches Salz

Heliumgas

Flüssiges Helium

Abb. XII, 22. Schema für den Ablauf der adiabatischen Entmagnetisierung eines paramagnetischen Salzes

Dipole werden durch die Eisenatome gebildet. Das Salz wird in Form einer Pille an einem dünnen, schlecht wärmeleitenden Faden in einem Behälter befestigt. Dieser ist mit einem Bad von flüssigem Helium umgeben, das durch Abpumpen auf einer Temperatur von etwa 1 K gehalten wird. Beim ersten Schritt (a) der isothermen Magnetisierung befindet sich im inneren Behälter um das Salz herum Heliumgas von einigen Zehntel Torr, damit durch Wärmeleitung über das Gas ein thermischer Kontakt zum Flüssigkeitsbad besteht. Die abzuführende Magnetisierungs-

Tiefe Temperaturen

776

wärme ist aus dem TS-Diagramm zu entnehmen, sie ist J TdS = Ta AS. In dem eingezeichneten Beispiel — Badtemperatur 1 K und Magnetisierung bis 10 kG — sind dies etwa 2 cal/mol. Nach der isothermen Magnetisierung muß das Salz thermisch isoliert werden, was durch Evakuieren des Behälters erfolgt (Abb. XII, 22 b). Schließlich wird das Magnetfeld abgeschaltet, bzw. der Magnet entfernt (Abb. XII, 22 c). Beide Vorgänge erfolgen langsam, um das Aufheizen durch Wirbelströme in Metallteilen zu vermeiden. Durch diese adiabatische Entmagnetisierung fällt die Temperatur des Salzes im angeführten Beispiel auf etwa 0,04 K. Die noch vorhandenen Reste des Kontaktgases im Behälter kondensieren auf der Oberfläche des Salzes, da der Dampfdruck des Heliums bei dieser Temperatur unmeßbar klein ist. Mit dem Verfahren der adiabatischen Entmagnetisierung konnte de H a a s 1935 schon 0,005 K erreichen. Einige Zeit später gelang es, die Temperatur fast bis auf 10~3 K zu senken Damit war die durch die Wechselwirkung der magnetischen Dipole bedingte untere Grenze erreicht. Wenn die Dipolmomente und damit die Wechselwirkung der Dipole untereinander kleiner sind, so tritt auch die spontane Ausrichtung erst bei einer tieferen Temperatur ein. Das trifft für diejenigen Atomkerne zu, die selbst magnetische Dipole sind. Da die Dipolmomente der Kerne etwa um den Faktor 103 kleiner sind als die der Atomhülle, liegt die untere Grenze der Temperatur, die durch eine adiabatische Kernmagnetisierung erreicht werden kann, bei 10~6 K. Die Voraussetzung ist allerdings, daß die isotherme Kernmagnetisierung bei etwa 10~2 K vorgenommen wird, denn bei höheren Temperaturen wären viel zu hohe magnetische Feldstärken notwendig. Es muß also die Substanz, bei der eine adiabatische Kernentmagnetisierung erfolgen soll, ihrerseits durch ein paramagnetisches Salz vorgekühlt werden, das selbst mit Hilfe einer adiabatischen Entmagnetisierung auf 10~2 K gebracht wurde. 1956 gelang e s K u r t i , R o b i n s o n , S i m o n und S p o h r , durch eine adiabatische Kernentmagnetisierung von 0,75 g Kupfer eine Temperatur von 2 • 10 - 5 K zu erreichen. Diese extrem tiefen Temperaturen können nur kurze Zeit aufrechterhalten werden, da der Kühlvorgang einmalig ist (ebenso wie bei dem HeVerflüssiger nach S i m o n ) . Durch unvermeidbaren Wärmezustrom und durch geringe Erschütterungen der Apparatur steigt nach der Entmagnetisierung die Temperatur wieder an. Erst als das Heliumisotop 3 He in genügender Menge zur Verfügung stand, konnten auch Temperaturen unter 1 K in kontinuierlichem Verfahren bis etwa 0,3 K durch einfaches Ab-

VB-

'Vakmrnmante!

Proben- . behätter

Abb. XII, 23. 3He-Kryostat nach Peshkov

Erzeugung tiefer Temperaturen unterhalb von 1 K

777

3

pumpen und Rekondensieren erzeugt werden. Ein Kryostat, der mit He arbeitet und mit dem Temperaturen zwischen 1 K und 0,3 K erzeugt werden können, wurde von P e s h k o v beschrieben (Abb. XII, 23). Der eigentliche Kryostat ist von einem 4 He-Bad umgeben, dessen Temperatur durch Dampfdruckerniedrigung auf ca. 1 K gehalten wird. In dem Behälter B ist flüssiges 3 He, das durch die Pumpe P abgepumpt werden kann (Dampfdruckerniedrigung-» Temperaturerniedrigung). Das abgesaugte 3 He-Gas wird in dem Kompressor K komprimiert und in einem Rohr durch das 4 He-Bad geleitet. Dabei kühlt es sich ab und kondensiert wieder. Durch das Ventil V wird es wieder dem 3 He-Behälter zugeführt. Bei diesem Verfahren wird der sehr viel höhere Dampfdruck des 3 He gegenüber dem des 4 He ausgenutzt. Dem Verfahren ist natürlich auch eine untere Grenze der Temperatur gesetzt. Unterhalb von 0,3 K wird der Dampfdruck des 3 He ebenfalls sehr klein. Ein neues sehr aussichtsreiches Prinzip, das in der Verdünnungskältemaschine verwirklicht wurde, beruht auf den Eigenschaften der Mischungen von 3 He und 4 He. Mit der Verdünnungskältemaschine können beliebige Temperaturen zwischen 0,3 und 0,05 K mehrere Stunden konstant gehalten werden. Im Jahre 1954 wurde theoretisch ermittelt, daß sich eine Mischflüssigkeit aus 3 He und 4 He bei genügend tiefen Temperaturen von selbst in zwei verschiedene, flüssige Phasen trennen müsse. 1956 fanden W a l t e r s und F a i r b a n k dieses Phänomen im Experiment (s. Abb. XII, 24).

Abb. XII, 24. Links: Springbrunnen-Effekt mit Helium II Mitte: Abtropfen von Helium II, das als unsichtbarer Film über den Rand des Gefäßes geflossen ist Rechts: Spontane Trennung einer Mischung von flüssigem 3He und 4He in zwei flüssige Phasen bei 0,5 K. Man sieht bei A die Grenzfläche zwischen Dampf und 3He-reicher Flüssigkeit und bei B die Grenzfläche zwischen beiden Flüssigkeiten (nach K. Mendelssohn, Cryophysics, Interscience Publ., New York und London) Entsprechend den unterschiedlichen Dichten ist die untere Phase reich an 4 He, während die obere vorwiegend aus 3 He besteht. Aus dem Diagramm (Abb. XII, 25) ist zu entnehmen, daß z. B. bei 0,2 K die untere, dichtere Phase etwa 9 % 3 He und die obere, weniger dichte Phase rund 96% 3 He enthalten. H. L o n d o n wies zuerst darauf hin, daß sich eine verdünnte Lösung von 3 He in 4 He wie ein Gas aus 3 He-Atomen verhalten müsse. Wegen der Superfluidität des

