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German Pages 654 [656] Year 1965
L. Bergmann • Cl. Schaefer
Lehrbuch der Experimentalphysik Band I
LEHRBUCH DER
EXPERIMENTALPHYSIK
ZUM G E B R A U C H B E I
AKADEMISCHEN
V O R L E S U N G E N U N D ZUM
SELBSTSTUDIUM
Von
Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. h. c. L. Bergmann f
Prof. Dr. phil. Dr. rer. nat. h. c. Cl. Schaefer
Universität Gießen u. Leitz-Werke Wetzlar
Universität Köln
I. Band
Mechanik • Akustik • Wärmelehre Mit 650 Abbildungen 7., d u r c h g e s e h e n e u n d v e r b e s s e r t e A u f l a g e
W A L T E R
D E
G R U Y T E R
&
CO.
vormals G. J . Gösehen'sche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp. B E R L I N
1965
© Copyright 1955, 1958,1961, 1964 by Walter de Gruyter & Co., vorm. G . J . Göschen'sche Verlagshandlang, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 — Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Übersetzung, vorbehalten — Archiv-Nr. 527 96 5 1 — P r i n t e d in G e r m a n y — S a t z und Druck: Walter de Gruyter £ Co., Berlin 30
Vorwort zur 1. Auflage Das Lehrbuch der Experimentalphysik, dessen ersten Teil wir hiermit der Öffentlichkeit übergeben, soll die Physik etwa in dem Umfange und in der Art behandeln, wie es in den akademischen Vorlesungen der Verfasser geschieht; seiner Haltung nach soll es ein elementares, für den Anfänger bestimmtes Buch sein. Darin liegt ausgesprochen, daß es in mehrfacher Hinsicht ein Kompromiß sein muß. Einmal soll es natürlich nichts Unrichtiges, Unvollständiges und Unexaktes enthalten, zum anderen aber den Lernenden nicht zu viel mit Problematik belasten, — beide Forderungen widerstreben einander bis zu einem gewissen Grade. Ferner soll die Darstellung einerseits mit möglichst wenig mathematischem Formalismus auskommen, anderseits trotzdem exakt und prägnant sein: auch zwischen diesen Forderungen besteht eine deutliche Spannung. Schließlich wendet sich unser Buch an die vielgestaltige Hörerschar, die die Vorlesung über Experimentalphysik besucht: Physiker, Mathematiker, Chemiker, Pharmazeuten, Mediziner, Biologen, Ingenieure. Auch hier muß zwischen den verschiedenen Bedürfnissen dieser Berufe ein Ausgleich gefunden werden. — Man kann diesen Widerstreit in der T a t bei allen elementaren Lehrbüchern der Physik beobachten, und es ist lehrreich zu sehen, wie die Verfasser sich — j e nach Neigung, Temperament und Lehrerfahrung — im konkreten Falle damit abfinden. In unserem Buch ist eine straffere Systematik durchgeführt, als in den meisten elementaren Lehrbüchern. Damit wollen wir nicht sagen, daß diese Anordnung auch unter allen Umständen in der Vorlesung zweckmäßig sei: im Gegenteil wird man in der Vorlesung oft von einer rein logisch-sachlichen Anordnung abweichen können und müssen; aber um so notwendiger erscheint es uns, dem Lernenden zur Ergänzung der Vorlesung ein Buch in die Hand zu geben, in dem das Vorgetragene sich an der ihm sachlich zukommenden Stelle befindet. Durch besonderen Druck sind einerseits fundamentale Tatsachen und Lehrsätze hervorgehoben, anderseits weitergehende Ausführungen und manche Rechnungen in Kleindruck gesetzt, die beim ersten Studium überschlagen werden können. — Die mathematischen Hilfsmittel gehen an keiner Stelle über das hinaus, was auf den höheren Schulen gelehrt wird; infolgedessen haben wir kein Bedenken getragen, in mäßigem Umfange die Elemente der Infinitesimalrechnung zu benutzen. Aus dem gleichen Grunde mußten wir aber zu unserem Bedauern darauf verzichten, die Vektorrechnung s y s t e m a t i s c h zu verwenden; nach unserer Erfahrung würde dadurch das Buch für viele ungenießbar geworden sein. Eine Änderung dieses Zustandes ist unseres Erachtens erst dann zu erhoffen, wenn die Vektorrechnung auf den höheren Schulen gründlich behandelt wird; es ist vielleicht nützlich, dies einmal mit Nachdruck auszusprechen. — Der T e x t ist mit Absicht ausführlich gehalten, damit die leitenden Gedanken überall möglichst deutlich und anschaulich hervortreten.
VI
Vorwort
Trotz dem Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der verschiedenen Berufe ist es unvermeidlich, daß mancher in unserem Buch Dinge vermißt, die er in seinem späteren Berufe „nötig" habe, mancher anderseits Dinge findet, die für seinen Beruf „unnötig" seien. Wenn man diese Auffassung ernst nähme, würde sie bedeuten, daß man für jede der genannten Fachgruppen ein besonderes Lehrbuch schreiben (und eine besondere Vorlesung halten) müßte. Aber dies entspricht der Auffassung der Fachschule, nicht dem Geist der Hochschule. Wir haben uns deshalb von der Überzeugung leiten lassen, daß unser Buch — wie die Vorlesung über Experimentalphysik — die Darlegung eines wissenschaftlichen Systems bezweckt, und daß man aus einem solchen nicht beliebige Stücke in usum delphini herausbrechen kann. — Manchen Fachgenossen haben wir für freundlichen Rat zu danken, insbesondere Herrn Kollegen Prof. W. H ü c k e l , an dessen Darstellung in seinem Lehrbuch der anorganischen Chemie wir uns in Nr. 65 (Atome und Moleküle, Atomgewicht und Molekulargewicht) mit seiner freundlichen Erlaubnis anschließen durften. Ganz besonderen Dank schulden wir Herrn Studienrat Dr. W. K l i e f o t h , Lehrbeauftragten für Schulphysik an den Breslauer Hochschulen; er hat nicht nur das Manuskript und die Korrektur kritisch gelesen, sondern uns auch ständig mit seiner großen Unterrichtserfahrung unterstützt. B r e s l a u , im Juli 1943 L. B e r g m a n n
Cl. S c h a e f e r
Vorwort zur 2. und 3. Auflage Die 1. Auflage ist seit mehr als Jahresfrist vergriffen; besondere Umstände verhinderten einen sofortigen Neudruck, so daß die 2. und 3. Auflage erst jetzt erscheinen kann. Sie ist im wesentlichen ein Abdruck der 1. Auflage, jedoch von Druckfehlern und kleineren Versehen gereinigt. Zahlreichen Fachgenossen sind wir für freundliche Hinweise sehr dankbar; wenn sie nicht alle berücksichtigt werden konnten, so liegt dies nicht an mangelndem guten Willen, sondern an den Zeitumständen. Dem Verlag schulden wir besonderen Dank für die Energie und Umsicht, mit der er trotz dieser ungünstigen Bedingungen die neue Auflage fertiggestellt hat. B r e s l a u , im Dezember 1944 L. B e r g m a n n
Cl. S c h a e f e r
Vorwort zur 6. Auflage Das Vorwort zur 6. Auflage muß mit einer schmerzlichen Feststellung beginnen: sie ist die erste, bei der Ludwig Bergmann nicht mehr mitwirken konnte. Er starb unerwartet am 14. September 1959 aus scheinbar voller Gesundheit heraus. Hier ist nicht der Ort, um dem Schmerz Ausdruck zu geben, den ich selbst durch den Tod meines Schülers, Kollegen und Freundes Bergmann erlitten habe. Aber ich darf darauf hinweisen, daß es der schlimmste Schlag war, der unser Buch treffen konnte. War doch kaum ein anderer so wie Bergmann geeignet und befähigt, ein „Lehrbuch der Experimentalphysik" zu schreiben, denn er war ein Experimentator von großem Format und ein begeisterter Lehrer. Ich kann nur hoffen, daß es gelungen ist, die neue Auflage in seinem Sinne zu bearbeiten. Die Grundhaltung des Buches ist unverändert; die kleineren Zusätze und Änderungen, zu denen wir meistens durch kritische Leser angeregt wurden, bedürfen nicht der Aufzählung im einzelnen; eine größere Einschaltung habe ich über das Helium-Problem hinzugefügt (Nr. 112). Möge die neue Auflage die gleiche freundliche Aufnahme finden, wie die bisherigen! Allen denjenigen jüngeren oder älteren Physikern, die mich mit ihren Vorschlägen unterstützt haben, danke ich herzlichst; ebenso dem Herrn Verleger, der auf alle Wünsche bereitwilligst einging. Köln, im Mai 1961
C l e m e n s S c h a e f er
Vorwort zur 7. Auflage Die 6. Auflage (1961) war rascher vergriffen, als erwartet. Dadurch wurde die Zeit, die für die Neubearbeitung zur Verfügung stand, mehr eingeschränkt, als mir lieb war. Zu meiner Unterstützung konnte ich aber in Herrn Diplom-Physiker A n d r e a s S c h l a c h e t z k i einen ebenso interessierten wie fleißigen und kritischen Mitarbeiter gewinnen. Wir haben gemeinsam die alte Auflage geprüft; ein aufmerksamer Leser wird an vielen Stellen Veränderungen feststellen, die wir für Verbesserungen halten; eine Vermehrung des Stoffes haben wir nach Möglichkeit vermieden, was bei den im ersten Bande behandelten Teilgebieten der Physik (Mechanik, Akustik, Wärmelehre) möglich war. Immerhin haben wir einige kleine Zusätze gebracht; sie sind in Anhängen am Schluß des Bandes abgedruckt. — Dem Verlag habe ich für sein Verständnis und Entgegenkommen besonders zu danken. Köln, im Oktober 1964
Clemens S c h a e f e r
Inhaltsübersicht Seite
Einleitung
1
Mechanik und Akustik I. Kapitel. Maß und Messen 1. 2. 3. 4. 5.
Längenmessungen Winkelmessungen Bestimmung von Massen Flächen- und Raummessungen Zeitmessung
6 11 12 13 15
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.
Absolute und relative Ruhe und Bewegung; Begriff des Massenpunktes Gleichförmig geradlinige Bewegung; Begriff der Geschwindigkeit Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung Begriff der Beschleunigung bei geradliniger Bewegung Zusammensetzung und Zerlegung von Bewegungen; Parallelogramm der Bewegungen .. Krummlinige Bewegung; allgemeine Definition der Beschleunigung Fallgesetze Wurfbewegung; vertikaler, horizontaler und schiefer Wurf Trägheit; erstes N e w t o n s c h e s Bewegungsgesetz Kraftbegriff; zweites N e w t o n s c h e s Bewegungsgesetz Zusammensetzung und Zerlegung von Kräften; Messung von Kräften Gewicht; träge und schwere Masse Stoß, Stoßkraft, Impuls D ' A l e m b e r t s c h e s Prinzip; Trägheitskräfte Begriff der Arbeit und der Leistung Potentielle und kinetische Energie; Erhaltung der Energie
18 20 22 23 24 27 31 35 39 41 44 48 51 52 56 60
m . Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten 22. 23. 24. 25.
Drittes N e w t o n s c h e s Bewegungsgesetz 64 Erster Impulssatz; Erhaltung des Impulses eines freien Systems 67 Massenmittelpunkt (Schwerpunkt); erster Impulssatz; Schwerpunktsatz 69 Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) von Systemen, insbesondere starren Systemen; Translation und Rotation 74 26. Trägheitsmoment (Drehmasse); Satz von S t e i n e r 76 27. Drehmoment (Drehkraft); Drehimpuls 81 28. Zweiter Impulssatz (Drehimpulssatz) 87
X
Inhaltsübersicht IV. Kapitel. Anwendungen auf spezielle Bewegungen Seite
29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41.
Zentripetal- und Zentrifugalkraft 94 Planetenbewegung, K e p l e r s c h e Gesetze, Gravitation 99 Potential. Fernkräfte und Nahekräfte (Feldkräfte) 106 System der K r ä f t e am starren Körper; Kräftepaar 114 Mittelpunkt paralleler K r ä f t e ; Beziehung zum Schwerpunkt, Bestimmung des Schwerpunktes 120 Verschiedene Arten des Gleichgewichtes; Standfestigkeit 125 Prinzip der virtuellen Verrückungen; die einfachen Maschinen 129 Pendelbewegung; konisches, mathematisches und physisches Pendel 136 Schwingungen; Zusammensetzung von Schwingungen 142 Gedämpfte Schwingungen; freie und erzwungene Schwingungen, Resonanz 160 Bewegungen um permanente (freie) Achsen; Kreiselgesetze 168 Die Erde als rotierendes System; Mach weis der Erddrehung 178 Reibung fester Körper 185 V. Kapitel. Elastizität der festen Körper
42. Kennzeichen des festen Aggregatzustandes 43. Begriff der elastischen Spannungen; Normal- und Tangentialspannungen; H o o k e s c h e s Gesetz 44. Reine Volumelastizität u n d reine Schubelastizität 45. Einseitige Dehnung; Biegung 46. Proportionalitäts-, Elastizitäts-, Fließgrenze; Festigkeit, Härte 47. Stoßgesetze
194 197 199 203 209 212
VI. Kapitel. Mechanik der Flüssigkeiten und Gase 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64.
Allgemeine Charakterisierung des flüssigen und gasförmigen Aggregatzustandes Verteilung des Druckes in schwerelosen Flüssigkeiten und Gasen Kompressibilität der Flüssigkeiten und Gase Die der Schwere unterworfene Flüssigkeit; Boden-, Seiten- und Aufdruck Die der Schwere unterworfenen Gase; der Luftdruck und seine Wirkungen Archimedisches Prinzip Schwimmen eines Körpers; Metazentrum Allgemeines über strömende Flüssigkeiten Experimentelle Bestimmung der Zähigkeit: Gesetz von H a g e n - P o i s e u i l l e und von S t o k e s ; Widerstandsziffer, R e y n o l d s c h e Zahl Strömungsformen idealer Flüssigkeiten; wirbelfreie und wirbelnde Bewegung Kontinuitätsgleichung; B e r n o u l l i s c h e s Theorem; Druckmessung in bewegten Flüssigkeiten Umströmung fester Körper durch ideale Flüssigkeiten; Stromlinienkörper; Magnuseffekt Wirbelbewegungen Umströmung fester Körper durch reale Flüssigkeiten Auftrieb und Widerstand eines Tragflügels; Motorflug, Gleitflug, Segelflug Turbulenz Wasserkraftmaschinen
216 218 221 225 231 238 243 246 249 256 259 268 275 280 284 290 293
VII. Kapitel. Molekularphysik 65. Atome und Moleküle; Atomgewicht und Molekulargewicht; A v o g a d r o s c h e Hypothese 297 66. Allgemeines über Molekularkräfte; Wirkungssphäre; Adhäsion und Kohäsion 303
Inhaltsübersicht 67. 68. 69. 70. 71.
Struktur der festen Körper; Kristalle und Kristallsysteme Oberflächenspannung Kapillarität Lösungen B r o w n s c h e Molekularbewegung; Diffusion; Osmose
72. 73. 74. 75. 76. 77. 78.
Entstehung von Wellen aus Schwingungen; Grundbegriffe Interferenz; stehende Wellen und Kohärenz, Inkohärenz Polarisation von Transversalwellen Fortpflanzungsgeschwindigkeit elastischer Wellen H u y g h e n s - F r e s n e l s c h e s Prinzip Reflexion und Brechung nach der Wellentheorie D o p p l e r s c h e s Prinzip
79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86.
Die Schallenipfindungen und ihre physikalische Ursache; Charakteristika des Klanges Schallausbreitung; Reflexion, Brechung, Absorption Lineare Schallgeber Flächenhafte und räumliche Schallgeber Ultraschallgeber Bestimmungsstücke und Meßgrößen des Schallfeldes Schallempfänger; Messung der Schallfeldgrößen O h m - H e l m h o l t z s c h e s Grundgesetz der physiologischen Akustik; Resonanztheorie des Hörens Sekundäre Klangerscheinungen: Schwebungen, Kombinationstöne, Variationstöne... Mechanische Wirkungen des Schalles Gliederung des musikalischen Tonbereichs; Konsonanz, Dissonanz, Tonleiter Das menschliche Stimmorgan; Natur der Vokale Das menschliche Gehörorgan und seine Funktionsweise
XI Seite
304 311 321 326 330
V m Kapitel. Allgemeine Wellenlehre 338 347 358 359 362 369 373
IX. Kapitel. Akustik
87. 88. 89. 90. 91.
376 380 389 407 413 415 420 423 425 432 435 441 444
Wärmelehre X. Kapitel. Temperatur und Wärmemenge 92. 93. 94. 95. 96. 97.
Grundbegriffe: Temperatur; Thermometrie Ausdehnung fester und flüssiger Körper Ausdehnung der Gase; Zustandsgieichung; absolute Temperatur Wärmemenge Spezifische Wärme Übertragung der Wärme (Wärmeleitung, Konvektion, Strahlung)
450 455 462 470 475 479
XI. Kapitel. Mechanische Theorie der Wärme 98. Wärme als Energieform; allgemeines Energieprinzip; erster Hauptsatz der Wärmetheorie 487 99. Spezielle Prozesse mit idealen Gasen 496 100. Thermochemische Prozesse 504
XII
Inhaltsübersicht Seite
101. Molekularkinetische Theorie der Wärme 508 102. Perpetuum mobile zweiter Art; reversible und irreversible Prozesse; Carnotscher Kreisprozeß 524 103. Zweiter Hauptsatz der Wärmetheorie 531 104. Entropie; Prinzip von der Vermehrung der Entropie 536 105. Freie und gebundene Energie; chemische Affinität 541 106. H e l m h o l t z s e h e Gleichung; Nernstsches Wärmetheorem 544 107. Änderung des Aggregatzustandes: Verdampfung und Verflüssigung 550 108. Änderung des Aggregatzustandes: Schmelzen und Sublimieren 580 109. Zustandsdiagramm; Phasenregel 586 110. Herstellung tiefer Temperaturen; technische Verflüssigung von Gasen 590 111. Thermodynamische Maschinen 594 112. Probleme der Tieftemperaturphysik 606 113. Molekularkinetische Deutung des zweiten Hauptsatzes 609 Anhang I. CGS-und MKS-System
626
Anhang II. Erläuterungen zur Thermodiffusion
627
Anhang III. Zur Theorie des Hörens
629
Namen- und Sachregister
633
Einleitung Das primär Gegebene für den Menschen sind seine Sinnesempfindungen. Erst von diesen aus schließt er auf die Existenz einer Außenwelt, die unabhängig von ihm „objektiv" da ist. Rein logisch betrachtet mag dieser Schluß nicht zwingend und die Voraussetzung von der objektiven Existenz einer Außenwelt nichts als eine naheliegende Hypothese sein. In der Tat hat es Philosophen und philosophische Systeme gegeben, die die reale Existenz der Außenwelt leugneten. Aber für den Naturforscher ist die Existenz einer solchen eine unabdingbare Voraussetzung; denn diese Außenwelt ist das Objekt der Naturforschung. Insbesondere haben Physik und Chemie als Zweige der exakten Naturwissenschaft die Aufgabe, die Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen der Außenwelt festzustellen. Die erste Schwierigkeit, die sie dabei antreffen, ist darin begründet, daß wir von der Außenwelt nur Kunde erhalten durch unsere Sinne. „In unserem Bewußtsein", sagt Heinrich H e r t z , „finden wir eine innere geistige Welt von Anschauungen und Begriffen, außerhalb unseres Bewußtseins liegt fremd und kalt die Welt der wirklichen Dinge. Zwischen beiden zieht sich als schmaler Grenzstreifen das Gebiet der sinnlichen Empfindung hin. Kein Verkehr zwischen beiden Welten ist möglich als über diesen Grenzstreifen hinüber; keine Änderung in der Außenwelt kann sich uns bemerklich machen, als indem sie auf ein Sinnesorgan wirkt und Kleid und Farbe dieses Sinnes erborgt, keine Ursache unserer wechselnden Gefühle können wir uns in der Außenwelt vorstellen, als nachdem wir denselben, wenn auch noch so ungern, sinnliche Attribute beigelegt haben. Von höchster Wichtigkeit für jede Erkenntnis der Welt ist es also, daß uns jener Grenzstreifen gründlich bekannt ist, damit wir nicht das, was ihm angehört, für das Eigentum der einen oder der anderen der durch ihn geschiedenen Welten halten." Die Erforschung der Eigenschaften unserer Sinnesorgane ist die Aufgabe der P h y s i o l o g i e ; sie ermöglicht uns, von unserer Wahrnehmung das abzuziehen, was auf die Rechnung der Sinnesorgane selbst kommt und so daraus zu schließen, was in der Außenwelt vor sich geht, auch wenn kein Ohr und kein Auge, überhaupt kein wahrnehmender Mensch vorhanden wäre. Schon die hier angedeutete Trennung ist nicht immer einfach, und es hat lange Zeit gedauert, bis die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Unterscheidung Allgemeinbesitz der Forschung wurde. Ein schlagendes Beispiel dafür ist der berühmte Streit zwischen Goethe und den Physikern über die Natur des Lichtes und der Farben. Goethes Versuche sind in sich richtig, wertvoll und einwandfrei; aber es sind Versuche, die der physiologischen Optik angehören, während die bekannten Versuche Newtons und der Physiker, weißes Licht in die Spektralfarben zu zerlegen, in die p h y s i k a l i s c h e Optik gehören. Daher die richtige Behauptung der Physiker, das weiße Licht sei etwas Kompliziertes, in ihm seien die Farben des Spektrums „enthalten", und anderseits die nicht weniger richtige Behauptung Goethes, die Empfindung „Weiß" sei eine einfache, ebenso einfach wie die Empfindung Rot, Grün oder Blau. Der leidenschaftliche Protest Goethes gegen die unsinnige Behauptung der Physiker geht ebenso an dem wirklichen Sachverhalt vorbei wie die Ablehnung der Anschauung Goethes von Seiten der Physiker: Es ist durchaus miteinander verträglich, daß etwas, was unseren Sinnen, d. h. physiologisch, einfach erscheint, physikalisch etwas höchst Komplexes ist und umgekehrt. Heute B e r g m a n n u. S c h a e f e r , Experimentalphysik. I.