778

Tiefe Temperaturen

4

He im Temperaturbereich der spontanen Phasentrennung erstreckt sich diese Analogie sowohl auf die Hydrodynamik als auch auf die Thermodynamik. Als Konsequenz daraus muß die weitere adiabatische Verdünnung einer solchen Lösung eine Abkühlung ergeben, ganz analog zu der adiabatischen Expansion eines Gases. In dieser Betrachtungsweise spielt die 3 He-reiche Phase die Rolle einer Flüssigkeit und die untere, an 3 He-arme Phase die Rolle eines im Gleichgewicht mit dieser Flüssigkeit stehenden Dampfes. Die Phasen werden daher auch als Quasiflüssigkeit bzw. Quasigas bezeichnet. Ferner kann bei dieser Analogie der osmotische Druck der Lösung mit dem Dampfdruck verglichen werden. Wenn die untere Phase weiter verdünnt wird, entsteht der Abkühlungseffekt zum Teil durch die äußere Arbeit, während der Expansion des Quasigases, in der Hauptsache jedoch durch den Übergang neuer 3 He-Atome von der konzentrierten in die verdünnte Phase in dem Bestreben, den Gleichgewichtszustand zwischen beiden wiederherzustellen.

malF Iß-

\ supe "Fluid

1,2

\

He-Sas ¡0,02 Torr!

Ü'JS/

Oiffusionspumpe

J

He-Sas ¡30 Torr)

\

f

Pumpeli,5

Torr!

1

OAt

/

He-Bad I1,3°KI

V

Snr

in zwei

Phasen

/

\\ \

20

iO %

BO

- Kapillarrohr

100 A

3

He-

Abb. XII, 25. D i e Bereiche der Superfluidität und der spontanen Trennung in zwei Phasen bei Mischungen aus 3 He und 4 He

A - Verdampfer

Heizung

¡0,6 "Kl

Verdünnungskammer

¡ Tc) ist die Probe normalleitend. In ihrem Inneren herrscht praktisch der gleiche Magnetfluß wie außerhalb. Ist dieser ein wenig größer, so ist die Probe paramagnetisch, ist er etwas kleiner, dann ist sie diamagnetisch. H=0

HH„

Abb. XII, 28. MeißnerOchsenfeld-Effekt Unterhalb der Sprungtemperatur (T < Tc) ist die Probe supraleitend, solange das Magnetfeld die kritische Feldstärke Hc nicht überschreitet. In diesem Fall findet man keinen Magnetfluß im Inneren des massiven Zylinders. Es sieht so aus, als sei der Fluß aus der Probe herausgetrieben worden, da die Feldlinien außerhalb der Probe dichter liegen. Es ist hierbei gleichgültig, ob die Probe im Magnetfeld abgekühlt wurde oder ob sie schon supraleitend war und dann erst das Magnetfeld eingeschaltet wird. Im ersten Fall wird der Fluß ausgetrieben, im zweiten Fall kann der Fluß nicht eindringen. Dieses ideal diamagnetische Verhalten von Supraleitern unabhängig von der Vorgeschichte wird als Meißner-Ochsenfeld-Effekt bezeichnet. Erst oberhalb einer bestimmten mittleren Feldstärke Hm beginnt der Fluß ins Innere einzudringen. Für einen Zylinder ist Hm = \ Hc; für eine Kugel ist Hm = \ Hc, da für diese Werte das wirkliche Feld an den Punkten A gerade genau Hc ist. Wählt man aber einen Hohlzylinder, so ist das Verhalten etwas komplizierter. Das Herausdrängen des Magnetfeldes aus dem supraleitenden Material führt bei einem Hohlzylinder, der mit der Zylinderachse parallel zu den magnetischen Feldlinien liegt, zu einer weiteren interessanten Erscheinung. Bei einer Senkung der Temperatur unter die Sprungtemperatur wird der magnetische Fluß aus dem supraleitenden Zylindermantel herausgedrängt. Im Innern des Hohlzylinders bleibt der Fluß aber erhalten, auch wenn das äußere Magnetfeld entfernt wird. In diesem Fall sagt man, daß in dem supraleitenden Zylinder ein magnetischer Fluß eingefroren ist. Das völlige Fehlen des magnetischen Flusses im Supraleiter hängt offenbar nicht direkt mit dem unendlich kleinen Widerstand zusammen. Die zweite Maxwellsche Gleichung rot E = — dB/dt und das Ohm sehe Gesetz E = R-1 ergeben für den Supraleiter B = 0, da bei endlichem Strom I und R = 0 (Supraleitung) E = 0 sein muß. B = 0 bedeutet aber, daß der magnetische Fluß sich beim Abkühlen unter die Sprungtemperatur zeitlich nicht ändert, was dem Meißner-Ochsenfeld-Effekt widerspricht. Das magnetische Verhalten, das dem des ideal diamagnetischen Stoffes entspricht, ist eine neue, besondere Eigenschaft des supraleitenden Zustandes und kann nicht aus der anderen, wichtigen Eigenschaft des Supraleiters (Widerstand = 0) abgeleitet werden. Ein besonders schönes Experiment ist der „schwebende Magnet". Läßt man einen an einem Faden aufgehängten Stahlmagneten in flüssigem Helium über einer supraleitenden Bleischale herab, so bleibt der Magnet einige Zentimeter über der Bleischale schweben. Er kann nicht tiefer sinken, weil das Magnetfeld nicht in das supraleitende Blei eindringen kann (Abb. XII, 29). Statt des lokalen Feldverlaufs kann man die mittlere Magnetisierung der Probe messen. Durch Orientierung der Zylinderachse parallel zur Feldrichtung mißt man die kritische Feld-

Suprale'tung

785

s t ä r k e Hc• D i e so e r h a l t e n e M a g n e t i s i e r u n g s k u r v e ist in A b b . X I I , 30 dargestellt. M a n b e a c h t e , d a ß die O r d i n a t e n e g a t i v ist. Viele r e i n e S u p r a l e i t e r zeigen e i n e s o l c h e M a g n e t i s i e r u n g s k u r v e ; m a n n e n n t diese S t o f f e S u p r a l e i t e r v o m „ T y p I " o d e r „ w e i c h e " S u p r a l e i t e r . D i e k r i t i s c h e n F e l d s t ä r k e n sind zu klein, als d a ß diese S u p r a l e i t e r z u r H e r s t e l l u n g s t a r k e r M a g n e t f e l d e r geeignet wären.

Abb. XII, 29. Ein über einer supraleitenden Bleischale schwebender Magnet

Abb. XII, 30. D i e Magnetisierung M als F u n k t i o n der magnetischen Feldstärke H eines weichen Supraleiters IL

Abb. XII, 31. D i e Magnetisierung M als F u n k t i o n der magnetischen Feldstärke H eines harten Supraleiters. D i e Zeichnung ist nicht vollkommen: D e r Abfall der Magnetisierung bei H& erfolgt zunächst senkrecht u n d endet asymptotisch rechts weit außerhalb des Bildes. Hc2 kann bis zu 100 H c 1 betragen. Aus energetischen Gründen ist die gestrichelt umrandete Fläche oberhalb der Magnetisierungskurve gleich der Fläche zwischen Hc und Hc2 50

B e r g m a n n - S c h a e f e r I, 8. A u f l . 1969

H

786

Tiefe Temperaturen

Die andere Art von Supraleitern — man nennt sie Supraleiter vom „Typ II" oder „harte Supraleiter" — zeigen eine Magnetisierungskurve der Abb. XII, 31. Diese Stoffe sind meistens Legierungen oder Übergangsmetalle mit hohem elektrischem Restwiderstand im Normalzustand. Die mittlere freie Weglänge der Leitungselektronen, die auch für die magnetischen Eigenschaften des Supraleiters mitbestimmend ist, ist in harten Supraleitern viel kürzer als in weichen. Unterhalb der Sprungtemperatur ist der elektrische Widerstand der harten Supraleiter Null bis zu einer Feldstärke Hc2, dem sogenannten oberen kritischen Feld, während der vollkommene Diamagnetismus nur bis zum unteren kritischen Feld Hc 1 existiert. Es sieht so aus, als würde der Magnetfluß oberhalb von Hc 1 teilweise absorbiert werden. HC2 ist oft hundertmal oder noch größer als Hc 1. Es gibt heute Magnetspulen aus harten Supraleitern für Felder von mehr als 8 • 10® A/m ( = ca. 100 kOe). Zwischen der Feldstärke 0 und der kritischen Feldstärke Hei befindet sich der Supraleiter im sogenannten Idealzustand, zwischen Hc 1 und Hc2 im „Mischzustand", in dem supraleitende Bereiche neben normalleitenden, fadenförmigen Bereichen, die magnetisiert sind, existieren. Während unterhalb von Hc 1 der Meißner-Effekt ein typisches Merkmal der Supraleitung ist, gilt dies nicht für den Mischzustand. Hier existiert der Meißner-Effekt nicht mehr vollständig. Das Volumen der supraleitenden Bereiche ist umgekehrt proportional der Magnetisierung. Die verschiedenen Bereiche können sichtbar gemacht werden. Durch Aufteilung in Bereiche kann die Physik des harten Supraleiters in mancher Beziehung auf die des weichen zurückgeführt werden. Im folgenden sollen nur weiche Supraleiter behandelt werden. Aus den elektrischen und magnetischen Eigenschaften geht hervor, daß der supraleitende Zustand eine neue Phase darstellt. Phasenumwandlungen unterliegen thermodynamischen Gesetzen. Es soll daher die Thermodynamik des supraleitenden Zustandes untersucht werden. Der M e i ß n e r - O c h s e n f e l d - E f f e k t läßt darauf schließen, daß der Übergang normalsupraleitend thermodynamisch umkehrbar ist, ebenso wie die Verdampfung oder Kondensation einer Flüssigkeit im thermodynamischen Sinne umkehrbar ist, wenn sie langsam genug erfolgt. Es gelten also einfache thermodynamische Gesetze, und die Kinetik des Überganges kann unberücksichtigt bleiben. Statt mit äußerer Arbeitsleistung — p dV haben wir es hier mit Magnetisierungsarbeit H dM zu tun. Dann lautet der 1. Hauptsatz in Verbindung mit dem 2. Hauptsatz dU =T dS + H dM . H dM entspricht dem Unterschied der zum Aufbau eines Magnetfeldes H in einer Spule notwendigen Energien im Falle einer leeren oder einer mit Materie gefüllten Spule. Die freie Enthalpie pro Volumeneinheit ist aus dem gleichen Grunde G=U-TS-HM. Durch Differenzieren und Einsetzen von dU erhält man dG = —SdT — M dH. Nach Einsetzen von M = — H ( M e i ß n e r - O c h s c n f e i d - E f f e k t ) und Integrieren ergibt sich die freie Enthalpie des Supraleiters im Magnetfeld (H < Hc): Gs(T,H)

= Gs(T,0)

±-H2.

+

Die freie Enthalpie ist umso größer, je größer das Feld ist. Im Normalzustand hängt G praktisch nicht vom Feld ab: Gn(T,H)

= Gn(T,

0).

Bei Übergang (H —> Hc) muß Gjv = Gs sein (Gleichgewichtszustand), so daß

Supraleitung

787

G J V (T,0) = G s ( T , 0 ) + y H c 2 . Nur der Zustand mit der kleineren freien Enthalpie ist stabil: Wenn H > HC (T) ist, dann ist GS > GN, und der Normalzustand ist stabil. HC2!2 ist die für die Stabilisierung des supraleitenden Zustandes charakteristische Energiedichte. Man sieht, daß die kritische Feldstärke eine viel wichtigere Größe als die Sprungtemperatur ist. Nach Differenzieren nach r u n d einigen Umformungen erhält man den Entropieunterschied

- _s

AS sS AS-S

-L.^äl d T .

In Abb. XII, 27 sieht man, daß dH^/dTimmer negativ ist. Das heißt: Der supraleitende Zustand hat die geringere Entropie. Er ist geordneter als der Normalzustand. AS =t= 0 bedeutet, daß der Übergang mit einer Wärmetönung behaftet ist, ähnlich wie beim Übergang dampfförmig-» flüssig die Verdampfungswärme frei wird. Man benutzt bei der Behandlung der Supraleitung oft die Analogie einer Kondensation der Elektronen. Erst bei T = Tc, wo Hc — 0 ist, verschwindet der Entropieunterschied und die Wärmetönung (analog wird bei der kritischen Temperatur im Zweiphasensystem Flüssigkeit—»Dampf die Verdampfungswärme Null). Unterhalb von Tc beträgt AS pro Atom größenordnungsmäßig nur Viooo Boltzmann-Konstante (10~3 K ^ 10~19 erg/K), also etwa lOOOmal kleiner als bei anderen Phasenübergängen (z. B. beim Magnetismus). Daraus läßt sich schließen, daß nur ein kleiner Teil der Leitungselektronen „supraleitend" wird. Da nach dem 3. Hauptsatz bei 0 K AS = 0 sein muß, verschwindet auch dHddT beim absoluten Nullpunkt (vgl. Abb. XII, 27). Aus AS kann man den Unterschied der spezifischen Wärmekapazitäten AC = Cs — CN berechnen:

und bei Tc, wo Hc = 0 ist:

Die nur aus der Sprungtemperatur und der Steigung der kritischen Feldkurve bei HC = 0 berechneten AC-Werte stimmen gut mit den gemessenen Werten überein. Abb. XII, 32 zeigt die spezi-

TemperaturT 50*

788

Tiefe Temperaturen

fischen Wärmekapazitäten für normales und für supraleitendes Zinn (C n wurde nach Einschalten eines Magnetfeldes, das größer ist als Hc, gemessen). Die spezifische Wärmekapazität eines Supraleiters setzt sich bei diesen Temperaturen (oberhalb ca. 10~2 Tc) aus nur zwei Anteilen zusammen: aus der Gitterschwingungswärme Cvu und der Elektronenwärme Ce. Erstere ist bei tiefen Temperaturen nicht groß und kann leicht abgespalten werden, da sie dem Debyeschen Gesetz Cpu ~ T3 folgt. Dann kann man die Elektronenwärme des Normalzustandes Cen mit der des supraleitenden Zustandes Ces vergleichen. Das Verhältnis Ces/Cen zeigt eine exponentielle Abhängigkeit von der Temperatur (Abb. XII, 33), die auf die Existenz einer Energielücke (energy gap) schließen läßt. Ohne diese Energielücke kann die Supraleitung theoretisch nicht erklärt werden. Es muß einen energetischen Grundzustand geben, in dem sich nur „supraleitende Elektronen" befinden, deren Entropie Null ist, deren Zahl mit fallender Temperatur exponentiell zunimmt und die durch die Energielücke von den normalen Elektronen getrennt sind.