1
2
Einleitung
ist dieser Sachverhalt allgemein anerkannt, und es wird deutlich zwischen physikalischer und physiologischer Optik oder Akustik unterschieden. Wir haben es im allgemeinen hier nur mit der ersteren zu tun. Während so die Aufgabe der Physik und Chemie wenigstens begrifflich gegen die der Physiologie klar abgegrenzt ist, ist eine Gebietsabgrenzung zwischen diesen beiden Wissenschaften selbst schwieriger. Man kann etwa sagen, daß die Physik es mit den a l l g e m e i n e n Charakteren der Naturerscheinungen zu tun hat, d. h. denjenigen, die unabhängig von dem spezifischen Charakter der Stoffe sind, während die Chemie es umgekehrt vorzugsweise mit den Erscheinungen zu tun hat, die auf der s p e z i f i s c h e n Natur der Stoffe beruhen. Die Physik behandelt demgemäß die Erscheinungen, bei denen es sich nicht um Änderungen in der Zusammensetzung der betrachteten Körper handelt, die Chemie dagegen hat es mit Vorgängen zu tun, bei denen solche Änderungen die entscheidende Rolle spielen. Doch ist nicht aus dem Auge zu verlieren, daß diese Abgrenzung nur eine schematische ist, und daß in Wirklichkeit die moderne Physik und die neuere Chemie immer mehr zu einer sachlichen Einheit verschmelzen, und daß sie nur infolge des ungeheuren Stoffumfanges, d. h. aus rein praktischen Gründen, getrennt werden. Die Aufgabe der exakten Naturforschung, insbesondere der Physik, ist nicht nur die Feststellung der bloßen Tatsachen in der äußeren Welt, sondern vor allem der sinnvollen Verknüpfung derselben miteinander, die Aufzeigung ihrer gegenseitigen Bedingtheit und Abhängigkeit. Das heißt: Wir fassen die Geschehnisse als im Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehend auf. Der Zwang zu solcher Anordnung der Dinge ist in einer Uranlage des menschlichen Geistes begründet und wird Kausalgesetz oder Kausalitätsprinzip genannt. Ohne Zugrundelegung desselben wäre nicht der einfachste Schluß möglich. Das Kausalgesetz ist also die V o r a u s s e t z u n g f ü r die Möglichkeit einer Naturforschung überhaupt, und es wäre ein Mißverständnis zu glauben, daß es empirisch begründet oder widerlegt werden könne. Man kann daher etwas konkreter als vorher sagen: Die Aufgabe der Physik besteht in der Herstellung eines kausalen Zusammenhanges zwischen den Tatsachen. Damit dies möglich ist, müssen die Vorgänge in bestimmter Weise geordnet werden. Es liegt nun wiederum in der Organisation des Menschen begründet und ist infolgedessen unausweichlich, daß wir alles nur in den Kategorien „ R a u m " und „ Z e i t " zu begreifen vermögen. Ein Ereignis findet stets an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit statt. Dinge, die sich dieser Einordnung entziehen, gehören jedenfalls nicht vor das Forum der klassischen Physik, und die Behauptung, es gäbe physikalische Vorgänge, die nicht in Raum und Zeit begreiflich wären, heißt so viel, als zu erklären, daß die klassische Physik eine Grenze habe. Aber die selbstverständliche Voraussetzung, die wir machen müssen, wenn wir an den Versuch gehen, eine Physik zu begründen, ist die der „Begreiflichkeit" der Natur. Dazu gehört vor allen Dingen die Einordnung in die Kategorien „ R a u m " und „Zeit" und darüber hinaus noch die Aufstellung einer großen Zahl von weiteren Begriffen, mit deren Hilfe eben die kausale Ordnung des Naturgeschehens, d. h. das „Begreifen" derselben gelingt. Denn Begreifen heißt Begriffe bilden. Die systematische Entwicklung dieser Begriffe wird gehörigen Ortes erfolgen. Hier müssen wir uns nur noch genauer mit Raum und Zeit befassen. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine Kritik unseres Raum- und Zeiterlebnisses selbst — das wird in der Physik als gegeben vorausgesetzt — sondern um die Möglichkeit, in Raum und Zeit messend vorzugehen; sonst ist nämlich die geforderte quantitative Darstellung physikalischer Vorgänge nicht möglich. Die Eigenschaften des R a u m e s werden durch die Axiome der Geometrie bestimmt. Es gibt aber nicht nur eine, sondern mehrere voneinander verschiedene Geometrien, und es erhebt sich die Frage, welche von ihnen die dem physikalischen Raum adäquate ist. Diese Frage kann nur e m p i r i s c h entschieden werden, im Gegensatz zu K a n t s Meinung, der die Gültigkeit der sogenannten
Einleitung
3
euklidischen Geometrie als a priori feststehend betrachtete. Man kann sagen, daß im allgemeinen alle Erfahrungen mit der Auffassung verträglich sind, daß unser Raum tatsächlich durch die euklidische Geometrie bestimmt wird (der einzige Fall, in dem dies nicht zuzutreffen scheint, wird später erörtert werden und kann vorläufig außer Betracht bleiben). Wir nehmen also vorläufig folgendes an: Der leere Raum ist unendlich ausgedehnt, eben, homogen und isotrop. Unter Ebenheit des Raumes verstehen wir die Tatsache, daß unendlich ausgedehnte Geraden und Ebenen in ihm enthalten sind; homogen nennen wir ihn deshalb, weil jeder Punkt des Raumes von jedem anderen ununterscheidbar ist, und isotrop heißt er, weil alle durch einen Raumpunkt gelegten Richtungen gleichwertig sind. Schließlich ist der Raum dreidimensional, d. h. in jedem seiner Punkte können drei und nur drei aufeinander senkrechte Geraden errichtet werden, oder was dasselbe ist: wir können drei zueinander senkrechte Richtungen in jedem Punkte unterscheiden: links—rechts, oben—unten, vorne—hinten. Auf der Ebenheit des Raumes beruht die Möglichkeit, ihn durch starre Maßstäbe auszumessen; denn weil er eben ist, können diese, ohne eine Deformation zu erfahren, von einem Ort zu jedem anderen hin bewegt werden 1 ). Wie die Raumausmessung im einzelnen praktisch geschieht, wird in Kapitel I auseinandergesetzt. Die Z e i t ist im Gegensatz zum Räume eine eindimensionale Mannigfaltigkeit; in ihr gibt es nur Vergangenheit und Zukunft, die durch einen „Zeitpunkt", die Gegenwart, geschieden werden. Wie der Raum, so muß auch die Zeit gemessen werden; wie diese Messung mit Uhren — nach Festlegung einer Zeiteinheit — geschieht, wird gleichfalls im I. Kapitel erörtert. Hier sei nur auf einen besonderen Punkt aufmerksam gemacht: An einem gegebenen Orte des Raumes ist es verhältnismäßig einfach, die Zeit zu messen, d. h. durch eine Zahlenangabe zu charakterisieren. Es besteht aber die Aufgabe, diese Zeitangabe an alle Punkte des Raumes zu übermitteln, d. h. ihr einen allgemein verbindlichen Sinn zu geben. Die klassische Physik hat ohne weiteres angenommen, daß dies möglich sei; ihre Zeitangaben machen daher den Anspruch, u n i v e r s e l l zu sein. Erst die moderne Physik hat erkannt, daß hier ein P r o b l e m vorliegt; in der Optik werden wir darauf zurückkommen. Vorläufig halten wir an der klassischen Auffassung der universellen Zeit fest. Da die Kunde von der Außenwelt nur durch die Sinnesorgane in unser Bewußtsein gelangt, ist es natürlich, daß die ursprüngliche E i n t e i l u n g d e r P h y s i k in Einzeldisziplinen nach den Sinnesorganen erfolgte. Der Gehörsinn reagiert auf Vorgänge, die unter dem Namen „Akustik" zusammengefaßt wurden, ebenso wie das Auge zur Abgrenzung eines Kapitels „Optik" Veranlassung war. Die „Wärmelehre" umfaßte die Erscheinungen, die durch den Wärmesinn bemerkt wurden, die „Mechanik" ist der Inbegriff der Vorgänge, die auf den Tast- und Muskelsinn einwirken. I n dieser Einteilung der Physik nach den Sinnesorganen des Menschen zeigt sich deutlich ihr anthropomorpher Ursprung, und die gleiche Herkunft weisen ihre einfachsten und grundlegenden Begriffe auf. Der physikalische Begriff der „ K r a f t " z. B. kommt unzweifelhaft von dem Gefühl der Muskelanstrengung her, ebenso wie der physikalische Begriff der „Arbeit" von dem Gefühl der Ermüdung usw. Aber im Verlauf der weiteren Entwicklung der Wissenschaft werden diese Begriffe, die naturgemäß der Sprache des täglichen Lebens entnommen wurden, immer mehr verfeinert und präzisiert, so daß sie stets einen ganz bestimmten Sinn besitzen, während die gleichen Worte im Leben deutliche Schwankungen und Ungenauigkeiten ihrer Bedeutung aufweisen. So entfernt sich schließlich die wissenschaftliche Sprache immer mehr von der des Alltages und muß dies tun, da sie sonst ihren Zweck nicht erfüllen könnte. Nur Unverstand kann aus dieser notwendigen Entwicklung einen Vorwurf gegen die Wissenschaft herleiten. Wir werden an verschiedenen Stellen Gelegenheit haben, diesen allmählichen Subli1 ) Dies wäre auch noch möglich, wenn er eine konstante Krümmung besäße, wie das Beispiel der Kugeloberfläche zeigt.
1*
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Einleitung
mierungsprozeß festzustellen und seine absolute Notwendigkeit zu erkennen. Ihre höchste Vollendung, aber freilich auch die stärkste Abstraktion erreicht die wissenschaftliche Sprache in der Verwendung der mathematischen Symbole und des mathematischen Algorithmus. Es ist nur eine natürliche Folge dieses Prozesses, daß sich allmählich die Grenzen der ursprünglichen Einteilung verschoben haben. Nachdem z. B. in der Akustik festgestellt war, daß einem wahrgenommenen Klange in der Außenwelt eine periodische Luftbewegung entspricht, hat man alle diese periodischen Vorgänge, ganz gleichgültig, ob sie hörbar sind oder nicht, mit in die Akustik aufgenommen. Und in der Optik umfassen diejenigen Wellen, die in uns einen Lichteindruck hervorrufen, nur einen winzigen Bruchteil derjenigen, auf die unser Auge nicht reagiert. Hand in Hand damit hat die alte Einteilung der Physik einer anderen Platz gemacht. Die drei früher getrennten Gebiete der Mechanik, Akustik und Wärmelehre sind nunmehr in ein einziges verschmolzen, die beiden letzteren nämlich sind in der Mechanik aufgegangen; anderseits hat sich die Optik als ein Teilgebiet der Elektrizitätslehre herausgestellt. Um die Vereinigung der nunmehr entstandenen zwei großen Gebiete ist die Physik dauernd bemüht, ohne daß sie bisher befriedigend gelungen wäre. Das Material für die Physik liefert die B e o b a c h t u n g . Aber nicht die bloße Beobachtung von selbst ablaufender Naturvorgänge, wie sie der Astronom am gestirnten Himmel anstellt, ist das Wesentliche, sondern die planmäßige Anstellung von Versuchen unter einfachen, übersichtlichen und reproduzierbaren Bedingungen, kurz: das E x p e r i m e n t . Aber was ist planmäßig? Was einfach und übersichtlich? Diese Prädikate sind ja relativ; was von einem Standpunkt als einfach und übersichtlich erscheint, braucht es unter anderem Gesichtswinkel nicht zu sein. Daraus geht hervor, d a ß s i n n v o l l e s E x p e r i m e n t i e r e n n u r m ö g l i c h i s t in V e r b i n d u n g m i t e i n e r t h e o r e t i s c h e n V o r s t e l l u n g , in Verbindung mit einer von bestimmten Gesichtspunkten aus an die Natur gestellten Frage. Die rohe Empirie ist keine Erkenntnisquelle der Physik, eine Einzeltatsache bleibt eine Einzeltatsache, auch wenn sie tausendmal beobachtet ist. Erst ihre Interpretation in einem Systemgedanken macht die Empirie fruchtbar. So muß gleich Hand in Hand mit den ersten Beobachtungen eine gedankliche Verarbeitung gehen, die dann zu planmäßigen weiteren Experimenten Veranlassung gibt. Diese regen neue Fragestellungen an, die durch neue Versuche beantwortet werden, und so gelingt es allmählich, immer neue Tatsachen unter einem Gesichtspunkt zusammenzufassen, indem man vom Speziellen zum Allgemeineren fortschreitet. Dieses Verfahren nennt man I n d u k t i o n , und so ist denn die P h y s i k e i n e i n d u k t i v e W i s s e n s c h a f t . Es ist ein langer, mühsamer Weg, der zurückgelegt werden muß, bevor es gelingt, alle Tatsachen eines Gebietes unter einem einzigen oder einigen wenigen allgemeinen Gesichtspunkten zusammenzufassen, und da der Aufstieg vom Speziellen zum Allgemeinen nicht eindeutig ist, so sind natürlich Irrwege keineswegs ausgeschlossen. Gerade durch die Methode der Physik aber werden diese über kurz oder lang als solche erkannt. Denn wenn etwa an einem bestimmten Punkte der Wissenschaftsentwicklung eine falsche Verallgemeinerung gemacht worden ist, so zeigt sich dies unweigerlich daran, daß gewisse Folgerungen aus derselben dem Experiment nicht standhalten. So gilt zwar auch hier, daß der Weg des Fortschritts mit Irrtümern gepflastert ist, aber es findet wirklich ein Fortschreiten statt. Ist endlich das Ziel der Zusammenfassung aller Tatsachen erreicht, so hat man die „Grundgesetze" des betreffenden Gebietes gewonnen. Die ältesten Tatsachen der Mechanik z. B. stammen schon aus dem griechischen Altertum, aber erst G a l i l e i und N e w t o n gelang die Formulierung der mechanischen Grundgesetze. Nachdem diese einmal erlangt sind, kann man nunmehr durch D e d u k t i o n die Gesamtheit der Tatsachen aus ihnen ableiten. Es versteht sich, daß die Beobachtung eines Experiments kein bloßes Betrachten seines Ablaufes ist, sondern eine quantitative Verfolgung der einzelnen Vorgänge. Es ist
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daher eine der Hauptaufgaben des Physikers, M e s s u n g e n anzustellen; diese erst liefern das Material für die weitere Bearbeitung. Dabei ist es ganz im Sinne der vorhin geschilderten Loslösung der Physik von ihrem anthropomorphen Ursprünge, daß bei den Messungen die Sinnesorgane immer mehr durch Apparate ersetzt werden, die jene Organe an Genauigkeit, Feinheit und Zuverlässigkeit übertreffen. Dies ist um so notwendiger, als wir für die elektrischen Erscheinungen kein eigenes Organ besitzen. Die Waage erkennt Gewichtsunterschiede, die mehr als tausendmal kleiner sind, als der Muskelsinn sie feststellen kann; Fernrohr und Mikroskop enthüllen Geheimnisse, zu denen kein menschliches Auge vordringen könnte; Thermometer können Temperaturdifferenzen anzeigen, die weit jenseits der Leistungsfähigkeit des Wärmesinnes liegen. Die physikalischen Apparate stellen daher im wahren Sinne des Wortes E r w e i t e r u n g e n u n s e r e r n a t ü r l i c h e n O r g a n e dar. Der doppelten Aufgabe der Physik, der planmäßigen Anstellung von Experimenten, der genauen Messung aller dabei auftretenden Größen einerseits und ihrer zusammenfassenden Deutung anderseits entsprechen die beiden Arbeitsrichtungen der E x p e r i m e n t a l p h y s i k und der t h e o r e t i s c h e n P h y s i k . Es ist klar, daß beide aufeinander angewiesen sind, daß der Experimentator den Theoretiker und dieser den Experimentalphysiker nicht entbehren kann, und daß zu einer gedeihlichen Entwicklung die gleichmäßige Pflege beider Arbeitsweisen notwendig ist. Gerade die heutige Blüte der Physik ist nur durch die gegenseitige Befruchtung beider Disziplinen möglich geworden. Die enge Zusammengehörigkeit zeigt sich natürlich auch bei einem Lehrbuch der Experimentalphysik: Dieses ist keine bloße Anhäufung von Experimenten (oder sollte es wenigstens nicht sein), sondern bezweckt die Darstellung eines wissenschaftlichen Systems, das auf Experimente gegründet und durch sie erläutert wird. Man kann mit einem gewissen Rechte neben die experimentelle und theoretische Physik die m a t h e m a t i s c h e P h y s i k stellen; dieser kann man die Aufgabe zuweisen, aus den von den ersteren gewonnenen Grundgesetzen alle möglichen Konsequenzen mathematisch zu entwickeln und durchzuarbeiten. Es gibt in der Tat Partien der Physik, die so abgeschlossen sind, daß im einzelnen nur noch mathematische Arbeit zu leisten ist. Das Verfahren der mathematischen Physik ist dann reine Deduktion aus den Voraussetzungen, die Experiment und Theorie geschaffen haben.
Die Aufgabe der Physik, wie jeder Wissenschaft, ist auf Erkenntnis der Wahrheit gerichtet; darin beruht ihre sittliche Würde, daß ihr nur daran liegt, die geistigen Schätze des Menschengeschlechtes zu vermehren. Aber der Besitz der Erkenntnis bedeutet gleichzeitig in gewissem Maße Beherrschung der Natur für die Zwecke der Menschheit. Die wissenschaftlich erkannten Zusammenhänge in diesem Sinne nutzbar zu machen, ist Aufgabe der T e c h n i k . Vom reinen Nützlichkeitsstandpunkte liegt die Frage nahe, ob nicht das Streben der reinen Wissenschaft, nur auf die Mehrung der Erkenntnis bedacht zu sein, ein unnötiger Umweg zu den Anwendungen ist, ob es nicht besser sei, direkt auf ein bestimmtes praktisches Ziel hinzuarbeiten. Die Geschichte der Wissenschaft hat darauf die Antwort gegeben, daß dies keineswegs der Fall ist, sondern daß es sich auch vom rein praktischen Gesichtspunkte als am besten erweist, wenn die Wissenschaft, ihrem ureigensten inneren Gesetze folgend, nach der Wahrheit strebt und nicht fragt, was sie nützt. Wenn die Zeit gekommen ist, werden ihr, wie bisher, die praktischen Anwendungen als reife Früchte der Erkenntnis von selbst in den Schoß fallen.
Mechanik und Akustik I.
Kapitel
Maß und Messen Eine Größe m e s s e n heißt, ihr zahlenmäßiges Verhalten zu einer (irgendwie festgelegten) E i n h e i t bestimmen. Damit dies möglich ist und man immer dieselben Ergebnisse erhält, auch wenn die Messungen von verschiedenen Personen und an verschiedenen Orten der Erde ausgeführt werden, ist die Festlegung bestimmter Maßeinheiten für die verschiedenen physikalischen Größen notwendig. Es sind also z. B. Maßeinheiten für die Länge, für das Volumen, für die Kraft, für die Arbeit, für die Wärmemenge, für die Elektrizitätsmenge, für die Stromstärke usw. erforderlich. Es wird sich im folgenden zeigen, daß es möglich und im allgemeinen zweckmäßig ist, diese verschiedenen Einheiten auf wenige Grundeinheiten zurückzuführen. Dies sind die Einheiten der Länge, der Zeit und der Masse. Das auf diesen Grundeinheiten aufgebaute Maßsystem bezeichnet man nach seinen Schöpfern G a u ß und W e b e r als das „absolute" Maßsystem. Je nachdem man für die Einheit der Länge das Zentimeter (cm) oder das Meter (m), für die Einheit der Masse das Gramm (g) oder das Kilogramm (kg) wählt, während die Zeiteinheit Sekunde (s) beiden Systemen gemeinsam ist, erhält man zwei äquivalente Formen des Maßsystems: 1. das CGS-System, 2. das MKS-System. Ersteres war in der Physik bisher allgemein üblich; neuerdings zieht man vielfach das MKSSystem vor. Wir bleiben bei der bisherigen Wahl.
1. Längenmessungen Als Längeneinheit der Physik wählen wir das Zentimeter (cm); es ist der hundertste Teil des „Meters". Die Länge des Meters ist durch ein in Sfcvres bei Paris im „Bureau des Poids et Mesures" aufbewahrtes Urmeter gegeben. Dieses Urmeter ist ein aus der sehr beständigen und festen Legierung von 90% Platin und 10% Iridium hergestellter Metallstab, dessen Querschnittsform aus Abb. 1 hervorgeht. Diese Form wurde gewählt, um den Stab möglichst Zern leicht zu machen und ihn trotzdem vor Verbiegungen zu schützen. Auf der Mittelrippe, deren Länge sich auch bei Verbiegungen als „neutrale Zone" (s. S. 208) nicht ändert, Abb. 1. Profil des Meter sind in der Nähe der Enden zwei Strichmarken angebracht, prototyps deren Abstand bei der Temperatur 0° Celsius und 760 mm Luftdruck die Länge des Normal- oder Urmeters darstellt. Von diesem Urmeter sind genaue Kopien hergestellt und an die verschiedenen Kulturstaaten verteilt worden. Das Meter sollte eigentlich den vierzigmillionsten Teil der Länge des durch die Pariser Sternwarte gehenden Erdmeridians darstellen. Die zu diesem Zweck von M e c h a i n und D e l a m b r e 1791 ausgeführte Gradmessung ist jedoch nach späteren Messungen von B e s s e l mit einem Fehler behaftet, so daß das Urmeter tatsächlich um 0,00856 cm zu kurz ist; somit beträgt die Länge des Erdquadranten 10000856 m.
1. Längenmessungen
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Das Meter wird nach dem Dezimalsystem in kleinere Einheiten, und zwar in 10 Dezimeter (dm), 100 Zentimeter (cm) und 1000 Millimeter (mm) eingeteilt. Als kleinere Längenmaße dienen weiter folgende Unterteilungen des Millimeters: das Mikron (fi) — 10~3 mm = 10"4 cm das Millimikron (m/i) = 10" 6 mm = 10 - 7 cm die Angström-Einheit (A) - 10~7 mm = 10 _1 m/j. — 10 - 8 cm die X-Einheit (X) = 10- 1 0 mm = 10"3 A = 10"11 cm. Größere Einheiten sind: das Dekameter (Dm) = 10 m das Hektometer (Hm) = 100 m das Kilometer (km) • 1000 m. In der Astronomie wird als noch größere Längeneinheit das Lichtjahr benutzt; das ist die Strecke die da« Licht in der Zeit von einem Jahr zurücklegt; 1 Lichtjahr = 9,4608 • 1012 km. Neuerdings verwendet man vielfach das Parsec; man versteht darunter die Entfernung, aus der der Erdbahnradius unter einem Winkel (Parallaxe) von 1 Bogensekunde erscheint; 1 Parsec = 3,26 Lichtjahre = 3,08 • 1013 km.
Um das Urmeter im Falle eines Verlustes oder einer im Laufe der Jahre auftretenden Längenänderung (infolge der unvermeidlichen Veränderung des kristallinen Gefüges) jederzeit wieder reproduzieren zu können, hat man es bereits seit längerer Zeit mit der Größe geeigneter optischer Wellenlängen verglichen. Als zu wählende Wellenlänge ist die der orangefarbenen Spektrallinie des Kryptonisotops 86 im Vakuum bestimmt worden; danach ist das Meter definiert als das 1650763,73-fache der genannten VakuumWellenlänge. Die einfachste Längenmessung besteht in der Benutzung eines aus Holz oder Metall bestehenden Maßstabes, dessen Teilung an die zu messende Strecke angelegt und mit ihr verglichen wird. Ist es nicht möglich, den Maßstab unmittelbar mit dem zu messenden Körper in Berührung zu bringen, so muß man an diesem vorbei nach dem Maßstab hinvisieren. In diesem Fall ist die Messung nur dann einwandfrei, wenn die Visierlinien auf dem Maßstab senkrecht stehen. Andernfalls tritt eine scheinbare Verschiebung des Körpers gegen den Maßstab (sogenannte P a r a l l a x e ) ein. Vorteilhaft sind für derartige Längenmessungen auf einem Spiegel eingravierte Maßstäbe, die man an dem zu messenden Körper vorbei so anvisiert, daß das Spiegelbild der Pupille des beobachtenden Auges mit dem Endpunkt der zu messenden Strecke zusammenfällt. Zur Messung des vertikalen Abstandes zweier Punkte bzw. zur Messung des lot* rechten Abstandes zweier Horizontalebenen, in denen die betreffenden Punkte liegen, dient das von D u l o n g und P e t i t (1816) angegebene Kathetometer. Es besteht aus einer vertikalen Säule, die einen in Millimeter geteilten Maßstab trägt. Die Säule läßt sich mittels dreier Fußschrauben vertikal stellen und ist um die Vertikale drehbar. An der Säule ist, vertikal verschiebbar, ein genau waagerecht eingestelltes Fernrohr angebracht. Dieses wird zunächst auf einen der beiden Punkte, deren Abstand zu bestimmen ist, so eingestellt, daß der Schnittpunkt eines im Okular des Fernrohres befindlichen Fadenkreuzes mit diesem Punkte zusammenfällt. Nachdem die Höhenlage des Fernrohres an dem Maßstab der Säule abgelesen ist, wird das Fernrohr längs der Säule verschoben, und diese eventuell noch verdreht, bis der zweite Punkt mit dem Fadenkreuz im Fernrohr zusammenfällt. Die Differenz der so ermittelten beiden Höhenlagen des Fernrohres gibt dann den vertikalen Abstand der beiden anvisierten Punkte an. Ein sehr viel benutztes Gerät zur Messung kleiner Längen ist die Schieblehre, deren vorderes Ende in Abb. 2 dargestellt ist. Auf einem mit einer Millimeterteilung versehenen Maßstab M, der am vorderen Ende ein rechtwinkliges Ansatzstück A trägt, ist der Schieber C mit einem ebenfalls rechtwinkligen Ansatz B angebracht. Dieser trägt eine Marke, die auf den Teilstrich Null der Maßstabteilung zeigt, wenn die Abb. 2. Schieblehre
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I. Kapitel. Maß und Messen
beiden Ansatzstücke A und B zusammengeschoben sind. Der zu messende Körper (in Abb. 2 gestrichelt gezeichnet) wird zwischen die beiden Teile A und B gebracht und die Einstellung der Marke auf der Teilung abgelesen. Mitunter ist das vordere Feld bei jedem der beiden Ansatzstücke A und B auf eine bestimmte Breite von meistens 5 mm abgestimmt, so daß man mit der Schieblehre auch Innenmessungen ausführen kann, wie es in Abb. 2 (ebenfalls gestrichelt) angedeutet ist. Zu dem an der Teilung M abgelesenen Wert ist dann der Betrag von 10 mm hinzuzuzählen. Eine Verbesserung der Schieblehre stellt das Schraubenmikrometer oder die Schraubenlehre (Abb. 3) dar. Der aus gehärtetem Stahl hergestellte U-förmige Bügel A trägt am Ende seines linken Schenkels einen Amboß W und am Ende seines rechten Schenkels eine Buchse B mit Innengewinde, in die eine Schraubenspindel C eingepaßt ist. Die Ganghöhe der Schraube beträgt viel11/ C B £ D fach 1 mm, d. h. die Schraube verschiebt sich bei einer vollen Umdrehung gerade um 1 mm. Diese Verschiebung läßt sich an einer auf B eingravierten Teilung ablesen. Letztere ist so angebracht, daß der als Marke dienende linke Rand der Hülse E, die mit der Schraubenspindel starr verbunden ist, gerade auf Null steht, wenn der Abb. 3. Schraubenlehre Kopf der Schraube den Amboß W berührt. Um nun noch Bruchteile eines Millimeters abzulesen, befindet sich auf dem Rand der Hülse E ein in 100 Teile geteilter Teilkreis, dessen jeweilige Stellung an einer auf B angebrachten Marke abgelesen werden kann. So ist es möglich, die Dicke eines Körpers, den man zwischen den Amboß W und den Kopf der Schraube bringt, auf 1 / 1 0 0 mm genau abzulesen. Damit der zu messende Körper nicht verschieden stark gedrückt wird, ist am rechten Ende von E eine „Gefühlsschraube" D angebracht, die beim Drehen durch Reibung die Schraubenspindel nur bis zu einem bestimmten Meßdruck mitnimmt. Dadurch wird der Körper bei jeder Messung zwischen Amboß und Schraubenkopf immer mit dem gleichen Druck eingeklemmt. Eine besondere Form des Schraubenmikrometers bildet das Sphärometer (Abb. 4). Durch die Mitte eines Dreifußes A, dessen Füße C 1 , C 2 und C 3 die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks bilden, geht die Schraubenspindel B ; diese trägt am oberen Ende eine Scheibe E, deren Umfang in 500 Teile geteilt ist. Die vertikale Verschiebung der Schraube läßt sich grob in Millimetern an der Teilung D ablesen. Der Teilkreis auf E gestattet noch 1 / 6 0 0 einer Umdrehung zu erkennen, so daß sich bei einer Ganghöhe der Schraube von 1 / 2 mm noch Verschiebungen von 1 / 1000 mm messen lassen. Das Sphärometer wird auf eine gut ebene Unterlage gestellt, und die Schraube bis zur Berührung mit dieser Fläche heruntergeschraubt. Hierauf wird die Schraube zurückgedreht und der zu messende Körper, z. B. ein Glasplättchen, dessen Dicke bestimmt Abb. 4. Sphärometer w e r d e n soll, unter die Schraube gelegt und diese bis zur erneuten Berührung heruntergeschraubt. Dann läßt sich die gesuchte Dicke an den Teilungen D und E mit der angegebenen Genauigkeit ablesen. Auch bei diesem Gerät muß man sorgfältig darauf achten, daß man die Schraube stets mit dem gleichen Druck an den zu messenden Körper andrückt. Letzteres läßt sich z. B. auf optischem Wege sehr gut kontrollieren. Zu diesem Zweck stellt man das Sphärometer auf eine plane Glasplatte, auf der eine zweite kleinere Glasplatte liegt. Beleuchtet man die Oberfläche der letzteren mit einfarbigem Licht (z. B. Natriumlicht) und blickt nun schräg auf die Glasplatte, so sieht man diese von einem System heller und dunkler Interferenzstreifen durch-
1. Längenmessungen
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zogen, deren gegenseitiger Abstand von der Dicke der Luftschicht zwischen den beiden Glasplatten abhängt. Drückt man daher die obere Glasplatte nur ein wenig gegen die untere, so verschieben sich die Interferenzstreifen. Dies ist ein außerordentlich empfindliches Kriterium für jede Druckänderung' Bei der Messung mit dem Sphärometer schraubt man die Schraubenspindel stets nur so weit herunter, bis die Verschiebung der Interferenzstreifen einsetzt; das ist ein sicheres Zeichen dafür, daß der Drück gegen den zu messenden Körper stets der gleiche ist. In dieser Form heißt das Gerät Interferenzsphärometer.