1 10 Temperatur T

Abb. XII, 33. Das Verhältnis der Elektronenanteile an der spezifischen Wärmekapazität im supraleitenden (Ccs) und im normalleitenden (C en ) Zustand in Abhängigkeit der reziproken, reduzierten Temperatur für Gallium

K

W

Abb. XII, 34. Die Wärmeleitfähigkeit von Blei für den normalleitenden (/?/) und den supraleitenden (sl) Zustand

Auch bei Untersuchungen der Wärmeleitung des Supraleiters wurde festgestellt, daß mit sinkender Temperatur die Wärmeleitfähigkeit abnimmt. Bei genügend tiefen Temperaturen ist die Wärmeleitfähigkeit des Supraleiters gleich der eines Isolators (Abb. XII, 34). Daraus ist ebenfalls zu schließen, daß mit sinkender Temperatur ein immer größerer Anteil an Elektronen in den Grundzustand mit der Entropie Null kondensiert und daher nicht mehr zur Wärmeleitfähigkeit beitragen kann. Das W i e d e m a n n - F r a n z s c h e Gesetz gilt hier nicht. Aus ähnlichen Gründen ist auch die Thermokraft eines Supraleiters Null. Die moderne Theorie der Supraleitung geht auf Arbeiten von B a r d e e n , C o o p e r und S c h r i e f f e r (ab 1957) zurück. Es sollen hier nur die Grundgedanken und einige interessante Folgerungen beschrieben werden. Damit die Elektronen in ein tiefer liegendes Energieniveau gelangen können, müssen sie einer anziehenden Wechselwirkung unterliegen, die die C o u l o m b sche Abstoßung schwächt. Nur dann ist eine „Kondensation" möglich. Außerdem muß diese Wechselwirkung weitreichend sein („long ränge interaction"), etwa in der Größenordnung der mittleren freien Weglänge der Elektronen. Eine solche Wechselwirkung kann quantenmechanisch durch die Paarung zweier Elektronen mit Hilfe eines kurzlebigen Gitterschwingungsquantums, eines Phonons, erklärt werden. D a ß in der Tat die Gitterschwingungsquanten einen Einfluß auf die Supraleitung haben, zeigt ein interessanter Versuch: Die Sprungtemperatur eines

Supraleitung

789

reinen Metalls hängt von seiner Isotopen-Zusammensetzung ab. Man findet Tc ~ M~ x, worin M die Ionenmasse ist. Der Exponent = 2 Ji 38/60 = 4 s" 1 (Schwungrad) b) co = 2 ji/24 • 60 • 60 = 0,000073 s" 1 (Erde)

Lösung III, 2 a) Gewicht, b) Schwerpunkt durch Unterstützen, c) Schwingungszeit Lösung III, 3 Durch Messung der Schwingungsdauer vor und nach dem Aufbringen von kleinen Wachskugeln bekannter Masse an den Enden der Kompaßnadel. Lösung III, 4 J = el2 • v(n2

+ r22) = 2/2 • fm ( n 2 - r 2 2 ) (n2 + r 2 2 ) = 1750 gern2

Lösung III, 5 £kin + Erat = m v2/2 + J m2/2; v = cor = 2 • 0,12 = 0,24 m/s; J = mr2/2 = 5 • 0,0144 = 0,072 kg m 2 ; E = 5 • 0,242 + 0,072 • 4/2 = 0,288 + 0,144 = 0,432 Nm = 0,044 kpm Lösung III, 6 m = Q - V\ 0,8 n r// 2 h 11 n (ra2 - rH2) h = 11 n rB2 h + 0,8 n {ra2 - rB2) h ra2 — rH2 = rB2', r s = ^25 — 16 cm = 3 cm Ji = (1/2) mH r„2 + (1/2) mB (m2 + ra2) = (1/2) n h [oH ' rHA + QB Oa4 - m 4 )] = 31,4/2 • 4263,8 gern2 = 66941,66 g cm 2 / 2 = (1/2) mB rB2 + (1/2) mH (rB2 + ra2) = 31,4/2 • 1326,2 gern 2 = 20821,34 gern 2

Lösung IV, 1 Die Zentrifugalkraft ist Fz = m v2jr; m = 102 kpm- 1 s 2 ; v = 100 ms" 1 ; Fz = 10200 kp. Der Wagen drückt also mit dem zehnfachen Gewicht gegen die Wand. Lösung IV, 2 Nach Gl. IV, 7a ist g = G • Mj(R + h)2. Danach ändert sich g (für A = I m ) um 10 - 6 seines Wertes, also um rund 1 milligal. Diese Änderung ist gut meßbar.

Lösungen der Aufgaben

807

Lösung IV, 3 Entscheidend ist die Haftreibungskraft beim Anfahren. Sie ist gleich der maximalen Zugkraft zu setzen und ist F,t = PH • FN = 0,28 • 125 Mp = 35 Megapond. Lösung IV, 4 m • v2/r = m- g- /.IH\ aß • r2 = r • g- ¡J,H\ co = 2 nfS s r = S ' ßnl = (2 nri)\T = (2 ji • 3000)/60 s 0,2 = 4 „2 . 2500 = 99000 s" 2 ar = ofi-r = 99000 s~2 • 0,15 m = 14800 ms" 2 ar/g = 14800/9,81 = 1500 Die Fliehkraft ist somit 1500mal größer als das Gewicht des Tropfens. Lösung IV, 6 a) F = Gmimz/r2; GE = MUBE = FE = GmEtnicl RE2 ; GM = MICBM = FM = GMMMIC/RM2;

BS/BM

= MSRM2LMMRE2

= 81 • 9 / 1 2 1 ;

-2

bM = 0,166 6g = 1,63 m s b) GE = 100 • 9,81 N = 100 kp GM = 100- 1,63 N = 16,6 kp Lösung IV, 7 a) Nach dem N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz gilt für die Fallbeschleunigung gn im Abstand h von der Erde: gh ~ l/r2 = 1 l(R + h)2, wenn R den Erdradius bedeutet und r > R ist. Mit Kenntnis des Wertes g = 9,81 m/s 2 an der Erdoberfläche (h = 0) ergibt sich für den Proportionalitätsfaktor der Ausdruck gR2. Damit wird: gh = R2gl(R + h)2 = 8,44 m/s 2 , wenn man f ü r R den Wert 6400 km einsetzt. b) Aus der Bedingung, daß die Zentrifugalkraft m(R + h) co2 das Gewicht des Satelliten gerade aufhebt, ergibt sich für die Umlaufzeit T: (2 n\Tf (R + h) = gh oder T = I n - + Für die Bahngeschwindigkeit erhält man v = 2 n/T (R + h) = 7,62 km/s

K)\gh = 94,7 min.

Lösung IV, 8 a) Wie in der vorigen Aufgabe gezeigt wurde, gilt wegen der Gleichheit der Beträge von Fliehkraft und Gewicht: (2 n\Tf (R + h)=gh = R2gj{R + h)2, wenn gn die Fallbeschleunigung in der gesuchten Höhe h ist. Daraus ergibt sich: R + h = ¡R2g(TI2n)2 Der Satellit soll zu einer Erdumrundung die gleiche Zeit benötigen wie die Erde zu einer Umdrehung um die eigene Achse, d. h. 24 h = 86400 s. Damit ergibt sich R + h = 42340 km und h = 35940 km. (Genau genommen führt die Erde eine volle Umdrehung nicht in 24 h, sondern in einem Sterntag = 86164 s aus.) Setzt man diesen Wert für T ein, so erhält man R + h = 42270 km und damit h = 35870 km. Der Unterschied der Abstände ist zwar relativ gering; das Beispiel soll aber zeigen, wie genau der geforderte Abstand eingehalten werden muß, damit sich die gewünschte Umlaufzeit ergibt. b) Für die Fallbeschleunigung gh in dieser Entfernung erhält man gu = R?gKR + h)2 = 0,224 m/s 2 c) Die Bahngeschwindigkeit ist hier: v = (2 nIT) (R + h) = 3,08 km/s

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Lösungen der Aufgaben

Lösung V, 1 Die Masse M des Quaders ist 5,2 • 103 kg; das Gewicht G ist 51 • 103 N = 5,2 • 103 kp. Das Seil zerreißt bei einer Belastung von 20 • 103 kp. Das Seil ist mit etwa einem Viertel des zulässigen Gewichtes belastet und kann also den Quader heben. Lösung V, 2 Das Gewicht eines 9000 m langen Stahlkabels vom Querschnitt 1 cm 2 beträgt in Luft 900 • 7,8 kp = 7000 kp. Der Gewichtsverlust im Wasser beträgt 900 kp. Das Gewicht des Kabels im Wasser ist also 6100 kp und somit wesentlich kleiner als die Zerreißfestigkeit von Stahl = 20000 kp c m - 2 . Wählt man einen größeren Querschnitt, so steigen das Gewicht und die Belastbarkeit in gleicher Weise. Lösung V, 3 E = (4 L3G)/(sbd3) = 21300 kp mm" 2 Lösung V, 4 Diese Senkung s' wäre 1/144 der Senkung s der vorangehenden Aufgabe Lösung V , 5 Dehnung e = Al/l = a/E = 0,118 • 10"3. Die Verlängerung ist 1,18 mm Lösung V, 6 105 kp bei einer Zugfestigkeit von 10 kp/mm 2 Lösung V, 7 m\ • vi + TO2' l>2 = (TOI +TO2)« u = (1200 • 30 + 600 • 10)/(1200 + 600) = 23,3 m/s = 84 km/h

Lösung VI, 1 Die Federwaage mißt Kräfte (Gewichte), die um den Auftrieb in Luft zu klein gemessen werden. Auftrieb in Luft = Vol • Wichte = 2 dm 3 • 1,293 p/dm 3 = 2,586 pond. Um diesen Betrag wird der Kunststoff Lösung VI, zu 2 leicht gewogen. Gewicht des Reagenzglases = Gewicht der verdrängten Flüssigkeit = Eintauchvolumen • WichteFiüssigk. a) Vw = 20 cm 3 ; b) VSp = 25 cm 3 ; c) VSa = 18,2 cm 3 Lösung VI, 3 Stromstärke i = Volumen K/Zeit t = Geschwindigkeit v • Querschnittsfläche A v = Ylgh = 6 m/s a) i = 120 cm 3 /s b) 120 • 13,6 = 1,632 kg Hg fließen pro Sekunde aus. (Die pro Zeit ausfließenden Volumina des Wassers und des Quecksilbers sind gleich.) Lösung VI, 4 Die „Barometerformel" lautet: (VI, 7) ph — po' e-M25i h Darin ist h in km zu setzen. Die Rechnung ergibt a) 70% und b) 28% des Normalluftdrucks. Lösung VI, 5 Leistung P = Arbeit/Zeit = Reibungswiderstand W • Geschwindigkeit v fV = 0,7-±ev2-A;e = l,3 kg/m 3 ; v = 20 m/s bzw. 30 m/s a) P = 14,6 • 103 Nm/s = 14,8 • 10a kp m/s = 19,7 PS b) P = 66 PS

Lösungen der Aufgaben

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Lösung VI, 6 Die konstante Sinkgeschwindigkeit des Fallschirms zeigt, daß die Reibungskraft gleich der Antriebskraft, hier also gleich dem Gewicht ist. Widerstandskraft W — 100 kp = /«, • | qv2 • A g = Masse/Volumen = (1,293 kps 2 )/9,81 m 4 Fläche A = 13,4 m 2 ; d = 4,13 m

Lösung VII, 1 Rel. Molekülmassen = Summe der rel. Atommassen; also N2 = 28; H2O = 18; CO2 = 44; He = 4; Hg = 200. (Edelgase und Metalle sind einatomig!) Lösung VII, 2 Die Reaktion verläuft nach der Gleichung 2 H 2 + 0 2 = 2 H2O. Da 1 kg Wasser entsteht, sind die erforderlichen Massen Wasserstoff «jh 2 und Sauerstoff mo2 (beide Moleküle sind zweiatomig): OTH2= (2 MH 2 /2 MH2O) • 1000 = (4/36) • 1000 = 111 g mo2 = (A/oa/2 M H 2 o ) ' 1000 - (32/36) • 1000 = 889 g Es werden also VH2 = "IH2/MH! = 55,5 Mole H2 und vq% = mo 2 IMo 2 = 27,8 Mole O2 gebraucht. Ein Mol eines jeden idealen Gases hat unter den angegebenen Bedingungen (0 °C, 760 Torr) das Volumen 22,41 (Avogadro). Daher ist das Volumen des Wasserstoffs KH2 = 55,5 • 22,4 = 12401, das des Sauerstoffs Fo 2 = 27,8 • 22,4 = 6201. Lösung VII, 3 Volumen der Elementarzelle: V = a3 = 4,04 3 • 10" 24 cm 3 Masse = rel. Atommasse • Gramm • 4/Avogadro-Konstante = 26,97 • 4 g/(6 • 1023) Dichte g = Masse/Volumen = 2,72 g/cm 3 Lösung VII, 4 In einem Würfel der Kantenlänge a = 2 rue — 2,4 Ä befindet sich im Mittel ein Heliumatom. Die Anzahl der Atome «He in einem cm 3 ist daher «He = 1/(2 r H e ) 3 = 1/(2,4 • 10-8)3 = 0,725 • 1023. Das sind vHe = nSeINA = 0,725 • 1023/6,23 • 1023 = 0,116 Mole Helium (Na = Avogadro-Konstante). Unter den angegebenen Bedingungen füllt 1 Mol eines idealen Gases das Volumen 22,41 aus. Damit ist Vne = 0,116-22,4 = 2,61. Lösung VII, 5 p = 2 ojr = 1000 dyn/10" 4 cm 2 = 107 dyn/cm 2 = 10 at Lösung VII, 6 a) Von dem gemessenen Druck des in die Flüssigkeit ausströmenden Gases muß der hydrostatische Druck abgezogen werden. Wasser hat bei 20 °C die Dichte q = 0,998 g/cm 3 . Der Kapillarradius ist damit r = 0,21 mm. b) Die Anwendung der Gl. (VII, 4a) ergibt für die Oberflächenspannung a — 29,0 dyn/cm. Lösung 7 Gas gilt p • V = v • R- T. Darin ist v = Zahl der Mole. Für ein VII, ideales v = h/Na (n ist die Zahl der in einem Volumen V vorhandenen Moleküle, Na die Avogadro-Konstante). p • V = (hINa) • R T R/Na = k = Boltzmann-Konstante n = 1,013 • 20 • 103/(760 • 1,381 • 10" 16 • 293) = 6,6 • 1014 Man beachte, daß das Ergebnis unabhängig davon ist, welches Gas sich in der Röhre befindet, solange man es als ideal ansehen kann.