Eine einfache und viel benutzte Vorrichtung zur Messung kleiner Längen bzw. Dicken ist das Zehntelmaß. Seine Wirkungsweise beruht, wie Abb. 5 zeigt, auf zwei ungleicharmigen Hebeln H x und H i t deren Hebellängen im Längenverhältnis 1 :10 stehen. An den Enden der kürzeren Hebelarme sind zwei Schneiden S angebracht, zwischen die der zu niessende Körper geklemmt wird. Eine Feder F drückt zu diesem Zweck die Schneiden leicht zusammen. Auf der in Millimeter geteilten Kreisteilung T läßt sich die zu messende Strecke in lOfach vergrößertem Maßstab, d. h. bis auf 1 / 10 (daher Zehntelmaß) ablesen. Überträgt man die Bewegung des Hebels H1 etwa mittels eines Zahnkranzes auf ein am Hebel H2 angebrachtes Zahnrad, das einen Zeiger trägt, so läßt sich an der Zeigerstellung die zu messende Strecke mit großer Genauigkeit ablesen. Auf diesem Prinzip beruht z. B. eine in der Mikroskopie viel benutzte Vorrichtung Abb. 5. Zehntelmaß zur Messung der Dicke von Deckgläsern. In der Abb. 6 ist eine sogenannte Meßuhr wiedergegeben, die für rasche Messungen von Längen bis 25 mm geeignet ist. Wird der unten herausragende Stift A nach oben um die zu messende Strecke verschoben, so überträgt sich seine Bewegung über eine Zahnstange B auf ein System von Zahnrädern a—e, wodurch der mit dem letzten Zahnrad e verbundene Zeiger / verdreht wird, so daß man auf dem Zifferblatt die zu messende Strecke mit einer Genauigkeit bis zu 1 / 1000 mm ablesen kann. Für Messungen wird die Uhr in ein Stativ so eingesetzt, daß der senkrecht stehende Meßstift A die horizontale Fußplatte berührt und der Zeiger dabei auf Null steht. Der zu messende Gegenstand wird dann zwischen Tisch und unteres Ende des Fühlhebels geschoben. Besonders gut eignet sich eine derartige Meßuhr zur Messung kleiner Längenänderungen, wie sie z. B. bei der thermischen Ausdehnung von Stäben usw. vorkommen. Die bisher beschriebenen Anordnungen zur Messung kleiner Längen oder Dicken sind noch mit gewissen Unsicherheiten behaftet. Wie schon erwähnt wurde, muß bei Feinmessungen stets der Meßdruck besonders kontrolliert werden, was in exakter Abb. 6. Meßuhr Weise z. B. beim Interferenzsphärometer möglich ist. Bei allen Geräten, die mit einer Meßschraube oder Zahnrädern arbeiten, kommen noch durch Ungleichmäßigkeiten in der Ganghöhe der Schraube bzw. durch eine zu lose Führung der Schraube in der Schraubenmutter ( „ t o t e r G a n g " ) Fehler in die Messung hinein. Ein Gerät, das diese beiden Fehlerquellen nicht besitzt, ist der Dickenmesser nach Abbe (Tiefentaster; Abb. 7a). An einem kräftigen Stativ A gleitet ein vertikaler Fühlstift D in zwei Lagern G1 und G2 und kann durch eine über die Rolle R1 laufende Schnur hochgezogen bzw. heruntergelassen werden, wenn man die Schnur durch Drehen der Rolle R 2 auf dieser auf- bzw. abwickelt. Durch das an der Schnur befestigte Gegengewicht B wird das Eigengewicht des Fühlhebels D zum größten Teil ausgeglichen, so daß der Fühlhebel nur mit leichtem und immer gleichbleibendem Druck auf die
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I. Kapitel. Maß und Messen
Grundplatte P (ebene Glasplatte) bzw. den zu messenden Körper K aufdrückt. Der Fühlhebel trägt auf seiner vorderen Seite eine in Vio mm geteilte Skala M. Die Verschiebung von M wird durch ein Mikroskop F beobachtet. Im Gesichtsfeld des Mikroskopokulars befindet sich eine horizontale Strichmarke, die sich mittels einer Mikrometerschraube C in vertikaler Richtung verschieben läßt; die Ganghöhe der Schraube ist so gewählt, daß eine volle Umdrehung eine Verschiebung der Strichmarke um einen Skalenteil des Maßstabes M bewirkt. Da die Trommel der Schraube in 100 Teile geteilt ist, lassen sich noch 0,001 mm messen. Die horizontale Strichmarke im Okular besteht meistens aus einem Doppelfaden, um, wie es Abb. 7 b andeutet, eine besonders genaue Einstellung dadurch zu erreichen, daß der einzustellende Teilstrich gerade zwischen den beiden Fäden liegt. Zur Eichung und Nachprüfung der im vorangehenden beschriebenen Längen- und Dickenmesser verwendet man sogenannte Parallel-Endmaße (Joh a n s s o n 1911). Es sind dies aus gehärtetem Stahl oder kristallinem Quarz hergestellte rechteckige oder zylindrische Körper, die von zwei parallelen Abb. 7. Dickenmesser nach Abbe, Ebenen begrenzt werden. Der Abstand der parallelen a) Gesamtansicht, b) Gesichtsfeld Endflächen ist bis auf Bruchteile eines ¡x genau bedes Okulars kannt. Solche Endmaße werden in bestimmten Sätzen zusammengestellt, z. B. von 1 mm ab um je 1 / 100 mm bis 1,5mm, dann um y 2 mm bis 25 mm steigend; hinzu kommen noch Stücke von 50, 75 und 100 mm. Durch Zusammenlegen mehrerer Stücke läßt sich jede andere Größe bis 200 mm Länge zusammensetzen. Die Endflächen derartiger Stücke müssen auf Hochglanz poliert sein. Drückt man zwei Stücke fest aufeinander, so treten bereits molekulare Anziehungskräfte auf, die zur Trennung der beiden Stücke Kräfte von mehreren Kilogramm erfordern (s. Nr. 66). Schließlich sei noch erwähnt, daß man auch mit jedem Mikroskop genaue Längenbzw. Dickenmessungen ausführen kann. Zu diesem Zweck wird das normale Okular durch ein Mikrometerokular ersetzt, bei dem sich im Gesichtsfeld eine in 1 / 10 mm geteilte Skala befindet, oder bei dem mittels einer Mikrometerschraube ein Faden bzw. ein Fadenkreuz meßbar durch das Gesichtsfeld bewegt werden kann (Abb. 8). Diese Mikrometerokulare müssen für jede am Mikroskop benutzte Vergrößerung besonders geeicht werden, indem man auf den Objekttisch eine bekannte Teilung (Objektmikrometer, meist 1 / 100 -mm-Teilung) legt und diese mit der Okularskala bzw. der Verschiebung der Marke im Okular vergleicht. An besseren Mikroskopen ist meistens die Feinverschiebung des Mikroskoptubus mit einer Teilung versehen, so daß man auch in vertikaler Richtung Dicken z. B. von in Präparaten eingeschlossenen Teilchen messen kann, indem man nacheinander Abb. 8. Mikrometerokular auf die obere und untere Begrenzung des betreffenden Teilchens das Mikroskop scharf einstellt und die dazu notwendige Vertikalverschiebung abliest. Zum Abschluß dieses Abschnittes ist noch ein Hilfsmittel zu erwähnen, das dazu dient, an einer gegebenen Teilung noch Bruchteile eines Teilungsintervalles mit Sicherheit abzulesen. Es handelt sich um den Nonius, einen in 10 Teile geteilten Hilfsmaßstab, dessen Gesamtlänge gleich 9 Teilen des Hauptmaßstabes ist (Abb. 9a). Ist der Haupt-
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2. Winkelmessungen
niaßstab z. B. in Millimeter geteilt, so ist jeder Teil der Noniusteilung 9 / 10 mm lang. Steht dieser Nonius an irgendeiner Stelle der Hauptskala (Abb. 9b), so liest man am Nullstrich des Nonius die Anzahl der g a n z e n Millimeter ab und sucht denjenigen Noniusteil0 1 2 3 1 6 7 8 9 10 n 12 13 ( strich auf, der mit einem Teilstrich der Hauptskala genau zusammenfällt. Dieser Teilstrich des a) L 1 TT i Nonius gibt dann die Anzahl der 1 / 10 mm an. Ol 2 3 1 ¡ 6 1 8 9 ft) Der hier beschriebene Nonius wird als n a c h t r a g e n d e r N o n i u s bezeichnet. Nonien finden 0 7 2 3 1 6 7 3 9 10 11 12 13 sich z. B. auf jeder Schieblehre, am Katheto- b) II meter, an den Kreuztischen der Mikroskope, den J II I I I . \ 0 1 2 3 4 - c 6 7 8 9 Spektrometerkreisen usw. Es gibt auch Nonien, die als v o r t r a g e n d e bezeichnet werden, bei denen 11 Teile des Nonius auf 10 Teile der Hauptteilung kommen.
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Abb. 9. Nonius a) Nullstellung, b) Einstellung: 2,7
2. Winkelmessungen Als Einheit des Winkels im Bogenmaß dient derjenige Winkel, der bei einer Schenkellänge von 1 cm einen Kreisbogen von 1 cm Länge besitzt. I n Abb. 10 ist ein solcher Winkel gezeichnet; er wird ein Radian genannt. Da nun die genaue Messung des Kreisbogens sehr schwierig ist, falls man nicht wie bei sehr kleinen Winkeln den Bogen durch die Sehne ersetzen kann, so benutzt man als Einheit des Winkels den 360. Teil eines Vollkreises und bezeichnet diese Einheit als Grad. Der Grad wird in 60 Minuten, die Minute in 60 Sekunden eingeteilt (1° = 60', 1' = 60"). Neuerdings wird an Stelle dieser sexagesimalen Winkeleinteilung auch eine Zentesimalteilung benutzt, wonach der Vollkreis in 400, also ein rechter Winkel in 100 „Neugrad" eingeteilt wird. Der Neugrad wird dann in 100 Minuten (') und die Minute in 100 Sekunden (") geteilt.
Zur Umrechnung eines Winkels vom Bogenmaß in Gradmaß bzw. umgekehrt gelten folgende Beziehungen, die man leicht ableitet, wenn man bedenkt, daß ein Vollkreis im Bogenmaß gemessen 27t Radian und im Gradmaß gemessen 360° beträgt. QAAO 1 Radian = ^ p = 57,2958° = 57° 17' 45" 2n 1° = 17,453 10- 3 1' = 2,909 io- 4 Radian 1" = 4,85 • i o - 6
1cm
Abb. 10. Winkeleinheit im Bogenmaß
Die einfachste Vorrichtung zur Winkelmessung ist der Transporteur. Es ist dies ein mit einer Gradeinteilung versehener Halb- bzw. Vollkreis, dessen Mittelpunkt mit dem Scheitelpunkt des Winkels zur Deckung gebracht wird, während die Nullinie mit einem Schenkel des zu messenden Winkels zusammenfällt. Der Schnittpunkt des anderen Abb. 11. Theodolit Schenkels mit dem Meßkreis liefert die Größe des Winkels in Grad. Für genaue Messungen dient der Theodolit; dieser besteht aus einem mit Fadenkreuz versehenen Fernrohr, das sowohl um eine vertikale als auch um eine horizontale Achse gedreht werden kann (Abb. 11). Dadurch sind horizontale und vertikale Winkel
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I. Kapitel. Maß und Messen
meßbar. Die FernrohrcLrehung wird an zwei Teilkreisen mit Winkelteilung abgelesen. Gewöhnlich sind diese Teilkreise in % Grad oder bei besseren Instrumenten in y 4 Grad geteilt. Um auch hier Bruchteile dieser Teilung ablesen zu können, findet wieder der Nonius Anwendung. Infolge der sexagesimalen Teilung beträgt z. B. bei einer in halbe Grade geteilten Kreisteilung die Länge der Noniusskala gewöhnlich 29 Teile der Hauptskala und ist selbst in 30 Teile geteilt, so daß jedes Noniusintervall um 1 / 30 eines Teiles der Hauptteilung, d. h. um 1' zu kurz ist. Dann läßt sich eine Meßgenauigkeit von 1' erreichen. Auf weitere (optische) Verfahren der Winkelmessung wird in der Optik noch näher eingegangen.
3. Die Bestimmung von Massen Jedem Körper ordnet die Physik einen bestimmten Zahlen wert zu, den man seine „Masse" nennt; auf ihre genauere Definition gehen wir in Nr. 15 ein. Sie bleibt bei allen Veränderungen, die man mit dem Körper vornimmt, u n v e r ä n d e r t und ist daher für den betreffenden Körper charakteristisch. Eine bestimmte Menge Wasser z. B. behält ihre „Masse" sowohl, wenn wir sie gefrieren lassen, als auch im Dampfzustande unverändert bei. In einer vorläufigen Definition können wir geradezu sagen: Masse ist dasjenige Charakteristikum eines Körpers, das bei allen Verwandlungen gleich groß bleibt. Als Einheit der Masse benutzen wir in der Physik das Gramm (g). Es ist dies der 1000. Teil der Masse eines in Paris im Bureau des Poids et Mesures aufbewahrten Platiniridiumzylinders, der als Normalkilogramm (kg) bezeichnet wird. Die Masse dieses Kilogrammstückes sollte gleich der Masse eines Kubikdezimeters reinen Wassers, gemessen bei der Temperatur seiner größten Dichte, nämlich 4°C, sein. Spätere Messungen ergaben jedoch, daß das so hergestellte Normalkilogramm um 0,028 g zu groß ausgefallen ist. Trotzdem hat man es als Masseneinheit festgesetzt, indem man die ursprünglich gewählte Definition (ähnlich wie bei dem Normalmeter) aufgegeben hat. Von diesem Pariser Normalkilogramm sind 40 Kopien I. Ordnung hergestellt und an alle Kulturstaaten verteilt worden.
Die in der Physik noch neben der Kilogrammeinheit und der Grammeinheit gebrauchten Unterteilungen der Masseneinheit sind das Milligramm (mg)
=1
/iooog
=
das Mikrogramm oder Gamma (y) = Viooo mg = 10
g -6
g.
Die Verfahren zur Messung von Massen werden wir in Kap. II, Nr. 17 behandeln. Die in der Volumeinheit enthaltene Masse nennen wir die Dichte des betreffenden Stoffes. Wir bezeichnen sie im folgenden mit q und können also schreiben: m 6 = Y' wenn m die im Volumen V enthaltene Masse bedeutet. Gelegentlich kennzeichnet man die Dichte eines Körpers auch dadurch, daß man angibt, wievielmal so groß seine Masse gegenüber der Masse des gleichen Volumens Wasser von 4° C ist. Diese unbenannte Verhältniszahl heißt Dichtezahl; sie stimmt zahlenmäßig mit der Dichte iiberein. In der folgenden Tabelle sind die Dichtezahlen der wichtigsten festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe zusammengestellt.
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4. Flächen- und Raummessungen a) Feste Körper (bei 18° C) Aluminium Blei Eisen Eis (bei 0°) Glas Flintglas Gold Holz, EichenTannen-
2,69 11,35 7,5 —7,8 0,92 2,4 —4,7 3,6 19,29 0,7 —1,0 0,4 —0,7
Kalium Kalkspat Kochsalz Kork Kupfer Lithium Magnesium Messing Natrium Neusilber
b) Äthyläther (C4H10O) Äthylalkohol (C2H6OH) Methylalkohol (CH3OH) Benzol (C,,H6) Chloroform (CHC13) Glyzerin (C 3 H 8 0 3 ) Jodmethylen (CH2I2) Kohlenstofftetrachlorid (CC14)..
0,86 2,71 2,15 0,20—0,35 8,93 0,53 1,74 8,1—8,6 0,97 8,6
Nickel Osmium Platin Quarz Silber Wismut Wolfram Zink Zinn
8,85 22,48 21,45 2,65 10,50 9,80 19,1 7,12 7,28
(bei 18° C) 0,716 0,791 0,793 0,881 1,493 1,26 3,27 1,596
Nitrobenzol (C 6 H 6 N0 2 ) Olivenöl Petroleum Quecksilber bei 0° Rizinusöl Terpentinöl (C10H16) m-Xylol (CeH10)
1,21 0,915 0,8 13,551 13,596 0,961 0,87 0,870
c) Gase (bei 0°C; 760 mm Druck) Helium Kohlendioxyd Leuchtgas (etwa) Luft
0,0001785 0,0019767 0,0006 0,0012928
Sauerstoff Stickstoff Wasserstoff
0,0014289 0,0012505 0,0000899
4. Flächen- und Raummessungen Die F l ä c h e n e i n h e i t wird von einem Quadrat dargestellt, dessen Seite gleich der Längeneinheit ist. Wählt man als solche das Urmeter, so ergibt sich das Quadratmeter (qm oder m2), der lOOste Teil davon ist das Quadratdezimeter (qdm oder dm2). Dieses wird wieder in 100 Quadratzentimeter (qcm oder cm2) eingeteilt. Das Quadratzentimeter ist das in der Physik gebräuchliche Flächenmaß. Der lOOste Teil davon ist das Quadratmillimeter (qmm oder mm2). Im täglichen Leben sind ferner noch folgende Flächenmaße gebräuchlich: das Quadratkilometer (qkm oder km2) = 1000 000 m2 2 das Quadrathektometer (qHm oder Hm ) = 1 Hektar (ha) = 10000 m2 das Quadratdekameter (qDm oder Dm2) = 1 Ar (a) = 100 m 2 . Die Einheit des R a u m m a ß e s kann auf zweierlei Art gewonnen werden. Indem man sie vom Längenmaß ableitet, erhält man das Kubikzentimeter (cm3). Als größere Einheit, nämlich 1000 cm3, dient als Kubikdezimeter (dm3). Die große Genauigkeit der Massenbestimmung durch Wägung hat anderseits dazu geführt, als Volum- oder Raumeinheit dasjenige Volumen zu definieren, welches von der Masse eines Kilogramms Wasser im Maximum seiner Dichte (4°C) und beim Normaldruck von 760 mm Hg eingenommen wird. Diese Volumeinheit wird als Liter (1) bezeichnet. Der 1000 ste Teil hiervon, also das Volumen eines Gramms Wasser stellt das Milliliter (ml) dar. Da nach dem auf S. 12 Gesagten die Masse des Normalkilogramms, das ursprünglich gleich der Masse eines Kubikdezimeters Wasser von 4°C gedacht war, um 0,028 g zu groß ausgefallen ist, ist demnach das Liter gleich 1,000028 dm 3 oder gleich dem Volumen eines Würfels von der Kantenlänge 1,000009 dm. Dies hat weiterhin zur Folge, daß die Dichte, worunter wir nach S. 12 die Masse pro Volumeinheit verstehen, verschieden ausfällt, je nachdem ob wir das Milliliter oder das Kubikzentimeter als Einheit des Volumens wählen. Im ersten Fall würde Wasser bei 4°C die Dichte 1 g/ml, im zweiten Fall die Dichte Vi.ooooss = 0,999972 g/cm 3 haben.
I. Kapitel. Maß und Messen
14
Solange der auszumessende Raum eine einfache geometrische Gestalt (Würfel, Quader, Zylinder, Kugel usw.) hat, läßt sich sein Volumen aus seinen linearen Abmessungen ohne Schwierigkeit berechnen. Einfach ist auch die Messung eines Flüssigkeitsvolumens. Dazu verwendet man z. B. einen Meßzylinder oder eine Mensur, ein Gefäß, das durch eine auf der Wand angebrachte Teilung in Kubikzentimetern geeicht ist. Auch mittels einer Meßpipette (Abb. 12) lassen sich Flüssigkeitsmengen abmessen. Während die Ausführung Abb. 12a es nur gestattet, ein bestimmtes Volumen (z. B. 10 cm3) abzumessen, indem man die Flüssigkeit durch Ansaugen bis zur oberen Strichmarke einfüllt, hat die Ausführung Abb. 12 b noch eine auf der Wand angebrachte Teilung, so daß es möglich ist, jedes Flüssigkeitsquantum innerhalb des Fassungsvermögens zu bestimmen.
/
s
70 ccm
\/
Abb. 12. Meßpipetten, a) für ein bestimmtes Volumen, b) mit Unterteilung
Abb. 13. Uberlaufgefäß
Abb. 14. Pyknometer, a) normale Ausführung, b) mit Thermometer
Für weniger genaue Messungen kann ferner das Überlaufgefäß Verwendung finden (Abb. 13), das aus einem zylindrischem Gefäß mit einer seitlichen Ausflußöffnung besteht. Daher kann das Gefäß nur eine bestimmte Flüssigkeitsmenge aufnehmen, da die überschüssige Flüssigkeit herausfließt. Bei unregelmäßig gestalteten festen Körpern ist eine Volumbestimmung dadurch möglich, daß man die von den Körpern verdrängte Wassermenge mißt. Man kann also z. B. den betreffenden Körper in eine mit Flüssigkeit gefüllte Mensur werfen und feststellen, um wieviel Kubikzentimeter die Flüssigkeit steigt; oder man wirft den Körper in das oben beschriebene Überlaufgefäß und mißt die herausfließende Flüssigkeitsmenge (z. B. in einer Mensur). Eine sehr häufig benutzte Vorrichtung zur Volummessung ist das Pyknometer (Meßflasche); es ist eine Glasflasche von genau bestimmtem Rauminhalt (Abb. 14a) mit eingeschliffenem Stöpsel. Dieser besitzt eine feine Bohrung, durch die die überschüssige Flüssigkeit heraustreten kann. Da sich das Volumen einer Flüssigkeit mit der Temperatur stark ändert, ist das Pyknometer häufig mit einem Thermometer versehen (Abb. 14b). Um das Volumen fester Körper (Sand, Mineralien usw.) zu bestimmen, wird das Pyknometerfläschchen unter Verwendung einer Flüssigkeit, von der das Gewicht (s) eines Kubikzentimeters bekannt ist, gewogen, einmal, wenn es nur mit der Flüssigkeit gefüllt (G,) und dann, wenn es mit der Flüssigkeit und dem zu messenden Körper gefüllt ist (G 2 ). Bestimmt man dann noch das Gewicht des Körpers allein (G3), so läßt sich aus diesen drei Wägungen das Volumen V des Körpers ermitteln.
5. Zeitmessung
Es ist:
y=
15
01+Gs—02 s
Für Stoffe, die mit einer Flüssigkeit nicht in Berührung kommen dürfen, gibt es analoge Verfahren, bei denen an Stelle der Flüssigkeit ein Gas benutzt wird (Volumenometer). Schließlich läßt sich das Volumen V von Flüssigkeiten oder festen Körpern der Masse m auch durch eine einfache Wägung bestimmen, wenn die Dichte o des zu messenden Körpers bekannt ist. Dann ergibt sich
5. Zeitmessung Bei jedem Naturvorgang spielen sich die einzelnen Ereignisse in einer zeitlichen Aufeinanderfolge ab, und es ist eine wichtige physikalische Aufgabe, die zwischen zwei Vorgängen liegende Zeit zu messen. Dazu ist zunächst die Festsetzung der Zeiteinheit notwendig. Als solche gilt in der Physik die Sekunde (sec). Sie ist der 86400. Teil eines mittleren Sonnentages. Die Zeit, die zwischen zwei aufeinanderfolgenden oberen Kulminationen der Sonne, d. h. zwischen zwei aufeinanderfolgenden Meridiandurchgängen der Sonne liegt, heißt „wahrer" Sonnentag. Dieser hat jedoch keine konstante Dauer, da sich die Erde auf einer Ellipse um die Sonne im Laufe eines Jahres mit verschiedener Bahngeschwindigkeit bewegt. Aus der in sehr übertriebenem Maßstab gezeichneten Abb. 15 geht diese tägliche Veränderung des wahren Sonnentages deutlich hervor. I n S o n n e n n ä h e mögen die StelAbb. 15. Zur Veränderung des lungen 1 und 2 der Erde zwei aufeinanderfolgenden wahren Sonnentages Kulminationen des eingezeichneten Erdmeridians durch die Sonne entsprechen. Die Erde h a t dabei um ihre Achse eine Drehung von 360°+« ausgeführt. In S o n n e n f e r n e liegen zwei entsprechende Erdstellungen, die wieder zu zwei aufeinanderfolgenden Kulminationen eines Meridians durch die Sonne gehören, näher zusammen. Die Erddrehung ist jetzt während der zwischen den Kulminationen liegenden Zeit 360° + o At
ds dt
= -jT •
Dieser Grenzwert, der zwar von t, aber nicht mehr von der Größe des Zeitintervalles abhängt, gibt den Betrag der Geschwindigkeit c im „Zeitpunkt t" an. Wir haben also die Beziehung:
(3)
*=%
und können sagen: Die Geschwindigkeit ist der erste Differentialquotient des Weges nach der Zeit. Die Gleichung (3) wurde hier entsprechend Abb. 22 für eine geradlinige Bewegung abgeleitet. Man sieht aber leicht, daß von der Voraussetzimg der Geradlinigkeit in Wirklichkeit keinerlei Gebrauch gemacht wurde, so daß die Gleichung (3) auch für jede krummlinige Bewegung und damit ganz allgemein gilt. Auf einen besonderen Punkt muß aber noch hingewiesen werden. Eine Geschwindigkeit ist nicht nur durch die Angabe des Zahlenwertes definiert, sondern zu ihrer vollkommenen Bestimmung gehört auch die Angabe der Richtung. Zwei Geschwindig-
9. Beschleunigung bei geradliniger Bewegung
23
keiten sind verschieden, sowohl wenn sie in gleicher Richtung verschieden große Beträge haben, als auch wenn sie bei gleicher Größe nach verschiedener Richtung weisen. Größen, zu deren vollständiger Charakterisierung neben der Angabe eines Zahlenwertes (des sogenannten Betrages) noch die Angabe einer Richtung erforderlich ist, bezeichnet man als V e k t o r e n , im Gegensatz zu den Skalaren, die (wie z.B. Zeit oder Volumen) bereits durch eine Maßzahl bestimmt sind.
9. Begriff der Beschleunigung bei geradliniger Bewegung Wie wir im letzten Abschnitt sahen, ist bei einer ungleichförmigen Bewegung die Geschwindigkeit nicht konstant, sondern ändert sich zeitlich. Betrachten wir zunächst eine geradlinige ungleichförmige Bewegung, so nennen wir diese, je nachdem die Geschwindigkeit bei der Bewegung in gleichen Zeiträumen um gleiche Beträge zu- oder abnimmt, eine gleichmäßig beschleunigte oder verzögerte Bewegung. Statt von Verzögerung können wir auch, was wir im folgenden der Einfachheit halber stets tun werden, von negativer Beschleunigung sprechen. Bezeichnet man mit c0 die Geschwindigkeit zu Beginn der Beobachtung und mit c nach Ablauf von t Sekunden, so gibt der Ausdruck
c
t
c
" = a1) die Geschwindigkeitsänderung in der Zeiteinheit an. In dem
vorliegenden Fall ist a ein konstanter Wert. Für eine gleichmäßig beschleunigte geradlinige Bewegung können wir demnach sagen: Die Beschleunigung ist die Geschwindigkeitsänderung in der Zeiteinheit. Wir haben also die Gleichung: Die Dimension der Beschleunigung ist nach (4) [c/ -1 ] und unter Rücksicht auf Gl. (2): [lt~2] bzw. im CGS-Maßsystem: [cm sec -2 ]. Schreiben wir Gl. (4) in der Form (5) c = at + CQ , so gibt uns die Gleichung die Möglichkeit, die Endgeschwindigkeit eines konstant beschleunigten Massenpunktes nach t Sekunden zu berechnen, wenn Beschleunigung a und Anfangsgeschwindigkeit cQ gegeben sind. Die Wegstrecke s, die ein gleichmäßig beschleunigter Körper in der Zeit t zurücklegt, läßt sich folgendermaßen bestimmen: Der etwa aus dem Zustand der Ruhe (c0 = 0) beschleunigte Körper, hat nach t Sekunden die Geschwindigkeit c — at erreicht, wenn a die Beschleunigung bedeutet. Da diese Geschwindigkeit gleichmäßig mit der Zeit zunimmt, ist die m i t t l e r e Geschwindigkeit cm während der Zeit t gleich dem halben Wert der Endgeschwindigkeit at\ also ist der zurückgelegte Weg (6)
S — Cffi t '—' 2 ^ ^ •
Es ist also bei gleichmäßig beschleunigter geradliniger Bewegung der zurückgelegte Weg gerade halb so lang, als wenn die Bewegung mit der Endgeschwindigkeit in der gleichen Zeit gleichmäßig erfolgt wäre. Aus den Gleichungen (5) und (6)folgt (mit c 0 = 0 ) weiterhin:
(7)
und
c = \J2as
.
Das einfachste Beispiel für das zuletzt Gesagte liefert der freie Fall, auf den wir weiter unten noch näher eingehen werden. Die bisher gebrauchte Definition der Beschleunigung versagt, wenn es sich um Bewegungen handelt, deren Geschwindigkeit sich ungleichmäßig ändert. In diesem Fall ist die Zunahme bzw. Abnahme der Geschwindigkeit in gleichen aufeinander*) a = Abkürzung von „aoceleratio".
24
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes
folgenden Zeiträumen verschieden groß, u n d wir müssen in Analogie zu den auf S. 22 bei der Definition der Geschwindigkeit gebrachten Überlegungen die Geschwindigkeitsä n d e r u n g A c in einem hinreichend kleinen Zeitelement A t b e t r a c h t e n . Macht m a n d a n n wieder den Grenzübergang zu unendlich kleinen Zeitelementen, so können wir schreiben : ,m Ac de a = hm —• = -T-, v(8) ' At-^o At dt d. h . die Beschleunigung einer geradlinigen Bewegung wird durch den Differentialquotienten der Geschwindigkeit nach der Zeit bestimmt. ds Setzen wir f ü r c den in (Gl. 3) angegebenen W e r t c = ^ ein, so ergibt sich: ¿2 s (9)
in W o r t e n : Die Beschleunigung einer geradlinigen Bewegung ist der zweite Differential quotient des Weges nach der Zeit. Wir können noch hinzufügen, was man leicht einsieht, d a ß in diesem Fall die Richt u n g der Beschleunigung mit derjenigen der Geschwindigkeit, also des Bahnelementes, übereinstimmt, so d a ß wir a u c h von einer Bahnbeschlcunigung oder Tangentialbeschleunigung sprechen; um dies a n z u d e u t e n , h a b e n wir in Gl. (9) der Beschleunigung den I n d e x t („tangential" zur Bahn) hinzugefügt. N u n erwähnten wir oben, d a ß wegen des V e k t o r c h a r a k t e r s eine Geschwindigkeit sich auch d a n n ändert, wenn sich n u r die R i c h t u n g , nicht aber ihre Größe ä n d e r t . Auch in diesem Falle m u ß also eine Beschleunigung vorhanden sein, die wir die Normalbeschleunigung (a n ) n e n n e n ; diese werden wir im übernächsten Abschnitt näher untersuchen. Eine allgemeine Bemerkung sei noch hinzugefügt. Ebenso wie wir die Geschwindigkeit als sekundliche Ä n d e r u n g der Lage, die Beschleunigung als sekundliche Änder u n g der Geschwindigkeit eingeführt haben, k ö n n t e m a n natürlich eine entsprechende Ä n d e r u n g der Beschleunigung als „Beschleunigung zweiter O r d n u n g " , deren Ä n d e r u n g wieder als „Beschleunigung dritter O r d n u n g " usw. einführen. E s ist von f u n d a m e n t a l e r Bedeutung, d a ß m a n derartige weitere Begriffsbildungen n i c h t n o t w e n d i g h a t : Die Mechanik kommt mit den Begriffen „Geschwindigkeit" und „Beschleunigung" aus, und zwar wird sich herausstellen, daß der zentrale Begriff die Beschleunigung ist; wir kommen darauf in den N u m m e r n 14 u n d 15 noch zurück.
10. Zusammensetzung und Zerlegung von Bewegungen; Parallelogramm der Bewegungen Wir wiesen bereits bei der Definition der Geschwindigkeit darauf hin, d a ß diese die E i g e n s c h a f t eines Vektors besitzt, d. h. neben ihrem Betrage noch die Angabe der R i c h t u n g verlangt. Dasselbe gilt auch von der Beschleunigung. Man k a n n daher solche Größen, d. h . Vektoren, nicht wie gewöhnliche Zahlen behandeln, also nicht in der gewöhnlichen Weise addieren oder subtrahieren; wenn z. B. ein Massenpunkt gleichzeitig zwei Bewegungen m i t absolut gleicher, aber verschieden gerichteter Geschwindigkeit ausführen soll, so weiß m a n von vornherein gar nicht, was ü b e r h a u p t u n t e r der „ S u m m e " dieser beiden Geschwindigkeiten verstanden werden soll. N u r in dem einfachen Falle, d a ß die beiden zusammenzusetzenden Bewegungen (oder Geschwindigkeiten oder Beschleunigungen) die gleiche oder gerade entgegengesetzte R i c h t u n g h a b e n , k a n n man diese Vektoren n a c h den gewöhnlichen Rechenregeln a d d i e r e n (im ersten Falle) und s u b t r a h i e r e n (im zweiten Falle"). I m folgenden bezeichnen wir
10. Parallelogramm der Bewegungen
25
Vektoren s t e t s mit großen oder kleinen d e u t s c h e n fettgedruckten Buchstaben; also z. B. die Geschwindigkeit mit C, die Beschleunigung mit a, ein (in bestimmter Richtung durchlaufenes) Wegelement mit usw. Wenn Anfang und Ende einer gerichteten Strecke durch Buchstaben, z. B. durch A und B bezeichnet sind, so wird der Vektorcharakter durch einen darübergesetzten Pfeil angedeutet, also AB. Komponenten von Vektoren nach bestimmten Richtungen (z. B. nach der x- oder y-Richtung) erhalten einen entsprechenden Index, z. B. Cx (^-Komponente der Geschwindigkeit C) oder a v (y-Komponente der Beschleunigung ft). Allgemein wird der a b s o l u t e B e t r a g eines Vektors durch lateinische Buchstaben bezeichnet, z. B. c und a für die Beträge der Vektoren ( und 0. Wir betrachten den Fall, daß ein Massenpunkt mehrere Bewegungen gleichzeitig ausführen soll. Für den Ablauf seiner Gesamtbewegung gilt erfahrungsgemäß das Prinzip von der Unabhängigkeit der Bewegungen oder Superposition von Bewegungen: Führt ein Körper gleichzeitig mehrere fortschreitende (S. 18) Bewegungen aus, so ist der von dem Körper erreichte Ort unabhängig davon, ob die Bewegungen gleichzeitig oder einzeln nacheinander ausgeführt werden.
Damit ist identisch der Satz vom „Parallelogramm der Bewegung":
Führt ein Körper gleichzeitig zwei geradlinige Bewegungen aus, so bewegt er sich längs der Diagonale des aus den beiden Teilbewegungen gebildeten Parallelogramms.
Wir können uns diese beiden Formulierungen durch folgende einfache Versuche anschaulich machen: Eine Tafel T (Abb. 23) sei zwischen zwei Schienen 5 in vertikaler Richtung verschiebbar. Führt man mit einem Stück Kreide bei ruhender Tafel auf dieser eine Bewegung in horizontaler Richtung aus, so gelangt man z. B. vom Punkt A auf geradliniger Bahn nach dem Punkt B. Führt man dagegen in vertikaler Richtung eine Bewegung mit der Kreide auf der Tafel aus, indem man z. B. die Tafel gegen die im Punkte A angesetzte Kreide verschiebt, so gelangt man zu dem Punkte C. Werden nun diese beiden Einzelbewegungen des Kreidestückes gegen die Tafel gleichzeitig zweier Bewegungen ausgeführt, indem man bei nach oben sich bewegender Tafel gleichzeitig die Kreide in horizontaler Richtung von A nach rechts bewegt, so gelangt man zum Punkt D. Die „resultierende" Bewegung oder die „Summe" der Einzelbewegungen ist also AD, d. h. die D i a g o n a l e des a u s den E i n z e l b e w e g u n g e n AB
u n d AC g e b i l d e t e n R e c h t e c k s . Zu demselben
Punkt D gelangt man auch, wenn man erst die Bewegung A B in horizontaler Richtung bei ruhender Tafel ausführt und dann die vertikale Bewegung von B nach D anschließt. Man kann auch die beiden Teilbewegungen AB und BD in irgendeiner anderen Wegfolge so ausführen, daß dabei die gesamte erste und die gesamte zweite Bewegung vollführt werden, also etwa so, daß man bei dem Versuch die Kreide zunächst von A nach 1, dann von 1 nach 2, von 2 nach 3, von 3 nach 4, von 4 nach 5 und schließlich von 5 nach D führt. Die in dieselbe Richtung fallenden Teilbewegungen A — 1, 2 — 3 und 4 •— 5 ergeben die eine Teilbewegung A B, während sich die anderen Bewegungen 1 — 2 , 3—•4 und 5 — D zur zweiten Teilbewegung BD zusammensetzen; denn die Teilbewegungen A — 1, 2 — 3, 4 — 5 einerseits und die Teilbewegungen 1 — 2 , 3 — 4, 5 — D anderseits sind ja unter sich g l e i c h g e r i c h t e t und können daher in diesem speziellen Falle wie g e w ö h n l i c h e Zahlen addiert werden. Da die
26
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes
> Das heißt: Die Beschleunigungskomponenten in kartesischen Koordinaten sind die zweiten Ableitungen der Koordinaten nach der Zeit. Den Betrag der Gesamtbeschleunigung a findet man nach dem Parallelogrammsatz zu [dt") ^ \dP) ^ VdtV ' Die Bequemlichkeit dieser Ausdrücke für die Beschleunigungskomponenten beruht offensichtlich darauf, daß wir hier die einfachen Formeln für die Tangentialbeschleunigung benutzen dürfen, da die Projektionen jeder Bewegung auf die Koordinatenachsen g e r a d l i n i g sind. Wir haben bisher angenommen, daß die krummlinige Bewegung in einer E b e n e verläuft; ist dies nicht der Fall, haben wir es also mit einer krummlinigen r ä u m l i c h e n Bewegung zu tun, so läßt sich für die betreffende Bahn an jeder Stelle eine sogenannte S c h m i e g u n g s e b e n e finden, an deren Richtung sich eine durch den betreff enden P u n k t
30
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massen punktes
und zwei benachbarte Punkte hindurchgelegte Ebene um so besser anlegt, j e näher die drei Punkte beieinander liegen. In dieser Schmiegungsebene liegt dann sowohl die Tangentialbeschleunigung ttt und Normalbeschleunigung On. E s gibt spezielle krummlinige Bewegungen, bei denen in jedem Augenblick der Beschleunigungsvektor nach ein und demselben Raumpunkte, dem sogenannten B e w e g u n g s z e n t r u m , hinzeigt. Solche Bewegungen, Zentralbewegungen genannt, sind z. B . die Bewegung der Erde um die Sonne oder die Bewegung des Mondes um die Erde, überhaupt alle Planetenbewegungen. Die Verbindungsgerade vom Bewegungszentrum nach dem bewegten Punkt nennt man den „ F a h r s t r a h l " oder den „Radiusvektor". Eine besonders einfache Art von Zentralbewegungen ist die gleichförmige Kreisbewegung, bei der sich ein Massenpunkt mit konstantem Geschwindigkeitsbetrage auf einer Kreisbahn vom Radius R bewegt. Infolge der Konstanz des Betrages der Geschwindigkeit ist die Tangentialbeschleunigung a t nach (10) gleich null, und es bleibt nur die nach dem Kreismittelpunkt gerichtete Normalbeschleunigung 0„ übrig, die in diesem Falle den Namen Zentripetalbeschleunigung führt. Der Radius des Krümmungskreises der Bahn fällt mit dem Radius der Kreisbahn zusammen; für die nach dem Kreiszentrum gerichtete Normalbeschleunigung ergibt sich demzufolge nach Gl. (11) der Betrag: (12)
a
* =
i '
wenn c der Betrag der gleichförmigen Bahngeschwindigkeit des Massenpunktes ist. Die Zentripetalbeschleunigung wächst also bei gegebenem Bahnradius R mit dem Quadrate der Bahngeschwindigkeit c und ist bei gegebener Bahngeschwindigkeit c dem Radius R der Bahn umgekehrt proportional. Nennen wir T die Zeit, die der Massenpunkt zu einem vollen Umlauf auf der Kreisbahn benötigt, so ist 2Rn 2 n R = c T ,
c
=
Setzen wir diesen Wert in Gl. (12) ein, so ergibt sich für die Zentripetalbeschleunigung der weitere Ausdruck: (13)
=
Bei konstanter Umlaufszeit ist demnach die Zentripetalbeschleunigung dem Radius der Kreisbahn direkt proportional, während sie bei konstantem R mit dem Quadrate der Umlaufszeit abnimmt. Für viele Zwecke ist es praktisch, statt der Bahngeschwindigkeit c die sogenannte Winkelgeschwindigkeit u zu benutzen. Darunter verstehen wir den in der Zeiteinheit von dem nach dem umlaufenden Massenpunkt gezogenen Radiusvektor überstrichenen Winkel, gemessen im Bogenmaß. Bewegt sich z. B . in der Abb. 29 der Massenpunkt von der Stelle nach P 2 in der Zeit dt, so überstreicht der nach A gezogene Radiusvektor r den Winkel d 90° ist; sie n i m m t den kleinstmöglichen W e r t an, falls oc = ISO0, c o s « = — 1 wird; j e t z t sind K r a f t richtung u n d Verschiebungsvektor einander gerade entgegengesetzt gerichtet. I n diesem Falle sagt m a n auch, d a ß die Arbeit g e g e n die K r a f t geleistet werde. N e h m e n wir z. B. den Fall, d a ß ein K ö r p e r sich u n t e r dem Einfluß einer der Abb. 57. Schwere entgegengesetzten K r a f t vertikal aufBestimmung der für die Arbeit in Betracht kommenden Kraftkomponente wärts bewegt: Hier sind Schwerkraft u n d Verschiebung einander entgegengesetzt, bei einer H e b u n g um die H ö h e h ist die Arbeit der Schwerkraft selbst nach dem Obigen negativ, gleich — mgh; anderseits wird von der K r a f t Kl, die den K ö r p e r veranlaßt, sich entgegen der Schwere nach a u f w ä r t s zu bewegen, Arbeit g e g e n die Schwere geleistet. I s t diese K r a f t K1 gerade ebenso groß wie die Schwerkraft, so leistet K1 = mg die positive Arbeit mgh, während die Schwere die negative Arbeit — - m g h leistet; in diesem Falle bewegt sich der Massenpunkt unbeschleunigt nach oben. I s t aber K1 größer als das Gewicht, so bewegt sich der Massenpunkt beschleunigt nach oben, und die Arbeit dieser K r a f t Kxh ist größer als mgh; der Überschuß über diesen W e r t wird gegen die d ' A l e m b e r t s c h e Trägheitskraft geleistet. Betrachten wir als speziellen Fall die H u b a r b e i t , die m a n aufbringen muß, um auf einer schiefen E b e n e eine L a s t vom Gewicht O k p u m die Höhe h m emporzuschaffen, ohne sie zu beschleunigen. N a c h S. 46 ist bei einem Neigungswinkel oc die parallel zur schiefen E b e n e wirkende K r a f t , die das Gewicht G im Gleichgewicht hält, G sin oc; f ü r die Länge l der schiefen Ebene gilt die Beziehung l = G sina h aufzuwendende Arbeit A =—: sina = Gh.
, mithin ist die sinoc
D a r a u s sieht man, daß die H u b a r b e i t Oh unabhängig vom Wege ist, auf dem sie geleistet wird. Der Vorteil der schiefen Ebene liegt lediglich darin, d a ß man die H u b a r b e i t mit u m so kleinerer K r a f t verrichten kann, je flacher die Neigung der E b e n e ist. D a f ü r wird aber der Weg, längs dem die Arbeit geleistet werden muß, entsprechend größer. W e n n ein Mensch mit dem Körpergewicht von 60 k p einen 2000 m hohen Berg besteigt, so leistet er eine 1 H u b a r b e i t von 1 2 - 1 0 4 k p m /3 K i l o w a t t s t u n d e ! — Die in den Gl. (41) und (41a) gegebene Definition der Arbeit ist, wie wir schon betonten, n u r d a n n richtig, wenn die wirkende K r a f t K längs des ganzen Weges s k o n s t a n t ist; dies ist natürlich nicht immer der Fall. Zieht z. B. ein P f e r d einen Wagen, so ist die Z u g k r a f t u m so größer, je steiler die Straße ansteigt u n d je größer der Widerstand des Wagens auf der Straße ist, d. h. die vom Pferd geleistete Arbeit wird sich
20. Arbeit und Leistung
59
von Ort zu Ort mit der Neigung und Beschaffenheit der Straße ändern. Dem können wir dadurch Rechnung tragen, daß wir die Arbeit ¿LA für ein W e g e l e n i e n t ds betrachten. Wir können dann schreiben: (42)
¿LA = K cos (K, ds) ds ,
wobei K die Größe der K r a f t längs des Wegelementes ds ist. Die auf einer endlichen Strecke geleistete Arbeit findet man durch Integration zu: s i (42a) A = J K oos(K ds)ds . Man kann daher auch kurz sagen: Die Arbeit ist das Wegintegral der Kraft.
Entsprechend den Gl. (41) u. (42) kann man die durch eine K r a f t S beliebiger Richtung auf einer Strecke § geleistete Arbeit graphisch durch eine Fläche darstellen, die man erhält, wenn man als Abszisse die Weglänge s und als Ordinate die wirkende Kraftkomponente K cos (Ks) a u f t r ä g t (Abb. 58). Die von der Kurve, der Abszisse und den Ordinaten von Anfangs- und E n d p u n k t umrandete Fläche nennt man ein Arbeitsdiagramm. Bei einer konstanten K r a f t ist dies Arbeitsdiagramm ein Rechteck, dessen Seiten durch die Kraftkomponente und die zurückgelegte Wegstrecke gebildet werden. Als Beispiel f ü r den allgemeineren Fall einer variablen K r a f t berechnen wir die Arbeit, die zur Dehnung einer Spiralfeder um eine Strecke l notwendig ist. Hier ist (Ks) = 0; außerdem wissen wir, daß die K r a f t der Verlängerung x der Feder proportional ist. Nehmen wir also die spannende K r a f t K gleich (aber entgegengesetzt) der Federkraft, so haben wir cos (Ks) = 1, K = ax und somit
; i A = j K dx = f axdx = | a Z2. o o Das Arbeitsdiagramm wird in diesem Falle durch die Fläche eines rechtwinkligen Dreiecks dargestellt, dessen Katheten l und al sind (Abb. 59). Die Konstante a, die die zur Verlängerung der Feder pro Längeneinheit erforderliche K r a f t angibt, wird als D e h n u n g s k o n s t a n t e der Feder bezeichnet. — Natürlich kann man auch hier sagen: Die Arbeit J a l2 werde von der K r a f t K g e g e n die Federkraft geleistet; die Arbeit der Federkraft selbst ist gleich — J a Z 2 .