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Lösungen der Aufgaben

Lösung VII, 8 a) Die Arrhenius-Beziehung (Gl. (VII, 17)) wird nach E aufgelöst; es ergibt sich E = 1,05 eV/Atom. Da ein Mol NA = 6,022 • 10 23 Atome enthält, entspricht dies einer Aktivierungsenergie von E = 24,2 kcal/mol. b) Mit der jetzt bekannten Aktivierungsenergie folgt für die Temperatur T = 273 K der Diffusionskoeffizient D — 10~19 cm 2 s _ 1 . Dieser Diffusionskoeffizient ist mit dieser Methode nicht meßbar. Man beachte, daß bei Erniedrigung der Temperatur um 540 K der Diffusionskoeffizient um 8 Zehnerpotenzen kleiner wird. Lösung VII, 9 Die rel. Molekülmasse des Wassers ist 18. Ein Mol Wasser = 18 g; es enthält 6 • 1023 Moleküle und nimmt den Raum von 18 cm 3 ein, da die Dichte Q = 1 g/cm ist. In 180 cm 3 Wasser sind also 6 • 1024 Moleküle enthalten. Die gesamte Wassermenge beträgt 1,34 • 1024 cm 3 . Im Glas Wasser sind somit nach der Verteilung 4—5 markierte Moleküle vorhanden.

Lösung VIII, 1 Nach den Beziehungen (VIII, 1) und (VIII, 20) beträgt die Wellenlänge der angegebenen Schallwelle in Luft 3 m. Mit Hilfe der Lichtgeschwindigkeit von 3 • 108 m/s ergibt sich dann für eine elektromagnetische Welle gleicher Wellenlänge die Frequenz 108 Hz. Lösung VIII, 2 a) Aus Gl. (VIII, 22) erhält man für die Phasengeschwindigkeit c den Wert 80 cm/s. Die Periode T ergibt sich dann nach Gl. (VIII, 1) zu 0,513 s. b) Die gesuchte Wellenlänge beträgt 36 m und die Periode 4,8 s, ebenfalls gemäß Gl. (VIII, 22) und (VIII, 1). Lösung VIII, 3 In der Periodendauer T durchläuft ein Teilchen gerade einmal die Kreisbahn mit dem Radius r. Seine Bahngeschwindigkeit, bezogen auf einen ruhenden Beobachter, beträgt also 2 m/T. Sie hat auf dem Wellenberg die gleiche Richtung wie die Ausbreitungsgeschwindigkeit und ist ihr im Wellental entgegen gerichtet. Bezogen auf einen mit der Geschwindigkeit c bewegten Beobachter ist also die Geschwindigkeit des Teilchens auf dem Wellenberg: v\ = c — 2 rnjT und im Wellental V2 = c + 2 m/T. Die Differenz der kinetischen Energien des Teilchens mit der Masse m ist gleich seiner potentiellen Energie: (m/2) («22 — £>i2) = 4 mcrn/T = 2 mgr, wo g die Fallbeschleunigung bedeutet. Mit Hilfe der für sinusförmige Wellen gültigen Beziehung X — Tc führt man nun statt der Periode T die Wellenlänge X ein und erhält: c 2 = gX/2 n. Lösung VIII, 4 a) Der Kraftwagen entfernt sich von der Wand und nähert sich dem Beobachter. Auf Grund des Dopplereffektes erscheint dem Beobachter die Frequenz v' des zuerst eintreffenden Signals höher, die Frequenz v" des an der Wand reflektierten Signals dagegen niedriger als die wahre Signalfrequenz vo. b) Die Zeitdifferenz At ist gerade die Zeit, die die Schallwellen zur Überwindung der Entfernung vom Wagen zur Wand und zurück, also der Strecke 2 (a — b) benötigen. Die Schallgeschwindigkeit c beträgt nach Gl. (VIII, 20) 331 m/s. Mit den angegebenen Zahlenwerten für a und At erhält man aus der Beziehung 2 (a — b) = c At für die Entfernung b den Wert 32 m. Die Gl. (VIII, 30) ist einmal mit positivem v (Frequenz v') und einmal mit negativem v (Frequenz v") anzusetzen. Aus den beiden Gleichungen läßt sich zunächst vo eliminieren, und man erhält v = c ( v ' - v")l(v + v") = 16m/s. Dann ergibt sich vo = v' (1 — v/c) = 300 Hz.

Lösung IX, 1 Aus den Daten der beiden Tabellen am Schluß von Nr. 91 ergibt sich für die mittlere Wellenlänge einer männlichen Stimme der Wert 2,5 m. Bei der weiblichen Stimme ist die Wellenlänge halb so groß. Hat man keine Tabelle zur Hand, so wähle man das Brummen der Netzfrequenz (50 Hz) als Vergleichswert. Etwa eine Oktave höher, also bei 100 Hz, liegt die untere Grenzfrequenz der Sprache des Mannes, die sich im Bereich einer Oktave bewegt. Die daran anschließende Oktave ist der Sprachbereich der Frau.