Bei der Definition der Arbeit spielt die Z e i t , während der die Arbeit geleistet wird, wie schon oben betont, k e i n e Rolle. Es ist aber häufig wichtig, daß eine vorgeschriebene Arbeit in einer bestimmten Zeit geleistet wird. Um 1000 Ziegelsteine auf einem Neubau 6 m hoch zu tragen, brauche ein Arbeiter 2 Stunden, indem er jedesmal 12 Steine trägt, während ein anderer Arbeiter 3 Stunden benötigen mag, indem er bei jedem Gang nur 8 Steine trägt. Beide verrichten zwar dieselbe Arbeit, nämlich das Hochbringen einer bestimmten Anzahl Steine, aber ihre „Leistung" ist verschieden. Daher wollen wir unter Leistung N die in der Zeiteinheit geleistete Arbeit verstehen: (43)
N =
60
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes
In dem speziellen Falle, daß die Arbeit während der Zeit t konstant bleibt, geht Gl. (43) in die einfachere: (43a)
=
t
Für die D i m e n s i o n d e r L e i s t u n g findet m a n : [TV] =
[ml2t-3]
,
bzw. im CGS-System: [iV] = [g cm 2 sec~3] . Die Einheit der Leistung ist in der Physik das Erg/sec. Als größere Einheit haben wir das Joule/sec, die auch ein Watt (W) genannt wird. Es ist also: 1 W a t t = 1 Joule/sec = 107 Erg/sec, 1 Kilowatt (kW) = 1000 W a t t = 1010 Erg/sec. Gebräuchlich sind noch das Kilopondmeter/Sekunde (kpm/sec) und besonders in der Technik: 1 Pferdestärke (PS) = 75 kpm/sec. Diese letztere Einheit ist von der Arbeitsleistung eines Pferdes abgeleitet, das kurzzeitig 75 kpm in der Sekunde leisten kann. Zur Umrechnung dienen die Gleichungen: 1 P S = 75 kpm/sec = 75-10 5 -981 Erg/sec = 736 -10 7 Erg/sec = 736 Watt = 0,736 kW. 1 Watt = 0,102 kpm/sec = 1 / n e PS. Die durchschnittliche Leistung eines Menschen bei gewöhnlicher Arbeit rechnet man zu 1 / 10 P S = 73,6 W a t t . Beim normalen Gehen leistet ein Mensch von 60 k p etwa V14 P S = 52,6 Watt, bei sehr schnellem Gehen dagegen etwa l ! i P S = 184 Watt.
21. Potentielle und kinetische Energie; Erhaltung der Energie Wenn wir einen Körper von der Masse m entgegen der Schwere ohne Beschleunigung auf die Höhe h heben, so haben wir eine Arbeit mgh in ihn hineingesteckt. Ist diese Arbeit verloren ? Das ist nicht der Fall. Denn lassen wir den Körper herabfallen, so gewinnt er dabei Geschwindigkeit, — nach den Fallgesetzen ist ck = |/2gÄ — und vermöge dieser Geschwindigkeit kann er die gleiche Arbeit mgh wieder leisten, die in ihn hineingesteckt worden ist. Man kann ihn z. B. auf das eine Ende eines sehr leichten gleicharmigen Hebels fallen lassen, auf dessen anderem Ende ein Körper gleicher Masse r u h t : Dieser wird dann mit der gleichen Geschwindigkeit ch = / 2 g h in die Höhe geschleudert, so daß er wieder zur nämlichen Höhe h ansteigt. Wir müssen also sagen, daß die auf die Höhe h gehobene Masse m eben infolgedessen eine gewisse Arbeitsfähigkeit besitzt, die unter geeigneten Umständen realisiert, d. h. wirklich in Arbeit umgesetzt werden kann. In der Physik bezeichnet man eine solche Arbeitsfähigkeit allgemein als Energie, und so können wir sagen, jeder gehobene Körper der Masse m besitze die Energie mgh, w e i l er um das Stück h relativ zur Erde gehoben ist. Er verdankt diese Energie also seiner speziellen „Lage" relativ zur Erde, weswegen man in diesem und in analogen Fällen auch von „Energie der Lage" spricht. Statt dessen benutzt man meistens die dem Sprachgebrauch der mittelalterlichen Philosophie entstammende Bezeichnung „potentielle" (oder seltener „ v i r t u e l l e " ) Energie, d. h. „ m ö g l i c h e " , unter gewissen Umständen in Arbeit umsetzbare Energie.
21. Potentielle und kinetische Energie; Erhaltung der Energie
61
Potentielle Energie vom Betrage \al1 besitzt z. B. eine Feder von der Dehnungsk o n s t a n t e a, die gegenüber ihrer Normallänge u m das Stück l g e d e h n t ist (vgl. S. 59); wird die Feder e n t s p a n n t , so k a n n die hineingesteckte Dehnungsarbeit, die in ihr als potentielle Energie aufgespeichert war, wiedergewonnen werden. Diese Beispiele lassen sich leicht v e r m e h r e n : Der gespannte Wasserdampf im Kessel einer D a m p f m a s c h i n e , die Pulvergase im Gewehrlauf, ein komprimiertes Gas — alle diese K ö r p e r besitzen infolge ihres besonderen Zustandes eine ganz b e s t i m m t e Arbeitsfähigkeit, d. h. eine ganz b e s t i m m t e potentielle Energie; im Fall der Schwere u n d der gespannten Feder haben wir auch ihren numerischen W e r t angegeben. Wir werden im folgenden die potentielle Energie stets d u r c h Epol bezeichnen. Neben der potentiellen Energie, die eine r u h e n d e Masse infolge ihrer „ L a g e " h a t , kann eine Masse aber auch dadurch Energie (d. h. Arbeitsfähigkeit) besitzen, daß sie eine bestimmte Geschwindigkeit hat. E i n e r u h e n d e Pistolenkugel ist ein harmloses Ding, eine abgeschossene k a n n erhebliche W i r k u n g e n a u s ü b e n . Wir müssen daher einer in Bewegung befindlichen Masse „Energie der Bewegung" oder „kinetische Energie" zuschreiben, die wir mit Ekin bezeichnen; a u c h die Ausdrücke: a k t u e l l e (d. h. w i r k l i c h e ) Energie —• das Gegenstück zur p o t e n t i e l l e n ( m ö g l i c h e n ) Energie — und „Wucht" sind gebräuchlich. E s h a n d e l t sich j e t z t u m die B e s t i m m u n g des W e r t e s d e r kinetischen Energie. I m Beispiel des freien Falles ist das leicht a u s z u f ü h r e n . Denn die Masse, die u m das Stück h herabgesunken ist, h a t die Geschwindigkeit Ca = ]/2gh, u n d sie v e r m a g —- bei geeigneter Anordnung, wie vorhin gezeigt, — eine ihr gleiche Masse wieder bis zur H ö h e h emporzuschleudern, d. h. die Arbeit mgh zu leisten. D a also h =
c
2
ist, so ist die Arbeitsfähigkeit dieser Masse m i t der Ge-
schwindigkeit ch offenbar mgh =
TflQCh^
VTt
c^. Diesen W e r t müssen wir a b e r ganz
=
¿g
2,
allgemein als den Ausdruck f ü r die kinetische Energie b e t r a c h t e n , d a es n a t ü r l i c h ganz gleichgültig ist, w i e die Masse ihre Geschwindigkeit bekommen h a t . Wir müssen also setzen: («)
£kin = f
c2;
in W o r t e n : Die kinetische Energie ist gleich dem halben Produkt aus der Masse und dem Quadrat ihrer Geschwindigkeit. Beispiele f ü r die W e r t e von kinetischen Energien sind die folgenden: Eine Pistolenkugel von m = 3 g h a t bei einer Geschwindigkeit c = 250 m /sec die kinetische Energie: £ k j n = i -3 -25000 2 E r g = 93,75 -10 7 E r g = 93,75 Joule ( W a t t s e k u n d e n ) . Ein Schnellzug m i t der Gesamtmasse m = 5 • 10 5 k g h a t bei einer Fahrgeschwindigkeit von 9 0 k m / S t d . = 2500 cm/sec die kinetische Energie: £kin = i "5 -10 5 -10 3 -2500 2 E r g = 1,56 -10 15 E r g = 1,56 -10 8 J o u l e (Wattsekunden). Potentielle Energie und kinetische Energie sind die Energieformen der Mechanik. Die P h y s i k k e n n t noch andere Energieformen, z. B. Wärmeenergie, elektrische, magnetische, chemische Energie usw. I n jedem Falle v e r s t e h t m a n d a r u n t e r die Fähigkeit, mechanische Arbeit zu leisten. Als Dimension der Energie ergibt sich die gleiche wie die der A r b e i t : [£] =[A]
=
[IH-m2],
bzw. im CGS-System: [.E] = [A] = [g cm 2 sec- 2 ] .
62
II. Kapitel. Mechanische Grundbegriffe; Mechanik des Massenpunktes
Kehren wir nun zu unserem Beispiel zurück: Wenn wir unseren Körper von der Höhe h zur Erde herabsinken lassen, so hat er im Moment vor dem Aufschlagen seine gesamte potentielle Energie mgh verloren, dafür aber die gleich große kinetische Energie 1 mch2 gewonnen, so daß also seine Arbeitsfähigkeit oder Energie nicht verlorengeht. Wie steht es nun mit den Zwischenzuständen der Bewegung ? Betrachten wir den Körper etwa in dem Moment, in dem er von der ursprünglichen Höhe h um das Stück s herabgesunken ist; seine augenblickliche Höhe ist also (h—s), der Rest der ihm verbliebenen potentiellen Energie mg(h-s); verloren hat er die potentielle Energie mgs. Dafür hat er nach den Fallgesetzen die Geschwindigkeit cs = }/ 2 gs gewonnen, und es ist demgemäß die verlorene potentielle Energie mgs = lmc32. Wir können also schreiben: (45)
mgh = mg(h —s) + mgs = mg(h —s) + \ mca •
Die linke Seite stellt hierin den u r s p r ü n g l i c h e n Betrag von Energie dar, den der Körper hatte; das erste Glied der rechten Seite ist diejenige potentielle Energie, die ihm n a c h H e r a b sinken um d a s S t ü c k s noch v e r b l i e b e n i s t , und das zweite Glied der rechten Seite \mcs2 ist der Betrag gewonn e n e r k i n e t i s c h e r Energie. Wir sehen also, daß beim freien Falle die Summe aus potentieller und kinetischer Energie in j e d e m A u g e n b l i c k der B e w e g u n g k o n s t a n t , und zwar gleich der zu Beginn in den Körper hineingesteckten Energie ist. Wir können also jedenfalls schreiben: (46)
£p 0t + £ k l n = E = const
Hier haben wir den ersten Fall eines allgemeinen Naturgesetzes, des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, vor uns,
das mit Bezug auf die reine Mechanik folgendermaßen ausgesprochen werden kann:
Abb. 60. Auf Glasplatte tanzende Stahlkugel
Die Summe aus potentieller und kinetischer Energie bleibt stets erhalten.
Wir werden später sehen, daß dies Erhaltungsgesetz auch für alle anderen Energieformen Gültigkeit besitzt. Vom energetischen Standpunkte aus bestehen demnach die Vorgänge der reinen Mechanik stets in Umwandlungen von potentieller in kinetische Energie und umgekehrt. Diese Umwandlung läßt sich experimentell z. B. dadurch zeigen, daß man eine kleine Stahlkugel auf eine gut polierte und völlig ebene Glas- oder Stahlplatte aus einer bestimmten Höhe fallen läßt. Dabei setzt sich zunächst die potentielle Energie in kinetische um. Beim Auftreffen der Kugel auf die Platte wird diese etwas eingedrückt und die Kugel ein klein wenig abgeplattet, wodurch in beiden Teilen ein Spannungszustand hergestellt wird 1 ). Das bedeutet aber, daß Platte und Kugel in einen Zustand versetzt werden, der es ihnen ermöglicht, Arbeit zu leisten; mit anderen Worten: Die kinetische Energie der fallenden Kugel hat sich in potentielle Energie verwandelt. Nun gleichen sich die Spannungen in Platte und Kugel sofort wieder aus, dadurch wird die Kugel nach oben beschleunigt, sie erhält Bewegungsenergie und erreicht praktisch die ursprüngliche Höhe und demnach die alte Energie der Lage. Das Spiel der springenden Kugel wiederholt sich viele Male, wie man aus der Abb. 60 erkennen Die Einbeulung der Platte bzw. die Abplattung der Kugel kann man z. B. dadurch nachweisen, daß man die Kugel auf eine berußte Glasplatte aufschlagen läßt. Dort wo die Kugel die Platte berührt, nimmt sie den R u ß weg, so daß man die Größe der Berührungsfläche erkennen kann. Diese stellt eine um so größere Kreisfläche dar, aus je größerer Höhe die Kugel fällt.
21. Potentielle und kinetische Energie; Erhaltung der Energie
63
kann, die eine photographische Aufnahme einer auf einer Glasplatte tanzenden Stahlkugel darstellt. Die polierte Kugel wurde während des Auf- und Abtanzens mit einer Bogenlampe beleuchtet, so daß sich ihr Weg auf der photographischen Platte als feine Linie aufzeichnete. Die Aufnahme läßt noch mehr erkennen. Nach jedem Aufschlag auf die Platte erreicht nämlich die Kugel die alte Höhe nicht mehr vollständig, d. h. die Umwandlung von kinetischer Energie in potentielle erfolgt nicht vollständig, und es scheint demnach so, als ob die Energie der Kugel nicht konstant bliebe, sondern ein Teil von ihr verlorenginge. In Wirklichkeit ist dies aber nicht der Fall; es findet vielmehr eine Umwandlung eines Teiles der mechanischen Energie in Wärmeenergie durch Reibung der Kugel in der Luft und beim Verformen von Platte und Kugel statt. Wir werden später sehen (Nr. 98), daß die Wärme nur eine andere Form von Energie darstellt, und daß der Satz von der Erhaltung der Energie gilt, wenn die Wärmeenergie mitberücksichtigt wird.
Auch die Schwingung eines Pendels bietet ein Beispiel für einen Bewegungsvorgang, bei dem die gegenseitige Umwandlung von kinetischer und potentieller Energie in
Abb. 61. Umwandlung von potentieller in kinetische Energie und umgekehrt beim Pendel
Abb. 62. Hemmungspendel nach Galilei
regelmäßigem Wechsel erfolgt. Um das Pendel in Bewegung zu setzen, heben wir seine Masse m (Abb. 61) bis zum Punkte A an, der um die Strecke h höher als B liegen möge. Das Pendel hat dann die potentielle Energie mgh. Nach dem Loslassen durchfällt seine Masse die Höhe h auf einem Kreisbogen; im tiefsten Punkte B hat die Masse die Geschwindigkeit c = |/2gh und die kinetische Energie |mc2, die gleich mgh ist, wie man ohne weiteres durch Einsetzen von c = ^2gh erkennt. Die kinetische Energie setzt sich dann wieder in potentielle Energie um: das Pendel schwingt über seine Ruhelage hinaus bis zum Punkt C, der wieder um dieselbe Strecke h höher als B liegt. Diese Höhe erreicht das Pendel auch dann, wenn man, wie es Abb. 62 zeigt, die Länge des wirksamen Pendelfadens dadurch verkürzt, daß man den Faden gegen einen Stift 5 anschlagen läßt, der sich vertikal unter dem Aufhängepunkt des Pendels befindet. Die Pendelkugel erreicht dann das Niveau der Ausgangslage auf einem anderen Kreisbogen. Setzt man den Stift so tief (S 3 in Abb. 62), daß die Pendelkugel beim Herumschwingen die Ausgangshöhe nicht mehr erreichen kann, so besitzt sie im höchsten Punkt über S3 noch einen gewissen Betrag an kinetischer Energie, so daß sie dort nicht zum Stillstand kommt, sondern weiter herumschlägt. In allen Punkten zwischen A und B bzw. C und B in Abb. 61 hat die Pendelkugel sowohl potentielle als auch kinetische Energie. Für den Punkt D z. B., der um die Strecke x tiefer liegt als A, ist die potentielle Energie mg(h —• x); die Geschwindigkeit der Kugel ist in D gleich ] / 2 g x , mithin ist ihre kinetische Energie an dieser Stelle \m2gx = m -g • x. Die Summe von potentieller und kinetischer Energie ist dem-
64
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
nach für den Punkt D gleich mg(h— x) + mgx = mgh. Da die Lage des ins Auge gefaßten Punktes aus dieser Gleichung herausfällt, ist demnach die Summe von potentieller und kinetischer Energie für alle Punkte der Bahn die gleiche und somit konstant. E s wird also weder Energie gewonnen, noch geht solche verloren. Letzterem scheint allerdings die Erfahrungstatsache zu widersprechen, daß das Pendel nach einiger Zeit zur Ruhe kommt. Der Grund hierfür liegt aber wiederum (wie bei der Abnahme der Sprunghöhe der tanzenden Stahlkugel) darin, daß fortlaufend bei der Bewegung ein Teil der mechanischen Energie durch die Überwindung von Reibungswiderständen in Wärme verwandelt wird.
III.
Kapitel
Mechanik eines Systems von Massenpunkten 22. Drittes Newtonsches Bewegungsgesetz Bei der Definition des Kraftbegriffes sagten wir, daß eine auf einen Massenpunkt wirkende Kraft nicht aus dem Massenpunkt selbst stammen kann, sondern durch seine „Beziehung" zu der ihn umgebenden Körperweit bedingt ist. Danach erfährt ein isolierter, im leeren Raum befindlicher Massenpunkt überhaupt keine Kraftwirkung. Damit eine solche zustande kommt, muß mindestens noch ein zweiter Massenpunkt, im allgemeinen eine Anzahl anderer Massenpunkte, vorhanden sein, von denen die Kraftwirkung ausgeht. Eine gespannte Feder kann z. B . eine vor ihrem einen Ende befindliche Masse nur beschleunigen, wenn ihr anderes Ende an einem zweiten Körper anliegt. E s hat also nur Sinn, von Kraftwirkungen „zwischen" zwei oder mehreren Massenpunkten oder Körpern zu sprechen. Die Erfahrung zeigt nun, daß, wenn ein Körper a auf einen Körper b eine Kraft ausübt, die wir nennen wollen, der Körperb umgekehrt auch auf den Körper« eine K r a f t a u s ü b t . Das dritte N e w t o n s c h e Axiom behauptet nun, daß stets die vom Körper a auf den Körper b ausgeübte Kraft gleich und entgegengesetzt der Kraft sei, d i e i a u f « ausübt. Bezeichnet man etwa die Kraft mit dem kurzen Ausdruck „Aktion" und entsprechend die Kraft $!(,„ mit „Reaktion", so kann man dem d r i t t e n N e w t o n s c h e n A x i o m die Fassung geben: (47)
=
—
;
in Worten: Jeder Aktion entspricht eine gleich große und entgegengesetzte Reaktion. Mit diesem Gesetz hat N e w t o n die Grundlage zur Behandlung der Mechanik von Systemen von Massenpunkten und damit der Mechanik ausgedehnter Körper geschaffen, von denen wir bisher absehen mußten. Wenn wir ein „System", d. h. eine gewisse Anzahl von Massenpunkten ins Auge fassen, so können zwei Fälle vorliegen: E n t w e d e r stammen a l l e K r ä f t e , die an Massenpunkten des Systems auftreten, aus dem System selbst, d. h. gehen von Massenpunkten des Systems selbst aus, — dann spricht man von „inneren" Kräften — o d e r es treten neben diesen inneren Kräften noch „äußere" Kräfte auf, die von Massenpunkten ausgehen, die wir dem System nicht zugerechnet haben. Wir wollen nun die Summe aller im System auftretenden Kräfte bilden. Sind es nur i n n e r e , so ist diese Summe gleichNull,da sie sich nach dem dritten N e w t o n s c h e n Axiom p a a r w e i s e a n u l l i e r e n . In diesem Falle nennt man das System ein freies System. Im anderen Falle reduziert
22. Drittes Newtonsches Bewegungsgesetz
65
sich die Summe a l l e r Kräfte auf die Summe der ä u ß e r e n Kräfte, da die Summe der inneren stets verschwindet. Wir haben also auf Grund des dritten N e w t o n s c h e n Axioms folgende Sätze: 1. Die Gesamtsumme aller Kräfte eines freien Systems ist gleich Null. 2. Die Gesamtsumme aller Kräfte eines beliebigen, nichtfreien Systems reduziert sich auf die Summe der äußeren Kräfte. Grundsätzlich kann man ein „unfreies" System stets dadurch zu einem freien machen, daß man diejenigen Massen, von denen die „äußeren" Kräfte ausgehen, mit zu dem System hinzunimmt. Bein theoretisch könnte man sich also auf die Behandlung „freier" Systeme beschränken; aus praktischen Gründen betrachtet man jedoch vielfach unfreie Systeme. Die Gültigkeit des Gesetzes von Aktion und Reaktion, das man auch a l s R e a k t i o n s p r i n z i p bezeichnet, läßt sich durch eine große Zahl von Versuchen erweisen. Von N e w t o n selbst stammt folgender Versuch: Befestigt man auf je einem Stück Kork einen kleinen Magneten und ein Eisenstück und läßt man beide Teile auf einer Wasserfläche schwimmen, so zieht der Magnet das Eisen und umgekehrt das Eisen den Magnet an; infolgedessen nähern sich beide bis zur Berührung und bleiben dann
Abb. 63. Nachweis der Gleichheit von Aktion und Reaktion ruhig nebeneinander liegen. Das ist aber nur möglich, wenn die Kraft Magnet-Eisen (Aktion) genau gleich der Kraft Eisen-Magnet (Reaktion) ist. Bringt man entsprechend Abb. 63 zwischen zwei auf einer horizontalen Glasplatte aufgestellten vollkommen gleichen Wagen eine zusammengedrückte Feder an, indem man die Wagen mit einem Faden zusammenbindet, so übt die Feder beim Durchbrennen des Fadens auf beide Wagen die gleiche Kraft aus, jedoch in entgegengesetzter Richtung. Beide Wagen erhalten also dieselbe Beschleunigung und legen in gleichen Zeiten gleiche Wegstrecken zurück. Dies erkennt man z. B. daran, daß die Wagen im gleichen Augenblick an zwei in derselben Entfernung von den beiden Wagen aufgestellte Klötze anstoßen. Ändert man den Versuch so ab, daß man an beiden Wagen eine längere Spiralfeder anbringt und diese durch Auseinanderziehen der Wagen spannt, so laufen die beiden Wagen, wenn man sie gleichzeitig losläßt, aufeinander zu und treffen sich in der Mitte, da jeder Wagen den anderen heranzieht. Man kann auch v e r s c h i e d e n e Wagen zu beiden Versuchen benutzen. Sie erteilen sich dann gegenseitig Beschleunigungen, die sich u m g e k e h r t wie ihre Massen verhalten. Ein Gewicht auf unserer Hand drückt mit derselben Kraft nach unten, mit der die Hand nach oben drücken muß, um das Gewicht am Fallen zu verhindern. Jeder Körper wird von der Erde angezogen und zieht mit der gleichen Kraft die Erde an; da aber die Masse der Erde im Vergleich zu der des fallenden Körpers außerordentlich groß ist, erfährt die Erde eine so geringe Beschleunigung, daß sie nicht merklich ist. Der Mond wird von der Erde angezogen, umgekehrt wirkt aber auch der Mond mit der gleichen K r a f t auf die Erde anziehend. Wird ein Gewehr abgefeuert, so wirkt einerseits eine Kraft auf das Geschoß nach vorwärts (Aktion) und anderseits eine gleich große entgegengesetzt gerichtete Kraft auf das Gewehr selbst (Reaktion), die man als Rückstoß gegen die Schulter empfindet. B e r g m a n n u. S c h a e f e r , Experimentalphysik. I .
5
66
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
Läßt man nach Abb. 64 aus einem rechtwinklig gebogenen Rohr D (Krümmer), das an einem Gummischlauch G aufgehängt ist, Wasser ausströmen, so wird das Wasser mit einem bestimmten Druck aus der Düsenöffnung geschleudert. Mit demselben Druck wirkt das Wasser auch gegen die gegenüberliegende Stelle der Rohrwandung, so daß der Krümmer gegen die Stromrichtung des Wassers bewegt wird und die in Abb. 64 gestrichelt gezeichnete Lage annimmt. Auf dieser Wirkung beruht die Arbeitsweise des Segnerschen Wasserrades, dessen Prinzip in Abb. 65 skizziert ist. Aus dem Vorratsgefäß A strömt Wasser durch ein vertikales Rohr nach den beiden waagerecht und entgegengesetzt gerichteten Düsen D1 und D2. Diese erfahren durch das ausströmende Wasser einen Rückstoß in der Richtung der eingezeichneten Pfeile; dadurch kommt die ganze Anordnung um die Vertikale in schnelle Rotation. Auf der Wirkung dieses Segnerschen Rades beruhen die rotierenden Rasensprenger und'Springbrunnen. Das in Abb. 65 dargestellte Wasserrad kommt sofort zum Stillstand, wenn man in 1—2 cm Entfernung von den Düsenöffnungen kleine Metallr** $
Abb. 64. Rückstoß bei einem beweglich aufgehängten Krümmer
7
Abb. 05. S e g n e r sches Wasserrad
Abb. 66. Nachweis der Reaktion auf die Schienen
platten anbringt, die an den Düsenarmen befestigt sind, so daß das ausströmende Wasser gegen diese Platten strömen muß. Es heben sich dann die entgegengesetzt gleichen Kräfte des Rückstoßes und des Wasserdruckes gegen die Metallplatten auf. Schließlich beruht auch die Wirkungsweise der Rakete auf dem Gesetz der Gleichheit von Aktion und Reaktion. Die von einer Rakete ausgeschleuderten Pulvergase üben auf die Rakete selbst eine rücktreibende Kraft aus, durch die die Rakete entgegengesetzt zur Ausströmungsrichtung der Pulvergase fortgeschleudert wird. Da das dritte Newtonsche Axiom universelle Gültigkeit besitzt, ist die Rückstoßkraft auf die Rakete unabhängig davon, ob sich die Rakete im lufterfüllten oder luftleeren Raum bewegt. Auch beim Gehen und Springen erkennt man an dem Auftreten einer rückstoßenden Kraft die Wirkung des dritten New ton sehen Gesetzes. Springt man z. B. über einen Graben, so erteilt man seinem Körper eine beschleunigende Kraft in der Sprungrichtung, gleichzeitig erfährt die Absprungstelle (d. h. die Erde) eine Kraft in der umgekehrten Richtung, deren Wirkung man gelegentlich an dem Nachgeben des Bodens erkennen kann. Versucht man von einem Boot ans Ufer zu springen, so macht man die Erfahrung, daß das Boot beim Absprung in der Richtung vom Ufer weg bewegt wird. Wenn eine Lokomotive anfährt, erhält sie eine Antriebskraft in der Fahrtrichtung, die Schienen und damit die Erde erfahren eine gleichgroße Kraft in der umgekehrten
23. Erster Impulssatz
67
Richtung. Dies läßt sich mit der in Abb. 66 wiedergegebenen Versuchseinrichtung zeigen, bei der die große Masse der Erde durch die kleine Masse eines um eine vertikale Achse drehbaren, mit Schienen versehenen Rades ersetzt ist. Beim Fahren der Lokomotive dreht sich das R a d mit den Schienen in der entgegengesetzten Richtung. Schließlich sei noch auseinandergesetzt, inwiefern ein Pferd einen Wagen durch Ziehen fortbewegen kann. Bei flüchtiger P r ü f u n g könnte man so argumentieren: „Die K r a f t (Aktion), die das Pferd auf den Wagen nach vorn ausübt, ist gerade entgegengesetzt der K r a f t (Reaktion), die der Wagen auf das Pferd nach rückwärts ausübt. D a Pferd und Wagen durch das Geschirr miteinander verbunden sind, so heben sich nach dem dritten N e w t o n sehen Axiom beide K r ä f t e auf, d. h. das Pferd kann den Wagen nicht fortbewegen." Dabei ist aber übersehen, daß außer diesen in der Tat gleichen u n d entgegengesetzten K r ä f t e n n o c h a n d e r e K r ä f t e s o w o h l a m P f e r d a l s a u c h a m W a g e n a n g r e i f e n , mit anderen Worten, daß das System PferdWagen k e i n f r e i e s S y s t e m ist. Die noch hinzukommenden ( ä u ß e r e n ) K r ä f t e sind solche, die von der E r d e vermittels der Reibung sowohl auf Pferd wie Wagen ausgeübt werden. N u r wenn die Reibungskräfte zwischen Erde und Pferdehufen größer sind, als die zwischen E r d e und Wagen, was im allgemeinen der Fall ist, kann das Pferd den Wagen fortbewegen; bekanntlich zeigt auch die Erfahrung, daß bei Glatteis, wo dies nicht mehr der Fall ist, das Pferd den Wagen nicht fortbewegen kann. Im allgemeinen betrachtet man Reibungskräfte (vgl. Nr. 41) als H i n d e r n i s s e der Bewegung; hier l i e g t e i n F a l l v o r , in d e m B e w e g u n g nur durch sie m ö g l i c h wird.
23. Erster Impulssatz; Erhaltung des Impulses eines freien Systems Wir betrachten nun ein System, etwa von n Massenpunkten; auf jeden Massenp u n k t wirken K r ä f t e , die teils i n n e r e , teils ä u ß e r e sein mögen. Jedenfalls gilt für jeden Massenpunkt einzeln die N e w t o n s c h e Bewegungsgleichung, die wir hier, nach Gl. (39), in der sogenannten „ I m p u l s f o r m " benutzen wollen. Seien die K r ä f t e ® l 5 . .., die Massen m1,m2, . . . , mn, die Geschwindigkeiten C1; C2, . • . , ( n , die Impulse S i > Sa. • • • > Sn > 3 0 gehorchen die Massenpunkte des Systems den Bewegungsgleichungen : 1
(48)
=
2 = ¿7 ( m 2 C2) = - Jdtr > d_ dt
; C J
"
dt
•
Das ist nichts Neues. Neues aber gewinnen wir, wenn wir alle diese Gleichungen addieren. Denn in der links auftretenden Summe a l l e r K r ä f t e heben sich nach dem dritten N e w t o n s c h e n Gesetz die i n n e r e n heraus, und es bleibt nur die (nach dem Parallelogrammsatz zu bildende) Resultierende der ä u ß e r e n K r ä f t e übrig, die wir durch den Index „a" auszeichnen. Auf der rechten Seite steht der erste zeitliche Differentialquotient von der Summe sämtlicher Impulse; somit erhalten wir: (49 a)
2J~
dt
2
S n
•
5*
68
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
Ersetzen wir nun die äußeren Kräfte durch ihre Resultante St, ebenso die Summe der Impulse durch den (ebenfalls nach dem Parallelogrammsatz zu bildenden) Gesamts o können wir Gleichung (49a) schreiben: impuls (49b) in Worten: Bei einem System von Massenpunkten ist die resultierende äußere Kraft gleich der sekundlichen Änderung des Gesamtimpulses (Erster Impulssatz). Diese Gleichung ist die direkte Verallgemeinerung der Newtonschen Bewegungsgleichung e i n e s Massenpunktes in der Impulsform (39); denn auch dort ist ja die Kraft, die auf der linken Seite auftritt, die ä u ß e r e Kraft. Diese Verallgemeinerung wird offensichtlich nur dadurch möglich, daß infolge des dritten Axioms die inneren Kräfte sich herausheben. Dies bedingt natürlich eine großa r t i g e V e r e i n f a c h u n g , da man sich um die i n n e r e n Kräfte nicht zu kümmern braucht; ohne das dritte N e w t o n s c h e Axiom wäre — so kann man ohne Übertreibung sagen — eine „Mechanik der Systeme" gar nicht durchführbar. Wir werden in der nächsten Nummer den 1. Impulssatz in eine noch bequemere und anschaulichere Form bringen, wodurch die Analogie zur Mechanik e i n e s Massenpunktes womöglich noch stärker hervortritt.
Besonders einfach und bedeutsam wird der erste Impulssatz, wenn das betrachtete System frei ist. Dann gibt es keine äußeren K r ä f t e , die Summe der inneren anulliert sich wie vorhin, d. h. die auf der linken Seite von (49) stehende resultierende Kraft 8 ist gleich Null. Somit folgt: (50)
-JJ- = 0 ,
oder
$$ = constant.
In einem freien System bleibt der resultierende Impuls 3 (nach Größe und Richtung) erhalten. War derselbe insbesondere zu irgendeiner Zeit der Bewegung gleich Null, so bleibt er auch während der ganzen Bewegung gleich Null. Experimentell läßt sich der „Satz von der Erhaltung des Impulses" in folgender Weise demonstrieren: Wir knüpfen an den in der vorigen Nummer erwähnten Versuch an, bei dem zwischen zwei Wagen von den Massen m l und m2, die auf einer horizontalen glatten Unterlage beweglich sind, eine zusammengedrückte Feder angebracht ist. Die sich entspannende Feder erteilt den beiden Massen nach dem dritten Newtonschen Axiom entgegengesetzt gleiche Kräfte, die Wagen erhalten nach Ablauf der Kraftwirkung Geschwindigkeiten Cx und C2, die einander entgegengesetzt gerichtet sind; die Impulse sind also fn1C1 bzw. m2C2 und weisen natürlich gleichfalls in entgegengesetzte Richtungen. Da zu Beginn des Versuches (alles in Ruhe!) der Gesamtimpuls jedenfalls Null ist, so muß er es auch nach dem Versuche sein, d. h. es muß gelten: (51)
m1 Cj + m2 C2 = 0 .
Das bedeutet aber, daß die Absolutbeträge der Geschwindigkeiten c1 und c2 sich umgekehrt wie die Massen m1 und m2 verhalten, was der Versuch auch wirklich ergibt. Besonders einfach ist der Sonderfall, daß beide Massen gleich sind; dann ist Cx = — C2, d. h. auch die Geschwindigkeiten sind dann entgegengesetzt gleich. Der S a t z von der E r h a l t u n g des Impulses stellt im Grunde genommen nur eine andere Formulierung des dritten Newtonschen Axioms vor. Z.B. läßt sich die Wirkung der Rakete, die wir in der vorigen Nummer als Beispiel für das dritte Axiom erörterten, natürlich auch mit Hilfe des Impulssatzes erklären: Die Pulvergase mit der Masse m1 werden mit einer großen Geschwindigkeit C! von der Rakete ausgestoßen, erhalten also einen Impuls m1C1. Da zu Beginn die Rakete in Ruhe war, hatte sie den Gesamtimpuls Null; damit dieser nach dem Anzünden der Rakete erhalten bleibt, muß die Rakete mit ihrer Masse m2 eine Be-
69
24. Massenmittelpunkt; Schwerpunktsatz
wegung mit der Geschwindigkeit C2 ausführen, so daß berechnet sich
+ w2C2 = 0 ist. Hieraus
In der Ballistik macht man bei der Bestimmung der Geschoßgeschwindigkeit mit dem sogenannten ballistischen Pendel von dem Satz der Erhaltung des Impulses Gebrauch. Das ballistische Pendel (Abb. 67) besteht aus einer an einer Stange aufgehängten großen Masse M (z. B . Kiste mit Sand). Das Geschoß, dessen Geschwindigkeitsbetrag bestimmt werden soll, und das die Masse m l haben möge, wird in den Pendelkörper hineingeschossen, \ \ so daß es darin stecken bleibt; auf diese Weise erteilt das Geschoß dem Pendel eine bestimmte Geschwindigkeit \ \ ( j . Bestimmt man diese (etwa aus der Steighöhe h des Pendels) zu Cx = ]/2gh (s. hierzu S. 33), so gilt nach dem Impulssatz für ein freies System die Gleichung: mc = (M + m)cl\ hierin ist mc der Impulsbetrag v o r und (M + m)c1 sein Wert n a c h dem Eindringen T des Geschosses in den Pendelkörper. Für die GeschoßAbb. 67. Ballistisches Pendel geschwindigkeit ergibt sich damit der Ausdruck C= ——— y2gh,
in dem alle Größen auf der rechten Seite der Messung zugänglich
sind. Mißt man statt h, was bequemer ist, den maximalen Ausschlagswinkel « des Pendels, und die Pendellänge l, so hat man statt h die Größe l (1 — cos«) einzusetzen. I n dem Impulssatz treffen wir zum zweitenmal auf ein Gesetz, das aussagt, daß eine gewisse Größe einen konstanten Wert besitzt, oder daß die zeitliche Änderung einer Größe Null ist. Das erste , , E r h a l t u n g s g e s e t z " fanden wir bereits in Nr. 21 für die Energie. In der Physik ist man stets bemüht, solche Erhaltungssätze zu finden; sie ermöglichen in besonders einfacher und durchsichtiger Weise die Formulierung aller Erscheinungen.
24. Massenmittelpunkt (Schwerpunkt); erster Impulssatz; Schwerpunktsatz In der vorangehenden Nummer hatten wir eine andere Formulierung des ersten Impulssatzes angekündigt, die die Analogie zur Bewegungsgleichung (32) e i n e s Massenpunktes noch deutlicher herausstellen sollte. Dazu bedürfen wir eines neuen Begriffes: Die einzelnen Massen m-y bis m n des betrachteten Systems liegen zerstreut an verschiedenen Stellen des Raumes; wir wollen versuchen, sie durch die Gesamtmasse mx + m 2 + " " " + an e i n e r Stelle des Raumes so zu ersetzen, daß das oben gesteckte Ziel erreicht wird. Wir beginnen mit einem ganz einfachen Fall: Wir betrachten zwei g l e i c h e Massen m in einem bestimmten Abstände voneinander. In diesem Falle liegt es nahe, sie zu ersetzen durch die Gesamtmasse 2m, die wir auf der Verbindungslinie, und zwar so anbringen, daß sie dieselbe g e r a d e h a l b i e r t . Haben wir es aber mit zwei verschiedenen Massen m^ und m 2 zu tun, so erhebt sich natürlich die Frage aufs neue, wo nunmehr die Gesamtmasse mx + m 2 auf der Verbindungslinie anzubringen ist. Darüber kann natürlich nur die Erfahrung entscheiden, und jeder mögliche theoretische Ansatz muß sich an ihr bewähren. Immerhin kann man von vornherein vermuten, daß die Gesamtsumme jetzt nicht mehr in der Mitte der Verbindungslinie anzubringen ist, sondern n ä h e r an d e r g r ö ß e r e n M a s s e . Wir wollen demgemäß genauer ver-
70
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
langen, d a ß die G e s a m t m a s s e den A b s t a n d d e r E i n z e l m a s s e n im u m g e k e h r t e n V e r h ä l t n i s d e r E i n z e l m a s s e n m, und m 2 t e i l t . Diese Festsetzung hat sich in der Tat bewährt. Die Lage der beiden Einzelmassen m^ und m2 sei etwa dadurch bestimmt, daß wir die Lagevektoren t j und t2 angeben, die von einem w i l l k ü r l i c h e n Bezugspunkte 0 gezogen sind (Abb. 68). „ Die Verbindungsstrecke AB ist dann als der Vektor ( t 2 — t , ) zu betrachten; denn nach den Regeln der Vektoraddition (Paralellogrammkonstruktion) ist die Resultierende von OA = t j und AB = t 2 — t j eben der Vektor OB = r2• Bringen wir jetzt im Punkte C, dem Endpunkte des zu bestimmenden Lagevektors t die Masse m1 + an, dann ist — wieder nach den Regeln der Vektoraddition —
(52)
r
Äc =
i—tlt
l
CB =r2
— t ;
da diese Strecken sich umgekehrt wie die Massen m1 und m2 verhalten sollen, und ihre Summe gleich AB = t2—ti
(52 a)
i l
sein muß, so muß gelten:
Ï — * i1 = m, — -+r — m» (**' — * iu) . r 2 — t = mi
m,
+ m. (t 4
—*i).
Man überzeugt sich in der Tat leicht, daß durch (52 a) unseren Forderungen genügt wird. Es ergibt sich also — durch Division beider Gleichungen — aus (52a): r — ti _ r , — I m2 mj '
oder ausgerechnet: (52b)
r =
m
l I l +
TO2t2j
TOX + TO2
Diese Gleichung liefert uns den zur Bestimmung des Ortes C der Gesamtmasse « [ + » 2 dienenden Lagevektor J . Nehmen wir jetzt eine dritte Masse m 3 mit dem Lagevektor t 3 hinzu und vereinigen nach der gleichen Vorschrift die in C befindliche Masse m1 + m2 mit dieser dritten Masse m 3 , so finden wir für den Ort der neuen Gesamtmasse m 1 m2 + m 3 , d. h. für seinen Lagevektor, den wir wiedert nennen wollen, die zu (52b) analoge Gleichung: (52 c)
x=
OTi*i
+ ot2 + m 3 r » -)- m2 + m3
OTj
Man erkennt nun schon das allgemeine Gesetz der Bildung: Wenn wir n Massen m1, m2, . . . , m n an den Enden der Lagevektoren t ^ t 2 , . . . , t „ ersetzen wollen (Abb. 69), so haben wir die Gesamtmasse m1 + m2 + ' " + ^n a n dem Endpunkte S des Vektors r anzubringen:
71
24. Massenmittelpunkt; Schwerpunktsatz
Projiziert man die Lagevektoren x und t„ auf die Koordinatenachsen, so erhält man die kartesischen Koordinaten ~x, y, z des Punktes, an dem die Gesamtmasse vereinigt ist: (53 a)
x
=
-
£mv
_
'
2
p
m
'
'
Legt man den Koordinatenanfangspunkt direkt in diesen X = x = y = ~z = 0, und man hat dann die Gleichungen: (53b)
JJm r X r = 0 ,
£mvx, = 0,
2}mryr = 0 ,
Punkt,
so werden
J^mrzr = 0 ,
die auch als Definition dieses ausgezeichneten Punktes gelten können. Natürlich wissen wir noch nicht, ob unser ganzes Verfahren physikalische Bedeutung h a t ; selbst wenn es keinen tieferen physikalischen Sinn hätte, so ist es doch jedenfalls in sich zulässig und einwandfrei; auf alle Fälle haben wir einen
Abb. 68. Bestimmung des Massenmittelpunktes zweier Massen m 1 und m t
Abb. 69. Bestimmung des Massenmittelpunktes von n Massen
g e o m e t r i s c h e n P u n k t im System festgelegt. Glücklicherweise erweist es sich aber auch als hervorragend nützlich. Der durch (53) bestimmte Lagevektor der Gesamtmasse £ m ist ein auf bestimmte Weise aus den Einzelmassen und Einzellagevektoren gebildeter M i t t e l w e r t . Man erkennt dies besonders deutlich an Gl. (53b): Die Summe der auf diesen „mittleren" P u n k t bezogenen, mit den Massen mv multiplizierten Abstände r, dieser Massen ist gleich Null; d. h. die positiven und negativen Anteile dieser Summen anullieren sich, was offenbar nur dann möglich ist, wenn der Punkt, bezüglich dessen dies der Fall ist, eine m i t t l e r e Lage besitzt. Wir wollen daher den E n d p u n k t des Vektors X den „Massenmittelpunkt" nennen; noch gebräuchlicher ist der Name „Schwerpunkt"; ihre Begründung erfährt diese letztere Bezeichnung in Nr. 33. Folgendes ist von Bedeutung: Unsere ganze Ableitung beruht auf den Gleichungen (52a), die auch bei zahlreichen Massen ja immer wieder angewendet werden. In ihnen treten nur die M a s s e n u n d ihre g e g e n s e i t i g e n A b s t ä n d e a u f ; wo der B e z u g s p u n k t O l i e g t , i s t d a h e r g a n z g l e i c h g ü l t i g . Die L a g e des Massenmittelpunktes ist daher a u s s c h l i e ß l i c h durch das S y s t e m der Massen bestimmt, aber g ä n z l i c h u n a b h ä n g i g von der Wahl des Bezugspunktes, der ja nur eine mathematische Hilfskonstruktion ist.
Wir wollen uns jetzt vorstellen, daß die Massen unseres Systems sich b e w e g e n , d . h . daß die Lagevektoren t, in einer kleinen Zeit dt übergehen in t» + dx,. D a n n ä n d e r t s i c h g l e i c h z e i t i g d i e L a g e d e s S c h w e r p u n k t e s . E r hat nunmehr den Lagevektor r + dx . Und die Größe und Richtung seiner Verschiebung folgt durch Differentiation von (53) zu: £rnvd dx
=
¿mv i
r
72
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten.
Dividieren wir beide Seiten dieser Gleichung durch das Zeitelement dt, in dem die Verrückungen dt, und dt vor sich gehen, so folgt: df dt
d r„ -dt '
d i - 7 - = C* ist aber die G e s c h w i n d i g k e i t des r-ten Massenpunktes (nach Größe und di Richtung),
= c ist a l s o
haben also dafür: (54)
die
Geschwindigkeit -
des
Schwerpunktes.
Wir
Z™>vtv
Natürlich brauchen die Geschwindigkeiten C, nicht k o n s t a n t zu sein, da die einzelnen de Massenpunkte im allgemeinen eine Beschleunigung 0» = besitzen werden; dann ist im allgemeinen natürlich auch der Schwerpunkt beschleunigt. F ü r dessen Beschleunigung erhalten wir durch nochmalige Differentiation von (54) nach der Zeit: (55)
« = 4 ^ 1 . Z
Multiplizieren wir nun in Gl. (54) mit der Gesamtmasse Z m v — M herauf, so erhalten wir: (54a)
Mi
= Zmv*v
•
R e c h t s steht j e t z t die Vektorsumme der Einzelimpulse der Einzelmassen, d. h. der Gesamtimpuls unseres Systems, links offenbar der Impuls 3 des Schwerpunktes. Gl. (54a) lautet daher in W o r t e n : Der Gesamtimpuls eines beliebigen Systems ist gleich dem Impuls des Schwerpunktes. Nun hatten wir in Gl. (49a) den ersten Impulssatz formuliert; unter Benutzung von (54a) können wir ihn j e t z t so aussprechen: Bei einem System von Massenpunkten ist die resultierende äußere Kraft gleich der sekundlichen Änderung des Impulses des Schwerpunktes. Und da die sekundliche Änderung des Schwerpunktsimpulses gleich dem Produkt der in ihm konzentrierten Gesamtmasse M und der Beschleunigung a des Schwerpunktes ist, können wir schließlich den ersten Impulssatz auch schreiben: (56)
fl
= Mo ,
in W o r t e n : Bei einem beliebigen System ist die resultierende äußere Kraft gleich dem Produkt aus seiner Gesamtmasse und der Beschleunigung des Schwerpunktes. In dieser Form (56) hat der erste Impulssatz genau die Gestalt der Newtonschen Bewegungsgleichung (32) für einen einzelnen Massenpunkt. Darin liegt für uns die Berechtigung, daß wir einen solchen „ S c h w e r p u n k t " überhaupt eingeführt, und daß wir ihn auf die dargelegte Art bestimmt haben. E s folgt daher der S a t z : Im Schwerpunkt eines Systems kann man sich dessen Gesamtmasse vereinigt und die resultierende äußere Kraft angreifend denken. Darin liegt schließlich auch die Rechtfertigung der Tatsache, daß wir im vorigen Kapitel, das vom einzelnen Massenpunkt handelt, dennoch mit ausgedehnten Körpern (d. h. mit Systemen von Massenpunkten) experimentierten, weil es eben nicht anders geht. Gemeint war in diesen Fällen immer der Schwerpunkt der benutzten Körper.