Lösungen der Aufgaben

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Lösung IX, 2 Alle Schallsender, deren Flächen groß sind im Vergleich zur Wellenlänge, sowie schwingende Luftsäulen haben gute Strahlungseigenschaften. Schwingende Saiten (ohne Resonanzboden) und Stimmgabeln sind schlechte Schallabstrahler. Lösung IX, 3 Der AuspufTdämpfer stellt ein System von tiefabgestimmten H e l m h o l t z r e s o n a t o r e n dar, die zu erzwungenen, durch Reibung gedämpften Schwingungen erregt werden (vgl. Nr. 83). Aus der für solche Schwingungen charakteristischen Resonanzkurve (s. Mechanik) liest man ab, daß für Frequenzen, die genügend weit über der Resonanzfrequenz liegen, die Amplitude des Resonators sehr kleine Werte annimmt. Das heißt im Fall des Auspuffdämpfers können hohe Frequenzen schlecht nach außen abgestrahlt werden. Lösung IX, 4 Zur Erklärung s. Nr. 82. Lösung IX, 5 Resonanzen treten im Fall a) bei ungeradzahligen, im Fall b) bei geradzahligen Vielfachen der Grundfrequenz auf. Lösung IX, 6 a) W (x) = Wo • tan 2 nxjl (x = Abstand vom offenen Ende). b) Die Widerstandsanpassung des Lautsprechers ist am geschlossenen Rohrende (x = A/2) wesentlich besser, weil dort der akustische Widerstand sehr große Werte annimmt. Lösung IX, 7 Mit S' = pox/d ergibt sich für die Eigenfrequenz des Systems: cuo = Ypar-Kd • m) = 985 s" 1 , bzw. / 0 = 142,6 Hz. Bei dieser Frequenz wirkt auf die Zimmerwand ein höherer Schalldruck als ohne die davor angebrachte zweite dünne Wand; d. h. der Schalldurchgang wird begünstigt. Erst bei höheren Frequenzen beginnt die schalldämmende Wirkung der zweiten Wand. Bei vorgegebenem Abstand d kommt es also darauf an, die Größe m" nicht zu klein zu wählen. Lösung IX, 8 Legt man zugrunde, daß das Ohr bei einer Zeitdifferenz von 10 ms gerade zwischen einem einfachen und einem Doppelknall zu unterscheiden beginnt, so beträgt die gesuchte Geschwindigkeit 1000 m/s. Lösung IX, 9 a) Die Intensität der reflektierten Welle beträgt 1 /9, die der durchgelassenen Welle 8/a der Anfangsintensität (unter Benutzung der Definition des Schluckgrades am Schluß von Nr. 83). b) Die Welle wird am offenen Rohrende vollständig reflektiert. Lösung IX, 10 Bei der Reflexion der Wasserschallwellen an der Oberfläche (Reflexion am „dünneren Medium") entsteht ein Phasensprung. Bei einem Schallsender mit Kugelcharakteristik, der sich unmittelbar unter der Wasseroberfläche befindet, wirken die reflektierten Wellen demnach so, als ob sich in gleichem Abstand ü b e r der Oberfläche ein gegenphasig schwingender „Spiegelsender" befände. Aus dem Strahler nullter Ordnung wird also ein Strahler zweiter Ordnung. Lösung IX, 11 a) Das Ohr ist an die kleinen Schwingungsamplituden von Wasserschall (verglichen mit den Amplituden von Luftschall) nicht angepaßt. Deshalb hört man unter Wasser schlechter als in der Luft. b) Der Schalldurchgang durch die Grenzfläche Wasser/Luft ist wegen der stark verschiedenen Schallwiderstände der beiden Medien so gut wie unmöglich. Ist also beim Tauchen das Trommelfell durch eine Luftschicht vom umgebenden Wasser getrennt, so kann man nur durch Knochenleitung hören. c) Die Knochenleitung spielt unter Wasser eine Rolle, weil hier eine bessere Anpassung vorliegt als in Luft. d) Beim Richtungshören sind die Ohren auf die Zeitdifferenz von Luftschall eingestellt. Die kleinste hörbare Richtungsänderung von 3° in Luft ist also noch mit dem Verhältnis der Schallgeschwindigkeiten cw/ci zu multiplizieren, und man erhält für die entsprechende unter Wasser gültige Größe etwa den Wert 15°. Das Richtungshören ist demnach unter Wasser stark beeinträchtigt.

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Lösung X, 1 Zunächst wird der Glaskolben des Thermometers erwärmt. Dieser dehnt sich aus, und dementsprechend nimmt das Volumen des Kolbens zu. Dieses Volumen wird durch Quecksilber aufgefüllt, das aus der Thermometerkapillare in den Kolben zurückströmt. Erst etwas später überwiegt die weitaus stärkere Ausdehnung des Quecksilbers, und dieses beginnt in der Kapillare zu steigen. Lösung X, 2 Die Längenausdehnung AI bei Erwärmung von — 10°C auf + 30°C (d.h. um eine Temperaturdifferenz von At = 40 °C) ergibt sich aus der Beziehung l + AI = l (1 + a. • At). AI = l • a. • At Zl/ = 4 0 m - 1,1 • 10" 5 (1/grd) • 40 °C AI = 1,76 cm ist die Längenausdehnung. Die relative Längenänderung Aljl ist nach dem H o o k e s c h e n Gesetz der wirkenden Kraft F direkt, dem Querschnitt des Trägers umgekehrt proportional: Al/l = F/EA (Proportionalitätsfaktor ist der Kehrwert des ¿'-Moduls.) Daraus ergibt sich die Zugkraft F= (AllD-E-A F = (1,76 • 10" 2 m/40 m) 2,1 • 106 (kp/cm 2 ) • 50 cm 2 Zugkraft F = 46200 kp Lösung X , 3 Der Zylinder habe die Masse m und die Länge l. Der Abstand zwischen Pendelachse und Schwerpunkt sei s = kl mit 0 < k = constans 0,5. Dann ist die reduzierte Pendellänge

ms Die Schwingungsdauer eines physikalischen Pendels ist t = 2 n YXfg Nach logarithmischer Differentiation ergibt sich: Atlt = (1/2) • AlH Für die Temperatursenkung von 20 auf 15 °C beträgt bei Messing die relative Längenänderung zl/// = 9 - 10- s ; es liegt eine Verkürzung vor, mithin eine Erhöhung der Frequenz. Demnach ist At = 86400 • 4,5 • 10~5 = 3,9 s. Die Uhr ginge unter den genannten Voraussetzungen 3,9 s je Tag vor. Lösung X, 4 Nach der Beziehung AQ — mcp AT erhält man für a) 1 cm 3 Aluminium = AQ = 11,55 cal b) 1 cm 3 Blei AQ = 7,06 cal Lösung X, 5 Bevor die erhitzte Platinkugel in das Wasser geworfen wird, beträgt die gesamte Wärmemenge des Systems Qv = mptcpttpt + (mwcw + K) tw. Nachdem die Platinkugel in das Mischungskalorimeter geworfen wurde, ist die Wärmemenge des Systems: Qn = (mptcpt + mwcw + K) tm. Es muß sein! Qn — Qv- Daraus kann die Temperatur der erhitzten Platinkugel bestimmt werden. Mit den Werten erhält man tPt = 1531 °C. Lösung X , 6 1 cm 3 Luft hat unter Normalbedingungen (po = 760 Torr, To = 273 K) die Masse mo = 1,293 kg. Beim Druck p und der Temperatur T hat 1 cm 3 Luft die Masse m = mo • (plpo) ' (TolT). In unserem Beispiel ist m = 1,2 kg; die Gesamtmasse der vorhandenen Luft ist also 96 kg. Bei isobarer Erwärmung eines Gases dehnt sich dieses aus. Von dieser hier sehr kleinen Ausdehnung soll abgesehen werden. Mit cv = 0,241 kcal/kg K beträgt die erforderliche Wärmemenge 92,4 kcal. Lösung X, 7 Sowohl die Luft als auch der entstehende Wasserdampf tragen unabhängig voneinander zu dem Gesamtdruck bei T = 473 K bei. Nach der Zustandsgieichung für ideale Gase gilt für den Enddruck pi der eingeschlossenen Luft:

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Pi = Pa ' (TIT A ) = 1 • (473/293) atm = 1,615 atm Wir versuchen, den Druck pw des Wasserdampfes auch nach der Zustandsgieichung für ideale Gase zu ermitteln. Das ist zulässig, wenn es sich um stark ungesättigte Dämpfe handelt. 90 cm 3 Wasser sind v = 5 Mole; also ist pw = vRTIV = (5 • 0,082 • 473)/100 atm = 1,940 atm. D a der Sättigungsdampfdruck des Wassers bei 200 °C mehr als 15 atm beträgt, liegt in unserem Beispiel stark ungesättigter Dampf vor, so daß also die Verwendung der Zustandsgieichung für ideale Gase berechtigt ist. Der entstehende Enddruck beträgt demnach 3,555 atm. Lösung X, 8 Die Strahlungsleistung beträgt an der Erdoberfläche bei senkrechtem Einfall l,4kJ/m 2 s. Die gesamte, bestrahlte Erdoberfläche wird daher von einer Leistung von 1,78 • 1014 kJ/s getroffen. Zum Vergleich sei erwähnt, daß im Jahre 1964 die mittlere Leistung aller Elektrizitätswerke der Erde 3,5 • 108 kJ/s betrug. Die Gesamtstrahlungsleistung der Sonne beträgt 3,96 • 1023 kJ/s, das entspricht einem Massenverlust von 4,4 • 109 kg/s. Lösung XI, 1 Bei der Kondensation von nur 100 g Dampf wird soviel Wärme frei (54 kcal), daß damit das Eis geschmolzen (24 kcal) und auf 100 °C erwärmt werden kann (30 kcal). Im Gleichgewicht liegen also 200 g Dampf und 400 g Wasser von je 100 °C vor. Lösung XI, 2 Einatomiges Gas: f RT; zweiatomiges Gas (keine Anregung von Schwingungen): f RT; dreiatomiges Gas (Atome nicht geradlinig verknüpft, keine Anregung von Schwingungen): 3 RT. Im Mittel fällt auf jedes Molekül der Bruchteil 1/Na der entsprechenden inneren Energie eines Mols. Bei realen Gasen muß noch die Energie, die von den anziehenden Kräften der Moleküle untereinander herrührt, berücksichtigt werden. Lösung XI, 3 1 kg • 0,5 (cal/g • grad) • 30 grad = 200 W • ts ts = (1000 • 0,5 • 30 • 4,19/200) s = 314 s tw = (1000 • 80 • 4,19/200) s = 1676 s tK = (1000 • 1 • 100 • 4,19/200) s = 2100 s tD = (500 • 540 • 4,19/200) s = 5600 s Verlauf der Temperatur als Funktion der Zeit, vgl. Abb. XI, 37. Lösung XI, 4 Die relative Feuchtigkeit ist fr = (pmolpsatO 100(%). Der Partialdruck des Wassers pu2o bei 20 °C ist also pa2o = (/r'PsäiO/IOO = (75 • 17,5/100) Torr = 13,1 Torr. Wenn man annimmt, daß sich der Wasserdampf wie ein ideales Gas verhält, so gilt p • V = v • R- T. v = m/MHjo = Zahl der Mole Wasserdampf. Damit ergibt sich für die Masse des Wasserdampfes m = (p- V-Mhjo/ä T) ; R = 0,082 (l • atm • K " 1 • mol m = (13,1 • 1000 • 18/760 • 0,082 • 293) g = 12,9 g Lösung XI, 5 Die C l a u s i u s - C l a p e y r o n s c h e Gleichung für diesen Phasenübergang lautet dT/dp = T(Vfi. — Veis)IÄ KEis, VFi. sind die Molvolumina in den entsprechenden Aggregatzuständen. Die Dichte in diesen Aggregatzuständen ist Q = mlV - MIVm- dT/dp = [T- M ( l / f ? F l . - 1 / p E i s ) ] / ^ = T A Nach Voraussetzung ist A in dem betrachteten Temperatur- und Druckbereich eine Konstante. Die Integration ergibt In (T^/273) = A ( j j i - 1) und 1 cal = 4,18 • 107 erg Tx = 273 K exp (A ( P 1 - 1)) 1 atm = 1,01 • 106 dyn c n r 2 Tx = 273 K exp (18 • 0,11 • 249 • 1,01 • 10«/1440 • 4,18 • 107) Tx = 272 K Der Druck von 250 atm bewirkt also eine Erniedrigung des Schmelzpunktes um nur 1 °C.

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814 Lösung XI, 6 Es gilt (P1IP2) 1- 1'"

7i/7'2 =

Damit wird T2 = 779 K oder T2 = 506 °C. Lösung XI, 7 Ein Mol Luft hat bei Normalbedingungen (0 °C, 760 Torr) ein Volumen von 22,4 Ltr. Bei einer Temperatur von 20 °C ist dieses Volumen größer. Es beträgt 24,1 Ltr., wenn die Luft als ideales Gas betrachtet wird. Es werden also in der Stunde 4150 Mol Luft in das Zimmer geblasen, der eine Wärmemenge AQ = mcp AT = 2 , 9 • 105 (cal/Std.) entzogen werden muß. Nimmt man an, daß die Klimaanlage den größten Wirkungsgrad besitzt, also den einer Carnot-Maschine, so gilt für die als Wärmepumpe arbeitende Klimaanlage:

A/Q

=

rjl(\

- r , ) = (72 -

r,)/T2

Damit erhält man für diesen Fall A = 2,9 • 105 • (10/293) cal/Std. = 0,99 • 104 cal/Std. bzw. für 12 Stunden A = 11,9- 104 cal = 0,138 kWh Lösung XI, 8 rf = Qi'lA

= TjKTi

-

Tz) = 295/(295 -

290) = 295/5 = 59

ß i ' = 59 -A Man kann die Leistung der Wärmepumpe theoretisch also etwa versechzigfachen.

Lösung XII, 1 Nach Gl. (XII, 1) ist die Ausbeute e durch das Verhältnis der Enthalpien der an der Verflüssigung beteiligten Phasen gegeben. Aus dem Temperatur-Encropie-Diagramm für Luft (Abb. XII, 4) sind die Werte der Enthalpien zu entnehmen. komprimiertes Gas pi = 200 at, T\ = 200 K, h\ = 32 kcal/kg expandiertes Gas p2 = 1 at, Ti = 100 K, h2 = 75 kcal/kg verflüssigter Anteil p% = 1 at, Tz — 77,35 K, A3 = 22 kcal/kg Mit diesen Werten erhält man für 100 K s = 0,81. Für die Ausgangstemperatur Ti = 290 K sind die Werte h\ = 111 kcal/kg und h2 = 120 kcal/kg aus dem Diagramm zu entnehmen, und es ergibt sich für 290 K eine Ausbeute von e = 0,092. Durch Vorkühlung auf 100 K kann die Ausbeute also um 71,8% gesteigert werden. Lösung XII, 2 Es wird angenommen, daß die Atome mit ihren Mittelpunkten auf den Ecken eines Würfels mit der Kantenlänge D angeordnet seien (Einheitszelle des primitiv-kubischen Gitters). Ein Mol Helium (M = 4g) enthält 6 • 1023 Atome. Bei einer Dichte von Q — 0,248 g/cm 3 nimmt dieses Mol ein Volumen von V = M/e = 16,1 cm 3 ein. An jeder Kante des Würfels liegen Y/v = 8,4 • 107 Atome. Die Kantenlänge selbst beträgt / = V V = 2,52 cm. Diese Länge ist also zu dividieren durch die Anzahl der Atome, die auf ihr aufgereiht sind. Damit erhält man D = 3 • 10 ~8 cm. Für das flüssige Helium mit der Dichte g = 0,124 g/cm 3 erhält man einen Abstand von D = 3,78 • 10~8 cm. Für Quecksilber würde sich unter gleicher Annahme ein mittlerer Abstand von 2,9 • 10~8 ergeben. Lösung XII, 3 Das Verfahren der Heliumverflüssigung nach S i m o n ist ein isentropischer Prozeß. Die Entropie des Gases sei s, die der Flüssigkeit Sf und die des Anteiles, der bei der Expansion als Gas ausströmt, sg. Ein Anteil b wird verflüssigt. Dann muß gelten: s =

(1 —