24. Massenmittelpunkt; Schwerpunktsatz
73
Besonders einfach wird natürlich jetzt auch d e r S a t z v o n d e r „ E r h a l t u n g d e s I m p u l s e s " f ü r f r e i e S y s t e m e . Da f ü r solche der Gesamtimpuls konstant bleibt, können wir jetzt sagen, d a ß d e r I m p u l s d e s S c h w e r p u n k t e s e i n e s f r e i e n S y s t e m s k o n s t a n t b l e i b t , oder auch, nach (56), da die äußere K r a f t gleich Null i s t , d a ß d e r S c h w e r p u n k t e i n e s f r e i e n S y s t e m s u n b e s c h l e u n i g t ist. Er hat eine nach Größe und Richtung konstante Geschwindigkeit (. Der Schwerpunkt eines freien Systems bewegt sich daher nach dem Trägheitsgesetz: Er ist entweder in Ruhe oder in gleichförmiger geradliniger Bewegung begriffen. I n dieser Form nennt m a n den Erhaltungssatz des Impulses auch den Satz von der Erhaltung der Bewegung des Schwerpunktes. Auch in folgende negative Aussage kann man den Satz kleiden: In einem freien System (in dem also Einwirkung äußerer Kräfte fehlt), kann durch die Wirkung der inneren Kräfte der Schwerpunkt nicht verschoben werden. Folgender Versuch veranschaulicht die Richtigkeit dieses Satzes: Auf einem Wagen (Abb. 70) ist ein Pendel aufgehängt, das an seinem unteren Ende eine größere Masse trägt. L ä ß t man dieses Pendel schwingen, so bewegt sich der Wagen ruckweise hin und her, und zwar stets entgegengesetzt der Bewegung des Pendels. Man kann deutlich beobachten, daß der gemeinsame 70 Schwerpunkt der ganzen Anordnung, der in der - Vfr3"cl? Nachweis des _ . , r , T . , , ... . , . TT7 Satzes von der Erhaltung der Bewegung Ruhelage des Pendels über der Mitte des Wagens d e s Schwerpunktes liegt, seine Lage im R a u m nicht verändert. — Ferner: Wenn eine ruhende Granate krepiert, so werden unter der Wirkung der Pulvergase die Sprengstücke nach allen Seiten weggeschleudert. Die Bewegung dieser Stücke erfolgt dabei stets so, daß der Schwerpunkt der Granate seine Lage im R a u m unverändert beibehält. — In dem genannten Satze ist schließlich auch der Grund zu suchen, weshalb M ü n c h h a u s e n sich nicht an seinem Zopf aus dem Sumpf herausziehen kann, da er durch innere K r ä f t e seinen Schwerpunkt nicht in Bewegung zu versetzen vermag. Auch die Richtigkeit des allgemeinen Impulssatzes (56) läßt sich durch Versuche zeigen. Bringt man z. B. an einem Bierfilz ein Stück Blei exzentrisch an, so liegt der Schwerpunkt des beschwerten Filzes im Blei. Wirft man ihn jetzt schräg in die Höhe, wobei man ihm gleichzeitig noch eine beliebige drehende Bewegung erteilen kann, so beschreibt der Schwerpunkt nichtsdestoweniger die einfache parabolische Wurfbahn, die ein Massenpunkt unter den gleichen Bedingungen durchläuft. Alle anderen P u n k t e des Filzes dagegen vollführen gleichzeitig eine drehende und fortschreitende komplizierte Bewegung. Die Bahn des Schwerpunktes kann man leicht beobachten, wenn man das Bleistück mit einer auffallenden F a r b e anstreicht. — Die gleiche Erscheinung zeigt eine im Fluge platzende Granate; auch hier bewegt sich der Schwerp u n k t des gesamten Systems auf der ursprünglichen Geschoßbahn weiter. — Die Sternschnuppensch wärme sind Bruchstücke von periodischen Kometen, die zerplatzt sind; welche Bahnen auch die Bruchstücke beschreiben, der S c h w e r p u n k t d e s S y s t e m s verfolgt nach wie vor seine alte elliptische Bahn weiter. Zur rechnerischen Bestimmung des Schwerpunktes geht man, statt Gl. (53) zu benutzen, besser von der Komponenten-Darstellung (53a) aus:
(53a)
¿ =
y=
z =
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
74
Bei Körpern mit kontinuierlich verteilten Massen gehen die Summen in Integrale über, da man jedes Massenelement (dm) mit seiner Koordinate (x oder y oder 2) zu multiplizieren hat: (53c)
~X
=
J
f xdm T7—' Jdm
f y dm y = -T7—> Jdm
~Z =
f zdm J 7 - Jdm
J
Die Berechnung läßt sich natürlich nur für geometrisch einfach gestaltete Körper durchführen. Auch ohne Rechnung erkennt man aber, daß z. B. der Schwerpunkt einer homogenen Kugel mit ihrem Mittelpunkte zusammenfällt.
25. Bewegungsmöglichkeiten (Freiheitsgrade) von Systemen, insbesondere starren Systemen; Translation und Rotation Der erste Impulssatz wurde in den vorhergehenden Nummern aus den N e w t o n sehen Bewegungsgleichungen (49), die für jeden Massenpunkt des betrachteten Systems gelten, in Verbindung mit dem dritten N e w t o n s c h e n A x i o m von der Gleichheit der Aktion und Reaktion abgeleitet. Außer diesem Satze gilt für beliebige Systeme noch ein z w e i t e r I m p u l s s a t z , zu dessen Formulierung wir einiger Vorbereitungen in dieser und den nächsten Nummern bedürfen. Betrachten wir zunächst e i n e n Massenpunkt; seine L a g e ist bestimmt durch drei Angaben, etwa die kartesischen Koordinaten x, y, z oder durch seinen L a g e v e k t o r t, d. h. durch den Betrag r desselben und zwei Winkel, die seine Richtung festlegen, oder durch drei andere, passend gewählte Abmessungen: I m m e r aber sind es drei Angaben. Bleiben wir etwa bei den kartesischen Koordinaten, dann kann man den Massenpunkt z. B . parallel der x-Achse verschieben, ohne seine y- und z-Werte zu ändern; das gleiche gilt von Verschiebungen parallel den y- und ¿-Richtungen. Ein Massenpunkt kann also d r e i u n a b h ä n g i g e V e r s c h i e b u n g e n erleiden; er hat, wie man sagt, drei Freiheitsgrade. Daraus folgt sofort, daß ein beliebiges System von n frei beweglichen Massen punkten im ganzen 3 n Freiheitsgrade besitzt; es ist klar, daß die Bewegung eines solchen Systems im allgemeinen sehr kompliziert ist. W i r wollen nun ein sehr wichtiges spezielles System ins Auge fassen, nämlich ein solches, bei dem alle g e g e n s e i t i g e n E n t f e r n u n g e n je z w e i e r Massenp u n k t e v o l l k o m m e n u n v e r ä n d e r l i c h s e i n s o l l e n ; ein solches System nennt man ein „ s t a r r e s " , den von dem System gebildeten K ö r p e r einen „ s t a r r e n K ö r p e r " . Es gibt in der Natur zahlreiche Körper, die sogenannten „ f e s t e n " , bei denen diese Bedingung sehr angenähert erfüllt ist, z. B. bei einem Stahlblock. Bei sehr genauen Messungen freilich zeigen sich Änderungen der Abstände der einzelnen Massenpunkte, die man daran erkennt, daß der feste K ö r p e r Volum- und Gestaltsänderungen unter dem Einfluß äußerer K r ä f t e erleidet; die Untersuchung dieser feineren Veränderungen gehört in die Lehre der E l a s t i z i t ä t ( K a p . V ) . Hier wollen wir ganz davon absehen und bewußt die Abstraktion eines starren Körpers bilden. W i e v i e l Freiheitsgrade hat nun ein starres Gebilde ? Zur Beantwortung dieser Frage können wir von der Tatsache ausgehen, daß ein starrer K ö r p e r sich nicht mehr bewegen kann, wenn drei nicht in einer Geraden liegende Punkte desselben festgehalten werden. W ä r e n dies drei freie Punkte, so würde jeder von ihnen drei Freiheitsgrade, der starre K ö r p e r also deren neun besitzen. Indessen ist dies natürlich nicht der Fall. Der Punkt 1 ist allerdings frei beweglich, hat also seine vollen drei Freiheitsgrade, Punkt 2 und 3 aber sind nicht mehr frei, da sowohl 2 wie 3 ihren Abstand von 1 nicht ändern dürfen, ebensowenig wie der Abstand von 2 und 3 veränderlich ist. Die Punkte 2 und 3 haben also drei Bedingungen zu erfüllen, unterliegen also
25. Freiheitsgrade; Translation und Rotation
75
drei Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Somit gehen von den neun Freiheitsgraden drei a b ; es bleiben für den starren Körper sechs Freiheitsgrade übrig. Diese müssen sich natürlich in den Möglichkeiten seiner Bewegung bemerkbar machen. Erstens kann ein starrer Körper offenbar eine solche Bewegung ausführen, daß er dabei seine Orientierung im R ä u m e nicht ändert. Dann verschiebt sich jeder seiner P u n k t e nach Größe und Richtung um die gleiche Strecke. Diese spezielle Bewegung nennt man eine Translation. Sie kann dargestellt werden durch einen Vektor, den man an einem b e l i e b i g e n P u n k t e des starren Körpers anbringt; sein Betrag ist gleich der Größe der Verschiebung, seine Richtung gleich der Richtung der Verschiebung zu wählen. Man nennt diesen Vektor den Translationsvektor. Wenn der starre Körper sich in dieser Weise bewegt, haben alle seine P u n k t e die gleiche Geschwindigkeit (wieder nach Größe und Richtung), und diese heißt entsprechend Translationsgeschwindigkeit. Der Translationsvektor (oder die Translationsgeschwindigkeit) kann in speziellen Fällen parallel der x-, y- oder der 2-Achse gerichtet sein: B e i d e r T r a n s l a t i o n m a c h e n sich drei von den sechs F r e i h e i t s g r a d e n des s t a r r e n Körpers bemerkbar. E i n e z w e i t e B e w e g u n g s m ö g l i c h k e i t des starren Körpers ist die folgende: Wenn zwei P u n k t e desselben in R u h e gehalten werden, so bleiben sämtliche P u n k t e der sie verbindenden Geraden in Ruhe, alle anderen P u n k t e beschreiben Kreise um diese Gerade als Rotationsachse. Der Winkel, um den sich der Körper dreht, ist der Rotationswinkel, das Verhältnis eines kleinen Rotationswinkels zum Zeitelement, in dem die Drehung vor sich geht, die Rotationsgeschwindigkeit (oder Winkelgeschwindigkeit) (vgl. S. 30). Es ist wichtig, daß sowohl die Rotation wie die Rotationsgeschwindigkeit gleichfalls V e k t o r Charakter besitzen. Denn außer ihrem Betrage sind sie noch durch die Richtung der Achse charakterisiert, u m die die Drehung s t a t t f i n d e t ; wir betrachten daher die Richtung der Rotationsachse auch als die Richtung dieser Vektoren, die wir in einem beliebigen P u n k t e der Achse auftragen können. Den p o s i t i v e n S i n n d e s l l o t a t i o n s v e k t o r s setzen wir folgendermaßen fest: Blickt man in Richtung der Rotationsachse und erfolgt d a n n d i e D r e h u n g i m U h r z e i g e r s i n n e , so soll der Vektor der Rotation bzw. Rotationsgeschwindigkeit vom Beschauer fortweisen. Ebensogut können wir den Rotationsvektor bzw. die Rotationsgeschwindigkeit als die Resultierende von drei speziellen Rotationen bzw. Rotationsgeschwindigkeiten ansehen, die um die Koordinatenrichtungen als Rotationsachsen erfolgen (Zerlegung und Zusammensetzung geschehen nach dem Parallelogrammsatz). Man erkennt daraus, d a ß in e i n e r R o t a t i o n s b e w e g u n g u m e i n e b e l i e b i g e A c h s e s i c h die w e i t e r e n drei F r e i h e i t s g r a d e des s t a r r e n K ö r p e r s bemerklich machen. Die allgemeinste Bewegung eines starren Körpers läßt sich aus einer Translation und einer Rotation zusammensetzen; dabei kommen alle sechs Freiheitsgrade zur Geltung. Es ist noch eine d r i t t e B e w e g u n g s m ö g l i c h k e i t des starren Körpers vorhanden: Wir können e i n e n P u n k t festhalten; alle anderen Punkte beschreiben dann Bahnen, die auf konzentrischen Kugelflächen um dieses „ R o t a t i o n s z e n t r u m " liegen. Man kann indessen zeigen, daß diese Rotation um einen Punkt stets auf eine Rotation um eine durch diesen Punkt gehende Aehse zurückgeführt werden kann, die allerdings im allgemeinen ihre Lage im Körper von Augenblick zu Augenblick ändert und deshalb „ M o m e n t a n a c h s e " oder „ i n s t a n t a n e R o t a t i o n s a c h s e " genannt wird. Um diese dritte Bewegungsform brauchen wir uns bezüglich der Zahl der Freiheitsgrade also nicht zu kümmern, da sie gegenüber dem Vorhergehenden nichts Neues liefert.
Wie schon oben erwähnt, h a t ein System von n f r e i e n Massenpunkten viel mehr Freiheitsgrade, d. h. Bewegungsmöglichkeiten als ein starrer Körper. Doch kann sich natürlich auch ein beliebiges System in Sonderfällen wie ein starrer Körper bewegen, d. h. Translation und Rotation sind mögliche Bewegungstypen a l l e r (nicht nur starrer) Systeme. Das ist deshalb wichtig, weil der später abzuleitende „zweite Impulssatz"
76
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
sich gerade auf Rotationsbewegungen bezieht und deshalb f ü r a l l e (nicht nur für starre) Systeme Gültigkeit besitzt. Die Zahl der Freiheitsgrade mag noch in ein paar Spezialfällen angegeben werden: Ein Massenpunkt, der sich auf einer bestimmten vorgeschriebenen Kurve bewegen muß, hat nur mehr 1 Freiheitsgrad; ist er auf eine Fläche beschränkt, kann er 2 Freiheitsgrade betätigen. Ein starrer Körper, der in einem Punkte festgehalten wird, hat offensichtlich noch 3 Freiheitsgrade; sind aber 2 Punkte festgehalten, so ist nur noch eine Bewegung mit 1 Freiheitsgrad möglich.
26. Trägheitsmoment (Drehmasse); Satz von Steiner Wir starren Wir starren gleiche
wollen im folgenden die charakteristischen Unterschiede im Verhalten des Körpers bei Translation und Rotation herausarbeiten. betrachten z . B . die kinetische Energie eines i n T r a n s l a t i o n begriffenen Körpers. D a die Translationsgeschwindigkeit f ü r jeden P u n k t desselben die ist, ist die gesamte kinetische Energie offenbar:
(57)
EKn = \ c * 2 m v = \ M c K trans
v
Dabei ist mv die Masse des v-ten Massenpunktes, u n d die Summation ist über den gesamten starren Körper zu erstrecken, dessen Gesamtmasse M ist. Das ist der nämliche Ausdruck wie bei e i n e m Massenpunkt, und der innere Grund dafür ist eben die Gleichheit der Geschwindigkeit f ü r alle P u n k t e . Bei einer R o t a t i o n ist dies natürlich nicht mehr der Fall. Die P u n k t e der Achse sind sämtlich in Ruhe, und die außerhalb der Achse gelegenen P u n k t e haben um so größere Geschwindigkeiten, je größer ihr Abstand r von der Achse ist. Bezeichnen wir den Vektor der Rotationsgeschwindigkeit mit U, seinen Betrag entsprechend mit u (S. 30), so ist der Betrag der Geschwindigkeit aller P u n k t e im Abstände r von der Achse: c — ru . Damit ist nun der Ausdruck f ü r die kinetische Energie zu bilden: (58)
= bu2j;mvrv2 ;
£kln = rot
denn d i e R o t a t i o n s g e s c h w i n d i g k e i t zur Abkürzung den Ausdruck (59)
ist im ganzen Körper konstant. Setzt man
JJntvr2 =
e,
und nennt ihn das „Trägheitsmoment" des starren Körpers bezüglich der gewählten Rotationsachse, so können wir schreiben: (60) rot
Die Dimension des Trägheitsmomentes ist [0] = [ m p ] , bzw. im CGS-System:
[ 0 ] = [g cm2J . Bereits bei Betrachtung e i n e s Massenpunktes hatten wir erkannt, daß seine Masse m als das Maß für das Beharrungsvermögen betrachtet werden muß. Das gleiche gilt nach (57) f ü r d i e T r a n s l a t i o n s b e w e g u n g eines starren Körpers: auch hier ist die Masse M der Ausdruck für seine T r ä g h e i t . A n d e r s a b e r b e i d e r R o t a t i o n s b e w e g u n g ; Gl. (60) zeigt, daß an Stelle der Masse M der Ausdruck 0 tritt, der w e s e n t l i c h d a v o n a b h ä n g t , wie die Massen um die R o t a t i o n s a c h s e v e r t e i l t s i n d ; die gleiche Masse kann sehr verschiedene Trägheitsmomente be-
26. Trägheitsmoment
77
sitzen, je nachdem sie sich in kleinerem oder größerem Abstände von der Achse be-
f i n d e t . F ü r die Rotationsbewegung ist daher nicht die Masse, sondern das Trägheitsmoment das geeignete Maß für das Beharrungsvermögen. U m sowohl den U n t e r -
schied gegen die Translationsbewegung als die analoge Beziehung zur Trägheit zum Ausdruck zu bringen, nennt man neuerdings das Trägheitsmoment ganz zweckmäßig
die Drehmasse.
Übrigens erlauben die Gleichungen (59) und (60) eine anschauliche Definition des Trägheitsmomentes, die wir später benutzen werden. Denken wir uns eine Masse 0 = £ mr2 im Abstände 1 von der Drehachse angebracht und mit der Geschwindigkeit u um die Achse gedreht, so besitzt sie die gleiche kinetische Energie, wie der wirkliche Körper, nämlich die durch Gl. (60) bestimmte. Man kann daher sagen: Das Trägheitsmoment ist diejenige gedachte Masse, die m a n im Abstände 1 von der Drehachse anbringen muß, so daß die Rotationsenergie des Körpers keine Änderung erfährt.
Wir erkennen bereits hier, daß bei der Rotationsbewegung die Drehgeschwindigkeit U und die Drehmasse 0 die Rollen der Translationsgeschwindigkeit C und der Masse M übernehmen; an die Stelle des Impulses MC tritt bei der Rotation um eine feste Achse der Ausdruck 0 u , der als „Drehimpuls" II (Impulsmoment oder Drall) bezeichnet wird: (61)
U = 0U .
In einer späteren Nummer werden wir sehen, daß auch an Stelle der Kraft, die für die Translation die entscheidende Rolle spielt, ein anderer Begriff (das Drehmoment oder die Drehkraft) bei der Rotation tritt. Wir beschäftigen uns hier weiter mit den Trägheitsmomenten. Zunächst wollen wir die Rolle des Trägheitsmomentes als Maß des „Widerstandes" gegen eine Änderung der Rotationsgeschwindigkeit experimentell nachweisen. Man überzeugt sich davon, wenn man ein größeres Schwungrad in Rotation versetzt. Es sind nicht unbeträchtliche Kräfte notwendig, um den Trägheitswiderstand des Rades zu überwinden. Wenn dann das Rad rotiert, so besitzt es die durch Gl. (60) bestimmte Rotationsenergie, was wir z. B . daran feststellen können, daß das Rad lange Zeit weiterläuft, bevor es (durch die Reibungskräfte) zur Ruhe gebracht wird. In der Abb. 71 sind zwei Zylinder von gleichem Abb. 71. Zwei Zylinder von gleichem Querschnitt und gleicher Masse aber Durchmesser im Querschnitt gezeichnet. Der Zyverschiedenem Trägheitsmoment; linder a besteht aus einemBIeimantel, der um einen a) Holzzylinder mit Bleimantel, Holzzylinder gelegt ist; bei dem Zylinder b ist der b) Holzzylinder mit Bleikern innere Teil aus Blei, der äußere aus Holz hergestellt. Die Verteilung der Blei- und Holzmassen ist bei beiden Zylindern so gewählt, daß die Massen beider Zylinder gleich sind. Da beim Zylinder a das schwerere Blei in größerer Entfernung von der Zylinderachse angebracht ist als beim Zylinder b, besitzt ersterer nach Gleichung (59) ein wesentlich größeres Trägheitsmoment als b. Setzt man die beiden Zylinder nacheinander auf die Achse eines kleinen Elektromotors, den man mit einer konstanten Spannung anlaufen läßt, so beobachtet man deutlich, daß der Zylinder a mit dem großen Trägheitsmoment wesentlich längere Zeit braucht, bis er auf Touren kommt, als der Zylinder b mit dem kleineren Trägheitsmoment. Beim Abschalten der Motorspannung kommt umgekehrt der Zylinder b merklich rascher zum Stillstand als der Zylinder a, da die Rotationsenergie im letzteren Fall wesentlich größer ist. In der Technik macht man von großen Trägheitsmomenten vielfach Gebrauch, indem man auf die Achsen rotierender Systeme Schwungräder setzt, die wegen ihres großen Trägheitsmomentes bei der Drehung einen erheblichen Vorrat an Rota-
78
III. Kapitel. Mechanik eines Systems von Massenpunkten
t i o n s e n e r g i e a u f n e h m e n , d e r d a n n zur Ü b e r w i n d u n g p l ö t z l i c h a u f t r e t e n d e r W i d e r s t ä n d e a m d r e h e n d e n S y s t e m , z. B . b e i m E i n s c h a l t e n eines A r b e i t s v o r g a n g e s Verw e n d u n g f i n d e t (Dampfmaschine, Walzwerk usw.). Zur Bestimmung des Trägheitsmomentes nach (59) ist zu sagen: Bei kontinuierlichen Körpern hat man jedes Massenelement dm mit dem Quadrat seines Abstandes von der Achse zu multiplizieren und dann die in eine Integration übergehende Summierung auszuführen: (59a)
0 =
fr
dm.
2
Natürlich kann die Rechnung nur für einfach gestaltete Körper ausgeführt werden; auf die experimentelle Bestimmung des Trägheitsmomentes gehen wir in Nr. 37 ein. Bei flächenhaften Körpern, wie Platten usw. unterscheidet man zwischen dem „ ä q u a t o r i a l e n " Trägheitsmoment, wenn die Achse in der Ebene des Körpers (Abb. 72a) liegt, und dem „ p o l a r e n ' ' Trägheitsmoment, wenn die Achse auf der Ebene des Körpers senkrecht steht (Abb. 72b). Zwischen
Abb. 72. Äquatoriales (a) und polares(b) Trägheitsmoment einer Kreisscheibe
Abb. 73. Zusammenhang zwischen äquatorialem und polarem Trägheitsmoment einer Kreisscheibe
Abb. 74. Berechnung des polaren Trägheitsmomentes einer Kreisscheibe
diesen beiden Trägheitsmomenten besteht eine einfache Beziehung. Bei der in Abb. 73 abgebildeten Scheibe findet man für das äquatoriale Trägheitsmoment in bezug auf die x-Achse: &x = J y2 dm, und für das äquatoriale Trägheitsmoment in bezug auf die «/-Achse &y — J x2 dm. Für das polare Trägheitsmoment bezogen auf die zur zy-Ebene senkrechte z-Achse ist: 0 Z — J r2dm. Nun ist aber für jedes Massenelement r2 = x2 + y2, und demnach: J r2dm
= J~ x2dm
+ J
y2dm,
d. h. (62)
B z = & x + ©„,
in Worten: Das polare Trägheitsmoment eines flächenhaften Körpers ist gleich der Summe zweier äquatorialer Trägheitsmomente um senkrecht aufeinander stehende Achsen. Mit Hilfe der Gleichung (59a) 0 = j r 2 d m ist die Berechnung der Trägheitsmomente einfacher Körper ohne Schwierigkeiten möglich. Wir führen folgende besonders wichtigen Fälle an: 1. P o l a r e s T r ä g h e i t s m o m e n t e i n e r S c h e i b e vom Radius E, der Dicke h und der Masse M. Wir zerlegen die Scheibe (Abb. 74) in eine Anzahl konzentrischer Ringe; das gezeichnete Ringelement habe von der Achse den Abstand r und die Breite dr; seine Masse dm ist dann dm =
2nrdrhg,
wenn g die Dichte des Scheibenmaterials ist. Das Trägheitsmoment dieses Ringelementes ist dann: d&
= dmr2
=
2nhgr3dr.
Integrieren wir diesen Ausdruck zwischen den Grenzen r = 0 und r = B, so erhalten wir das Trägheitsmoment der Scheibe zu:
J
R
0=2*
he
r3dr
= ^JtR
[r 4 ]^
= B2nh
q ^
.
o Der Ausdruck R2nhq stellt die Masse M der Scheibe dar, so daß wir schreiben können: (63)
0 =
i
ME2.
79
26. Trägheitsmoment
Da die Dicke h der Scheibe herausfällt, gilt die Gleichung (63) auch für das Trägheitsmoment eines Zylinders in bezug au die Zylinderachse als Trägheitsachse. 2 . Ä q u a t o r i a l e s T r ä g h e i t s m o m e n t einer dünnen K r e i s s c h e i b e b e z o g e n auf einen Durchmesser als Drehachse. Nach Gleichung (62) muß 2 © ä q u sein und demnach Q pol (64)
© ä q u = \ M R2, denn aus Symmetriegründen muß & x = Qy sein.
3. T r ä g h e i t s m o m e n t einer K u g e l in bezug auf einen Durchmesser als DrehachseWir zerlegen die Kugel entsprechend Abb. 75 in eine Reihe von dünnen Scheiben, deren Ebenen senkrecht zur Drehachse stehen. Den von Scheibe zu Scheibe variierenden Radius bezeichnen wir mit y, die Dicke der Scheibe in der dazu senkrechten Richtung mit dx; dann ist nach (63) das polare Trägheitsmoment einer solchen Scheibe mit der Masse dm: d®
=
£ y2 dm
=
| n
q y*
dz.
Nun ist y2 = R2 — x2; setzen wir dies in die obige Gleichung ein, so ergibt sich: d@
=
\ n
q ( R
2
-
x2)2dx.
Da x alle Werte von — R bis + R annimmt, folgt für das Trägheitsmoment der Kugel: + R e
=
i n
q f
(R2
+ R —
x2)2
dx
i
=
n
— R
g f
[R*
=
Für | damit (65)
R3
— 2
R2
x2
+
x*]
dx
—R •
R2.
Abb. 75. Berechnung des Trägheitsmomentes einer Kugel
7i g können wir die Masse M der Kugel setzen und haben ® = -| M R 2 .
4. T r ä g h e i t s m o m e n t eines g e r a d l i n i g e n z y l i n d r i s c h e n Stabes v o n der L ä n g e l und dem im V e r h ä l t n i s zu l kleinen Q u e r s c h n i t t q in bezug auf eine zum Stab s e n k r e c h t e durch einen E n d p u n k t des Stabes gehende A c h s e . Wir zerlegen den Stab (Abb. 76) in kleine Massenelemente dm von der Länge dx und dem Querschnitt q. Das Trägheitsmoment eines solchen Elementes ist in bezug auf die gewählte Achse d@
=
x2
dm
=
gq
x2
dx.
Dieser Ausdruck ist zwischen den Grenzen x = 0 und x = l zu integrieren. Wir erhalten
2 "dx
0 Abb. 76. Berechnung des Trägheitsmomentes eines Stabes
Nun ist g q l die Masse M des ganzen Stabes, und es folgt damit: (66)
® =
\Ml2.
l
Geht die Drehachse durch die Stabmitte, so haben wir die Gleichung zu integrieren; dies liefert: (66a)
&' =
^Ml
2
d@
=
gqx2dx
von — g "
,.
I
+" =
6 67 • ]0~ 8 • 6 • 10 27 6,37-10» =
6 2
' 8 •1010
Er
g/S '
da, wie vorher festgestellt, V eine Arbeit pro Masseneinheit ist. Es muß also eine Arbeit von 62,8 • 1010 Erg aufgewendet werden, um ein Gramm von der Oberfläche der Erde bis ins Unendliche zu transportieren, wobei ein entsprechender Betrag potentieller Energie in der Grammasse aufgespeichert wird. Umgekehrt verliert beim Übergang aus dem Unendlichen bis zur Erdoberfläche ein Gramm die potentielle Energie 62,8-10 1 0 Erg und gewinnt den gleichen Betrag an kinetischer Energie §c 2 . Aus |c 2 = 62,8 • 10 1 0 folgt für die Endgeschwindigkeit c der Betrag 11,2 -10 6 cm/sec = ll,2km/sec. Umgekehrt müßte eine Masse mit dieser Geschwindigkeit von der Erdoberfläche abgeschossen werden, damit sie aus ihrem Anziehungsbereich ins Unendliche gelangte. Zum Schlüsse dieser Nummer wollen wir eine grundsätzliche Frage erörtern, die durch die Form (79) des Newtonschen Gravitationsgesetzes nahegelegt wird. In diesem Gesetze treten zwei Massen M und m auf, die sich in der Entfernung r voneinander befinden; jede übt auf die andere die genannte Kraft aus. Es liegt daher nahe, zu sagen, die auf die Masse m ausgeübte Kraft gehe von der Masse M aus und „überspringe" den Zwischenraum zwischen ihnen. Solche Kräfte, die in einem Raumpunkte entstehen und in einem davon räumlich getrennten wirken, nennt man Fernkräftc. Bereits Newton hatte die hierin liegende logische Schwierigkeit gefühlt und nur gesagt, die Form des Gravitationsgesetzes lasse sich so interpretieren, „als ob" zwischen den beiden Massen eine Fernkraft wirke. Er war aber ein zu vorsichtiger Forscher, als daß er die tatsächliche Existenz von Fernkräften behauptet hätte; er lehnte dies vielmehr mit dem berühmt gewordenen Worte ab: Hypotheses non fingo. Seine Nachfolger waren weniger vorsichtig, und als man später ganz ähnlich gebaute Gesetze auch für die Kräfte zwischen elektrischen Ladungen, zwischen Magnetpolen und zwischen elektrischen Strömen und Magnetpolen fand, wurde der Glaube an die Existenz von Fernkräften für lange Zeit in der Physik herrschend. Der erste, der wieder daran zweifelte, war M i c h a e l F a r a d a y , der gerade umgekehrt die These verfocht, daß eine Kraft nur am gleichen Orte wirken könne, an dem sie auch entsteht; wenn scheinbar — wie im Falle der Anziehung oder Abstoßung elektrischer Ladungen oder der Massenanziehung — doch räumliche Abstände zwischen Entstehungsort und Wirkungsort vorhanden seien, so müsse der Zwischenraum in irgendeiner Weise daran beteiligt sein. Wenn man eine Kraft auf eine Masse ausüben will, so muß man sie entweder direkt, z. B. mit der Muskelkraft der Hand, angreifen, oder man muß zwischen der Masse und der Hand ein Seil (z. B. aus Gummi) spannen; dann vermittelt das Seil die von der Hand ausgehende Kraft, indem dieses „gespannt" wird, d. h. in einen von dem normalen abweichenden Zustand gerät; so wird die Kraft der Hand Punkt für Punkt „weitergeleitet" und befähigt, an der Masse anzugreifen. Wäre das Seil unsichtbar, so würde man trotzdem den Eindruck einer Fernkraft haben. In dieser Weise stellt sich F a r a d a y vor, daß bei allen scheinbaren Fernkräften das Zwischenmedium die Fortleitung der Kräfte übernimmt und hat für die elektrischen und magnetischen Erscheinungen diese Anschauung zum Siege geführt. Seit dieser B e r g m a n n u. S c h a e f e r ,
Experimentalphysik. I .
8
114
IV. Kapitel. Anwendung auf spezielle Bewegungen
Zeit ist m a n der Überzeugung, daß F e r n k r ä f t e überhaupt nicht existieren, sondern daß man es immer mit Nahkräften zu t u n hat. Für die Gravitation freilich ist der Ersatz der Fernkraft durch Nahekräfte im Sinne F a r a d a y s bisher nicht gelungen, vielmehr scheinen bei der Gravitation vollkommen andere Verhältnisse vorzuliegen, worauf später eingegangen werden soll.
Der Name „ N a h e k r ä f t e " ist unglücklich gewählt, da es sich nicht um die Trage größerer oder kleinerer E n t f e r n u n g handelt, sondern darum, daß bei N a h e k r ä f t e n überhaupt keine endliche Distanz vorhanden ist; Molekularkräfte z. B., auch wenn sie nur in Entfernungen von 10~6 m m wirken, wären in diesem Sinne echte Fernkräfte. Daher ist die Bezeichnung „Feldkräfte" besser, und hierin ist überhaupt historisch der Ursprung des Feldbegriffes zu suchen: D a s F e l d b e w i r k t d i e V e r m i t t l u n g d e r Kräfte. Obwohl man heute überzeugt ist, daß keine F e r n k r ä f t e existieren, vereinfacht es nicht selten die Darstellung, wenn man sich so ausdrückt, als ob es F e r n k r ä f t e gäbe; wir sagen ja auch, daß die Sonne aufgeht, obwohl wir wissen, daß die E r d e sich dreht.
32. System der Kräfte am starren Körper; Kräftepaar I n Nr. 16 haben wir die Aufgabe behandelt, K r ä f t e zu einer Resultierenden zusammenzusetzen, die an e i n e m Massenpunkt angreifen. Die analoge Aufgabe t r i t t auch beim starren Körper auf, wenn an diesem mehrere K r ä f t e angreifen; sie ist aber in diesem Fall dadurch kompliziert, daß im allgemeinen die K r ä f t e an verschiedenen P u n k t e n des ausgedehnten Körpers angreifen. Wir müssen versuchen, die Mannigfaltigkeit der K r ä f t e möglichst zu vereinfachen; erst wenn dies gelungen ist, kann untersucht werden, wann ein starrer Körper unter der Wirkung mehrerer K r ä f t e im Gleichgewicht bleibt, bzw. welche Bewegungen er a u s f ü h r t .
Abb. 111. Zusammensetzung zweier Kräfte, die an verschiedenen Punkten eines starren Körpers angreifen
Bei dieser Aufgabe hilft uns die in N r . 27 erörterte L i n i e n f l ü c h t i g k e i t der K r ä f t e . Danach können wir im starren Körper den Angriffspunkt einer K r a f t in ihrer eigenen Richtung beliebig verschieben, ohne die Wirkung der K r a f t dadurch zu verändern; eine K r a f t am starren Körper hat, wie damals auseinandergesetzt, keinen Angriffsp u n k t , sondern eine Angriffslinie (Wirkungslinie).
Wir betrachten den in Abb. 111 dargestellten Fall, daß z w e i K r ä f t e und S 2 , die zunächst i n e i n e r E b e n e liegen mögen ( „ k o m p l a n a r e " K r ä f t e ) , an zwei Punkten¿4 und B des starren Körpers so angreifen, daß ihre Richtungen mit der Verbindungslinie ihrer Angriffspunkte verschiedene Winkel einschließen. Um die Resultante dieser beiden K r ä f t e zu finden, verlegen wir die Angriffspunkte der beiden K r ä f t e in den Schnittpunkt ihrer Wirkungslinien. J e t z t haben wir zwei K r ä f t e am g l e i c h e n Punkte, können also das Kräfteparallelogramm konstruieren, das uns die Resultante $f r nach Größe und Richtung liefert. Die K r a f t Str können wir nun wieder in ihrer Richtung beliebig, z. B. bis zum P u n k t e D verschieben. Damit der starre Körper u n t e r der Einwirkung der beiden gegebenen K r ä f t e und im Gleichgewicht bleibt, muß also eine dritte K r a f t angreifen, die S r gleich, aber entgegengesetzt gerichtet ist und die gleiche Angriffslinie mit $t r besitzt. Wir können dies auch so ausdrücken :
32. Kräfte am starren Körper; Kräftepaar
115
Drei an einem starren Körper in einer Ebene angreifende Kräfte halten sich das Gleichgewicht, wenn ihre Angriffslinien durch einen Punkt gehen und jede der drei Kräfte der Resultierenden aus den beiden anderen gleich, aber entgegengesetzt gerichtet ist. Dies zeigen wir mit der bereits in Abb. 46, S. 45 benutzten VersuchsanOrdnung (Abb. 112), bei der die durch die Gewichte*^, G2 und G3 dargestel 1 ten Kräfte n i cht an einem gemeinsamen Punkt, sondern an drei Stellen einer den starren Körper darstellenden leichten Scheibe angreifen. Im Gleichgewicht gehen die Angriffsrichtungen der drei K r ä f t e durch e i n e n Punkt. Die in Abb. 111 benutzte Konstruktion scheint zu versagen, wenn d i e b e i d e n in e i n e r E b e n e l i e g e n d e n Kräfte u n d St2 e i n a n d e r p a r a l l e l s i n d (Abb. 113): Dann fällt nämlich der Schnittpunkt ihrer Angriffslinien ins Unendliche. In diesem Fall helfen wir uns dadurch, daß wir zwei gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Hilfskräfte i S i , deren Richtung mit der Verbindungslinie der Angriffspunkte der gegebenen K r ä f t e zusammenfällt, in den Punkten A und B zu den gegebenen Kräften hinAbb. 112. Gleichgewicht zufügen. Dadurch wird am Gleichgewicht des Körpers dreier Kräfte an einem starren nichts verändert, denn die beiden hinzugefügten K r ä f t e Körper i St heben sich am starren Körper wegen ihrer Linienflüchtigkeit auf. Wir setzen jetzt Stj mit + ® zu einer Resultierenden und ebenso und $t2' St2 mit — 9 zu einer Resultierenden @2' zusammen. Die Richtungen von sind nun nicht mehr parallel, sondern schneiden sich im Punkte C. Indem wir dort das Kräfteparallelogramm mit St/ und St2' konstruieren, erhalten wir die Resultierende Str, die wir nun so in ihrer Richtung verschieben können, daß ihr Angriffspunkt z. B. nach D fällt. Str ist gleich der Summe von S , und S?2; dies erkennt man, wenn man in dem gemeinsamen Angriffspunkt C die K r ä f t e St/ und St2' wieder in ihre Komponenten zerlegt. Dann heben sich die beiden Hilfskräfte + S und •— St heraus, und es bleiben nur die K r ä f t e S^ und St2 übrig. Der Schnittpunkt D der Wirkungslinie von mit der Verbindungslinie der Angriffspunkt e A und B der gegebenen K r ä f t e wird Mittelpunkt der parallelen Kräfte genannt. D möge die Strecke AB im Verhältnis r1: r 2 teilen. Bezeichnen wir den Winkel zwischen Stx und ft/ mit « und den zwischen St2 und St2' mit ß, so finden Abb. 113. Zusammensetzung zweier gleichsich diese Winkel auch bei C wieder, und gerichteter paralleler Kräfte
es e s list st
d h • tgß~-r-Ki' d'h" Durch die Angriffslinie der Resultierenden zweier parallelen Kräfte wird die Verbindungslinie ihrer Angriffspunkte im umgekehrten Verhältnis der Kräfte geteilt. Experimentell beweisen wir die Richtigkeit dieses Satzes, indem wir eine leichte, in gleiche Teile geteilte Stange (Abb. 114) in ihrer Mitte über einer Rolle an einem Faden aufhängen und durch ein Gewicht g austarieren. Hängen wir jetzt z. B. in der Entfernung r = 8 links vom Mittelpunkt ein Gewicht G1 von zwei Einheiten und
116
IV. Kapitel. Anwendung auf spezielle Bewegungen
rechts von der Mitte im Abstand r = 4 ein Gewicht G2 von vier Einheiten an die Stange, so müssen wir zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes an den über die Rolle laufenden Faden ein Gewicht G3 = 2 + 4 = 6 Einheiten anhängen. In der folgenden Nummer werden wir dieses Ergebnis auf beliebig viele parallele Kräfte verallgemeinern. In derselben Weise, wie wir soeben zwei gleichgerichtete parallele Kräfte zusammengesetzt haben, lassen sich auch zwei e n t g e g e n g e s e t z t g e r i c h t e t e p a r a l l e l e K r ä f t e zusammenfügen; dies zeigt Abb. 115, bei der die Bezeichnungen dieselben wie in Abb. 113 sind. Die resultierende Kraft Str ist jetzt der Größe nach gleich der Differenz der beiden gegebenen parallelen, aber entgegengesetzt gerichteten Einzelkräfte und ihrer Richtung nach parallel und gleichgerichtet mit der größeren der Einzelkräfte. Ihre
Abb. 114. Gleichgewicht paralleler Kräfte
Abb. 115. Zusammensetzung zweier entgegengesetzter paralleler Kräfte
Wirkungslinie trifft die über den Angriffspunkt der größeren der beiden Einzelkräfte hinaus verlängerte Verbindungslinie der gegebenen Angriffspunkte in einem Punkt D, dessen Abstände von den Angriffspunkten der gegebenen Kräfte sich wieder umgekehrt verhalten wie diese selbst. In Abb. 115 ist also: »,. = » ! —
und
DA :DB =
Ki:Kl
B e i zwei e n t g e g e n g e s e t z t g l e i c h e n K r ä f t e n versagt aber die im vorangehenden beschriebene Konstruktion; denn in diesem Fall rückt der Punkt C von Abb. 115 ins Unendliche und die Resultierende erhält den Wert N u l l . H i e r g i b t es also keine resultierende E i n z e l k r a f t ; diese beiden entgegengesetzt gleichen K r ä f t e sind n i c h t weiter reduzierbar, sondern bilden einen K r ä f t e t y p u s f ü r s i c h . Man bezeichnet ein Kräftesystem aus zwei parallelen, gleich großen, aber entgegengesetzt gerichteten Kräften, deren Angriffslinien nicht in derselben Geraden liegen, als ein „ K r ä f t e p a a r " oder einen „ D r e h z w i l l i n g " . Ein solches Kräftepaar erzeugt, wie wir sofort zeigen werden, eine Drehung des starren Körpers, es kann n i e m a l s durch eine Einzelkraft, sondern stets nur durch ein zweites gleiches, aber entgegengesetzt gerichtetes Kräftepaar kompensiert werden. Wir überzeugen uns zunächst mittels einer einfachen in Abb. 116 skizzierten Anordnung von der Wirkung eines solchen Kräftepaares auf einen frei beweglichen Körper. Auf einem runden Brett a ist in senkrechter Stellung ein zweites Brett b befestigt; das Ganze kann auf einer Wasseroberfläche schwimmen. Bläst man durch zwei gleiche, parallel gestellte, aber entgegengesetzt gerichtete Düsen D1 und Z)2 gleich starke Luftströme gegen das Brett b, so wirkt auf dieses ein Kräftepaar und dreht den ganzen Körper um die gestrichelt eingezeichnete Achse. Ein Kräftepaar übt also ein Dreh-
32. Kräfte am starren Körper; Kräftepaar
117
moment auf den starren Körper aus. Seine Größe berechnen wir an Hand der Abb. 117. Wir verbinden die Angriffspunkte P1 und P2 der beiden gleich großen Kräfte S j und SJ2 = •— S j (die wir durch Verschiebung der Kräfte in ihrer Richtung so wählen können, daß die Verbindungslinie P1P2 = l senkrecht auf den beiden Kraftrichtungen steht), mit einem beliebig angenommenen Bezugspunkt 0 . Von 0 fällen wir die Lote und a 2 auf die Richtungen der beiden Kräfte. Das von der Kraft SJj auf den starren Körper in bezug auf 0 ausgeübte Drehmoment hat nach S. 82 den Betrag: Z)j = r1
sinotj = a1K1
;
da es im Uhrzeigersinne dreht, ist es vom Beschauer der Abb. 117 fortgerichtet und nach der früheren Festsetzung als positiv zu rechnen. Das von S 2 ausgeübte Drehmoment hat dagegen den Betrag: D2 = r2K2 sin« 2 =
a2K2;
es dreht im Gegenzeigersinne, ist zum Beschauer hin gerichtet und als negativ zu rechnen. Beide Drehmomente sind einander parallel, das resultierende Drehmoment $ ist also gleich der Summe + 2)2 der Einzelmomente. Für den Betrag des resultierenden Drehmomentes finden wir also I
T 11
D = Dt + D2 = axK1
/
Otj
\ '
l
7
i y pz
AxzLa
] J
Abb. 117. Berechnung des Kräftepaares
Abb. 116. Wirkung eines Kräftepaares (85)
^
v
ocV
+ a2K2
= K — as)Kt
=
IKX.
Nennen wir den senkrechten Abstand l der beiden Kraftrichtungen den „ A r m " des Kräftepaares, so können wir sagen: Das Drehmoment des Kräftepaares ist gleich dem Produkt aus der Größe der Kraft und dem Arm des Kräftepaares. Man erkennt, daß die Lage des Bezugspunktes 0 für die Größe des Drehmomentes, das von einem Kräftepaar ausgeübt wird, k e i n e Rolle spielt. Ein Kräftepaar ist nun offenbar nicht nur durch die Größe IK charakterisiert, sondern auch durch die E b e n e des Paares; denn von ihrer Stellung hängt ja die Achsenrichtung ab, um die die Drehung erfolgt. Mit anderen Worten: E i n K r ä f t e p a a r i s t ein V e k t o r Sß, als dessen Betrag P wir die Größe IK ansehen; seine Richtung bestimmen wir folgendermaßen: Auf der Ebene des Kräftepaares, z. B . in dem Halbierungspunkte des Armes l, errichten wir ein mit Pfeil versehenes Lot von der Länge I K . Die positive Richtung des Pfeiles ist so zu wählen, daß für ein in dieser Richtung blickendes Auge die Drehung im Uhrzeigersinne vor sich geht. Die beiden Abb. 118a und 118b sind danach ohne weiteres verständlich. Da die Wirkung eines Kräftepaares lediglich in der Ausübung des Drehmomentes (85) besteht, und dieses nur vom Produkte IK abhängt, so sind alle solche Verschiebungen des Paares im starren Körper zulässig, bei denen das Drehmoment ungeändert bleibt. Das heißt aber, daß d a s P a a r im s t a r r e n K ö r p e r — natürlich unter Beibehaltung seiner Richtung! — v o l l k o m m e n b e l i e b i g v e r s c h o b e n w e r d e n k a n n :
IV. Kapitel. Anwendung auf spezielle Bewegungen
118
D a s Kräftepaar $ ist ein freier Vektor, i m Gegensatz zu d e m linienflüchtigen K r a f t vektor Sh W i r k ö n n e n d i e s l e i c h t a n H a n d d e r A b b . 119 b e w e i s e n . G e g e b e n i s t d a s K r ä f t e p a a r 5)5 v o m B e t r a g e P = I K . W i r n e h m e n auf d e r V e r l ä n g e r u n g s e i n e s A r m e s e i n e n B e z u g s p u n k t 0 a n u n d z i e h e n d u r c h 0 e i n e u n t e r d e m W i n k e l oc g e g e n 0 B g e n e i g t e Gerade. W i r verschieben d a n n die Angriffsp u n k t e A u n d B des gegebenen K r ä f t e p a a r e s ?
y//L
//
/
a
/
/
/
7 / '
¿>1 P
Abb. 118. Zwei entgegengesetzt drehende Kräftepaare
Abb. 119. Verschiebung eines Kräftepaares in der Zeichenebene
bis z u m S c h n i t t m i t d i e s e r G e r a d e n . D e n A b s t a n d d e r n e u e n A n g r i f f s p u n k t e A' u n d B' n e n n e n w i r V . D i e b e i d e n i n A' u n d B' a n g r e i f e n d e n K r ä f t e i Si z e r l e g e n w i r i n je zwei K o m p o n e n t e n parallel u n d s e n k r e c h t zu l'. D a n n bilden die K o m p o n e n t e n e i n n e u e s K r ä f t e p a a r m i t d e m A r m V, w ä h r e n d s i c h d i e K o m p o n e n t e n S " g e g e n s e i t i g a u f h e b e n . D a s M o m e n t d e s n e u e n K r ä f t e p a a r e s h a t d e n B e t r a g K' V . N u n s i e h t m a n s o f o r t , d a ß K' = K c o s « u n d V = —— u n d s o m i t K'l' ' cosa K r ä f t e p a a r e sind einander gleichwertig.
= Kl
ist,
d. h. die beiden
Als Beispiele f ü r das Auftreten eines Kräftepaares seien erwähnt die S c h r a u b e n p r e s s e (Kopierpresse), bei der man am Querarm mit den beiden Händen anfaßt, um ein Drehmoment auszuüben, die Flügel einer Windmühle, an deren schräg gestellten Flächen der Winddruck entgegengesetzt gerichtete Kraftkomponenten hervorruft, die zusammen ein K r ä f t e p a a r bilden. Auch die in der Physik vielfach benutzte b i f i l a r e A u f h ä n g u n g gehört hierher. I n Abb. 120 ist z. B. ein Stab A B von der Länge d an zwei gleichlangen parallelen Fäden A a und Bb von der Länge l aufgehängt. Wird der Stab aus seiner Ruhelage in die gestrichelte Lage A' B' verdreht, so wird er dabei durch die Schrägstellung der Aufhängefäden etwas gehoben. Sein nach unten gerichtetes Gewicht O können wir uns zu gleichen Teilen in den Punkten A' und B' angreifend denken. Die in A' vertikal nach unten wirkende K r a f t l 0 ist durch den Vektor A' C dargestellt. Wir zerlegen ihn in die beiden Komponenten A'D — > •
in Richtung des Auf-
hängefadens l und A'E senkrecht dazu. Die letztere K r a f t komponente versucht den Stab in seine Anfangslage zurückzubringen und bildet mit der gleich großen, aber entgegengesetzt gerichteten K r a f t am anderen Ende des Stabes ein Abb. 120. Zur bifilaren Aufhängung Kräftepaar. Das Drehmoment dieses Kräftepaares ist A'E• d; aus der Ähnlichkeit der rechtwinkligen Dreiecke A'aF und CA'E folgt die Beziehung: A'E : A'C = A'F : A'a. Wird der Stab u m den Winkel a verdreht, so ist A'F = \ d sin«, u n d es folgt:
sina : l
so daß das gesuchte Drehmoment den Betrag
oder
A'E—
Od sina 4l
Gd s sina annimmt. IT
32. Kräfte am starren Körper; Kräftepaar
119
Wenn ein K r ä f t e p a a r an einem freibeweglichen Körper angreift, wie dies z. 13. bei dem Versuch in Abb. 116 der Fall war, so t r i t t die Frage auf, um welchen P u n k t die Drehung des Körpers stattfindet. Der Einfachheit halber denken wir uns den starren Körper aus zwei einzelnen Massenpunkten mit den Massen m i und m 2 gebildet, die durch eine masselose Stange miteinander verbunden sind. Wir wählen den Arm des Kräftepaares, was wir ohne Einschränkung der Aufgabe jederzeit können, gleich dem Abstand der Massenpunkte und lassen die K r ä f t e an den Massen selbst angreifen (Abb. 121). Dann erhalten diese Massen die Beschleunigungen ax und a2 in Richtung
der wirkenden K r ä f t e , und es m u ß nach dem zweiten N e w t o n s c h e n Axiom m1 a1 = m2a2 sein. I n einerp Zeitelement A t werden die beiden Massen um die Strecken s x = \alA£l : a2 = tn2: mt. Verbinden wir die E n d p u n k t e von u nd s2 = \ a^A t2 bewegt, und es ist s x : s 2 = s t und s 2 miteinander, so m u ß die Verbindungslinie diejenige von m 1 und m 2 in einem P u n k t 0 schneiden, der während der Wirkung des Kräftepaares in R u h e bleibt. Aus der Ähnlichkeit der beiden Dreiecke folgt s t :s2 = x1:x2, und mit Berücksichtigung der letzten Gleichung: x
x '• x2 =
m : m
2
i
0